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German Pages [316] Year 2009
Detlef E. Dietrich, Petra Garlipp, Stephan Debus, Hinderk M. Emrich (Hg.)
Welche Sprache hat die Psyche? Zur Integration von sozialpsychologischen und biologischen Aspekten der Psychiatrie Unter Mitarbeit von Cornelia Gerbothe
Mit 37 Abbildungen und 16 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40109-5 © 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet : www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG : Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Umschlagabbildung: Am Bach © Matthias Waldeck Printed in Germany Satz : KCS GmbH, Buchholz / Hamburg Druck und Bindung : Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort 1 Zur Versprachlichung des Seelischen Hinderk M. Emrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2 Über die Verständnislosigkeit Jann E. Schlimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3 Charles Dickens’ »A tale of two cities« – eine literarische Fallbeschreibung einer Posttraumatischen Belastungsstörung Thomas Huber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4 Musik und Psychiatrie: Musiker als Modell für die erfahrungsabhängige Neuroplastizität des Nervensystems Thomas Peschel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 5 Kooperation zwischen Semiotik und Sozialer Psychiatrie Stephan Debus und Roland Posner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 6 Authentizität und Medialität: Das Postmoderne Ich im Spannungsfeld zwischen individuellem und kollektivem Selbst Bert T. te Wildt, Martin D. Ohlmeier und Jann E. Schlimme . . . . . . 57 7 Mimesis-Theorie – Eine mögliche Erklärung für das Asperger-Syndrom? Nadine Buddensiek, Thomas Huber und Hinderk M. Emrich . . . . . 83 8 Wenn die Sprache den Geist aufgibt – Zur Kommunikation mit demenzkranken Menschen Ute Hauser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 9 Schimpfen als Krankheit – Das Phänomen der Koprolalie bei Patienten mit Tourette-Syndrom Kirsten Müller-Vahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 10 Zwei Kulturen – Zwei Sprachen: Zum Nutzen einer gemeinsamen Sprache in der Medizin. Konsiliar- und Liaisontätigkeit bei Alkoholkranken Udo Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 11 Gefühle, Unruhe und Zappeligkeit – Zum Selbsterleben bei ADHS Martin D. Ohlmeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 12 Die Bedeutung der Synästhesie für die Wissenschaft Markus Zedler und Hinderk M. Emrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 13 Die innere Zeitstruktur des Flashbackphänomens Catharina Bonnemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
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14 Ich oder wir? Trauma, Dissoziation und Identitätserleben Frauke Rodewald und Claudia Wilhelm-Gößling . . . . . . . . . . . . . . . 15 Ich oder wir? Die Versprachlichung komplexer dissoziativer Phänomene Claudia Wilhelm-Gößling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Sprache des Therapieabbruchs Petra Garlipp und Klaus-Peter Seidler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Die Sprache der Sektoren Johann Pfefferer-Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Zwischen kreativem Chaos und fachlichen Standards – Wissensmanagement im Sozialdienst der Psychiatrischen Klinik Uwe Blanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Wenn Zahlen rauschen statt sprechen. Von der Problematik der epidemiologischen Bewertung psychischer und körperlicher Befunde am Beispiel einer Sekundärdatenanalyse Felix Wedegärtner und Siegfried Geyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Sprache des Körpers – Ausdruck der Seele: Körperliche Aktivität und psychisches Wohlbefinden bei Migranten Marcel Sieberer und Iris Tatjana Calliess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Sinneswahrnehmung und Ausdruck von Depression Stefanie Lampen-Imkamp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Angst, Depressivität und Lebensqualität von sportlich aktiven und sportlich inaktiven Multiple-Sklerose-Patienten Anja Wilkening, Markus Lühmann und Horst Haltenhof . . . . . . . . . 23 Zum Einfluss der Psyche auf Sprachprozesse Detlef E. Dietrich und Yuanyuan Zhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Die Neurobiologie der Kreativität Wolfgang Dillo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Neurobiologische Grundlagen sexuellen Bindungsverhaltens beim Menschen Tillmann Krüger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Über therapeutische Mechanismen und Wirkungen der Psychotherapie mit entaktogenen Substanzen Torsten Passie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Geschichte des Zwangs in der Psychiatrie Hermann Elgeti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Die Geschlechtlichkeit des Menschen im psychiatrischen Diskurs Bernd Rüdiger Brüggemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Wandel und Kontinuität tagesklinischer Behandlung Klaus-Peter Seidler und Petra Garlipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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214 224 239
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Vorwort
Eine große Herausforderung der Gegenwartspsychiatrie ist die Integration von geistes-, sozial-, kulturwissenschaftlichen Aspekten mit den biologischen Erkenntnissen der neurobiologischen Grundlagenforschung in der Psychiatrie. Zu diesem Problem gehört die Frage nach der angemessenen Sprache für psychische Vorgänge. Vom Standpunkt des (phänomenalen) Dualismus aus kann es hier nur zwei voneinander abweichende Sprachen geben, während monistische Denkansätze versuchen, die beiden Dimensionen auf einen Nenner zu bringen. In diesem Buch wird versucht, diese beiden Ansätze in differenzierter Form darzustellen, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Das inhaltliche Spektrum der präsentierten Beiträge spiegelt hierbei die wissenschaftlich breite und fundierte Arbeit der beiden psychiatrischen Kliniken mit langer sozialpsychiatrischer Tradition (Abteilungen für Sozialpsychiatrie und Psychotherapie sowie für Klinische Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover) wider, die im Herbst 2007 zur Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie fusionierten. Die Zusammenlegung dieser beiden mit unterschiedlichen Schwerpunkten arbeitenden Abteilungen ist als Beispiel einer gelungenen Integration sozialpsychologischer und neurowissenschaftlicher Aspekte in der Psychiatrie zu betrachten. Die Herausgeber
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Zur Versprachlichung des Seelischen Hinderk M. Emrich
»Es ging jener geheimnisvolle, mit Worten nicht auszudrückende, bedeutsame Austausch von Blicken vor sich, in dem alles wahr ist; dann begann der Austausch von Worten, in denen diese Wahrheit schon nicht enthalten war.« Leo N. Tolstoj, Auferstehung, 1899
1.1
Einleitung
Das Psychische ist dasjenige in uns, das aus uns heraus spricht, über das wir aber nur schwer sprechen können. Deswegen ist es so schwierig, eine angemessene Sprache für die Psyche zu finden. In der Philosophie und in der Literatur ist eines der großen Themen sprachphilosophischer Reflexion die Frage nach dem »Unsagbaren«. Bei dem Philosophen Jean-Paul Sartre beispielsweise ist die Pointe seines groß angelegten Werkes über Gustave Flaubert »Der Idiot der Familie« die Vorstellung, dass Flaubert die »Sprache verweigerte«, weil er der Aussagekraft der Worte misstraute. Bei dem Dichter Flaubert ist es nach der Rekonstruktion durch Sartre die Primärkonstellation der Verweigerung von Sprechen, das primäre Misstrauen gegenüber den Wörtern, das die frühe Prägung des späteren Dichtergenies ausmacht. Folgt man Sartre, so erlebt das Kind Flaubert Wahrnehmungswelten neben den sprachlich abgedeckten, sprachlich erklärten Welten, die in der Sprache nicht aufgehen, was ihn erst einmal zum »Idioten«, zum Sprechverweigerer, werden lässt. In diesem berühmten Buch über Flaubert, an dem Sartre zehn Jahre arbeitete, wird somit dargestellt, dass das kindliche Ich des zukünftigen Dichters die Worte verweigert, die Worte, zu denen Flaubert ein tiefes Misstrauen hat in dem Sinne, dass sie die Realität verfälschen. Flaubert verweigert als Kind die Sprache, um die Gewalt, die das Sprechen der Wirklichkeit antut, zu vermeiden. Wörter können als ein perpetuierter Akt der Verfälschung im Sartre’schen Sinne gesehen werden. Bei Hugo von Hofmannsthal ist es in seinem Theaterstück »Der Schwierige« so, dass die Schwierigkeiten des Lebens genau damit zu tun haben, dass innerhalb der Konventionen, die das Leben bestimmen, es fast unmöglich erscheint, durch Sprache das auszusagen, was das menschliche Leben seelisch in Innersten zusammenhält; und so erscheint es fast unmöglich, dass die Liebe zwischen Graf Bühl und Helene Altenwyl zur Wirklichkeit wird. Hugo von Hofmannsthal hat hierzu geschrieben: »Sprechen ist ein ungeheurer Kompromiss, für jedermann – nur wird dies selten bewusst, weil es das allgemeine
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Verständigungsmittel darstellt« (Hofmannsthal, 2000, S. 175). Der Text bietet folgende Beispiele: Neuhoff zu Hans Karl Bühl: »Das merkt man Ihnen an, Sie sprachen unendlich wenig« (Hofmannsthal, 2000, S. 47). Altenwyl zu Edine: »Dieser Geschäftston heutzutage! Und ich bitte dich, auch zwischen Männern und Frauen: dieses gewisse Zielbewusste in der Unterhaltung!« (S. 74). Hans Karl: »Durchs Reden kommt ja alles auf der Welt zustande. Allerdings, es ist ein bißl lächerlich, wenn man sich einbildet, durch wohlgesetzte Wörter eine weiß Gott wie große Wirkung auszuüben, in einem Leben, wo doch schließlich alles auf das letzte, Unaussprechliche ankommt. Das Reden basiert auf einer indezenten Selbstüberschätzung« (S. 107). So schreibt auch Heinrich von Kleist in einem Brief an seine Schwester Ulrike (13. März 1803): »Ich weiß nicht, was ich dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. – Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leib reißen, in diesen Brief packen, und dir zuschicken. – Dummer Gedanke.« Auch die große philosophische Dichterin Ingeborg Bachmann hat sich in einer Reihe ihrer Werke dem Thema »Das Unsagbare« genähert.
1.2
Das »Unsagbare« bei Ingeborg Bachmann
1.2.1 Gnomische Wendungen in der Lyrik Der Verweis auf Unsagbares setzt einen fundierten Umgang mit den Möglichkeiten und Grenzen des Etwas-Sagens voraus. Im Sagen von etwas als einem intentionalen Gegenstand läuft das Ungesagte gewissermaßen mit; dies noch nicht als ein Unsagbares, sondern zunächst als ein nur Ausgespartes, so, wie wenn ich mich entscheide, das eine auszuleuchten, das andere aber im Dunkeln zu belassen. Allerdings steckt im Sagen von etwas bereits der Keim von dessen Gegenteil, vom »Anderen seiner selbst«. Dies ist nicht nur eine Frage nach dem Subtext, dem Untertext im Sinne von Stanislawski, der mitschwingt und das Gesagte vollendet, ergänzt, ja, es vielleicht sogar falsifiziert. Es geht auch um den Hegel’schen Gedanken der Antinomie, die sich darin ausspricht: Die Sache hat an ihr selbst ihr Gegenteil; was Goethe einmal so formulierte: »Jedes ausgesprochene Wort ruft seinen Gegensinn hervor.« Mit alledem sind aber die Worte noch nicht gefunden für das, was beansprucht, durch Worte nicht gefunden werden zu können. Oder, besser gesagt, es sind noch nicht die Notwendigkeiten und Grenzen dessen aufgezeigt, was seine eigene Unsagbarkeit zu verteidigen hat. Bei Ingeborg Bachmann – dies sei im Vorgriff gesagt – hat dies viel mit der Frage nach Traumatisierung und Rückzug zu tun und daher mit einer Welt der Dissoziation, der Spaltung, der Verweigerung, des Abschieds. In der Geschichte der Lyrik gibt es eine Entwicklungslinie in der Fragestel-
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lung, inwieweit philosophische Fundamentaleinsichten und Grundprobleme sich nur in dichterischer Form und nicht in diskursiver begrifflicher Sprache ausdrücken lassen. Dieser Strang reicht von Pindars Lyrik bis zu Hölderlins philosophischer Dichtung und hat auch für das Werk Ingeborg Bachmanns eine zentrale Bedeutung. Michael Theunissen hebt in seinem epochalen Werk »Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit« (Theunissen, 2002) die besondere Bedeutung von sogenannten »gnomischen Wendungen« hervor. In den Handlungssträngen zum Beispiel der Preislieder gibt es plötzlich einen Punkt, an dem das Gedicht sich ins Allgemeine wendet, an dem eine Totaleinsicht in das Wesen des Menschen, das »Menschenlos«, sich Bahn bricht; so in der späten, sogenannten achten pythischen Ode über die Menschen als ephemere Wesen, als die ephemeroi mit der berühmten Gnome: »Tageswesen, was aber ist einer? Was aber ist einer nicht? Eines Schattens Traum der Mensch« (P.8.95-6a, Hölderlin, 2004). Es geht um die Paradoxie, die Endlichkeit und Unendlichkeit im begrifflich-geistigen Leben verbindet; diese in einer lyrischen Ode, die primär davon handelt, wie es Menschen ergeht, die etwas anstreben, einen Sieg erringen oder auch eine Niederlage einstecken müssen. Die Ode endet mit der Überzeugung, dass das göttliche Wesen dem Leben einen Glanz verleiht, der über diese Paradoxie hinausführt, der die Transzendierung des Zeitlichkeitsproblems beinhaltet: »Wem aber jüngst ein Erfolg zufiel, der erhebt sich in hoffnungsbeflügeltem Mannesmut zu überquellender Wonne, sein Trachten lässt Reichtum hinter sich. Schnell wächst bei dem Menschen die Freude, ebenso schnell fällt sie auch zu Boden, wenn sie durch ein verfehltes Denken um ihren Grund gebracht wird. Eintagswesen! Was ist einer, was ist einer nicht? Eines Schattens Traum ist der Mensch. Aber wenn gottgeschenkter Glanz kommt, ruht helles Licht und freundliches Dasein auf den Menschen.« (P.8.89-97, Dönt, 1986, S. 153)
Diese Passage setzt sich aus drei Teilen zusammen. Der erste Teil handelt von dem möglichen Erfolg und den Intentionen, die ihn tragen. Im zweiten Teil wird der errungene Erfolg durch die Einsicht relativiert, dass er niemals von Dauer ist, sondern auf ihn schnell wieder Misserfolg folgen kann beziehungsweise muss, einmal durch das Versagen, aber zum anderen auch dadurch, dass es »irrende Absicht« gibt. Hier wird die zeitphilosophisch-ontologische Frage nach dem Sein des Menschen gestellt. Menschen sind eines »Schattens Traum«. Im dritten Teil wird die zeitphilosophische Aporie durch ein zeittranszendierendes Phänomen aufgelöst, nämlich durch den »gottgesendeten Glanz«. Theunissen führt in seiner Interpretation dazu aus, dass es bei der phi-
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losophischen Exegese nicht darum gehen kann, dem Gedicht beziehungsweise der Gnome eine metatheoretische Konzeption überzustülpen: »Bei der Fahndung nach dem Weg, auf dem Pindar zu den Tageswesen kommt, ist durchaus auch zu prüfen, ob er diese Bedingungen erfüllt. Zugleich muß sich die Interpretation über ihren Anspruch an sich selbst klar werden. Eine philosophische Interpretation von Dichtung läuft ständig Gefahr, von der Basis abzuheben und mit der Konstruktion einer freischwebenden Anthropologie einen Überbau zu errichten. Inwieweit sie der Gefahr entgeht, ist daran abzuschätzen, in welchem Maße es ihr gelingt, gnomische Äußerungen eines Gedichts in dessen Bewegung aufzulösen und gerade auch den philosophischen Wahrheitsgehalt solcher Äußerungen als Resultat einer Bewegung wiederzuerzeugen« (Theunissen, 2002, S. 58). Bei Gedichten Hölderlins wie »Brot und Wein« und »Andenken«, die durch Philosophen wie Martin Heidegger, Bruno Liebrucks und Dieter Henrich ausgelegt wurden, wird deutlich, dass das philosophische Sagen in diesen Texten unabtrennbar ist von seiner dichterischen Form. Wenn es überhaupt das Sagbare in diesen Texten gibt in dem Sinne, dass wir es wiedersagen können, dann bedarf es bedeutender diskursiver philosophischer Reflexionen, diesen Schatz zu heben, das heißt, aus dem lyrisch Gesagten ein uns erreichendes Sagen zu machen; quasi den kompetenten Hörer in uns zu erzeugen. Um die Grenzen des Sagbaren auszuloten, quasi nur anzudeuten, bedarf es einer enormen gedanklichen und sprachlichen Anstrengung, die im Werk Hölderlins in höchster Vollendung vor uns steht. Ein Beispiel hierzu finden wir in dem späten Gedicht »Andenken«, bei dem die letzte Strophe eine gnomische Wendung ins Allgemeine enthält: »Es nehmet aber und gibt Gedächtnis die See, und die Lieb auch heftet fleißig die Augen, was bleibet aber, stiften die Dichter« (Hölderlin, 1969, S. 196). Dieter Henrich hat in seinem Buch »Der Gang des Andenkens – Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht« dazu Folgendes formuliert: »›Andenken‹, dies späte Gedicht Hölderlins, tritt mit seinen Schlußsätzen in die Nähe der Philosophie, die Hölderlin viele Jahre zuvor erarbeitet hatte. [. . . ] Wir haben Andenken nicht als Stadium in einer philosophischen Entwicklung zu nehmen. Wir gingen nur darauf aus, verstehen zu können, wie das Gedicht aus seinem Gang und Bau die Sätze, in denen es schließt und die es so weit zu überragen scheinen, freizusetzen, wie es sie in sich zu halten und zu bewähren vermag« (Henrich, 1999). Genau in diesem Sinne gilt es, den kompetenten Hörer von Gesagtem in uns zu erzeugen. Bei Ingeborg Bachmann, die als Philosophin, lyrische Dichterin und später auch als Romanautorin wirkte, stellt sich das Thema des irreduzibel sprachgebundenen Ansprechens von Nicht-Aussprechbarem zum einen im Spätwerk »Todesarten«, in dem philosophische, erkenntnistheoretische und existenzanalytische Problemlagen in die Textur quasi als gnomische Wendungen
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eingeflochten werden, zum anderen in der Radikalität später, nicht für die Veröffentlichung vorgesehener Lyrik. Auf beide möchte ich hier eingehen. In dem umfangreichen Projekt »Todesarten«, das aus verschiedenen »tektonischen« Schichten der zum Teil unvollendeten Romane »Malina«, »Der Fall Franza«, »Requiem für Fanny Goldmann« und anderen besteht, gibt es eine verbindende Idee, die mit der Bewältigung unangemessenen Sprechens zu tun hat. Gemeint ist die Romanveröffentlichung durch den früheren Lebensgefährten Max Frisch »Mein Name sei Gantenbein«, in dem die Dichterin zu einem Romansujet degradiert wird. Ingeborg Bachmann macht die Frage nach der Legitimität des Protokollierens, des Etwas-über-jemanden-oder-etwas-Sagens zum Zentralthema von »Todesarten«, insbesondere in dem Roman »Der Fall Franza«. Damit erhält das »Unsagbare« einen ganz besonderen Status: Es bedeutet nicht nur das, welches sich entzieht, das Unerreichbare, das Nirwanahafte; es bedeutet vielmehr auch dasjenige, was unangetastet bleiben sollte, was schützenswert ist. Mit Unsagbarkeit verbindet sich demnach auch normativ die Rettung vor der exekutiven Macht der Sprache, der Sprache auch als einer Form der »Kriegsontologie« im Sinne von Emmanuel Lévinas: der begrifflichen Zerstörung des Anderen, ja sogar des Anderen unserer selbst. Die philosophischen Thesen, die in die komplexe Romanstruktur von »Der Fall Franza« eingefugt sind, beziehen sich nicht nur auf Fragen des Objektivierens von nicht Objektivierbarem; vielmehr beziehen sie sich auf die Wirklichkeitskonstruktion als eines in Frage stehenden Konstituens des Romans, ja von Leben schlechthin. Wir können dies besonders eindrucksvoll erleben anhand der Tunnelfahrt von Franzas Bruder, der die verschollene, im dissoziativen Zustand dahinvegetierende Schwester nach erzwungener Abtreibung aufsucht; einer Tunnelfahrt, die in dem philosophischen Satz kulminiert: »Denn die Tatsachen, die die Welt ausmachen, sie brauchen des Nichttatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden« (Bachmann, 1978a, S. 346). Ich möchte den Aspekt des Wirklichkeitsrelativismus, der ja zugleich die enorme Kraft des Wortes belegt, die der Roman nicht nur behauptet, sondern auch durchhält, anhand einiger Passagen aus dieser Tunnelfahrt deutlich machen. 1.2.2 Der Weg zur »gnomischen Wendung« in der »Tunnelfahrt« des Franza-Romans Das Einleitungskapitel des Romans (nach der extrem ausdrucksstarken Vorrede) zeigt eine in sich zerbrochene, wirklichkeitsrelativistische Erzählstruktur. Diese Frakturiertheit ist wohl als Ausdruck des seelischen, dissoziierten Zustands von Franziska Ranner zu verstehen, der Frau, zu der der Bruder der Protagonistin reist. Die Wörter, die an diesem Text im Hinblick auf das »Unsagbare« besonders hervorzuheben sind, sind Wörter, die sich auf Sprache und Bewusstsein, das Innen und das Außen, beziehen, so etwa: »Telegramm«,
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»Brief«, »Rede«, »Wort«, »Worte«, »Papier«, »Wortgeröll«, »Einbildungen«, »Kopf«, »Mund«, »Kopf«, »Bild«, »Schädeldecke«, »Irrtum«, »geschrieben«, »gesprochen«; »Tatsachen«, »das Nichttatsächliche«. Um die Zusammenhänge deutlich zu machen, werden diese Wörter im Folgenden in ihren Kontexten zitiert, die letztlich zu der gnomischen Wendung hinführen: »[. . . ] ein Telegramm mußte es sein, einen Brief hatte sie nicht schreiben können [. . . ]« (Bachmann, 1978a, S. 344). »[. . . ] wenn von einem jungen Mann die Rede ist, der sich ausweisen können sollte als ein Martin Ranner, aber ebenso gut Gasparin heißen könnte« (S. 345). »Und da sich beweisen lässt, daß es Wien gibt, man es aber mit einem Wort nicht treffen kann [. . . ], und Wien hier also nicht Wien sein kann, weil hier nur Worte sind, die anspielen und insistieren auf etwas, das es gibt, und auf anderes, das es nicht gibt« (S. 345). »Obwohl die Zugauskunft zugeben würde, daß hier (wo hier?) jeden Tag Züge durch den Tunnel fahren und auch nachts, aber diesen hier könnte sie ja nicht zugeben, den hier auf dem Papier« (S. 345). »Nur das Wortgeröll rollt, nur das Papier läßt sich wenden mit einem Geräusch, sonst tut sich nichts« (S. 345). »[. . . ] zusammensetzen lassen aus Worten« (S. 346). »Das Papier aber will durch den Tunnel [. . . ] die Worte formieren sich, [. . . ] (bei nur blauer Lampe) rollen die Einbildungen und Nachbildungen, rollen heraus aus einem Kopf, kommen über einen Mund, der von ihnen spricht und es verlässlich tut wegen des Tunnels im Kopf, [. . . ] ein Bild nur, von Zeit zu Zeit unter einer bestimmten Schädeldecke, die aufzuklappen auch wenig Sinn hätte« (S. 346). »[. . . ] daß es sich bei dem Zug, aber allem anderen ebenso gut, um einen Irrtum handelt, und nun kann der Zug unserethalben fahren, indem von ihm geschrieben, gesprochen wird« (S. 346). »Denn die Tatsachen, die die Welt ausmachen, sie brauchen das Nichttatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden« (S. 346).
In dieser Zusammenstellung der Textstellen wird die ungeheure Dynamik der quasi dissoziativen Zusammenführung von äußeren Tatsachen (Briefen, Telegrammen) und inneren Tatsachen (das Sich-Formieren von Worten, die Wahnbildungen und Wahrbildungen, der Mund, die Schädeldecke, der Irrtum und das Schreiben und Sprechen) deutlich. Die Zusammenführung erfolgt in einer Weise, dass es dann plötzlich zu der gnomischen Wendung kommt, die letztlich begründet, inwiefern es gerade das Nichttatsächliche ist, von dem das Tatsächliche unseres Lebens abhängt.
1.3
Wie wird man zum Fall?
Der Roman heißt nicht umsonst »Der Fall Franza« (er wird manchmal auch »Das Buch Franza« genannt). Franziska Jordan, geborene Ranner, erlebt sich als jemand, dessen Leben zu einer Fallgeschichte, zu einer Kasuistik gemacht worden ist. »Cadere« heißt »fallen«; wenn Menschen etwas »ordnen«, dann sortieren sie; die Dinge fallen hinein in Sortierkörbe. Die Vielfalt des Lebens, die wir alle in uns haben, die Einmaligkeiten, die Unverwechselbarkeiten, die »Singularitäten«, das Einzelne und Besondere: Sie lassen sich im Sinne der
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Reduktion, der Rückführung, der rückführenden Vereinfachung auf Fälle, auf Fallbeispiele, beziehen; das nennt man Wissenschaft. Etwas zu wissen heißt etwas als etwas zu wissen. Wir wissen etwas »als dieses da«; dies bedeutet sehr schnell auch eine Verkleinerung, worauf insbesondere Emmanuel Lévinas (in seinem Werk »Totalität und Unendlichkeit«) hinwies. Im Leben wiederholt sich so vieles als einem schon Dagewesenen ähnlich oder sogar damit identisch, dass das Wissen von etwas »als etwas« in der Regel als Sortiervorgang erscheint. In der klassischen Metaphysik des Aristoteles sind es die Kategorien, die dafür sorgen, dass Ordnung sein kann. »Katägoros« aber heißt »der Ankläger«. Damit sind wir in einem »juridischen« Zusammenhang angekommen, auf den der Philosoph Dieter Henrich im Hinblick auf die Kategorientafeln in Kants »Kritik der reinen Vernunft« hingewiesen hat (Henrich, 1985). »Juridisch« heißt »auf das Recht bezogen«. Den Dingen soll Recht geschehen (wie in Kleists Drama »Der zerbrochne Krug«, wo die Mutter Marthe die Frage stellt, ob dem zerbrochnen Krug »sein Recht geschehen« kann). Wie kann man den Dingen dieser Welt, den Dingen des Lebens, gerecht werden? Eine Weise, dies zu tun, sind »Fall-Geschichten«. Bei Ingeborg Bachmann heißt es, dass das Leben, ja sogar die Küsse »gewogen, zerlegt, pulverisiert, eingeteilt und untergebracht« werden. Lévinas spricht, wie gesagt, von der »Kriegsontologie«, wie wir sie in dem modernen (scheinbar) naturbeherrschenden Lebensgefühl abendländischer Wissenschaftlichkeit etablieren: »Im Krieg zerreißt die Wirklichkeit die Wörter und Bilder, die sie kaschieren, um sich in ihrer Nacktheit und Härte aufzuzwingen. Harte Wirklichkeit (das klingt wie ein Pleonasmus!), harte Lehre der Dinge: Sobald er ausbricht, sobald die Schleier in Flammen aufgehen, zeigt sich der Krieg als die reine Erfahrung des reinen Seins. Das ontologische Ereignis, das sich in dieser schwarzen Klarheit abzeichnet, ist die Mobilisierung der bis dahin in ihrer Identität verankerten Seienden« (Lévinas, 1987, S. 19). Wie aber wird Franza zum Fall? Zum Fall werden heißt angeklagt zu werden, heißt reduziert zu werden auf einen Allgemeinzusammenhang, der gesetzesartigen Charakter hat. Die Beschreibungsweisen derartiger gesetzesartiger Zusammenhänge sind Theorien. Theorien spielen im »Fall Franza« deshalb eine wichtige Rolle; sie treten auf als Buchtitel, Arbeitsprogramme etc.: »Am nächsten Tag Vortrag über das Personale. Akt der Liebe. Das sind Widersprüche. Davon wird die Welt in die Luft gehen, das Feuer ist nur zuletzt an die Lunte gekommen, das Dynamit war von der ersten Woche an vermehrt worden, das über Jahre« (Bachmann, 1978a, S. 408). »Das ist es. Darauf könntest du schwören. Dein tyrannisches Gehirn, seine geheimen Spiele zwischen Cortex und Zwischenhirn, seine vom Zwischenhirn in Gang gesetzten Akte und ihre kortikale Ausarbeitung, warum hast du von ihm gesagt Fossil, o nein, wie irrst du dich, er ist heutiger als ich, ich bin
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von niedriger Rasse, seit das geschehen ist, weiß ich, daß sich das selbst vernichtet, ich bin es, er ist das Exemplar, das heute regiert, das heute Erfolg hat« (S. 412). »Ich war doch nicht krank, ich bin doch nicht als Patient1 zu ihm gekommen, das hätte ihn gerechtfertigt. Ich bin zu ihm gegangen, habe mich ihm anvertraut, was könnte die Ehe sonst sein als Anvertrauen, es in jemands Hände legen, was man ist, wie wenigs auch sei« (S. 407) Die Frage »Wie wird man zum Fall?« hat mit grundsätzlichen Vorentscheidungen der Erkenntnistheorie zu tun; letztlich mit Vorentscheidungen der Philosophie gemäß dem Diktum Fichtes, welche Philosophie man wähle, das zeige, was für ein Mensch man sei. Die intellektuelle Entwicklung Ingeborg Bachmanns nahm ihren Anfang mit dem Studium der Philosophie, in dem sie sich auf Heidegger und vor allem auf Wittgenstein spezialisierte. In ihrem berühmten Radioessay über Wittgenstein heißt es: »Was ist nun dieses Unsagbare? Zuerst begegnet es uns als Unmöglichkeit, die logische Form selbst darzustellen. Diese zeigt sich. Sie spiegelt sich im Satz. Der Satz weist sie auf. Was sich zeigt, kann nicht gesagt werden; es ist das Mystische. Hier erfährt die Logik ihre Grenze, und da sie die Welt erfüllt, da die Welt in die Struktur der logischen Form eintritt, ist ihre Grenze die Grenze unserer Welt. So verstehen wir den Satz: ›Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt‹ (5.6.)« (Bachmann, 1978b, S. 20). »Es ist das Mystische«. Worum geht es hier? Das, was in uns Menschen mystisch ist, was auf rationale Begriffe nicht gebracht werden kann: Welchen Status kann es haben: im Leben? in der Kultur? in der Wissenschaft? in der Kunst? Ich verweise auf einen Satz aus »Fall Franza«: »Man kann nur die wirklich bestehlen, die magisch leben, und für mich hat alles Bedeutung« (Bachmann, 1978, S. 413). Magisch leben also bedeutet echten Besitz, bedeutet in »Bedeutungen« leben; wer rein rational lebt, dem ist nichts zu eigen. Insofern ist wirkliches Leben mit Magie verbunden. Nun hat dies ungeheure Konsequenzen für die Frage nach dem »richtigen Leben«, für Vorentscheidungen in Wissenschaft und Kunst. Von was soll die Philosophie ausgehen? Dies war die zentrale Frage des deutschen Idealismus; die Antwort wurde von den sog. »Systembauern« gegeben, von Fichte, Schelling, Hegel. Schellings berühmter Satz in dieser Hinsicht lautet: »Vom Unbedingten muß die Metaphysik ausgehen.« Das heißt letztlich vom Absoluten, vom Numenon, vom Intelligiblen. Das Ringen um die Basis der Metaphysik bestimmt die gesamte Philosophie der Neuzeit seit Descartes, das heißt seit der Fundierung der Erkenntnistheorie durch das »cogito-sum«. Bei Kant heißt das »transzendentale Deduktion der 1 Dieser Satz enthält eine innere »Brechung«: Gerade Patienten haben Anspruch auf Schutz; haben Anspruch auf die Möglichkeit, einen Vertrauensvorschuss geben zu können.
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reinen Verstandesbegriffe« in der »Kritik der reinen Vernunft«. Das heißt, von einer bestimmten Form des cogito-sum im Sinne der apriorischen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung ist auszugehen. Der deutsche Idealismus entdeckt – als eine Philosophie der Romantik – das Andere der Philosophie, das, was aus der Philosophie her nicht konzeptualisierbar ist, wir könnten sagen, nicht zum »Fall« gemacht werden kann. Der romantische Idealismus entdeckt einen »Rest« im »Leben«, der »widerständig« (Fichte) bleibt; bei Hegel ist es in der »Wissenschaft der Logik« der Teil des Begriffs, der zu kurz greift, um das Begriffene zu erfassen; insofern geht Sprache nicht darin auf, pure Begriffssprache zu sein. Es geht um die Sprach-Grenzen, die VerstehensGrenzen, die »Grenzen meiner Welt«. Und damit sind wir 100 Jahre weiter bei Wittgensteins Sprachphilosophie angelangt, die Ingeborg Bachmann mit 20 Jahren für sich entdeckt, wie Sigrid Weigel dies in ihrem Buch über Ingeborg Bachmann beschreibt: »›Es war kein Professor, niemand hat mich dazu gebracht, sondern ich habe selbst herumgesucht, ich habe dieses Buch gefunden, das heißt, ich habe es nicht entdeckt, in England hat man ja Wittgenstein schon längst gekannt, aber für uns war er ganz neu‹ (GuI 135). Auch wenn man der Faktizität dieser Szene skeptisch gegenüberstehen muss, wenn man also davon ausgeht, dass die Szene nicht sagt, ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹, dann beschreibt sie doch adäquat die Erinnerung der Autorin, Wittgensteins Buch für sich selbst gefunden zu haben, und zwar an einem Ort, der als Unterkellerung der Stadt Wien, d. h. als Unterseite und Verborgenes der kenntlichen Stadttopographie, bezeichnet wird. In diesem Bild schließt Wien auch den ›Wiener Kreis‹ ein. Diesen Fund, ihre eigene, damals noch einsame Lektüre Wittgensteins, hat Bachmann in dem Radioessay des folgenden Jahres noch einen Schritt weiter getrieben. Darin hat sich die Beziehung zwischen Sagbarem und Unsagbarem nun vollständig verkehrt. Also ist es nicht mehr das Denk- und Sagbare, das auf das Unsagbare hindeutet, sondern umgekehrt wird das Unsagbare als Voraussetzung und Möglichkeitsbedingung des Sagbaren beschrieben: ›Daß die Welt sprechbar – also abbildbar wird –, daß Sagbares möglich ist, ist erst durch das Unsagbare, das Mystische, die Grenze oder wie immer wir es nennen wollen, möglich‹ (4/116). Für ihre eigene, literarische Schreibweise sollte diese Figuration richtungsweisend werden. Was in der Einleitung zu ›Der Fall Franza‹ programmatisch formuliert ist – ›Denn die Tatsachen, die die Welt ausmachen – sie brauchen das Nichttatsächliche, um von ihm aus erkannt zu werden.‹ (3/346) –, geht bei ›Malina‹ in die Konzeption und Komposition des Romans ein: die vernünftige Erzählstimme Malinas und seine klare Geschichte gehen hier aus dem Schweigen der Ich-Person hervor, deren Stimme u. a. durch deutliche Präferenzen für das Mystische charakterisiert ist. Der Begriff des Mystischen im ›Tractatus‹ ist es, um den der Radioessay aus dem Jahre 1954 vor allem kreist: ›Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist‹ (›Tractatus‹, 6.44)« (Weigel, 1999, S. 95 f.).
Sigrid Weigel hat in ihrem Buch sehr schön deutlich gemacht, dass die Wendepunkte in Ingeborg Bachmanns literarischem Schaffen philosophisch motiviert waren. Man kann diesen Befund dahingehend interpretieren, dass die »metaphysische Vorentscheidung«, von der ich oben gesprochen habe, bei Bachmann beinhaltet, dass es das Unsagbare ist, von dem ihre Philosophie ausgeht, und dass dieses sich im künstlerischen Schaffensprozess durchsetzt, sich Bahn bricht. Von dieser Warte aus lässt sich sagen: Vom »Nichttatsäch-
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lichen« muss die Philosophie ausgehen, um das Tatsächliche verständlich zu machen. Was ist dieses Nicht-Tatsächliche in uns? Hierzu hat sich Ingeborg Bachmann in ihren nachgelassenen Gedichten kompromisslos geäußert. Ich hab die Wahrheit gesehen, von einer Riesenklapper schlange umhalst und verschlungen von einer Riesenschlange die in ihrem Bauch sie aufbläht und langsam vergehen verenden läßt, sie verzehrt. [. . . ] Ich habe keine Worte mehr nur Kröten, die springen heraus und schrecken, nur Habichte die stürzen hinaus, nur reißende Hunde wilde, wie’s keine mehr gibt, Bluthunde die fallen euch an die johlen und meine Mundgeburten in lieblicher Bläue und bei Frost der abgemähten Liebesfelder Liebe, die große Merde alors, das düngt einen Wahnsinn, in dem meinetwegen alles, meinetwegen alles, zugrundegehen soll. (Bachmann, 2000, S. 65)
Literatur Bachmann, I. (1978a). Werke Band 3: Todesarten. München: Piper. Bachmann, I. (1978b). Werke Band 4: Todesarten. München: Piper. Bachmann, I. (2000). Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte. München: Piper. Dönt, E. (Hrsg.) (1986). Pindar Oden – Griechisch/Deutsch. Stuttgart: Reclam. Henrich, D. (1985). Persönliche Mitteilung, Oberseminar Dieter Henrich »Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe bei Immanuel Kant«, Universität München. Henrich, D. (1999). Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht. Stuttgart: Klett-Cotta. Hölderlin, F. (1969). Briefe und Werke. Bd. 1. Hrsg. v. F. Beißner und J. Schmidt. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag.
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Hölderlin, F. (2004). Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge: Band 7. 1799: Homburg. Empedokles I-II. Aufsätze zur Iduna. Emilie vor ihrem Brauttag. Ovid. PindarÜbertragung. München: Luchterhand Hofmannsthal, H. v. (2000). Der Schwierige. Stuttgart: Reclam. Kleist, H. v. (1999). Sämtliche Briefe. Hrsg. v. Dieter Heimböckel. Stuttgart: Reclam. Lévinas, E. (1987). Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München: Alber Verlag. Sartre, J.-P. (1980). Der Idiot der Familie. Reinbek: Rowohlt. Theunissen, M. (2002). Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit. Beck: München. Tolstoj, L. N. (1984). Auferstehung. Frankfurt a. M.: Insel-Verlag. Weigel, S. (1999). Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien: Paul Zsolnay Verlag.
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Über die Verständnislosigkeit Jann E. Schlimme
2.1
Der Andere als Maß der Verständnisfülle
Wir Psychiater nehmen meist an, dass wir sehr verständnisvoll sind. Mit »verständnisvoll« meinen wir dann ein einfühlsames, interessiertes und dennoch behutsam-respektvolles Annehmen des anderen Menschen. Es ist also ein spontanes, mitmenschliches und zwischenmenschliches Verständnis gemeint, welches sich im Umgang und im Gespräch zeigt und bewahrheitet. Davon zu unterscheiden ist ein wissenschaftlich-nüchternes Verständnis der fremdpsychischen Strukturen, welches in sezierender Coolness die nachvollziehbaren Zusammenhänge des Anderen – seines Fühlens, Denkens und Handelns – herauspräpariert. Ein solches Verständnis bedient sich nicht nur einer reflexiven Nachdenklichkeit, das tut auch das einfühlsame Verstehen, sondern insbesondere einer Distanz zwischen dem, der zu verstehen sucht, und dem, der verstanden werden soll. Es ist hierbei dann nicht die Frage, ob sich der Andere auch verstanden fühlt, sondern es geht primär darum, Muster im Anderen aufzuspüren und aufzudecken, die eine gewisse Vorhersagbarkeit seines Fühlens, Denkens und Handelns ermöglichen. Mit diesem Anspruch reicht es dann vom psychologischen Verstehen bis in den Bereich der naturwissenschaftlichen Erklärungsmuster hinein. Ein Verstehen und auch Erklären, welches in der Psychiatrie zumeist mit Hinweis auf Karl Jaspers als ein Methodendualismus dargestellt wird (Jaspers, 1913; Fulford, Moris, Sadler und Stanghellini, 2003). Ein solches Verstehen ist aber zumeist gar nicht »verständnisvoll«, da es nicht notwendig zu einem Sich-verstanden-Fühlen beim exemplarisch verstandenen Anderen führt. Letzteres verwundert nicht, da es ja auch gar nicht darauf abzielt. »Verständnisvoll« meint also ein spontanes zwischenmenschliches Verständnis, bei dem sich der andere Mensch zudem auch noch verstanden fühlt. Was aber soll es bedeuten, wenn wir sagen, jemand ist besonders verständnisvoll? Wörtlich genommen deutet es darauf hin, dass der Betreffende »randvoll mit Verständnis« ist. Ja, er ist zuweilen geradezu »übervoll«, so dass das Verständnis bildlich gesprochen über und aus ihm herausfließt. Eine solche Verständnisfülle droht im Extremfall dann zu einer »sentimentalen Soße« zu werden, die alles und jeden mit ihrer Verständnissoße überzieht. Dies ist aber keineswegs mehr verständnisvoll, da Unterschiede, Kenntlichkeiten und Eigenarten von vornherein übertüncht werden und der Andere gar nicht mehr
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als Anderer deutlich wird und dann tatsächlich überhaupt nicht mehr verstanden werden kann. Mit verständnisvoll ist also ganz offenbar eine genau bemessene, gewissermaßen »randvolle« Fülle des Verständnisses gemeint. Ihr Maß liegt hingegen nicht bei dem, der sich um das Verständnis bemüht, sondern eben gerade beim anderen Menschen. Fühlt der sich verstanden, war die Verständnisfülle genau richtig. Fühlt er sich hingegen missverstanden oder unverstanden, war die Fülle falsch bemessen. Beispielsweise bezeichnet er den Betreffenden dann als distanziert, respektlos oder auch als aufdringlich. In einem Wort: Er bemängelt fehlendes Verständnis und der Betreffende erscheint ihm verständnislos. Diese zwischenmenschliche Verständnislosigkeit äußert sich beispielsweise in einem verständnislosen Kopfschütteln oder der gefühlten Gewissheit des Anderen, »überhaupt nicht verstanden worden zu sein«. Es ist diese interpersonale Verständnislosigkeit, dieses Sich-nicht-verstanden-Fühlen, die mich im Nachfolgenden besonders interessiert. Sie ist etwas schwieriger zu fassen, als eine Verständnislosigkeit, die einfach die fehlende Kenntnis oder Fehlinterpretationen von Zusammenhängen umfasst. Sie ist aber für die Psychiatrie von besonderer Bedeutung, auch wenn sie in jeder medizinischen Disziplin wichtig ist, da zwischenmenschliches Sich-verstanden-Fühlen die ungefragte Basis für alle weitere Diagnostik und Therapie ist, welche sich dann zumeist eines eher distanzierten Verstehens und Erklärens bedient. Doch wenn sich der Patient von seinem Arzt nicht verstanden fühlt, wieso sollte er die Medikamente einnehmen, die dieser ihm empfohlen hat? Für die Psychiatrie ist die Lage besonders herausfordernd. Denn dem psychisch kranken Menschen ist diese interpersonale Basis im Verlauf seines Erkrankens oftmals fragwürdig geworden. Der depressiv Erkrankte erlebt sich als Belastung für die anderen, der suizidal gewordene Mensch sieht sich alleingelassen und dem wahnhaft Verfolgten ist jeder Mensch suspekt, steckt er doch vermutlich mit den anderen unter einer Decke. So geht es in der Psychiatrie immer darum, zunächst die Kluft zwischen mir und dem Anderen überhaupt zu überwinden und die Selbstverständlichkeit des verständnsivollen Miteinanders wiederzugewinnen. Dies kann im tätigen Miteinander oder im Gespräch gelingen, aber eben auch scheitern. Hierbei gibt es sicherlich auch Grenzen des Verständnisses. Die weitgehende zwischenmenschliche Verständnislosigkeit markiert aber jedenfalls zunächst das Scheitern der Bemühungen um ein Miteinander, fordert darin aber zugleich zu erneuten Bemühungen auf. Aber ist damit der Bedeutungshof des Begriffs der Verständnislosigkeit bereits ausreichend umrissen? Es scheint sinnvoll, nochmals unterschiedliche Formen der Verständnislosigkeit zu unterscheiden, um die hier zur Debatte stehende interpersonale Verständnislosigkeit genauer abzugrenzen. Ziel ist es, diese Verständnislosigkeit in ihrer spontanen Zwischenmenschlichkeit
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genauer zu skizzieren. Dabei soll es insbesondere darum gehen, die für ein Verständnis dieser besonderen Verständnislosigkeit zwingend geforderten Merkmale darzulegen. Den Abschluss bilden Überlegungen zur besonderen Position einer solchen interpersonalen Verständnislosigkeit im psychiatrischen Feld.
2.2
Die verschiedenen Formen der Verständnislosigkeit
Verständnislosigkeit ist ein vieldeutiges Konzept. Dabei ist es als Konzept selber gar nicht unverständlich, sondern durchaus bedeutungsvoll und auch sinnausweisend. Wie Markus Heinimaa (2003) überzeugend darlegt, benötigen wir in vielen Lebenssituationen gerade ein solches Konzept der Verständnislosigkeit, um unsere Situation verstehen zu können. Beispielsweise dann, wenn wir das Verhalten einer anderen Person nicht zu verstehen vermögen und es als »unverständlich« bezeichnen – und es so gewissermaßen doch noch »verstehen« – oder weil wir uns von einer anderen Person unverstanden fühlen und ihr dann Verständnislosigkeit im Sinne eines fehlenden Verständnisses zuschreiben – und uns selbst damit aus der Schusslinie des Fehlerhaften oder Unzulänglichen nehmen. Die Notwendigkeit dieses Konzepts gilt insbesondere für uns in der Psychiatrie, die wir zuweilen gezwungen sind, das uns unverständlich bleibende Fühlen, Denken und Verhalten von schizophren-psychotischen Menschen als Botschaft zu verstehen, da es ihnen selbst ebenfalls unverständlich ist (Wulff, 1995). Um sich nun besser darüber verständigen zu können, was Verständnislosigkeit meinen könnte, ist es sinnvoll, einige Unterscheidungen in Anlehnung an Heinimaa (2003) einzuführen, die er wiederum in Anlehnung an den finnischen Philosophen Lars Hertzberg hinsichtlich der Unverständlichkeit anführt. Die wohl einfachste Form der Verständnislosigkeit ist eine an fehlende Informationen gebundene Form, beispielsweise wenn ein Mensch nur die Hälfte eines Satzes hört, weil der Wind die Worte davonträgt. Das Besondere dabei ist, dass dem Menschen sehr schnell klar wird, dass er nichts verstanden hat, und er vermutlich zurückfragen wird: »Wie bitte? Was hast du gesagt?« Dennoch kann es sein, dass dem Betreffenden der Satz unverständlich bleibt. Beispielsweise weil er bestimmte Worte nicht korrekt ihren satzgebundenen und situativen Bedeutungen zuordnen kann. Nehmen wir an, das Gespräch findet bei stärkerem Seegang auf einem Schiff statt. Nachdem der Zuhörer nachgefragt hat, wird ihm der vollständige Satz nochmals mitgeteilt. Dennoch kann er mit dem Begriff »reffen« nichts anfangen. Er könnte nachfragen, lässt es aber und verhält sich deshalb aus Sicht des Skippers wenig sinnvoll. Nun herrscht plötzlich beiderseitige Verständnislosigkeit. Während dem Zuhörer dämmert, offenbar etwas falsch verstanden zu haben, fragt sich der Skipper
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lautstark und ernstlich, wieso er von Unfähigen umgeben ist. Kurz gesagt: Aus seiner Sicht bleibt es radikal unverständlich, wieso sich der Andere so unsinnig verhält, als hätte er nichts verstanden (womit er ja richtig liegt, auch wenn er es nicht glauben kann). Der Betroffene wiederum wirft dem Skipper ob dessen wütender Reaktion Verständnislosigkeit vor (obwohl ihm klar ist, dass er hätte nachfragen müssen, und sich nicht ausreichend bemüht hat). Wir können in diesem Beispiel die folgenden Formen der Verständnislosigkeit unterscheiden, welche es natürlich nicht nur zwischen Menschen, sondern auch hinsichtlich anderer Zusammenhänge gibt: – fehlendes Verständnis in Folge fehlender Information, – fehlendes Verständnis, obgleich durchaus welches möglich wäre und es am Einsatz fehlt, – fehlendes Verständnis, obgleich bei aller Anstrengung kein Verständnis möglich wird (radikal Unverständliches). Nun könnte es so scheinen, als wenn im zwischenmenschlichen Feld die erste Form der Verständnislosigkeit zumeist gemeinsam gut behoben werden könne. Dies ist aber für den Psychiater keineswegs selbstverständlich. Vielmehr sieht er sich oftmals einem Menschen gegenüber, der ihm beim besten Willen die fehlenden Informationen nicht liefern kann oder aber gar nicht bereit ist, hierbei behilflich zu sein. So verweist bereits diese erste Form der Verständnislosigkeit auf die beiden anderen Formen und hier letztlich sogar auf das radikal Unverständliche, welches in keiner Weise verstanden werden kann. Es ist dieses radikal Unverständliche, welches Erich Wulff als die Botschaft des schizophren Psychotischen ausweist. Seine These ist, dass »in der Schizophrenie die Möglichkeit der Verbindlichkeit der Beziehung von subjektivsituativem Sinn – dessen, worum es dem Subjekt in der jeweiligen Situation zu einem jeweiligen Moment letztlich geht – und verallgemeinerbaren, historisch gewordenen Bedeutungen abhanden kommt« (Wulff, 1995, S. 173 f.). Dann aber kann Gegebenes kaum noch sinnvoll geordnet und mit anderen gemeinsam überprüft, abgeglichen oder korrigiert werden. Vieles bleibt dann unverständlich, sowohl für den Betreffenden als auch den ihm begegnenden Anderen. »Das zu Verstehende wäre dann die Botschaft der Unverständlichkeit selber, und nicht, was sich eventuell hinter ihrer Maske doch noch an Verstehbarem verbergen könnte« (S. 160 f.). Mit Ludwig Wittgenstein argumentieren sowohl Wulff als auch Heinimaa, dass Unverständlichkeit als Konzept durchaus bedeutungsvoll ist und die Grenzen unseres Verständnisses anzeigt. »This also means that the concept of incomprehensibility does not tell us anything about the conditions of its manifestation. It only shows us that what we have pursued with understanding is not available. We thus have to try find understanding in a novel way. This may involve explanation, interpretation, etc.« (Heinimaa, 2003, S. 226).
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Eine solche radikale Unverständlichkeit ist aber ganz offenbar mit der hier debattierten Verständnislosigkeit nicht gemeint. Vielmehr handelt es sich hierbei um die zweite Form der Verständnislosigkeit. Denn ganz wesentlich ist an der zwischenmenschlichen Verständnislosigkeit, dass derjenige, der sich unverstanden fühlt, dem anderen fehlendes Bemühen und Vermögen vorwirft. Gerade hierin weist sich die Verständnislosigkeit erst als die aus, die sie ist: ein Mangel auf der Seite desjenigen, der sich um das Verstehen bemüht. Wir könnten geradezu von einer eher aktiv herbeigeführten Verständnislosigkeit sprechen, die einer (verweigernden) Passivität des Betreffenden entspricht. Dahingegen liegt die radikale Unverständlichkeit stärker auf der Seite desjenigen, der verstanden werden soll. Hier herrscht eher ein zwangsläufig passives Unverständnis, welches einer geradezu aktiven Verweigerung des unverstanden Gebliebenen entspricht. Diese Zuordnungen auf die Seiten der Beteiligten und auch der Aktivität sind aber nur Tendenz. Denn jeweils handelt es sich um ein gemeinsames hermeneutisches Geschehen, welches misslingt. In diesem hermeneutischen Geschehen gehören im Zwischenmenschlichen auch bei der Verständnislosigkeit immer zwei dazu. Sicherlich gewinnen sich beide Personen in diesem Bemühen, einander zu verstehen, sehr unterschiedlich. In der hier debattierten Verständnislosigkeit scheinen die Rollen aber klar verteilt: Der unverstanden Bleibende fühlt sich unverstanden und sieht den Anlass hierfür vor allem beim Anderen, wohingegen der um Verständnis Bemühte sein fehlendes Verständnis eventuell erst durch die Rückmeldung des Anderen tatsächlich mitbekommt. In diesem schrittweisen Bemühen um ein einfühlendes Verständnis kann die Verständnislosigkeit an allen möglichen Stellen aufbrechen. Verbleibt sie dabei nicht außerhalb des hermeneutischen Geschehens, sondern wird einander gespiegelt und mitgeteilt, so zeigt die Verständnislosigkeit im Prozess des Einander-Verstehens an, in welchen Momenten das einfühlsame Verständnis und damit das gemeinsame Miteinander scheitern. Die zwischenmenschliche Verständnislosigkeit kann also zwischen den beteiligten Personen hin und her wechseln und kommt keineswegs nur dem einen der Beteiligten zu. In diesem Sinn hilft sie dem Einander-Verstehen auf die Sprünge, da sie die Grenzen des bereits gegebenen einfühlenden Verständnisses kenntlich macht. Dies kann im Extremfall, wie in bestimmten Phasen schizophrener Psychosen, tatsächlich bis in eine radikale Unverständlichkeit reichen. Die zwischenmenschliche Verständnislosigkeit verweist auf ein Vorverständnis, welches der nicht verstehende Interpret seinen Bemühungen vorwegschickt. In unserem oben gewählten Beispiel des Segelns auf hoher See ist dies sofort einsichtig, da zwar verbale Grundkenntnisse der »Seglersprache« beim Segeln hilfreich sind, deren Verständnis aber vorher erst erlernt werden muss. Auch für ein einfühlsames und empathisches Verstandenwerden muss
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derjenige, der mich verstehen soll, ein Vorverständnis mitbringen, welches im richtigen Ausmaß Möglichkeiten des Verstehens eröffnet. Genau dieser richtig bemessene Raum der Verständnismöglichkeiten scheint mit der Metapher der »randvollen Verständnisfülle« gemeint.
2.3
Zwischenmenschliche Verständnislosigkeit in der Psychiatrie
In seinem Essay »Hermeneutik und Psychiatrie« legt Hans-Georg Gadamer ausführlich dar, inwiefern der Psychiater in besonderem Maße auch Hermeneut sein muss, wobei das Besondere für ihn sei, dass er sich auch verständigen müsse, wenn sich der Patient diesen Bemühungen permanent entzieht (Gadamer, 1993, S. 207 f.). Zwar bricht in der Psychiatrie oftmals eine gegenseitige Verständnislosigkeit als »unüberbrückbare Kluft« zwischen Arzt und Krankem auf, jedoch hilft in diesen Momenten das eher grobe Konzept der Verständnislosigkeit im Bemühen um Verständigung nicht wirklich weiter. Vielmehr benötigt der Arzt dann in seinem Bemühen um gemeinsames Verstehen und Partnerschaft mit dem Erkrankten die Vergewisserung des an sich einfachen Umstandes, dass der Mensch gerade in seiner Lebendigkeit stets über seine gegebene und damit verständliche Gestalt hinausweist (S. 211 f.). Dies gilt umso mehr für den Psychiater, der als Seelenarzt von vornherein immer mit dem Ganzen zu tun hat. »›Die Seele‹ ist nicht ein Teilbereich, sondern das Ganze des leiblichen Daseins des Menschen noch einmal. Aristoteles hat es gewußt. Die Seele ist die Lebendigkeit des Leibes« (S. 213). Wenn für uns Psychiater der Maßstab des Verständnisses aber der andere Mensch ist, der sich verstanden fühlt, so sind vorübergehende Missverständnisse und Unverständnisse sowohl unvermeidbar als auch notwendig, um zu einem gemeinsamen Verständnis vordringen zu können. Aber würde dann unser Verständnis nicht doch beliebig und geradezu inflationär? Droht hier nicht eine »menschenfreundliche Verständnissoße«, in der alles und jeder so verstanden wird, wie er es gerne hätte? Diese Gefahr ist allerdings gegeben, jedoch würde der Psychiater dann den anderen Menschen nicht mehr als »Du« annehmen, sondern nur sich selbst als den »Verständnisvollsten aller Verständnisvollen« feiern. Eine besonders perfide Art, um der wahren Begegnung mit dem Anderen auszuweichen. Hört der Psychiater auf seinen Patienten, kann ihm dies hingegen nicht passieren. Denn dann werden gelegentliche Missverständnisse aufklärbar und zeigen ihre katalytische Funktion darin, dass sie den anderen Menschen in seiner unverwechselbaren und doch nicht ausrechenbaren Art und Weise kenntlich machen. Gerade in diesem Wechselspiel von Verständnis und Verständnislosigkeit bewahrheitet sich die Kunst des gegenseitigen Verstehens als ein Prozess, eben als hermeneutisches Geschehen.
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In diesem geht es um das »Du«, wie wir mit Martin Buber (1965) sagen können. Den anderen Menschen als »Du« anzunehmen, erfordert zugleich in bestimmter Weise »Ich« zu sich zu sagen. Das Besondere dieses »Ichs« ist seine schon im Vorfeld allen Ich-sagens gegebene Eingebundenheit in das »Ich und Du«. Denn Begegnung im Buber’schen Sinn ist unmittelbar und kann gerade nicht in einem Hin- und Herwirken von etwas zwischen zwei bereits gegebenen Personen verstanden werden. »Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. [. . . ] Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.« (Buber, 1965, S. 15 f.) Die Gemeinschaft des »Ich und Du« ist primär und vor aller Auftrennung in mich und den Anderen in einem gemeinsamen, aber keineswegs ungeschiedenen Sinn gegebenen. Es ist dieses stete Bezogensein, aus dem heraus sich die Zueinander-Bezogenen als Bezogene gewinnen. Zwischenmenschlichkeit weist eine unausweichliche und passive Qualität auf. Um das Zwischenmenschliche verstehen zu können, muss folglich ihre präreflexive Qualität gesehen werden. Partnerschaft, Freundschaft und Gemeinschaft können reflexiv niemals vollkommen ausgeleuchtet werden, wobei diese Selbstbeziehung der Gemeinschaft insbesondere das gemeinsame Gespräch miteinander meint. Dennoch kann sich eine Gruppe niemals vollkommen verstehen, egal wie viel die Menschen miteinander reden. Und auch Supervision führt hier nicht zu letzter Klarheit. Diese gemeinsame Verständnislosigkeit des »Sich-nicht-vollständig-verstehen-könnens« bezieht sich dabei nicht nur auf die Undurchdringlichkeit des Einzelnen, sondern auf die letztliche Undurchdringlichkeit des Gemeinsamen. Dies meint aber keine radikale Unverständlichkeit, sondern gerade das Gegenteil. Denn das Zwischenmenschliche weist über sich als konkrete Beziehung hinaus und gewinnt darin eine transzendente Qualität, da es immer noch »mehr« ist als das hier und jetzt Gegebene. Dieses Sich-Übersteigen ins letztlich Namenlose und nicht eindeutig Bestimmbare, welches bei Buber auch Gott genannt wird, ist aber jedenfalls nicht außerhalb des konkreten Lebensvollzugs gegeben (S. 82). Auf dem gemeinsamen Weg zum Einander-Verstehen ist zeitweilige Verständnislosigkeit folglich nicht zu vermeiden. Die Frage stellt sich, ob sie nicht vielleicht sogar notwendig ist? Denn wichtiger als ein stetes einfühlsames Verständnis ist, dass der Weg bleibt und dass das Bemühen erkennbar wird, wieder zum einfühlsamen Verständnis vorzudringen. So auch Buber: »Jede wirkliche Beziehung in der Welt vollzieht sich im Wechsel von Aktualität und Latenz, jedes geeinzelte Du muß sich zum Es verpuppen, um wieder neu sich zu beflügeln. In der reinen Beziehung aber ist die Latenz nur das Atemholen der Aktualität, darin das Du präsent bleibt« (S. 101). Der Maßstab des Verständnisses ist eben nicht irgendein abstrakter Anspruch, sondern die konkret gelebte und gemeinsame Wirklichkeit (Rombach, 1988, S. 267 ff.). Das stimmige und einfühlsame Verständnis ist zudem keine Momentaufnahme, wie
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Heinrich Rombach betont, sondern selbst in das Bemessen der sich findenden Gemeinschaft gestellt. Insofern gilt, dass es der gemeinsame Weg selbst ist, der darüber entscheidet, ob ein Verständnis mehr oder weniger angemessen ist oder nicht (S. 269). Auf diesem Weg können auch der Skipper und der Freizeitsegler zusammenfinden. Eine geradezu alltägliche Geschichte, die den Durchgang durch die Verständnislosigkeit benötigt, um zum zwischenmenschlichen Verständnis zu gelangen. Nicht anders geht es uns Psychiatern, nur dass wir oftmals in eine weitreichende Vorleistung des einfühlenden, zwischenmenschlichen Verständnisses gehen müssen. Gelingt es, dass sich der erkrankte Mensch verstanden fühlt, so kann auch der gemeinsame Weg gelingen, an dessen Ende immer die Freigabe des Menschen in seinen eigenen und selbstbestimmten Lebensalltag steht. Unabdingbare Voraussetzung für die Vorleistung dieses zwischenmenschlichen Verständnisses auf Seiten des Psychiaters ist aber die bewusst wahrgenommene Präsenz der letzten und radikalen Offenheit des Lebens, welches sich hartnäckig allen letztgründigen Bestimmungsversuchen, auch denen einer psychischen Erkrankung, entzieht. Dieses ist weitab von aller Verständnislosigkeit und auch von aller irrationalen Pathetik. Denn das einfühlsame Verstehen ersetzt weder das psychologische Verstehen noch anderweitige Erklärungsmuster, sondern versetzt den Psychiater überhaupt erst in die Möglichkeit, zu diesen Verständnissen vordringen und diese in die Gemeinschaft einbringen zu können. Mit dieser »radikalen Offenheit« ist keine radikale Unverständlichkeit gemeint, sondern dieser letzte unfassbare, aber durchaus bekannte Punkt des Lebens, nämlich die Lebendigkeit selbst. Auch wenn sie den Menschen im Leben nie verlässt, wird sie dem Menschen immer dort auf den (gemeinsamen) Wegen seines Lebens verständlich, wo es immer noch mehr zu verstehen gibt, als bereits verstanden wurde. Und es ist gerade dieses »mehr als jetzt«, welches wesentlich für psychiatrische Therapie ist. Denn hierin sprechen sich neue Möglichkeiten aus, von dorther gewinnt sich dem Menschen sein Gesundwerden. Auch auf dem Weg des Psychiaters gilt dieser schwerste Punkt der Selbsterkenntnis, dass wir Menschen uns und andere nicht vollständig verstehen können, da wir stets über das hinausgehen, was wir gerade zu sein scheinen. Eine solch selbstkritische Distanz erleichtert jedoch die alltägliche psychiatrische Arbeit, da sich im Zugehen auf diesen Punkt für jeden einzelnen Menschen die Freiheit eröffnet, ohne welche die Psychiatrie nur eine menschenfeindliche und therapiefreie Veranstaltung wäre. Jedoch sind gelegentliche zwischenmenschliche Verständnislosigkeiten nicht immer zu vermeiden und können sogar unserem Bemühen für eine humane Psychiatrie auf die Sprünge helfen. Denn dort, wo im hermeneutischen Geschehen diese zwischenmenschliche Verständnislosigkeit aufbricht, wird dieses Geschehen herausfordert. Dabei gelingt es offenbar besonders gut, im hermeneutischen Geschehen wieder
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in ein gemeinsames Verständnis zu gelangen, wenn sowohl der Hinweis auf diese radikale Offenheit des Lebens gegeben bleibt und als auch das zwischenmenschliche Vorverständnis weiterhin gelingt. Literatur Buber, M. (1965). Ich und Du. In: M. Buber, Das dialogische Prinzip. Stuttgart: Lambert Schneider. Fulford, K. W. M., Moris, K. J., Sadler, J. Z., Stanghellini, G. (2003). Past improbable, future possible: the renaissance in philosophy and psychiatry. In K. W. M. Fulford, K. J. Moris, J. Z. Sadler, G. Stanghellini (Eds.), Nature and narrative. An introduction to the new philosophy of psychiatry (S. 1–41). Oxford: Oxford University Press. Gadamer, H.-G. (1993). Hermeneutik und Psychiatrie. In: Ders. Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heinimaa, M. (2003). Incomprehensibility. In: K. W. M. Fulford, K. J. Moris, J. Z. Sadler, G. Stanghellini (Eds.), Nature and narrative. An introduction to the new philosophy of psychiatry (S. 217–230). Oxford: Oxford University Press. Jaspers, K. (1913). Allgemeine Psychopathologie. Berlin, Heidelberg: Springer. Rombach, H. (1988). Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit (2. Aufl.). Freiburg: Alber. Wulff, E. (1995). Wahnsinnslogik. Von der Verstehbarkeit schizophrener Erfahrung. Bonn: Psychiatrie Verlag.
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Charles Dickens’ »A tale of two cities« – eine literarische Fallbeschreibung einer Posttraumatischen Belastungsstörung Thomas Huber
3.1
Die Geschichte des Dr. Manette
Der 1859 von Charles Dickens veröffentlichte Roman »A tale of two cities« schildert die Erlebnisse einer Gruppe von Menschen während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in London und Paris. In der vorliegenden Arbeit wird die Wordsworth-Ausgabe von 1993 verwendet. Vor dem genannten Hintergrund entwirft Dickens die Charakterstudie des Dr. Alexandre Manette, die als eine Fallbeschreibung einer psychischen Störung angesehen werden kann, welche zu diesem Zeitpunkt in psychiatrischen Lehrbüchern unbekannt war, aber nichtsdestotrotz von ihm scharfsichtig beschrieben wird. 1757 wird der Arzt Dr. Manette vom Marquis d’Evremonde zu einer jungen Frau gerufen, die dieser sexuell missbraucht und deren Bruder er bei dem Versuch, die Schwester zu retten, tödlich verwundet hat. Damit der Arzt dieses Wissen nicht preisgeben kann, wird er unschuldig verhaftet und ohne Gerichtsverfahren und ohne Information seiner schwangeren Frau in der Pariser Bastille festgesetzt. Seine Frau erfährt niemals von seinem Schicksal, und als sie drei Jahre später stirbt, bleibt die Tochter Lucie als vermeintliche Waise zurück. Dr. Manette fürchtet den Verlust seiner geistigen Kräfte durch die lange Einzelhaft und versteckt einen Bericht seiner Geschichte in seiner Gefängniszelle. Er erwirkt sich außerdem die Erlaubnis, mit Hilfe einer Werkbank Schuhe herzustellen, um sich zu beschäftigen. Nach fast 18 Jahren wird er frei gelassen, seine Tochter erfährt von seiner Existenz und kommt aus London, um ihn mit sich zu nehmen. Bei diesem Treffen befindet sich Dr. Manette in einem katastrophalen physischen und psychischen Zustand. Er ist vollständig und kontinuierlich in das Schuhemachen versunken und nimmt offensichtlich nicht wahr, dass er nicht mehr inhaftiert ist. Nur Lucie Manette ist aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit ihrer Mutter in der Lage, ihn aus diesem Zustand zu bringen. Sie scheint in Dr. Manette die Erinnerung an frühere positive Emotionen und eine liebevolle Beziehung wachzurufen. Dickens benennt die sich in der Folge entwickelnde enge Bindung zwischen Vater und Tochter als den Faktor, der Dr. Manette so weit gesunden lässt, dass er wieder als Arzt arbeiten und vertrauensvolle Beziehungen entwickeln kann. Diese ungewöhnlich enge und abhängige Vater-Tochter-Beziehung hindert jedoch Lucie Manette auch daran, eine eigenständige, autonome Persönlichkeit zu werden. Für alle Beteiligten erscheint es undenkbar, dass sie ihren Vater verlässt, als sie einige Jahre später heiratet. Aus diesem Grund soll ihr aus Frankreich stammender Verlobter Charles Darney in den gemeinsamen Hausstand mit seiner Ehefrau und seinem Schwiegervater eintreten. In den Jahren nach Dr. Manettes Freilassung wirkt dieser gelegentlich abwesend und gedrückter Stimmung. Er erlebt außerdem Zustände, in denen er sich ähnlich verhält wie beim ersten Treffen mit seiner Tochter. Diese Episoden werden aber immer seltener. Am Hochzeitstag von Lucie und Charles erfährt Dr. Manette, dass sein zukünftiger Schwie-
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T. Huber Autor
gersohn der Erbe genau der Familie d’Evremonde ist, die ihn selbst in die Bastille hatte bringen lassen. Er erlebt daraufhin eine neun Tage dauernde Episode, während derer er wieder an seiner Schusterbank sitzt und vertraute Personen kaum wahrnimmt oder auf sie reagiert, außer indem er mechanisch aufblickt und antwortet, als sei er noch inhaftiert. Am zehnten Morgen verhält er sich wieder wie zuvor, hat aber keine Erinnerung an die Episode und glaubt, seine Tochter habe am Vortag geheiratet. Er erlaubt einem Freund der Familie nach einiger Überzeugungsarbeit, die Schusterbank zu entfernen, obwohl ihn die Vorstellung stark ängstigt, dass diese bei einer erneuten Episode nicht mehr zur Verfügung stehen wird. Über Jahre kommt es zu keinen weiteren Symptomen und Dr. Manette erscheint gesund und selbstsicher. Das Schicksal führt die Familie aber nach Paris und Charles Darney wird als gebürtiger Adliger in den Wirren der Französischen Revolution verhaftet. Dr. Manette erreicht seine Freilassung mit Hilfe seines Einflusses als ehemaliger Häftling der Bastille. Charles wird aber erneut inhaftiert und für die Verbrechen seiner Vorfahren zum Tode verurteilt. Entscheidendes Beweisstück ist hierbei das Manuskript, das Dr. Manette selbst während seiner Jahre in der Bastille in seiner Gefängniszelle versteckt hatte. Er unternimmt einen erfolglosen Versuch, den Schwiegersohn zu retten, von dem er erneut vollständig verändert zurückkehrt: Verzweifelt sucht er nach seiner Schusterbank und ist mit keinem Mittel erreichbar. Selbst als Charles doch noch gerettet wird, bleibt er in diesem Zustand. Das Buch erlaubt aber einen Blick in die Zukunft, in der er folgendermaßen erscheint: »aged and bent, but otherwise restored, and faithful to all men in his healing office, and at peace« (Dickens, 1859, S. 320).
3.2
Psychopathologie und Beurteilung
Ein literarisches Werk ist keine medizinische Abhandlung und wird den Vorstellungen des Autors und den Überzeugungen der Entstehungszeit entsprechend gestaltet. Nichtsdestotrotz kann die Beschreibung von Dr. Manettes Beeinträchtigungen als ein früher Fallbericht einer psychischen Erkrankung angesehen werden. Frühere Veröffentlichungen haben diese als depressive Störung mit neurotischen Anteilen und autistischen Tendenzen (Decker, 1998) und als Schizophrenie (Brain, 1955; Ward, 1963) eingeschätzt. Der Zustand von Dr. Manette beim ersten Zusammentreffen mit seiner Tochter kann aber auch anders interpretiert werden: Ihm scheint nicht bewusst zu sein, dass er aus der zweifelsohne traumatischen Inhaftierung entlassen wurde. Er nimmt kaum Notiz von seiner Umgebung und reagiert mit starker Verzögerung, wenn er angesprochen wird. Seine Antworten erfolgen mit dünner Stimme, »expressive [. . . ] of a hopeless and lost creature« (Dickens, 1859, S. 33). Sein Blick ist als leer beschrieben, und wenn er nicht an der Schusterbank arbeitet, bewegt er die Hände beständig, repetitiv und ziellos. Auf die Frage nach seinem Namen antwortet er mit seiner Zellennummer. Er ist also orientiert zur Person, aber nicht zu Situation und Ort. Nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen kann eine dissoziative Trance (ICD-10 F44.3) angenommen werden. Diese zeigt sich in Bewusstseins- und Gedächtnisstörungen, fehlender vollständiger Wahrnehmung seiner Umgebung und stereotypen Bewegungen. Später stellt sich heraus, dass eine Amnesie für die Phase besteht.
Titel Dickens’ »A tale of two cities« Charles
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Dieser dissoziative Zustand endet, aber Dr. Manette erlebt in der Folge Episoden einer unvorhersehbaren Schwermut und Geistesabwesenheit, die ihn plötzlich überfalle. Diese entstehen spontan oder werden durch Umstände ausgelöst, die ihn an seine Inhaftierung erinnern. Manchmal geht er nachts in seinem Zimmer auf und ab und Dickens schreibt: »[. . . ] his mind is walking up and down, walking up and down, in his old prison« (Dickens, 1859, S. 82). Auch in diesen Phasen nimmt er seine Umgebung nicht wahr. Lucie Manette geht dann mit ihm und spricht beruhigend auf ihn ein. Es können also sich aufdrängende Erinnerungen und getriggertes Wiedererleben der Inhaftierung angenommen werden. Dr. Manette gibt im Text eine Einschätzung seines eigenen Zustands ab, als ihn ein Freund um Rat – vorgeblich jemand anderes betreffend – bittet. Der Arzt deutet sehr klar erkennbar an, dass die Episode nach der Hochzeit seiner Tochter ausgelöst wurde von »a strong and extraordinary revival of the train of thought and remembrance that was the first cause of the malady. Some intense associations of a most distressing nature were vividly recalled« (Dickens, 1859, S. 171). Dr. Manette bestätigt außerdem, keine Erinnerung an die Episode zu haben, und bezeichnet seine wissenschaftlichen Studien als ein therapeutisches Mittel, um seine Gedanken von der Beschäftigung mit der Vergangenheit abzulenken. Der beschriebene Zustand kann also als ein Wiedererleben der Gefangenschaft interpretiert werden, das ausgelöst wurde durch einen Verweis auf diese. Es liegen somit mehrere der Kriterien vor, die die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) rechtfertigen: wiederholtes Erleben der traumatischen Erfahrung in sich aufdrängenden Erinnerungen und belastendes Wiedererinnern; Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen können, und im frühen Krankheitsverlauf auch Agitiertheit, emotionale Stumpfheit und Desinteresse an Aktivitäten sowie eine Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen. Eine wichtige Differential-Diagnose ist die einer Dissoziativen Störung: In der Tat befindet sich Dr. Manette bei seinem ersten Auftreten in einer dissoziativen Trance, die eine ICD-10-Diagnose (F44.3) bzw. DSM-IV-Diagnose (300.15) rechtfertigt. Es kann auch eine Dissoziative Identitätsstörung (DSM-IV 300.14) oder Multiple Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F44.81) diskutiert werden. Allerdings erscheint Dr. Manette in den beschriebenen Episoden nicht so sehr wie eine eigene Persönlichkeit mit spezifischen Verhaltensweisen, Empfindungen und Vorlieben als vielmehr in genau diesen Aspekten eingeschränkt. Es finden sich auch keine Amnesien für wichtige persönliche Informationen außer für sein Verhalten während der Episoden. Zusammenfassend sind die dissoziativen Symptome am besten im Sinne des Wiederlebens der Traumaerfahrung einzuordnen, wie sie bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung auftreten.
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3.3
T. Huber Autor
Quellen und Vorbilder von Dr. Manette
Es gibt einige Hinweise auf den Ursprung der Figur von Dr. Manette. An anderer Stelle ist herausgestellt worden, dass Dickens nur über etwas schrieb, was er selbst gesehen habe (Frijling-Schreuder, 1985). Tatsächlich erscheint die Person des Dr. Manette aus verschiedenen Dokumenten und Individuen zusammengesetzt, die Dickens selbst kannte und gesehen hat. Unter dem Material, dass er vor dem Schreiben von »A tale of two cities« studierte, befinden sich Berichte über einen Mann, der während der Französischen Revolution nach langer Hauft aus der Bastille befreit wurde, ebenso wie über einen anderen Gefangenen, der einen Brief über seine Geschichte geschrieben hatte; beide können als Quelle wichtiger Passagen des Romans angesehen werden (Borowitz, 1996). Es ist auch bekannt, dass Dickens mehrere psychiatrische Kliniken besucht hat. In seinen »American Notes« (Dickens, 1929) beschreibt er Gefangene in Einzelhaft in einer Weise, die deutlich der Schilderung von Dr. Manette in dessen dissoziativen Zuständen ähnelt. Dabei ist bemerkenswert, dass Dickens im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen diese Form der Isolation nicht als geeignetes Mittel ansah, einen Charakter zu bessern, sondern »hold this slow and daily tampering with the mysteries of the brain, to be immeasurably worse than any torture of the body«. Er nahm an, dass diese Art von Inhaftierung die geistig-seelische Gesundheit beeinträchtigen könne. Die Geschichte von Dr. Manette erlaubt auch einen Blick darauf, was Dickens als potenziell therapeutisch wirksam für die von ihm beschriebenen Störungen ansah. Während seiner Gefangenschaft beschäftigt sich Dr. Manette mit dem Schuhemachen, was »relieved his pain so much, by substituting the perplexity of the fingers for the perplexity of the brain« (Dickens, 1859, S. 173). Diese Einschätzung kann als Vorhersage dessen verstanden werden, was wir durch die Erfahrungen der Insassen von Gefangenenlagern gelernt haben: dass die Zuflucht zu einer – auch sehr einfachen – kreativen Tätigkeit einen Schutz vor dem Verlust der Menschlichkeit darstellen kann (Borowitz, 1996). Diese Beschäftigung greift Dr. Manette während späterer Phasen traumatischen Wiedererlebens erneut auf und demonstriert damit, dass sie gleichzeitig heilsam wirkt, aber auch Ausdruck der Internalisierung seiner Inhaftierung ist, im Sinne eines »interior prison of his own« (Véga-Ritter, 2002). Nach seiner Freilassung bessert sich der Zustand von Dr. Manette aufgrund dreier Faktoren: dem Vergehen von Zeit in ruhiger und sicherer Umgebung; dem Gefühl von Sinnhaftigkeit in seiner Arbeit; und der liebenden und verlässlichen Beziehung zu seiner Tochter, wobei Letzteres als der wichtigste Faktor herausgestellt wird. Sie begleitet und beruhigt ihn in einer bemerkenswert unterstützenden und verlässlichen Weise durch sein Leben und die Rückfälle, die er erleidet, so dass die vertrauensvolle Beziehung als das entscheidende Mittel von Dr. Manettes »Therapie« bezeichnet werden kann.
Titel Dickens’ »A tale of two cities« Charles
3.4
33
Diskussion
Es ist bemerkenswert, dass Dickens ein weitgehend treffendes Bild davon zeichnet, wie sich eine Posttraumatische Belastungsstörung klinisch äußern kann. Dennoch ist »A tale of two cities« ein literarisches Werk und kein medizinisches Lehrbuch. Deshalb muss der Versuch, einen seiner Charaktere als Fallbeschreibung einer Erkrankung zu verwenden, kritisch gesehen werden. Jeder Autor opfert gelegentlich die Originaltreue seiner Schilderung für den literarischen Entwurf oder die Logik und den Fortgang der Handlung. Charles Dickens ist aber seit seinen Lebzeiten bis heute bekannt für seine einzigartige Fähigkeit, die Personen in seinen Geschichten direkt aus dem Leben abzuzeichnen und dafür seine eigenen Beobachtungen und Erfahrungen zu nutzen. In der Tat wurde dies bereits von seinen Zeitgenossen erkannt und mehrere von Dickens’ Charakterschilderungen wurden als Fallbeschreibungen in medizinischen Fachzeitschriften zitiert (Smithers, 1979). Es ist wahrscheinlich, dass er die vorgestellten Quellen für die Figur des Dr. Manette verwendet hat, um eine psychische Störung zu beschreiben, die heute als Posttraumatische Belastungsstörung erkannt und benannt werden kann. Es ist nicht bekannt, woher Dickens vom Phänomen der Auslösung traumatischen Wiedererlebens durch Hinweise auf das Trauma wusste. Seine korrekte Beschreibung legt aber nahe, dass er Zugang zu Beschreibungen solcher Zustände hatte oder sie selbst beobachten konnte. Ein in der Literaturgeschichte hervorstechendes Detail ist die Schilderung einer Selbstreflexion eines psychisch Kranken. Dickens lässt den betroffenen Dr. Manette eine Betrachtung über seine eigene Problematik anstellen und diese einem Freund gegenüber äußern, da dieser ihn – angeblich für eine dritte Person – um Rat gefragt hatte. Dickens geht sogar so weit, mögliche therapeutische Interventionen vorzuschlagen, zu denen ein sicheres, verlässliches Umfeld, eine sinnvolle Beschäftigung und eine vertrauensvolle und wertschätzende Beziehung gehören. Damit zeigt er ein weit über die Vorstellungen seiner Zeit hinausreichendes Verständnis Posttraumatischer Belastungsstörungen und ihrer Behandlung, das moderne Sichtweisen vorwegnimmt. Dieser frühe Fallbericht einer Posttraumatischen Belastungsstörung ist auch deshalb so interessant, weil diese Erkrankung häufig eher als Erfindung denn als Entdeckung der modernen Psychiatrie kritisiert wurde (Young, 1995; Summerfield, 2001). Der geschilderte Fall unterstreicht die Tatsache, dass das persönliche Leiden in Verbindung mit dem «Trauma« nicht notwendigerweise eine Verlagerung aus dem sozialen Umfeld in ein klinisches Setting bedeutet (Summerfield, 2001). Der Leser von «A tale of two cities« erlebt die Genesung von Dr. Manette ohne jede professionelle Hilfe. Außerdem spricht die so detailreiche und ICD-10-Kriterien vorwegnehmende Beschreibung Dickens’, lange bevor die Diagnose formuliert und »erfunden« wurde, für deren
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T. Huber Autor
Echtheit. Letzteres entkräftet die Ansicht, dass soziale Faktoren wie erhoffte Entschädigungszahlungen das klinische Bild erklären könnten, ohne dass diese Erkrankung wirklich existiere (Summerfield, 2001). Literatur Borowitz, A. (1996). Dr Manette and other prisoners. Med. Sci. Law, 36 (4), 353–357. Brain, W. R. (1955). Dickensian Diagnosis. Br. Med. J., 2, 1553–1556. Decker, D. (1998). Psychiatrische Ansätze in Charles Dickens’ ›A tale of two cities‹ oder wie verrückt ist Doktor Manette? Dissertation. Lübeck, Univ. Diss. Dickens, C. (1859). A tale of two cities. Ware, Hertfordshire: Wordsworth Editions Limited 1993. Dickens, C. (1929). American Notes. London: Mandarin. Frijling-Schreuder, E. C. M. (1985). Sublimation and its limitations in Charles Dickens. Psychoanal Study Child, 40, 331–44. Smithers, D.W. (1979). Dickens’ doctors. Oxford: Pergamon. Summerfield, D. (2001). The invention of post-traumatic stress disorder and the social usefulness of a psychiatric category. BMJ, 322, 95–98. Véga-Ritter, M (2002). Histoire et folie dans ›A tale of two cities‹. Cah Victor Edouardiens, 56, 81–100. Ward, S.L. (1963). Medical practice in the days of Charles Dickens. B. C. Med. J., 5 (12), 521– 525. Young, A. (1995). The harmony of illusions: inventing posttraumatic stress disorder. Princeton, NJ: Princeton University Press.
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Musik und Psychiatrie: Musiker als Modell für die erfahrungsabhängige Neuroplastizität des Nervensystems Thomas Peschel
»[Drittens] muss man sich daran erinnern, dass alle unsere psychologischen Vorläufigkeiten einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden sollen.« Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzissmus (1914/1981, S. 56) »Die Mängel unserer Beschreibung würden wahrscheinlich verschwinden, wenn wir anstatt der psychologischen Termini schon die physiologischen oder chemischen einsetzen könnten. Die Biologie ist wahrlich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, wir haben die überraschendsten Aufklärungen von ihr zu erwarten und können nicht erraten, welche Antworten sie auf die von uns an sie gestellten Fragen einige Jahrzehnte später geben würde. Vielleicht gerade solche, durch die unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird.« Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips (1920/1976, S. 65)
In einem visionären Aufsatz von Eric Kandel, der im »American Journal of Psychiatry« im Jahre 1999 veröffentlich wurde, versucht der Nobelpreisträger die »Biologie und die Zukunft der Psychoanalyse« in einen neuen theoretischen Rahmen für die Psychiatrie zu stellen. Die leitende Idee dabei war, dass ein Verständnis der biologischen Prozesse, die unser Lernen und Verhalten begleiten, auch entscheidend zu unserem Verständnis des Verhaltens und seiner Störungen beitragen kann. Es soll skizziert werden, wie sich die noch junge kognitive Neurowissenschaft der Musik und die Psychiatrie in Zukunft ergänzen könnten, da professionelle Musiker uns eine einzigartige Gelegenheit bieten, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns besser zu verstehen. Musik kommt wie die Sprache in allen menschlichen Gesellschaften vor. Sie ist ähnlich komplex organisiert, unterliegt bestimmten Regeln und ist spezifisch im Gehirn repräsentiert. Ihre Wirkung ist dabei oft unmittelbarer als die von Sprache; sie kann uns im Innersten emotional berühren, Erinnerungen wachrufen, uns »bewegen«. Allerdings wird die Fertigkeit der Musikausübung, die zu den höchsten kognitiven Anforderungen an das menschliche Gehirn gehört, nur von wenigen Menschen professionell erlangt. In den letzten Jahren ist es zu einem enormen Erkenntniszuwachs im Bereich der Neurobiologie von Musik gekommen. Für Psychiatrie und Psychotherapie von besonderem fachlichem Interesse sind hier beispielsweise die Rolle von Musik und Emotionen oder die besondere Anfälligkeit von Künst-
lern für psychiatrische Erkrankungen. Dieser Beitrag soll vor allem professionelle Musiker als Modell für eine erfahrungs- und nutzungsabhängige Neuroplastizität näher beleuchten. Musiker bieten sich hierfür aus zwei Gründen besonders an: Einerseits stellt Musik einen starken und komplexen Stimulus dar, und andererseits sind (spätere) professionelle Musiker diesem seit frühster Kindheit mehrere Stunden täglich ausgesetzt. Darüber hinaus kann professionelles Musizieren als komplexes, zielgerichtetes (Modell-)Verhalten aufgefasst werden, das sich – neben dem frühen Beginn – in drei wesentlichen Aspekten von beruflichen Tätigkeiten unterscheidet, die ebenfalls auf eine hohe feinmotorische Präzision angewiesen sind, wie beispielsweise bei Chirurgen oder Uhrmachern: – der Aspekt höchster räumlicher und zeitlicher Präzision unter Kontrolle des Gehörs, – der sportliche Aspekt mit nach oben unbegrenzter Erschwerbarkeit der Bewegungsgeschwindigkeit und der Bewegungsformen, – der emotionale Aspekt, das heißt, Handbewegungen werden zum Mittel, um Emotionen mitzuteilen. Es ist allgemein bekannt, dass professionelles Musizieren Bewegungen in höchster Präzision erfordert. Die räumlich-zeitlichen Rahmenbedingungen sind zumindest im Bereich der klassisch-romantischen Musik exakt vorgegeben. Bei vielen Instrumenten ist darüber hinaus auch die Kraft von Bedeutung, mit der eine Bewegung ausgeführt wird. So steuert der Pianist über seine Anschlagskraft die Lautstärke. Entscheidend ist aber, dass im Gegensatz zu allen anderen menschlichen feinmotorischen Fertigkeiten, die Qualität der Bewegungen für Spieler und Hörer genauestens kontrollierbar ist. Als Beispiel sei an dieser Stelle das typische pianistische Problem des Anschlags genannt. Physikalisch vereinfacht dargestellt muss lediglich ein Hebelsystem betätigt werden, um mit dem Hammer der Flügelmechanik die Saite zu treffen. Die Art und Weise, wie dieser Hammer beschleunigt wird, welche Nebengeräusche beim Auftreffen auf das Elfenbein der Taste, beim Auftreffen der Taste auf den Tastengrund und beim Loslassen der Taste entstehen, die Flugweite des Hammers, die über die Führung des Hebelsystems beim Niederdrücken der Taste entsteht, die Pedalisierung und Qualität der Dämpfung der Saite, alle diese Parameter sind kontrollierbar und liefern einem geübten Hörer schon nach wenigen Tönen einen Eindruck über die Spielfertigkeit des Pianisten. Dieses sehr einfache Beispiel zeigt nur eine der Schwierigkeiten, die beim professionellen Musizieren aufgrund der Kontrollmöglichkeiten durch den Gehörsinn gemeistert werden müssen. Der vorgegebene zeitliche Rahmen der Fingerbewegung wird dabei durch die hohe zeitliche Auflösung des Ohres bestimmt. Dabei liegt die Genauigkeitsgrenze der Handmotorik professioneller Musiker bei wenigen Millisekunden (Altenmüller, 1999).
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Spätestens seit der Periode der Romantik erreichen die zu spielenden Partituren die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit hinsichtlich der geforderten Geschwindigkeit, Kraft und Ausdauer. Herausragende Virtuosen wie Nicolo Paganini oder Franz Liszt traten als Komponisten und Interpreten ihrer eigenen Werke auf und setzten Maßstäbe, die für andere unerreichbar blieben. Spielanweisungen wie »prestissimo possibile« (so schnell wie möglich) ließen die Grenzen nach oben offen. Heutzutage wird der ungeheure artistische Leistungsdruck durch die von der Musikindustrie verursachte und von den Musikern in gewissermaßen selbstzerstörerischer Weise mitgetragenen Tonträger-Kultur erzeugt. Alle Musiker-Bewegungen sind Ausdrucksbewegungen. Sie gehören im weitesten Sinn zum Repertoire menschlicher emotional-gestischer Kommunikation und werden auch so vom Zuhörer verstanden (Altenmüller, 1999). In der Regel wollen Berufsmusiker ihre Emotionen kommunizieren, das heißt, sie spielen sehr gern vor Publikum, insbesondere die leistungsfähigen jüngeren Musiker. Auf der anderen Seite sind Musiker aber überdurchschnittlich vielen Stressoren ausgesetzt. Etwa 60 % professioneller Musiker leiden zeitweise unter Vorspielangst. Nach neuen Befunden scheinen Stressbereitschaft und Angstbereitschaft zur Entwicklung von musikerspezifischen Erkrankungen beizutragen (Jabusch, Zschucke, Schmidt, Schuele und Altenmüller, 2004), wobei die neurobiologischen Hintergründe bislang noch nicht geklärt sind.
4.1
Musizieren formt das Gehirn
Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die neuronale Entwicklung nicht – wie früher angenommen – nach einigen Jahren abgeschlossen ist, sondern sich das Gehirn als ein erstaunlich veränderbares Organ erweist, das jederzeit offen für neue Eindrücke und Erfahrungen ist. Diese hinterlässt Spuren im Gehirn, die sich mittlerweile bildgebend funktionell und strukturell sichtbar machen lassen. Beispielsweise können Vernetzungen unterschiedlicher Gehirnareale bereits nach kurzer Zeit etabliert werden. In einer Studie unserer Arbeitsgruppe (Bangert, Peschel, Schlaug, Rotte, Drescher, Hinrichs, Heinze und Altenmüller, 2006) konnten wir mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie zeigen, dass das Hören eines Klaviertones bei professionellen Pianisten wie erwartet zu einer Aktivierung des Hör-Cortex führt. Gleichzeitig wird aber auch der motorische Cortex aktiv. Wenn professionelle Musiker auf einer stummen Tastatur eine beliebige Tonfolge spielen, wird gleichzeitig mit dem motorischen auch der Hör-Cortex aktiv. Hier hat das Gehirn aufgrund des jahrelangen Trainings eine sinnvolle Verknüpfung der Areale etabliert, die sich bei derselben Aufgabenstellung bei Nicht-Musikern nicht fand. Der pro-
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T. Peschel Autor
fessionelle Musiker verbindet also mit einer gehörten Tonfolge gleichzeitig eine motorische Ausführung; umgekehrt führt eine motorische Aktion auf einem stummen Klavier zu einer internen Repräsentation in Form einer Hörvorstellung. Bei musikalisch nicht vorgebildeten Versuchspersonen fand sich diese Koaktivierung für keine der beiden Bedingungen. In einem zweiten Schritt wurden diese Nicht-Musiker dann an einem Klavier mit Hilfe eines Computerprogramms im Nachspielen von Melodien unterrichtet. Hier zeigte sich, dass bereits nach einer einzigen Übungssitzung von zwanzig Minuten Dauer ein ähnliches Reaktionsmuster mit entsprechender Koaktivierung zu beobachten war wie bei den professionellen Musikern, was sich nach einmonatigem Training dem der professionellen Pianisten anglich. Die Vernetzung unterschiedlicher Gehirnareale kann also bereits in weniger als der Hälfte einer Psychotherapiestunde stattfinden und wird aus heutiger neurobiologischer Sicht als wesentlich für nachhaltiges Lernen angesehen. Jüngere Arbeiten an Versuchstieren zeigen hier, dass das Langzeitgedächtnis zu einer Veränderung der Genexpression und zu anschließenden anatomischen Veränderungen im Gehirn führt (Elbert, Pantev, Wienbruch, Rockstroh und Taub, 1995). Diese anatomischen Veränderungen im Gehirn finden das ganze Leben hindurch statt und formen wahrscheinlich die Fertigkeit. Bis zum Beginn seines Musikstudiums hat ein professioneller Musiker beispielsweise über 10.000 Stunden an seinem musikalischen Ausdrucksverhalten geübt (Altenmüller, 1999). Musik als hochwirksamer Stimulus, der hohe Anforderungen an die Feinmotorik und komplexe Integration der Sinnesmodalitäten darstellt, führt aber nicht nur zu schnellen funktionellen Änderungen des Gehirns; zahlreiche Studien belegen, dass die über Jahre ausgeführten affektiv gefärbten sensomotorischen Höchstleistungen auch zu einer strukturellen Adaptation des zentralen Nervensystems führen können (Peschel und Altenmüller, 2004). Nach neueren Befunden führt langjährige Übung der Feinmotorik bei Musikern zu einer Veränderung der Größe der Handareale in den primären motorischen Arealen (Amunts, Schlaug, Schleicher, Steinmetz, Dabringhaus, Roland und Zilles, 1995). Mit Hilfe der Kernspintomographie wurde eine große Gruppe professioneller Pianisten untersucht und mit einer altersgleichen Gruppe von Nicht-Musikern verglichen. Es zeigte sich, dass bei Musikern im Gegensatz zu den Nicht-Musikern keine deutliche Asymmetrie zwischen den rechtshemisphärischen und den linkshemisphärischen motorischen Handarealen nachweisbar war und dass sich insgesamt die motorische Handregion auf beiden Hirnhälften bei den Musikern etwas größer zeigte. Diese Unterschiede waren besonders bei denjenigen Instrumentalisten deutlich, die vor dem Alter von sieben Jahren mit dem Instrumentalspiel begonnen hatten. Sehr wahrscheinlich handelt es sich hier um eine funktionelle Adaptation der »Hardware« des Zentralnervensystems an die verstärkten Anforderungen. So ist bekannt, dass
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die Entwicklung des Stützgewebes und die Myelinisierung der Nervenzellaxone im Zentralnervensystem bis über das siebte Lebensjahr hinaus andauern und durch adäquate Stimulation gefördert werden können. Mit der gleichen Messmethode wurde auch die Größe des Corpus Callosum bei Pianisten und Geigern im Vergleich zu Nicht-Musikern untersucht (Schlaug, Jäncke, Huang und Steinmetz 1995). Passend zu den oben dargestellten Ergebnissen fand sich eine Vergrößerung der vorderen Anteile des Balkens bei allen Berufsmusikern, die vor dem Alter von sieben Jahren mit dem Instrumentalspiel begonnen hatten. Der vordere Anteil des Balkens führt vor allem Faserverbindungen, die motorische und prämotorische Rindenfelder beider Hemisphären verbinden. Analog kann hier argumentiert werden, dass die funktionelle Beanspruchung der bimanuellen Koordination mit dem notwendigen raschen Informationsaustausch zwischen beiden Hirnhälften zu einer verstärkten Myelinisierung dieser Fasern führt, was auch in einer schnelleren Nervenleitfähigkeit resultieren kann. Es ist nicht auszuschließen, dass auch der Erhalt von normalerweise – das heißt ohne adäquate Reizung – nach der Geburt untergehenden Axonen zu dieser Vergrößerung des Balkens beiträgt (Steinmetz, Staiger, Schlaug, Huang und Jäncke, 1995). Dieser Befund konnte auch funktionell mit dem Nachweis einer verminderten interhemisphäralen Inhibition bei Musikern bestätigt werden (Ridding, Brouwer und Nordstrom, 2000). Neben den handmotorischen Rindenfeldern und ihren Verbindungen zwischen beiden Hirnhälften ist ebenfalls die somatosensible Repräsentation der Handregion bei Musikern vergrößert. Mit Hilfe der Magnetenzephalographie kann mit einem Stimulationsparadigma die Größe der neuronalen Repräsentation einzelner Finger (rezeptive Felder) in der primär somatosensorischen Area abgeschätzt werden. Beim Vergleich der Fingerareale der linken Hand von professionellen Geigern mit altersgleichen nicht musizierenden Kontrollprobanden zeigte sich, dass mit Ausnahme des Daumens die kortikale Repräsentation der Finger bei Geigern im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich vergrößert war. Der Größeneffekt war wiederum abhängig vom Alter, in dem die Probanden das Violinspiel begonnen hatten, und am stärksten bei denjenigen, die vor dem siebten Lebensjahr ihren ersten Geigenunterricht erhalten hatten (Elbert, Pantev, Wienbruch, Rockstroh und Taub, 1995). Eine vergleichbare Veränderung der neuronalen Repräsentation des rechten Zeigefingers wurde ebenfalls bei von Geburt an Blinden nachgewiesen, die frühzeitig die Braille-Schrift erlernt hatten (Pascual-Leone und Torres, 1993). Die genannten Veränderungen werden als Ausdruck kortikaler Plastizität der spezifischen Anforderungen des professionellen Musizierens an die multimodale neuronale Integration gesehen. Somit sind Berufsmusiker für Neurobiologen ein geeignetes Modell, um die physiologischen Mechanismen von aufgabenspezifischer Adaptation des Nervensystems beim Menschen zu untersuchen (Münte, Altenmüller und Jäncke, 2002).
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T. Peschel Autor
Ähnliche Befunde für aufgabenspezifische Plastizität existieren auch bei anderen Tätigkeiten. So konnte nachgewiesen werden, dass der für das räumliche Gedächtnis und die Orientierung zuständige Anteil des Hippocampus bei Londoner Taxifahrern vergrößert ist (Maguire, Gadian, Johnsrude, Good, Ashburner, Frackowiak und Frith, 2000). In einer weiteren Arbeit konnte darüber hinaus erstmals gezeigt werden, dass Lernen auch kurzfristig zu nachweisbaren strukturellen Veränderungen des Gehirns führen kann. Eine Gruppe junger Männer wurde für drei Monate im Jonglieren trainiert. Vor dem Training und danach wurden diejenigen, welche drei Bälle mehr als eine Minute jonglieren konnten, mit der strukturellen Kernspintomographie untersucht. Es zeigte sich, dass es bei den »Jongleuren« im Vergleich zu Kontrollpersonen zu einer Volumenzunahme im Bereich des bewegungssensitiven Areals der Sehrinde kam, welches beim Jongliertraining offenbar stark beansprucht worden war (Draganski, Gaser, Busch, Schuierer, Bogdahn und May, 2004). Die bisherigen Befunde zur erfahrungsabhängigen Neuroplastizität zeigen, dass sich insbesondere professionelle Musiker dazu eignen, die physiologischen Mechanismen der neuronalen Plastizität darzustellen. Eine weitere Besonderheit dieses Modells ist, dass dies im Rahmen eines ständig überwachten, zielgerichteten und problemorientierten Übungsprozesses unter Anleitung eines Lehrers geschieht. Die Analogie zu einem psychotherapeutischen Setting ist hier unschwer zu übersehen. Welche Bedeutung dabei dem Lehrer zukommt, konnten Ericsson und Mitarbeiter (1993) am Beispiel von Berufsgeigern zeigen. Sie wiesen nach, dass der Grad der erreichten Professionalität in hohem Maße mit der am Instrument verbrachten kumulativen Übungszeit korreliert. Diese Übungszeit wiederum war entscheidend von der affektiven Beziehung und Motivationskraft des ersten Instrumentallehrers abhängig und bestimmte letztlich den späteren Grad der Professionalität. Musiker eignen sich aber nicht nur als Modell für physiologische Mechanismen der Neuroplastizität; überzufällig häufig erkranken diese auch an Bewegungsstörungen oder Schmerzsyndromen, die direkt im Zusammenhang mit der professionellen Musikausübung stehen und möglicherweise auf fehlerhafte neuroplastische Veränderungen während der Ausbildung zurückzuführen sind.
Titel und Psychiatrie Musik
4.2
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Maladaptive Plastizität bei Musikern: Modellkrankheit »Musikerkrampf«
»Während der zweiten Fernsehaufnahme (erste Juniwoche) war sofort (ein) Mangel an Koordination deutlich – Eröffnungsthema der Casella war unausgewogen und Noten schienen zu kleben und tonleiternähnliche Passagen waren ungleichmäßig und unkontrolliert. In dieser Phase erschien das Problem vorwiegend in leiseren Passagen. Eine unangenehme Erfahrung und scheinbar immun gegen eine Lösung durch ›ad hoc‹-Druck. In den folgenden zwei Wochen steigerten sich die Probleme. Es war nicht einmal länger möglich, Bach-Choräle sicher zu spielen – Teile waren unausgewogen. Fortschreiten von Note zu Note unsicher.« Aus dem Tagebuch Glenn Goulds, Sommer 1977 (Ostwald, 1997, S. 298)
Das professionelle Instrumentalspiel stellt besondere Anforderungen an die Sensomotorik des Musikers. Nachdem sich im 19. Jahrhundert das Virtuosentum entwickelte, mehrten sich die Berichte über Koordinationsstörungen bei Musikern. Was einer der berühmtesten Pianisten unserer Zeit hier in seinem Tagebuch notiert, ist der Beginn einer sich entwickelnden aktionsinduzierten fokalen Dystonie. Darunter versteht man unwillkürliche, meist schmerzfreie muskuläre Verkrampfungen und Dyskoordinationen mit Kokontraktionen antagonistischer Muskelgruppen, die bei komplexen, langgeübten Bewegungsfolgen am Instrument auftreten. Als weitere Bezeichnungen werden im Deutschen auch »Musiker-, Pianisten- oder Geigenkrampf« gebraucht. Charakteristisch ist eine selektive Störung von bestimmten Bewegungsfolgen; andere feinmotorische Tätigkeiten sind meist nicht betroffen. So manifestiert sich die Erkrankung wie im eingangs zitierten Beispiel zum Beispiel nur bei tonleiterartigen Passagen, während Triller oder Akkordfolgen unbeeinträchtigt bleiben können. Patienten berichten oft das Gefühl zu haben, »die Finger würden von kräftigen Magneten zur Handinnenfläche gezogen«. Durch willentliches Gegensteuern wird diese Störung noch verstärkt; Ablenkung der Aufmerksamkeit von den Krankheitssymptomen bessert dagegen oft die Symptomatik. Die Erkrankung kann sich auch außerhalb der Handmotorik manifestieren. Bei Blechbläsern und Holzbläsern kommt es zu Störungen der Lippenkontrolle, bei Sängern zu Beeinträchtigungen der Feinmotorik von Stimmbändern und Vokaltrakt. Nicht nur Musiker sind von der Bewegungsstörung betroffen, am verbreitetsten ist das Krankheitsbild als »Schreibkrampf« mit unwillkürlicher Einkrampfung von Fingern und Handgelenk beim Schreiben. Schließlich tritt die Erkrankung auch beim Sport auf, zum Beispiel als »Yips« beim Golfspielen. »Yips« bezeichnet eine unwillkürliche Einkrampfung des Handgelenks beim »Putten« und wurde durch den davon betroffenen Golfchampion Bernhard Langer bekannt. Gerade die hochbegabten, erfolgreichen Musiker scheinen besonders anfällig für Musikerkrämpfe zu sein. Namhafte Künstler wie Robert Schumann, Glenn Gould, Leon Fleisher oder Gary Grafman waren oder sind von der
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Krankheit betroffen. Nach Schätzungen sind in Deutschland mindestens 2 % der Berufsmusiker erkrankt, das heißt bei circa 70.000 Berufsmusikern ist derzeit mit 1400 Betroffenen zu rechnen (Altenmüller, 1999). Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer hoch. Viele Erkrankte wechseln unauffällig die Berufstätigkeit, geben das Konzertieren auf, unterrichten nur noch oder brechen ein Musikstudium ab. Im Vergleich zum Schreibkrampf, der in Nordamerika mit einer Häufigkeit von 1:3500 auftreten soll (Nutt, Muenter, Aronson, Kurland und Melton, 1988), erkranken Musiker also deutlich häufiger. Interessanterweise ist die Störung bei Jazzmusikern und bei überwiegend improvisierenden Musikern eine Rarität. Es liegt nahe, dies mit dem geringeren Kontrolldruck im Jazz in Verbindung zu bringen. Möglicherweise suchen Jazzmusiker aber auch seltener ärztliche Hilfe auf, weil sie durch freiere Auswahl des Repertoires und durch Kreation von individuellen Bewegungsabläufen die Störung besser kompensieren können. Es gibt mehrere Risikofaktoren für die Ausbildung der Bewegungsstörung. Männer sind im Verhältnis 5:1 häufiger betroffen als Frauen, dabei sind Gitarristen und Pianisten besonders gefährdet. Wahrscheinlich spielt die gesamte Lebens-Übungsdauer eine Rolle. Gitarristen und Pianisten erreichen nicht selten tägliche Spielzeiten von mehr als sechs Stunden, während Streicher im Mittel »nur« zwischen drei und vier Stunden am Instrument verbringen. Bei circa 30 % der Patienten findet sich in der Vorgeschichte eine Häufung von Schmerzzuständen oder »Sehnenscheidenentzündungen«, selten können auch einmalige Überlastungen die Symptomatik auslösen. In etwa 10 % der Fälle tritt die Koordinationsstörung als Folge einer Schädigung peripherer Nerven – meist des Ellennerven – auf und bleibt weiter bestehen, auch wenn der Nerv zum Beispiel durch eine operative Verlagerung wieder entlastet wird. Genetische Faktoren mit familiärer Häufung von Bewegungsstörungen findet man bei 10 % der Betroffenen (Altenmüller, 1999). Die Persönlichkeitsprofile der Erkrankten weisen fast immer eine sehr starke gefühlsmäßige Bindung an die Musik, ein hohes Leistungsniveau und einen hohen Selbstanspruch mit Hang zum Perfektionismus auf (Jabusch, Müller und Altenmüller, 2004). Diese Charaktereigenschaften wurden früher häufig als Argumente für eine rein psychische Ursache der Erkrankung angeführt. Es darf aber nicht vergessen werden, dass gerade diese Persönlichkeitsmerkmale auch Voraussetzungen für den Erfolg eines Berufsmusikers darstellen. Musikerkrämpfe sind eine Erkrankung der Solisten, Konzertmeister und der Solobläser. Nur in Ausnahmefällen sind Laien betroffen, die dann aber ebenfalls eine sehr starke emotionale Bindung an die Musik aufweisen. Wie bereits gezeigt wurde, kann es allein durch langjähriges motorisches Training von hochkomplexen Bewegungen am Musikinstrument zu nachweisbaren strukturellen oder funktionellen Veränderungen im zentralen Nervensystem kommen. Da dies im Wesentlichen auf der Fähigkeit des Nerven-
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systems zur neuronalen Plastizität als Reaktion an die hohen feinmotorischen und emotionalen Anforderungen des Musizierens zurückzuführen ist, könnte bei einem fehlgeleiteten Anpassungsprozess der Musikerdystonie auch eine erworbene Ursache zugrunde liegen (Peschel und Altenmüller, 2004). Die Therapie dieser Erkrankung besteht derzeit aus verschiedenen medikamentösen Verfahren und einer chemischen Denervierung der überaktiven Muskelgruppen mittels lokal appliziertem Botulinumtoxin. In jüngerer Zeit wurden auch verschiedene Techniken aus der rehabilitativen Medizin wie »Splinting« der betroffenen Finger angewendet, die allerdings mäßig erfolgreich sind und eher in den Bereich der symptomatischen Intervention eingeordnet werden müssen. Aussichtsreicher scheint ein neuer Ansatz, der von einem selbst von der fokalen Dystonie betroffenen Pianisten entwickelt wurde. Hier wird mittels eines »retrainings« der Versuch unternommen, die gesamte Spieltechnik auf einen ökonomischen Krafteinsatz hin umzustellen und die fehlerhaften motorischen Muster zu vermeiden. Dieses Verfahren erinnert ansatzweise an Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie und scheint derzeit bei Musikerdystonien Erfolg versprechend zu sein (Jabusch et al., 2005).
4.3
Schlussfolgerungen und Ausblick
Professionelles Musizieren stellt einen modellhaften Lernprozess dar, in dem komplexes, emotional vermitteltes Verhalten von einem bewussten (deklarativen) in ein unbewusstes (prozedurales) Gedächtnis mittels Übung überführt wird. Dies führt zu charakteristischen Veränderungen der Hirnmorphologie, die bereits mit heutigen Methoden sichtbar gemacht werden können. Die psychotherapeutischen Verfahren verfolgen ein ähnliches Ziel; hier wird ebenfalls zunächst ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess in Gang gesetzt, der die Beeinflussung von Verhaltensstörungen zum Ziel hat. Dies geschieht hier mit psychologischen Mitteln, meist verbal, aber auch averbal, in Richtung auf ein definiertes Ziel und hat oft neben der Symptomminimalisierung eine Strukturänderung der Persönlichkeit im Blick. Interessanterweise gleicht der äußere Rahmen des Musikunterrichts nahezu der Situation einer Psychotherapiestunde. Insgesamt ergeben sich damit für das Erlernen des professionellen Musizierens wie für die Restrukturierung der Persönlichkeit im Rahmen einer Psychotherapie ähnliche Fragen für zukünftige Forschung: Wo finden psychotherapeutisch induzierte Veränderungen statt? Treten die therapeutisch induzierten strukturellen Veränderungen an denselben Stellen auf, die von der psychischen Erkrankung selbst verändert wurden, oder handelt es sich um kompensatorische Änderungen, die an entsprechenden anderen Stellen stattfinden? Es ist eine faszinierende Vorstellung, dass die Psychotherapie, sofern es ihr
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T. Peschel Autor
gelingt, Einstellungen, Gewohnheiten, bewusstes und unbewusstes Verhalten dauerhaft zu verändern, dies dadurch erreicht, dass sie strukturellen Veränderungen im Gehirn anstößt, die ihrerseits durch Veränderung der Genexpression bedingt sind (Elbert et al., 1995). Wir stehen vor der interessanten Möglichkeit, dass die bildgebenden Verfahren zur Untersuchung des Gehirns, wenn sie verbessert werden, nicht nur für die Diagnose verschiedener neurotischer Krankheiten nützlich sein können, sondern auch für die Überprüfung des Verlaufs einer Psychotherapie. Hierfür könnte ein wissenschaftlicher Austausch zwischen Psychiatrie und Psychotherapie mit der Musikermedizin und Musikphysiologie hilfreich sein. Literatur Altenmüller, E. (1999). Vom Spitzgriff zur Liszt-Sonate. In M. Wehr, M. Weimann (Hrsg.), Die Hand, Werkzeug des Geistes (S. 79–113). Heidelberg,Berlin: Spektrum Akademischer Verlag. Amunts, K., Schlaug, G., Schleicher, A., Steinmetz, H., Dabringhaus, A., Roland, P. E., Zilles, K. (1995). Asymmetry in the human motor cortex and handedness. Neuroimage, 4, 216–222. Bangert, M., Peschel, T., Schlaug, G., Rotte, M., Drescher, D., Hinrichs, H., Heinze, H. J., Altenmüller, E. (2006). Shared networks for auditory and motor processing in professional pianists: evidence from fMRI conjunction. Neuroimage, 30 (3), 917–926. Draganski, B., Gaser, C., Busch, V., Schuierer, G., Bogdahn, U., May, A. (2004). Neuroplasticity: changes in grey matter induced by training. Nature, 22; 427 (6972), 311 f. Elbert, T., Pantev, C., Wienbruch, C., Rockstroh, B., Taub, E. (1995). Increased cortical representation of the fingers of the left hand in string players. Science, 13; 270 (5234), 305–307. Elbert, T., Candia, V., Altenmüller, E., Rau, H., Sterr, A., Rockstroh, B., Pantev, C., Taub, E. (1998). Alteration of digital representations in somatosensory cortex in focal hand dystonia. Neuroreport, 16; 9 (16), 3571–3575. Ericsson, K. A., Krampe, R. T., Tesch-Römer, C. (1993). The role of deliberate practice in the acquisition of expert performance. Psychological Reviews, 100; 363–406. Freud, S. (1914). Zur Einführung des Narzissmus. Gesammelte Werke, Bd. 10 (S. 138–170) (7. Aufl.). Frankfurt a. M. 1981. Freud, S. (1920). Jenseits des Lustprinzips. Gesammelte Werke, Bd. 13 (S. 3–69 ) (8. Aufl.). Frankfurt a. M. 1976. Jabusch, H. C., Müller, S. V., Altenmüller, E. (2004). Anxiety in musicians with focal dystonia and those with chronic pain. Mov. Disord, 19 (10), 1169–1175. Jabusch, H. C., Zschucke, D., Schmidt, A., Schuele, S., Altenmüller, E. (2005). Focal dystonia in musicians: treatment strategies and long-term outcome in 144 patients. Mov. Disord, 20 (12), 1623–1626. Kandel, E. R. (1999). Biology and the future of psychoanalysis: a new intellectual framework for psychiatry revisited. Am. J. Psychiatry, 156 (4), 505–524. Maguire, E. A., Gadian, D. G., Johnsrude, I. S., Good, C. D., Ashburner, J., Frackowiak, R. S., Frith, C. D. (2000). Navigation-related structural change in the hippocampi of taxi drivers. Proc. Natl. Acad. Sci. USA, 11; 97 (8), 4398–4403. Münte, T. F., Altenmüller, E., Jäncke, L. (2002). The musician’s brain as a model of neuroplasticity. Nat. Rev. Neurosci., 3 (6), 473–8. Nutt, J. G., Muenter, M. D., Aronson, A., Kurland, L. T., Melton, L. J. (1988). Epidemiology of focal and generalized dystonia in Rochester, Minnesota. Mov. Disord, 3 (3), 188–194. Ostwald, P. (1997). Glenn Gould: The ecstasy and tragedy of genius. W. W. Norton & Co. Ltd. Pascual-Leone, A., Torres, F. (1993). Plasticity of the sensorimotor cortex representation of the reading finger in Braille readers. Brain, 116, 39–52.
Titel und Psychiatrie Musik
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Kooperation zwischen Semiotik und Sozialer Psychiatrie Stephan Debus und Roland Posner
Die folgenden Abschnitte skizzieren die arbeitsteilige wissenschaftliche Kooperation zwischen Semiotik und Sozialer Psychiatrie. Sie sollen zeigen, wie die Themen der Sozialen Psychiatrie im Rahmen einer semiotischen Kulturtheorie etwa durch Begriffe wie »Institution«, »Kode«, »Kommunikation« oder »ästhetische Erfahrung« diskutiert werden können. In diesem Sinne hatte die Soziale Psychiatrie zwar immer schon Bezug zur Kulturtheorie, insbesondere zu einer phänomenologisch-hermeneutisch begründeten Theorie des »Sinns«. Aber die Versuche ihre eigenen empirischen Forschungsanstrengungen in eine allgemeine Theorie der Zeichen einzubetten sind rar (z. B. Emrich, Zedler und Schneider, 2002; Leferink und Heinz, 1999; Debus, Burmeister, Floeth und Zechert, 2005).
5.1
Sozialpsychiatrie und Soziale Psychiatrie
Die Soziale Psychiatrie in Deutschland konnte in den sozialen Bewegungen der 1970er Jahre durch ihre praktische Institutionskritik einen hohen Innovationsdruck entfalten. Wie sich herausstellte, wurde dadurch die psychiatrische Versorgung gemeindenäher, differenzierter und beziehungsreicher. Doch gerade die Vielfalt ihrer Gegenstände stellt die sozialpsychiatrische Forschung vor erhebliche theoretische und methodologische Probleme: In ihrer Methode wird die Sozialpsychiatrie den Sozialwissenschaften – namentlich Erziehungswissenschaften, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Kriminologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Politikwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Völkerkunde und Wirtschaftswissenschaften – zugerechnet. Ihren Gegenstandsbereich teilt sie sich mit der Sozialmedizin und der psychiatrischen Sozial- und Kulturanthropologie. Als rein medizinische Wissenschaft betrachtet, untersucht die Sozialpsychiatrie psychische Krankheiten unter der Perspektive ihrer Therapie und Heilbarkeit mit einem breiten Spektrum von Methoden aus der Soziologie, Psychologie und Medizin. Die wissenschaftliche Sozialpsychiatrie ist einerseits ihrer sozialpsychiatrischen Praxis (mit ihren diagnostischen, prophylaktischen, beratenden, therapeutischen, prognostischen und hoheitlichen Tätigkeiten) und andererseits dem sozialpsychiatrischen Feld (als sozial- und gesundheitspolitisch institutionalisiertem Bereich) ver-
Kooperation zwischen Semiotik und Sozialer Psychiatrie
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pflichtet. Die drei Bereiche – wissenschaftliche Sozialpsychiatrie, sozialpsychiatrische Praxis und sozialpsychiatrisches Feld – sind weder deckungsgleich noch enthält einer die anderen, aber sie sind historisch und gesellschaftlich über einen Wertekanon miteinander verbunden. Zusammengenommen gehören diese drei Bereiche zur Sozialen Psychiatrie als psychosozialer Kultur des Handelns (Pfefferer-Wolf, 1999).
5.2
Semiotik
Die Semiotik ist nach einem treffenden Satz des Begründers der strukturalen Sprachtheorie im 19. Jahrhundert, Ferdinand de Saussure, die Disziplin, die »das Leben der Zeichen im Leben der Menschen« (de Saussure, 2001) erforscht. Mittlerweile hat die Semiotik ihre eigenständige Stellung im System aller Wissenschaften. So formuliert Roland Posner: »Jeder Mensch benutzt Zeichen und ist an Zeichenprozessen beteiligt. Jede Gesellschaft hat Vorstellungen darüber entwickelt, wie die Zeichen den Menschen helfen, sich in ihrer Umwelt zu orientieren und miteinander umzugehen. Jede Sprache enthält ein umfangreiches Vokabular an Wörtern für Spuren, Indizien, Symptome; Ausdrücken, Äußerungen, Hinweise; Symbole, Interpretationen, Modelle; Mitteilung, Interaktion, Kommunikation. Die etablierten Wissenschaften haben diese verschiedenen Zeichentypen lange als getrennte Erscheinungen betrachtet und sich geweigert, in ihnen ein einheitliches Phänomen zu sehen, das sich theoretisch erfassen lässt. [. . . ] Wer die Zeichenprozesse in all ihren Varianten als einheitliches Phänomen begreift, dessen Auftreten die belebte Natur und die Kulturen der Menschen miteinander verbindet und von der unbelebten Natur unterscheidet, der hat einen Schlüssel in der Hand, um den Geistes-, Sozial-, Ingenieurs- und Naturwissenschaften eine gemeinsame theoretische Basis für eine wohl definierte arbeitsteilige Kooperation zu liefern. Wer das Verhalten von Menschen in ihren Kulturen unter dem Gesichtspunkt seiner Zeichenhaftigkeit zu betrachten gelernt hat, der kann auch das Leben in Familie und Beruf, Wirtschaft und Verwaltung, Kunst und Religion begrifflich als Einheit erfassen und so in seiner disziplinübergreifenden Vielfalt erforschen. Die Semiotik hat sich dies zur Aufgabe gemacht« (Posner, Robering und Sebeok, 1997, S. XIII). Nach diesem Selbstverständnis hat die Semiotik für die Sozial- und Kulturwissenschaft eine ähnlich grundlegende Funktion wie die Physik und Mathematik für die Naturwissenschaft.
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5.3
S. Debus und R. Posner Autor
Die Rolle der Sprache und anderer Zeichensysteme
Überzeugend klingt das Argument, dass sich alle verstehenden Therapie- und Kommunikationsformen innerhalb verbaler und nonverbaler Sprachen vollziehen: Wer verstehen und verstanden werden will, muss sprechen. Die Formel »Sprache ist das bildgebende Verfahren der verstehenden Psychiatrie« wird in metaphorischer Anspielung an die bildgebenden Verfahren der Neurobiologie verwendet, um die herausragende Stellung der Sprache für die verstehende Psychiatrie zu betonen. Menschen könnten jedoch nicht sprechen lernen, wenn sie nicht vorher die motorische Phase durchlaufen würden. Körperhaltung, Gestik und Mimik bleiben zeitlebens zentrale Ausdrucksmittel und Ausgangspunkte für gegenseitiges Verstehen. Sprachnahe Kodes wie die Schrift und die zugehörigen Kulturtechniken des Schreibens und Lesens, der Gesang und die Kulturtechniken des Solo- und Chorsingens sowie die Literatur und die Kulturtechniken des Skandierens, Reimens und Dichtens überformen den Sprachgebrauch und prägen damit auch die sprachlichen Verstehensprozesse. Allgemeine Verhaltenskodes, wie die der Höflichkeit und der verschiedenen gesellschaftlichen Rituale, eröffnen zusätzliche Dimensionen des Verstehens. Hinzu kommen die Produktion und der handelnde Umgang mit Artefakten (Werkzeugen und Geräten, Skulpturen und Gebäuden, Musik- und Theaterstücken, Bildern und Filmen), in denen wir uns gegenseitig wiedererkennen und so verstehen lernen. Die Semiotik hat einen Theorierahmen entwickelt, der all diese Erfahrungen miteinander kompatibel und beschreibbar macht (vgl. Krampen, Oehler, Posner und Uexküll, 1981; Nöth, 2000). – Ferdinand de Saussure († 1913), der Begründer der strukturalistischen Semiotik und selbst ein Linguist, hat vorgeschlagen, sich bei der Analyse des Verstehens nicht auf Wörter und Bilder zu beschränken, sondern alle genannten Phänomene in die Untersuchung einzubeziehen. Er nennt sie »Zeichen« und hebt hervor, dass sie ihre Bedeutung so wie die Wörter in der Sprache dadurch erhalten, dass wir sie einander gegenüberstellen und ihren Stellenwert in dem jeweiligen Zeichensystem (Kode) nutzen. Als Zeichen gilt dabei alles, dem ein Interpret eine Bedeutung zuzuordnen vermag. – Charles S. Peirce († 1914) und Charles W. Morris († 1979), die Begründer der pragmatistischen Semiotik, gehen von den Konsequenzen (»Interpretanten«) des Zeichengebrauchs im Handeln der Zeichenbenutzer aus und zeigen, wie sich der Situationskontext in das Zeichenverstehen einbeziehen lässt. – Jakob von Uexküll († 1944) und George H. Mead († 1931), die Begründer der ethologischen Semiotik, weisen nach, dass das Individuum selbst sich durch den Kontakt mit der sozialen und artefaktgeprägten Umwelt defi-
Titel Kooperation zwischen Semiotik und Sozialer Psychiatrie
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niert, indem es deren Zeichen (Merkzeichen) durch Handeln in Wirkzeichen umsetzt. – Karl Bühler († 1963), der Gestalttheoretiker und Sematologe, entwickelt ein dialogisches Modell der Zeichenfunktionen und erklärt dialogisches Verhalten als Wechselspiel der Orientierungssysteme der beteiligten Individuen. – Eine vorwegnehmende Synthese all dieser Ansätze zur Beschreibung von Bedeutung und zur Erklärung von Verstehen vollzieht Ernst Cassirer († 1945), indem er zeigt, dass Kultur nichts anderes ist als ein Zusammenwirken verschiedenartiger Zeichensysteme (»symbolischer Formen«). Dies ist ein Ansatz, den später Autoren wie A. Julien Greimas († 1992), Juri Lotman († 1993) und Umberto Eco in detaillierten Kulturanalysen (Eco, 1994) überzeugend weiterentwickeln, so dass sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Einsicht durchzusetzen beginnt, dass die Semiotik in der Lage ist, die theoretischen Grundlagen zu liefern, die eine Neukonzeption der Geistes- und Sozialwissenschaften als Kulturwissenschaften nahelegen (Posner, Robering und Sebeok, 2003). 5.3.1 Semiotik als Mikroanalyse der Zeichenprozesse Untersuchungsgegenstand der Semiotik sind Semiosen, das heißt Prozesse, in denen Zeichen auftreten. An einer Semiose sind mindestens folgende Faktoren beteiligt: Ein Zeichen trifft auf einen Empfänger, der ihm eine Botschaft (Bedeutung) zuordnet. In vielen Fällen ist ein Sender beteiligt, der mit Hilfe der Botschaft Einfluss auf den Empfänger ausüben will. Er nutzt dabei den Kontext, einen oder mehr Wahrnehmungskanäle und einen Kode, dessen Regeln die Verbindung zwischen Zeichen und Botschaft herstellen, indem sie Signifikanten und mit ihnen korrelierte Signifikate dazwischenschalten. Mit dieser Begrifflichkeit gelingt es der Semiotik, das gesamte Spektrum der Zeichentypen zu erfassen. 1. vom Signal (Klingeln des Weckers als Zeichen für den Patienten aufzustehen) über das Anzeichen (die geschlossene Tür des Sprechzimmers als Zeichen dafür, dass der Arzt nicht da ist) und den Ausdruck (sprachloses Erröten des Patienten beim Anblick der Krankenschwester als Zeichen der Scham) bis zur Geste (Mundöffnen des Babys beim Füttern als Zeichen für die Bereitschaft zur Nahrungsaufnahme) sowie 2. vom Ausdruck (unwillkürliches Husten als Zeichen einer Erkältung) über das Ausdrücken (vom Arzt gewünschtes absichtliches Husten bei der Untersuchung der Atemwege als Zeichen für den Gesundheitszustand) und das Anzeigen des Ausdrückens (Geräusch des Unterdrückens eines Hustenanfalls auf einer Versammlung als Zeichen für das Ausdrücken einer Erkältung) bis hin zur expressiven Kommunikation (Hüsteln als Äußerung der Kritik am ungehörigen Verhalten einer anderen Person). Die erste Beispielkette betrifft die verschiedenen Sor-
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S. Debus und R. Posner Autor
ten senderloser Zeichen (das sind von niemandem als Zeichen intendierte Sachverhalte mit Zeichenfunktion); die zweite betrifft die verschiedenen Reflexionsstufen von Senderzeichen einer speziellen Zeichensorte, der des Ausdrucks: An unwillkürlichem Husten sind weder Absicht noch Glauben beteiligt; bei vom Arzt gewünschtem Husten spielt die Absicht des Hustenden mit; zum Unterdrücken eines Hustenanfalls gehört die Absicht, die anderen Versammlungsteilnehmer dazu zu bringen zu glauben, dass man nicht anders kann als seine Erkältung auszudrücken, obwohl man sie nicht stören möchte; und hinter dem Hüsteln steht wie bei jeder expressiven sprachlichen Äußerung die Absicht, eine Person dazu zu bringen, etwas zu glauben (hier: dass ihr Verhalten missbilligt wird), und das nur aufgrund der Tatsache, dass sie annimmt (d. h. glaubt), dass der Hüstelnde will, dass sie das glaubt. Derartige Beispiele mögen zeigen, dass die Semiotik das Instrumentarium besitzt, das erforderlich ist, um Interaktionen aller Art analytisch zu durchdringen und begrifflich angemessen zu erfassen, ohne sie künstlich an einen speziellen Interaktionstyp zu assimilieren – sei es die nichtsprachliche ReizReaktions-Konfiguration, sei es die sprachliche Kommunikation. Durch diesen Analyseansatz lassen sich insbesondere auch die hochkomplexen Interaktionsgefüge beschreiben, die im Rahmen der Sozialen Psychiatrie auftreten. Gegenseitiges Verstehen und die Herstellung von Intersubjektivität erweisen sich als nicht allein an Sprache gebunden, sondern als mehrkanaliger multikodaler Prozess zwischen mit der Fähigkeit zu intendieren und zu glauben ausgestatteten Wesen, der sich durch semiotische Mikroanalysen aufdecken lässt. Im Rahmen solcher Analysen lassen sich die Daten aus der teilnehmenden Beobachtung, der Supervision und anderen Verfahren der Datengewinnung angemessen analysieren. 5.3.2 Semiotik als Makroanalyse kultureller Praxis Die Semiotik erforscht nicht nur die Funktionen von Zeichen in der Interaktion der Menschen (Soziosemiotik), sondern auch die Funktionen von Zeichen im seelischen Haushalt (Psychosemiotik) und die Funktionen von Zeichen im organismischen Stoffwechsel (Biosemiotik). Zu der dafür erforderlichen Kompetenz in der Mikroanalyse von Zeichenprozessen aller Art tritt die Kompetenz der Semiotik in der Makroanalyse der kulturellen Praxis (Kultursemiotik). Ausgangspunkt semiotischer Kulturanalyse (Posner, 2005) ist die Auffassung, dass jede Kultur ein mehrschichtiges Gebilde ist, das auf konventionellen Kodes für die Korrelation zwischen den Signifikanten und den Signifikaten von Zeichenprozessen beruht. Alle kulturellen Artefakte sind Signifikanten, denen auf weitgehend konventionelle Weise ihr Gebrauchszweck als Signifikat zugeordnet ist. Nur so lassen sich die Artefakte voneinander unterscheiden,
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in Artefaktsysteme einteilen und im häuslichen oder beruflichen Alltag sinnvoll verwenden. Auch die mündlichen und schriftlichen Texte der natürlichen Sprachen sind Artefakte in diesem Sinne. Gemäß diesem Ansatz besteht jede Kultur aus einer Menge von individuellen und institutionellen Zeichenbenutzern (Gesellschaft), die Artefakte produzieren und gebrauchen (Zivilisation), durch die mit Hilfe konventioneller Kodes (Mentalität) Botschaften mitgeteilt werden, welche den Zeichenbenutzern einzeln oder als Gruppe die Bewältigung ihrer Probleme ermöglichen. Die Struktur der Gesellschaft ist durch die Gruppen von Individuen festgelegt, die regelmäßig durch Zeichenprozesse bestimmter Art miteinander verbunden sind. Solche Individuengruppen werden »Institutionen« genannt; diese arbeiten – wieder ablesbar an den Zeichenprozessen, die zwischen ihnen stattfinden – in Institutionsverbünden zusammen (z. B. der Kultusministerkonferenz, dem Bundesverband der Krankenkassen, der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie). Auch die Struktur der Zivilisation ist semiotisch determiniert. Sie wird bestimmt durch die Gruppen von Artefakten, die regelmäßig in Zeichenprozessen miteinander verbunden sind. Diese werden als »Werkzeugkasten«, »Gerätetypen«, »Textgenres«, »Medien« etc. zusammengefasst. Die Mentalität einer Gesellschaft besteht aus ihren Mentefakten, das heißt ihren Ideen und Werten, und den Konventionen, die deren Verwendung und Darstellung bestimmen. Unter Ideen im weiteren Sinne sind hier alle Kategorien zu verstehen, mit denen eine Gesellschaft sich selbst und die Wirklichkeit interpretiert. Begriffe wie »Mensch«, »Tier«, »Pflanze« gehören ebenso hierher wie »Himmel« und »Hölle«, »Krankheit«, »Gesundheit« und »Medizin«. Beispiele für die Werte einer Kultur sind »Menschenwürde«, »Freiheit«, »Gleichheit«, »Brüderlichkeit«, »Nächstenliebe«, »Ehrlichkeit« und »Pflichtbewusstsein«. Nun kann ein Mentefakt in einer Gesellschaft nur dann eine Rolle spielen, wenn diese über ein Substrat verfügt, das seine Mitteilbarkeit gewährleistet, und das heißt, dass es ein Zeichen gibt, das es ausdrückt – genauer: wenn es einen Signifikanten gibt, dessen Signifikat das Mentefakt ist. Außerdem treten Paare von Signifikanten und Signifikaten immer nur im Systemzusammenhang auf. Dass Signifikant-Signifikat-Zuordnungen als »Kodes« bezeichnet werden, macht jede Mentalität zu einer Gesamtheit von Kodes. Dieses Kulturkonzept ist als Theorierahmen für alle Geistes- und Sozialwissenschaften gedacht. Es soll es ermöglichen, deren speziellere Forschungsergebnisse in terminologisch kompatibler Form mit den semiotischen Grundlagen zu verknüpfen und damit eine Basis für die Auseinandersetzung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen untereinander liefern. Die Soziale Psychiatrie kann als angewandte Sozialwissenschaft davon profitieren und auch ihre Theorienbildung und empirische Forschung in diesen Rahmen einbringen. Wichtig ist dabei, dass der skizzierte Kulturbegriff auf alle Arten
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S. Debus und R. Posner Autor
von Kulturen und Subkulturen anwendbar ist. Jugend- und Seniorenkulturen sind auf dieser Basis ebenso analysierbar wie die Berufskulturen der Ärzte und Psychiater, die Patientenkulturen der Psychiatrieerfahrenen und auch die Atmosphäre von Psychiatriestationen (vgl. Debus und Posner, 2007) als Therapeuten-Patienten-Kultur (Milieu). 5.3.3 Semiotik als Analyse der Wissenschaften Jede Wissenschaft, als institutionalisierte Form der Wissenserweiterung, ist charakterisiert durch einen Gegenstandsbereich, eine Perspektive, unter der sie diesen untersucht, Methoden, die sie dabei anwendet, Theorien, die die Ergebnisse in verallgemeinerter Form festhalten, und Darstellungsmittel, die in der Kommunikation der Wissenschaftler untereinander benutzt werden (Menne, 1992). Zu diesen fünf Komponenten kommen als weiterer Gesichtspunkt noch die Forschungsparadigmen (Methoden- und Theoriencluster) hinzu, die in der Forschungspraxis für verbindlich gehalten werden, und besondere Aufmerksamkeit gilt den Gründen, die für den gelegentlich stattfindenden Paradigmenwechsel verantwortlich zu machen sind. Eine Wissenschaft kann im Verhältnis zu einer anderen als Teildisziplin, Hilfsdisziplin, angewandte Disziplin, Metadisziplin oder interdisziplinäre Erweiterung fungieren (Posner, 2003). Teildisziplin ist sie, wenn mindestens eine ihrer Komponenten Teil der betreffenden Komponente der anderen Wissenschaft ist (wie z. B. die Innere Medizin als Teil der Medizin), während die restlichen Komponenten die gleichen sind (Gegenstände, Methoden, Theorien und Darstellungsmittel der Inneren Medizin sind jeweils Teil der Gegenstände, Methoden, Theorien und Darstellungsmittel der Medizin). Da alles Beliebige in den Gegenstandsbereich der Semiotik fallen kann, ist der Gegenstandsbereich der Sozialen Psychiatrie Teil dieses Gegenstandsbereichs. Allerdings ist die Perspektive der Therapie und Heilbarkeit keine Teilperspektive der Perspektive der Eignung für Zeichenprozesse, sondern geht über sie hinaus. Daher ist die Sozialpsychiatrie keine reine Teildisziplin der Semiotik. Doch gilt, dass die Semiotik eine Hilfsdisziplin der Sozialpsychiatrie ist, denn aus ihr bezieht die Sozialpsychiatrie einen Teil ihrer Methoden, Theorien und Darstellungsmittel (z. B. Analyseverfahren für die Arzt-PatientenInteraktion, die Theorien mehrkanaliger und multikodaler Kommunikation und die Darstellungsmittel in der Auswertung von Behandlungsprotokollen). Außerdem kann die Semiotik den Gegenstandsbereich der Sozialpsychiatrie (Psychische Krankheiten) sowie deren Perspektive (Therapierbarkeit und Heilbarkeit) und deren Methoden unter dem Gesichtspunkt des Vorkommens von Zeichenprozessen in ihnen prüfen und auf diese Weise wichtige Klärungen erreichen.
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In diesem Sinne fragt die Semiotik, welche Zeichenprozesse bei psychisch Kranken anders verlaufen als bei Gesunden und welche Zeichenprozesse für die Therapie und Heilung psychischer Krankheiten charakteristisch sind. Gleiches gilt für die Methoden und die Theorienbildung der Sozialpsychiatrie. Die Untersuchung sozialpsychiatrischer Methoden, etwa der der sozialwissenschaftlichen Feldforschung im Hinblick auf ihre Gemeinsamkeiten mit den in der Pragmatik, Semantik und Syntaktik ausgearbeiteten semiotischen Methoden kann Erstere klären und verbessern helfen. Die Untersuchung der von der Sozialpsychiatrie hervorgebrachten Theoriefragmente kann deren wissenschaftstheoretische Vorzüge und Mängel aufdecken und Desiderate für die Weiterarbeit aufstellen helfen. Die Untersuchung der Darstellungsmittel, die verwendet werden in der sozialpsychiatrischen Alltagspraxis, in der Kommunikation zwischen Therapeut und Patient sowie von Therapeuten untereinander und Patienten untereinander beziehungsweise im Gespräch aller mit allen, kann suboptimales Verhalten erfassen, kategorisieren und Anregungen für die Verbesserung von Terminologie und Kommunikationsverhalten liefern. Wenn eine Wissenschaft von den Ergebnissen der Untersuchung ihrer Komponenten durch eine andere Wissenschaft Gebrauch macht, bezeichnet man Letztere als »angewandte Wissenschaft« der Ersteren. In diesem Sinne kann die Sozialpsychiatrie als angewandte Semiotik betrieben werden und hat als solche ein großes Innovationspotential.
5.4
Die gegenseitige Ergänzung von Semiotik und Sozialer Psychiatrie
In die Zusammenarbeit zwischen Semiotik und Sozialer Psychiatrie bringen beiden Seiten folgende Kompetenzen ein: 5.4.1 Die Semiotik liefert der Sozialen Psychiatrie – eine Rahmentheorie für deren Selbstverständnis als zeichenbezogene Wissenschaft mit eigener Theorienbildung, Empirie und therapeutischer Anwendung (epistemologische Semiotik), – eine kultursemiotische Terminologie und Analysemethodik für deren Selbstbeforschung (vgl. Floeth, Haage und Pfefferer-Wolf, 1997) als medizinische Subkultur (Kultursemiotik), – Verfahrensweisen für die Analyse der Zeichenprozesse (direkte Kommunikation, technisch vermittelte Kommunikation, massenmediale Einwegkommunikation) zwischen den Individuen (Patienten, Therapeuten, Administratoren), den Institutionen (psychiatrischen Stationen, Patienten-
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S. Debus und R. Posner Autor
organisationen) und den Institutionsverbünden (Kliniken, Wissenschaftsorganisationen) der Sozialen Psychiatrie (Soziosemiotik), – Verfahrensweisen für die Analyse der Bedeutung und Wirkung von Artefakten (Kleidung, Accessoires, Möbel, Innenarchitektur u. a.) und Texten (mündlich, schriftlich; Alltagsäußerungen, Protokollen, Instruktionen, Rechnungen, Korrespondenzen), die im Rahmen der therapeutischen Praxis verwendet werden (Zivilisationssemiotik), – Verfahrensweisen für die Analyse der Struktur und Funktion von Kodes, die verwendet werden von den Patienten untereinander (z. B. Höflichkeitskodes, Körperkodes wie Mimik und Gestik, Alltagssprache, PatientenJargon), von den Ärzten untereinander (Dienstregeln, Höflichkeitskodes, Körperkodes, Alltagssprache, medizinische Fachterminologie), von den Administratoren untereinander (Dienstregeln, Alltagssprache, juristische Fachterminologie) und von allen miteinander (Körperkodes, Alltagssprache, Klinik-Jargon) (Mentalitätssemiotik). 5.4.2 Die Semiotik hilft damit Innovationen in die Wege zu leiten – in der Einbettung der wissenschaftlichen Sozialpsychiatrie als zeichenbezogener Teildisziplin der Sozialmedizin in das System der Sozialwissenschaften, – in der Einbettung der Sozialen Psychiatrie als Subkultur in die Gesamtkultur, – in der Verwendung von subjektstabilisierenden Interaktionsformen, in der De-Institutionalisierung der Therapiepraxis und in den Weisen der Partizipation der Patienten am Leben der übrigen Bevölkerung, – im Design der Innenarchitektur und der Gestaltung von Atmosphären in sozialpsychiatrischen Institutionen, im Aufbau von Schutz- und Gegenwelten, – in der Entwicklung von Verstehen fördernden Strategien und Taktiken bei Patienten, Ärzten und Administratoren sowie im Aufbau von Möglichkeitsräumen und neuen Interaktionskodes und ungewöhnlichen ästhetischen Erfahrungen. 5.4.3 Die Soziale Psychiatrie fordert die Semiotik heraus – zur differenzierteren Analyse von Wissenschaften, zu deren Untersuchungsgegenstand Zeichenbenutzer gehören, die nicht nur Beforschung, sondern den Aufbau einer tragfähigen Kommunikationsbeziehung zu den sie Beforschenden erwarten, – zur genaueren Untersuchung der Beziehungen zwischen den Subkulturen der Sozialen Psychiatrie,
Titel Kooperation zwischen Semiotik und Sozialer Psychiatrie
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– zur vergleichenden Institutionsanalyse im Hinblick auf die Interferenz zwischen Macht und Kommunikation, – zur Analyse des Beitrags, den Artefakte und Texte zur Bildung von Milieu und Atmosphäre leisten, – und zur Untersuchung des Mentalitätswandels von Patienten und Therapeuten im Laufe langjähriger Therapieerfahrungen. 5.4.4 Die Soziale Psychiatrie hilft damit der Semiotik – mehr Kontextfaktoren explizit in ihre Theorienbildung einzubeziehen, – differenziertere Verfahren zur Erforschung und Darstellung komplexer Subkulturen mit hohem eigenen Reflexionsgrad zu entwickeln, – empirisch nachweisbare Beziehungen herzustellen zwischen der Organisationsstruktur, dem Zivilisationsniveau und der Mentalität (Struktur und Funktion der Kodes) einer Subkultur, – neben der Analyse von Zeichentypen auch die Modalitäten von deren Zusammenwirken bei der Bildung von Milieu und Atmosphäre zu modellieren, – die Interaktion zwischen konkurrierenden Kodes in komplexen Mentalitäten zum Forschungsgegenstand zu machen.
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S. Debus und R. Posner Autor
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Titel
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Authentizität und Medialität: Das Postmoderne Ich im Spannungsfeld zwischen individuellem und kollektivem Selbst Bert T. te Wildt, Martin D. Ohlmeier und Jann E. Schlimme
»Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen für die sie nicht passt, und sie selber weiß nicht, zu wem sie reden soll, zu wem nicht. Gekränkt aber und unrecht getadelt, bedarf sie immer der Hilfe des Vaters, denn selbst vermag sie sich weder zu wehren noch zu helfen.« Platon (2002, S. 87)
6.1
Einleitung: Ursprünge authentischen Erlebens
Das Phänomen Authentizität kann nur als Paradoxon begriffen werden, da der Begriff etwas zu versprachlichen versucht, das eigentlich ins Vorsprachliche gehört. Umgangssprachlich ist mit Authentizität eher ein Gefühl als ein Gedanke gemeint: Meist soll damit ausgesagt werden, dass sich etwas echt, wahr und unverstellt anfühlt. In seiner sprachlichen Umsetzung aber wird Authentizität zu einem Gedanken, der die Modalität einer Empfindung kommentiert. Der Begriff Authentizität lässt sich also zunächst am Übergang vom Fühlen zum Denken verorten. Authentizität mag in diesem Sinne als ein Übergangsphänomen verstanden werden, dass vielleicht deshalb so anachronistisch erscheint, weil sich unsere Kultur gerade inmitten einer Entwicklung befindet, die durch ein neues Übergangsphänomen katalysiert wird, welches seinerseits die Existenzgrundlage dessen, was mit Authentizität gemeint ist, auszuhebeln scheint: die Virtualisierung von Welt. Das Physische des Mineralischen und das Physiologische des Pflanzenreiches können nicht authentisch sein, weil sie auch nicht nicht authentisch sein können. Tiere aber empfinden wir seltsamerweise als authentisch, weil wir ihnen aus guten Gründen ein Gefühlsleben zusprechen. Sie stellen für den Menschen geradezu den Inbegriff von Authentizität dar. Wenn der Mensch als Gattungswesen und als Individuum die Entwicklung da fortsetzt, wo das Tierreich aufhört, dann müsste man einem Menschen bei seiner Geburt eine noch unverfälschte Authentizität zuschreiben, eine Authentizität, die er im Zuge seiner psychischen Entwicklung zunehmend verliert. Dieser Verlust geht evolutionär und entwicklungspsychologisch, kollektiv wie individuell, mit der Ausbildung und dem Gebrauch einfacher beziehungsweise ursprüng-
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licher Medien einher. Im Rahmen eines weit gefassten Medienbegriffs – wie er beispielsweise von McLuhan (1982) propagiert wird – beginnt die mediale Entwicklung schon mit den Werkzeugen, die sich allerdings schon im Tierreich finden lassen. Wenn man aber die Sprache als das ursprünglichste Medium des Menschen im engeren Sinne begreift, beginnt der Authentizitätsverlust mit der Entwicklung der Sprachfähigkeit: »Für uns sind wir das, was wir sind, nur im Rahmen von sprachlichen und nicht-sprachlichen medialen Selbstinterpretationen. Daher spielen die Medien in unserem Leben die Rolle von sozial etablierten Mechanismen, die für uns als geistige Wesen konstitutiv sind« (Vogel, 2003, S. 134). Im Sinne von Platons einleitendem Zitat beginnt der entscheidende Authentizitätsverlust dagegen erst mit der Schriftsprache, weil das Niedergeschriebene nicht Rede und Antwort stehen kann, da sein Schöpfer eben nicht konkret in ihm enthalten ist, also im wörtlichen Sinne nicht authentisch sein kann. Bevor sie aber überhaupt sprechen lernen, werden Kinder heute schon in eine vollkommen unauthentische Welt hineingeboren, in eine Welt, die sich in ihrer allgegenwärtigen medialen Durchwirkung selbst fremd geworden ist. Dies fängt schon damit an, dass Kinder vielen Phänomenen der Natur zuerst in ihrer anthropomorphen Darstellung in einem Kinderbuch begegnen und eben nicht in der Realität. In dieser Welt ist ein Baum nicht notwendigerweise zu allererst ein konkreter Baum, den man leibhaftig sehen, fühlen, riechen und schmecken kann, sondern eventuell vielmehr ein entsprechend geformtes Weingummi und eine sprechende Figur aus einem Fernseh-Cartoon oder einem Computerspiel. In einer solchen Umwelt ist zu erwarten, dass Kinder authentische Erfahrungen zum Beispiel mit der Natur vermissen, was vielleicht darauf hinauslaufen könnte, dass sie ihre eigene Authentizität vorzeitig verlieren. Die eindringlichsten Warnungen vor den Gefahren des Authentizitätsverlusts, der sich aus der raumgreifenden Medialisierung von Welt zu ergeben drohe, stammen aus der Zeit, in denen die digitale mediale Revolution noch nicht wirklich abzusehen war. Mahnschriften reichen mit Benjamin (1963) zurück bis vor den Zweiten Weltkrieg, über Horkheimer und Adorno (1988) im Nachkriegsdeutschland bis hin zu Debord (1996) und Baudrillard (1978) in den Siebzigerjahren. In allen diesen Schriften wird in der einen oder anderen Form ein durch die Medien hervorgerufener Authentizitätsverlust beklagt. An dieser Stelle sei bemerkt, dass die Bewertung des Phänomens Authentizität durchaus problematisch ist (Esch, 1984). Hierbei muss zunächst unterschieden werden, ob ein Mensch von sich selbst oder von anderen als authentisch erlebt wird. Einen Menschen in seinem Auftreten und Handeln als authentisch zu erleben, wird gemeinhin als positiv bewertet. Eine Bewertung entsteht aber immer nur im Hinblick auf andere, ob diese nun anwesend sind oder nicht. Eine nicht im Hinblick auf einen anderen erlebte Authentizität
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entzieht sich jeder Beurteilung, nicht zuletzt weil es inhaltlich sowohl um positive Empfindungen wie Lust als auch negative Empfindungen wie Trauer gehen kann. Der Zuspruch »Ich erlebe dich als authentisch« birgt neben der positiven Bewertung bereits ein vermittelndes, ein mediales Element. So über andere zu urteilen, ist verdächtig, den Anfang vom Ende der Authentizität zu implizieren. Der Versuch, Authentizität zu vermitteln, erscheint somit als die Vorstufe ihrer medialen Vernichtung. Wer oder was aber schreibt dem Phänomen Authentizität überhaupt ein für den Menschen ultimativ positives Bedeutungsmonopol zu? Muss der in sich paradoxe Begriff nicht ohnehin wie eine abstrakte Totgeburt erscheinen, da in dem Moment, in dem wir einem Erlebnis im Sinne einer Bewusstwerdung Authentizität zuschreiben, seine Authentizität zerstört wird? Könnte der Verlust von Authentizität nicht viel mehr eine evolutionäre Notwendigkeit als ein zivilisatorisches Zerfallsymptom darstellen? Geht es im Zuge der virtuellen Revolution weniger um einen unaufhaltsamen Verlust, sondern eher um einen rasanten Gestaltwandel von Authentizität? Dieser Beitrag versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden, indem er die Interdependenzen in der Entwicklung von Authentizität und Medialität untersucht.
6.2
Der Begriff Authentizität: Ich selbst sein
Authenticus bedeutet im Spätlateinischen bzw. authentikos im Griechischen »echt, zuverlässig, verbürgt, glaubwürdig, eigenhändig«. Im Deutschen versteht man unter Authentizität »Echtheit, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit« (Drosdowski, 1975). Die Herkunft des Begriffs Authentizität ist etymologisch nicht eindeutig geklärt (Schulz und Basler, 1996; Kluge, 2002). Der erste Wortteil ist von autos herzuleiten und bedeutet »aus sich heraus« und »selbst«. Der zweite Wortteil geht eventuell auf die griechische Wortendung -hentes zurück, was mit »seiend« übersetzt werden kann. Authentizität bedeutet also ursprünglich »Selbstsein«. Auf einen Menschen bezogen ist diese Herleitung sehr plausibel: Ich bin nur dann authentisch, wenn ich in meinem Handeln ich selbst bin und wenn ich darüber als ich selbst auch für andere zu identifizieren bin. Analog dazu kann ein Gegenstand nur dann authentisch sein, wenn dessen Dasein auf ein Selbst zurückzuführen ist, mit dem es eindeutig zu identifizieren ist. Objektpsychologisch könnte man sagen, dass ein Objekt immer auch einen Teil des Subjekts enthält, von dem es geschaffen wurde. Ganz konkret ist zum Beispiel eine Unterschrift dann authentisch, wenn sie die charakteristischen Bewegungen des Unterzeichners nachvollziehbar in sich aufnimmt und abbildet. Dieses Begriffsverständnis impliziert, dass nur ein Schaffen beziehungsweise etwas Geschaffenes in Bezug auf einen Menschen authentisch sein
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kann.1 Authentizität ist immer ein Attribut, das ein Mensch auf ein von ihm selbst oder von einem anderen Menschen generiertes Objekt – welches ein Gefühl, eine Aussage, eine Handlung, ein Werk etc. sein kann – bezieht. Ein Mensch kann sich oder einen anderen Menschen als authentisch erleben, entscheidend ist aber, dass er oder sie sich in dem Erlebten wiederfindet. Er muss also nicht selbst Schöpfer dieses Objektes sein, sich aber in dessen Schöpfung erleben. Als Schöpfer kommen lediglich Gott und Mensch in Frage. Insofern ist es nachvollziehbar, dass das empfundene Einswerden von Mensch und Gott in einem spirituellen Erlebnis als ursprünglichste, umfassende authentische Erfahrung gilt (sich im Schöpfer selbst erleben), auch wenn es in Gesellschaften wie unserer heute für immer weniger Menschen nachzuvollziehen sein mag. Naheliegender ist das authentische Erleben, welches sich einstellt, wenn sich der Mensch beim Betrachten eines besonderen Naturschauspiels eins mit der Welt fühlt (sich in der Schöpfung selbst erleben). In solchen Momenten glaubt der Mensch daran teilzunehmen und teilzuhaben, wie sich ein Schöpfer oder eine Schöpfung manifestiert. Bei solchen Erfahrungen, die im spirituellen Sinne auch als Erfahrung von Transzendenz empfunden werden, erlebt sich der Mensch intrinsisch als Teil der Schöpfung und wird sich ihrer gleichzeitig extrinsisch gewahr. Auch hier wird noch einmal deutlich, wie der Begriff Authentizität eine emotionale Erlebensebene und eine kognitive Wahrnehmungsebene birgt. Der Sequenz vom Schöpfer zur Schöpfung folgend und damit dem Menschen näher kommend, ließe sich noch eine weitere Dimension von Authentizität ausmachen, eine Authentizität nämlich, die sich in Technik oder Kunst aus der Schöpferkraft des Menschen selbst ergibt (sich in der menschlichen Schöpfung beziehungsweise im Schöpferischen selbst erleben). Wenn der Mensch ein vom Menschen geschaffenes Werk betrachtet, kann ihn – ähnlich wie bei einem Naturschauspiel – eine authentische Verbundenheit mit dieser Schöpfung ergreifen, sei es zum Beispiel beim Anblick eines imposanten Staudamms oder eines großartigen Gemäldes. Authentizität hat auch in diesem Zusammenhang vielfache Bedeutungsebenen, weil der Mensch sowohl im Vorgang der Produktion als auch der Rezeption authentische Momente erleben kann. Die Sequenz vom Sich-selbst-Erleben in Schöpfer, Schöpfung und Schöpferischem führt im Zusammenhang mit dem Phänomen Authentizität immer mehr zum Menschen hin als gleichzeitig Wahrnehmendem und Erlebendem, als Personalunion von Subjekt und Objekt, und damit offensichtlich zu immer komplexeren Selbstreferenzen. Sich selbst sowohl als Subjekt wie als Objekt wahrnehmen zu können, ist die Voraussetzung für das Erkennen von be1 Dies gilt auch für die vermeintliche Authentizität der Tiere, die ja nur vom Menschen wahrgenommen werden kann.
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wusstem und unbewusstem Erleben. Insofern ist es kein Wunder, dass die Begründer der Psychoanalyse Freud und Jung die Entwicklung von Technik und Kunst durch den Menschen als Wegbereiter für die Entdeckung des Unbewussten ausmachten (Freud, 1901/1999; Jung, 1968). Letztlich kulminiert die dritte Stufe der beschriebenen Entwicklung, das Sich-selbst-Erleben im Schöpferischen, also im weitesten Sinne im Medialen, das ja seinerseits Technisches und Künstlerisches in sich vereint und zur permanenten Selbstreferenz nutzt. Nun aber deutet sich eine vierte Entwicklungsstufe an, in der das Geschöpf Mensch sich dadurch authentische Erfahrungen zu ermöglichen versucht, indem es sich anschickt, selbst die Rolle eines Schöpfergottes anzunehmen, um sich von der Begrenztheit irdischer Techniken und Künste zu lösen. Die neue Qualität in diesem Versuch liegt darin, dass sich der Mensch darauf verlegt, nicht nur die Welt, sondern vor allem auch sich selbst neu zu erschaffen, sowohl biologisch (vor allem biotechnologisch) als auch seelisch (vor allem multimedial). In diesem Zusammenhang könnte der Begriff authentisch auf Umwegen zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurückfinden. In dieser Lesart – sich zu sich selbst machend – schafft sich der Mensch quasi selbst.
6.3
Authentizität als Phänomen: Der Moment des Ich-selbst-Seins
Wie sich in diesen metapsychologischen Vorüberlegungen andeutet, bietet sich die Selbstpsychologie dazu an, das Phänomen Authentizität und seine modernen Implikationen näher zu untersuchen. Das Ich kann als die zentrale Bewusstseinsfunktion verstanden werden. Als dessen wichtigste Modalitäten gelten nach Russell Autonomie und Authentizität (Russell, 1999), das heißt, dass das Ich, um sich als Ich zu erleben, autonom handlungsfähig sein und sich in seinen Handlungen authentisch selbst erkennen können muss. Es will sich also »Ich« sagend als unabhängig erleben und gleichzeitig immer im Rahmen des Selbst begründet bleiben. Es will ich selbst sein. Wenn ich sage, dass ich ich selbst sein will, dann impliziert dies, dass Ich und Selbst nicht dasselbe sind. Das Ich ist der bewusste Teil des Selbst. Das individuelle Selbst meint die Gesamtheit der bewussten und unbewussten Psyche eines Menschen (Emrich, 1999). Ganz man selbst sein wollen, hieße dann entweder, das Ich-Bewusstsein alle Räume des Selbst erfassen und ausleuchten zu lassen oder das Ich-hafte ganz aufzugeben und im unbewussten Selbst aufzugehen. In diesem Spannungsfeld bewegen sich Ich und Selbst. Man könnte meinen, dass, in Gänze ich selbst zu werden, bedeutet, dass entweder das Ich oder das Selbst, das Bewusste oder das Unbewusste, vollkommen die Führung übernimmt. Das entscheidende Moment der Authentizität ist aber vielmehr dasjenige, dass die ersehnte Deckungsgleichheit von Ich und Selbst nicht zu einem Ich- oder Selbst-Verlust
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führt. Vielmehr geht es um einen Moment des Nebeneinanders, der Berührung und des Austauschs zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, der sich zum Beispiel in der Meditation herstellen lässt, da sie durch höchste Konzentration und Bewusstseinskraft einen Zugang zu den Tiefen von Entspannung und Unbewusstem ermöglicht. Es liegt also nahe, Authentizität als einen Moment des Ich-selbst-Seins zu begreifen. Das Ich-selbst-Werden kann ein hehres Ziel darstellen. Immer beziehungsweise immer mehr man selbst sein zu müssen, kann aber auch einen belastenden, ja eventuell krank machenden, weil kaum zu erfüllenden Anspruch bergen. Die darin liegende Gefahr der Depressivität wird kaum irgendwo so deutlich wie in den negativen Formulierungen des Verzweifelt-nichtman-selbst-sein-Könnens in Kierkegards »Krankheit zum Tode« (Kierkegard, 1984). Wer vermag schon von sich zu sagen, wer er beziehungsweise sie selbst ist? Auf dem Weg zu sich selbst ist jeder immer wieder ein anderer. Und so lange von einem ultimativ auffindbarem Selbst ausgegangen wird, erscheint auch der Anspruch von Psychotherapie, dem Ich zur Selbstfindung zu dienen, als falsch. Und doch dient auch gerade sie dem Ziel authentischen Erlebens, indem sie immer wieder versucht, dieses Ich-selbst-Empfinden zu generieren, wenngleich es dabei nicht um einen kontinuierlichen Zustand oder den Weg dorthin geht. Vielmehr handelt es sich im besten Falle um einen Moment, in dem sich das Ich als eins mit dem Selbst erlebt. In diesem Moment (emp)findet das Ich offensichtlich seine Ursprünglichkeit im Selbst, oder – um in der Begriffsdefinition für Authentizität zu bleiben – es erlebt sich als Schöpfung seiner selbst; zumindest für einen Moment erfüllt sich der Pindar’sche Imperativ »Werde, der du bist!« (Laengele, 1999). So wird es nachvollziehbar, wie die Ausdrucksformen des Selbst, die vielen verschiedenen Ich-Zustände immer anders und trotzdem authentisch sein können. Authentizität kann eben gerade bedeuten, immer wieder anders zu sein. Der verzweifelte Versuch, immer gleich zu sein (Ich-Rigidität), wird Authentizität am Ende ebenso unterbinden, wie der krampfhafte Versuch, ständig alle Facetten des Selbst auszuleben (Ich-Verlust). Die größte Enge und die größte Ausdehnung des Ich-Selbst-Seins sind Feinde der Authentizität. So werden Multiplizität und Authentizität des Ich-Erlebens nicht zu einem Widerspruch. In Bezug auf Hackings Arbeit über die Phänomenologie der dissoziativen Identitätsstörung (Hacking, 1996) formuliert Turkle (1998): »Zwischen den Extremen des unitären Selbst und der multiplen Persönlichkeitsstörung beginnen sich die Umrisse eines flexiblen Selbst abzuzeichnen« (S. 425). Tatsächlich scheint das Cyberspace dissoziative Identitätsstörungen nicht nur besonders zu kultivieren, sondern eventuell sogar auch zu generieren (te Wildt, Kowaleski, Meibeyer und Huber, 2006). Dass aber auch unabhängig von psychopathologischen Dimensionen eine medial generierte soziale Übersättigung mit einem Verlust von identifizierenden Persönlichkeitsmerkmalen
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einhergeht, ermittelten Renner und Laux in einer Studie (Renner und Laux, 2000). Von selbstpsychologischer Warte aus muss hier eher von einem flexiblen Ich gesprochen werden, das den unendlichen und unergründbaren Inhalten des individuellen Selbst immer wieder neuen Ausdruck zu verleihen vermag. In dieser Sichtweise erscheint das Ich als Medium des Selbst, welches dann authentisch vermitteln kann, wenn es mit dem Selbst zur Deckung kommt.
6.4
Entwicklungspsychologische Bedeutungen von Authentizität und Medialität: Vom Verlust der Kindheit und von der Verkindlichung der Gesellschaft
Es liegt nahe, zu postulieren, dass sich für den Säugling ein authentisches Erleben nur dann erhalten beziehungsweise entfalten kann, wenn ihm mit authentischem Interesse begegnet wird (Keller und Gauda, 1987). Nach dem Säuglingsforscher Stern ist »die Authentizität des elterlichen Verhaltens auf der Ebene der intersubjektiven Bezogenheit ein ungemein wichtiger Faktor« (Stern, 1992). Dem ist hinzuzufügen, dass vermutlich nicht nur die zwischenmenschliche Begegnung von Authentizität geprägt sein sollte, sondern vor allem auch die Begegnung mit der Welt der Objekte. Um noch einmal das Beispiel des Baumes aufzugreifen, scheint es von Bedeutung zu sein, ob ich einem Baum in all seinen sinnlichen Dimensionen in der Natur begegnet bin, bevor ich mit seinen technischen Transformationen (Papier) und seinen kreativen Abstraktionen (Zeichnung) umgehe. Sowohl in der Begegnung mit dem Phänomen Baum als auch in der Beziehung zu den Eltern erscheint es als sinnvoll, der Welt zunächst in ihrer möglichst ursprünglichen Form beziehungsweise in ihrer Schöpfungsdimension zu begegnen, um später mit den unsere Kultur konstituierenden Abstraktionen mit Verstand und Vernunft umgehen zu können. Allerdings – so Stern – müssen »auch Säuglinge nahezu vom ersten Tag an lernen, vermischte Botschaften zu entschlüsseln. Zugespitzt formuliert: »Schon die Aneignung von Kommunikationsfähigkeiten erfolgt in einem komplexen Medium, und diese Tatsache muss die Art und Weise, wie das Signalsystem erlernt wird, beeinflussen« (Stern, 1992, S. 303). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass man Kindern von Anfang an verbal begegnet. Als das ursprünglichste menschliche Medium kann Sprache mit einem Satz ganz Unterschiedliches meinen und im Zusammenhang mit Mimik und Gestik dem Kind ganz Unterschiedliches bedeuten. So beginnt der primäre Authentizitätsverlust für jeden Menschen mit dem ersten Tag, wenngleich Eltern in ihrer Liebe zum Kind in der Regel alles tun, um diese Entwicklung langsam, graduell und harmonisch zu gestalten. Eine solche Gestaltung findet zum Beispiel im Halten, Wärmen und Streicheln des Babys statt, um den authentischen Moment des Einsseins
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des Babys mit der Mutter trotz der körperlichen Trennung noch für eine Weile aufrechtzuerhalten. Insofern erscheint die Schwangerschaft geradezu als Sinnbild für Authentizität und die Geburt als der Beginn des unvermeidlichen Authentizitätsverlusts. Diesem Authentizitätsverlust entspricht entwicklungspsychologisch der Schritt vom Ich-selbst-Sein-im-Schöpfer zum Ich-selbst-Sein-in-der-Schöpfung, aus biblischer Sicht entspräche dies der Vertreibung aus dem Paradies. Das authentische Erleben des Babys ähnelt in dieser Phase dem der anderen Geschöpfe, also der Tiere, und es kommt vor allem darauf an, dass die Schöpfung in ihrer Natürlichkeit erlebt werden kann. Das Ich-selbst-Sein-in-dermenschlichen-Schöpfung vollzieht sich dann mit dem Gebrauch von Werkzeugen im weitesten Sinne, von technischen und künstlerischen Mittlern, letztlich von analogen Medien, beginnend mit der Sprache. Wichtig für diese Phase ist es, dass der virtuelle Charakter des Mittels jeweils noch erkennund erklärbar ist. Authentisches Erleben ist in dieser Phase gerade durch das spielerische Moment charakterisiert, dass dem Kind abverlangt, Fantasie einzusetzen, wenn es beispielsweise ein Tier nachmacht oder im Kopf eine gelesene oder erzählte Geschichte bebildert. Diese Fantasien, die dann unter Umständen mit dem Kind durchgehen, sind dann ganz die seinen. Es ist ganz bei sich. Der Schritt zurück in die konkrete Realität ist aber insofern immer ein leichter, da sich diese zu keinem Zeitpunkt der Fantasie gänzlich auflöst. Sie ist immer da und dient als Hauptreferenz, wenn zum Beispiel das vom Kind gespielte Tier über einen Baumstumpf stolpert oder der Geschichtenerzähler von einem Niesanfall unterbrochen wird. Damit diese Entwicklung gelingt, bedarf es gewisser Fähigkeiten, die gefördert oder vernachlässigt werden können. Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass die Phantasiebegabung sowie die Spiel- und Sprachfähigkeit von Kindern deutlich abgenommen haben (Spitzer, 2005) und dass dies in einem direkten Zusammenhang mit der Allgegenwart von Massenmedien in den Kinderzimmern steht, insbesondere von Fernsehen und Computerspielen. Die Ausbildung von Fantasie-, Spielund Sprachbegabung aber ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Realitätsbewusstsein und Abstraktionsfähigkeit, welche gleichsam für einen gesunden Umgang mit den neuen digitalen Medien notwendig sind. Die schöne neue virtuelle Welt zeichnet sich nämlich gerade dadurch aus, dass der Mensch in ihr trotz aller vermeintlichen Verspieltheit ernst macht mit der Darstellung aller vorstellbaren Welten und Wesen. Diese stellt nur eine Art dar, mit der sich der postmoderne Mensch versucht, als Schöpfer seiner Selbst zu betätigen. Die digitalen Medien versuchen himmlische und höllische Fantasiewelten zu realisieren, indem sie sie so konkret wie möglich erscheinen lassen, ohne jedoch wirklich Spielräume für Fantasie zu lassen. Auch wenn sie heute noch vor allem in Kinderhände fallen mögen, die Computerspielindustrie, die im Finanzvolumen die Filmindustrie mittlerweile bei Weitem
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übersteigt, findet immer mehr Kunden auch in einem erwachsenen Publikum. Bei dieser Entwicklung lassen sich zwei entscheidende bedenkliche Beobachtungen anstellen, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll. Erstens wird den Kindern mit dem ursprünglichen Spielen, bei dem die reale Welt inklusive der eigenen realen Körperlichkeit entdeckt wird, eine wichtige Phase ihres Heranwachsens und damit ein Teil ihrer Kindheit genommen, während gleichzeitig die Erwachsenenwelt in ihrer Verstrickung mit der virtuellen Welt des Cyberspace immer kindlicher wird. Zweitens droht die durch die Medien vermittelte hypnotische Regression der Erwachsenwelt mit einem allgemeinen Bewusstseinsverlust einherzugehen. Hinter dem Impuls, sich medial von der konkreten Realität wegführen zu lassen, steht die Sehnsucht nach Selbstvergessenheit, die auch als eine entweder in die Vergangenheit oder in die Zukunft projizierte Authentizität verstanden werden kann. Die zur Vergangenheit hin ausgerichtete Authentizität sehnt sich nach dem Einssein mit der Natur, dem Irdisch-Animalischen, einem mütterlichen Moment. Die nach der Zukunft hin ausgerichtete Authentizität sehnt sich nach dem Einssein mit einer geistigen Welt, sei sie ein Gott oder die virtuelle Welt, nach einem Metaphysischen, einem väterlichen Moment. Beides Sehnen könnte aber als ein Sehnen nach der Rückkehr zu einem Ursprung (religio im weitesten Sinne) verstanden werden, ganz im Sinne der Begriffsbestimmung von Authentizität als Wunsch danach, in Schöpfer und Schöpfung enthalten zu sein. Konkreter gesagt gibt es während unseres Erwachsenenlebens ein Sehnen nach der vermeintlich unbeschwerten Kindheit und damit nach der Nähe zum (mütterlich) Erdhaften. Unsere Fantasien gelten aber ebenso der vermeintlichen Ruhe des gesetzten Alters, die eine Nähe zum (väterlich) Göttlichen mit sich bringen möge. Beide Zustände bergen in der Imagination ein Einssein mit sich selbst, eine Selbstvergessenheit und Unschuld, die das zwischenzeitliche Erwachsenenleben nicht zu bieten vermag. Es erscheint als bemerkenswert, dass die Erwachsenenwelt unserer Kultur zum jetzigen Zeitpunkt eher dazu neigt, die Vorzüge des Alters zu verleugnen und die des Kindseins zu glorifizieren, ohne aber für wirkliche Kinder gut genug zu sorgen. Die zunehmende Verkindlichung unserer Gesellschaft (Bly, 1997) spiegelt gleichermaßen den fortschreitenden Verlust von und die Sehnsucht nach Authentizität wider, wie sie nicht nur von psychologischen Forschern wie Erickson beobachtet werden (Erickson, 1994). Sie bedeutet einen Rückschritt, der insbesondere für die wahren Kinder, für die authentische Erfahrungen immer seltener werden, Entbehrungen mit sich bringt (Postman, 1997). Und für den Erwachsenen mag es bitter sein zu erkennen, dass er authentische Erfahrungen nicht erzwingen kann, indem er sich wie ein Kind verhält und seine Welt in einen virtuellen Abenteuerspielplatz verwandelt. Eine Erziehung zum Wohle des Kindes wür-
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de also die besondere Differenz und Verantwortung der Erwachsenenwelt anerkennen und damit auch die Notwendigkeit, dem Kind zu ermöglichen, die skizzierten Stufen authentischen Erlebens in seiner psychologischen Entwicklung zu durchschreiten, um selbst ein mit Bewusstsein und Phantasie begabtes erwachsenes Individuum zu werden.
6.5
Psychopathologische Prototypen für die Störung authentischen Erlebens: Hysterie und Narzissmus
Der fragliche Authentizitätsverlust imponiert insbesondere im Zusammenhang mit medienpädagogischen Überlegungen auch als ein soziologisches Problem. Die langfristigen individual- und psychopathologischen Auswirkungen können in dieser Hinsicht momentan nur erahnt werden. Bevor auf diesbezügliche medientheoretische Überlegungen weiter eingegangen wird, soll die Frage beantwortet werden, unter welchen Umständen die Beeinträchtigung authentischen Erlebens einen pathologischen Charakter annehmen kann. Eine Verstellung von Authentizität mag sich grundsätzlich in zwei Hauptrichtungen entwickeln, in Richtung Hysterie und in Richtung Narzissmus, die jeweils als eine unterschiedliche Störung im Zusammenspiel von Ich und Selbst beschreibbar sind. Wie später herausgearbeitet und hier schon einmal angedeutet werden soll, speist sich die exponentielle Entwicklung des Medialen gerade auch aus hysterischen und narzisstischen Potentialen. Stavros Mentzos beschreibt das spezifisch Hysterische wie folgt: »Der Betreffende versetzt sich innerlich (dem Erleben nach) und äußerlich (dem Erscheinungsbild nach) in einen Zustand, der ihn sich selbst quasi anders erleben und in den Augen der umgebenden Personen anders, als er ist, erscheinen lässt. Er versetzt sich in einen Zustand, in dem die eigenen Körperfunktionen und/oder psychischen Funktionen und/oder Charaktereigenschaften in einer solchen Weise erlebt werden und erscheinen, dass schließlich eine (angeblich) andere, eine quasi veränderte Selbstrepräsentanz resultiert« (Mentzos, 1996, S. 75). In der Sprache des Ich-selbst-Seins und der Authentizität könnte gesagt werden, dass bei der Hysterie eine Verunsicherung des Ich gegenüber dem Selbst besteht. Das Ich ist nicht in der Lage, den anflutenden Inhalten des unbewussten Selbst über die Ich-Funktionen einen kohärent authentischen Ausdruck zu verleihen. Denn es sind ja gerade die Ich-Funktionen des Bewusstseins wie zum Beispiel die Orientierung, das physische Kohärenzerleben, die Identität, die bei Menschen mit dissoziativen Störungen beeinträchtigt sind – wobei fraglich ist, ob nicht eben diese Symptomatik, das vermeintlich Inszenierte des Hysterikers, dessen persönliche authentische Selbstrepräsentanz darstellt. Genau dies nutzen tiefenpsychologische Therapieverfahren aus,
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wenn der symbolische Ausdruckscharakter der Symptomatik gedeutet wird, um den eigentlichen Konflikt zu erkennen und zu behandeln. Über die Entwicklung und das Wesen des Narzissmus schreibt Alice Miller, dass es bei seiner Entstehung vor allem an einem Raum mangele, »in dem das Kind seine Gefühle, seine Empfindungen erleben könne. Das Kind entwickelt dann etwas, das die Mutter braucht und das im Moment zwar das Leben rettet, aber es eventuell lebenslänglich daran hindert, es selbst zu sein« (Miller, 1979, S. 63). Schließlich werde »die Grandiosität die Abwehr gegen die Depression und die Depression die Abwehr des tiefen Schmerzes über den Selbstverlust. [. . . ] Der Narzissos ist in sein idealisiertes Bild verliebt, aber weder der grandiose noch der depressive ›Narzissos‹ kann sich wirklich lieben. Seine Begeisterung für sein falsches Selbst verunmöglicht ihm nicht nur die Objektliebe, sondern auch und vor allem die Liebe zu dem einzigen Menschen, der ihm voll und ganz vertraut ist – zu ihm selber.« Auch hier geht es also um ein anderes beziehungsweise falsches Selbst. Selbstpsychologisch gesehen, geht es hier um eine Überbetonung des Ich-haften und eine Unsicherheit gegenüber dem Selbstsein. Während der Hysteriker nicht genug ich selbst zu sich sagen kann, weil es ihm an Ich-Funktionalität mangelt und dadurch der Selbstausdruck überwiegt, liegt es beim Narzissten vielmehr daran, dass sich das Ich verselbständigt und es ihm an Kontakt zum eigentlichen Selbst mangelt. Untersucht man also Authentizitätsverlust in Bezug auf Hysterie und Narzissmus, befasst man sich mit der Stellung des Ich gegenüber dem Selbst, das bei der Hysterie dem Selbst zu nah und beim Narzissmus dem Selbst zu fern zu sein scheint. Der Narziss sagt und ist zu sehr Ich; der Hysteriker zu sehr Selbst. Allgemein formuliert geht es um eine Beziehungsstörung zwischen dem Ich und dem Selbst. Diese internalisierten Beziehungsstörungen wirken sich auch auf die externalen Beziehungen zu anderen Menschen aus. Der Hysteriker ist zu sehr und der Narziss zu wenig auf den Anderen bezogen. Die Störung des Ich in seinem Bezug zum Selbst (Authentizitätsverlust) und die Störung in Bezug auf den anderen (Beziehungsstörungen) bedingen sich gegenseitig. Die Überwindung dieser sich analog vollziehenden Entwicklungsstörungen mag gleichsam zur Befähigung zu authentischer Begegnung und Berührung führen.
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Authentizität als Ich-selbst-Sein in der Begegnung mit dem Anderen: Von der Gefahr der Selbstvergessenheit im kollektiven Selbst
Unser Leiden und Lieben mögen noch die letzten Bastionen menschlichen Lebens sein, die am wenigsten von der medialen Überformung von Welt verfremdet worden sind. Wie bereits angedeutet, geht es Authentizität dabei immer um eine Herstellung von Bezügen beziehungsweise Beziehungen, wobei die ursprünglichste aller Bezugnahmen für den Menschen die des Ich auf das Selbst ist. Jedes Kranksein macht dies transparent und weist daraufhin, dass die Beziehung des Ich zum Selbst, insbesondere zu den unbewussten Domänen des Es, neu gestaltet werden muss. Die zweite dem Menschen ebenbürtige Art, Authentizität zu erleben, liegt in der unmittelbar liebevollen Begegnung zu einem anderen Menschen. In seinem Werk »Ich und Du« schreibt Buber hierzu: »Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie; [. . . ] Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung« (Buber, 1971, S. 12). Authentisches Erleben und Lieben bedarf also nicht nur keiner Medien, sondern sie sind sogar geradezu ihr Widerpart. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes unmittelbar. Liebe und Authentizität bergen allerdings noch weitere Gemeinsamkeiten. Beide sind nicht eindeutig als Zustand oder als Akt zu identifizieren, sondern changieren zwischen diesen Phänomenen. Sie können vielmehr nur als Moment erlebt werden. Ebenso wie die Authentizität ist auch die Liebe nicht ohne eine Vorstellung von Paradoxie und Transzendenz begrifflich zu fassen. Ein Moment der Liebe ist immer authentisch. Ein Moment der Authentizität ist vielleicht immer von einer Art Liebe erfüllt. Vielleicht meint Authentizität den einfachsten Moment der Liebe, nämlich die menschliche Liebe zum Dasein an sich, also zur Schöpfung im weitesten Sinne. Sowohl bei der Liebe als auch bei der Authentizität geht es immer um die Paradoxie, dass wir nur durch den Anderen oder die Andere ganz wir selbst werden beziehungsweise uns als solche erfahren: »Ein Selbst sein, das die Dinge wirklich erkennt, ist daher nur möglich, wenn wir lieben, denn nur dann treten wir aus uns heraus und auf den anderen zu, der uns mit einer ganzen Welt als Geschenk entgegenkommt und in diesem Geschenk auf unsere uns nicht verfügbare Herkunft aus Gott verweist« (Jochum, 2003, S. 139 f.). Angelehnt an die analytische Psychologie Jungs, klingt hier an, dass das Selbst nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Dimension birgt. Jedem individuellen Selbst wohnt eine Unergründlichkeit und Unendlichkeit inne, die sich daraus ergibt, dass es in seiner Tiefe in das kollektive Selbst übergeht (Emrich, 1999). Aus diesem Übergangsbereich erklärt sich, warum die Menschen in Träumen und Fantasien immer wieder auf arche-
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typische Figuren und Geschichten stoßen, die sie unbewusst miteinander teilen, ohne sie notwendigerweise direkt vermittelt bekommen zu haben. Sagen, Legenden, Märchen, Fantasy und Science-Fiction erzählen zum Teil immer wieder die gleichen archetypischen Geschichten in unterschiedlicher Bebilderung. Es fällt auf, dass diese Stoffe gerade in der Umsetzung mit Hilfe der neuen digitalen Film- und Computerspieltechniken momentan eine ganz besondere Anziehungskraft ausbilden. Die hyperrealistischen Filmumsetzungen von Stoffen wie zum Beispiel Herr der Ringe, Harry Potter und King Kong versuchen praktisch die Welt der Archetypen zu konkretisieren. Wenn man bereit ist, das Archetypische in diesen Filmen zu entdecken, dann könnte man eventuell davon sprechen, dass der Mensch in diesen Stoffen eine Möglichkeit zu finden sucht, kollektiv er selbst zu sein. Anders gesehen, könnte darin die Vermeidung stecken, individuell er selbst zu sein und anderen Individuen wirklich begegnen zu müssen. Der entscheidende Unterschied, ob der Umgang mit dem kollektiven Selbst gelingt oder nicht, mag sich mit der Frage beantworten, ob der Mensch sich seines archetypischen Urgrundes bewusst wird oder nicht. Es gibt viele Gründe dafür zu befürchten, dass die neuen digitalen Medien eine noch größere hypnotische Kraft gegenüber seinen Nutzern entfalten, als dies die analogen Vorläufermedien getan haben. Im Zusammenhang mit einer damit drohenden Selbst-Vergessenheit erscheinen die beiden psychopathologischen Phänomene in einer kollektiven Dimension als Massenhysterie und -narzissmus. Vielleicht befinden wir uns alle bis zu einem gewissen Grad bereits in der Situation, die Marshall McLuhan in einem Interview im Jahre 1969 als »Narziss-Narkose« beschrieb, womit er sich insbesondere auf die visuelle Dominanz der schon damals sogenannten »Neuen Medien« bezog, also letztlich auf den iconic turn. Mit dieser speziellen Form der kollektiven Selbsthypnose meinte McLuhan ein »Syndrom, bei dem sich der Mensch der psychischen und sozialen Auswirkungen seiner neuen Technologien genauso wenig bewusst ist, wie ein Fisch sich des Wassers bewusst ist, in dem er schwimmt. Und so wird schließlich eine von neuen Medien erzeugte Umwelt genau an dem Punkt unsichtbar, an dem sie alles durchdringt und unser Gleichgewicht der Sinne vollkommen verändert« (Mc Luhan, 1969, S. 8). Wir sind also geblendet von der visuellen Kraft unserer eigenen Schöpfungen und ihrer narzisstischen Verführungskräfte, wobei es eben nicht um Introspektion, sondern in erster Linie um Projektion geht. Vielleicht steckt also im ubiquitären Narzissmus, gleichsam individuell wie kollektiv, der Bruch oder Sprung, der einen Riss zwischen reale und virtuelle Lebensweisen zieht. Dies geschieht genau dann, wenn die innere Realität und die innere Medialität intrapsychisch keine ausreichende Ausprägung und Verbindung erfahren haben, wenn Wirklichkeit und Anspruch also schon intrapsychisch zu weit auseinanderklaffen. Dieses Auseinanderklaffen entäußert sich nun extrapsychisch einerseits in einem
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Körperfetischismus, also in einem Materialismus, der eben nicht nur ein kapitalistisch-ökonomischer und naturwissenschaftlicher ist. Andererseits äußert sich dieses Auseinanderklaffen in der Externalisierung alles Psychischen im Medialen. Nicht aber nur das Narzisstische geht ganz in dieser Entwicklung des Medialen auf, sondern auch das Hysterische. Welche Bedeutung hat das Hysterische oder Histrionische für den Bruch zwischen Wirklichkeit und Vorstellung? Die Bedeutung der Hysterie für die Medialität ist schwieriger zu ergründen als die des Narzissmus, weil sich das Hysterische immer wieder entzieht, verschleiert und metamorphisiert. Während der Narzissmus einen Keil zwischen Wirklichkeit und Anspruch treibt, führt die Hysterie zu einem Dammbruch zwischen Wirklichkeit und Vorstellung. McLuhan beschreibt die Medien als Ausstülpungen beziehungsweise Erweiterungen des Menschen, insbesondere seiner Psyche. Wie bereits erklärt, entwickelt er in diesem Zusammenhang den Gedanken von einer »Narziss-Narkose«, bei der die medialen Erweiterungen ganz ins Zentrum rücken und den Menschen, aus dem sie »wachsen«, hypnotisieren beziehungsweise anästhesieren. Bei der Hysterie mag es umgekehrt sein. Eine Hysterie-Narkose könnte in Analogie bedeuten, dass die »Ausstülpungen«, die intrapsychischen Medien, zum Beispiel Sinnesorgane und Bewusstseinsfunktionen, im Sinne der Dissoziation betäubt werden. Es ist bekannt, wie massenhysterische Phänomene einen geradezu anästhesiologischen Effekt bis hin zur Bewusstlosigkeit haben können. Emrich postuliert in diesem Zusammenhang, dass sich das Hysterische beziehungsweise das Histrionische nicht verflüchtigt habe, sondern mittlerweile ganz im Medialen aufgehe: »Inszenierungen sind [. . . ] so sehr vom öffentlichen Leben aufgesogen worden, dass sie im privaten Rahmen nicht mehr möglich sind: die Hysterie ist gewissermaßen ein verbindliches, öffentliches gesellschaftliches Faktum geworden« (2003, S. 2). Hysterie kann eben auch als ein Sich-Verlieren im Anderen beziehungsweise im kollektiven Selbst beschrieben werden, letztlich als eine Form von Überbezogenheit, um nicht als ein Ich man selbst sein zu müssen. Hysterie erscheint so als »kollektives Vermeidungsprojekt, [. . . ] ein Vermeidungsvorgang von unmittelbarer Begegnung« (Emrich, 2003, S. 18). Während beim Narzissmus also das Innere betäubt ist und die Oberfläche lebendig oszilliert, ist bei der Hysterie das Äußere oft betäubt, das Innenleben aber von lebendigem Chaos geprägt. Der Narziss bricht mit der Innerlichkeit und der Hysteriker verstrickt sich mit ihr. Bei beiden aber findet kein harmonischer Austausch zwischen Innen und Außen, zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, zwischen Realität und Virtualität, zwischen Ich und Du statt. Die Allgegenwart narzisstischer und hysterischer Phänomene ist also gleichermaßen ein Zeichen für den postmodernen Authentizitätsverlust als auch die Triebfeder der Massenmedien.
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Medialität und Authentizität
Wie zu Anfang angedeutet, verliert ein Erlebnis seine Authentizität in dem Moment, wo wir ihm einen Namen geben und ihm Authentizität zuschreiben. Nach der initialen Versprachlichung von Welt sorgt nun die aktuelle digitale Medialisierung beziehungsweise Virtualisierung von Welt dafür, dass es für authentisches Erleben im ursprünglichen Sinne keinen Raum mehr zu geben scheint. In einer »Gesellschaft des Spektakels«, wie es Debord treffend beschreibt, hat sich der virtuelle Raum, der Cyberspace im allerweitesten Sinne, verselbständigt und die konkrete Welt immer weiter verdrängt. Dies hat für den Menschen existenzielle Folgen: »Die Kritik, die die Wahrheit des Spektakels trifft, entdeckt es als die sichtbare Negation des Lebens: als eine Negation des Lebens, die sichtbar geworden ist« (Debord, 1996, S. 16). Diese Manifestation der »Negation des Lebens« meint gleichsam die Medialisierung wie den Authentizitätsverlust von Welt. Nur so erklärt sich das mittlerweile ubiquitäre Phänomen, dass sich Menschen in einem vermeintlich authentischen Moment wie in einem Film fühlen oder dass touristische Unternehmungen häufig als Versuche verstanden werden müssen, in der konkreten Realität Urlaub vom virtuellen Alltag zu machen (Guenther, 2000), wobei der Erfolg solcher Urlaubserlebnisse wiederum daran gemessen wird, wie sie sich zu den Fotografien in Prospekten und in der Retrospektive verhalten. Sogar die Kriegsführung nimmt mittlerweile Rücksicht auf die modernen Bedingungen der Kriegsberichterstattung, um die jeweilige Nation mit manipulierten und/oder manipulativen Bildern zu versorgen (Islinger, 2003). Auf diese Weise spiegelt sich das Reale nicht mehr hauptsächlich in den Medien wider, sondern es wird vielmehr selbst zu einer Projektion des Virtuellen. Das Fiktive wird nicht mehr im Hinblick auf das Reale, sondern das Reale wird im Hinblick auf das Fiktive bewertet. Das Mediale ist auf diese Weise zum dominierenden Referenzbereich geworden. Bei einer genaueren Analyse der jüngsten Medienentwicklungen muss man aber den Eindruck gewinnen, dass die Sehnsucht des Menschen nach Authentizität größer denn je ist. Die Versuche der Medien, insbesondere des klassischen Massenmediums Fernsehen, das Authentische wiederzubeleben, das sie selbst zerstört haben, nimmt groteske Züge an. Kein Medienformat hat zurzeit so eine Breitenwirkung wie die sogenannten Reality-Shows in all ihren Spielarten. Bei dieser Entwicklung ging es offenbar zunächst darum, vermeintlich reales Geschehen im Rahmen von Talk-, Gerichts- und Psychotherapieshows in die Fernsehstudios zu holen. Nun scheint es eher darum zu gehen, die konkrete menschliche Realität mit der Kamera dort abzuholen, wo sie entsteht, oder gar Versuchsanordnungen herzustellen, in denen eine Pseudorealität möglichst intensive, vermeintlich authentische Reaktionen
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bei den Teilnehmern hervorzurufen vermag. Mit Ersterem sind die vielen Showformate gemeint, in denen Berater jeglicher Art (z. B. innenarchitektonisch oder pädagogisch) in die Wohnstätten der Menschen gehen, um deren Lebensalltag zur Belustigung, Rührung oder Schockierung der Zuschauer zu verändern. Mit Letzterem sind Formate gemeint, in denen Menschen in Wohncontainern oder Dschungelcamps wie Tiere gehalten werden und immer wieder neuen Herausforderungen und Demütigungen ausgesetzt werden. Bei all diesen Formaten geht es allerdings letztlich vor allem darum, den Teilnehmern für die Zuschauer so viele vermeintlich authentische Momente des Glücks und der Verzweiflung, der Angst und der Wut, der Lust und der Abscheu abzuringen wie nur eben möglich. Dass es dabei letztendlich um bisweilen unerträglich banale Ereignisse geht, verstärkt nur noch den Eindruck, dass das authentische Erleben in einer zur Zufriedenheit gereichenden konkreten Realität in Gesellschaften wie unserer einer bedenklichen Verarmung unterworfen ist. Insofern sind vermeintlich konkret-reale Erfahrungen kostbar und zu einer Art medialem Tauschmittel geworden. Von authentischem Erleben kann aber in diesem Zusammenhang nicht mehr ernsthaft die Rede sein. Je mehr sich Authentizität entzieht, desto absurder muss die produzierte Realität, also die Irrealität, aussehen, um sie hervorzulocken, was den Verdacht zulässt, dass wir längst in einer völlig durchvirtualisierten Welt leben. Die Fernsehmacher schicken sich an, Authentizität zu produzieren, erzeugen aber immer nur eine Art Pseudoauthentizität, die sich mittlerweile wie ein Film über unseren nicht nur medialen Alltag zu legen scheint. Ursprünglich waren die Medien dazu da, Ausnahmeerscheinungen, das Unerhörte und das Fantastische in die Normalität des Alltags der Haushalte zu transportieren. Jetzt präsentiert sich der Durchschnittsbürger im Glauben an eine Art Demokratisierung des Fernsehens als der vermeintlich wahre Star, als gebe es in der Banalität des Alltags stets etwas Besonderes zu entdecken. Ähnliches gilt auch für die sogenannten Blogs und V-Blogs, den Internet-Tagebüchern und -Videos, in denen einzelne User akribisch genau ihren in der Regel langweiligen Lebensalltag präsentieren. Das Besondere daran jedoch ist nur seine mediale Aufbereitung. Das Mediale an sich wird so – bar eines sich selbst tragenden Inhalts – unmittelbar offenbar. Die Zuschauer können entweder ihrer eigenen Normalität beziehungsweise Normiertheit zusehen oder dem Medialen und seinen Wirkungen, wie es verzweifelt versucht, die Normalität erst zu erschließen, dann zu überhöhen und schließlich zu degradieren. Dabei macht sich die Medialität in unendlichen Schleifen und Verschachtelungen längst selbst zum eigenen Thema und damit unabhängig von der störenden Beschränktheit von realer Materie und Lebendigkeit. Im Grunde schauen die Menschen aber nur der vermeintlichen Authentizität anderer zu. Diese Authentizität ist jedoch vollkommen künstlich. Sie
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entsteht im Experiment. Jedes Reality-Format ist letztlich ein Menschenversuch, der mit aller Kraft und Verzweiflung die verloren gegangene Authentizität vor der Kamera wiederauferstehen zu lassen sucht (Neumann-Braun und Schmidt, 2000). Aber sowohl für den, der es vor der Kamera erlebt, als auch für den, der es vor dem Fernseher sieht, kann es nur ein schaler Ersatz für das unmittelbare Erleben sein. Denn es ist Produkt des Anderen und nicht des Eigenen. Im Rahmen der zum Teil über Monate ablaufenden Menschenversuche übernehmen die Medien immer mehr die Rolle einer Institution, die nicht nur als »Big Brother« beobachtet, sondern auch Schicksal spielt. Offensichtlich ist das eigene Schicksal zu unattraktiv geworden. Die Allgegenwart medialer Helden und Stars umgibt uns mit viel interessanteren Schicksalsversprechen. Weil diese dem Elend unseres Alltags aber derart entrückt sind, wird nun der Versuch unternommen, allen das Gefühl zu geben, Helden beziehungsweise Stars zu sein, wobei sich im Hinblick auf das Versprechen, etwas ganz anderes und besonderes zu sein, das »Mitmach«-Fernsehen und interaktive Computerspiele in ihrem Kern kaum voneinander unterscheiden. Die Botschaft ist: Du kannst mit an Authentizität grenzender Erlebnisqualität alles das sein, was du willst (Hysterie). Und du kannst mehr sein, als du eigentlich bist (Narzissmus). So werden die überbordendste Hysterie und der krudeste Narzissmus kultiviert und belohnt, um sie als eigentliche Triebkraft der letztlich kapitalistisch organisierten Massenmedien nutzbar zu machen. Das perfide Erfolgsgeheimnis dieser Entwicklung liegt darin, dass am Ende dabei tatsächlich diejenigen, die sich vor der Kamera den Menschenversuchen aussetzen, mehr erleben mögen als diejenigen, die ihnen dabei zusehen. Allerdings bezahlen die so zweifelhaft Begünstigten als Folge hysterischer Verausgabung und narzisstischer Kränkung unter Umständen mit psychischen Störungen (Gmür, 2002), deren Ausmaß bisher noch gar nicht abzusehen ist. Angesichts dieser vielen, im negativen Sinne medienkritischen Überlegungen in Bezug auf das Ausgangsproblem stellt sich noch einmal die Frage, ob nicht der Begriff Authentizität nunmehr jeglicher Grundlage entbehrt. Da sich der Mensch offensichtlich auf dem Wege des Medialen intensiveres Erleben zu verschaffen versucht als in der konkreten Realität, müsste geklärt werden, ob vermittelte Erfahrungen überhaupt mit einem Erleben von Authentizität einhergehen können. Im besten Falle hat das Mediale, gerade weil es ihn vordergründig von sich wegführt – beispielsweise in eine ihm fremde Filmwelt –, die Fähigkeit, den Menschen in seinem tiefsten Inneren zu berühren, also zu sich hinzuführen. Auf diese Weise kann das Mediale scheinbar durchaus eine authentische Erfahrung vermitteln. Der Mensch fühlt sich dann von dem Klang einer Musik, der Geschichte eines Romans oder den Bildern eines Films verstanden, wobei es eben nicht notwendigerweise auf die konkreten Inhalte ankommt, sondern
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auf das zwischen den Zeilen Liegende. Vielleicht ist sogar das Vorhandensein eines solchen Zwischenzeiligen, das vielleicht am Besten in der Poesie zum Ausdruck kommt, die Vorraussetzung für eine authentische Erfahrung mit Medien, denn eine reine Information vermittelnde Medienerfahrung führt in der Regel nicht zu einem authentischen Erlebnis. Diese Aussagen treffen zunächst lediglich auf analoge Medien wie Roman, Film und Fernsehen zu. Wie verhält es sich aber mit der Authentizität bei den neuen digitalen Medien? Die zum Teil menschenunwürdigen Menschenversuche des Fernsehens mögen anzeigen, dass sein Verfallsdatum längst überschritten ist. Da immer mehr Zuschauer auf verschiedene Art und Weise am Fernsehen beteiligt sind – als Zuschauer im Studio oder am Telefon, als Kandidaten in Quizsendungen, Talk und Reality-Shows –, bildet das Fernsehen aber bereits eine minderbemittelte Vorstufe von Interaktivität aus, die erst im moderneren Massenmedium Internet, in dem letztlich alle bisherigen Medien konvergieren, zu voller Entfaltung kommt. Die Aufhebung der medialen Sender-Empfänger-Beziehung wurde bereits vor dem Zweiten Weltkrieg von Benjamin prophezeit: »Die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum ist im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren« (Benjamin, 1963, S. 29). Das Internet erfüllt diese Prophezeiung vollständig und scheint damit vom Realitätsbegriff ehrlicherweise ganz abzulassen. Es ersetzt Realität durch Virtualität, besser gesagt, konkrete Realität durch virtuelle Realität. Im Cyberspace wird das, was bisher unter Realität verstanden wurde, zu einer von vielen möglichen Spielarten von Welt. Diese vermeintliche Realität wird einfach mit Hilfe einer Webcam eingespielt. Einerseits bieten diese Medien einen Konvergenzraum auch für die analogen Medien, die somit digitalisiert werden und die damit auch einen digitalen Charakter verliehen bekommen (z. B. interaktiv gestaltete Romane und Theaterstücke). Andererseits bieten die digitalen Medien ganz neue Ausdrucksformen, die auf erhöhter Intensität, Immersion und vor allem Interaktivität beruhen (Heim, 1998). Intensität und Immersion erreichen gegenüber den analogen Vorläufermedien im Cyberspace lediglich eine quantitative Steigerung, der interaktive Modus des Cyberspace jedoch stellt eine fundamentale Neuerung dar. Das Interaktive, als Ergebnis der Verschmelzung von Senderund Kommunikationsmedien, hat vor allem eine interpersonale Funktion. Erst diese interpersonalen Funktionen lassen das Internet wirkliche Neuschöpfungen hervorbringen: interaktiv produzierte Enzyklopädien und künstlerische Arbeiten, die Simulation neu geschaffener virtueller Gemeinschaften, seien sie atavistisch oder politisch, die fast perfekte Vermittlung von Menschen mit gleichen beziehungsweise komplementären Interessen oder Begierden, um nur einige wenige zu nennen. Es ist zu vermuten, dass wir erst am Beginn dieser Entwicklung interpersonaler Produkte stehen und bisher wenig Sinnvolles mit den digitalen Möglichkeiten anzufangen wissen. Optimistische Zeit-
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genossen wie Heim (1998) und Suler (1999) postulieren sogar, dass die große Bedeutung von Interpersonalität für den Menschen erst mit dem Durchbruch der medialen Interaktivität manifest und sichtbar werden wird. Wenn einerseits zu befürchten ist, dass das anachronistische Massenmedium Fernsehen nicht nur ein Feind der Authentizität ist, sondern diese geradezu zu vernichten droht, könnte andererseits von der Seite der Cyber-Idealisten her postuliert werden, dass die digitalen Medien gerade dabei sind, einen interpersonalen Erfahrungsraum einzurichten, in dem authentische Erfahrungen in Hülle und Fülle ermöglicht werden. Denn dieser interpersonale Raum scheint es zu ermöglichen, das Schattenhafte des Selbst, das Unbewusste sichtbar zu machen, Menschen sich darin bewegen und begegnen zu lassen (Turkle, 1998). Viele Medienforscher sehen gerade im Cyberspace einen wunderbaren Experimentier- und Entdeckungsraum für das Selbst (Bewersdorff, 2001). Vielleicht also spiegelt die anthropomorphe virtuelle Welt die innere Realität des Menschen heute viel unmittelbarer beziehungsweise authentischer wider, als es für ihn die natürliche Welt vermag. Insofern müssen Inszenierung und Authentizität auch nicht notwendigerweise als Gegenbegriffe aufgefasst werden (Laux und Renner, 2004). Allerdings könnte kritisch gefragt werden, inwieweit die virtuellen Begegnungen am Ende doch immer nur Begegnungen mit sich selbst sind. Denn die Wahl des Anderen beziehungsweise seiner virtuellen Stellvertreter läuft im Cyberspace ganz nach den eigenen Gesetzen ab. Folgt das oder der Andere nicht den Gesetzen der eigenen Vorstellungen, kann jenes oder jener ohne große Verluste sogleich weggezappt oder weggeklickt werden. Auch ist zu befürchten, dass viele Begegnungen im Cyberspace nicht nur einen flüchtigen oberflächlichen Charakter haben und wenig Entwicklungspotential bieten. Wenn wir einander nur noch hinter wechselnden Masken bis zur Unkenntlichkeit verstellt begegnen, dann kann eine nachhaltige Beziehung eigentlich nicht zustande kommen. Gerade aber die Frage, ob virtuelle Aktivitäten und Interaktivitäten im Cyberspace letztlich auf konkrete reale Ergebnisse und Kontakte abzielen, scheint ein entscheidendes Kriterium dafür zu sein, ob eine exzessive Mediennutzung psychopathologische Konsequenzen nach sich zieht oder nicht (te Wildt, 2004). Denn weder für das Individuum noch für seine Beziehungen, die ja auch immer einer körperlichen Auslebung in Form von Zärtlichkeit und Erotik bedürfen, kann das Cyberspace einen vollständigen Lebensersatzraum bieten. Auch in Bezug auf Krankheit und Alter wird der Mensch, solange er noch als Mensch erkennbar ist, auf seinen Körper zurückgeworfen sein (Schwier, 2001). Das Internet spart die existenziellen Momente des Menschseins zumindest in seiner Erfahrungsdimension aus: Hier wird kein Mensch wirklich geliebt, gezeugt, geboren, gefüttert, gepflegt und begraben. Der Mensch wird bis auf weiteres in beiden Welten, der realen und der virtuellen Realität, leben. Seine Zukunft wird vermutlich stark
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davon abhängen, ob er im Spagat zwischen diesen beiden Welten eine Balance hält. Die Frage, ob der virtuelle interpersonale Raum dem Menschen letztlich ein evolutionäres und entwicklungspsychologisches Potential bietet, bleibt derweil offen. Dass das Interpersonale beziehungsweise das Intersubjektive, wie es von Flusser (1988) auch genannt wird, mit dem Cyberspace einen Manifestationsraum gestellt bekommt, dort besser wahrgenommen, analysiert und verändert werden kann und damit einen paradigmatischen Bedeutungszuwachs erhält, wurde bereits in einem Beitrag zum Thema »Identität und Interpersonalität im Cyberspace« zu zeigen versucht (te Wildt, 2006). Es ist das Buber’sche Zwischen, der Raum zwischen Ich und Du, das in allen bisherigen medialen Äußerungen enthaltene Zwischenzeilige, welches im virtuellen Raum einer Realisierung zustrebt. Was aber bedeutet dies für die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von authentischem Erleben? Aus selbstpsychologischer Sicht könnte vorsichtig eine zeitgemäßere begriffliche Bestimmung des Phänomens Authentizität gegeben werden, wenn man berücksichtigt, dass sich das unbewusste Selbst im Medialen als vermittelnden Zwischenraum authentischer manifestieren kann als in einem singulären Ich. Die Interpersonalität des Cyberspace bietet dem Ich vor allem aber auch die Möglichkeit, sich nicht nur im eigenen, sondern gerade auch im kollektiven Selbst zu finden, welches sich in der Interaktion mit dem Ich multipler Anderer entfaltet. Insofern steht hinter der Begegnung von Ich und Medium die hier transparent werdende Begegnung zwischen individuellem und kollektivem Selbst. Aus der Sicht der anfangs eingeführten Begriffsbestimmung von Authentizität lässt sich eine ähnliche Konsequenz für das Problem nach der fraglichen Zukunft authentischen Erlebens ziehen. Die exponentielle Entwicklung von Materialismus und Medialität rückt die Authentizität ganz von der Kraft einer ursprünglichen Schöpfung ab, zugunsten der Kraft der vom Menschen geschaffenen Technologie und zugunsten der Macht seines Unbewussten. In der authentischen Erfahrung des Menschen im virtuellen Raum scheint also ein Gott als Schöpfer verbannt und der Mensch zum Schöpfer ernannt worden zu sein, sowohl formal technisch als auch inhaltlich medial. Im Gegensatz zu den materiellen technischen Schöpfungen des Menschen gehen die immateriellen abstrakten Schöpfungen und Geschöpfe des Cyberspace als Produkte aus der Interaktion medialer Repräsentationen von Menschen hervor: Authentizität als das Erleben von individuellem und kollektivem Selbst in der Interpersonalität. Man kommt also scheinbar nicht umhin, auch dem Medialen eine Kraft zuzuschreiben, die schöpferisch und authentisch zu wirken in der Lage ist. Es sieht so aus, als begründe sich diese Kraft heute primär weder in einer göttlichen Schöpfung noch einer vom Menschen geschaffenen leiblichen Welt,
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sondern vielmehr in dem medialen Zwischenraum, in dem sich das Interpersonale manifestiert.
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Schluss: Die interdependente Zukunft von Medialität und Authentizität
Während seine Sehnsucht nach Nähe und Berührung, letztlich nach Liebe, unvermindert anhält, hat sich der heutige Mensch scheinbar von der Sehnsucht nach spiritueller Erfahrung abgewandt, um sich gleichzeitig der Sehnsucht nach Authentizität zuzuwenden. Er erkennt dabei nicht, dass er sich damit letztlich in dieselbe Richtung bewegt. Ohne sich dessen bewusst zu sein, sucht der Mensch ausgerechnet in der virtuellen Welt – die so künstlich und gottlos anmutet, auch wenn sie von möglichst realistisch anmutenden Halbgöttern bevölkert ist – nach authentischen und transzendierenden Erfahrungen, wobei transzendierend im Sinne von die Grenzen von Raum, Zeit und Identität überschreitend gemeint ist.2 Das Für und Wider hinsichtlich der Frage, ob diese Suche zu einem Ziel führt, wurde hier ausführlich diskutiert. Was aber wäre, wenn Medialität authentische Erfahrungen weder begünstigen noch verhindern würde, wenn man die Meinung vertreten würde, dass Medialität und Authentizität zwei Kehrseiten ein und derselben Medaille sind? Abschließend soll diese Hypothese überprüft werden, indem die bisherigen – sich nicht notwendigerweise widersprechenden, sondern einander ergänzenden – Ausführungen als Synthese zusammengeführt werden. Es wurde postuliert, dass Authentizität immer nur von einem Selbst ausgehen kann, auch wenn es eines Ich bedarf, um sich dessen bewusst zu werden. Für sich genommen markiert das auftauchende Ich im heranwachsenden Kind schon eine Entfernung vom Selbst und einen ersten Authentizitätsverlust. Diese Entfernung vom Selbst ergibt sich schon allein dadurch, dass Ich nur im Zusammenhang beziehungsweise in der Vermittlung eines Du denkbar ist (Buber, 1971). Dieser Vermittlung entsprechen die frühesten Formen von Medialität, die, streng genommen, mit der Sprache beginnt. Die exponentielle Vermehrung und Abstrahierung von Medialität – insbesondere die unter dem Einfluss des linguistic und des iconic turn – hat zu mannigfaltigen Spiegelund Verschachtelungseffekten geführt, die das Ich-hafte des Menschen in den sogenannten zivilisierten Ländern immer weiter von seinem Selbst entfernt und entfremdet haben, so dass sich Authentizität kaum noch als ein Ich-erlebe-mich-als-mich-selbst erfahrbar ist. Während Zimmermann in diesem Zu2 Auch Debord äußerte sich dahingehend, dass »das Spektakel [. . . ] der materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion« sei, wobei er sich damals auf die noch analogen Medien bezog (Debord, 1996, S. 20).
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sammenhang von »decentered selfhood« spricht (Zimmermann, 2000), kann das Phänomen der Entfremdung mit Caruso (Stöger, 1987) als Gegenteil von Authentizität verstanden werden, eben gerade auch weil es sich ebenso auf das individuelle wie auf das kollektive Selbst beziehen kann, im Sinne eines Sichselbst-und-anderen-fremd-Seins. Ist es aber möglich, dass sich Medialität und Authentizität, als Ausdruck eines Sich-Verlierens im vermeintlich anderen beziehungsweise in sich selbst in ihren äußersten Ausprägungen im Unendlichen treffen? Die sich steigernde Interaktivität des im digitalen Raum konvergierenden Medialen könnte eine Möglichkeit bieten, Authentizität in anderer Form und Bedeutung transformiert wieder auferstehen zu lassen. Das Cyberspace kommt ohne Stars aus. Und im Internet geht es eben nicht primär um den Versuch, eine Wahrheit zu präsentieren. Es bietet sich also vielleicht nicht wirklich als Manifestationsraum für kollektivierte Hysterie und Narzissmus an. Es interessiert niemanden mehr, ob das, was jemand in einem Internetforum sagt, wahr ist oder nicht, sondern es wird für eine von vielen möglichen Realitäten gehalten, der man begegnen kann oder nicht. Wenn aber Menschen in Chats und Computerspielen in ihren vielen Facetten auftreten, also nicht mehr von einem manifesten Ich sprechen, sind sie dann nicht vielleicht viel mehr sie selbst? Wenn es im Cyberspace nicht mehr darum geht, ob sich Menschen als etwas Anderes (Hysterie) oder Besseres (Narzissmus), als sie sind, ausgeben oder nicht, begegnen sich dann nicht quasi eher verschiedene Selbste als Ichs? Und wäre nicht genau das eine wirklich authentische Begegnung? Also ist nicht erst da der Begriff Authentizität auf zwei Menschen in ihrer Beziehung zueinander anwendbar, wenn sich – wie in der Liebe – zwei einander umfassende Selbst begegnen? Hier muss ein weiterer Einwand geltend gemacht werden. Wenn der Internetbenutzer im Moment der Begegnung ganz bei sich ist, dann ist er eben nicht beim Anderen. Wenn er umgekehrt gerade nicht zu dem Selbstzustand des Anderen passt, wird er womöglich einfach virtuell eliminiert. So besteht die Gefahr, dass im Cyberspace anstatt einer wirklichen Begegnung mit dem Anderen lediglich ein Matching von komplementären Selbstzuständen zweier Individuen nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip generiert wird. Jochum hält es in diesem Zusammenhang für denkbar, »dass es wirklich möglich sein wird, alles zu tun, was man will; aber es bliebe ein durch und durch narzisstisches Wollen, das, in dem es den Widerstand der Welt und der anderen Menschen nicht mehr kennen würde, auch ohne Entwicklung bleiben müsste, so dass die Existenzform der postbiologischen Wesen wahrscheinlich als ein immerwährendes Kleinkindstadium zu beschreiben wäre, in dem die geringste Regung eines Triebes sich unmittelbar gestillt findet« (Jochum, 2003, S. 115 f.). Genau in der Vermittlung sich komplementär ergänzender Bedürfnislagen ist das Internet nämlich ein Meister. Dabei braucht es bisweilen nicht einmal eines
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leibhaftigen Gegenübers, sondern nur eines von einem Softwareprogramm gesteuerten Avatars. Aber es muss doch eine Bedeutung haben, ob ich für den Anderen nicht mehr bin als ein Erfüllungsgehilfe seiner Bedürftigkeit. Derjenige, der menschliche Beziehungsgeflechte im kapitalistischen Sinne als nichts anderes als eine Gemeinschaft von sich gegenseitige Bedürfnisse erfüllenden Teilnehmern sieht, mag im Cyberspace das ideale Instrument sehen. Baudrillard spitzt dies auf folgenden Satz zu: »Nehmt eure Wünsche als die Realität! So könnte der hoffnungslose Slogan der Macht an eine Welt ohne Referentiale lauten« (Baudrillard, 1978, S. 39). Derweil ist eine Entscheidung darüber, ob das Internet in erster Linie ein kommunikativer oder ein kommerzieller Raum ist, noch nicht gefallen. Derjenige, der in der Begegnung von Menschen mehr sieht oder erahnt, muss dieser Art von Beziehungsgrundlage zumindest skeptisch gegenüberstehen und das Internet weiter daraufhin untersuchen, ob es die reine Bedürfnissteuerung nicht nur sichtbar macht oder ob es eben doch eine neue Qualität der Beziehungsgestaltung ermöglicht. Was aber würde gegenüber einer solchen äußersten Form medialen Daseins eine äußerste Form von Authentizität bedeuten? Wenn Authentizität ein Ganz-ich-Selbst-Sein bedeutet, das Selbst aber in letzter Konsequenz nicht nur alle psychische Realität eines einzelnen Menschen meint, sondern im Sinne des kollektiven Selbst das Dasein an sich, dann beinhaltet eine äußerste Authentizität eben auch ein Sich-eins-Fühlen mit dem Anderen. In der Jung’schen Analytischen Psychologie ist das Selbst ohnehin der Träger einer auf den anderen und die Welt übergreifenden Dimension oder Kraft: »Die Konstitution des Selbst – als transzendentale Funktion – gehört in den Bereich der Metapsychologie der Interpersonalität und kann von dieser her verstanden werden« (Emrich, 2003). Insofern passt es auch, dass man Menschen mit einer Durchlässigkeit gegenüber Selbstzuständen anderer früher auch als Medien bezeichnete (Peters, 1990). In dieser Sichtweise bilden in einem vollkommen authentischen Raum die Selbste nicht nur Schnittmengen, sondern sind eins geworden. Grenzenlose Medialität und grenzenlose Authentizität bilden als zwei Seiten einer Medaille in letzter Konsequenz einen Raum, in dem das Ich im Selbst und die Selbste ineinander aufgehen. In dieser Sichtweise sind Authentizität und Medialität untrennbar miteinander verbunden. Sie beleuchten jeweils die Seiten ein und desselben Problems, nämlich der Frage, wie sich das Ich im Spannungsfeld zwischen individuellem Selbst (Authentizität) und dem Du beziehungsweise kollektiven Selbst (Medialität) verhält. So wird das Ich als unmittelbare Repräsentanz des Menschen zum Medium. Da aber das Ich den jeweils wahrnehmbaren Teil des individuellen Menschen darstellt, könnte man mit Rieger noch einen Schritt weiter gehen: »Der Mensch ist auf einer abstrakten Ebene Medium geworden: zu einem Medium, das bestimmte Folgelasten im Prozess der Modernisierung und damit einhergehenden
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Individualisierungstheorien zu übernehmen hat. [. . . ] Die Menschen lügen also nicht aus moralisch verwerflichen Gründen, sondern weil sie Kultur- und Datenverarbeitungstechniken, deren Fortentwicklungen und deren interne Mechanismen auf eine Weise internalisiert haben, die jetzt ihr Unbewusstes heißt. [. . . ] Der Mensch wird all diesen Anordnungen zum Mannequin. Durch das, was wir gewohnt sind, den Menschen zu nennen, laufen die ganze Zeit nur Daten; Wissenschaften organisieren diesen Datenstrom und modellieren im Zuge dieser Organisation seine Adresse, eine Schnittstelle, die als vielleicht einzige (?) anthropologische Konstante immer noch nicht aufgehört hat, Mensch zu heißen« (Rieger, 2001, S. 464-471). Ob der Mensch im Zuge des sich mit der Virtualisierung von Welt vollziehenden paradigmatischen Wandels die letzte physische Bastion seiner Existenz noch zu halten imstande ist, wird davon abhängen, ob ihn seine Suche nach einem authentischem Leben trotz medialer Umwege weiter in die konkrete Welt und zum konkreten Anderen führt.
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Titel Authentizität und Medialität
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Mimesis-Theorie – Eine mögliche Erklärung für das Asperger-Syndrom? Nadine Buddensiek, Thomas Huber und Hinderk M. Emrich
Kernkennzeichen des Asperger-Syndroms sind Beeinträchtigungen zwischenmenschlicher Beziehungen. Einen interessanten Erklärungsansatz stellt die philosophische Mimesis-Theorie mit ihrem physiologischen Korrelat der Spiegelneurone dar.
7.1
Asperger-Syndrom
Der österreichische Arzt Hans Asperger hat erstmals im Jahr 1944 vier Kinder im Alter zwischen sechs und elf Jahren geschildert, die sich nicht in Gruppen integrieren konnten. Dies nannte er »Autistische Psychopathie des Kindesalters«. Als Hauptkennzeichen sah er eine stabile, durch soziale Isolation geprägte »Persönlichkeitsstörung«. Die intellektuellen Fähigkeiten sowie die Sprachentwicklung dieser Kinder werden als unauffällig geschildert. Das Ausmaß an nonverbaler Kommunikation sowie andere Aspekte der zwischenmenschlichen Interaktionen, wie zum Beispiel Empathie für Mitmenschen, waren eingeschränkt. Es bestand eine Tendenz, Emotionen zu intellektualisieren, sowie die Bevorzugung komplizierter und langer Reden, ohne auf das Gegenüber einzugehen (»Kleine Professoren«). Die Interessen dieser Kinder werden als ungewöhnlich geschildert. Zudem imponierte eine motorische Ungeschicklichkeit. Erst in den 1980er Jahren wurde diese Beschreibung in der englischsprachigen Welt bekannt. Weitere Beschreibungen folgten. Heute ist das AspergerSyndrom international anerkannt und wurde in die Klassifikationssysteme ICD-10 (F84.5) sowie DSM-IV aufgenommen. Gemäß der ICD-10 stellt das Asperger-Syndrom eine spezielle Form des Autismus dar. Es handelt sich hierbei um eine tief greifende Entwicklungsstörung mit eingeschränkten spezifischen Interessen und vor allem den charakteristischen qualitativen Beeinträchtigungen der sozialen Interaktionen.
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7.2
N. Buddensiek, T. Huber und H. M. Emrich Autor
Kennzeichen des Asperger-Syndroms
Epidemiologie: Die Prävalenz nach den ICD-10-Kriterien beträgt gemäß einer Studie von Ehlers und Gilbert (1993) 28,5 auf 10.000 Kinder. Es tritt fast ausschließlich bei Jungen auf (9 : 1). Das Syndrom tritt familiär gehäuft auf. Diagnostik: Zur Diagnose des Asperger-Syndroms müssen nach der ICD-10 stark ausgeprägte qualitative Beeinträchtigungen der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie eingeschränkte Interessengebiete bei intakten kognitiven Fähigkeiten vorliegen. Fähigkeiten: Es imponiert eine motorische Ungeschicklichkeit seit frühester Kindheit. Bei Asperger-Patienten sind die auditorischen und visuellen Fähigkeiten hingegen gut ausgeprägt. Die Intelligenz ist mindestens im Normbereich. Häufig findet sich jedoch eine besonders hohe (vor allem verbale) Intelligenz. Die Sprachfähigkeit ist entsprechend sehr oft normal oder überdurchschnittlich entwickelt. Die Sprachentwicklung beginnt bei Asperger-Patienten schon sehr früh, meist schon vor dem Laufenlernen. Auffällig ist hier auch der beeindruckend große Wortschatz. Die Ausdrucksweise ist sehr ausgewählt und die Aussprache überakzentuiert. In der kommunikativen Funktion der Sprache gibt es jedoch Beeinträchtigungen. Die Prosodie ist gering. Es erfolgt keine Anpassung an die Umgebung und/oder den Inhalt des Gesagten. Inhaltlich wirkt die Sprache originell mit häufigem Einsatz von Neologismen. Eine Lockerung der Assoziationen kann vorkommen. Asperger-Patienten sprechen – bei entsprechendem Thema und Publikum – sehr viel. Die Themen beziehen sich dabei meist auf ihre sehr speziellen Interessen. Monologe mit wenig Gespür für das Gegenüber und die Situation sind häufig. Verhalten: Das Verhalten ist durch stereotype, begrenzte und repetitive Muster und Aktivitäten gekennzeichnet. Diagnostisch wichtig sind ebenfalls die stark ausgeprägten, jedoch sehr einseitigen Interessen. Ein Faktenwissen ist häufig sehr beeindruckend (Möller, Laux und Deister, 2001; Klim, 2003). Asperger-Patienten weisen charakteristischerweise eine gestörte Beziehungsfähigkeit auf. Sie sind sozial isoliert. Die Probleme entstehen vor allem dadurch, dass sich die Betroffenen nur schwer in andere hineinversetzen können. Sie wirken aus diesem Grund sehr selbstbezogen. Ihr Verhalten ist oft unsensibel gegenüber Gefühlen und Intentionen ihres Gesprächspartners. Blickkontakt wird vermieden. Die Betroffenen wirken mimisch starr. Es ist kaum möglich, Gefühle in ihrem Gesicht abzulesen (Ekman, 1998). Nach Ekman (1998) ist das menschliche Gesicht wichtig für die soziale nonverbale Interaktion. Die Unfähigkeit, ein Gesicht zu erkennen (Prosopagnosie), kann zu Problemen in der sozialen Interaktion führen. Eine solche beeinträchtigte Fähigkeit zur Gesichtsidentifizierung könnte eine mögliche Ursache des Asperger-Syndroms sein. In verschiedenen Studien zeigten sich diesbezüglich sehr unterschiedliche
Titel Mimesis-Theorie
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Resultate. In einer aktuellen, sehr sorgfältig durchgeführten Studie untersuchten Barton et al. (2004) 24 autistische Patienten (auch Patienten mit Asperger-Syndrom). Mit drei unterschiedlichen Aufgaben wurde die Fähigkeit zur Gesichtserkennung untersucht. Es gab hier eine Subgruppe von Patienten, die keine Probleme hinsichtlich der Fähigkeit zur Gesichtserkennung aufwiesen. Autismus ist also keine Determinante für Prosopagnosie.
7.3
Mimesis-Theorie
Mimesis kommt aus dem Griechischen und wird übersetzt mit »Nachahmung«. Gemäß Aristoteles ist »die nachahmende Darstellung einer Handlung« ein wichtiges Charakteristikum in der Literatur. Er postuliert ein menschliches Bedürfnis zur Nachahmung. So soll eine Einfühlung in die Handlung des Gegenübers ermöglicht werden. Donald (1991) beschreibt drei Entwicklungsstadien der Evolution der Kultur und des Denkens. Das episodische Gedächtnis, über das bereits Affen verfügen, sieht er als Grundlage von sozialen Leistungen an. Ein Beispiel dafür ist das Stapeln von Kisten, um an Nahrung zu gelangen. Eine handlungsunabhängige Reflexion geschieht nicht. Im nächsten Schritt kommt es zum Übergang in die mimetische Kultur. Dies sei gleichbedeutend mit dem Übergang vom Affen zum »Homo erectus«, der vor etwa 1,5 Millionen Jahren aufgetreten ist. Er lebte in Gemeinschaften, Kooperation war somit hier bereits sehr wichtig. Sprechen konnte diese Spezies nicht. Kommunikation geschah durch die Mimesis, die Nachahmung. Dies brachte den evolutionären Vorteil mit sich, die Emotionen im Gesicht des Gegenübers dekodieren zu können. Nachahmung dient dem Zweck, die Emotionen des Gegenübers zu enkodieren. Durch das Imitieren kommt es zum Verstehen des Gegenübers. Im Gesicht spiegeln sich Intentionen, Wünsche, Sehnsüchte und Begierden. Dies führte zur Entstehung von Kultur im Sinne von Kultur und Interaktion. Eine gestörte Fähigkeit zur Gesichtserkennung führt aber nicht zwangsläufig zu einer beeinträchtigten sozialen Interaktion (perspektivische Mimesis).
7.4
Perspektivische Mimesis und das Asperger-Syndrom
Diese perspektivische Mimesis, das heißt die Fähigkeit, Weltwirklichkeit aus der Sicht eines anderen zu erleben, scheint bei Autisten stark eingeschränkt zu sein. Eine gestörte Fähigkeit zur sozialen Interaktion kann gemäß der Mimesis-Theorie nicht ausschließlich durch eine beeinträchtigte oder fehlende Gesichtserkennung erklärt werden. Die normale soziale Interaktion benötigt neben anderen Dingen vor allem eine Einschätzung und ein Verständnis der
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N. Buddensiek, T. Huber und H. M. Emrich Autor
Gedanken des Gegenübers. Hier hilft der mimische Ausdruck, um Hinweise auf die seelische Verfassung eines anderen zu erhalten. Gemäß der Mimesis-Theorie erklären sich die Probleme der AspergerPatienten im zwischenmenschlichen Bereich dadurch, dass sie die Gedanken und Intentionen ihres Gegenübers in dessen Gestik und Mimik nicht wahrzunehmen vermögen und entsprechend in Bezug zur eigenen Person zu setzen. Sie können kein inneres Abbild davon herstellen und entsprechende zweckmäßige Handlungen einleiten. Die Probleme der Asperger-Patienten ergeben sich entsprechend der Mimesis-Theorie nicht aus der Unfähigkeit zur Gesichtserkennung (Prosopagnosie), sondern vielmehr aus der mangelnden Fähigkeit, den Gesichtsausdruck ihres Gegenübers zu enkodieren. Diese Hypothese wurde ebenfalls in verschiedenen Studien untersucht. Hier sind die Befunde homogener. Eine erste Studie zeigte bereits, dass autistische Kinder Probleme haben, Fotos mit Gesichtern und entsprechende Emotionen einander zuzuordnen (Hobson, 1987). Ferner konnte in weiteren Studien nachgewiesen werden, dass Kinder mit Autismus den emotionalen Ausdruck im Gesicht des Gegenübers nicht erkennen können (Hobson und Week, 1987). Njiokikitjien et al. (2001) untersuchten drei männliche Asperger-Patienten im Alter zwischen sechs und zehn Jahren. Sie sollten die vier Basisemotionen »Freude«, »Ärger«, »Trauer« und »Angst« auf ihnen präsentierten Gesichtern benennen. Diese drei untersuchten Jungen zeigten in verschiedenen hier gemessenen Parametern ein signifikantes Defizit hinsichtlich der Fähigkeit, Emotionen im Gesicht des Gegenübers korrekt zu identifizieren – entsprechend der Vorhersage der Mimesis-Theorie. Hinsichtlich der Äthiopathogese existieren für das Asperger-Syndrom zahlreiche Theorien. Bereits Asperger (1944) selbst hat einen genetischen Einfluss angenommen. Das familiär gehäufte Auftreten unterstützt diese Hypothese. Ein einziges beteiligtes Gen ist bislang nicht identifiziert worden. Vermutlich sind multiple Gene an der Entstehung beteiligt. Nach neueren MRT-Befunden ist auch eine hirnorganische Beteiligung aufgrund der Beobachtung bestimmter Begleitsymptome wie feinmotorischer Ungeschicklichkeit, epileptischer Anfälle und ähnlicher Symptome wahrscheinlich. Bei den sozialen Defiziten der Asperger-Patienten scheint ebenfalls eine hirnorganische Mitverursachung zu bestehen. Autisten zeigen Beeinträchtigungen in bestimmten Hirnregionen wie dem Mesencephalon, limbischen und nichtlimbischen Arealen, dem Frontallappen und der Amygdala. Diese werden als biologische Basis sozialer Kompetenz diskutiert (Critchley, 2000). Gallese, Fadiga und Rizzolatti (1996) haben in diesem Zusammenhang Anfang der 1990er Jahre Nerveneinheiten mit einer besonderen Eigenschaft entdeckt: Der prämotorische Cortex (F5-Areal) bei Primaten ist unter anderem für die Planung und Ausführung von Bewegungen verantwortlich. Bei zielge-
Titel Mimesis-Theorie
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richteten Aktivitäten (z. B. Hand zum Mund führen, einen Gegenstand ergreifen usw.) feuern dessen Neurone. Gallese et al. (1996) entdeckten, dass diese Neurone ebenfalls aktiv sind, wenn die Bewegungen bei anderen nur beobachtet werden. Das Areal dient also nicht der Objekterkennung, sondern nur bei zielgerichteten Interaktionen sind die Neurone aktiv. Man bezeichnet sie als Spiegelneurone. Diese Spiegelneurone scheinen also relevant zu sein, um das Verhalten und somit auch Ziele und Absichten des Gegenübers zu erkennen. Man könnte es auch so ausdrücken: Um sich in den anderen hineinversetzen zu können, um die impliziten Absichten des Gegenübers zu erkennen, benötigt man Spiegelneurone. Auch beim Menschen scheint es Neurone mit derartigen Eigenschaften zu geben. Gallese (2003) fand deren Aktivierung sowohl bei der Ausführung als auch bei der Beobachtung bestimmter Bewegungen. Diese Neurone befinden sich in einem kortikalen Netzwerk, bestehend aus prämotorischem Cortex, superiorem temporalen Sulcus, posteriorem parietalen Cortex und BrocaAreal. Letzteres ist beim Menschen für die Sprache wesentlich, bei Primaten entspricht es dem genannten F5-Areal. Beim Ausführen oder Beobachten bestimmter Handlungen wird also beim Menschen das gleiche Areal wie bei den Primaten aktiviert. Schlussfolgernd bedeutet dies, dass die Spiegelneurone darin involviert sind, die Ziele und Intentionen des Gegenübers zu verstehen. Gallese et al. (1996) vertreten die Hypothese, dass Spiegelneurone für gelungene zwischenmenschliche Interaktionen unabdingbar notwendig sind. Nur durch sie wird ein Verständnis des Gegenübers möglich. Sie werden aktiv bei eigenen zielgerichteten Handlungen wie auch bei entsprechenden Beobachtungen des Gegenübers. Hierbei handelt es sich um die perspektivische Mimesis. Spiegelneurone scheinen diese erst zu ermöglichen (Haagendorn, 2002). Asperger-Patienten gelingt diese perspektivische Mimesis, also das Hineinversetzen in das Gegenüber durch Erkennen und Verstehen seiner Emotionen gerade nicht. Dies führt zu der Hypothese, dass die Funktion der Spiegelneurone bei Asperger-Patienten gestört ist. Da die Identifikation von Gesichtern Asperger-Patienten zu gelingen scheint, lassen sich darüber hinaus die sozialen Schwierigkeiten der Betroffenen durch eine Beeinträchtigung der Wahrnehmungsbedeutung erklären. Die Patienten verstehen das Gesehene also nicht. Sie können nicht erkennen, welche Emotionen sich im Gesicht des Gegenübers widerspiegeln. Die Assoziation zwischen Wahrnehmung und Bedeutungserfassung gelingt nicht. Die Spiegelneurone dienen normalerweise dieser Aufgabe. Daher kann man eine Störung in den Spiegelneuronen annehmen, wodurch sich die Schwierigkeiten von Asperger-Patienten mit sozial kompetentem Verhalten gut erklären lassen. Denn, wie die Forschung nahe legt, scheinen gerade die Spiegelneurone eine konkrete Einschätzung der
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N. Buddensiek, T. Huber und H. M. Emrich Autor
Ziele des Gegenübers und damit soziale Interaktion zu ermöglichen. Diese Hypothese bedarf weiterer intensiver Erforschung.
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Wenn die Sprache den Geist aufgibt – Zur Kommunikation mit demenzkranken Menschen Ute Hauser
»Um offen zu sein, ich fürchte, ich bin nicht bei vollem Verstand. Mir scheint, ich sollte Euch kennen und diesen Mann auch, doch ich bin im Zweifel; denn ich bin völlig im unklaren, was für ein Ort dies ist, und alle Kenntnis, die ich habe, erinnert sich nicht an diese Kleider; auch weiß ich nicht, wo ich letzte Nacht gewohnt habe.« Shakespeare, King Lear, Act IV, Scene 7
8.1 Vorbemerkungen Die Psychiatrie ist größtenteils ein Fach der verbalen Kommunikation. Wir deuten, spiegeln oder klarifizieren das Gesagte und auch das Verhalten der Patienten mit Worten, das heißt wir interpretieren. Je schwieriger es ist, sich in das Gegenüber einzufühlen, desto schwieriger sind auch die Kommunikation und das Verstehen des Gegenübers. Die Kommunikation mit kognitiv gestörten Menschen ist eine Herausforderung. Häufig stoßen wir im Umgang mit altersverwirrten Menschen an die Grenzen unseres eigenen Verständnisses. Wir merken, dass unserer geistigen und sprachlichen Flexibilität derartig Grenzen gesetzt sind, dass wir der uns begegnenden Desorganisation mit Unverständnis begegnen können. Insbesondere bei Menschen mit psychoorganischen Erkrankungen kommt es jedoch häufig auch über einen Sprachabbau hinaus zu gravierenden Störungen der Kommunikation und zu einem erschwerten Verständnis des inneren Erlebens des Betroffenen für sein Gegenüber. Daraus resultieren oft erhebliche Schwierigkeiten im Umgang mit den Erkrankten. Neben der Sprache sind bei diesen Erkrankungen auch andere an der Kommunikation beteiligte Faktoren betroffen wie eine veränderte Emotionalität, die häufig mit Angst, Erregung und psychomotorischer Unruhe einhergeht. Auch die nonverbale Kommunikation verändert sich in Form veränderter Mimik und Gestik. In dem folgenden Beitrag soll versucht werden, die Bedeutung der nonverbalen Kommunikation anhand der modernen Kommunikationsforschung zu beleuchten und ihre Rolle bei der Verstehbarkeit des inneren Erlebens hirnorganisch erkrankter Menschen am Beispiel der Demenz vom Alzheimer-Typ zu definieren. Die Alzheimer-Demenz ist die häufigste demenzielle Erkrankung und eine Systemerkrankung des Gehirns, die zur Degeneration von Neuronen des Großhirns, des basalen Vorderhirns und auch des Hirnstamms führt. Die Neurodegeneration tritt hauptsächlich in phylogenetisch jüngeren assoziati-
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U. Hauser
ven Teilen der Hirnrinde, aber auch in den phylogenetisch älteren Hirnarealen wie dem Hippocampus und den angrenzenden temporalen Anteilen und den Amygdala auf. Neuropathologisch lassen sich Amyloidablagerungen, Neurofibrillenbündel, aktivierte Mikrogliazellen, Synapsen- und Nervenzellverluste sowie eine Amyloidangiopathie finden. Die Alzheimer-Demenz betrifft hauptsächlich ältere Menschen, kann aber insbesondere bei erblichen Formen auch bei Patienten unter vierzig Jahren vorkommen. Die Prävalenzzahlen steigen mit zunehmendem Alter von ca. 7 % bei den 70-Jährigen auf 35 % bei den über 90-Jährigen an. Damit gewinnt die Erkrankung aufgrund der demographischen Alterung zunehmend an Bedeutung, und die Versorgung demenzkranker Menschen stellt höchste Anforderungen an das Gesundheitssystem. Kernsymptome der Alzheimer-Demenz sind kortikale Hirnwerkzeugstörungen, die das Gedächtnis, visuell-räumliches Denken und die Sprache betreffen. Störungen der geordneten Bewegungsabfolge und des Erkennens von Gegenständen und Gesichtern kommen in mittleren bis späten Krankheitsstadien dazu, bis eine zielgerichtete Kommunikation mit dem Erkrankten kaum noch möglich ist. Erst im fortgeschrittenen Stadien kommt es neben den intellektuellen und psychischen Störungen auch zu körperlich-neurologischen Symptomen. Die Erkrankung ist progredient und nicht heilbar. Obwohl seit einigen Jahren Medikamente zur gezielten Behandlung der AlzheimerErkrankung im klinischen Einsatz sind, ist der Nutzen dieser Medikamente bis heute umstritten. Daraus ergibt sich, dass zur Versorgung und Erhaltung der Lebensqualität der Betroffenen neben der medikamentösen Behandlung insbesondere pflegerische, sozialmedizinische und gesundheitsökonomische Versorgungskonzepte erforderlich sind. Wie groß der Anteil nonverbaler Kommunikation an dem Gesamteindruck eines Menschen ist, ist seit Langem bekannt. Dabei gilt, dass bei Präsentationen vor Gruppen 55 % des Gesamteindrucks durch Körperhaltung, Gestik und Augenkontakt bedingt sind, weitere 38 % durch die Stimmlage und nur 7 % durch den Inhalt eines Vortrags. Diese Zahlen legen nahe, dass auch bei Kommunikation zwischen zwei Partnern ein erheblicher Anteil durch Körpersprache bedingt ist. Erst in den 1990er Jahren wurde die Bedeutung von Körpersprache und insbesondere Gesten von McNeill (1992) eingehender untersucht. Für diesen seien Gesten das »Fenster zum Denken« und können das gesprochene Wort verstärken, abschwächen oder sogar konterkarieren. Koverbale Gesten sind sprachbegleitend und können Informationen übermitteln, an denen die Lautsprache scheitert, so zum Beispiel wenn wir mit unseren Händen Wegbeschreibungen nachzeichnen. Laute und Gesten liegen nicht nur für den Sprecher, sondern auch für den Zuhörer nah beieinander, in dem die Körpersprache des Kommunikationspartners gleich mit interpretiert wird. Mit Hilfe ereigniskorrelierter Potentiale – im Oberflächen-EEG ableitbare stimulusevozierter
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Hirnstromsignale – konnte kürzlich durch Kelly, Kravitz und Hopkins (2004) gezeigt werden, das Geste und Wort offensichtlich gemeinsam verarbeitet werden. Sie fanden heraus, dass bei gleichzeitiger Präsentation eines Wortes, zum Beispiel »groß« und einer entsprechenden oder nicht entsprechenden Geste eine N400 hervorgerufen werden konnte, wenn die Geste nicht zum Wort passte. Die N400 ist dabei eine Negativierung, die bei unerwartetem Sprachmaterial evoziert werden kann, zum Beispiel bei Sätzen wie »Er bestrich das Brot mit Socken«. Sprachbegleitende Gesten können nach McNeill (2005) in vier verschiedene Basistypen eingeteilt werden: »Beats«, ikonische, deiktische und metaphorische. Beats sind dabei eng an den Sprachrhythmus gekoppelt und verleihen mit Armschlägen oder Klopfbewegungen der Hand dem Gesagten eine zeitliche Struktur. Deiktische Gesten sind zeigende: Sie begleiten oft Wörter wie »hier«, »dort«, aber auch »ich« oder »du«. Ikonische Gesten äußern eine bildliche Vorstellung. So kann zum Beispiel verdeutlicht werden, ob die Katze mit Füßen, Händen oder nach rechts oder links verjagt wurde. Metaphorische Gesten ähneln zwar den deiktischen, können sich aber auf abstrakte Dinge beziehen. Zum Beispiel wedelt man mit der Hand und zieht die Luft scharf ein und kann damit vermitteln, dass man es mit einer »ganz heißen Sache« zu tun hat. Nach Levelt (1989) produziert das Gehirn sprachliche Nachrichten in drei Stufen. Zuerst entsteht eine Art Konzept auf vorsprachlichem Niveau. Im nächsten Schritt werden für dieses Konzept Worte gefunden, die erst in der dritten Phase über den physiologischen Sprechapparat ausgedrückt werden können. Gesten werden nach de Ruiter (2002) bereits in der ersten Stufe als Skizze entworfen, die dann als fertiger Plan an Hände und Beine weitergegeben werden. Mit diesem Modell wäre so auch erklärbar, warum Gesten oft etwas früher zum Ausdruck kommen können als die dazugehörigen Worte. Demnach könnte man erwarten, dass wenig Informationsgehalt der gesprochenen Sprache auch mit verminderter Gestik einhergehen müsse, wie in einigen Untersuchungen an Patienten mit Broca- oder Wernicke-Aphasie auch gezeigt werden konnte. Bei psychoorganischen Erkrankungen wie der Alzheimer-Erkrankung kann die Kommunikation in vielfältigster Weise gestört sein. Im Gegensatz zu rein aphasischen Patienten konnten bei Alzheimer-Erkrankten andere signifikante Zusammenhänge zwischen reduziertem Informationsgehalt der Sprache und Generierung von mehrdeutigen Gesten hergestellt werden. Carlomagno, Pandolfi, Marini, Di Iasi und Cristilli (2005) konnten in ihrer Untersuchung zeigen, dass bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung und vorwiegend lexikalischen Ausfällen die Produktion von insbesondere ikonischen Gesten im Vergleich zu normalen Kontrollen, Patienten mit flüssiger Aphasie und Alzheimer-Patienten mit reduzierten konzeptionellen Fähigkeiten erhöht war. Sie interpretierten ihre Ergebnisse an ihrem sehr kleinen Kollektiv (je zwei Probanden pro Gruppe) dahingehend, dass bei den
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Alzheimer-Erkrankten die Gestik bei inhaltsarmer Sprache den Inhalt des Intendierten verstärkt. Man könnte anhand des Modells von de Ruiter (2002) und Levelt (1989) also postulieren, dass in bestimmten Krankheitsstadien der Alzheimer-Erkrankung die Konzeptualisierung von Botschaften noch funktioniert, das verbale Gestalten aber früher gestört ist als das gestische. Eigene Verhaltensbeobachtungen unterstützen diese These. Allerdings scheint es dann in späteren Krankheitsstadien auch bei diesen Patienten zu einer Störung der Konzeptualisierung von Sprache zu kommen, so dass die verbalen Ausfälle dann nicht mehr gestisch kompensiert werden können. Die Literatur, die den Zusammenhang zwischen Sprache und Gestik bei neurologisch und psychiatrisch Erkrankten untersucht, beschränkt sich bislang im Wesentlichen auf Einzeluntersuchungen (für eine Übersicht vgl. Carlomagno, Pandolfi, Marini, Di Iasi und Cristilli, 2005). In späteren Krankheitsstadien ist die Sprache des dementen Menschen für sein besser geordnetes Gegenüber häufig so schwer gestört, dass eine Botschaft meist nicht mehr erkennbar ist oder die einzelnen Worte oder Satzfragmente für den Gesunden »sinnlos« erscheinen, so dass das Erkennen der Bedürfnisse des Erkrankten manchmal fast unmöglich ist. Dabei können aber Emotionen wie Freude, Angst oder auch Ärger noch von schwer erkrankten Demenzpatienten verbal verschlüsselt, mit Lautäußerungen oder auch körperlich geäußert werden. Aus der Notwendigkeit heraus, auch mit diesen schwer betroffenen Demenzpatienten umgehen und sie verstehen zu können, wurde in den letzten Jahren eine Reihe von Kommunikationstechniken entwickelt, die sich im Verstehen des demenzkranken Menschen als hilfreich erwiesen haben. Die Pflegewissenschaften beschäftigen sich seit circa 15 Jahren vermehrt mit den Möglichkeiten der Kommunikation mit demenzkranken Menschen. Dabei wird eine besondere Bedeutung der individuellen Ausgestaltung der Beziehung zum Demenzkranken beigemessen. Die Kenntnis der Biographie des Einzelnen soll dabei ebenfalls das Verständnis von Ausdrucksweisen und Gesten verbessern, das heißt, dass der Versuch unternommen wird, die Reaktions- und Verhaltensweisen des Betroffenen aus seiner lebensgeschichtlichen Entwicklung heraus zu verstehen. Nur wenn ich weiß, woher jemand kommt, wie er gelebt hat und was ihm in seinem Leben widerfahren ist, kann ich verstehen, warum er auf bestimmte Situationen eine besondere Verhaltensweise zeigt. So konnte zum Beispiel die Reaktion einer schwer demenzkranken Frau in einem Pflegeheim, die beim frühmorgendlichen Waschen mit Unruhe, Angst und starker Aggressivität reagierte, erst verstanden werden, nachdem bekannt war, dass sie während des Zweiten Weltkriegs nachts Opfer von mehrfachen Vergewaltigungen geworden war. Fortan wurden die notwendigen pflegerischen Maßnahmen bei Tageslicht durchgeführt, was zu einer erheblichen Abnahme der Angstzustände führte. Diese Überlegungen sind in dem Konzept der Psychobiographischen Pflege nach Böhm (2001) verankert.
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Validation ist ein seit den 1980er Jahren zunehmende Verbreitung findendes Betreuungskonzept, das aus besonderen Kommunikationstechniken auf der Gefühlsebene mit demenzkranken Menschen besteht. Dabei werden die Erfahrung und die subjektive Wirklichkeit des Betroffenen validiert, das heißt »für gültig erklärt« und nicht infrage gestellt. Sucht ein Demenzkranker seine Mutter, so wird dies nicht infrage gestellt, sondern versucht, sich auf dieses Erleben einzustellen. Man geht also »in den Schuhen des Anderen«. Damit soll es zu einem Aufbau von Vertrauen, emotionaler Sicherheit und Selbstwertgefühl kommen. Ein Bestandteil des Verfahrens ist, dass verbale und nonverbale Signale des Erkrankten aufgenommen und in Worten, aber auch nonverbal wiedergegeben werden. Obwohl dieses Betreuungskonzept mittlerweile weite Verbreitung findet, halten einige theoretische Überlegungen hierzu dem heutigen Wissensstand bei demenziellen Erkrankungen nicht mehr stand. Auch andere, weniger systematische Empfehlungen im Umgang mit demenzkranken Menschen betonen den signalsprachlichen Charakter der Äußerungen. Eine andere Art der Kommunikation mit schwer Demenzkranken ist das unter anderem von Killick (zit. nach Rösler, Schwerdt und von RentelnKruse, 2005) mitentwickelte »mirroring«. Dabei werden sogar Verhaltensweisen des Erkrankten imitiert, um eine kommunikative Situation herzustellen. Es muss vorsichtig und mit genügend Abstand zum Patienten vorgegangen werden, um nicht bedrängend zu wirken.
8.2
Fazit
Der Kontakt mit schwer betroffenen Demenzkranken erfordert eine Umorientierung von einer »ärztlichen«, interpretierenden, ergebnisorientierten Sichtweise hin zu einer Aufmerksamkeit gegenüber den individuellen Äußerungen des Patienten. Dabei muss die aktuelle Lebenswelt des Erkrankten in den Fokus gerückt werden. Die Kommunikation mit demenzkranken Menschen erfolgt mit zunehmender Schwere der Erkrankung nonverbal. Daher ist eine Schulung des eigenen Kommunikationsverhaltens erforderlich. In leichteren bis mittleren Krankheitsstadien kann das fehlende sprachliche Ausdrucksvermögen der Erkrankten häufig noch gestisch kompensiert werden. In schweren Krankheitsstadien ist dies nicht mehr möglich. Hier könnte die von Rösler, Schwerdt und von Renteln-Kruse (2005) vorgeschlagene Checkliste zur Reflexion des eigenen Kommunikationsverhaltens sinnvoll sein.
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U. Hauser
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Schimpfen als Krankheit – Das Phänomen der Koprolalie bei Patienten mit Tourette-Syndrom Kirsten Müller-Vahl
9.1
Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom
»S. [. . . ] geboren am 1. Juli 1864 in Le Havre [. . . ] war während seiner Kindheit nie krank, er war sehr intelligent und errang alle Preise in seiner Klasse. [. . . ] In dieser Zeit (Juli 1880) fiel seinem Lehrer auf, dass er die rechte Schulter und den rechten Arm manchmal mit kleinen abrupten und unwillkürlichen Bewegungen anhob. [. . . ] Diese Bewegungsstörungen neigten zur Generalisierung: sie traten zunächst im rechten Bein auf, und im Juni (1881) griffen sie auch auf die linke Seite über. Im Januar desselben Jahres tauchte außerdem noch ein anderes Phänomen auf: unwillkürlich und zusammen mit diesen Bewegungen stieß S. einen schwachen unartikulierten Schrei aus, der wie hem! oder ouah! klang und laut genug war, um von den Personen in seiner Umgebung genau wahrgenommen zu werden. [. . . ] Während des gesamten Jahres 1881 und bis zum Oktober 1882, dem Monat, in dem der Kranke in die Salpêtrière aufgenommen wurde (Station Bouvier, unter Leitung von Prof. Charcot), verschlimmerten sich die Bewegungsstörungen und die Lautäußerungen. [. . . ] Ohne erkennbaren Anlass führt S. eine Reihe ganz merkwürdiger Bewegungen aus, lokalisiert und generalisiert, die sich manchmal nur auf einer Körperseite, manchmal auf beiden Körperseiten zeigen. [. . . ] Wenn diese bizarren Bewegungsstörungen in ihrer Intensität auf dem Höhepunkt angelangt sind, stößt S. einen rauen und unartikulierten Schrei aus. Diese Phänomene, die manchmal gehäuft auftreten, werden besonders durch Aufregung hervorgerufen: der Schlaf, der sehr gut ist, lässt sie völlig verschwinden. Es vergeht jedoch kein Tag, nicht einmal eine halbe Stunde, ohne dass sie sich zeigen; [. . . ] Kurz nach seiner Aufnahme in das Krankenhaus [. . . ] bemerkten wir bald ein besonderes Phänomen. Der Schrei, den S. ausstieß, mündete unter gewissen Umständen in eine noch speziellere Symptomatik: während das ouah! ouah! weiterhin unverändert auftrat, wiederholte der Kranke jetzt Worte und sogar kurze Sätze, die er gehört hatte: ›Hier ist M. Charcot‹ – ›Charcot‹ wiederholte er sofort, wobei er seine üblichen Bewegungen ausführte. [. . . ]. Eines Tages hörte S. . . den Leiter des Pflegeheimes zu einer Hausmeisterin sagen, dass sie ihrem Dienst nicht sorgfältig genug nachginge: sogleich wie-
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derholte er laut, verbunden mit Zuckungen: ›Ah, die Kuh, sie tut ihren Dienst nicht, ihren Dienst . . . ‹ [. . . ] In dieser Verfassung [. . . ] kehrte der Kranke am 1. Juli 1883 zu seiner Familie zurück. Nachdem er in Le Havre angekommen war, verfiel er mehrmals in tiefe Depression [. . . ] nach und nach entwickelte sich etwa im Januar 1884 eine gewisse Beruhigung; [. . . ] S. hat unmerklich die Angewohnheit verloren, unflätige Wörter auszusprechen, aber er leidet immer noch an Echolalie; [. . . ]. Die komplexen, unkoordinierten Bewegungen sind ebenfalls verschwunden, sie treten lediglich noch im Bereich des rechten Armes auf; es zeigen sich zudem rasche Bewegungen des Ringmuskels beider Augen und schließlich [. . . ] schnellt die Zunge von Zeit zu Zeit mehrmals nach vorne und wieder zurück« (Gilles de la Tourette, 1885; zit. nach Boldt, Schimanski, Ohler und Krämer, 2008). Dieser Fallbericht von George Gilles de la Tourette (1857–1904) aus dem Jahre 1885 beschreibt in überaus detaillierter und treffender Weise die vielfältigen Facetten des nach ihm benannten Tourette-Syndroms und beinhaltet bereits zahlreiche Symptome, die auch heute noch als kennzeichnend gelten: einfache motorische Tics wie Grimassieren, komplexe motorische Tics wie Hüpfen, einfache vokale Tics wie das Ausrufen der Silbe »hem« und komplexe vokale Tics wie die Koprolalie (Ausrufen obszöner Wörter) und Echolalie (Wiederholen von Wörtern). Auch werden bereits die für Tics charakteristischen spontanen Fluktuationen beschrieben, die Verminderung während des Schlafs und die spontane Besserung mit zunehmendem Alter. Auch bemerkte Gilles de la Tourette bereits damals richtigerweise, dass bei Patienten mit Tourette-Syndrom oft psychiatrische Begleitsymptome, beispielsweise Zwänge und Depressionen, bestehen.
9.2
Die Koprolalie
Die Koprolalie ist zweifellos das markanteste Symptom des Tourette-Syndroms. Fälschlicherweise wird sie auch heute noch oft als obligates Diagnosekriterium angesehen. Mittlerweile ist aber bekannt, dass in aller Regel nur schwer Kranke und insgesamt lediglich 19 % (Freeman et al., 2008) bis 28 % (Wenzel, Bottor, Emrich und Müller-Vahl, 2007) der Patienten davon betroffen sind. Ein signifikanter Geschlechtsunterschied konnte in einer großen Studie nicht nachgewiesen werden (Freeman et al., 2008). Auch die Annahme, dass das Auftreten der Koprolalie stark von soziokulturellen Aspekten beeinflusst sei, erwies sich als falsch. Neuere Untersuchungen zeigten, dass die Häufigkeit der Koprolalie in unterschiedlichen Ländern wie Japan, USA und Deutschland sehr ähnlich ist. Durch die neun Fallbeschreibungen aus der Originalarbeit
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von Gilles de la Tourette (Gilles de la Tourette, 1985) und einen weiteren Fallbericht der Marquise de Dampierre von Jean Marc Gespard Itard (Itard, 1925) weiß man heute, dass die Koprolalie nicht etwa ein Phänomen der modernen Zeit ist, sondern auch schon vor fast 200 Jahren auftrat. Fünf der neun von Gilles de la Tourette beschriebenen Personen wiesen eine Koprolalie auf, die folgende Wörter (in deutscher Übersetzung) umfasste: »Scheiße, Dreckschwein, Kuh, dieses alte A. . . , Blödmann, hau ab du Dummkopf, Herrgott noch mal, verdammt«. Aus linguistischer Sicht stellt das Fluchen einen nicht ungewöhnlichen Teil der Sprache dar. So finden sich Flüche in allen Sprachen, Dialekten und Kulturen. Schimpfwörter werden in aller Regel bereits von Kindern wenige Jahre nach dem Spracherwerb benutzt und stellen häufig eine überaus große Faszination dar. Auch im Tierreich ist das Schimpfen weit verbreitet. Nicht ohne Grund werden in der Umgangssprache Redewendungen wie »Er schimpft wie ein Rohrspatz« gebraucht. Schimpfwörter können in solche mit religiösem Kontext und in Wörter, die auf Körperfunktionen Bezug nehmen, unterteilt werden. Vermutlich wird jeder Mensch ab und an Schimpfwörter gebrauchen. Welche Wörter akzeptabel sind, unterliegt nicht nur kulturellen Einflüssen und gesellschaftlichen Normen, sondern auch dem jeweiligen Kontext. So tragen Flüche zur territorialen Definition einer Gruppe bei. Darüber hinaus sind sie geeignet, Ärger, Missfallen und andere intensive emotionale Gefühle auszudrücken. Flüche stellen vermutlich eine angeborene Disposition dar, um spezifische Warnungen ausrufen zu können, die anders nicht zum Ausdruck gebracht werden könnten. Auch wenn scheinbar eine große Ähnlichkeit zwischen normalen Flüchen und der Koprolalie zu bestehen scheint – immerhin werden identische Wörter gebraucht –, so sind bei genauerer Betrachtung doch zahlreiche bedeutsame Unterschiede zu erkennen. Zunächst ist zu betonen, dass normale Flüche dem Willen unterliegen und somit willkürlich ausgesprochen werden. Genau dies jedoch trifft für die Koprolalie nicht zu, denn Willkür beinhaltet nicht nur die Fähigkeit, in der Lage zu sein, eine Handlung dann durchzuführen, wenn sie gewollt ist, sondern auch in der Lage zu sein, eine Handlung nicht durchzuführen, wenn sie nicht gewollt ist. Für die Koprolalie ist kennzeichnend, dass sie meist kurze, schroffe Schimpfwörter beinhaltet und dass diese ohne Sinnzusammenhang während des normalen Sprechens, oft zwischen zwei Sätzen, auftreten. Die Koprolalie ist also nicht als Teil des Satzes, sondern vielmehr als eine Art Zwischenruf zu verstehen. Oft werden die Schimpfwörter laut, unartikuliert und in veränderter Stimmlage ausgesprochen. Meist kommen sexuell getönte Schimpfwörter vor wie »Ficken«, »Fotze« oder »Arschloch«, deutlich seltener religiöse Flüche oder Gotteslästerungen. Besonders in englischer Sprache dominieren solche Schimpfwörter, die lediglich aus vier Buchstaben bestehen (»fuck«, »shit«; Sin-
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ger, 1997). Viele dieser englischen Schimpfwörter werden auch von deutschsprachigen Tourette-Patienten ausgerufen. Interessant ist die eigene klinische Beobachtung, dass bei Mehrsprachigkeit die Koprolalie zuweilen nur in einer der Sprachen auftritt. Weitere Gemeinsamkeiten der Koprolalie mit anderen Tics sind einerseits die Fähigkeit, die Schimpfwörter abkürzen, umleiten oder kurzzeitig willentlich unterdrücken zu können, und andererseits ein vorangehendes Vorgefühl mit dem unabwendbaren Drang, den Tic ausführen zu müssen. Zudem unterliegt auch die Koprolalie nicht selten deutlichen spontanen Fluktuationen und ist durch äußere Faktoren beeinflussbar, wie dies bereits Gilles de la Tourette in dem eingangs geschilderten Fallbericht beschrieb. Wie alle Tics tritt die Koprolalie nur selten im Schlaf auf. Bei manchen Personen mit Tourette-Syndrom besteht eine mentale Koprolalie, das heißt, dass Schimpfwörter in unangemessenen Situationen als Gedanken in den Kopf schießen, aber im Gegensatz zur Koprolalie nicht laut ausgesprochen werden müssen. Neben der Koprolalie können auch eine Kopropraxie bestehen, das heißt ein Drang, obszöne Gesten zeigen oder obszöne Bewegungen vollführen zu müssen (wie etwa das Mittelfingerzeichen oder das Berühren der eigenen Genitalregion) oder – sehr selten – eine Koprographie, das heißt der Drang, obszöne Wörter schreiben oder obszöne Bilder malen zu müssen. Eine Koprolalie tritt etwa dreimal so häufig auf wie eine Kopropraxie (Freeman et al., 2008). Ein überaus interessanter Fallbericht beschreibt eine 23-jährigen Frau mit sign language tics, bei der seit dem achten Lebensjahr ein Tourette-Syndrom ohne Koprolalie bestand (Lang, Consky und Sandor, 1993). Mit 17 Jahren erlernte sie aus beruflichen Gründen die Gebärdensprache. Ein Jahr später traten erstmals signing obscenities auf, die die Gebärden für die Schimpfwörter »fuck« und »shit« beinhalteten. Anfangs wurde gleichzeitig mit den Gebärden das jeweilige Schimpfwort ausgesprochen, nachfolgend traten ausschließlich die obszönen Gebärden auf. Analog dem teilweisen Unterdrücken von Buchstaben bei der Koprolalie (z. B. Aussprechen des Buchstabens A, statt des Wortes Arschloch) wurden die Schimpfgebärden später nicht mehr komplett, sondern nur noch partiell ausgeführt. Ähnliche Fallberichte schildern sign language tics bei Personen mit Tourette-Syndrom, die seit Geburt ertaubt waren (Dalsgaard, Damm und Thomsen, 2001; Morris, Thacker, Newman und Lees, 2000; Rickards, 2001). Alle beschriebenen Patienten hatten bereits in der Kindheit die Gebärdensprache erlernt. Im Verlauf entwickelten sich signing obscenities nicht nur während eines Gesprächs in Gebärdensprache, sondern auch gegenüber Personen, die der Gebärdensprache unkundig waren.
Schimpfen als Krankheit
9.3
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Die Ursache der Koprolalie
Während bereits die französischen Neurologen Charcot (1825–1893) und Gilles de la Tourette von einer organischen Ursache des Tourette-Syndroms ausgingen, vertrat Sigmund Freund (1856–1939) die Auffassung, Tics seien psychogen bedingt und Ausdruck einer Hysterie (Pappenheim, 1989; Kushner, 1998). Erst seit den 1970er Jahren besteht kein Zweifel mehr an der neurobiologischen Ursache des Tourette-Syndroms. Allerdings ist bis heute nicht abschließend geklärt, warum von Menschen mit Tourette-Syndrom gerade Schimpfwörter und nicht angenehmere beziehungsweise positiv belegte Ausdrücke – wie etwa Sonne, Baum oder Haus – ausgerufen werden müssen. Damit verknüpft ist die Frage, ob im Gehirn möglicherweise ein Zentrum für Obszönitäten besteht. Auch wenn die Koprolalie gerade in Zusammenhang mit dem TouretteSyndrom einen besonderen Bekanntheitsgrad aufweist, so ist bekannt, dass auch bei anderen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen vergleichbare Symptome auftreten können, etwa bei schweren Hirnverletzungen, Hirntumoren, Demenzen (insbesondere der frontotemporalen Demenz), Bewegungsstörungen wie der Sydenham Chorea und der Zwangskrankheit (Singer, 1997). Bei Patienten mit einer schweren motorischen Aphasie in Folge eines linkshirnigen Infarktes ist gelegentlich zu beobachten, dass das Aussprechen von Flüchen als nahezu einzige Sprachfunktion selektiv erhalten geblieben ist (van Lancker und Cummings, 1999). Dem Markov’schen Model folgend ist die Koprolalie als Zufallsprozess zu verstehen, bei dem hochfrequente Phoneme erzeugt werden, wobei überzufällig häufig obszöne Wörter entstehen (van Lancker und Cummings, 1999). Jedoch sprechen verschiedene Gründe gegen diese Hypothese als Ursache der Koprolalie: Zum einen finden sich bei Personen mit Tourette-Syndrom kaum unsinnige Neologismen, die einem Zufallsprinzip folgend jedoch häufig eintreten müssten. Zum anderen beinhaltet die Koprolalie nicht nur kurze Wörter, sondern gelegentlich auch mehrsilbige Schimpfwörter oder gar kurze Sätze. Weiterhin sprechen das Auftreten anderer Koprophänomene wie die Kopropraxie, die Koprographie und auch obszöne Gebärden-Tics gegen eine solche These. Eine andere Theorie geht davon aus, dass nicht Wortcharakteristika, das heißt die Phonetik, sondern vielmehr die Wortbedeutung, also die Semantik, von primärer Bedeutung ist. Diese Hypothese würde das Auftreten auch anderer Koprophänomene neben der Koprolalie plausibel erklären (van Lancker und Cummings, 1999). Van Lancker und Cummings schlugen vor, dass im Gehirn zwei funktionell getrennte Systeme für Sprache bestehen: eines für die inhaltsvolle beziehungsweise in Sätzen gebildete Sprache, welches in die rechte Hirnrinde lokalisiert werden kann, und ein zweites für emotionale Lautentäußerungen, welches vermutlich im Limbischen System liegt. Diese
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Hypothese stünde in Einklang mit zahlreichen Symptomen wie sie für die Koprolalie typisch sind, etwa die kurze und schroffe Form der Schimpfwörter und der primitivere Charakter im Vergleich zu anderen Wörtern. Auch eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung mit dem Gebrauch von Schimpfwörtern als soziale Funktion zur Abwehr von Angreifern und als Ausdrucksform von Ärger und Missfallen lassen an einen Ursprung im Limbischen System denken. Somit könnte die Koprolalie – ebenso wie andere Koprophänomene – als limbischer Tic verstanden werden. Dies wiederum könnte durch eine unzureichende Hemmung des Limbischen Systems durch das Frontalhirn erklärt werden. Eine solche Theorie wird mittlerweile von zahlreichen bildgebenden Untersuchungen gestützt, die nicht nur Änderungen der regionalen Volumina und der neuronalen Dichte, sondern auch der Diffusivität und Gerichtetheit von Nervenfasern im Frontalhirn und Limbischen System nachweisen konnten (Müller-Vahl, 2006). Da von Tourette-Patienten insbesondere Schimpfwörter mit sexuellen Inhalten ausgerufen werden und deutlich seltener religiöse Flüche, wurde vermutet, dass innerhalb des Limbischen Systems für verschiedene Formen von Flüchen verschiedene sogenannte Miniregelkreise existieren (Singer, 1997).
9.4
Die Koprolalie in der Geschichte und Literatur
Wiederholt wurde in den vergangenen Jahren die Vermutung geäußert, dass Wolfgang Amadeus Mozart ein Tourette-Syndrom gehabt haben könnte (Simkin, 1992; Aterman, 1994). So seien von Zeitgenossen nicht nur Bewegungen wie ein Grimassieren, sondern auch Zwänge und eine Hyperaktivität beschrieben worden. Insbesondere aber werden in Biographien Briefe zitiert, die mit Obszönitäten angefüllt sind: »[. . . ] jetzt wünsch ich eine gute nacht, scheissen sie ins Bett, daß es kracht; schlafens gesund, reckens den Arsch zum Mund [. . . ] leben sie recht wohl, ich küsse sie 1000 mal und bin wie allzeit der alte junge Sauschwanz Wolfgang Amadé Rosenkranz« (zit. nach: Hildesheimer, 1977, S. 128). An den Vater schrieb Mozart: »Nun addio. Ich küsse den papa . . . und auf das heisel nun begieb ich mich, und einen Dreck vielleicht scheisse ich« (zit. nach: Hildesheimer, 1977, S. 31). Briefe unterzeichnete er beispielsweise mit den Worten: »Ich bin Ihr ächter freund franz Süssmayer Scheißdreck. Scheißhäusel den 12. Juli« (zit. nach: Hildesheimer, 1977, S. 283). Allerdings wenden Kritiker ein, dass die Koprographie nicht nur ein äußert seltenes Symptom des Tourette-Syndroms sei (Kammer, 2007), sondern dass die beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten alternativ auch Mozarts einzigartiger Persönlichkeit, seinem genialen Talent und den enormen Ansprüchen des Vaters und der Gesellschaft zugeschrieben werden könnten (Ashoori und Jankovic, 2007).
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Darüber hinaus wird diskutiert, ob eventuell bei weiteren historischen Persönlichkeiten wie Kaiser Claudius, Napoleon, Molière und Peter dem Großen ein Tourette-Syndrom bestanden haben könnte (Singer, 1997). Als gut gesichert gilt heute, dass der bedeutende englische Gelehrte und Schriftsteller Samuel Johnson (1709–1784) am Tourette-Syndrom erkrankt war (Murray, 1979; Pearce, 1994). Neben zahlreichen anderen für die Erkrankung typischen Symptomen finden sich über Johnson auch Beschreibungen einer Koprolalie (Pearce, 1994). Auch in der Literatur finden sich Schilderungen von Personen mit einem anzunehmenden Tourette-Syndrom. So beschreibt Rainer Maria Rilke im Jahre 1910 in seinem Werk »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« folgende Begebenheit: »[. . . ] aber es zeigte sich, daß vor mir niemand ging als ein großer hagerer Mann in einem dunklen Überzieher [. . . ] Ich vergewisserte mich, daß weder an der Kleidung noch in dem Benehmen dieses Mannes etwas Lächerliches sei, und versuchte schon, an ihm vorüber den Boulevard hinunter zu schauen, als er über irgend etwas stolperte. Da ich nahe hinter ihm folgte, nahm ich mich in acht, aber als die Stelle kam, war da nichts, rein nichts. Wir gingen beide weiter, er und ich, der Abstand zwischen uns blieb derselbe. Jetzt kam ein Straßenübergang, und da geschah es, daß der Mann vor mir mit ungleichen Beinen die Stufen des Gangsteigs hinunterhüpfte in der Art etwa, wie Kinder manchmal während des Gehens aufhüpfen oder springen, wenn sie sich freuen. Auf den jenseitigen Gehsteig kam er einfach mit einem langen Schritt hinauf. Aber kaum war oben, zog er das Bein ein wenig an und hüpfte auf dem anderen einmal hoch und gleich darauf wieder und wieder [. . . ] Ich muß gestehen, daß ich mich merkwürdig erleichtert fühlte, als etwa zwanzig Schritte lang jenes Hüpfen nicht wieder kam, aber da ich nun meine Augen aufhob, bemerkte ich, daß dem Manne ein anderes Ärgernis entstanden war. Der Kragen seines Überziehers hatte sich aufgestellt; und wie er sich auch, bald mit einer Hand, bald mit beiden umständlich bemühte, ihn niederzulegen, es wollte nicht gelingen [. . . ] Aber gleich darauf gewahrte ich mit grenzenloser Verwunderung, daß in den beschäftigten Händen dieses Menschen zwei Bewegungen waren: eine heimliche, rasche, mit welcher er den Kragen unmerklich hochklappte, und jene andere ausführliche, gleichsam übertrieben buchstabierte Bewegung, die das Umlegen des Kragens bewerkstelligen sollte. Diese Beobachtung verwirrte mich so sehr, daß zwei Minuten vergingen, ehe ich erkannte, daß im Halse des Mannes, hinter dem hochgeschobenen Überzieher und den nervös agierenden Händen dasselbe schreckliche, zweisilbige Hüpfen war, das seine Beine eben verlassen hatte [. . . ] Ich begriff, daß dieses Hüpfen in seinem Körper herumirrte, daß es versuchte hier und da auszubrechen. Ich verstand seine Angst vor den Leuten, und ich begann selber vorsichtig zu prüfen, ob die Vorübergehenden etwas merkten [. . . ]« (Rilke, 1982, S. 58 ff.).
Diese detaillierte und beinahe beklemmende Schilderung von Rilkes Protagonisten lässt unmittelbar an einen Menschen mit Tics denken. Auch wenn hier lediglich verschiedene motorische, nicht aber vokale Tics, beschrieben werden, so wird offenkundig eine große Aufmerksamkeit erregt. Sehr leicht ist vorstellbar, um wie viel größer diese Aufmerksamkeit wäre, wenn darüber hinaus auch vokale Tics bestünden. Verständlich wird anhand einer solchen Szene auch, dass die Koprolalie dasjenige Symptom des Tourette-Syndrom ist, welches regelhaft zu einer erheblichen psychosozialen Beeinträchtigung führt.
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9.5
K. Müller-Vahl
Schlussbemerkung
Zahlreiche Befunde sprechen dafür, dass die Koprolalie als limbischer Tic zu verstehen ist. Stellt man bei der Betrachtung die Semantik und nicht die Phonetik in den Mittelpunkt, erklärt sich, warum neben der Koprolalie auch andere Koprophänomene eintreten können. Pathogenetisch ist von einer Dysfunktion in kortiko-striato-thalamo-kortikalen Regelkreisen auszugehen, welche in Folge einer unzureichenden frontalen Hemmung zu einer Überfunktion beziehungsweise Autonomie des Limbischen Systems führt. Dieses System ist als phylogenetisch alter Teil des Gehirns somit vermutlich als Zentrum für Flüche anzusehen. Unter physiologischen Bedingungen steht es unter ausreichender Kontrolle höherer kortikaler Hirnareale und meldet sich bei Gesunden lediglich bei Wut, Enttäuschung oder anderen starken emotionalen Gefühlen schimpfend zu Wort. Diese Funktion des Gehirns findet möglicherweise darin ihren Sinn, dass normales Fluchen Stress abbauen und zum Wohlbefinden beitragen und somit aggressiven Handlungen vorbeugen kann.
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Zwei Kulturen – Zwei Sprachen: Zum Nutzen einer gemeinsamen Sprache in der Medizin Konsiliar- und Liaisontätigkeit bei Alkoholkranken Udo Schneider
Die Sprache ist Gegenstand mehrerer Wissenschaften: Linguistik, Sprachphilosophie, Psycholinguistik, Soziolinguistik, Mathematik, Informatik, Biologie, Medizin etc. Nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb dieser Wissenschaften wird die Sprache häufig als mehrdeutig empfunden. Die Ursache für die oft anzutreffende »Sprachlosigkeit« zwischen der somatischen Medizin und den Fachgebieten für Psychiatrie/Psychotherapie und Psychosomatik dürfte darin liegen, dass die somatischen Fächer der Medizin und die Fachdisziplinen für die Seelenerkrankungen in verschiedenen Welten beheimatet sind. Sie unterhalten sich nur in der für sie eigenen Sprache. Gelegentlich treffen »mutige Vertreter« beider Welten aufeinander und tauschen sich aus. Diesen Vertretern der verschiedenen Fachdisziplinen, den sogenannten Konsiliarärzten, kommt die wichtige Aufgabe zu, ihr Fachwissen der fachfremden Berufsgruppe zu vermitteln, das heißt ihr spezifisches Wissen in eine andere Sprache zu übersetzen. Am Beispiel der Alkoholabhängigkeit möchte ich den Nutzen dieser Interdisziplinarität erläutern. Die Alkoholabhängigkeit gehört zu den häufigsten Suchterkrankungen in Deutschland. Alle verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass der schädliche Gebrauch von Alkohol und die Alkoholabhängigkeit in den meisten westlichen wie östlichen Industrienationen ein großes Problem darstellen. Mit einem jährlichen Verbrauch von mehr als zehn Litern reinen Alkohols pro Einwohner zählt Deutschland zu den Hochkonsumländern (mit leicht abnehmender Tendenz). Nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) liegt die Anzahl der Alkoholabhängigen in Deutschland bei ca. 1,5 Millionen. 1,9 Millionen Menschen seien in Deutschland durch schädlichen Konsum von Alkohol gefährdet und 10,5 Millionen Deutsche würden einen riskanten Alkoholkonsum betreiben. Der risikoreiche Alkoholkonsum liegt für Frauen bei mehr als 20 Gramm reinen Alkohols pro Tag und 30 Gramm pro Tag für Männer. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Alkoholkrankheit können nur geschätzt werden. Sie werden von der WHO in europäischen Ländern auf 5–6 % des Bruttosozialproduktes beziffert, das heißt in Deutschland auf etwa 40–60 Milliarden Euro pro Jahr. Bei der Betrachtung der Kosten ist jedoch zu be-
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achten, dass die gesundheitlichen und sozialen Probleme nicht nur als Folge einer Alkoholabhängigkeit, sondern auch eines schädlichen oder riskanten Konsums auftreten können. Mehr als ein Drittel aller Patienten in somatischen Abteilungen von Allgemeinkrankenhäusern leiden zusätzlich an psychischen Störungen. Dies ist nicht nur rein medizinisch bedeutsam bezüglich Ausprägung und Verlauf der körperlichen Symptome, sondern auch in Zeiten der Finanzierung der somatischen Kliniken über DRGs gesundheitsökonomisch wichtig, da die psychiatrische Komorbidität somatische Krankheitsbilder komplizieren und die Liegezeiten verlängern kann. Die Mitbetreuung somatisch kranker Patienten im Rahmen eines psychiatrisch-psychotherapeutischen Konsiliar- oder Liaisondienstes ist daher für die Optimierung der Behandlung bei psychiatrischer Komorbidität bedeutsam und auch für die Kosten-Erlös-Situation von Interesse. Die konsilpsychiatrische Unterversorgung von Patienten somatischer Kliniken wurde in der Vergangenheit oft kritisiert. Wallen, Pincus, Goldmann und Marcus (1987) gehen davon aus, dass ca. 30 % aller internistischen Patienten einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung bedürfen, jedoch werde dieser Bedarf laut Arolt, Driessen, Bangert-Verleger, Neubauer, Schurmann und Seibert (1995) in diesem Kollektiv nur bei 10–20 % erkannt.
10.1 Konsiliar- und Liaisonmodell Ein Konsiliarius ist laut Definition ein zur Beratung hinzugezogener Arzt. Er steht als Ratgeber für Fragen seines Fachgebietes fachfremden Ärzten zur Seite. Psychiatrische bzw. psychosomatische Konsiliar- und Liaisontätigkeit umfasst daher alle Aufgaben, vor allem diagnostischer, therapeutischer und präventiver Art, die von Psychiatern bzw. Psychotherapeuten direkt oder indirekt für Patienten, aber auch für Mitarbeiter anderer medizinischer Bereiche erbracht werden. Das Konsiliarmodell sieht vor, dass der Untersucher nur auf direkte Anfrage Stellung nimmt und nur in geringem Maße eigene Therapien durchführt. Das Liaisonmodell beinhaltet, dass eine kontinuierliche Kooperation zwischen dem Psychiater/Psychotherapeuten auf der einen und Mitarbeiter somatischer Abteilungen auf der anderen Seite etwa in Form von gemeinsamen Visiten, Besprechungen oder Konferenzen stattfindet. Dies geschieht unabhängig von speziellen Anfragen. Die Konsultations- und Liaison-Psychiatrie wurde in den 1920er Jahren in den USA zeitlich mit der Etablierung der ersten psychiatrischen Abteilung an Allgemeinkrankenhäusern aufgebaut. In Deutschland wurde der erste Konsiliardienst für die Innere Medizin an der Universitätsklinik Marburg durch den Psychiater F. Mauz realisiert. Im Gegensatz zur Situation in den
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angelsächsischen Ländern bildeten sich später in Deutschland eigenständige psychosomatische Abteilungen heraus, die starke Wurzeln in der inneren Medizin hatten. Der Bedarf an psychiatrischer Konsiliar- und Liaisontätigkeit kann anhand der Prävalenzrate psychiatrischer Störungen bei Patienten in Allgemeinkrankenhäusern orientierend geschätzt werden. In Abhängigkeit von der verwandten Methodik und Stichprobe liegen die Angaben zwischen 30–50 % (Arolt et al., 1995). Die Inanspruchnahme des psychiatrischen Konsiliar- und Liaisondienstes teilt sich grob zu ca. je einem Drittel auf die Fächer der Inneren Medizin, die chirurgischen Disziplinen und die übrigen Kliniken auf. Nach einer Untersuchung von Arolt et al. (1995) erhalten die Patienten der internistischen Kliniken wesentlich häufiger psychiatrische Konsile im Vergleich zu den anderen Fächern (Verhältnis 2,2 : 1). Nach Angaben von Diefenbacher (1995) ist eine Konsilrate von 5 % für die notwendige psychosoziale Versorgung erforderlich. Die Akzeptanz psychiatrischer Konsiliar- und Liaisontätigkeit ist sehr unterschiedlich. Besonders Psychiatern gegenüber besteht zuweilen eine ambivalente bis ablehnende Haltung. Auch heutzutage noch fühlen sich manche Patienten durch eine psychiatrische Exploration als solche diskriminiert und gekränkt. Häufig nimmt aber bereits mit der Durchführung des Konsils die Akzeptanz bei den Patienten zu und der Kontakt zu dem Konsiliarius wird in der Folge mehrheitlich als hilfreich bezeichnet. Bei den im Rahmen eines psychiatrisch-psychotherapeutischen Konsiliarund Liaisondienstes zugrunde liegenden Störungen stehen die Gruppen der psychischen Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (insbesondere Alkohol) an der Spitze, gefolgt von den affektiven Störungen (Carpiniello, Seruis, Murgia und Carta, 2002; Carr, Lewin, Walton, Faehrmann und Reid, 1997). Nach Arolt, Gehrmann, John und Dilling (1995) liegen die Hauptanforderungsgründe für ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Konsil bei Fragen nach Suizidalität und Alkoholabhängigkeit.
10.2 Versorgungssituation Alkoholkranker in Deutschland 60–70 %, das heißt der weitaus größte Teil der Alkoholabhängigen geht mindestens einmal pro Jahr zum Hausarzt (Wienberg, 1996). Nach Untersuchung von John, Hapke, Rumpf, Hill, und Dilling (1996), haben über 10 % der Patienten in einer Allgemeinarztpraxis ein »Alkoholproblem«. Systematische Erhebungen zur Prävalenz von Störungen durch Alkohol in Krankenhäusern definierter Regionen in Deutschland wurden nur in geringem Umfang durchgeführt. Nach Untersuchungen von Athen und Schranner (1981) waren ca.
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11 % der Patienten eines oberbayerischen Kreiskrankenhauses alkoholabhängig. Aus einer repräsentativen Studie für ein Allgemeinkrankenhaus in Lübeck konnten 12,7 % der Patienten identifiziert werden. In einer weiteren Studie von Auerbach und Melchersten (1981) konnten die folgenden Prävalenzraten für Alkoholabhängigkeit an der Medizinischen Hochschule zu Lübeck festgestellt werden: Tabelle 10.1: Prävalenzraten für Alkoholabhängigkeit an der Medizinischen Hochschule zu Lübeck
Prävalenzraten für Alkoholabhängigkeit an der Medizinischen Hochschule zu Lübeck: Psychiatrische Klinik 19 % Innere Medizin 14 % Chirurgische Klinik 7%
Bei Patienten einer nicht traumatologisch-chirurgischen Abteilung konnten Möller, Angermund und Mühlen (1987) 9 % alkoholabhängige Patienten ermitteln. Patienten einer traumatologischen Abteilung wiesen in 19 % der Fälle eine Alkoholabhängigkeit auf. Ähnliche hohe Prävalenzraten werden auch von Allgemeinkrankenhäusern in anderen Ländern berichtet. In einer kürzlich publizierten Studie von Vincze, Muranyi und Tury (2006) waren 4,4 % der Patienten in einem ungarischen Allgemeinkrankenhaus alkoholabhängig und 25,4 % der Patienten zeigten einen riskanten Alkoholkonsum. In einer nigerianischen Studie konnte bei 14,8 % der Patienten in einem Allgemeinkrankenhaus die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit beziehungsweise eines schädlichen Gebrauchs von Alkohol festgestellt werden (Okulate und Odunaike, 2005). Erkrankungen, die zur stationären Aufnahme in ein Allgemeinkrankenhaus führen und einen Zusammenhang mit Alkoholkonsum aufweisen, lassen sich wie folgt differenzieren: Tabelle 10.2: Erkrankungen im Zusammenhang mit Alkoholkonsum, die zur stationären Aufnahme in ein Allgemeinkrankenhaus führen
Erkrankungen im Zusammenhang mit Alkoholkonsum, die zur stationären Aufnahme in ein Allgemeinkrankenhaus führen: a. Störungen durch Alkohol: schädlicher Gebrauch von Alkohol, Alkoholabhängigkeit, Alkoholintoxikation, Delir, epileptische Anfälle im Rahmen des Alkoholentzuges b. toxische, metabolisch-entzündliche und traumatische Folgen des Alkoholkonsums:
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Makrozytäre Anämie, Periphere Polyneuropathie, Malnutrition, Hypovitaminosen, Fettleber, Hepatitis, Leberzirrhose, Pankreatitis und Pankreasinsuffizienz, gastrointestinale Entzündungen insb. des Ösophagus, des Magens, Verletzungen durch Stürze und körperliche Auseinandersetzungen c. weitere mögliche alkoholbezogene Störungen: Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen, Hypertension, gastrointestinale Blutungen, Gefäßschädigungen, Kardiomyopathie, ischämische Herzerkrankungen, Koagulopathie, Myopathie, maligne Erkrankungen des Oropharynx, des Oesophagus, der Leber und des Kolons, Lungentuberkulose, Erysipel, Pneumonie, Bronchitis, Pleuritis Des Weiteren gibt es noch die Gruppe der alkoholunabhängigen Erkrankungen, die zur stationären Behandlung in ein Allgemeinkrankenhaus führen können. Bei diesen Patienten besteht neben der alkoholunabhängigen somatischen Erkrankung eine Alkoholabhängigkeit. Bei einer Untersuchung von Gerke, Hapke, Rumpf und John (1997) wiesen 21 % der Patienten (29,3 % der Männer und 9,4 % der Frauen) eine alkoholbezogene Erkrankung auf, die auch Behandlungsanlass war. Die höchste Inzidenz fand sich in der Gruppe der 35- bis 55-jährigen Patienten. Die häufigsten Diagnosen waren: Delirium tremens (12,8 %), Anfälle (11,4 %) und Kopfverletzungen (9,4 %).
10.3 Anforderungen an den psychiatrisch/psychotherapeutischen Konsiliar- und Liaisondienst Nach Untersuchungen von Parker, Wright, Robertson und Sengoz (1996) ist es für den anfordernden Arzt wichtig, im Konsiliar- und Liaisondienst rasch eine verständliche Handlungsanweisung zu bekommen. Diese umfasst soweit als möglich neben der sofortigen Diagnose auch Therapieempfehlungen. Ein zu langer Zeitraum zwischen Anforderung des Konsils und Durchführung ist oftmals Grund für eine verzögerte Therapie und ein bedeutender Faktor für das Nichteinhalten des Termins von Seiten des Patienten (Grunebaum, Luber, Callahan, Leon, Olfson und Portera, 1996). Die Behandlung von Patienten mit Abhängigkeit oder schädlichem Gebrauch von Alkohol in somatischen Kliniken sollte je nach Krankheitsstadium individuell geplant werden. Ziel jeder Therapie sollte es sein, neben der Behandlung von Entzugssymptomen bis hin zum Delirium tremens das Risiko für einen erneuten Alkoholkonsum zu reduzieren und gegebenenfalls die Motivation zur Abstinenz zu erreichen. Nach dem Phasenmodell von Prochaska und DiClemente (1986) werden die Phasen der Veränderungsbereitschaft wie folgt eingeteilt: Vorbesinnung – Besinnung – Vorbereitung – Handlungsbereitschaft – Aufrechterhaltung. Je nachdem in welcher Phase der Suchterkrankung sich der Patient befindet, sollte die Intervention spezifisch erfolgen. Dabei ist zu betonen, dass eine Förderung und Stabilisierung von Motivation zur
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Abstinenz eine zentrale Aufgabe der Therapie ist und nicht deren Voraussetzung. Bei der Diagnose eines schädlichen Gebrauchs ist zumindest eine Minimalintervention erforderlich. Diese kann in einem ärztlichen Gespräch bestehen, indem auf die Risiken des fortgesetzten Konsums hingewiesen wird. Bereits diese kurzen Interventionen können dazu führen, den Alkoholkonsum signifikant zu reduzieren (Finfgeld-Connett, 2005). Neben der Unterstützung der somatisch tätigen Ärzte in der körperlichen Entgiftungsbehandlung sollte die Motivationsarbeit nicht vernachlässigt werden, da reine körperliche Entgiftungsbehandlungen mit hohen Rückfallraten einhergehen. Insbesondere in diesem Bereich ist »die Sprache und das Sprechen« der psychiatrischen Konsiliar- und Liaisonärzte erforderlich. Weitere Behandlungsziele im Rahmen des Konsiliar- und Liaisondienstes können je nach Schwere der Abhängigkeitserkrankung in der Vermittlung in Selbsthilfegruppen, Vermittlung in ambulante beziehungsweise stationäre Entwöhnungsbehandlungen oder in der Prüfung der Gabe von Anti-Cravingsubstanzen beziehungsweise Aversiva liegen. Die Prophylaxe, Diagnose und Behandlung spezieller psychiatrischer Alkoholfolgeerkrankungen wie der Alkoholhalluzinose, des alkoholischen Eifersuchtswahns oder des Wernicke-Korsakow-Syndroms sind weitere wichtige Säulen im Aufgabenbereich des Konsiliar- und Liaisondienstes. Gegebenenfalls muss dann über den Konsiliar- und Liaisondienst auch eine Verlegung in eine entsprechende Fachabteilung oder ein Fachkrankenhaus initiiert werden. In normalem Umfang kann ein Konsiliar- oder Liaisondienst beispielsweise durch entsprechend auszustattende Abteilungspsychiatrien an Allgemeinkrankenhäusern sichergestellt werden. Unzureichende Ausbildungsangebote für Studierende der Medizin und somatisch tätige Kliniker erzeugen jedoch erhöhten Bedarf an psychiatrisch-psychotherapeutischem Konsiliar- und Liaisondienst. Neben der Verbesserung der Patientenversorgung und Vorteilen in der Erlös-Kosten-Situation im DRG-Zeitalter hat in dieser Situation ein Konsiliar- und Liaisondienst nicht zuletzt auch einen Weiterbildungseffekt und hilft Vorurteile gegenüber dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebiet abzubauen. Wenn die verschiedenen Fachdisziplinen miteinander über Patienten sprechen wollen, brauchen sie offensichtlich eine gemeinsame Sprache. Gerade die Behandlung von Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen in der Schnittstelle Somatik-Psychiatrie/Psychotherapie bietet sich an, dieses Problem der modernen Medizin zu lösen. Der Patient bedarf somatischer Therapie, um den körperlichen Entzug komplikationslos zu überstehen, aber auch psychiatrisch-psychotherapeutischer Hilfe. In den vergangenen Jahren konnte durch eine Vielzahl von Studien die Wirksamkeit von therapeutischen Interventionen wie soziales Kompetenztraining, kognitive Verhaltenstherapie,
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Rückfallprävention, Motivationsförderungstherapie etc. gezeigt werden. Eine alleinige körperliche Entgiftungsbehandlung geht mit Rückfallquoten über 90 % einher, während »multiprofessionelle Entgiftungsprogramme« deutlich höhere Abstinenzraten erzielen. Eine gemeinsame Sprache zu finden, miteinander über den Patienten zu sprechen und verschiedene Therapien zeitgerecht zu kombinieren ist ein lohnendes Ziel.
Literatur Arolt, V., Driessen, M., Bangert-Verleger, A., Neubauer, H., Schurmann, A., Seibert, W. (1995). Psychiatric disorders in hospitalized internal medicine and surgical patients. Prevalence and need for treatment. Nervenarzt, 66 (9), 670–677. Arolt, V., Gehrmann, A., John, U., Dilling, H. (1995). Psychiatrischer Konsiliardienst an einem Universitätsklinikum. Eine empirische Untersuchung zur Leistungscharakteristik. Nervenarzt, 66, 347–357. Athen, D., Schranner, B. (1981). Zur Häufigkeit von Alkoholikern im Krankengut einer medizinischen Klinik. In W. Keup (Hrsg.), Behandlung der Sucht und des Missbrauchs chemischer Stoffe. Stuttgart: Thieme. Auerbach, P., Melchersten, K. (1981). Zur Häufigkeit des Alkoholismus stationär behandelter Patienten aus Lübeck. Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt, 5, 223–227. Carpiniello, B., Seruis, M. L., Murgia, S., Carta, M. G. (2002). Survey of five years psychiatric consultations in an university hospital. Clin. Term., 153, 85–91. Carr, V. J., Lewin, T. J., Walton, J. M., Faehrmann, C., Reid, A. L. (1997). Consultation-liaison psychiatry in general practice. Psychosomatics, 38, 217–229. Diefenbacher, A. (Hrsg.) (1995). Aktuelle Konsiliarpsychiatrie und -psychotherapie. Stuttgart: Thieme. Finfgeld-Connett, D. (2005). Alcohol brief interventions. Annu. Rev. Nurs. Res., 23, 363–387. Gerke, P., Hapke, U., Rumpf, H.-J., John U. (1997). Alcohol-related diseases in general hospital patients. Alcohol, 32 (2), 179–184. Grunebaum, M., Luber, P., Callahan, M., Leon, A. C., Olfson, M., Portera, L. (1996). Predictors of missed appointments for psychiatric consultations in a primary care clinic. Psychiatr. Serv., 47, 848–852. John, U., Hapke, U., Rumpf, H.-J., Hill, A., Dilling, H. (1996). Prävalenz und Sekundärprävention von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit in der medizinischen Versorgung. Baden-Baden: Nomos. Möller, H. J., Angermund, A., Mühlen, B. (1987). Prävalenzraten von Alkoholismus in einem chirurgischen Allgemeinkrankenhaus: Empirische Untersuchungen mit dem Münchner Alkoholismustest. Suchtgefahren, 33, 199–202. Okulate, G. T., Odunaike, A. (2005). Alcohol use and abuse among medical and surgical inpatients in a general hospital. Niger Postgrad. Med. J., 12 (2), 77–80. Parker, G., Wright, M., Robertson, S., Sengoz, A. (1996). To whom do you refer? A referrer satisfaction study. Aust. N. Z. J. Psychiatry, 30, 337–342. Prochaska, J. O., DiClemente, C. C. (1986). Toward a comprehensive model of change. In W. E. Miller, N. Heather (Eds.) Treating addictive behaviors. Processes of change (S. 3–27). New York: Plenum Press. Vincze, G., Muranyi, I., Tury, F. (2006). Addictive behaviors in a general hospital population from the viewpoint of consultation-liaison psychiatry. Psychiatr. Hung. 21 (2),161–167. Wallen, J., Pincus, H. A., Goldmann, H. H., Marcus, S. E. (1987). Psychiatric consultations in short term general hospital. Arch. Gen. Psychiatry, 44, 163–168. Wienberg, G. (1996). Struktur und Dynamik der Suchtversorgung in der Bundesrepublik – ein
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Gefühle, Unruhe und Zappeligkeit – Zum Selbsterleben bei ADHS Martin D. Ohlmeier
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), welche phänomenologisch erstmals 1844 von dem Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann im »Struwwelpeter« mit der Geschichte vom Zappelphilipp beschrieben wurde, galt in Deutschland nach schulmedizinischer Auffassung bisher nur als Erkrankung des Kindes- und Jugendalters. Im Zuge der zunehmenden Verschreibung von Stimulanzien – insbesondere von Methylphenidat (Ritalin®) – ist inzwischen auch ADHS bei Erwachsenen vermehrt in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Die Bedeutung des Themas zeigt sich unter anderem durch eine breite Präsenz in den Medien, aber auch auf gesundheitspolitischer Ebene und in verschiedenen Fachgremien. So wurde auch während der Jahrestreffen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) der letzten Jahre aufgrund der zu vermutenden hohen Prävalenz und klinischen Bedeutung der ADHS immer wieder die Notwendigkeit intensiver Forschung bezüglich der Ursachen, der differentialdiagnostischen Abgrenzung und der therapeutischen Möglichkeiten betont. Das Bundesgesundheitsamt äußerte sich zwar bereits im Oktober 2001 dahingehend, dass ADHS nach solider wissenschaftlicher Auffassung keine »Modeerkrankung« sei und dass Methylphenidat (Ritalin®) nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft für die Behandlung der ADHS im Rahmen einer multimodalen Therapie geeignet erscheine. Kritisch wird in diesem Bericht jedoch angemerkt, dass »die Verbrauchsentwicklung von Ritalin® von 1993 bis 2001 von 34 auf 693 Kilogramm pro Jahr auf das Zwanzigfache angestiegen sei und möglicherweise ein unkritisches Verschreibungsverhalten bestehe« (Deutsches Ärzteblatt, 2002, S. A-1644). Die Frage nach einem potenziellen Suchtrisiko von Ritalin® regte die öffentliche Diskussion zusätzlich an und ließ die Frage einer »verordneten Suchtentwicklung« laut werden. Im Folgenden soll zunächst ein Überblick über das Syndrom »ADHS« gegeben werden. Hierzu wird der derzeit postulierte neurobiologische Funktionsmechanismus der Erkrankung kurz skizziert. Kontrastierend dazu wird ein kurzer Überblick über das psychodynamische Erklärungsmodell gegeben und anschließend der Versuch unternommen, die besondere Funktion des Syndroms »ADHS« in seiner intraindividuellen Bedeutung aufzuzeigen. Dies führt schließlich zu der Frage, ob die im Rahmen der ADHS auftretenden Gefühle, die »Unruhe und Zappeligkeit«, möglicherweise sogar individuell er-
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wünscht und beispielsweise Grundlage eines erhöhten Kreativitätspotentials sein können. Im Zuge dessen bestünde die Möglichkeit, dass das Selbsterleben bei ADHS keinen Krankheitscharakter besitzt, sondern sogar als positiv empfunden wird.
11.1 Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) aus neurobiologischer Sicht Bei Kindern ist ADHS kein neues Krankheitsbild. Sie wurde bisher auch unter anderen Bezeichnungen (Minimale cerebrale Dysfunktion (MCD), Hyperkinetische Störung etc.) subsumiert. Die Annahme, dass die Erkrankung bis in das Erwachsenenalter persistiert, ist in Deutschland hingegen relativ neu. Die Häufigkeit der Persistenz der ADHS im Erwachsenenalter ist bislang unklar. Während Wender (1985) nach epidemiologischen Studien in 35 % der Fälle ein Persistieren von zumindest einigen Symptomen annimmt, geht Barkley (1997) von bis zu 80 % aus. Die absolute Häufigkeit des ADHS im Erwachsenenalter wird mit 2–6 % angegeben (Wender, 1995). In einer neueren epidemiologischen Studie von Kessler et al. (2006) wurde in der amerikanischen Bevölkerung bei Erwachsenen eine Prävalenz von 4,4 % aufgezeigt. Die Diagnose der ADHS bei Erwachsenen wird anhand der amerikanischen DSM-IV-Kriterien (APA, 1994) gestellt. Die Kernsymptome der Erkrankung sind durch Aufmerksamkeitsstörungen, erhöhte Impulsivität, Hyperaktivität, Desorganisation und emotionale Instabilität gekennzeichnet und müssen bereits in der Kindheit vor dem siebten Lebensjahr begonnen haben. Sie führen bei den Betroffenen und ihrer Umwelt zu einem hohen Leidensdruck. Die Vielschichtigkeit und Komplexität der Symptomatik erfordert eine sehr genaue und aufwändige klinische Untersuchung der Patienten, die psychiatrische, neurologische, aber auch psychodynamische Zusammenhänge berücksichtigen muss. Die Kindheits-, Familien und Fremdanamnese können entscheidende diagnostische Hinweise erbringen. Die ADHS ist differentialdiagnostisch von anderen psychischen Erkrankungen – zum Beispiel den Persönlichkeitsstörungen, depressiven Syndromen sowie der Angststörung – abzugrenzen, was im Einzelfall aufgrund der ähnlichen Symptomatik schwierig sein kann. Aus neurobiologischer Sicht wird als Ursache der ADHS derzeit eine genetisch determinierte Dysfunktion des Katecholaminstoffwechsels angenommen, die insbesondere das frontostriatale System des Gehirns betrifft (Lou et al., 1989). Der mit Hilfe bildgebender Verfahren (Positronenemissionstomographie [PET] und Singlephotonenemissionstomographie [SPECT]) geführte Nachweis einer erhöhten Dopamintransporterdichte im Striatum lässt im engeren Sinne eine Störung der dopaminergen Funktionen vermuten (Ernst,
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Zametkin, Matochik, Jons und Cohen, 1998; Dougherty et al., 1999; Dresel et al., 1999). Neurobiologisch ist demzufolge auch die Rede von der »Dopaminmangelhypothese«. Dopamin wird normalerweise an der präsynaptischen Membran in den synaptischen Spalt freigesetzt und die sogenannten Dopamintransporter sorgen für dessen Rücktransport. Bei ADHS kommt es dagegen durch eine genetisch determinierte Überfunktion der Transporter zu einem relativen Mangel an Dopamin im synaptischen Spalt und an den Rezeptoren der postsynaptischen Membran (Krause, Krause und Trott, 1998). Inzwischen gibt es jedoch einige Untersuchungen, welche die Beteiligung auch anderer Neurotransmittersysteme postulieren. So fanden sich Hinweise dafür, dass bei der Erkrankung auch das noradrenerge und serotonerge Neurotransmittersystem ätiopathogenetisch eine Rolle spielt (Faraone und Biederman, 1998, Gainetdinov, Wetsel, Levin, Jaber und Cohen, 1999).
Dopamin-System 1 Volumenminderung im Kernspintomogramm 2 verminderte Hirndurchblutung in der SPECT
Frontallappen 1 2 4 5
Striatum 1 2 6
nigroneostriatale Bahn Hypothalamus Okzipitallappen 3
3 vermehrte Hirndurchblutung in der SPECT 4 reduzierter Glukosemetabolismus ventrales Striatum in der PET Mandelkern 5 verminderte Dopatuberoinfundibuläres DecarboxylaseSystem mesolimbisches zum Rückenmark Aktivität in der PET System ventrales Substantia nigra Tegmentum 6 vermehrte Dopamintransporter-Dichte in der SPECT Abbildung 11.1: Dopamin-System (grau markiert), aus: Krause und Krause (2005)
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11.2 ADHS aus psychodynamischer und psychoanalytischer Sicht Nach Darstellung der neurobiologischen Erklärungsmodelle soll nun auf die psychodynamische beziehungsweise psychoanalytische Sichtweise und auf die soziologischen Aspekte des Phänomens »ADHS« eingegangen werden. Aus psychodynamischer beziehungsweise psychoanalytischer Sicht wird die aktuelle Diskussion um ADHS zum Teil mit großer Skepsis betrachtet. Die neurobiologischen Modelle werden keinesfalls als hinreichende kausale Erklärung der phänomenologisch zu beobachtenden Störung angesehen. Insbesondere wird eine Eindimensionalität im Verstehen der Ursachen und Behandlung der Störung kritisiert. So interpretieren Leuzinger-Bohleber und Stuhr (1997) diese Entwicklung als zunehmende Tendenz einer »entsubjektivierten, quantitativ-empirischen Methodik der pharmakologisch-verhaltensmodifizierenden Behandlung mit dem Ziel der Veränderung von außen« (S. 131). Die Betrachtung des Individuums in der psychologischen Dynamik seiner sozialen Beziehungen werde ausgeklammert. Aus psychoanalytischer Sicht ist nicht das Erscheinungsbild, sondern das Erkennen und das Verstehen der ursächlichen Zusammenhänge des hyperaktiven Verhaltens auf psychischer, somatischer und sozialer Ebene entscheidend. Die hyperkinetische Störung wird demnach als »neurotische Symptombildung auf dem Hintergrund eines konflikthaften psychischen Prozesses« (Molitor, 2001) verstanden. Bittner (1994) interpretierte die Struwwelpeter-Geschichte des Zappelphilipps dementsprechend auch im Sinne eines individual- und familienanalytischen Erklärungsmodells, als eine »schwer aushaltbare Dreierbeziehung« innerhalb einer »emotionalen Stummheit der Familie und als Ausdruck der Diskrepanz zwischen Erleben und Sprache in der familiären Kommunikation«.
Abbildung 11.2: Der Zappelphilipp (H. Hoffmann)
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Die hyperkinetische Störung des Kindes zeige damit gewissermaßen symbolisch die Suche nach seinem Platz in der Dreierbeziehung, das »Hin und Her« in der Bewegung wird als Ausdruck der Beziehungsambivalenz sowohl gegenüber der Mutter als auch gegenüber dem Vater verstanden (Bittner, 1994).
11.3 ADHS als »gesellschaftliches Phänomen«? Was psychoanalytisch als Ausdruck einer »neurotischen Symptombildung« verstanden wird, wird im soziologischen Sinne als mögliches Produkt einer »missglückten Erziehung« oder als Folge gesellschaftlicher Fehlentwicklungen diskutiert. Sowohl das psychodynamische als auch das soziologische Verständnis der Ätiopathogenese der ADHS haben dabei gegenüber dem neurobiologischem Modell einen entscheidenden »Nachteil«: Sie unterstellen eine gesellschaftliche oder individuelle Verantwortung für das auffällige Verhalten der Betroffenen. Die sich daraus auf bewusster oder unbewusster Ebene ergebende Zuweisung von Schuld oder Versagen wird hierbei als besonders kränkend erlebt. Aus den erwähnten Kernsymptomen der ADHS resultieren häufig – insbesondere durch die erschwerte Begrenzbarkeit und durch zum Teil massive Regelverletzungen – große soziale Schwierigkeiten. Scham und Verunsicherung wachsen im Rahmen der Erkenntnis, dass zunehmend soziale Basisnormen verletzt werden. Allein schon die neurobiologisch begründete Diagnose »ADHS« kann daher für die Betroffenen eine stark entlastende Wirkung haben. Die Diagnose erklärt »das Unmögliche und Unverständliche« und rehabilitiert sowohl die Kinder (als »Störfaktor«), als auch die Eltern (als »versagende Pädagogen«) sowie bestehende gesellschaftliche Missstände. Die Diagnose »ADHS im Erwachsenenalter« erhält in diesem Sinne das besondere Prädikat der »sozialen Erwünschtheit«. Die klinische Erfahrung in der Praxis zeigt, dass der erwachsene Patient häufig selbst bei Nichtvorliegen der diagnostischen Kriterien auf die vermeintliche Diagnose besteht. Im Zuge intrapsychischer Abwehrvorgänge wird der oft als beschämend erlebten Realisation der neurotisch generierten Symptombildung und der daraus resultierenden sozialen Defizite, die Diagnose »ADHS« vorgezogen, da sie neurobiologisch begründbar, und damit für die Betroffenen akzeptabler erscheint.
11.4 ADHS und Kreativität Kinder und Erwachsene, die an einer ADHS leiden, sind häufig nicht in der Lage, in zielgerichteter Form zu planen und zu handeln, wie es in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens gefordert und gesellschaftlich erwartet wird. Durch ständige Ablenkung – zum Beispiel durch Geräusche oder visuelle
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Reize – werden ursprüngliche Handlungsentwürfe torpediert, was dazu führt, dass die Betroffenen nicht leisten können, was sie leisten wollen. Konzentrationsstörungen, mangelndes Durchhaltevermögen und Langeweile sind einerseits Ursache, andererseits aber auch – im Sinne eines Circulus vitiosus – die Folge. Erstaunlich erscheint in diesem Zusammenhang die unter bestimmten Bedingungen bei den Betroffenen oftmals zu beobachtende hohe Geschwindigkeit bei der Entwicklung strategisch wichtiger Handlungsentwürfe (z. B. in Gefahrensituationen). So konnten wir während der an unserer Klinik durchgeführten neurokognitiven Untersuchungen feststellen, dass ADHS-Betroffene in kurz andauernden Testverfahren bessere Leistungen erzielten als gesunde Kontrollprobanden. Darüber hinaus waren im Zahlenverbindungstest (ZVT) und im D2-Test die ADHS-Probanden ohne Medikament schneller als jene, welche mit Methylphenidat behandelt wurden. Im Gesamtergebnis war die neurokognitive Leistungsfähigkeit der Betroffenen jedoch deutlich schlechter. Dieses erstaunliche Phänomen interpretierten wir als eine Art Anpassungsleistung im Sinne der Fähigkeit einer kurz anhaltenden Hyperfokussierung. Die fehlende gleichbleibende Aufmerksamkeit führt bei den Betroffenen gewissermaßen zu einer oszillierenden Aufmerksamkeit und somit zu der Notwendigkeit einer immer wiederkehrenden Hyperfokussierung auf die zu bewältigende Aufgabe. Neben dieser Fähigkeit zur Hyperfokussierung zeichnen sich die Betroffenen auch durch andere besondere Eigenschaften aus: Spontaneität, Improvisationsfähigkeit und Kreativität dienen einerseits ebenfalls im Sinne einer Anpassungsleistung dem Ausgleich und der Korrektur der vorliegenden Symptome, andererseits vermitteln sie aber auch die Basis für häufig besonders intensive soziale Kontakte und sind in bestimmten beruflichen Bereichen unter Umständen der Motor, der über das Gelingen oder Misslingen von anstehenden Projekten entscheidet.
Abbildung 11.3: »Probehandeln« – »black box«, nach Linneweh (1994)
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Kreativität ist keine menschliche Fähigkeit, die einheitlich und genormt erscheint, sondern umfasst die verschiedensten Formen des schöpferischen Denkens und Handelns. Kreativität geht dabei weit über das KünstlerischÄsthetische hinaus. Sie bedeutet eine Strategie zur Umweltbewältigung und erfährt eine Ausweitung auf alle sozialen, aber auch politischen und wirtschaftlichen Fragestellungen. Kreatives Denken ist demnach verinnerlichtes, bewusst und unbewusst gesteuertes Probehandeln, das mit intuitiven und rationalen, konvergenten und divergenten Denkoperationen arbeitet (vgl. Linneweh, 1994). Während das konvergente Denken das fixierte, enge, aber auch logische Denken im Sinne der Ratio repräsentiert, ist das divergente Denken die Präsentation des Ungeordneten, Phantastischen und oft nicht Nachvollziehbaren, was psychodynamisch als Ausdruck unbewusster, assoziativer (Trieb-)Affekte gedeutet werden kann. Die für den kreativen Prozess notwendige Entscheidung über die Auswahl und die Richtung des Informationsflusses wird dabei wesentlich durch einen internen Zensor beeinflusst. Dieser Zensor unterzieht die von außen kommenden Sinneseindrücke gewissermaßen einer Plausibilitätskontrolle und damit einer Anpassung an die inneren Wirklichkeitshypothesen. Er ist eine Art Filter zwischen Bewusstem und Vorbewusstem und wird durch einen intrapsychischen Entwicklungsprozess gebildet, der im Kontext von Erziehung, Erfahrung und Umwelteinflüssen entsteht (Emrich und Ohlmeier, 2005). Bei ADHS kommt es zu einer Störung dieses Zensors. Anflutende Informationen gelangen so zum Teil ungefiltert in das Bewusstsein. Die von den Patienten oft beschriebene Reizoffenheit führt also auf der einen Seite zu einer Überflutung mit Sinneseindrücken, welche einen geordneten Handlungsentwurf behindern können, auf der anderen Seite erhöht das größere Informationsangebot aber auch das Spektrum der zur Verfügung stehenden Handlungsentwürfe und stellt somit die Basis für ein höheres Kreativitätspotential dar. Der Einsatz der Kreativität kann somit im Umkehrschluss auch als Versuch verstanden werden, über eine Kompensation des insuffizienten Zensors neue Integrationsmodelle zwischen der äußeren und der inneren Realität herzustellen. Je nach Betrachtungsweise beziehungsweise den realen Bedingungsfaktoren kann sich also die Störung des Zensors als vorteilhaft oder als behindernd erweisen. Im günstigsten Fall wird sich der ADHS-Betroffene auf jene Vorteile besinnen, sie – soweit möglich – kultivieren und herausfinden, in welchem beruflichen und sozialen Bereich sie produktiv zur Anwendung kommen können (Emrich und Ohlmeier, 2005). Die Kreativitätsforschung konnte zeigen, dass sich der kreative Output schöpferisch tätiger Menschen in der Ausprägung der jeweiligen Individualität, Progressivität und Dynamik deutlich unterscheidet. Wissenschaftler, Künstler oder auch Ökonomen, welche unkonventioneller sind und weniger
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Abbildung 11.4: Informationsverarbeitung – Zensor und Plausibilitätskontrolle
rigide auf die Einhaltung ihrer Impulskontrolle achten, tendieren weniger zur sozialen Konformität, sind in ihrem Urteil unabhängiger und verfügen über ein stärkeres Standhaltevermögen gegenüber Gruppendruck (Linneweh, 1994). Der bei neu gefundenen Problemlösungsstrategien häufig entstehende äußere Widerstand zeigt dabei, dass die Etablierung von Kreativität oft auch von sozialen Umweltbedingungen abhängig ist. Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die »Unruhe und Zappeligkeit« – die ja medizinterminologisch als »Impulsivität und Hyperaktivität« bezeichnet wird – also durchaus auch als erhöhtes Leistungs- und Kreativitätspotential interpretiert werden kann. Auch für das Selbsterleben hat dies Konsequenzen. So berichten die Betroffenen oft von besonderen musikalischen, künstlerischen oder sozialen Fähigkeiten mit entsprechend positiv besetzten emotionalen Erfahrungen. Diese Fähigkeiten lassen interessanterweise bei einigen Betroffenen – zumindest in Teilaspekten – unter medikamentöser Therapie mit Psychostimulanzien nach. Der korrigierende Einfluss auf die erlebte Persönlichkeit, Individualität und das soziale Beziehungsvermögen wird dann häufig als störend empfunden. Die schöpferische Kreativität, die Expressivi-
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tät oder die gerade aufgrund der Extrovertiertheit bestehende soziale Kommunikationsfähigkeit und Beliebtheit des betroffenen Individuums lässt nach und kann unter Umständen den positiven Effekt der Behandlung überwiegen. Der Politologe Francis Fukuyama, Bioethikberater des amerikanischen Präsidenten, sieht in der psychopharmakologischen Behandlung der ADHSPatienten dementsprechend auch die Gefahr der »Gleichschaltung des Individuums« (vgl. Spiegel, 2002, 7/29, S. 125). Die Gesellschaft beraube sich des Potentials der Entwicklungsmöglichkeiten. Individualität und Kreativität werde »im ersten Schritt geächtet, im zweiten behandelt«. Das Individuum entfalle insofern als »Motor des soziokulturellen Fortschrittes«. Fukuyama sieht Methylphenidat somit auch als »Mittel zur sozialen Kontrolle«, welches den Eltern, Lehrern und Betroffenen die Verantwortung für den eigenen Zustand nimmt. Impulsivität und Hyperaktivität können also prinzipiell als Motor für Kreativität und Fortschritt dienen. Als hinderlich erweisen sie sich dagegen, wenn sie sich überschießend oder ausschließlich präsentieren. Je nach Ausprägung führen diese zu Leistungseinbußen und werden somit »symptomatisch«. Die Intensität der auftretenden Defizite kann dann unter Umständen so erheblich sein, dass die Betroffenen unter massiven Einschränkungen im beruflichen und sozialen Bereich leiden. Hier zeigt sich die Kehrseite – und damit destruktive Variante – des Störungsbildes, welches sich im Verlauf durch das zusätzliche Auftreten von komorbiden Störungen noch verschärfen kann. Dem Diagnostiker präsentiert sich dann häufig ein schwer einzuordnendes depressiv gefärbtes Bild, welches eine Behandlungsbedürftigkeit offenkundig werden lässt.
Literatur American Psychiatric Association. (1994). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (4th ed.). DSM-IV. Washington, D.C. Barkley, R. A. (1997). Advancing age, declining ADHD. Am. J. Psychiatry, 154 (9), 1323–1325. Bittner, G. (1994). Problemkinder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Deutsches Ärzteblatt. (2002). 99, Heft 24, Seite A-1644: Caspers-Merk, M. Positionspapier des Bundesgesundheitsamtes, Oktober 2001. Dougherty, D. D., Bonab, A. A., Spencer, T. J., Rauch, S. L., Madras B. K., Fischman A. J. (1999). Dopamine transporter density in patients with attention deficit hyperactivity disorder. Lancet, 354, 2132–2133. Dresel, S. H. J., Kung, M. P., Huang, X. F., Plössl, K., Hou, C., Meegalla, S. K., Patselas, G., Mu, M., Saffer, J. R., Kung, H. F. (1999). Simultaneous SPECT studies of pre- and postsynaptic dopamine binding sites in baboons. J. Nucl. Med., 40, 660–666. Emrich, H. M., Ohlmeier M. (2005). Kreativität und Therapie des ADHS-Syndroms. AKJP, 127, 417–433. Ernst, M., Zametkin, A. J., Matochik, J. A., Jons, P. H., Cohen, R. M. (1998). DOPA decarboxylase
Gefühle, Unruhe und Zappeligkeit
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Die Bedeutung der Synästhesie für die Wissenschaft Markus Zedler und Hinderk M. Emrich
Forscher und Wissenschaftler sind Wesen, die irgendwann in ihrem Leben nicht nur forschen, Tatsachen aufdecken und Theorien erfinden wollen, sondern die auch Impulse geben, Impulse in eine bestimmte Richtung für unser Leben. Wissenschaft ist ein Bereich unseres Lebens, der versucht, Unerklärtes zu erklären. Letztlich kommt die Wissenschaft aus der Sehnsucht des Menschen nach Absicherung zustande, nach sicheren Prognosen. Wie kann ich mein Leben so gestalten, dass ich nicht ständig von Schrecklichem überrascht werde, wie dies im Tierreich nur allzu sehr der Fall ist? Wie kann ich zu sicheren Prognosen kommen? Insofern ist Wissenschaft ein Bereich unserer Kultur, der darauf abzielt, kognitive Modelle der Wirklichkeit zu erzeugen, welche beinhalten, dass Menschen nicht ständig von Naturgewalten und anderen Gewalten überrascht werden. Dies aber bedeutet, dass Wissenschaft reduktiv vorgehen muss: Sie reduziert Komplexes auf Einfacheres und Einfacheres auf noch Fundamentaleres. Reduktionismus ist eine Erklärungsform, die mit dem Phänomen des »Eigentlichen« zu tun hat. Eigentlich ist Materie nichts anderes als eine Zusammenballung von Atomen, die wiederum eigentlich nichts anderes sind als elektromagnetische Wellen, also gibt es eigentlich Materie gar nicht. Eigentlich ist »Musik nichts anderes als eine Zusammenfügung von Schallwellen«. Dieses Modell der Welt bedeutet, dass wir letztlich alles in Theorien, in Kognitionen übersetzen können. Wir können Verhalten in Verhaltensbiologie und damit letztlich in darwinistische Mechanismen uminterpretieren. Ist es wirklich richtig, dass alles in Abstraktionen übersetzbar ist? Ist es nicht in Wirklichkeit genau umgekehrt, dass nämlich nichts in irgendetwas anderes übersetzt werden kann? So sagt der englische Philosoph Berkeley »Everything is what it is and not an other thing« (»Alles ist, was es ist und nicht etwas anderes«; Berkeley, 1710). Dies würde bedeuten: Es ist nicht richtig, dass man alles, was in unserem Leben etwas bedeutet, in etwas anderes, einfacheres uminterpretieren und daraus erklären kann. In diesem Sinne wäre der Reduktionismus der Wissenschaft ein scheiterndes Projekt. Ein besonders gut geeignetes Modell zur Verdeutlichung ist die Synästhesie. Aisthesis (Wahrnehmung) beruht auf der Wechselwirkung zwischen Wirklichkeitshypothesen einerseits und Sinnesdatenlagen, die von der Außenwirklichkeit in das Innen von Subjekten transportiert werden, andererseits.
Die Bedeutung der Synästhesie für die Wissenschaft
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Wenn auf diese Weise relativ klar ist, worum es sich bei der Aisthesis handelt, dann stellt sich die Frage nach der Synaisthesis, der Synästhesie. Unter Synästhesie versteht man das Phänomen, dass eine Sinnesqualität, wie zum Beispiel das Hören eines Wortes, einer Zahl, eines Tones noch auf eine andere Sinnesqualität, wie das Sehen einer Farbe, quasi überspringt beziehungsweise darin noch einmal, also doppelt repräsentiert ist. Interessanterweise berichten Synästhetiker, dass die Einheit des Bewusstseins, die Einheitlichkeit des Objektes, hierdurch nicht verletzt ist, das heißt, die beiden Sinnesqualitäten werden intermodal vollständig integriert. Dies ist neurobiologisch interessant, weil man versuchen kann, an diesem quasi natürlicherweise zusätzlich auftretenden Bewusstseinsphänomen den neurobiologischen Mechanismus der Bewusstseinsintegration, das heißt der Erzeugung der Einheitlichkeit des Bewusstseins, aufzuklären. In diesem Sinne ist auch die weitere genannte Besonderheit bei der Synästhesieforschung bedeutungsvoll, das Phänomen, dass interne Gefühlszustände sich in Form von Sinneswahrnehmungen auf dem zusätzlichen Monitor darstellen können. Mit anderen Worten: Auch die zweite Frage, diejenige nach der Integration von Wahrnehmungsgehalten mit dem mitlaufenden Gefühlston, lässt sich in der Synästhesieforschung thematisieren. Dabei scheint sich das Schema herauszukristallisieren, dass bei der Synästhesie jeweils zwei kortikale Areale im Sinne einer »Dreifacherregung« mit einem limbischen Areal korreliert werden. Synästhesie ist eine für alle Menschen, die erstmals damit konfrontiert werden, frappierende, ungewöhnliche und beeindruckende Erscheinung der Vermischung von Sinnesqualitäten; beeindruckend deshalb, weil – in ähnlicher Weise wie bei der Wahrnehmung von Illusionen – man sich hierbei des eigenweltlichen, subjektiven Charakters der Wahrnehmung, in gewissem Sinne sogar des hermetischen Charakters von subjektiver Wahrnehmung, deutlich bewusst wird. Synästhesie wird auch als »Vermischung der Sinne« bezeichnet. Am häufigsten ist das farbige Hören – auch als Farbenhören, als audition colorée oder coloured hearing bezeichnet –, wobei typischerweise Geräusche, Musik, Stimmen und ausgesprochene Buchstaben und Zahlen zur Wahrnehmung bewegter Farben und Formen führen, die in die Außenwelt beziehungsweise auch in das Kopfinnere projiziert werden. Auf einem »inneren Monitor«, der allerdings keine räumliche Begrenzung aufweist, erscheinen dann typischerweise vorbeilaufende farbige Strukturen, Kugeln beziehungsweise langgestreckte vorüberziehende dreidimensionale Gebilde mit charakteristischen Oberflächen, beispielsweise samtigen, glitzernden oder auch gläsernen oder metallischen Flächen, deren Charakter bei den genuinen Synästhetikern in einem direkten korrelativen Verhältnis zu den akustisch wahrgenommenen Sinneseindrücken steht. Charakteristisch hierbei ist in der Biographie der Synästhetiker ein frühes
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Erlebnis von so etwas wie Einsamkeit, nämlich die Entdeckung, dass es eine private Wahrnehmungswelt gibt, die andere Menschen nicht haben, andere Menschen nicht kennen und über die man sich nicht verständigen kann, ja über die man am besten nicht spricht, sie geheim hält. Eine Probandin berichtet: »Es ist eigentlich so, dass ich früher mal davon ausgegangen bin, dass das jeder hat. Und als ich das irgendwann mal gesagt habe, ja, das ist ja klar, das Wort mag ich nicht, weil das hat die und die Farbe und die Farbe mag ich nicht und dann hat meine Freundin erst mal losgelacht und dann machten sie sich eigentlich mehr oder weniger einen Witz daraus und dann sollte ich alle Namen sagen, welche Farben dann die Namen haben und so . . . « Wenn in der Öffentlichkeit, in Rundfunk, Presse, Fernsehen Hinweise auf das Phänomen der Synästhesie gegeben werden, so fühlen sich immer auch teilweise Menschen angesprochen, die ausgeprägte bildhafte geometrische und farbige Erlebnisse haben, beispielsweise beim Anhören von Musik, in Meditationen, in Ausnahmesituationen ihres Lebens etc. Wie Cytowic (1989) berichtet, wurden bisher üblicherweise diese Probanden mit metaphorischer oder Gefühlssynästhesie aus den Synästhesiestudien herausgenommen. Nach unseren Erfahrungen ist diese Unterscheidung aber nicht immer so sicher durchzuführen. So ist beispielsweise bei dem Komponisten Skrjabin unklar, inwieweit echte Synästhesie, Gefühlssynästhesie oder lediglich eine assoziativimaginative Leistung vorlag. Eine Synästhetikerin berichtet, für sie seien die Zahlen, wenn sie im Alltag auftreten, immer mit Farben verbunden, wobei sie diese Farben aber nicht von mitlaufenden Emotionen abtrennen kann: »Es haben nicht alle Zahlen Farben, aber es haben ein paar Farben ganz deutlich für mich Zahlen. Und ich habe jetzt darüber nachgedacht: Keine einzige dieser Farben, die ich in den Zahlen sehe, ist eine Farbe, die ich besonders mag. Also es ist, Gelb ist die Vier, richtig schönes normales Gelb, das würden die Leute sagen Sonnengelb, wunderbar, ist doch positiv, ist eine Farbe, die mich nicht anspricht. Meine Lieblingsfarbe Blau ist die Sieben, aber leider nicht in schöner Farbe, sondern in Vergissmeinnicht-Blau. Mag ich auch nicht so gern. Ist auch ein Anbieder-Blau. Und dann habe ich lange gerätselt . . . welches ist nun eigentlich Rot und welches Grün, weil sich das immer vermischt bei mir, ich glaube inzwischen ziemlich sicher, das Grün ist die Fünf und Rot ist die Acht. Und beides in Hochfarbe, richtig knallgrün . . . ist eine Farbe, die ich überhaupt nicht mag. Mag ich nicht, ist mir zu aufdringlich.« Gleichzeitig treten bei dieser Probandin Farberlebnisse bei Musik auf. »Ich möchte also mehr mich in die Musik fallen lassen, dann ist Musik für mich in den tieferen Tönen und das ist auch sehr schön verbunden mit kalten Farben wie Grün und Blau, ganz egal, das kann auch so ein bisschen wie indifferent sein, wie verschleiert . . . In den Formen, in den Abgrenzungen mag ich Klarheit sehr gern, aber wenn ich das mit Musik zusammen sehe, dann finde ich alle diese Erdtöne und so schön, so Brauntöne und Braungrau ist für mich eine Farbe, da könnte ich mir, also wenn man sich vorstellt, man mischt Schwarz und Weiß und tut da Braun rein, das gibt also eine dreckige Farbe, wo die meisten Leute sagen igitt, igitt, also in eine solche Farbe könnte ich mich theoretisch reinsetzen und das toll finden. Und wenn Musik in diesem Bereich ist, dass ich so etwas dann fühle, das ist wie, wenn ich mich in so Braun setze, finde ich schon toll. Aber nicht abrufbar. Ich kann nicht in ein Konzert gehen und sagen, jetzt habe ich das und das. Das ist ganz unterschiedlich.«
Die Bedeutung der Synästhesie für die Wissenschaft
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Synästhesie im eigentlichen neurobiologischen Sinne ist sicherlich nicht erlernbar. Es handelt sich um eine Variante der neuronalen Organisation bei der kortikalen Repräsentation semantischer Gehalte. Synästhesie im weiteren Sinne als eine Form innerer Wachheit im Hinblick auf die wechselseitigen Bezüge zwischen Wahrnehmungssystemen und insbesondere die Fähigkeit bildhafter Wahrnehmung eigener Gefühlszustände kann man sich aber sicherlich aneignen. Synästhesie wird damit zu einer Metapher für eine Lebensform, in der es eine Steigerung von Kreativität, mentaler innerer Absicherung und innerer Stabilität im Rahmen des Erreichten gibt. Synästhesie als Lebensform beinhaltet dann, den Gegenständen (und sich selbst) eine neue Form von Multidimensionalität, von Uneindeutigkeit, von Komplexität und Bedeutungshaltigkeit zuzubilligen – eine Art von Enttrivialisierung – und damit auch uns selbst einen dem Reduktionismus heilsam entgegenwirkenden Aspekt innerer Vielfalt. Denn Menschen gehen nicht darin auf, biologische Maschinen zu sein, die wie der Darwin karikierende Essayist Samuel Butler (1877) schrieb, sich so erklären lassen: »Eine Henne ist nur die Art und Weise, wie ein Ei ein anderes Ei hervorbringt.« Was es heißt, ein Mensch zu sein, lässt sich vielmehr häufig eben gerade nicht dadurch erklären, dass gesagt wird: »Wir sind nichts anderes als . . . « Das Phänomen der Synästhesie kann uns lehren, diese HyperReduktionismen zu vermeiden; und Synästhesie als Lebensform kann Angst reduzieren, weil sie eine neue Dimension innerer Sicherheit, eine neue Form von Selbstvergewisserung und Absicherung im eigenen Selbst ermöglicht. Aus der Gefühlssynästhesie kann man ableiten, dass unser auf Wiederholbarkeit ausgerichtetes Selbstbild in bestimmten Hinsichten keine geeignete Metapher ist für unser Selbstsein, weil nämlich das, was wir sind, eine Reihung, eine Summe von Einmaligkeiten, von Nicht-Wiederholbarkeiten enthält, für das unsere Maschinenmetapher kein Modell darstellt. Synästhesie als Lebensform erweist sich als Paradigma eines Selbstverständnisses des Menschen jenseits der Maschinerie, jenseits einer Physik der Reversibilität, als Paradigma eines Selbstverhältnisses im Sinne einer Physik der Singularität. Die nichtlineare Dynamik ist somit in gewissem Sinne eine Physik der Einmaligkeit, des Singulären, des Nicht-Wiederholbaren.
Literatur Berkeley, G. (1710). A treatise concerning the principles of human knowledge. Dublin: Aaron Rhames. Butler, S. (1877). Life and habit. London: Jonathan Cape. Cytowic, R. (1989). Synesthesia: A union of senses. New York: Springer. Emrich, H. M., Schneider, U., Zedler, M. (2004). Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: Das Leben mit verknüpften Sinnen. Stuttgart: Hirzel.
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Die innere Zeitstruktur des Flashbackphänomens Catharina Bonnemann
Dieser Beitrag ist ein Ansatz, das gestörte Zeitempfinden von Personen, die im Rahmen einer Dissoziativen Störung unter Flashbacks leiden, phänomenologisch zu beleuchten. Hierzu wird nach einer Skizzierung der Dissoziativen Identitätsstörung und des damit verbundenen Flashbackphänomens kurz auf die Zeitphilosophie Edmund Husserls eingegangen. Unter Bezugnahme auf sein Konzept des »Inneren Zeitbewusstseins« sowie auf das phänomenologische Bewusstseinskonzept Dan Zahavis soll das Phänomen des Flashbacks als Beispiel für intrusive traumatische Erinnerung hinsichtlich seiner Einordnung in den menschlichen Bewusstseinsfluss und im Hinblick auf seine innere zeitliche Struktur untersucht werden. Es soll gezeigt werden, inwieweit diese spezifische Form der unmittelbaren Wiedererinnerung Einfluss auf das Zeiterleben und folglich auf die Bewusstseinskonstitution der von posttraumatischer, struktureller Dissoziation Betroffenen hat. Die beim Flashback gegebene Art der Erinnerung und Erinnerungsinhalte sowie dessen zeitliche Orientierung und Auswirkung auf den intentionalen Bewusstseinsstrom sollen auf dem Hintergrund philosophisch-phänomenologischer und psychiatrischer Überlegungen in einem interdisziplinären Ansatz verbunden werden. Der psychiatriegeschichtlich relativ junge Diagnosekomplex der Dissoziativen Störungen wird in der Fachwelt mit einiger Skepsis diskutiert. In dem 2008 erschienenen Band »Das verfolgte Selbst« bezeichnen etwa van der Hart, Nijenhuis und Steele die Erweiterung des Bedeutungsspektrums des Dissoziations-Begriffs als eine schwerwiegende Fehlentwicklung. Der Zweifel am Sinn der diskutierten Kategorisierungen mag sowohl an einer Unzahl von Definitionen dieser Krankheitsentität liegen als auch an dem breiten Spektrum der Symptome, die darunter subsumiert werden. Denn abgesehen von strukturellen Manifestationen einer entsprechend geprägten Persönlichkeit wird gegenwärtig auch eine große Zahl nichtpathologischer Veränderungen des Bewusstseins zu den dissoziativen Symptomen gerechnet. Die resultierende mangelnde Eindeutigkeit hat neben allgemein bestehender Unsicherheit bei der Diagnostizierbarkeit der »Dissoziation« auch die erwähnte skeptische Haltung gegenüber diesem Krankheitsbild zur Folge. Neben dem aktuellen psychiatrisch-psychologischen Diskurs ist die Psychopathologie der dem Begriff »Dissoziative Identitätsstörung« zugrunde liegenden Krankheitsentität, indem sie neues Licht auf den Identitätsbegriff sowie die Frage nach der Einheit des Selbst und der Persönlichkeit wirft, auch von
Die innere Zeitstruktur des Flashbackphänomens
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philosophischem Interesse. Ohne Zweifel dient eine philosophische Analyse, insbesondere die phänomenologisch-hermeneutische Beschreibung psychopathologischer Symptome, einem erweiterten Verständnis dieses Diagnosekomplexes. Umgekehrt können exakte Zuschreibungen von Pathologien dazu beitragen, phänomenologische Betrachtungen des (Zeit-)Bewusstseins produktiv zu erweitern. Versteht man »Persönlichkeit« gemäß einer Definition von Allport (1961, zit. nach Nijenhuis, 2005, S. 414) als »dynamische Organisation der psychophysiologischen Systeme innerhalb des Individuums, die sein charakteristisches Verhalten und Denken bestimmen«, so scheinen diese »Systeme« im Normalfall eine unauflösbare Einheit zu bilden. Der Pathomechanismus der sogenannten strukturellen Dissoziation dagegen ist als eine Organisationsform zu verstehen, »bei deren Vorliegen verschiedene psychobiologische Subsysteme der Persönlichkeit unverhältnismäßig starr und füreinander unzugänglich sind. Die Folge ist ein Mangel an Kohärenz und Koordination innerhalb der Gesamtpersönlichkeit von Traumatisierten« (van der Hart, Nijenhuis und Steele, 2008, S. 9). Heute ist die Diagnose der »Dissoziativen Identitätsstörung« bei aller Umstrittenheit offiziell anerkannt, und damit die Auffassung, dass Erinnerungsinhalte pathogen sein können; dass aktualisierte Erinnerung den Kern von Psychopathologie darstellen und individuelles Erleben in hohem Ausmaß beeinflussen kann (van der Kolk, 1994). Pierre Janet (1859–1947) war der Erste, der dieses Krankheitsbild und dessen klinische Grundlagen formulierte und systematisch das dissoziatives Verhalten bestimmende traumatische Gedächtnis explorierte. Zahlreiche wichtige Beiträge für das Verständnis dieses Störungsbildes basieren auf seinen präzisen Beobachtungen und genauen Dokumentationen, die er vor dem Hintergrund seines philosophischen, psychiatrischen und psychologischen Hintergrundwissens ausführte (Ellenberger, 2005). Neben grundlegenden klinischen Symptomen formulierte Janet die zustandsabhängigen veränderten Bewusstseinszustände mit der jeweils zugehörigen Erinnerungsform, in denen sich dissoziative Pathologie manifestierte. Dabei stellte er eine eindeutige Verbindung zwischen dissoziativer Psychopathologie und traumatischer Erfahrung (»traumatic memory of an unassimilated event«) her (Janet, 1930, zit. nach van der Kolk, 1994). Aufgrund der Exaktheit seiner Beobachtungen erweisen sich die aus diesem Material gewonnenen Erkenntnisse auch heute noch nützlich für phänomenologische Überlegungen. Auch aktuell wird der Diagnosekomplex der dissoziativen Identitätsstörung in der Fachwelt regelhaft auf das Vorliegen früherer traumatischer Erlebnisse zurückgeführt. »Dissoziation der Persönlichkeit entwickelt sich dann, wenn Kinder oder Erwachsene potentiell traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt sind und ihre integrative Kapazität nicht ausreicht, diese Erfahrungen gänz-
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lich in den Rahmen einer relativ kohärenten Persönlichkeit zu integrieren« (van der Hart, Nijenhuis und Steele, 2005). Van der Hart et al. bezeichnen die strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit gar als »Essenz des Traumas« (van der Hart, Nijenhuis und Steele, 2008, S. 8). Hinzuweisen ist auf den problematischen, weil wenig sorgfältigen Umgang mit dem Traumabegriff. Seine Verwendung und sein Verständnis sollen hier enger gefasst werden gemäß der Definition, dass »Trauma« nicht ein Ereignis als solches bezeichnet, sondern vielmehr die individuelle Antwort eines Menschen auf ein übermäßig belastendes Ereignis darstellt (van der Hart, Nijenhuis und Steele, 2008, S. 10). Eine ein Trauma verursachende Situation, ebenso wie die reaktivierte Erinnerung daran, zeichnet sich letztlich durch eine für das erlebende Selbst außerhalb der Grenzen des Erträglichen liegenden Erfahrung aus, die »mit der Integrität des Ichs unvereinbar« ist (Barwinski, 2007). Ein solchermaßen strengeres Verständnis rechtfertigt die Annahme, dass der psychopathologische Mechanismus der strukturellen Dissoziation mit der Erinnerung an die traumatisierende Situation in unmittelbarem Zusammenhang steht. Für die Betroffenen ist diese Erinnerung im Alltag meist nicht zugänglich, und für das Ereignis besteht eine totale Amnesie – eine Lücke im von Janet so bezeichneten »autobiographischen Gedächtnis«, das er dem »traumatischen Gedächtnis« gegenüberstellte (van der Kolk, 1994). Aus psychologischer Sicht beruht die eingeschränkte Erinnerungsfähigkeit bei der strukturellen Dissoziation im Gegensatz zur Verdrängung nicht auf einem »Abschieben« konflikthafter Gedächtnisinhalte ins Vor- oder Unterbewusste, sondern auf einer Abspaltung der betreffenden Erfahrung mitsamt den einhergehenden starken Affekten (Barwinski, 2007). Die Erinnerung an das traumatische Ereignis tritt meist wiederholt in Form von Intrusionen auf (van der Hart et al., 2008). Sie brechen unvermittelt und häufig ohne Warnung in die Kontinuität der mit dem aktuellen Zeiterleben verbundenen Realitätswahrnehmung ein und werden dabei häufig von intensiven physischen Reaktionen begleitet. Janet sah solche Vorgänge charakterisiert durch eine »Retraktion des Bewusstseinsfeldes und eine Tendenz zu der Dissoziation und Emanzipation des Systems der Ideen und Funktionen, das die Persönlichkeit konstituiert« (Janet, 1889, zit. nach van der Kolk, 1991). Diesen Vorgang verstand er als eine Art Aufspaltung der Persönlichkeit (van der Hart et al., 2008). Entsprechend besagt das moderne Verständnis der strukturellen Dissoziation, dass sie zu einem Verlust der vortraumatischen Persönlichkeitsstruktur bei Erwachsenen sowie zu einer Beeinträchtigung der Entwicklung einer kohärenten Persönlichkeitsstruktur bei Kindern führt (van der Hart et al., 2008). Intrusionen verursachen meist ähnlich bedrohliche Gefühle wie das ursprüngliche traumatisierende Ereignis. Sie können in Form von Körpererinnerungen, traumabezogenen Alpträumen oder Flashbacks auftreten. Ein Flashback wird oft als eine Abfolge zerstückelter Erinnerungsbilder, als
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»festgelegter innerer Film«, beschrieben, der als fixierte, starre Antwort durch verschiedene Reize ausgelöst werden kann (Falk, 2004). Im Hinblick auf die innere Kohärenz menschlichen Erlebens wird nach phänomenologischem Verständnis der Zeitlichkeit eine fundamentale Rolle zugeschrieben. In seiner phänomenologischen Analyse der Zeit untersucht der gemeinhin als Begründer der Phänomenologie geltende Philosoph Edmund Husserl, wie zeitliche Phänomene gegeben sind und wie gegenwärtige, verstreichende Zeit erlebt wird. Des Weiteren wird unsere intuitive Annahme einer objektiven (physikalischen) Zeit untersucht. Dabei wird Zeitlichkeit als eine Bewusstsein konstituierende Dimension angenommen. Husserls Analyse liegt die Beobachtung zugrunde, dass die als gegenwärtig erlebte Zeit immerfort im Fluss ist: Kontinuierlich entsteht ein neues Jetzt, welches im nächsten Moment als »Nicht-mehr« zunächst in eine nähere Vergangenheit des »Eben Gewesen« und dann weiter in immer fernere Vergangenheit herabsinkt. Husserl unterscheidet drei Momente, die die konkrete Lebensgegenwart (bezeichnet als »originäres Zeitfeld«) generieren: Urimpression, Retention und Protention. Das originäre Zeitfeld besteht in einem Jetzt mit einem »Zeithof«: einem lebendigen Horizont des Nicht-mehr und des Noch-nicht in verschiedenen Abstufungen. Fortwährend schiebt sich dieser Horizont nach hinten und nach vorne, indem das neu auftretende Jetzt die früheren Jetzt-Momente in die Vergangenheit schiebt. Das heißt, im Fluss wandelt sich Urimpression in Retention, diese in modifizierte Retention und so weiter. Die Urimpression entspricht dabei einem sich stetig erneuernden – in Husserls Worten – »lebendigen Quellpunkt des Seins« (Husserl, 1969), dessen stetiger Wandel – quasi als Motor der Zeitkonstitution – grundlegende Voraussetzung für Zeitbewusstsein ist. Auf diese Weise stehen Retention, Urimpression und Protention in untrennbarem Zusammenhang und konstituieren in jeder Phase der Wahrnehmung in ihren gegenseitigen Verweisungen die konkrete Lebensgegenwart. Sowohl der Horizont des soeben Gewesenen als auch der des gleich erwarteten Geschehens sind dem Bewusstsein ständig gegeben, wobei sie einem stetigen Wandel unterliegen. Nach phänomenologischem Verständnis gelten sie als wahrgenommen im engsten Sinne. Demnach ist soeben Vergangenes nicht als durch Rekonstruktion Vergegenwärtigtes zu verstehen, sondern als Wahrnehmung von »eben Vergangenem«. Neben einer solcherart als fließend erlebten gegenwärtigen Zeit haben wir auch die Intuition einer objektiven Zeit, einer festen Ordnung von früher und später. Im Zuge seiner Überlegungen, welche Bewusstseinsleistungen dafür ausschlaggebend sind, dass man von subjektiv empfundener »Gegebenheitszeit« wie selbstverständlich zur Annahme einer objektiven Zeitmatrix kom-
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men kann, schreibt Husserl der Wiedererinnerung eine zentrale Rolle zu. Durch die Wiedererinnerung werden »identifizierbare Zeitstellen« in der Gegenwart reproduziert (Zahavi, 2003, 2006). Die Vorstellung einer objektiven Zeit entsteht demnach durch die Fähigkeit des Bewusstseins, sich in immer neuen Erinnerungen auf dasselbe vergangene Ereignis beziehen, immer wieder »identifizierend« darauf zurückkommen zu können und jedem vergangenen Zeitpunkt seine zugehörige Stelle im Bewusstseinsstrom zuzuordnen. Die Erfahrung einer objektiven Zeitordnung ist somit nach Husserl als spezifische Leistung der Wiedererinnerung zu verstehen. Auf der Grundlage dieser zeitphilosophischen Überlegungen entwickelt der zeitgenössische dänische Philosoph Dan Zahavi seine Gedanken zum »präreflexiven Selbstbewusstsein« (prereflective self-awareness). Selbstbewusstsein hat dabei im Sinne des englischen self-awareness eher die Bedeutung einer Wahrnehmung beziehungsweise eines Gewahrseins. Zahavi geht davon aus, dass phänomenales Bewusstsein immer auch eine minimale Form des Gewahrseins einer Person ihrer selbst beinhaltet (Gallagher und Zahavi, 2005). Obgleich wir im Normalfall dazu neigen, Einzelerfahrungen mittels intentionaler Akte aus den im kontinuierlichen Erlebnisstrom ständig wechselnden und ineinander übergehenden Erfahrungen herausgelöst zu betrachten, bleibt der Sinn für die Urheberschaft dieser Erfahrungen konstant und konsistent. Das heißt, es existiert eine tief verwurzelte Überzeugung dafür, dass ich die Person bin, die erlebt. Nur durch einen solchen immanenten Sinn für die Herkunft meines Erlebens bin ich in der Lage, meine Bewusstseinsleistungen als eigene anzunehmen und zu begreifen. Dieser Sinn für die Urheberschaft, der erkennende Zugang eines Subjekts zu seiner eigenen Erfahrung, wird nach Zahavi durch das sogenannte präreflexive Selbstbewusstsein (prereflective self-awareness) konstituiert. Diese Art der Wahrnehmung des eigenen Erlebens unterscheidet sich von intentionaler Wahrnehmung, beispielsweise eines Objekts. Dass ein psychologischer Zustand erfahren wird »und in dem Sinne bewusst ist, heißt nicht und kann nicht heißen dass er das Objekt eines Bewusstseinsaktes ist« (Husserl, zit. nach Gallagher und Zahavi, 2005). Präreflexivem Selbsbewusstsein ist das Erfahrene also nicht als intentionales Objekt, sondern als subjektiv Erfahrenes gegeben, welches auf nicht objektivierbare Art und Weise erlebt wird. Demgegenüber ist reflexives Bewusstsein als objektivierende, explizite und konzeptualisierende Form von Bewusstsein immer nur sekundär möglich. Reflektiere ich in objektivierender Weise eigene Wahrnehmungserlebnisse, erkenne ich diese nur als eigene Erfahrung an, weil ich ihrer zuvor präreflexiv gewahr war, weil eben ich es war, der sie durchlebt hat. Ohne prereflective selfawareness könnte Reflexion also niemals stattfinden (Gallagher und Zahavi, 2005). Phänomenologisch lässt sich so begründen, dass ein mentaler Zustand nicht erst wahrgenommen ist, wenn er objektivierend betrachtet wird.
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Sondern er wird bereits im Moment seiner Konstitution, im Vollzug seines »Gewahrwerdens«, präreflexiv erlebt. Obwohl präreflexives Erleben kontinuierlich stattfindet, neigt man normalerweise dazu, es zugunsten der Objekte intentionaler Wahrnehmung zu ignorieren: Sobald ich etwas betrachte oder reflektiere, erfüllt das Objekt meiner Betrachtung mein Bewusstsein, nicht die Erfahrung meines Betrachtens. Diese Ausführungen verdeutlichen, dass das phänomenologische Selbst im Hinblick auf die Annahme eines stets im Wandel befindlichen Zeithofs nicht als separate, oberhalb des Bewusstseinsstroms angesetzte Einheit zu verstehen ist; sondern präreflexives Selbstbewusstsein ist als eigener – reflexives Bewusstsein bedingender – Existenzmodus zu verstehen. Vor diesem Verständnis gilt es, die Phänomenologie des als Flashback bezeichneten Erinnerungsfragments zu untersuchen. Wie ist seine zeitliche Struktur angelegt, und wirken sich seine spezifischen Inhalte auf das Zeiterleben der betroffenen Person aus? Bei der Abgrenzung von intrusiv auftretender traumatischer Erinnerung von autobiographischer Erinnerung sind einige Charakteristika der Ersteren hervorzuheben. Typischerweise kann die ursprüngliche Handlungsfolge traumatisierender Ereignisse weder verbal noch sozial mitgeteilt werden: Traumatische Erinnerungen sind eher als affektive Erlebnisse, denn als »Geschichten« zu verstehen (van der Hart et al., 2008, S. 62). Die Tatsache, dass der Mensch sich und seine Erfahrung in erzählten Geschichten organisiert, wird durch das Konzept der »narrativen Identität« ausgedrückt. Es beinhaltet eine Dynamik, die durch Kausalität und Sequentialität gestützt wird und somit gut mit dem Konzept der Husserl’schen Wiedererinnerung vereinbar ist: der individuellen Fähigkeit, »identifizierend« auf Zeitpunkte und Zeitstrecken zurückzukommen. Auch bei der narrativen Identität unterliegt die Erfahrung einer selbstbestimmten zeitlichen Integration. Die Fähigkeit der narrativen Identitätsstiftung ist bei der strukturellen Dissoziation gestört. Die Bildung eines das traumatische Erlebnis beinhaltenden Narrativs ist für den Betroffenen sowohl während des Ablaufs der intrusiven Erinnerung als auch im Alltag unmöglich. Die nach Husserl auf Wiedererinnerung basierende Konstituierung einer objektiven Zeitordnung sowie die Integration der traumatischen Erinnerung in den Gesamtkontext seiner Erfahrung sind ihm nicht möglich. Präsent sind die Erinnerungsinhalte lediglich während ihres Ablaufs in Form von Intrusionen. Das Eintreten eines Flashbacks, als Beispiel für eine solche Intrusion, verursacht einen Bruch im Bewusstseinsstrom und somit dessen intentionaler Gerichtetheit. Dies bewirkt letztlich die Zerstörung der zeitlichen Struktur des die Urimpression umgebenden Zeithofes. Im Augenblick des hereinbrechenden Flashback ist weder ein retentionaler noch ein protentionaler Bezug auf die zuvor das Jetzt bestimmenden Bewusstseinsinhalte möglich. Das aktuelle
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Jetzt-Moment ist stattdessen durch reaktiviertes, »überreales« traumatisches Erleben bestimmt: »Während der Zeit der ablaufenden Erinnerung scheint [. . . ] das Individuum [. . . ] nicht immer Zugang zu den Fertigkeiten und dem Faktenwissen zu haben, die ihm sonst zur Verfügung stehen« (zit. nach van der Hart et al., 2008). Die Tatsache, dass der Erlebende von der Realität außerhalb des Flashbacks schlagartig abgeschnitten ist, geht offensichtlich mit einem Außer-Kraft-Setzen von Retentions- und Protentionsleistungen einher. Selbstverständlich kann auch unter normalen Umständen eine Unterbrechung des intentionalen Bewusstseinsstroms verursacht werden, beispielsweise durch ein unerwartet in den individuellen Erlebnisstrom einbrechendes Ereignis wie etwa ein lauter Knall (Fuchs, 2005). Ein solches Ereignis hat allerdings keine Triggerfunktion, im Gegensatz zum traumatischen Erinnern bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder der Dissoziativen Identitätsstörung. Das Eintreten eines Flashbacks geht in der Regel mit dem als »Dissoziation« bezeichneten psychischen Vorgang einer. Rein äußerlich betrachtet, befindet sich der Betroffene währenddessen meist in einem wie erstarrten Zustand. Auch dessen inneres Erleben wird als eine Art »innerer Gelähmtheit« geschildert. Von phänomenologischem Interesse ist in diesem Zusammenhang die potentielle Möglichkeit intentionaler Akte nach der Unterbrechung des Bewusstseinsstroms und der damit verbundenen Intentionalität durch das Flashbackereignis. Viele Patienten berichten, dass ihnen während des traumatischen Erinnerns das Unvermögen ihrer Einflussnahme auf das Wiedererlebte bewusst sei und der Wunsch bestehe, »dass es aufhört«. Ein Wunsch aber ist, ganz im Gegensatz zu ungerichteten Gefühlen wie diffuser Angst oder Entsetzen, als intentionale Handlung definiert (Searle, 1991, S. 18). Demnach wäre dem Ich neben einem gewissen basalen Bewusstsein bei aller Einschränkung auch eine Fähigkeit zum Vollzug intentionaler Akte erhalten, welche in einer gewissen Distanz zu den reaktivierten Erlebnisinhalten stehen. Darüber hinaus beinhaltet die Selbstwahrnehmung neben einem Gefühl von Ohnmacht auch einen außerhalb der traumatischen Erinnerung existierenden SelbstSinn. Dieser ist gut mit dem Begriff des prereflective self-awareness, verstanden als eine Art erkennender Zugang des Subjekts zu seiner Erfahrung, vereinbar. So verstanden, kann die strukturelle Dissoziation letztlich als Kluft zwischen präreflexivem und reflexivem Selbstbewusstsein verstanden werden. Das Unvermögen der Betroffenen, traumatische Erinnerungsinhalte eines Flashbacks objektivierend zu betrachten und sie im Sinne eines Narrativs zum Gegenstand selbst erzählter Geschichten zu machen, entspricht einem gestörten retentionalen Bezug auf präreflexiv Erlebtes. Dem entsprechend kann auch das häufig von Traumatisierten beschriebene Fremdheitsgefühl, das fehlende Gefühl dafür, die Person zu sein, die das schlimme Ereignis erlebte, als symp-
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tomatisches Missverhältnis zwischen reflexivem und präreflexivem Selbstbewusstsein aufgefasst werden. Reinszenierungen traumatisierender Ereignisse sind nicht als Reproduktionen, sondern als Repräsentationen derartiger Ereignisse zu verstehen (van der Hart et al., 2008, S. 61). So gibt es Belege dafür, dass einige ein traumatisches Ereignis erinnernde Patienten ihr Verhalten den aktuellen situativen Umständen anpassen können. Dies zeigt etwa die Beschreibung einer Traumatisierten, die in einer Therapiesitzung während des Wiedererlebens einer traumatischen Erinnerung ihre Körperposition ihrem Stuhl anpasst und – in ein Kampfverhalten verfallend – nicht auf den Therapeuten, sondern auf ein Kissen einschlägt (van der Hart et al., 2008, S. 62). Die reaktualisierte Situation stimmt also nicht hundertprozentig mit der ursprünglichen Belastungssituation überein – ein Unterschied besteht schon allein im Wiederholungscharakter der reinszenierten traumatischen Situation gegenüber dem Ursprungsereignis. Wie real die Intrusion auch empfunden sein mag – die Tatsache, dass es sich bei der Erinnerung um eine reinszenierte, wiederholte Situation handelt, unterscheidet sie vom realen Ereignis. Aus phänomenologischer Sicht ist dies von grundlegender Bedeutung, da das Erleben der von Flashbacks Betroffenen durch diesen Reinszenierungscharakter grundlegend mitbestimmt wird. Es ist anzunehmen, dass Letzterer zudem den subjektiven Eindruck einer Unauflösbarkeit der traumatischen Situation fördert und so den spezifischen Leidenscharakter der Dissoziativen Identitätsstörung mitbestimmt. Ein weiteres spezifisches Charakteristikum ist die zeitliche Gerichtetheit innerhalb des Flashbackerlebens. Ein normalerweise durch das Moment der Protention vermitteltes Gefühl von Absehbarkeit der näheren Zukunft fehlt beim Flashback. Während seines Ablaufs ist der Betroffene dem traumatischen Erinnerungsfragment weitgehend ausgeliefert, ein Ende der Situation ist nicht absehbar. Das heißt, obgleich die in Flashbacks repräsentierten Erlebnisinhalte in unveränderlicher starrer Abfolge – gleichsam im Ganzen eingefroren – wiederholt erfahren werden, besteht keine Übersicht über ihren Anfang und ihr Ende. Das fehlende innere Maß für einen Abschluss der traumatischen Inhalte, die Unerreichbarkeit einer Erlösung, zeichnet sich auch außerhalb des Erinnerns im Alltag ab. Die unterschwellige Überzeugung der Betroffenen, dass das traumatisierende Ereignis nach wie vor eine Gefahr für das Ich darstellt, ist allgegenwärtig. Im Alltag, also während der für das Ereignis amnestischen Phasen, lässt sich diese Überzeugung als Vermeidungsverhalten, einem Umgehen von die Erinnerung triggernden Situationen beobachten. Der traumatische Erlebnisinhalt hat für den Betroffenen sowohl in der Zukunft als auch in der stets einzubrechen drohenden Gegenwart unüberwindbare Wirklichkeit – als gäbe es hierfür keinen Abschluss (van der Hart et al., 2008, S. 62). Da das eingekapselte Erinnerungsfragment keinen reflexiven Zugang er-
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laubt beziehungsweise weil der Übergang von präreflexivem zu reflexivem Erleben gestört ist, bleibt es aus dem Realitätserleben herausgelöst. Folglich existiert es als reaktualisierbares Ereignis, das seinen Gegenwarts- beziehungsweise Aktualitätscharakter unveränderlich beibehält. Es bleibt als stets potentiell aktualisierbares Zeitfragment bestehen, das sich aufgrund seiner inneren Struktur dem bewussten Zugang des Betroffenen entzieht. So lässt sich die Zeitstruktur des Flashbacks abschließend als eine zyklische Struktur verstehen, die ein Gefühl von persistierender Kontinuität in der Zeit konstituiert. Die intrusiv auftretenden traumatischen Erinnerungsfragmente machen den Betroffenen zum Gefangenen eines für ihn nach wie vor immer wieder präsenten, weil nicht überwundenen Ereignisses, indem sie nicht nur den normalen Zeitfluss unterbrechen, sondern auch zu einer Beeinträchtigung von Zeitbewusstsein und Bewusstseinskonstitution führen. Der zeitlichen Struktur von den als pathogene Kerne wirkenden Erinnerungsfragmenten kommt bei posttraumatischen Störungen, insbesondere im Hinblick auf die pathologische Entwicklung im Sinne einer Zerstörung des Kohärenzgefühls der Persönlichkeit, eine tragende Bedeutung zu.
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Ich oder wir? Trauma, Dissoziation und Identitätserleben Frauke Rodewald und Claudia Wilhelm-Gößling
Bei der Frage, was einen Menschen ausmacht, fallen unweigerlich Begriffe wie Persönlichkeit oder Identitätserleben. Identitätserleben beschreibt, wie und als wen sich eine Person erlebt. Nach Frey und Hauser (1987) können dabei drei Themenfelder unterschieden werden: zum einen die persönliche, individuelle oder subjektive Identität, die sich als selbstreflexiver Prozess aus der Innenperspektive heraus entwickelt, dann die soziale oder öffentliche Identität, die dem Individuum in einem sozialen System von außen zugeschrieben wird, und schließlich die überindividuelle Identität, die als Kennzeichen von sozialen Systemen, Gruppen, Schichten, Kulturen oder Nationen gilt. Die eigene Identität ist nicht angeboren, sondern sie wird entwickelt, man könnte sogar sagen, sie muss erarbeitet werden. Moderne Theorien gehen davon aus, dass dabei ein System multipler Unter-Identitäten aufgebaut wird, zum Beispiel als Frau, Mutter, Freundin und Professorin oder als Mann, Handwerker, Vater, Europäer . . . , deren Anpassung und Veränderung ein lebenslanger Prozess ist (Keupp et al., 1999). Die Teilidentitäten oder auch verschiedenen Rollen sind dem übergeordneten Identitätsgefühl, einem aktiven, inneren Regulationsprinzip, untergeordnet. Was passiert jedoch, wenn die Identitätsentwicklung durch ungünstige Entwicklungsbedingungen oder Extrembelastungen gestört wird, wenn sich also kein Gefühl für eine Gesamtidentität entwickeln kann? Im klinischen Kontext zeigt sich dieses Problem am auffälligsten bei Menschen, die wiederholte schwere Traumatisierungen erlebt haben und als Folge davon komplexe posttraumatische oder dissoziative Störungen entwickelt haben. Die schwerste Form dieser Störungen ist die dissoziative Identitätsstörung, die durch ein Nebeneinander mehrerer (subjektiv) autonomer Persönlichkeits- oder Selbstanteile gekennzeichnet ist. Dissoziation und dissoziative Identitätsaufspaltung sind in der Wissenschaft lang bekannte Phänomene. Dissoziation ist heute in der modernen Traumaforschung vor allem mit dem Konzept von Janet (1889, siehe auch van der Hart und Rutger, 1989) verbunden, der Dissoziation als einen automatischen Prozess verstand. Er ging davon aus, dass die Verarbeitungskapazität des Gehirns beispielsweise durch überwältigende Emotionen überschritten wird. Es könne nur jeweils eine bestimmte Menge von Informationen bewusst wahrgenommen werden. Eine vollständige Integration aller Informationen sei im Fall einer Reizüberflutung daher nicht möglich.
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Komplexe Dissoziative Störungen werden heute als Folgen von schweren Traumatisierungen angesehen (Steele, van der Hart und Nijenhuis, 2004). Trauma meint im klinisch-wissenschaftlichen Kontext ein außergewöhnliches und katastrophales Ereignis, das eine Bedrohung des eigenen Lebens, der eigenen körperlichen Integrität oder der eines anderen darstellt und mit Gefühlen intensiver Todesangst, Ohnmacht und Hilflosigkeit einhergeht (Dilling, Mombour und Schmidt, 1993). Dabei sind nach Terr (1991) Typ-I-Traumata einzelne, plötzliche und unerwartete Ereignisse wie ein schwerer Verkehrsunfall (apersonal), ein Raubüberfall oder eine Vergewaltigung (personal). TypII-Traumata halten dagegen länger an und/oder wiederholen sich, manchmal auch nach einem vorhersehbaren Schema. Ein aktuelles Beispiel für ein TypII-Trauma im personalen Nahbereich ist das fast unbeschreibliche Drama im österreichischen Amstetten, in dem der Vater eine seiner Töchter 24 Jahre in ein Kellerverlies einsperrte, regelmäßig vergewaltigte und sieben Kinder mit ihr zeugte. Beispiele für Typ-II-Traumata im politisch-gesellschaftlichen Bereich sind Kriegstraumatisierungen, Entführungen und Konzentrationslagerhaft. Ein Typ-I-Trauma, auch Mono-Trauma genannt, kann eine einfache, ein Typ-II-Trauma, auch Komplextrauma genannt, eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (Herman, 1992) oder eine komplexe Dissoziative Störung nach sich ziehen.
14.1 Das neurobiologische Stressverarbeitungsmodell Komplexe dissoziative Phänomene können auch als Störung der Nicht-Bewusstwerdung – was letztlich Nicht-Versprachlichung bedeutet – aufgefasst werden (van der Hart, Steele, Boon und Brown, 1995). Die traumatischen Ereignisse, die den genannten Störungen in aller Regel zugrunde liegen, haben auf bewusster Ebene scheinbar gar nicht stattgefunden. Sie können weder zusammenhängend erzählt werden noch können die darin enthaltenen Ängste und Affekte bewusst mit dem Erlebten und mit der eigenen Person in Verbindung gebracht werden (van der Hart et al., 1995). Ganz allgemein reagiert der Körper auf ein traumatisches Ereignis mit einer extremen Stressreaktion. Blutdruck sowie Herz- und Atemfrequenz steigen an, der Muskeltonus erhöht sich und die Empfindlichkeit auf Schmerzreize verringert sich; in Bedrohungssituationen sind dies biologisch sinnvolle Veränderungen. Vermittelt werden diese vielfältigen vegetativen Reaktionen über eine vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen insbesondere von Kortison, Adrenalin und Endorphinen. Im Gehirn hat dies unter anderem zur Folge, dass der frontale und präfrontale Cortex, der vor allem für Verstandesfunktionen, Gedächtnis und Sprache zuständig ist, eine geringere Aktivität
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aufweist, gleichbedeutend mit gedrosselter Blutzufuhr. Gleichzeitig kommt es in tieferen Hirnschichten wie dem am Rande des Neocortex lokalisierten Limbischen System zu höherer Aktivität. Innerhalb dieser Schaltzentrale, die Thalamus und Hypothalamus verknüpft und über die mesocorticolimbische Bahn Verbindungen zum Cortex herstellt, kann der Mandelkern (Amygdala) als anatomisches und funktionales Steuerungszentrum angesehen werden. Weitere Strukturen dieser Funktionseinheit sind Fornix, Gyrus cinguli sowie der Hippocampus, der vor allem für bewusstseinsfähige Gedächtnisfunktionen und Kategorisierungen bedeutsam ist (vgl. Abbildung 14.1). Eine stressbedingte höhere Durchblutung dieser Hirnregion bewirkt unter anderem, dass rationale Entscheidungsfindungen mehr oder weniger unterbunden werden und Reaktionen sehr schnell, zum Teil automatisch ablaufen. Die Abbildung 14.2 stellt vereinfachend dar, dass neuronale Vernetzungen zwischen dem Mandelkern, in dem eingehende Sinnesreize mit Affekten gekoppelt werden, und dem Hippocampus sowie dem für Sprache und Symbolisierung zuständigen orbito- und parietofrontalen Cortex bei Reizüberflutung mehr oder weniger komplett unterbrochen werden. Große Teile der Nachrichten werden dadurch erst gar nicht an das explizite Gedächtnis weitergeleitet und Reaktionen werden fast ausschließlich vom impliziten, prozeduralen Gedächtnis gesteuert. Ähnlich hatte dies bereits Janet (1889) konzeptualisiert. Diese
Abbildung 14.1: Medianansicht des menschlichen Gehirns mit den wichtigsten limbischen Zentren. Diese Zentren sind Orte der Entstehung von Gefühlen (Nucleus accumbens, ventrales tegmentales Areal, Amygdala), der Gedächtnisorganisation (Hippocampus), der Aufmerksamkeits- und Bewusstseinssteuerung (basales Vorderhirn, Locus coeruleus, Thalamus) und der vegetativen Funktionen (Hypothalamus) (aus Roth, 2001, nach Spektrum/Scientific American, 1994, verändert).
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Modellvorstellungen werden unter anderem von aktuellen Untersuchungen bestätigt. Ehling, Nijenhuis und Krikke (2004) zeigten, dass das Volumen des Hippocampus bei Patientinnen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung und frühkindlichem Typ-II-Trauma geringer war als bei gesunden Kontrollpersonen. Zusätzlich wiesen Patientinnen, deren Dissoziative Identitätsstörung als geheilt betrachtet werden konnte, im Vergleich mit solchen, die noch nicht geheilt waren, ein größeres hippocampales Volumen auf. Andere Untersuchungen fanden bei Menschen mit Dissoziativer Identitätsstörung spezifische Aktivierungsmuster im Gehirn (Reinders et al., 2003). Eine spätere Studie (Reinders et al., 2008) bestätigte die Spezifität und Stabilität dieser hirnphysiologischen Auffälligkeiten. Die Aktivierungsmuster konnten von Schauspielern oder sehr suggestiblen Menschen auch nach langer Übung nicht erzeugt werden. Die beschriebenen biologischen Reaktionen sind sinnvoll, um als vordringliches Ziel das Überleben zu sichern, und bereiten eine Kampfhandlung oder eine Flucht vor. Gelingt dies, bleibt in der Erinnerung ein belastendes Lebensereignis zurück, welches in aller Regel in Worte gefasst werden und Erfahrungs- und Kompetenzzuwachs ermöglichen kann. Wenn allerdings in der Bedrohungssituation keine (Auf-)Lösung möglich ist, der Stresszustand somit persistiert, kommt es irgendwann zu einer Er-
Abbildung 14.2: Dissoziationsmodell: Die über die Sinneskanäle eingehenden Informationen werden bei einer Reizüberflutung nicht wie üblicherweise im Hippocampus und frontalen Cortex weiterverarbeitet. Sie können somit nicht in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden.
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schöpfung der biologischen Funktionen, die quasi von einer Über- in eine Untererregung kippen. Physiologisch erniedrigen sich hierbei der Blutdruck sowie die Herz- und Atemfrequenz und es erfolgt eine Absenkung des Muskeltonus. Der eigene Körper kann verändert, weniger vital und sogar wie eine andere, fremde Person – depersonalisiert – erlebt werden. Daneben kann sich ein Zustand der Erstarrung einstellen, im Tierreich ist dies zum Beispiel als Totstellreflex bekannt. Ebenso kann eine Unterwerfung dem Angreifer gegenüber erfolgen, was im Tierreich beim überlegenen Tier häufig eine Beendigung der Kampfhandlungen bewirkt. Dissoziation kann also als ein übergeordneter Anpassungsversuch verstanden werden, der einerseits die Funktionen des Alltags stützt und sichert und andererseits auch zu Krankheitssymptomen und Interferenzen im Alltagsleben führt. Wird ein katastrophales Ereignis nicht durch Kampf oder Flucht beendet oder nachträglich verarbeitet, so besteht ein hohes Risiko, eine posttraumatische Störung zu entwickeln. Bei äußerer Sicherheit kann durch schützende, erklärende, tröstende Interaktionen und durch Verträumen auch eine nachträgliche Verarbeitung des Erlebten vollzogen werden. Gelingt dies jedoch nicht, entsteht kein zusammenhängendes Narrativ im Sinne von »Das ist mir passiert. Das war einmal und ist heute vorbei«.
14.2 Das Modell der strukturellen Dissoziation Im Folgenden werden die eingangs genannten Störungsbilder am Modell der strukturellen Dissoziation näher erläutert. Dieses Modell wurde erstmals von dem britischen Militärpsychologen Charles Myers (1940) formuliert und später von der Amsterdamer Forschergruppe um Onno van der Hart und Ellert Nijenhuis (2004) aufgegriffen. Myers beschrieb schon damals detailliert, wie sich die Persönlichkeit der Soldaten durch die Kriegstraumatisierungen in eine »scheinbar normale Persönlichkeit« und eine »emotionale Persönlichkeit« aufspaltet. In dem modernen Modell der strukturellen Dissoziation (Steele et al., 2004) würde man eine solche Persönlichkeitsspaltung, als Primäre Dissoziation beschreiben (vgl. Abbildung 14.3–14.5 nach Steele et al., 2004). Der Emotionale Persönlichkeitsanteil beinhaltet die traumatische Erinnerung mit den zugehörigen Affekten und Sinneseindrücken und ist von dem weitgehend unbeeinträchtigten anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil abgekapselt. Die traumatischen Erinnerungen sind damit bewusstseinsfern und der Mensch kann seinen Alltag (nahezu) unauffällig aufrechterhalten. Er sichert damit quasi das Überleben der Art. Der Emotionale Persönlichkeitsanteil kann jedoch durch einen inneren oder äußeren Auslösereiz aktiviert werden, was sich klinisch beispielsweise in Form einer Panikattacke oder eines Flashbacks (eine derart intensive Erinnerung an die traumatische Situation, dass die Be-
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troffenen fast das Gefühl haben, diese erneut zu durchleben) zeigen kann (s. Abb 14.3). Wenn die Aufspaltung in einen emotionalen und einen anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil nicht ausreicht, um die Alltagsbewältigung zu ermöglichen, kann es zu weiteren Aufspaltungen kommen. Dies ist häufig nach sehr schweren beziehungsweise nach wiederholten Traumatisierungen (TypII-Trauma) der Fall. Diese Art der Persönlichkeitsorganisation würde man nach dem Modell der strukturellen Dissoziation als sekundäre oder tertiäre Dissoziation (vgl. Abbildung 14.4 und 14.5) bezeichnen. Die sekundäre Dissoziation entspricht klinisch beispielsweise einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (Herman, 1992). Aufgrund länger anhaltender oder sich wiederholender traumatischer Erlebnisse sind hier mehrere voneinander unterscheidbare emotionale Persönlichkeitsanteile notwendig, um den anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil gegenüber traumatischen Erinnerungen zu schützen. Sind die emotionalen Persönlichkeitsanteile stärker ausdifferenziert, bezeichnen einige Autoren diese Persönlichkeitsorganisation als EgoState-Disorder (Huber, 2003). In den Diagnose-Manualen entspräche dies der nicht näher bezeichneten komplexen Dissoziativen Störung. Die Emotionalen Persönlichkeitsanteile weisen jeweils bestimmte Handlungs- beziehungsweise Reaktionstendenzen auf, die auf biologische Aktionssysteme wie Kampf, Flucht, Erstarrung oder Unterwerfung zurückgeführt werden können. Die tertiäre Dissoziation (Abbildung 14.5) entspricht klinisch einer Dis-
Abbildung 14.3: Primäre strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit (in Anlehnung an Steele, van der Hart und Nijenhuis, 2004, in Eckhardt-Henn und Hoffmann, 2004, Dissoziative Bewusstseinsstörungen, S. 359).
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soziativen Identitätsstörung, früher Multiple Persönlichkeitsstörung genannt. Solche noch weitreichenderen Spaltungen der Persönlichkeit entstehen vor allem dann, wenn die wiederholten Traumatisierungen besonders schwer waren, schon sehr früh im Leben einsetzten und kaum kompensatorische, schützende und unterstützende Einflüsse vorhanden waren. In diesen Fällen wird während der kindlichen Entwicklung ein zusammenhängendes Identitätsgefühl gar nicht erst entwickelt, denn dissoziative Phänomene werden erst im Verlauf der kindlichen Entwicklung aktiv in Richtung Assoziation und Integration überwunden. Erlebt ein Kind durch dissoziative Mechanismen eine Schmerz- und Spannungsreduktion, so werden diese Mechanismen begünstigt, und es wird ein dissoziatives Bewältigungsmuster etabliert und eingeübt. Es bildet sich eine dissoziative Persönlichkeitsorganisation, die neben emotionalen Persönlichkeitszuständen zusätzlich mehrere voneinander getrennte anscheinend normale Persönlichkeitsanteile enthält, mit jeweils verschiedenen Funktionen im Alltag. Die Trennungslinien verlaufen wiederum entlang biologischer Aktionssysteme wie Geselligkeit und Bindung, Versorgung anderer oder Arbeit. Diese pathologische Ich-Aufspaltung geht über ein Rollenverhalten, das übergeordnet als zur eigenen Identität zugehörig empfunden wird, weit hinaus. Wie kann nun die gesunde Vielfalt des Ich mit seinen Ego-States gegenüber der pathologischen Fragmentierung komplexer posttraumatischer und dissoziativer Störungen genauer abgegrenzt werden? Zum einen kommen, anders als bei den auch normalerweise vorhandenen Ego-States, bei komplexen
Abbildung 14.4: Sekundäre strukturelle Dissoziation (in Anlehnung an Steele, van der Hart und Nijenhuis, 2004, in Eckhardt-Henn und Hoffmann, 2004, Dissoziative Bewusstseinsstörungen, S. 359).
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posttraumatischen und dissoziativen Störungen (sekundäre bzw. tertiäre Dissoziation) meist auch destruktive Persönlichkeitsanteile vor, die sowohl die therapeutische Arbeit und Beziehungsgestaltung an sich erschweren als auch selbstzerstörerisches Potential beinhalten. Diese Anteile zeigen sich häufig in offenem, seltener in versteckten Selbstverletzungen und werden im Dialog zunächst meist nicht verbalisiert. Wie können die klinisch augenfälligen autoaggressiven oder fremdaggressiven Verhaltensweisen, die im therapeutischen Kontext als Täterintrojekte bezeichnet werden, verstanden werden? Schon Winnicott (1967) nahm an, dass ein Kind, dessen innerer Zustand von seinen Bezugspersonen nicht gespiegelt wird, den aktuellen Zustand der Bezugsperson verinnerlicht und dieser so zu einem Teil seiner Selbststruktur wird. Noch früher beschrieb Ferenczi (1933/1982) die Introjektdynamik traumatisierter Menschen. Hirsch (1995) bezog sich auf diese Arbeit und beschrieb daran anknüpfend diese Introjekte, die mit schweren Schuldgefühlen einhergehen würden, nonverbal an nachfolgende Generationen übermittelt und sich auch, ohne darüber zu sprechen, auf andere auswirken. Letzteres wird als transgenerative Weitergabe des Traumas bezeichnet. Diese klinisch bekannten Phänomene werden heute durch neurobiologische Forschungsergebnisse zum Teil eindrucksvoll bestätigt. Beispielsweise lieferte Bauer in seinem 2005 erschienen Buch »Warum ich fühle, was du fühlst – Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone« plastische und gut verständliche Erklärungsansätze: Andere Menschen rufen, sobald sie in unseren Wahrnehmungshorizont treten, in unserem Gehirn eine
Abbildung 14.5: Tertiäre strukturelle Dissoziation (in Anlehnung an Steele, van der Hart und Nijenhuis, 2004, in Eckhardt-Henn und Hoffmann, 2004, Dissoziative Bewusstseinsstörungen, S. 359).
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Aktivierung beziehungsweise eine Resonanz im Sinne einer Spiegelung hervor. Eine solche Resonanz betrifft dieselben Nervenzellen, die auch aktiv werden würden, wenn wir selbst das täten, was wir bei einem anderen Menschen beobachten. Im dem Kapitel »Dein Bild in mir, mein Bild in dir – Spiegelung und Identität« heißt es: »Bei Personen, die fest zu unserer sozialen Welt gehören oder mit denen wir das Leben ein Stück weit teilen, bleibt es nicht dabei, dass wir in Momenten der Begegnung spüren, was in ihnen vorgeht. Das Resonanzmuster, das Nahestehende in uns hervorrufen, wird innerhalb kurzer Zeit zu einer festen Installation. Es entsteht eine dynamische innere Abbildung dieses Menschen, komponiert aus seinen lebendigen Eigenschaften: seinen Vorstellungen, Empfindungen, Körpergefühlen, Sehnsüchten und Emotionen. Über eine solche innere Repräsentation einer nahestehenden Person zu verfügen heißt, so etwas wie einen weiteren Menschen in sich zu haben« (Bauer, 2005, S. 86). Vor diesem Hintergrund lässt sich leicht vorstellen, was es für ein Kind bedeutet, wenn von einem Elternteil, anderen nahestehenden Menschen oder sogar von einer ganzen Gruppe physische und/oder sexuelle Gewalt ausgeübt wird. Die neurobiologisch nachweisbaren Spiegelneurone bieten ein Erklärungsmodell dafür, wie beispielsweise bei Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung täterloyale oder täteridentifizierte Selbst-Zustände entstehen, die ähnlich wie die Täter agieren, was den Betroffenen meist lange nicht bewusst ist. Diese Anteile können entweder nach außen oder auch nach innen gerichtet durch destruktives Verhalten aktiv werden und bilden einen Teil der Symptome und Verhaltensweisen, mit denen diese Menschen klinisch in Erscheinung treten. Gleichzeitig kommt hierin das biologisch determinierte Bedürfnis nach Bindung zum Ausdruck; wodurch auch verständlich wird, warum die Opfer manchmal die Ziele der Täter übernehmen oder sich sogar in die Täter verlieben. Zum anderen kommen bei der pathologischen Ich-Fragmentierung zwischen den einzelnen Selbstzuständen generell recht starre Barrieren zwischen den verschiedenen Selbstzuständen vor, ohne dass eine assoziative Selbstzuschreibung erfolgt. Bestimmte Fähigkeiten oder Begebenheiten können demzufolge im eigenen biographischen Erleben völlig fehlen. Die Fähigkeit, Ereignisse mit der eigenen Person und Geschichte in Beziehung zu setzten, sie also zu personalisieren, wird als Identitäts-Kohärenz bezeichnet, sie in ein eigenes Zeiterleben einordnen zu können, als Identitäts-Kontinuität. Diese Ich-Kompetenzen werden mit Hilfe eines auf die jeweiligen kindlichen Bedürfnisse abgestimmten Dialoges erworben. Dieser wechselseitige Austausch vermag die Ereignisse in Bezug auf Raum, Zeit und Bedeutung zu vermitteln. Wichtig ist hierbei ein mittleres Erregungs- und Aufmerksamkeitsniveau. Halten sich Ähnlichkeiten und Unterschiede in etwa die Waage, so können die neuen Erlebnisse in den bisherigen Erfahrungshorizont integriert werden.
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Gleichzeitig besteht damit die Möglichkeit, Erwartungen auszubilden und für das Identitätsgefühl wesentliche Fähigkeiten wie Selbstkontrolle und Kontingenz zu erwerben. Eine gelungene Identitätsarbeit ist dabei keinesfalls das Ausschalten aller Widersprüchlichkeiten, sondern besteht gerade darin, ein akzeptables Spannungsverhältnis zu schaffen, Ambivalenztoleranz zu erlangen. Chronischer Stress und wiederholte Traumatisierungen hingegen führen zu Über- oder Untererregungszuständen und behindern schon allein dadurch eine gesunde Identitätsentwicklung. Die eigene Identität wird also erarbeitet. Glückt eine solche Identitätsentwicklung, kann sich ein Mensch als Persönlichkeit begreifen mit einem authentischen Kern beziehungsweise einem Selbst, aus dem er schöpft und von dem er sich leiten lässt. Identitätsentwicklung bedeutet somit der Aufbau multipler Identitäten, deren Anpassung und Veränderung ein lebenslanger Prozess ist (Keupp et al., 1999) und ständige Verknüpfungsarbeit von Lebenswelt, Zeit und Inhalt erfordert. Wie oben dargestellt, baut ein Individuum durch die Reflexion situationaler Selbsterfahrungen und deren Integration mehrere sich überschneidende Teilidentitäten auf. Die einzelnen Teilidentitäten sind oft mit eigenen Handlungs- oder Erlebenstendenzen verbunden, sind jedoch einem übergeordneten Gesamt-Identitätsgefühl, einem aktiven, inneren Regulationsprinzip, untergeordnet. Je nach Situation steht der eine oder andere Identitätsaspekt mehr im Vordergrund und andere treten mehr in den Hintergrund, es ist jedoch immer ein Bewusstsein für die Gesamt-Identität vorhanden. Bei einer pathologischen Ich-Aufsplitterung sind die Wechsel zwischen den Teilidentitäten nicht oder kaum bewusst kontrollierbar. Sie werden als voneinander unabhängig, zum Teil als fremd erlebt und häufig weiß buchstäblich die eine Hand nicht, was die andere tut. Diese dissoziativen Barrieren waren ursprünglich zum Schutz des Überlebens erforderlich und sind in der Regel auch später noch notwendig, um eine gewisse Funktionalität zu erhalten und nicht von traumatischen Gefühlen überflutet zu werden. Während eine dieser Teilidentitäten im Vordergrund steht und in Kontakt mit der Umwelt tritt, werden die anderen Teilidentitäten so weit nach hinten gedrängt, dass zwischen den verschiedenen Anteilen Erinnerungslücken für diese Zeitspanne auftreten. Das Kriterium der Kontingenz und der Kontinuität fehlt also. Wie eingangs beschrieben kann sich, im Sinne der überindividuellen Identität, auch unter normalen Bedingungen ein Wir-Gefühl ausbilden. Es unterscheidet sich jedoch erheblich von dem Wir-Gefühl, welches Menschen mit einer pathologischen Ich-Fragmentierung zum Teil entwickelt haben. Dieses »Wir«, welches Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung zuweilen in ihren Sprachgebrauch eingebaut haben, bezeichnet meist unterschiedliche Selbst-Zustände, die aus der Innenperspektive wahrgenommen werden. »Wir« wird dann oft in Abgrenzung von »Ich« benutzt, wenn nicht nur ein Selbst-
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zustand, sondern verschiedene Anteile beziehungsweise das Gesamtsystem einen Standpunkt, eine Meinung oder einen Plan unterstützen. Diese Sprachregelung wird häufig erst dann eingesetzt, wenn bereits – beispielsweise im Rahmen eines Therapieprozesses – die unterschiedlichen Selbstzustände voneinander wissen, somit ein gewisses Maß an Ko-Bewusstsein und eine Akzeptanz der dissoziativen Identität vorhanden ist. Damit wäre selbstreflexiv aus der Innenperspektive heraus eine neue, gemeinsame persönliche Identität erarbeitet worden, die sich im Idealfall bis zu einer vollständig integrierten Gesamt-Identität entwickeln kann. In einem geschützten (therapeutischen) Raum wäre in diesem Fall mit Hilfe einer dialogischen Vermittlung nachträglich die Einordnung im eigenen Zeit-, Raum- und Bedeutungserleben ermöglicht worden.
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Ich oder wir? Die Versprachlichung komplexer dissoziativer Phänomene Claudia Wilhelm-Gößling
A word is dead when it is said, some say. I say it just begins to live that day. Emily Dickinson, ca. 1872
Dissoziation und dissoziative Identitätsaufspaltung sind nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Literatur lang bekannte Phänomene. Nachdem im vorangegangenen Beitrag wissenschaftliche Aspekte zu Trauma, Dissoziation und Identität dargelegt wurden, widmet sich dieser Beitrag dem lyrischen Ich und romanhaften Identitäten mit ihrer Multiplizität. Worüber man nicht sprechen kann, darüber kann man Kunst machen – Bilder, Skulpturen, Bewegungen, Tanz, Theater, Musik und die Kunst der Versprachlichung in Gedichten und Romanen. »Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.« Diese Äußerung Nietzsches (1980) ließe sich auch in dem Sinne verstehen, dass der künstlerische Ausdruck die Wucht der Erinnerung an traumatische Erfahrungen abzumildern vermag. Sprachkünstler haben oft die Fähigkeit, besondere Eigenarten und damit auch dissoziative Möglichkeiten von Menschen zu erspüren, diese intuitiv zu erfassen und metaphorisch einzufangen. Anders als die biologische Antwort auf extremen Stress, die automatisch im Sinne einer Bottom-Up-Verschaltung vollzogen wird (vgl. Beitrag »Ich oder wir? Trauma, Dissoziation und Identitätserleben«), könnte der kreative Vorgang eher als ein Top-Down-Prozess beschrieben werde. Dissoziative Vorgänge werden, im Sinne eines gleichzeitig integrativ-verarbeitenden Hineinfühlens, bewusst nachvollzogen. Dabei können die inkorporierten Anderen, wie sie unter anderem von Winnicot (1967) und Ferenczi (1933/1982) beschrieben wurden und sich heute mit Hilfe der Spiegelneurone (Bauer, 2005) erklären lassen, im kreativen Prozess zu getrennten, handelnden Figuren werden, wie dies beispielsweise Pessoa (2006; s. u.) sehr eindrücklich in seinem Werk verfolgt hat. Rainer Maria Rilke greift das Wachsen und Werden der eigenen Identität sowie die Frage nach ihrem Wesen in einem seiner bekanntesten Gedichte auf (Rilke, 1905/2006, S. 11), aus dem die ersten vier Zeilen zitiert werden:
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Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten wohl nicht vollbringen aber versuchen will ich ihn.
Rilke benutzt die Baum-Metapher für das Leben, an dessen Ende eine Rückschau vollzogen wird. Die Vielfalt zeigt sich in den unterschiedlichen Jahresringen, die alle um und aus einer Mitte heraus wachsen und den authentischen Kern des Selbst schützend umgeben. Im Kontrast dazu ist für Menschen, die als Folge von frühkindlichen schwersten Traumatisierungen ein integriertes Identitätsgefühl gar nicht erst ausbilden konnten, diese Baum-Metapher nicht passend. Metaphorisch gesprochen könnte diese unintegrierte Identität vielleicht als ein Leben gedacht werden, das aus wachsenden Säulen besteht, mit dementsprechend größerer Fragilität und geringerer Flexibilität. Nach gelungener Identitätsarbeit können die unterschiedlichen Facetten von diesem Kern aus mit gesundem Stolz betrachtet werden. Wir empfinden sie dann als zu uns gehörig, unsere Persönlichkeit ausmachend und erleben unser spezifisches So-Sein auch im Wechselspiel mit der Umwelt. Dieses Erleben kommt in einem Gedicht der bekannten amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson (1955/1970) aus dem Jahre 1858 zum Ausdruck: A sepal, petal, and a thorn Upon a common summer’s morn A flask of Dew – A Bee or two – A Breeze – a caper in the trees – And I’m a Rose!
Auch Dickinson (1830–1886) nutzt hier Metaphern aus der Natur. Die Einzelteile ergeben letztlich eine stolze Rose, die sich als eingebunden in die Natur empfindet. Dickinson verfasste, sehr zurückgezogen lebend, weit mehr als 1700 Gedichte. Sie stand nur mit wenigen Menschen, zum Teil über Briefwechsel, im Kontakt. Diese Briefwechsel, ausgewählt, kommentiert und übersetzt von Uda Strätling, sind unter dem Titel »Wilde Nächte – Ein Leben in Briefen« erschienen. »Briefe begünstigen Rollenwechsel, Masken, Personae, die für die Gedichte so wesentlich werden [. . . ]« [Das folgende Zitat] markiert den entscheidenden Moment da die Dichterin erstmals künstlerische Anliegen von emotionalen Belangen trennt und die Reaktion eines ihr persönlich Unbekannten, aber in der literarischen Welt Arrivierten, prüft. [Dickinson schrieb:] »Wenn ich mich, als Repräsentantin der Verse erkläre, bin nicht ich gemeint, sondern eine angenommene Person« (Dickinson, 2006, S.17) Interessanterweise veränderte sich die Handschrift von Dickinson im Verlauf der Jahre so stark, dass man meinen könnte, verschiedene Personen hätten die Briefe verfasst (Dickinson, 2006, S. 409ff.). Deutlich voneinander unterscheidbare Handschriften gelten als Hinweis auf eine Dissozia-
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tive Identitätsstörung, sind bei dieser jedoch kein Akt bewusster Entscheidung. Ein moderneres Gedicht von Magnus Enzensberger (1980, zit. nach Gidion, 2004, S. 57) aus dem Gedichtband »Blindenschrift« bringt dagegen das facettenreiche Ich plastisch zum Ausdruck: »der andere« einer lacht kümmert sich hält mein gesicht mit haut und haar unter den himmel lässt wörter rollen aus meinem mund einer der geld und angst und einen paß hat einer der streitet und liebt einer rührt sich einer zappelt aber nicht ich ich bin der andere der nicht lacht der kein gesicht unter dem himmel und keine wörter in seinem mund der unbekannt ist mit sich und mir nicht ich: der andere: immer der andere der nicht siegt noch besiegt wird der sich nicht kümmert der sich nicht rührt der andere der sich gleichgültig ist von dem ich nicht weiß von dem niemand weiß von dem niemand weiß wer er ist der mich nicht rührt das bin ich
In diesem Gedicht, das hier für sich allein wirken kann, heißt es in einer Zeile »einer der [. . . ] einen Paß hat«. Interessanterweise benutzen Menschen mit Dissoziativer Identitätsstörung manchmal, wenn sie nach ihrem Namen gefragt werden, die Formulierung »Also, im Pass steht . . . « und beschreiben damit eine ihnen bereits bekannte Ich-Aufspaltung, in der es neben dem offiziellen noch andere Namen gibt. Einer der bedeutendsten portugiesischen Schriftsteller, der oben bereits erwähnte Fernando Pessoa (1888–1935), erspürte sehr sensibel die Möglichkeiten eigener innerer Fragmentierungen. Indem er diese konsequent ausformulierte und entwickelte, können seine Texte zum Verständnis des inneren Erlebens und Verhaltens von Menschen mit Dissoziativer Identitätsstörung beitragen. Pessoa lebte trotz hoher Anerkennung als Intellektueller des Mo-
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dernismus und trotz lukrativer Stellenangebote, die er alle ablehnte, sehr zurückgezogen in Lissabon. Zu Lebzeiten wurde nur ein Bruchteil seines Werkes veröffentlicht. Sein Hauptwerk »Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares« (2006) besteht aus handschriftlichen Fragmenten und Notizen, die völlig ungeordnet waren, so dass heute unterschiedliche Ausgaben, Interpretationen und Übersetzungen existieren. In einem Versfragment beschreibt er metaphorisch sein Ich – in diesem Fall als ein zusammengehöriges Ganzes, dessen einzelne Facetten nicht genau zu erkennen sind (2006, S. 303): »Meine Seele ist ein verborgenes Orchester; ich weiß nicht welche Instrumente, Geigen und Harfen, Pauken und Trommeln es in mir spielen und dröhnen lässt. Ich kenne mich nur als Symphonie.«
In einem anderen Abschnitt umschreibt er die Mühen einer solchen Identitätswerdung (2006, S. 27): »Schritt für Schritt habe ich jene innere Landschaft erobert, die von Geburt an die meine war. Stück für Stück habe ich dem Sumpf abgefordert, in dem ich hilflos fest hing. Ich habe mein unendliches Sein geboren, mich mit Zangen mir selbst entrissen.«
Pessoa verfasste zudem, aus der Innenperspektive heraus, unterschiedliche Texturen voneinander getrennter Charaktere. Er selbst empfand diese als andersartig und manche als sich selbst gegenüber mehr oder weniger fremd. Wie aus den Nachbemerkungen der Übersetzerin hervorgeht, ließ er diese verschiedenen Innenpersonen, mit jeweils eigener Handschrift, Zeit seines Lebens unter verschiedenen Namen zu Wort kommen (2006, S. 565): »[. . . ] jene kaum entzifferbaren Blätter, jene unterschiedlichen Schriften, in denen Pessoa von frühester Jugend bis zu seinem Tod unterschiedliche Personen – seine Heteronyme – zu Wort hat kommen lassen. Personen mit eigener Biographie, eigenem Aussehen, eigener Persönlichkeit, eigenem philosophischen, religiösen und politischen Ansichten und einem eigenen literarischen Stil. Menschen, die wie den vereinzelten Rotweinflecken auf den Manuskripten zu entnehmen war, beim Schreiben wohl hin und wieder dem Alkohol zusprachen oder deren Schrift nach Stunden des Denkens fahriger und flüchtiger wurde.« Aus einem der Vers-Fragmente kann geschlossen werden, woher diese Charaktere unter anderem ihren Ursprung nahmen (2006, S. 294): »Ich erschuf in mir verschiedene Persönlichkeiten. Ich erschaffe immerzu Persönlichkeiten. Jeder meiner Träume verkörpert sich, sobald ich ihn träume, in einer anderen Person, die ihn dann weiter träumt statt meiner. Um erschaffen zu können, habe ich mich zerstört; ich habe mich so sehr in mir selbst veräußerlicht, dass ich nur mehr äußerlich in mir existiere. Ich bin die leere Bühne, auf der verschiedene Schauspieler verschiedene Stücke spielen.«
Beispielhaft soll im Folgenden zitiert werden, wie zwei von Pessoas Innenpersonen von ihm selbst charakterisiert wurden (2006, Anhang S. 551 f.):
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»Der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares und Baron von Teive, zwei mir fremde Gestalten, schreiben einen im wesentlichen gleichen Stil, mit der gleichen Grammatik, und den gleichen Eigenheiten: kurz sie schreiben einen Stil, der, ob gut oder schlecht, der meine ist. Ich vergleiche die beiden, weil sie ein und dasselbe Phänomen verkörpern: die Unfähigkeit, sich an das wirklich Leben anzupassen, und dies zudem aus den gleichen Beweggründen. Doch obwohl Baron von Teive und Bernardo Soares das gleiche Portugiesisch schreiben, unterscheidet sich ihr Stil. Der des Edelmanns ist intellektuell, bar aller Bilder, ein wenig, wie soll ich sagen? steif und borniert; wohingegen der des einfachen Bürgers flüssig ist, Musik und Malerei einfließen lässt, sich aber weniger strukturiert darstellt. Der Edelmann denkt klar, schreibt klar und ist Herr seiner Gefühlsäußerungen, nicht jedoch seiner Gefühle; der Hilfsbuchhalter ist weder Herr seine Gefühlsäußerungen noch seiner Gefühle, sein Denken ist vielmehr bestimmt von Gefühlen. [. . . ] auf der ersten Stufe ist die Persönlichkeit geprägt von eigenen Vorstellungen und Gefühlen, die sich von den meinen unterscheiden, des gleichen unterscheidet sie sich auf einer niedrigeren Ebene dieser ersten Stufe durch in Überlegungen und Argumenten dargelegte Vorstellungen, die entweder nicht die meinen oder mir unbekannt sind.«
Einen in vielfacher Hinsicht hochdissoziativen Roman hat Paul Auster 1987 verfasst: »City of Glass«, der erste Band seiner New Yorker Trilogie (Neuauflage 2004). Hinsichtlich einer psychogenetischen Betrachtungsweise wurde die Hauptfigur, ein Schriftsteller namens Quinn, einige Jahre zuvor durch den plötzlichen Unfalltod seines dreijährigen Sohnes und seiner Frau traumatisiert. Quinn, der vor allem Detektivromane schreibt, hatte sich in der Folge zunehmend stärker von allen sozialen Bezügen zurückgezogen und sich einen Zustand dissoziativen Funktionierens angeeignet. Dadurch blieb er in der Lage, weiterhin Romane zu verfassen, ohne von schmerzlichen Erinnerungen überflutet zu werden: »Ein Teil von ihm sei gestorben, hatte er zu seinen Freunden gesagt, und er wolle nicht, dass er zurückkomme, um ihn zu quälen. Damals hatte er den Namen William Wilson angenommen. Quinn war nicht mehr der Teil von ihm, der Bücher schreiben konnte, und obwohl Quinn auf mancherlei Art weiterlebte, existierte er für niemanden mehr außer für sich selbst. [. . . ] Es kostete ihn wenig Mühe, die verwickelten Geschichten zu erfinden, [. . . ] und er schrieb gut, oft ohne es zu wollen und so brauchte er sich nicht anzustrengen. Da er sich nicht als Autor dessen betrachtete, was er schrieb, brauchte er sich auch nicht dafür verantwortlich zu fühlen, und er musste es nicht vor sich selbst verteidigen. [. . . ] In der Dreiheit von Personen die Quinn geworden war, diente Wilson als eine Art Bauchredner, Quinn selbst war die Puppe, und Work war die belebte Stimme, die dem Unternehmen Sinn und Zweck verlieh. [. . . ] Work war eine Persönlichkeit in Quinns Leben geworden, sein innerer Bruder, sein Gefährte in der Einsamkeit« (S. 6 ff.).
Durch verschiedene äußere Begebenheiten, insbesondere durch die Begegnung mit Stilman, bei dem sich nach extremsten traumatischen Erfahrungen eine Dissoziativen Identitätsstörung entwickelt hat, gerät der Protagonist Quinn in eine immer weiter reichende Identitätsunsicherheit und verliert zeitweilig sogar das Gefühl für die eigene, ursprüngliche Identität. Letztlich kehrt er nach langer Zeit, sein Auftrag war gescheitert, zu seiner eigenen Wohnung zurück. Die Wohnung findet er von einer fremden Frau bewohnt vor und sein gesamtes Hab und Gut wurde entfernt. Eine Metapher dafür, dass die Identität – das innere Haus – auch bewohnt und belebt werden und man Herr darin bleiben
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muss, um sie nicht zu verlieren: »Quinn stieß einen tiefen Seufzer aus. Er war am Ende seiner selbst. [. . . ] sie war fort, er war fort, alles war fort« (S. 162 f.). Quinn trifft im Roman also auf Peter Stilman, von dem er sich so sehr in den Bann ziehen lässt, dass er seine Identität fast aufgibt. Bereits bei der ersten Begegnung verliert er das Zeitgefühl: »Wenn seine Berechnungen stimmten, hatte er dort mehr als vierzehn Stunden verbracht. Er selbst hatte aber das Gefühl, dass sein Aufenthalt höchstens drei oder vier Stunden gedauert haben konnte. Er tat diese Diskrepanz mit einem Achselzucken ab und sagt laut zu sich selbst: »Ich muss lernen, öfter auf die Uhr zu sehen« (S. 47). Stilman war zweijährig, nach dem Tod seiner Mutter vom Vater neun Jahre lang in ein dunkles Zimmer gesperrt, nur notdürftig versorgt und regelmäßig verprügelt worden, vor allem wenn er versuchte mit dem Vater zu sprechen. Der Junge sollte nach dem Willen seines Vaters, von anderen sprechenden Menschen unbeeinflusst, die göttliche Sprache lernen. Aus den Schilderungen Stilmans geht die tiefgehende Identitätsunsicherheit, die Aufteilung der Identität und der traumatische Sprachverlust hervor: »Mein Name ist Peter Stilman. [. . . ] Das ist nicht mein richtiger Name. An meinen richtigen Namen kann ich mich nicht erinnern. [. . . ] Ich sage was sie sagen, weil ich nichts weiß. Ich bin nur der arme Peter Stilman, der Junge der sich nicht erinnern kann. [. . . ] Aber was sagt der arme kleine Peter? Nichts. Nichts. Nichts mehr. Da war dies. Dunkel. Sehr dunkel. Sie sagen: Das war das Zimmer. Als ob ich darüber reden könnte« (S. 22 ff.).
In Anlehnung an eine Metapher, die Matt Ruff (2006) in seinem Roman »Ich und die anderen« zur Beschreibung des Selbsterlebens dissoziativer Identitätsstörungen benutzt, könnte man die normale Identitätsorganisation mit einer Gruppe von Personen vergleichen, die zum Beispiel gemeinsam an einem Tisch sitzen und sich unterhalten, während mal der eine und mal der andere mehr im Vordergrund ist. Im Kontrast dazu lässt Ruff die dissoziierten Innenpersonen im Roman in einem Haus mit verschiedenen Ebenen und Zimmern wohnen. Die Barrieren zwischen den Ich-Anteilen könnten mit geschlossenen Türen verglichen werden. Da die Türen – und damit das Bewusstsein für die Anteile und den Kontakt zwischen ihnen – verschlossen sind, weiß der eine nicht, wer der andere ist, beziehungsweise was der andere tut. Beide Hauptfiguren in diesem Roman leiden unter einer Dissoziativen Identitätsstörung. Unterstützt sowohl durch den therapeutischen Dialog als auch durch die intensive, freundschaftliche Begegnung dieser beiden Personen gelingt im Romanverlauf eine progressive Entwicklung. Eine der beiden Personen, sie hat weniger schwerwiegende traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht, vermag im Verlauf der Romanhandlung eine vollständig integrierte Identität zu entwickeln. Die andere bildet zumindest ein übergeordnetes Identitätsgefühl mit Kenntnis der unterschiedlichen Selbstzustände aus: Die verschiedenen Ich-Anteile treffen sich regelmäßig im Konferenzraum des Hauses, um sich abzustimmen und planvoll vorgehen zu können. Hier wären also die
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Zimmertüren ein Stück weit geöffnet worden. Die unterschiedlichen Anteile befinden sich noch in »getrennten Zimmern«, beginnen jedoch, sich als eine Art »Wohngemeinschaft« oder »Familie« zu begreifen. Der folgende Auszug des Romans lässt die innere Struktur und Komplexität erahnen. Die eine multiple Figur des Romans – meist ist ein Persönlichkeitsanteil namens Mouse im Vordergrund – hatte begonnen mit Hilfe von Dr. Grey ihr inneres System kennen zu lernen, darunter die wehrhafte, aggressive Maledicta. Mouse trifft in dieser Szene auf eine misstrauisch-aggressive, ihr bisher unbekannte Innenperson der anderen multiplen Romanfigur Andrew, respektive Andrews Vater, Xavier und anderen, die sich als den einzig wahren Andy Gage ausgibt. Andy befindet sich gerade auf der Flucht und Mouse möchte ihn dazu bewegen, wieder an seinen Arbeitsplatz zurückzufahren: »[. . . ] sie hat Dr. Greys Rat befolgt und angefangen, die Mitglieder ihrer Gesellschaft als Verbündete zu betrachten. Diese Erkenntnis führt zu einer weiteren: Sie mag Verbündete haben, aber er hat ganz offensichtlich keine. Er bezeichnet Xavier als unnütz; und es klingt nicht so, als gäbe es irgendwelche anderen Seelen, an die er sich in einer Krisensituation wenden könnte. Wenn Mouse also eine Krise herbeiführen, eine Situation schaffen würde, die er allein nicht bewältigen kann, dann käme vielleicht jemand anders heraus, ein Nichtverbündeter – Andrew oder Andrews Vater oder zumindest jemand, der sie mit einem von beiden in Verbindung setzen könnte. [. . . ] Das ist immerhin etwas worüber sie während der Fahrt nachdenken könnte. Und sie denkt darüber nach, ja, geht sogar soweit, die Idee mit Maledicta zu erörtern. Aber Maledicta erweist sich als keine allzu große Hilfe; als Mouse sie fragt, wie man ihren Mitfahrer schocken könne, dass er die Kontrolle über Andrews Körper aufgibt, erwidert Maledicta: ›Warum erlaubst du Maledicta nicht, ihn hinten an die Stoßstange zu binden und ihn ein paar Kilometer weit mitzuschleifen?‹ Sie sagt das so, als wäre es durchaus ernst gemeint. [. . . ] ›Ich will ihm nicht weh tun‹, sagt Mouse. ›Zumindest möchte ich Andrew nicht wehtun‹« (S. 451).
Sehr bekannt ist auch der Roman »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« von Robert Louis Stevenson (1886/2005) über eine dissoziative, zweigeteilte Identität. Die Entwicklung hin zu einer vollständigen Aufspaltung des Ich wird hier allerdings durch ein chemisches Mittel bewirkt, welches Dr. Jekyll anfangs noch einnehmen musste, um in den Zustand des Mr. Hyde zu gelangen. Ganz generell wird Dissoziation ja durch Drogeneinfluss, Stress und Schlafentzug begünstigt. Vor der Diagnose einer Dissoziativen Identitätsstörung ist daher immer zu klären, ob die dissoziativen Phänomene auch ohne solche Einflüsse vorkommen. Stevenson erzählt die tragische Geschichte eines Mannes, der sich zunächst immer tiefer in eine Persönlichkeitsspaltung hineinlebt und diese letztlich chemisch materialisiert. Jekyll, ein sehr angesehener Arzt, wird immer häufiger abgelöst von einem finsteren Mann mit satanischer Wirkung. Im Zustand des Mr. Hyde, der immer mehr außer Kontrolle gerät, begeht Jekyll eines Nachts sogar einen Mord. Ein mit Jekyll befreundeter Arzt namens Dr. Lanyon erlebt einmal die Verwandlung von Mr. Hyde in Dr. Jekyll mit und mochte dabei seinen Augen nicht trauen:
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»Was er [Dr. Jekyll] mir in den nächsten Stunden erzählte, kann ich mich nicht entschließen zu Papier zu bringen. Ich sah, was ich sah – ich hörte was ich hörte – und meine Seele wurde krank davon. Und doch: Jetzt, da der Anblick aus meinen Augen verschwunden ist, frage ich mich selber, ob ich es glaube – und kann darauf nicht antworten« (S. 95 f.).
Ähnlich lösen bis heute sowohl das Störungsbild der Dissoziativen Identitätsstörung selbst als auch die zum Teil fast unvorstellbar schrecklichen, traumatischen Erlebnisse, über die Betroffene berichten, Unglauben und Zweifel am Wahrheitsgehalt aus. Dieser Roman thematisiert zudem die Dualität und den menschlichen Konflikt zwischen Gut und Böse. Sogenannte böse Anteile kommen wohl in allen Menschen, in allen Kulturen vor – auch als biologische Anlage der Fähigkeit zur Aggression – und können nicht ausschließlich als Reaktionen auf erlittene traumatische Erfahrungen zurückgeführt werden. Allerdings gilt es, diese zum einen selbst zu zügeln und quasi Herr im eigenen Haus zu bleiben, und zum anderen werden solche Impulse auch von anderen Menschen eingegrenzt. Wenn also, wie in dieser Geschichte, die böse Seite vor anderen wichtigen Personen versteckt wird und heimlich – hier vor allem nachts – ausgelebt wird, so kann sie nach und nach auch der eigenen Kontrolle entgleiten. Jekyll äußerte sich in dem Roman wie folgt: »So war es wohl mehr die hochfliegende Art meines Strebens als eine besondere Niedrigkeit meiner Fehler, die mich zu dem machten, was ich war, und durch eine tiefere Kluft als bei der Mehrheit der Menschen in mir die Bereiche des Guten und des Bösen schied, die die zwiefache Natur des Menschen teilen und verbinden. [. . . ] Beide Seiten meines Wesens waren vollkommen ernst gemeint und aufrichtig: ich war genauso ich selber, wenn ich alle Zurückhaltung fahren ließ und mich in Sünden wälzte, als wenn ich vor den Augen der Welt an der Förderung des Wissens arbeitete oder Sorgen und Leiden milderte« (S. 97 f.).
Auch »A tale of two cities« von Charles Dickens aus dem Jahre 1859 kann als Beschreibung eines psychischen Krankheitsbildes hier einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung gelesen werden (Huber und te Wildt, 2005; vgl. auch den Beitrag von Thomas Huber in diesem Band): Zur Zeit der Französischen Revolution 18 Jahre lang unschuldig in der Bastille inhaftiert, findet der Protagonist Dr. Manette nach seiner Entlassung nur sehr langsam wieder in die aktuelle Zeit und zu seinem früheren Ich zurück. Dies geschieht mit Hilfe von Ruhe und Zeit und vor allem durch die Begegnung mit seiner Tochter, die er zuvor nie gesehen hatte, da seine Frau zum Zeitpunkt der Inhaftierung gerade schwanger war. Die Tochter ähnelt ihrer mittlerweile verstorbenen Mutter sehr. Dr. Manette befindet sich zunächst lange in einem hoffnungslosen, apathischen und der Welt gänzlich entrückten Zustand, der mit heutiger Nomenklatur als anhaltende dissoziative Trance und anhaltendes Derealisationserleben bezeichnet werden kann. Er vermag seine Umgebung kaum wahrzunehmen und verhält sich wie zuvor im Gefängnis: »his mind is walking up and down, walking up and down, in his old prison«. Später wird er weiterhin, allerdings zunehmend seltener, von solchen Zuständen heim-
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gesucht, die heute als Flashbacks bezeichnet würden (zit. nach Huber und te Wildt, 2005). Dr. Manette war zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung bereits ein erwachsener Mann, der im Gefängnis seine Identität unter anderem durch das Verfassen seiner Biographie für sich zu bewahren suchte. Ihm war es später möglich, zu dieser Identität zurückzufinden und die Erlebnisse langsam zu verarbeiten. In den Fällen der Entführung von Natascha Kampusch und dem Inzestdrama von Amstetten ereigneten sich die schwerwiegenden Traumatisierungen dagegen bereits im Kindesalter. Elfriede Jelinek (2008) hat dem Drama in Amsdetten eine Prosa gewidmet. Diese lässt, jenseits aller Fakten und journalistischen Floskeln, den nahezu unbeschreibbaren, unermesslichen Abgrund des äußeren und inneren Verlieses, verbunden mit Abläufen, die auch zu einem normalen Leben gehören, fühlbar werden. Jelinek webt in ihren Text auch eine Zeile aus dem Gedicht »Der Panther« von Rilke (1907–1908) ». . . und hinter tausend Stäben keine Welt« ein und potenziert den Betonverschluss des Amstettener Verlieses dahingehend, dass hier nicht einmal tausend Streifen Welt zu sehen sind. Hier Rilkes Gedicht: Der Panther Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.
Vielleicht kann ein Ausflug in das Reich der Träume die Grenzlinien zwischen pathologischer Ich-Fragmentierung und gesunder Vielfalt noch stärker pointieren. Träume sind für Psychotherapeuten ein sehr interessanter Gegenstand. Sie finden in einem vom Wachbewusstsein gänzlich verschiedenen Zustand statt und dienen letztlich auch der Identitätsbildung und ihrer Bestätigung. Neues wird integriert, mit schon Erfahrenem abgeglichen und kreativ neu geordnet. Träume sind schon sehr lange in unterschiedlichen Kulturen in ihrer Bedeutung für den Träumenden interpretiert worden. An dieser Stelle soll auf die Traumdeutung von Carl Gustav Jung (1875–1961) eingegangen werden. Wie Freud ging auch Jung (1990) davon aus, Träume könnten als verkleideter,
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symbolhafter Ausdruck des Unbewussten verstanden werden. Nach Jung lassen sich Träume auf zwei Arten betrachten: Auf der einen Seite können – und das ist hier der wichtigere Aspekt – alle Personen und Symbole eines Traumes verschiedene Ich-Aspekte des Träumers zeigen. Jung nannte dies die Subjektstufe. Auf der anderen Seite zeigen Träume das, was der Träumer am Tag real erlebt hat, mit den realen Subjekt-Objekt-Beziehungen. Jung nannte dies die Objektstufe des Traumes. Nach Jung lassen sich alle Symbole aus beiden Perspektiven verstehen. Auf der Subjektstufe werden alle im Traum vorkommenden Personen und Symbole als verschiedene Ich-Zustände eines Menschen aufgefasst – somit eine weitere Form, in der sich die Vielfalt des Ich eines Menschen ausdrücken kann. Dies mag das Gedicht »Traum« aus dem Gedicht-Band »Helle Nacht« (1922) von der Dichterin, Schauspielerin und Tänzerin Emmy Ball-Hennings (1885–1948) verdeutlichen. Hennings hat sich selbst als »vielfach« bezeichnet und der Titel ihrer Biographie lautet dementsprechend »Ich bin so vielfach« (Echte, 1999). Im Alter von 32 Jahren hatte Hennings bereits so viel erlebt, dass es für mehrere Leben gereicht hätte: Dienstmädchen und Waschfrau war sie gewesen, hatte geheiratet und sich scheiden lassen, hatte Theater gespielt, war beim Tingeltangel Diseuse, hatte einen Gedichtband publiziert, in der Münchner und Berliner Boheme gelebt, hatte sich prostituiert, war verhaftet worden und hatte zweimal im Gefängnis gesessen. Traum Ich bin so vielfach in den Nächten. Ich steige aus den dunklen Schächten. Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein. So selbstverloren in dem Grunde, Nachtwache ich, bin Traumesrunde. Und Wunder aus dem Heiligenschrein. Und öffnen sich mir alle Pforten, Bin ich nicht da, bin ich nicht dorten? Bin ich entstiegen einem Märchenbuch? Vielleicht geht ein Gedicht in ferne Weiten. Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten, Ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch . . .
Hier klingen verschiedene Aspekte an: Die Schattenseiten eines Menschen mit seinen »dunklen Schächten«, eine Form der selbstverlorenen Ich-Auflösung und in wieweit archaische Bilder, Märchen und Symbole unsere Identität beeinflussen und die Frage öffnen: Woraus setzt sich unser Ich zusammen und wie stabil ist es eigentlich? Das begrenzende Ende bleibt offen . . . . . . und soll mit einer geflügelten Bemerkung von Ödön von Horváth
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C. Wilhelm-Gößling
(1926/2001), die sowohl die Abwehrfunktionen als auch die mehr oder weniger bewusste Dissoziation einfängt, abgeschlossen werden: »Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu!«
Literatur Auster, P. (1987/2004). Stadt aus Glas. München: Süddeutsche Zeitung/Bibliothek. Bauer, J. (2005). Warum ich fühle was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg: Hoffmann und Campe. Dickinson, E. (1955/1970). Gedichte – Englisch/Deutsch. Stuttgart: Reclam. Nach: The Poems of Emily Dickinson. T. H. Johnson (Ed.), Vol. I–III. Cambridge: Harvard University Press. Dickinson, E. (2006). In U. Strätling, (Hrsg.), Wilde Nächte – Ein Leben in Briefen. Frankfurt a. M.: S. Fischer. (Amerikan. Orig.: The Letters of Emily Dickinson. T. L. Johnson. Cambridge Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, 1958) Echte, B. (1999). Emmy Ball Hennings: Ich bin so vielfach. Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern. Ferenczi, S. (1933/1982). Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind: Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft. In S. Ferenczi (Hrsg.), Schriften zur Psychoanalyse (Bd. 2, S. 303–313). Frankfurt a. M.: Fischer. Gidion, H. (2004). Bin ich das? Oder das? Literarische Gestaltungen der Identitätsproblematik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hirsch, M. (1995). Fremdkörper im Selbst – Introjektion von Verlust und traumatischer Gewalt. Jahrbuch Psychoanal., 35, 123–151. Horváth, Ö. v. (1926/2001). In Kirschke, T. (Hrsg.), Zur schönen Aussicht und andere Stücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Huber, T. J., te Wildt, B. T. (2005). Charles Dickens’ A tale of two cities: A case report of posttraumatic stress disorder. Psychopathology, 38, 334–337. Jelinek, E. (2008). Im Verlassenen. Zugriff am 8.5.2008 unter http://www.elfriede jelinek.com Jung, C. G. (1990). Traum und Traumdeutung. München: dtv. Nietzsche, F. (1980). In C. Giorgio und M. Montinari, M. (Hrsg.), Kritische Studienausgabe in 15 Bd. In: Nachgedanken zur Geburt der Tragödie. Bd. 13, Nachlass 23 [2]. München und New York: dtv. Pessoa F. (2006). Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Hrsg. u. Übers. I. Koebel, Frankfurt a. M.: Fischer TB. Reinders, A., Nijenhuis, E. R. S., Paans, A., Korf, J., Willemsen, A., Boer, J. A. (2003). One brain two selves. Neuroimage, 20, 2119–2125. Rilke, R. M. (1905/2006). Das Stundenbuch. Frankfurt a. M. Insel TB. Rilke, R. M. (1907/1908). Neue Gedichte. Zugriff am 10.5.2008 unter http://www.textlog.de/ rilke-gedichte.html Ruff, M. (2006). »Ich und die anderen« (2. Aufl.). München: dtv. (Amerikan. Orig.: Set this house in order. A romance of souls. New York: HarperCollins, 2003) Steele, K., van der Hart, O., Nijenhuis, E. R. S. (2004). Phasenorientierte Behandlung komplexer dissoziativer Störungen: die Bewältigung traumabezogener Phobien. In A. Eckhardt-Henn, S. O. Hoffmann (Hrsg.), Dissoziative Bewusstseinsstörungen – Theorie, Symptomatik, Therapie (S. 357–394). Stuttgart und New York: Schattauer. Stevenson, R. L. (2005). Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Berlin: Anaconda. (Engl. Orig.: The strange case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde. London, 1886) Van der Hart, O., Steele, K., Boon, S., Brown, P. (1995). Die Behandlung traumatischer Erinnerungen: Synthese, Bewusstwerdung und Integration. Hypnose und Kognition, 12 (2), 1–28.
Ich oder wir? Die Versprachlichung komplexer dissoziativer Phänomene
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Sprache des Therapieabbruchs Petra Garlipp und Klaus-Peter Seidler
Abschied »Zu lieblich ist’s, ein Wort zu brechen, Zu schwer die wohlerkannte Pflicht, Und leider kann man nichts versprechen, Was unserm Herzen widerspricht.« Johann Wolfgang von Goethe
Behandlungsabbrüche sind in der Medizin ein Alltagsphänomen. Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, wie ein Therapieabbruch »zu übersetzen« ist, was er »ausdrückt«, also im übertragenen Sinne mit der »Sprache« des Therapieabbruchs. In diesem Zusammenhang werden die Terminologie und Definition beschrieben. Zudem interessiert die Frage, wie ein Patient einen Therapieabbruch gestaltet und kommuniziert. Weiterhin wird diskutiert, was der Patient durch einen Abbruch ausdrückt und wie der Therapieabbruch erlebt wird. Im psychiatrischen Behandlungsbereich spielt die Frage, wann eine Behandlung zu Ende geführt ist beziehungsweise anhand welcher Kriterien wer das Ende einer erfolgreichen Behandlung definiert, eine große Rolle. Der Begriff des Behandlungsabbruches oder auch des Dropout ist uneindeutig und wird in der Literatur auf unterschiedlichste Weise definiert und interpretiert. Es existieren verschiedene Begriffe wie »Behandlungsabbruch«, »vorzeitige Therapiebeendigung«, »Entlassung gegen ärztlichen Rat« und im Englischen »Dropout«, »premature discharge«, »premature termination of treatment«. Dropout wird häufig mit einem Misslingen der Therapie gleichgesetzt. Behandlungsabbruch gilt als ein Indikator für die Effizienz einer Therapieform und kann Auswirkungen auf den Ruf einer Klinik oder das »Image« eines Patienten haben. Es kann den Abbruch einer Behandlung vor Eintritt einer Besserung, ein Verlassen der Behandlung gegen ärztlichen Rat oder eine vorzeitige Beendigung vor dem Ende des vereinbarten Behandlungszeitraumes bedeuten. Pekarik (1985) diskutiert die Schwierigkeit der Dropout-Definition am Beispiel der Psychotherapie. Die oft verwendete Definition eines Behandlungsabbruchs über die Anzahl der eingehaltenen Termine wird von Pekarik abgelehnt, da auch kürzer als geplant dauernde Therapien erfolgreich sein können (»early appropriate terminators«) und diese nicht mit Behandlungsabbrechern gleichzusetzen seien (»early dropouts«). Da die Definition des Behandlungsabbruches in der Literatur uneindeutig
Sprache des Therapieabbruchs
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ist, sind auch die bisher durchgeführten Studien zum Behandlungsabbruch in unterschiedlichen therapeutischen Settings (ambulant, teilstationär, stationäre Psychotherapie, Rehabilitation) nicht vergleichbar. Die Bandbreite der Abbruchraten in diesen unterschiedlichen Behandlungssettings reicht, sicherlich auch hierdurch bedingt, von 7,1 % (Lieberz und Ciemer, 2000) bis 50 % (Wälti, Kolb und Willi, 1980). Für tagesklinische Settings in der Psychiatrie stellt sich eine ähnliche Bandbreite von Abbruchraten dar (Garlipp, Seidler, Amini, Machleidt und Haltenhof, 2001: 12,8 %; Romney, 1984: 80 %). Garlipp, Seidler, Amini, Machleidt und Haltenhof (2001) entwickelten zur differenzierten Betrachtung der vorzeitigen Behandlungsbeendigung vier Modalitäten: Typ A: Abbruch im engeren Sinne, das heißt, es findet kein Abschlussgespräch statt. Typ B: Patient bricht die Behandlung entgegen der Empfehlung der Therapeuten ab, es findet jedoch ein Abschlussgespräch statt. Typ C: Die Behandlung wird entgegen dem Wunsch des Patienten von Seiten der Therapeuten beendet. Typ D: Die Behandlung wird vorzeitig in beiderseitigem Einvernehmen beendet. Diese Differenzierung verdeutlicht, dass der Therapieabbruch nicht nur vom Patienten ausgehen muss, sondern auch vom Therapeuten ausgehen kann (Typ C). Gründe für einen Therapieabbruch sind sehr unterschiedlich (vgl. Tabelle 16.1). Baumann et al. (1988) untersuchten die Gründe der Patienten für eine vorzeitige Behandlungsbeendigung in einer psychiatrischen Tagesklinik. Tabelle 16.1: Gründe für einen Therapieabbruch Wilson und Sperlinger 2004 – Ambivalenz gegen– Rückkehr zur über: Arbeit – Konfrontation – Exazerbation psy– der therapeutichischer Symptome schen – Ablehnung des Beziehung Settings – Therapie als erlebte – Ablehnung der Bedrohung Therapie – Kontrollverlust – Überzeugung, Pro- – Angst vor Abhänbleme seien gelöst gigkeit
Baumann et al. 1988
Garlipp et al. 2001 – Unterforderung – Überforderung – Probleme mit: – Therapeuten – Mitpatienten – settingbezogene Gründe – externe Gründe – andere Erwartungen
Barghaan et al. 2005 – Schwierige Interaktion mit: – Therapeuten – Mitpatienten – eher »somatische« Krankheitskonzeption
»Dropping out or dropping in?« – so erweitern Wilson und Sperlinger 2004 das Spektrum der Beweggründe, das Patienten veranlassen kann, eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung abrupt zu beenden. Sie konstatieren, dass Patienten häufig auf der Suche nach der subjektiv stimmigen »Passung« seien. Abbrüche seien daher auch als vorangegangener Kontaktversuch aufzufassen, der sich jedoch aus Sicht des Patienten nicht bewährt habe. Die
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P. Garlipp und K.-P. Seidler
von ihnen genannten Abbruchgründe sind therapeutische Interpretationen, die sich auf eine ambulante Therapie beziehen. Aus Patientensicht schildern Garlipp et al. (2001) die Abbruchgründe in einer allgemeinpsychiatrischen Tagesklinik. Barghaan, Lang, Lotz-Rambaldi, Koch und Schulz (2003) fanden in ihrer Interviewstudie einer stationär psychotherapeutischen Rehabilitationsklientel unter anderem die erwähnten Gründe aus Patientensicht. Zusammengefasst finden sich unterschiedliche gute Gründe, sei es aus Sicht der Patienten, oder aus Sicht der Therapeuten, eine Behandlung vorzeitig abzubrechen. Es ist sinnvoll, sich den Beginn einer Behandlung anzuschauen, denn im psychiatrischen Bereich gibt es unterschiedlichste Möglichkeiten, wie ein Patient in eine Behandlung kommt: Eigeninitiative, Anraten durch Bezugsperson oder ambulante Behandler, Zwang bei akuten Gefährdungssituationen. Unter welchen Umständen eine Behandlung beginnt, hat Einfluss auf Verlauf und Outcome dieser Behandlung. Aspekte der Compliance (Garlipp, 2008) und der Krankheitseinsicht sind sehr wesentlich, da einige psychische Krankheiten immanent eine fehlende oder mangelnde Krankheitseinsicht mit sich bringen, die es dem Patienten verunmöglichen kann, die Notwendigkeit einer Behandlung einzusehen. Etwas salopp könnte man formulieren, dass es folgende Gruppen von Patienten gibt, die eine Behandlung beginnen: – die, die etwas wollen, – die, die etwas wollen sollen, – die, die noch nicht wissen, ob sie etwas wollen, – die, die (noch) nichts wollen und – die, die krankheitsbedingt nicht wollen können. Barghaan et al. (2003) erweitern das Spektrum der »Abbrecher« um die sogenannten »inneren Abbrecher«. Hierunter werden diejenigen Patienten verstanden, die die Behandlung eigentlich hätten vorzeitig beenden wollen, dies aber aus unterschiedlichen Gründen, zum Beispiel aus Angst vor negativen finanziellen Konsequenzen, nicht tun. Innere Abbrecher zeigen bezüglich des Behandlungs-Outcomes ebenso wie die echten Behandlungsabbrecher deutlich schlechtere Ergebnisse als die regulär Entlassenen. Der Patient hat die Möglichkeit eine Behandlung zu beenden, wenn es ihm sinnvoll erscheint. Im günstigen Fall wird er sich hierüber mit seinem Therapeuten verständigen, im ungünstigen Fall wird er die Entscheidung jedoch treffen und umsetzen, ohne den Behandler zu informieren. Beispielsweise kann der Wunsch, sich Autonomie durch einen Abbruch zu verschaffen, nicht verbalisiert werden und wird in Handlung übersetzt. Der Patient möchte sich nicht rechtfertigen oder erklären. Andere Begleitemotionen können Wut, Enttäuschung, Angst und Scham sein. Der Sinn des Therapieabbruchs aus der Sicht der in der Psychiatrie Tätigen wird zumeist einseitig negativ konnotiert und mit Versagen aufseiten der
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Patienten oder aufseiten der Therapeuten gleichgesetzt. Diese Interpretation greift jedoch zu kurz, denn Patienten haben, wie oben geschildert, zumeist aus subjektiver Sicht gute Gründe, warum sie eine Behandlung abrupt beenden und insbesondere warum es ihnen nicht möglich ist, über den Wunsch nach Behandlungsende ein Gespräch zu führen. Patienten brechen die Behandlung gerade auch dann abrupt ab, wenn eine gute therapeutische Beziehung bestand, da sie ihren Therapeuten nicht verletzen möchten. So berichtet Krutzenbichler (2008), dass beispielsweise Patientinnen mit schwerer Borderline-Persönlichkeitsstörung die reale therapeutische Beziehung häufig beenden müssen, »um die verinnerlichte gute Beziehung bewahren zu können, wenn sie spüren, dass nicht mehr kontrollierbare Wünsche nach Zerstörung und Gefühle von Wut den Therapeuten in reale Gefahr bringen, wenn das Böse droht, das Gute zu zerstören«. In diesem Fall wäre der Abbruch ein Schützen der therapeutischen Beziehung – also ein »gutes Ende«. Nichtsdestotrotz ist ein Therapieabbruch ein Anlass, therapeutisch zu reflektieren, ob Zeichen des Patienten nicht gesehen oder missinterpretiert wurden. Hierbei können auch die Gegenübertragungsgefühle hilfreich sein, die beim Therapeuten häufig aus Wut, Enttäuschung, Sorge vielleicht aber auch bei ehrlicher Reflexion aus Erleichterung bestehen können. Der Therapieabbruch sollte also keineswegs in seiner Bedeutung nur negativ konnotiert werden. Ein differenzierter Betrachtungsansatz der Gründe, die möglicherweise zu einem Abbruch geführt haben, kann für die Zukunft des therapeutischen Handelns generell, aber auch insbesondere bei Wiederaufnahme derselben therapeutischen Beziehung wegweisend sein. Es erscheint in jedem Fall sinnvoll, vorzeitige Therapiebeendigungen oder -abbrüche nicht per se negativ zu werten. Abbrüche als Versagen auf Patienten- oder Therapeutenseite zu deuten oder gar als Verweigerung greift viel zu kurz. Behandlungsabbrüche und vorzeitige Behandlungsbeendigungen gehören zum psychiatrisch-psychotherapeutischen Alltag und sind keineswegs immer mit Behandlungsmisserfolg gleichzusetzen. Für die praktische Arbeit erscheint es günstig, ein Augenmerk auf die Aspekte der Compliance und Therapiemotivation zu richten. »Abbruchgefährdete« Patienten können besser für eine therapeutische Begleitung gewonnen werden, wenn man ihre Ambivalenz von Anfang an offen thematisiert und flexibel mit Behandlungsoptionen umgeht. Eine Therapie in der Psychiatrie muss für Menschen, die mit Erkrankungen leben, die zu größter innerer Verunsicherung und mangelnder Krankheitseinsicht führen können, heißen, gemeinsam mit den Therapeuten eine Behandlungsoption zu finden, die für den Patienten akzeptabel und umsetzbar und für den Therapeuten adäquat ist. Kann ein Vertrauen hergestellt werden, dann wird der Patient auch nach einem Abbruch zurückkehren können.
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P. Garlipp und K.-P. Seidler
»Selbst die Heftigkeit eines Bruches kann in ihrem Sinn vorübergehend sein. Ein augenblickliches Versagen meint nicht den endgültigen Abbruch, selbst wenn es so aussieht, sondern braucht nur Zeit. Das Vereiteln der Kommunikation in der gegenwärtigen Situation muss nicht die Aufhebung dieser Kommunikation überhaupt zur Folge haben« (Jaspers, 1973, S. 85).
Literatur Barghaan, D., Lang, K., Lotz-Rambaldi, W., Koch, U., Schulz, H. (2003). Therapieabbrüche in der stationären Psychotherapie. Eine kontrollierte Interviewstudie zu Verlauf, Motiven und Behandlungsergebnis. Psychotherapeut, 50, 16–24. Baumann, L., Nieporent, H. J., Ferguson, J., Klein, J., Dunne, G., Rudoltz, C. (1988). Demystifying the patient dropout: a study of 122 brief-stay day-treatment center admissions. International Journal of Partial Hospitalization, 5, 215–224. Garlipp, P. (2008). Evaluation allgemeinpsychiatrisch-tagesklinischer Behandlung unter besonderer Berücksichtigung des Behandlungsendes. Heidelberg: Steinkopff Verlag. Garlipp, P., Seidler, K.-P., Amini, K., Machleidt, W., Haltenhof, H. (2001). Behandlungsabbruch in der psychiatrischen Tagesklinik: Plädoyer für eine differenzierte Betrachtungsweise. Psychiatrische Praxis, 28, 262–266. Goethe, J. W. Abschied. www.textlog.de (2008). Jaspers, K. (1973). Philosophie II, Existenzerhellung (4. Auflage). Berlin u. a.: Springer. Krutzenbichler, S. (2008). »Ein Leopard verliert seine Flecken nicht – teilstationäre Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen«. Vortrag. DATPPP-Tagung Bergisch-Gladbach. Lieberz, K., Ciemer, S. (2000). Hintergründe des Abbruchs von stationären Psychotherapien. Psychotherapeut, 45, 286–291. Pekarik, G. (1985). The effects of employing different termination classification criteria in dropout research. Psychotherapy, 22, 86–91. Wälti, J., Kolb, H. J., Willi, J. (1980). Welche Patienten brechen eine psychiatrische Behandlung ab? Nervenarzt, 51, 712–717. Wilson, M., Sperlinger, D. (2004) Dropping out or dropping in? A reexamination of the concept of dropouts using qualitative methodology. Psychoanalytic Psychotherapy, 18, 220–237.
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Die Sprache der Sektoren1 Johann Pfefferer-Wolf
17.1 Gibt es so etwas? Um einer Antwort auf diese Ausgangsfrage näher zu kommen, sind zwei Vorklärungen unabdingbar, genauer: die Klärung zweier Selbstverständlichkeiten, einer großen und einer kleinen: Was ist eine Sprache? Und: Was ist ein Sektor? Jedoch, wie es so ist mit den sogenannten »Selbstverständlichkeiten«: Sie liegen vor unserer Nase und wir sehen sie nicht . . .
17.2 Vorklärung 17.2.1 Was ist eine Sprache? Diese Frage hat es nicht leicht, wissen wir doch alle über dieses weitläufige Thema bereits Bescheid, nicht nur die Sprachexperten unter uns: »Sprache ist Allgemeingut« – so vergewissert sich David Crystal gleich zu Beginn des ersten Kapitels in seiner »Cambridge Enzyklopädie der Sprache« der Ungeheuerlichkeit seines Unterfangens, die Sprache selbst zum Gegenstand seiner Untersuchung und Darstellung zu machen – und natürlich: in der Sprache, und noch dazu enzyklopädisch (Crystal, 1995)! Von daher also: »Ein emotionsgeladenes Thema«, wie er sagt. Experten haben es hier schwer – eben weil alle, mindestens, eine Sprache sprechen und zutiefst überzeugt sind, dass sie zumindest über diese eine Sprache, ihre sogenannte Muttersprache, Bescheid wissen. Dennoch wird diese Frage in den unterschiedlichsten Kontexten immer wieder gestellt. Sie scheint also immer noch beziehungsweise immer wieder klärungsbedürftig. Versuchen wir es ganz vorläufig und landläufig: Laute, artikuliert, hervorgebracht von Zweibeinern in ihrer Beziehung untereinander, miteinander
1 Nach einem Vortrag auf der Tagung Semiotik und Sozialpsychiatrie – Über Sinn und Zeichen einer Fachsprache in der Evangelischen Akademie Loccum, 24.–26. April 2003.
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J. Pfefferer-Wolf
und gegeneinander, also ein akustisch artikuliertes Zeichensystem mit einem weiten Bedeutungsspektrum. Ergo: Semiotik. »Der Mensch spricht. Wir sprechen im Wachen und im Traum. Wir sprechen stets; auch dann, wenn wir kein Wort verlauten lassen, sondern nur zuhören oder lesen, sogar dann, wenn wir weder eigens zuhören noch lesen, stattdessen einer Arbeit nachgehen oder in der Muße aufgehen. Wir sprechen ständig in irgendeiner Weise. Wir sprechen, weil Sprechen uns natürlich ist. Es entspringt nicht erst aus einem besonderen Wollen. Man sagt, der Mensch habe die Sprache von Natur. Die Lehre gilt, der Mensch sei im Unterschied zu Pflanze und Tier das sprachfähige Lebewesen. Der Satz meint nicht nur, der Mensch besitze neben anderen Fähigkeiten auch diejenige zu sprechen. Der Satz will sagen, erst die Sprache befähige den Menschen, dasjenige Lebewesen zu sein, das er als Mensch ist. Als der Sprechende ist der Mensch: Mensch. Wilhelm von Humboldt hat dies gesagt. Doch es bleibt zu bedenken, was dies heißt: Der Mensch.«
So beginnt Martin Heidegger seinen berühmten Vortrag mit dem Titel »Die Sprache« von 1950 (Heidegger, 1959, S. 11 ff.). In diesen wenigen eindringlichen Sätzen gelingt es ihm, von der Frage nach der Sprache und dem Sprechen des Menschen zu der Frage nach dem Sein des Menschen zu gelangen. Daraus erhellt, dass die Erstere für die Letztere konstitutiv ist. Vielleicht lohnt es, noch kurz einen Blick auf das Wort »Sprache« selbst zu werfen, auf seine Herkunft. Es kommt, so belehrt uns der Duden, aus dem mittelhochdeutschen »sprāche« und ist eine Substantivbildung zu dem Verbum »sprechen«. So bezeichnet »Sprache« eigentlich den Vorgang des Sprechens und das Vermögen zu sprechen. Und dieses Sprechen, das Sagen – wie ist es um dessen Herkunft bestellt? Auch das Tätigkeitswort »sprechen« stammt aus dem mittelhochdeutschen »sprechen«, althochdeutsch »sprehhan«, niederländisch »spreken« und altenglisch »sprecan«. Es ist nicht sicher erklärt, so lesen wir. Möglicherweise bestehe Verwandtschaft mit dem altisländischen und schwedischen »spraka« = »knistern, prasseln« – so dass »sprechen« ursprünglich vielleicht ein lautmalendes Wort war . . . Begleiten wir noch einmal Martin Heidegger auf seinem Weg zur Sprache an dieser Stelle: »Doch was heißt sagen? Um dies zu erfahren, sind wir an das gehalten, was unsere Sprache selber uns bei diesem Wort zu denken heißt. ›Sagan‹ heißt: zeigen, erscheinen-, sehen- und hören-lassen« (Heidegger, 1959, S. 239 ff.). Wir sehen auch hier: Wieder sind wir auf die Semiotik verwiesen – »zeigen« –, sie ist offenbar zuinnerst auf die Sprache angewiesen. Noch frustrierter werden wir, wenn wir nach den Ursprüngen der Sprache fragen. Über sie wird seit Jahrhunderten spekuliert. Jede Generation stelle hier die gleichen Fragen und ende in der gleichen Sackgasse: »Die Anfänge der Sprache liegen zu weit zurück.« So belehrt uns wiederum David Crystal in seinem herrlichen, sehr lesbaren und anschaulichen Bilderbuch. So wird auch die Frage nach einer möglichen Ursprache wohl nicht mehr zu klären sein. Ein wesentliches Merkmal der Sprache will ich hier noch zum Abschluss dieser ersten Vorklärung erwähnen: »Worte waren ursprünglich Zauber«, so
Die Sprache der Sektoren
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belehrt und beschwört uns unser berühmter Kollege Sigmund Freud in seiner Vorlesung über die Fehlleistungen. Und in seiner Vorlesung über die Psychoanalyse als Weltanschauung spricht er über die Magie der Sprache – er selbst ja ein Magier der Sprache, einer der viel zu wenigen im Felde des wissenschaftlichen Diskurses (Freud, 1969, S. 41 ff., S. 586 ff.). Zur Magie der Sprache mögen wir uns auch an Franz von Assisi, den pazzo divino, den göttlichen Verrückten erinnern, der mit den Vögeln, der Sonne und den Sternen zu sprechen wusste. Oder wir mögen an die reiche Kultur der Indianer denken, die der Sprache des Windes lauschten. Wir hatten in Hannover den amerikanischen »Pferdeflüsterer« Monty Roberts zu Gast. »Equus« nennt der Tiertrainer die Sprache der Pferde. Sie basiert auf dem natürlichen Sozialverhalten in der Herde: »Es ist eine Sprache der Gesten«, so erklärt Roberts (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 23. April 2003, Nr. 94, S. 21). Nun zur zweiten Vorklärung – vielleicht kann uns da ja mehr gelingen . . . 17.2.2 Was ist ein Sektor? Vergewissern wir uns seines lateinischen Ursprungs, so werden wir zunächst auf das Verbum »secare« mit seinen mehrfachen Bedeutungen verwiesen (vgl. Pfefferer-Wolf, 1999, S. 45 ff.): 1. schneiden, ab-, zerschneiden/occ. operieren, amputieren; 2. (dichterisch) verwunden, verstümmeln; 3. durchschneiden, durcheilen; 4. (ab)teilen, occ. entscheiden, zum Beispiel lites (Streitfälle). Der Sektor ist demnach der »Zerschneider, Abschneider«, (metaphorisch) der »Güterschlächter«, »Aufkäufer« (Wortspiel: »sector collorum et bonorum« = »Menschen- und Güterschlächter«). Es gibt aber noch eine andere Etymologie zum lateinischen »sector«, nämlich Frequentativum von »sequor«, mit den folgenden Bedeutungen (vgl. »Der kleine Stowasser«): 1. begleiten, nachgehen, -laufen; 2. jagen; 3. (met.) nachjagen, verfolgen, (mit indirekter Frage) forschen. Von »secare« leitet sich das Fremdwort »Sektor« her. Seine Bedeutung im Deutschen ist, entsprechend seiner mehrdeutigen lateinischen Wurzel, ebenfalls eine vielfältige: Es kann ein Sachgebiet bezeichnen, aber auch einen Abschnitt, ein Gebietsteil, einen Bezirk. Im mathematischen Fachjargon steht es für den Kreisausschnitt. In der Sprache der politischen und militärischen Verwaltung benennt es ein Besatzungsgebiet wie früher Berlin oder Wien (vgl. Wahrig, 1980). Noch können wir uns daran erinnern, dass die Sprache
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J. Pfefferer-Wolf
dieser Sektoren durchaus eine gefährliche, nicht selten eine lebensgefährliche war . . . Wie sich im Folgenden noch zeigen wird, sind an der Praxis »im« Sektor vielfache Bezüge zu den oben angeführten Bedeutungen dieses Begriffes erkennbar. Eine Vereindeutigung dieses vielschichtigen Begriffes im Kontext der sozialpsychiatrischen Sprachpraxis ist uns also verwehrt. Fragen wir nun auf diesem etymologischen Hintergrund spezieller: Was ist ein Sektor in der Sozialpsychiatrie? – so stoßen wir auf eine Fülle neuer Begriffe, die aber alle unter dem Begriff des Sektors subsumiert werden. Die kulturelle Hegemonie dieses Begriffes können wir nicht zuletzt daran erkennen – bis hin zu der lange üblichen Bezeichnung der Sozialpsychiatrie als »Sektorpsychiatrie«. Danach wäre der Sektor das Soziale an beziehungsweise in der Sozialpsychiatrie!? Ich kann nur hoffen, dass dem nicht so ist. Nun zu den anderen Begriffen, die den Sektor in praxi definieren: »Standardversorgungsgebiet«, »Einzugsbereich« und »Zuständigkeitsbereich«. Der Begriff »Standardversorgungsgebiet« bezeichnet ein umschriebenes Gebiet innerhalb einer Stadt oder einer Region, definiert nach einer bestimmten Einwohnerzahl und orientiert an historisch gewachsenen Stadtvierteln und Landkreisen. Dieses »Standardversorgungsgebiet« umfasst deckungsgleich den »Einzugsbereich« der Psychiatrischen Klinik und den »Zuständigkeitsbereich« der verschiedenen ambulanten Dienste in einem konkreten Sektor. »Sektor« und »Standardversorgungsgebiet« werden also als synonyme Begriffe gebraucht, nicht so jedoch die beiden Unterbegriffe »Einzugsbereich« und »Zuständigkeitsbereich«. Diese Gebiete werden definiert in einem sogenannten »Sektorverzeichnis« für die jeweilige Stadt oder Region. Bereits hier, in der abstrakten Form des kartographischen Skeletts, wird der unterschiedliche soziale Gestus kenntlich, der sich in diesen Grundbegriffen sozialpsychiatrischer Praxis ausspricht. Der Begriff »Einzugsbereich« nimmt ein abgegrenztes Areal der sozialen Welt in den Blick. Dieser Blick wird aus der »hohen« Warte der Institution auf sein Objekt gerichtet. Dabei definiert die Institution, die psychiatrische Klinik, dieses Areal der sozialen Welt, einen Stadtteil oder Landkreis, im Hinblick auf sich selbst. Es handelt sich hierbei um einen Akt »hoheitlicher«, also institutioneller Umwidmung (vgl. PfeffererWolf, 1999, S. 54 ff.). »Zuständigkeitsbereich« markiert eine der soeben dargestellten Blickrichtung zwar entgegengesetzte, wenn auch dieser nicht per se widersprechende Orientierung. Hierbei wird auch von der Institution, hier der Beratungsstelle, auf ein abgegrenztes Areal der sozialen Welt geblickt. In umgekehrter Weise erscheint die Institution vielmehr bezogen auf das soziale Feld, das in solcher Perspektive ins Zentrum des »institutionellen« Interesses gerückt wird. Die Institution ordnet sich ihrem »Areal« der sozialen Welt, dem Sektor, in der Formulierung ihres »Zuständigkeitsbereiches« zu, oder mit anderen Worten:
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Sie verschreibt sich jenem expressis verbis in der Erklärung ihrer »Zuständigkeit«.
17.3 Wer spricht hier? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, scheint es mir sinnvoll, eine andere Frage zu stellen: Wie wird hier gesprochen? Ich will hier aus meiner Feldstudie zur Praxis in einem sozialpsychiatrischen Sektor in Hannover, und zwar demjenigen unserer Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), vier Beispiele für das nennen, was ich den sozialpsychiatrischen Jargon genannt habe: »Sektor«, »Kümmern«, »Anbinden« und »Case-Management« (vgl. Pfefferer-Wolf, 1999, S. 155 ff.). Das bereits im vorigen Abschnitt ausführlich dargestellte Bedeutungssprektrum des Begriffs »Sektor« gilt es, bei der Betrachtung der folgenden Begriffe im Hintergrund gegenwärtig zu halten – zumal sie ja als Praxisformen im Feld des sozialen Raumes wirksam sind, den der Begriff »Sektor« in der Sprache sozialpsychiatrischer Praxis bezeichnet. »Kümmern« Genauer: »sich kümmern«. Durch seine Selbstreflexivität erweist sich dieser Begriff – einer der Schlüsselbegriffe sozialpsychiatrischer Praxis, zumal im Verein mit dem ihm innewohnenden »Kummer« – als Vokabel aus dem »Befindlichkeits«-Jargon, ja fast schon dem »Betroffenheits«-Jargon. In erster Linie zählt dieses Wort allerdings zum »Helfer«-Jargon. »Sich kümmern« – um eine Person, um eine Situation, ein Problem: eine Vokabel, die sowohl in den Teambesprechungen sehr häufig auftaucht als auch oft in der Anfragesituation von außen mit aufforderndem Gestus an die Mitarbeiter der Beratungsstelle herangetragen wird. Sie ist als eine der zentralen, vielleicht gar die zentrale Vokabel sozialpsychiatrischen Agierens in dessen Selbst- wie Fremdverständnis zu bezeichnen. Das Spektrum praktischer Maßnahmen, das hier evoziert wird, ist von enormer Breite und umfasst so unterschiedliche Herangehensweisen wie den nachfragenden Telefonanruf eines Mitarbeiters, den Brief mit der Bitte um ein Gespräch beziehungsweise ein Gesprächsangebot – bis hin zu einem unangemeldeten Hausbesuch oder einer Klinikeinweisung gegen den Willen des Betroffenen. In linguistischer Perspektive könnte man sagen, dass hier die Denotation von den vielfältigen, oft widersprüchlichen Konnotationen gleichsam aufgefressen wird beziehungsweise sich die Denotation als einheitliche gar nicht fassen lässt.
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J. Pfefferer-Wolf
Dieser Begriff zeichnet sich demnach in besonderer Weise durch seine hochgradige Unschärfe aus. Er lässt als solcher offen, was in der gegebenen Situation konkret getan werden soll, und damit: was er aussagt. Im Schilde führt er aber nicht nur seine Unschärfe, die auch als Offenheit verstanden werden kann, sondern auch den ihm innewohnenden »Kummer«. Dieser Kummer wird in mannigfaltiger Gestalt aus dem Gegenstandsbereich sozialpsychiatrischer Praxis – den psychischen und sozialen Problemen – an die Mitarbeiter der Beratungsstelle herangetragen: von außen, das heißt aus dem sozialen Raum des Sektors. Dieser Kummer wird zum Initiator und zum Movens ihrer Aktivität. Deren praktische Vielgestaltigkeit und im Einzelfall höchst unterschiedliche, ja nicht selten antagonistische Ausrichtung – von einem beruhigenden Gespräch bis hin zu einer richterlichen Anhörung vor Ort – erweisen sich als ein praktisches Spannungsfeld, dessen Identifizierung diesem auf den ersten Blick so einfältig, ja harmlos klingenden Begriff erst bei genauerem Hinsehen – nach einem weitläufigen Durchgang durch die Tiefen und Untiefen seiner diversen Praktiken – zu entlocken ist. In der Unschärfe dieses Begriffs spiegelt sich die Offenheit des psychiatrischen Blicks vor Ort wider. Hier finden sich sowohl Entsprechungen wie auch Unterschiede zum klinischen Blick, im Sinne des regard médical bei Michel Foucault (Foucault, 1976; Pfefferer-Wolf, 1987, S. 87 ff.). Dieser Kummer bewegt vor Ort aber nicht nur, und zumal nicht in erster Linie, die institutionellen Akteure der Beratungsstelle und verwandter Institutionen. Zunächst und zuvorderst bewegt er die in der Lebenswelt durch ihn Betroffenen und Aufgeschreckten – wie nicht zuletzt auch durch ihn Vergesellschafteten: die Patienten, ihre Angehörigen, ihre Nachbarn, Freunde wie auch andere soziale Akteure in ihrem näheren und weiteren Umfeld. Wenn ihr Kümmern nicht mehr ausreicht beziehungsweise ihnen nicht mehr auszureichen scheint, wird von ihnen je unterschiedlich der Kummer an die institutionellen Akteure weitergereicht und damit deren »Sich-Kümmern« provoziert und schließlich ins Spiel gebracht. Und dies zunächst vor Ort, zuweilen mit dem Ergebnis des Exports dieses Kummers heraus aus der ursprünglichen lebensweltlichen Situation hinein in eine institutionelle Situation, zum Beispiel im Rahmen einer Klinik- oder Heimeinweisung. Seine affektive Tönung wie seine selbstreflexive Ausrichtung zeichnen diesen Begriff aus. Sie zeigen an und bringen zur Sprache die persönliche Involviertheit des jeweiligen sozialen Akteurs. So finden sich hier bereits im Begriff Ansatzpunkte für die potentielle Bewusstheit, genauer: Selbstbewusstmachung dieser Akteure in praxi. Dies zeichnet ihn aus gegenüber vergleichsweise neutral klingenden Begriffen wie »therapieren« oder »behandeln«. Das im sozialpsychiatrischen Jargon und den angrenzenden »Zunftsprachen« (Crystal) so gängige Wort »helfen« ist in vieler Hinsicht in Entsprechung zu unserem Begriff zu sehen, und zwar sowohl im Hinblick auf die
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affektive Tönung wie auch die Unschärfe beziehungsweise Offenheit. Die Unbestimmtheit wie die inflationäre Verwendung dieses Begriffs im psycho- und sozialinstitutionellen Kontext wird in der einschlägigen »Helfer«-Literatur zu Recht kritisch artikuliert. So identifiziert Schmidbauer die »hilflosen Helfer« und das »Helfer-Syndrom«. Cohen skizziert einen »Help-talk« in Differenz wie Entsprechung zu einem »Control-talk« (Schmidbauer, 1977, 1983; Cohen, 1985). Die Unbestimmtheit des Begriffs »kümmern« beziehungsweise »sich kümmern« weist allerdings weit über den Helfer-Jargon im psycho- und sozialinstitutionellen Kontext hinaus. Erweisen sich, wie oben dargestellt, manche Erscheinungsformen der mit diesem Begriff bezeichneten Interventionen schon in diesem Kontext als durchaus gewaltsamer Natur, so trifft dies bei der Verwendung dieses Begriffes im ordnungspolitischen, delinquenten und militärischen Sprachgebrauch in verstärktem Maße zu. Wenn es heißt »Wir kümmern uns darum«, so ist der Horizont der hier impliziten Handlungsmöglichkeiten weit gespannt. Er reicht von lebensweltlicher Anteilnahme und mitmenschlichem Beistand über die seelsorgerische oder therapeutische Hilfeleistung zur ordnungsstiftenden Zwangsmaßnahme bis hin zum delinquenten oder auch militärischen Versuch, je unterschiedliche Konflikt- und Problemlagen zu regulieren – oder auch, um hier zwei gängige ideologische Begriffe nicht zu unterschlagen: zu »befrieden« oder auch zu »entsorgen«. »Anbinden« Dies ist ein weiterer Schlüsselbegriff im sozialpsychiatrischen Jargon. Er ist als Korrespondenzbegriff zum klinisch-psychiatrischen »fixieren« anzusehen. Beide Begriffe werden aber ubiquitär verwendet, sowohl im klinisch-psychiatrischen wie im sozialpsychiatrischen Kontext: in beiden psychiatrischen Abteilungen der MHH, derjenigen für Klinische Psychiatrie ebenso wie derjenigen für Soziale Psychiatrie, ohne signifikante Unterschiede im alltäglichen Sprachgebrauch, und zwar sowohl im klinischen wie im ambulanten Feld. Aus diesem uniformen Sprachgebrauch erhellt, dass »Anbinden« in der sozialpsychiatrischen Praxis dem »Fixieren« in der klinisch-psychiatrischen Praxis direkt entspricht. Findet das eine »vor Ort«, also mitten im öffentlichen sozialen Raum, statt, so spielt sich das andere im sozialen Abseits der Anstalt oder Klinik ab. Kann man das sozialpsychiatrische »Anbinden« ein »Fixieren mit ambulanten Mitteln« nennen? Und wenn ja: mit welchen Mitteln? Im klinischen »Fixieren« begegnet uns materielle, das heißt physische Gewalt. Das sozialpsychiatrische »Anbinden« findet in der Sphäre symbolischer und materieller, also psychischer und sozialer Gewalt, statt. Zugespitzt kann man sagen, dass es sich sowohl beim »Fixieren« wie beim »Anbinden« um besonders intensive Formen von klinisch-psychiatrischer
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beziehungsweise sozialpsychiatrischer »Fürsorge« oder »Betreuung« handelt. Beide Begriffe können auch auf den gerade oben analysierten Basisbegriff psychiatrischer Praxis bezogen werden, nämlich »kümmern«. So könnte man sagen, dass sie jeweils extreme Formen des »Kümmerns« im anstaltlichen und klinischen wie im sozialpsychiatrischen Kontext darstellen. Beide Begriffe evozieren den Eindruck einer »fürsorglichen Belagerung« (Heinrich Böll) – im und am Klinikbett wie auch »vor Ort«. Dazu ein Zitat aus dem Feldmaterial meiner Studie: »Der leitende Krankenpfleger einer Station berichtet mir von einer Krankenschwester auf einer psychiatrischen Station der MHH, die ihm aus ihrer früheren ostdeutschen Klinik zum dortigen Fixieralltag berichtet habe: Das Fixieren der Patienten im Bett sei dort im Klinik-Jargon als ›Liegehilfe‹ bezeichnet worden.«
Lassen wir uns durch die hier zitierte »ostdeutsche« Klinik in der damaligen DDR nicht irreführen: Eine andere Krankenschwester könnte uns mühelos durchaus Entsprechendes aus einer westdeutschen Klinik berichten. Sie geriet nur nicht ins Visier meiner Feldforschung. In direkter Entsprechung zu diesem zynischen klinisch-psychiatrischen Begriff könnte man das »Anbinden« von Patienten an den ambulanten Dienst als »Gehhilfe« bezeichnen . . . Mit dem Begriff »anbinden« ist immer gemeint, dass jemand – meist ein Patient, manchmal auch seine Angehörigen – in Kontakt zu einer Beratungsstelle im Rang eines Sozialpsychiatrischen Dienstes, oder auch einer anderen ambulanten wie komplementären Institution, wie zum Beispiel einer Tagesklinik, einem Wohnheim, dem Freitagsclub etc., zu bringen und zu halten sei. Hier ist die Entsprechung zum gesellschaftlichen Gestus der Anstaltspraxis besonders deutlich – und wohlgemerkt: nicht nur zu ihrem Sprachgestus! Es werden hier gleichsam imaginäre Fixierungsgurte ins Spiel gebracht, um eines Problems, eines Klienten »Herr zu werden«, eine Situation unter Kontrolle und Aufsicht zu bringen beziehungsweise sie zu bewältigen. Räumliche Kontrolle, wie in der Anstalt und in der Klinik, verwandelt sich hier in eine zeitlich-räumliche Beziehungsarbeit, die wesentlich über Sprache vermittelt ist. Fixiert wird nun nicht mehr ein Körper, sondern eine Betreuer-Klienten-Beziehung, also eine institutionelle Beziehungsform, die weit in den Bereich der Lebenswelt hineinreicht. Konstituiert wird so eine markante gesellschaftliche Situation im institutionell-lebensweltlichen Übergangsbereich im sozialen Raum des Sektors. Bezeichnet wird mit diesem Begriff ein mehr oder weniger oktroyierter regelmäßiger Kontakt zu einer Institution der sozialpsychiatrischen Versorgung, im ambulanten und/oder komplementären Bereich, speziell zur Beratungsstelle als Sozialpsychiatrischem Dienst. Und dies auf Veranlassung von Ärzten, Klinik, Sozialstation, Familienhilfe, Angehörigen, Beratungsstelle etc.
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Es handelt sich also um eine sehr bedingte, nicht selten aus vielen Bedingungen sich herleitende »Freiwilligkeit«, so dass oft in der Folge einer solchen Anbindungsverordnung bei dem Angebundenen beziehungsweise Anzubindenden nur wenig bis gar keine Einsicht in Sinn und Nutzen seines Kontakts zur Institution mobilisiert werden kann. In anderen Fällen gelingt dies jedoch, so dass aus einer oktroyierten eine erklärte Freiwilligkeit werden kann. Illustriert sei diese komplexe und nicht selten widersprüchliche Problematik an einem Beispiel aus dem Feldmaterial meiner Studie: Das Beispiel des Herrn W. »Auch hier kam es zu einer solchen ›Kontaktverordnung‹ ohne Medikation. Im Vordergrund stand die Überwachungs- und Kontrollfunktion in ständiger Kooperation zwischen der Beratungsstelle und der Pflegerin beim Sozialamt. Der die involvierten Institutionen mobilisierende Druck im Hintergrund war ein zweifacher: die häufige Verunsicherung und Störung anderer Institutionen, z. B. auch der MHH-Klinik, niedergelassener Ärzte, Ämter etc. durch Herrn W. sowie dessen drohende Verwahrlosung in eigener Wohnung. Er war früher ›auf Trebe‹ gewesen, die Wohnungsbeschaffung qua Amt durch seine Pflegerin war praktisch gegen seinen erklärten Willen erfolgt. Er wollte partout nicht sesshaft werden.«
So erweist sich das »Anbinden vor Ort« als eine ziemlich eingreifende Form institutioneller Zuschreibung und Verortung. »Case-Management« Dieser Terminus technicus aus dem angelsächsischen Bereich ist in der deutschen Fachsprache seit langem ein stehender Begriff – und zwar nicht nur im ambulanten, sondern auch im stationären Bereich. Seine Anwendung beschränkt sich nicht auf den medizinischen, speziell psychiatrischen, Kontext. Auch in anderen psycho- und sozial-institutionellen Beratungs- und Betreuungszusammenhängen taucht dieser Begriff inzwischen auf. Der Fall und seine Bearbeitung werden in diesem Begriff zusammen artikuliert – und damit auch die Subjekte und Objekte wie auch die Form psychiatrischer Praxis. In der deutschen Fachsprache ist uns der Begriff »Fall« vertraut, ebenso der Begriff »Vorgang«. Etwas ist »der Fall« – aber nicht nur ausgedacht, möglich, sondern wirklich eingetreten, und damit: eine soziale Tatsache. Fälle und Vorgänge werden »bearbeitet« – so spricht die Sprache der verwalteten Welt (Korn, 1958; Pörksen, 1988). So klingt das, was wir Verwaltungs-Jargon nennen. Wir treffen diese Redeweise an in verschiedenen Institutionen im sozialen Bereich wie dem Sozialamt, Jugendamt oder Arbeitsamt bis weit hinein in den Sprachgebrauch der Medizin und speziell der Psychiatrie. So sind hier die Begriffe »Falldarstellung« oder »Fallvorstellung« gang und gäbe, speziell auch im klinischen Feld der Medizin, nicht nur der Psychiatrie. Case-Management, Fall-Bearbeitung – für den kritischen Zuhörer und Betrachter klingt hier die Sprache der Betriebswirtschaft an. Nehmen wir den gesellschaftlichen Gestus dieses Begriffes nun etwas näher in Augenschein, so begegnet uns zuerst der »Fall«. In diesem Sammelbegriff
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sind die unterschiedlichsten Personen und Situationen subsumiert. Der »Patient«, der »Klient« – sie stellen zwar auch eine Typisierung in Form einer Rollenzuschreibung dar, kleiden diese aber noch in die Beziehung zu einer konkreten Person. Der »Fall« geht einen wesentlichen Schritt weiter. Er stellt eine nicht nur typisierende, sondern darüber hinaus entpersönlichende, also objektivierende, verdinglichende, Redeweise dar. (Im Kontrast hierzu ist es heilsam, sich den weiten Horizont zu vergegenwärtigen, in dem Ludwig Wittgenstein sich mit dem Fall, der Welt und den Tatsachen auseinandersetzt: »Die Welt ist alles, was der Fall ist«, Wittgenstein, 1989.) Aus dem klinischen Jargon gerade auch in anderen Disziplinen der Medizin ist uns solche Sprachpraxis vertraut. So wird dort gesprochen von »einem Fall von Blinddarmentzündung«, und – noch einen Schritt weiter – von »dem Blinddarm in Zimmer 4«. Hier erheben sich die alten Fragen: Wer oder was ist ein »Fall«? Wie wird er dazu gemacht – und von wem? Wann entfällt dieser Fall – für sich und für andere, nicht zuletzt für seinen Manager . . . ? All dies verbirgt sich implizit in dem neutral anmutenden Begriff »Fall« – mehr, als dass es sich darin ausspräche. Betrachten wir nun den zweiten Teil dieses Begriffes: das Management beziehungsweise die Bearbeitung, so assoziieren wir sogleich die dazugehörigen sozialen Akteure: die Manager, Bearbeiter. Dies sind ebenfalls typisierende, rollenzuschreibende, aber personenbezogene Begriffe. Im Begriff »Management« klingt ein anderer im sozialtechnischen Jargon geläufiger Begriff an, nämlich der des »Handling«. Er impliziert den Umgang mit einer Fragestellung, die Regulierung eines Problems. Die handlungsleitende Idee, die sich im »konkreten Fall« nicht selten expressis verbis so ausspricht, ist dabei die folgende: »Damit werden wir schon fertig, keine Sorge! Wir verfügen über das nötige Wissen, die nötigen Techniken und Mittel!« In dieser verdinglichenden Perspektive sind »Management« und »Fall« durchaus korrespondierende, ja kongeniale Begriffe: Der Fall ist ein Problem, oder gar viele Probleme, das beziehungsweise die das Management »regulieren« muss. Case-Management – ein klassischer Begriff auch in der Sozialpsychiatrie. Ein moderner Begriff, ein technischer, auch technokratischer Begriff. Ein Terminus technicus des sozialtechnischen, auch des sozialpsychiatrischen Jargons. Denken wir auch an entsprechende Begriffe im allgemeinen heutigen Jargon wie »Pflegemanagement«, »Personalmanagement« oder »Gebäudemanagement«. Im Rückblick auf den oben untersuchten Begriff »Kümmern« ist die zunehmende Verbreitung des Begriffs Case-Management auch als ein Verweis auf die in medizinischen, psychiatrischen und sozialfürsorgerischen Praxisverhältnissen sich intensivierende Rationalisierung – nicht zuletzt veranlasst
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durch den Kostendruck – zu verstehen. Diese Entwicklung macht auch vor der psychiatrischen Praxis »vor Ort« nicht Halt. Diese Tendenz führt dazu, dass die ursprüngliche lebensweltliche Orientierung, die sich in dem Begriff »kümmern« ausspricht – nämlich die Sorge um den Kummer, des eigenen wie der anderen –, immer mehr verloren geht beziehungsweise in seiner technischen Orientierung pervertiert wird. Zugespitzt formuliert: Wo früher Kümmern wirkte und hinreichte, reguliert heute Case-Management!
17.4 Wer spricht? Kommen wir nun nach der Besichtigung dieser wenigen zentralen Begriffe des sozialpsychiatrischen Jargons zurück zu unserer Ausgangsfrage: Gibt es so etwas wie »die Sprache des Sektors«, genauer: »die Sprache der Sektoren«? Denn in der Tat handelt es sich ja um ein Netzwerk von Sektoren und nicht um einen einzelnen Sektor. Oder anders formuliert: Wer spricht in diesen Sektoren? – und: Welche Sprache? Betrachten wir unsere Beispiele, so finden wir Hinweise für das eine wie für das andere, nämlich die Sprache des Sektors und die Sprache im Sektor. Während das Wort »kümmern« dem alltäglichen Sprachgebrauch angehört und im sozialpsychiatrischen Jargon jenem entlehnt wird, sind die anderen Wörter »Sektor«, »Anbinden« und »Case-Management« Termini technici eben dieses Jargons. Im ersten Fall hören wir die Sprache, die die sozialen Akteure unterschiedlichster Herkunft und Zugehörigkeit in der Lebenswelt des Sektors sprechen, im zweiten Fall sprechen die Experten des sozialpsychiatrischen Sektors, also des institutionellen Systems in diesem sozialen Raum. Nicht zuletzt ist hier Heideggers Hinweis zu bedenken: »Aber die Sprache ist monolog. Dies sagt jetzt ein Zwiefaches: Die Sprache allein ist es, die eigentlich spricht. Und sie spricht einsam. Doch einsam kann nur sein, wer nicht allein ist; nicht allein, d. h. nicht abgesondert, vereinzelt, ohne jeden Bezug« (Heidegger, 1959, S. 239 ff.). Diese weitreichende Perspektive können wir an dieser Stelle nicht weiter verfolgen. Ich will auf sie aber ausdrücklich hinweisen – zeigt sie uns doch die innerste semiotische Natur der Sprache.
17.5 Ist noch Raum? Schließen will ich mit einer Frage, auf die ich allein – wie wohl wir alle – keine ausreichende Antwort weiß. Eine Antwort, eine lebensnotwendige sogar, die uns allen aber nicht gelingen kann und nicht gelingen wird, wenn nicht eben
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diese vielen und so unterschiedlichen Einzelnen, die wir sind, diese Unteilbaren, das heißt Individuen – wenn nicht diese Gesellschaft der Individuen, im Sinne von Norbert Elias, eine Antwort sucht und findet auf die unverzichtbare Frage nach dem Spielraum, nach den Spielräumen in eben dieser unserer Gesellschaft (Elias, 1987). Die Dichterin Rose Ausländer hat es für sich und ihr Schaffen so gesehen (Ausländer, 1976): Raum II Noch ist Raum für ein Gedicht Noch ist das Gedicht ein Raum wo man atmen kann
Wie verhält es sich mit dem Raum und dem Atmen in dieser Hinsicht in dem für uns hier in Rede stehenden Raum – im Raum des »vor Ort«, des »Sektors«, dem Kräftefeld des sozialen Raumes, wie es Pierre Bourdieu genannt hat, einem Raum, den wir als Sprachraum und als Spielraum verstehen können (Bourdieu, 1985)? Wenn wir in dem kleinen großen Gedicht der Rose Ausländer das Wort Gedicht durch das Wort Gespräch ersetzen, mögen wir einer Antwort auf diese Frage näher kommen: Noch ist Raum für ein Gespräch Noch ist das Gespräch ein Raum wo man atmen kann
Um das Sprechen, um das Hören, das Zuhören und das Antworten – um eben diese elementaren Vermögen sozialer Praxis geht es uns im sozialpsychiatrischen Sektor. Das hört sich nach wenig an, kann aber sehr viel sein. Ich sehe es mit Hilde Domin und Albert Camus in einer Doppelperspektive, die ein und dasselbe anzielt: als »Mindest-Utopie« und als »Politik des Relativen« (Domin, 2002, S. 166 ff.; Camus, 1947; Camus, 1965, S. 330 ff.). In einer Artikelserie in der Tageszeitung »Combat«, deren Chefredakteur Camus war, zum Ende des Jahres 1946, plädiert er für die bescheidene Reflexion, »la réflexion modeste«, im Interesse der Zukunft der menschlichen Gattung nach den Katastrophen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Mit dem Titel dieser Artikelserie zeigt er die unabdingbare Schwierigkeit dieses utopischen
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Versuchs an: »Weder Opfer noch Schlächter«! Hilde Domin war in der Zeit, über die Camus reflektiert, aus dem furchtbaren Deutschland über die halbe Welt geflohen, einem Deutschland, in dem der Tod regierte. Paul Celan, auch er ein todesbedrohter Flüchtling, hat für diesen unsagbaren tausendjährigen Versuch dennoch Worte gefunden in seiner »Todesfuge«: »der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau«
Und wie hat sich Hilde Domin nach ihrer langen Flucht aus diesem Deutschland und ihrer schließlichen Rückkehr in ihrer Frankfurter Römerberg-Rede von 1978 ihre »Mindest-Utopie« vorgestellt? »Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten
Das ›Wunder‹, ein im Lichte der Vernunft – um es mit Spinoza zu sagen – mögliches Wunder, für das hier Bereitschaft verlangt wird, besteht für mich darin, nicht im Stich zu lassen. Sich nicht und andere nicht. Und nicht im Stich gelassen zu werden. Das ist die Mindest-Utopie, ohne die es sich nicht lohnt, Mensch zu sein.« Wir sehen, die Doppelperspektive von Hilde Domin und Albert Camus ist keineswegs so minimalistisch und relativ, wie uns diese Begriffe zunächst anmuten . . . Wenn wir in dieser Perspektive zum Titel dieses Textes nun wirklich ein letztes Mal zurückkehren – »die Sprache der Sektoren« –, so glaube ich doch, dass wir einer Antwort auf die implizierte Frage näher kommen können: Wenn wir nicht wollen, dass die Sektoren sprechen – an unserer statt, und das hieße unweigerlich: gegen uns –, so dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, und auch nicht aus unseren Ohren wie unserer Vernunft, was den sozialen Raum unserer Welt ausmacht. Und dies, wohlgemerkt, als Spannungsfeld zwischen dem System der Institutionen einerseits und der Lebenswelt andererseits: Das Medium dieses Raumes ist wesentlich die Sprache – die von uns gesprochene Sprache. So kann und darf die Sozialpsychiatrie sich nicht zuerst und zuletzt – und eigentlich überhaupt nicht – als sogenannte »Sektorpsychiatrie« verstehen. Das Wort sozial verweist uns nicht auf den Sektor, nach seiner lateinischen Wurzel erinnert es uns an den socius: den Gefährten, den mitreisenden Anderen, den Mitmenschen – ein inzwischen längst antiquiertes Wort, aber hier befinden wir uns ja mit Günter Anders und manch anderen in bester eigensinniger Gesellschaft (Anders, 1980; Hesse, 1972; Negt und Kluge, 1981; Pfefferer-Wolf, 2001)! Der Austausch, die Vermittlung, die Verständigung, ja die Übersetzung
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gar mit und zu ihm beziehungsweise ihr, dem socius und der socia, ist uns in nuancierter und differenzierter Form nur in der Sprache möglich – und hier wiederum nur in der je eigenen in all ihrem Eigensinn.
Literatur Anders, G. (1980). Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I u. II. München: C. H. Beck. Ausländer, R. (1976). Noch ist Raum – Gedichte. Duisburg: Gilles & Francke. Bourdieu, P. (1985). Sozialer Raum und ›Klassen‹, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Camus, A. (1947). La Peste. Paris: Éditions Gallimard. Camus, A. (1965). Essais. Paris: Bibliothèque de la Pléiade. Cohen, S. (1985). Visions of social control. Crime, punishment and classification. Cambridge: Polity Press. Crystal, D. (1995). Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Der Kleine Stowasser (1964). München: Freytag. Domin, H. (2002). Aber die Hoffnung – Autobiographisches aus und über Deutschland. Frankfurt a. M.: Fischer. Elias, N. (1987). Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (1976). Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a. M. u. a.: Ullstein. (Französ. Orig.: Naissance de la clinique. Paris, Presses Universitaires de France, 1963) Freud, S. (1969). Studienausgabe Bd. I. Frankfurt a. M.: Fischer. Heidegger, M. (1959). Unterwegs zur Sprache. Stuttgart: Günther Neske. Hesse, H. (1972). Eigensinn. Autobiographische Schriften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Korn, K. (1958). Sprache in der verwalteten Welt. Frankfurt a. M.: Heinrich Scheffler. Negt, O., Kluge, A. (1981). Geschichte und Eigensinn. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins. Pfefferer-Wolf, H. (1999). Der Sozialpsychiatrische Habitus – Umrisse einer Theorie der Sozialen Psychiatrie. Frankfurt a. M.: Campus. Pfefferer-Wolf, H. (2001). Vom Eigensinn. Das Argument, 240, 209-216. Pfefferer-Wolf, H. (1987). Das Ende der Klinischen Hegemonie? Wahrnehmung und Praxis in der Sozialen Psychiatrie. In W. F. Haug, H. Pfefferer-Wolf (Hrsg.), Fremde Nähe. Zur Reorientierung des psychosozialen Projekts. Festschrift für Erich Wulff, Argument-Sonderband 152 (S. 87–100). Berlin: Argument. Pörksen, U. (1988). Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart: KlettCotta. Schmidbauer, W. (1977). Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek: Rowohlt. Schmidbauer, W. (1983). Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe. Reinbek: Rowohlt. Wahrig, G. (1980). Deutsches Wörterbuch. München: Mosaik. Winnicott, D. W. (1979). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta. Wittgenstein, L. (1989). Logisch-philosophische Abhandlung/Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe Bd. I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Zwischen kreativem Chaos und fachlichen Standards – Wissensmanagement im Sozialdienst der Psychiatrischen Klinik Uwe Blanke
»Nobody knows anything.« Hollywoodstudio-Weisheit
18.1 Die Ausgangslage Die Anforderungen an die Mit-Behandlung von Patienten in der Psychiatrischen Klinik durch die Mitarbeiter des Sozialdienstes, die im Rahmen der als Komplexleistung beschriebenen Gesamtbehandlung erfolgt, sind durch vielschichtige Faktoren determiniert. Das notwendige Wissen in Bezug auf diese Determinanten befindet sich in einem stetigen Wandel. Die Patienten, die in die Psychiatrische Klinik kommen, sind zu einem erheblichen Teil zusätzlich zur Erkrankung durch komplexe, soziale, familiäre, berufliche und wirtschaftliche Problemlagen belastet. Diese multiplen Belastungen sind je nach Sichtweise Ursache oder Folge der psychischen Erkrankung. In jedem Fall sind sie bedeutende Einschränkungen in Bezug auf den möglichen Behandlungs- und Gesundungsprozess. Ein Beispiel: Der ca. 50-jährige Patient stellt sich in der Zentralen Notfallaufnahme (ZNA) der Klinik vor. Zuvor sei er einige Wochen in der Stadt »umhergeirrt« und habe starke Gedanken, sich selbst das Leben zu nehmen. Bereits zwei Monate zuvor sei er in einer anderen psychiatrischen Klinik für einige Tage behandelt worden, als er sich schon einmal in einer suizidalen Krise befand. Die Anamnese ergibt folgendes Bild: Der Patient hat einen Hauptschulabschluss und eine Ausbildung in einem handwerklichen Beruf, seinen letzten Arbeitsplatz hat er vor zwei Monaten verloren, da er nicht dort erschienen ist. Die fristlose Kündigung liegt vor. Der Patient verfügt über kein Einkommen, keine Ersparnisse und ist nicht mehr krankenversichert. Zu dieser Situation sei es gekommen, nachdem seine Frau die Scheidung eingereicht hatte. Es habe sich um eine »Scheinehe« gehandelt, die der Patient, der sich selbst als »Einzelgänger« bezeichnet, in der Hoffnung auf eine »intakte Familie« mit einer Migrantin eingegangen sei. Nun habe sie ein Kind von einem anderen Mann. Er habe die gemeinsame Wohnung in einer Kleinstadt verlassen, er werde dorthin auch nicht mehr zurückkehren. Seinen eigenen Vater kenne er nicht und die Mutter sei gemeinsam mit seiner Schwester vor zwanzig Jahren ausgewandert. Zusammenfassung: Der Patient war zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Klinik ohne eigenes Einkommen, ohne Krankenversicherungsschutz, ohne Wohnung sowie ohne berufliche und persönliche Perspektive.
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Im sozialen Umfeld der Patienten gewinnen neben den Angehörigen, Behörden und Arbeitgebern externe professionelle Kooperationspartner wie rechtliche Betreuer oder Mitarbeiter von Einrichtungen der Eingliederungshilfe zunehmend an Bedeutung. Der Begriff des Fallmanagers, der gleichzeitig Aufgabe und Problem beschreibt, ist eingeführt, aber nicht wirklich mit Leben und Kompetenz gefüllt. Das stationäre Team in der Psychiatrischen Klinik besteht aus Ärzten im Stationsdienst, Oberärzten, Pflegepersonal, Diplom-Psychologen, Ergotherapeuten, Bewegungstherapeuten und Diplom-Sozialarbeitern/-pädagogen. Vergleicht man das Team einer psychiatrischen Station mit anderen Arbeitsfeldern, so ist die personelle Zusammensetzung vielschichtig und von der Struktur her auf zum Teil divergierende professionelle Sichtweisen angelegt. Mitarbeiter mit unterschiedlichen Berufen und Befugnissen, die unterschiedlichen Hierarchien zugeordnet und mit unterschiedlichen Perspektiven angestellt sind, haben gemeinsam – unter ärztlicher Verantwortung – die Behandlung der Patienten zu gestalten. Diese strukturellen Vorgaben erfordern gut organisierte und reflektierte Austausch- und Dokumentationsprozesse (Rappe-Giesecke, 1994, S. 65). In der Regel sind die Mitarbeiter des Sozialdienstes mit bestimmten Stundenkontingenten, die sich aus den Vorgaben der Personalverordnung Psychiatrie (PsychPV) errechnen, den einzelnen Stationen zugeordnet. Sie bieten Sprechstunden, Einzel- und Gruppenberatungen sowie konkrete Unterstützung für Patienten und Angehörige an. Alle Erkenntnisse aus der Kommunikation mit den Patienten und deren sozialem Umfeld unterliegen einem regelmäßigen Austausch mit den anderen am Behandlungsprozess beteiligten Berufsgruppen (Blanke und Kropp, 2005). Die Mitarbeiter des Sozialdienstes sind auf der einen Seite durch die jeweiligen Zuordnungen sehr spezialisiert tätig (z. B. Gerontopsychiatrie, Psychotherapie), auf der anderen Seite sollen sie jederzeit in der Lage sein eine Vertretung in jedem anderen Arbeitsbereich zu leisten. Dies erfordert den Austausch und die Verfügbarkeit von Daten, Informationen und Wissen. Ort der Behandlung, die als Komplexleistung erbracht wird, ist die Klinik, die Kompetenz, Effizienz und Wirtschaftlichkeit fordert. Hinter der Klinik stehen wiederum die Kostenträger, deren Einfluss sich in Bettenmesszahlen und durchschnittlichen Behandlungszeiten pro Patient niederschlägt. Die Aufforderung zum Spagat lautet: Die Behandlungszeiten sollen stetig kürzer werden und die Klinik soll kontinuierlich gut ausgelastet sein. Das Sozialsystem, das die gemeinsamen Rahmenbedingungen für Patienten, Angehörige und Behandler definiert, befindet sich seit Anfang der 1990er Jahre in einem stetigen und nachhaltigen Wandel. Die bestehenden Strukturen unterliegen unter der Wirkung der Globalisierungsprozesse in der Wirtschaft und der demographischen Entwicklung kürzer werdenden
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Erneuerungszyklen. Neue gesetzliche Rahmenbedingungen wie zum Beispiel das Betreuungsrecht (1992), die Pflegeversicherung (1995) oder die Reformen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (SGB II, SGB XII 2005), fordern neue Strukturen bei den Leistungsträgern und -erbringern, die diese Aufgaben nicht selten ohne angemessene inhaltliche und personelle Vorgaben (z. B. SGB II) zu gestalten haben. Die Halbwertzeiten von beschlossenen Sozialgesetzen verkürzen sich und parlamentarische Rückrufaktionen werden zur Regel.
18.2 »Wenn Ihr Unternehmen wüsste, was es weiß« oder: Wissensmanagement gewinnt an Bedeutung Etwa zeitgleich mit den als Globalisierungsprozess beschriebenen wirtschaftlichen Entwicklungen auf internationaler Ebene und dem demographischen Wandel auf nationaler Ebene differenzierte sich in den 1990er Jahren eine Diskussion zum effizienten Umgang und zur Weiterentwicklung von Wissen. Wissen wird zunehmend als Ressource, als Innovationsfaktor und als Garant zur Bewältigung von Komplexität und qualitativ neuen Anforderungen gesehen (Reinman-Rothmeier, 2001). Es ist eine Zunahme von wissensbasierten Dienstleistungen und Produkten zu verzeichnen. Der Umgang mit Wissen in Unternehmen und Volkswirtschaften wird zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Aus diesem Grund fördert das Bundesministerium für Wirtschaft seit einigen Jahren gezielt Projekte zur Weiterentwicklung von Wissensmanagement (http://wissenmanagen.net). Im Folgenden werden einige Kernaspekte der aktuellen Wissensmanagement-Diskussion zusammengefasst: Definition: Wissensarbeit Als Wissensarbeit werden Tätigkeiten bezeichnet, bei denen das erforderliche Wissen »(1) kontinuierlich revidiert, (2) permanent als verbesserungsbedürftig angesehen, (3) prinzipiell nicht als Wahrheit, sondern als Ressource betrachtet wird und (4) untrennbar mit Nichtwissen gekoppelt ist« (Wilcke, 1998, S. 161). Daten – Informationen – Wissen Die zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten erleichtern das Sammeln, Speichern, Wiederauffinden und Verarbeiten von Daten in großen Mengen. Daten werden aus Beobachtung erzeugt und per Konvention kodiert (Zahlen, Text, Grafik). Informationen werden als systemisch relevante Daten definiert, sie beziehen sich auf Problemzusammenhänge. Dem übergeordnet wird Wissen verstanden als die Verbindung von Informationen und persönlicher Erfahrung. Wissen ist subjektiv und entsteht durch die Verarbeitung und
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Diskussion von Informationen in Sinnzusammenhängen. Daten an sich sind wertlos (Piel, 2008; Reinmann-Rothmeier, 2001). Implizites und explizites Wissen Für das Handeln von Menschen wird unterschieden zwischen implizitem Wissen der einzelnen Person, das sich in hohem Maß aus persönlichen Erfahrungen beziehungsweise der Sozialisation speist und intuitiv angewendet, aber nicht artikuliert wird, das heißt ausschließlich an den Wissensträger gebunden ist, und explizitem Wissen, das sprachlich kodiert ist, sich niederschlägt in Dokumenten und damit vom Wissensträger abgekoppelt werden kann und der Allgemeinheit zur Verfügung steht. »Die Kunst besteht darin, dieses implizite Wissen so umzuwandeln, dass es im Organisationsprozess zu explizitem Wissen wird« (Simon, 2000, S. 340). Dieser Prozess wird als Externalisierung bezeichnet. Idealerweise wird das so explizit gewordene Wissen zu implizitem Wissen und es entsteht ein spiralförmiger Weiterentwicklungsprozess. Intelligente Personen = Intelligente Organisationen? In engem Zusammenhang damit steht die Frage nach dem Verhältnis von personalem und organisationalem Wissen (Davenport, 1998). »Die grundlegenden Probleme von Wissensarbeit kreisen um die Frage, wie das Zusammenspiel von personalem und organisationalem Wissen verstanden und organisiert werden kann« (Wilcke, 1998, S. 167). Zudem kann in komplexen Zusammenhängen nicht davon ausgegangen werden, dass es Personen geben kann, die alles wissen (Stichweh, 2004, S. 9). Die Aufgabe der Organisation liegt darin, die vorhandenen individuellen Potentiale einzelner Wissensträger zusammenführen, transparent und zugänglich zu machen. Dieser Prozess ist wünschenswert, gelingt jedoch in unterschiedlicher Qualität. So werden Organisationen beschrieben, die trotz außergewöhnlich hoher individueller Potentiale in großem Maße abhängig bleiben von der physischen Anwesenheit der Wissensträger, und solche, die bei weniger ausgeprägten Potentialen einzelner Personen Strukturen entwickelt haben, die jederzeit eine hohe Verfügbarkeit des Wissens erlauben (Wilcke, 1997; Wilcke, 1998, S. 166). Letztere werden als intelligente Organisationen bezeichnet (Piel, 2008). Neues Wissen generieren Wenn Wissen nicht nur das Zusammentragen von Daten und Informationen ist, sondern elementar mit der wert- und zielbezogenen Auseinandersetzung entsteht, so ist dieser Prozess nur sinnvoll durch Austauschprozesse von Wissensträgern umzusetzen. Hier liegt das große Potential von Synergieprozessen. Nur Organisationen, die beständig in der Lage sind neues Wissen zu schaffen, können auf Dauer bestehen.
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Neues Wissen schafft neues Nicht-Wissen Die Erkenntnis von Nicht-Wissen ist die treibende Kraft für die Suche nach Lösungen und neuem Wissen. Jede Form gewonnenen und angewandten Wissens beinhaltet gleichzeitig den Aspekt des Nicht-Wissens über mögliche Folgen und Wechselwirkungen (Piel, 2008). Einmal erarbeitetes Wissen ist unhintergehbar, die Rückkehr zum Zustand des Nicht-Wissens ist nicht möglich. Arbeitsgruppe – Bürokratie – Hypertextorganisation Wissensmanagement kommt nicht ohne adäquate Organisation aus, um individuelles Wissen vergemeinschaften zu können. Arbeitsgruppen und Individuen sind förderlich für den Austausch und die Schaffung von Wissen. Bürokratische Strukturen dagegen sind geeignet Daten, Informationen und Wissen zu sammeln und zur Verfügung zu stellen. Die produktive Synthese beider Formen wird als »Hypertextorganisation« bezeichnet (Simon, 2000, S. 347). Chancen und Risiken Unternehmen, die Wissensmanagement-Projekte betreiben, sehen Vorteile in folgenden Bereichen: 1. Kosten/Zeiteinsparungen, Produktivitätsverbesserung (46,8 %), 2. Prozessverbesserungen (24,8 %), 3. Verbesserungen im Informationsaustausch (22,0 %), 4. Kundenorientierung und -zufriedenheit (22,0 %), 5. Transparenz von Strukturen und Prozessen (20,2 %), 6. Verbesserung von Entscheidungen und Prognosen (19,3 %), 7. Qualitätsverbesserungen (19,3 %), 8. Mitarbeiterqualifikation und -zufriedenheit (11,0 %), 9. Erfolg und Marktführerschaft (10,1 %) (http://wissenmanagen.net). Die enge Verknüpfung von Wissen mit Informationen und Daten im Zusammenhang mit den neuen Speichermöglichkeiten bietet Chancen und Risiken zugleich. Zu den Risiken gehört der Aufbau von Wissenssilos (»Informationsschrott«), die Überfrachtung von Mitarbeitern mit Daten und unnötigen Informationen. Ein weiteres Risiko wird in zeitaufwendigen Verfahren und Instrumenten mit geringer Anwendbarkeit gesehen (http://wissenmanagen. net). Außerdem weisen die Erfahrungswerte darauf hin, dass das Beharrungsvermögen von Personen und Organisationen und historisch gewachsenen Strukturen bei der Einführung von Wissensmanagement-Prozessen in der Planung unbedingt berücksichtigt werden muss, um ein Gelingen der Innovation zu gewährleisten, da neue Transparenz zugleich auch Verunsicherung mit sich bringt (Reinmann-Rothmeier, 2001, S. 54). Außerdem werden die weiterhin reale Bedeutung des personengebundenen nicht explizierbaren Wissens sowie die Besonderheit der persönlichen Vernetzung von einzelnen Wissensträgern leicht unterschätzt.
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Wissensmanagement-Prozesse Nach Reinmann-Rothmeier (2001) lassen sich vier Kernprozesse im Wissensmanagement bestimmen: Wissensrepräsentation: Wissen identifizieren, Wissen bewahren, Wissen kodifizieren, Wissen aufbereiten, Wissen dokumentieren, Wissen explizit und zugänglich machen (S. 32). Wissenskommunikation: Wissen weitergeben, Wissen austauschen (z. B. Best-Practice-Sharing), Wissen gemeinsam konstruieren, Wissen verstehbar machen, Wissen überprüfen (S. 34). Wissensgenerierung: Wissen importieren (z. B. durch Fortbildung), Wissensnetzwerke aufbauen, neues Wissen durch Explizierung gewinnen, Forschung und Entwicklung, externes Wissen erwerben (z. B. durch Fusionen) (S. 37). Wissensnutzung: Wissen in Produkte transformieren, Wissen in Handlungen umsetzen, Wissen in Dienstleistungen transformieren, Wissen in Entscheidungen umsetzen (S. 39).
18.3 Wissensmanagement konkret: Das »Handbuch für den Sozialdienst« Die Verständigung über Wahrnehmungen, Daten, Informationen und mögliche Handlungsperspektiven findet für die Mitarbeiter des Sozialdienstes im direkten Kontakt mit den Patienten, mit einzelnen Personen aus dem stationären Team, mit externen Kooperationspartnern und innerhalb der eigenen Berufsgruppe statt. Die Besprechungen innerhalb der Berufsgruppe dienen dazu, offene patientenbezogene Fragestellungen zu thematisieren und nach bestmöglichen Lösungswegen zu suchen. Die individuellen Wissensbestände zu vergemeinschaften und insgesamt die Kompetenz in der Berufsgruppe weiterzuentwickeln waren zunächst sporadisch sich wiederholende Prozesse ohne dauerhaft tragende Struktur. Aus dieser Situation entstand die Idee, die gewonnenen Ergebnisse zu einem gemeinsamen Handbuch systematisch zusammenzuführen. Es wurde eine kleine Arbeitsgruppe gebildet, die einen Strukturvorschlag erarbeitete. Wichtige Impulse für die Formulierung von fachlichen Standards gingen dabei vom »Qualitätskonzept für die Sozialarbeit in den psychiatrischen Kliniken« des Berufsverbandes aus (DBSH, 2002). Das so entstandene Handbuch umfasst: 1. Informationen zur Anamneseerhebung, 2. eine umfangreiche Adressensammlung, 3. Fachinformationen zu relevanten Fragestellungen, 4. Standards für Arbeitsabläufe, 5. Informationen zu internen Abläufen im Sozialdienst und in der Klinik, 6. eine Sammlung von Musterbriefen,
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7. Hinweise zur Internetrecherche, 8. eine Sammlung von häufig zu nutzenden Formularen. Die Materialien liegen sowohl als Loseblattsammlung als auch als Datei im Intranet der Klinik vor und können damit von jeder zugangsberechtigten Person von jedem Rechner der Klinik aufgerufen werden. Von besonderer Bedeutung sind die »Fachinformationen« (z. B.: Kosten bei Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII, s. Abbildung 18.1), in denen für den beruflichen Kontext relevante Informationen gesammelt, diskutiert und aufbereitet werden. Für die Aufbereitung der Informationen wurde eine Layoutvorlage entwickelt, die in ihrer Struktur das schnelle Auffinden der jeweils gewünschten Information erleichtert. Den zweiten Schwerpunkt bilden die »Standards«, die im Sinne einer Geschäftsprozessanalyse wesentliche wiederkehrende Arbeitsabläufe (z. B.: Vorgehen bei Patienten ohne Krankenversicherungsschutz) beschreiben und den Mitarbeitern ein Best-Practice-Modell (»Idealtypischer Ablauf«) zur Verfügung stellen. Der Bedarf für einzelne Beiträge des Handbuchs ergibt sich zum einen aus den offenen Fragen einzelner Mitarbeiter und zum anderen aus der Notwendigkeit Handreichungen für Vertretungssituationen zu entwickeln. Nach den bisherigen Erfahrungen und aus dem Interesse, »Informationsschrott« zu vermeiden, ist die Aufnahme von Beiträgen sorgfältig zu prüfen. »So viel wie nötig, so wenig wie möglich« ist der Maßstab. Die einzelnen Beiträge werden von den jeweiligen Autoren in der Besprechung des Sozialdienstes vorgestellt, diskutiert und mit Verbesserungsvorschlägen versehen. Erst nach diesem Vorlauf werden sie in das Handbuch aufgenommen. Dadurch werden Daten und Informationen im oben genannten Sinn in Wissen transformiert. Gleichzeitig fördert dieser Prozess die Umwandlung von implizitem zu explizitem Wissen und die Ergebnisse werden durch die Diskussion qualitativ verbessert. Anregungen für Verbesserungen, die sich aus der Praxis ergeben, sind ausschließlich über die Autoren zu leiten, die für die Einarbeitung des jeweiligen Beitrages verantwortlich zeichnen. Die Autoren der Beiträge werden für die von ihnen bearbeiteten Themenbereiche als Experten hervorgehoben und wertgeschätzt (vgl. Seifter, 2001, S. 65). So ergibt sich ein spiralförmiger Weiterentwicklungsprozess. In diesem Zusammenhang entstehen gleichzeitig Ideen für neue Projekte und Dienstleistungen. Die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Arbeitslosengeldes II führte zum Beispiel zu einer Kooperation mit dem Job-Center und der Entwicklung eines neuen Angebotes zur beruflichen Rehabilitation (http://www.mh-hannover.de/berufliche-rehabilitation.html). Die beschriebene Vorgehensweise nimmt Anregungen aus der Wissensmanagement-Diskussion auf und überträgt sie auf die Bedürfnisse des Sozi-
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Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
U. Blanke Fachinformation Sozialdienst
Thema: Eingliederungshilfe Kosten für Betroffene und Angehörige Indikation: Leistungen der Eingliederungshilfe bei geistiger, seelischer oder körperlicher Behinderung entsprechend §§ 53, 54 SGB XII Rechtliche Grundlagen: SBB XII (Eingliederungshilfe für behinderte Menschen) • § 53 / Leistungsberechtigte und Aufgabe • § 54 / Leistungen der Eingliederungshilfe • § 85 / Einkommensgrenzen • § 90 / Einzusetzendes Vermögen • § 94 / Übergang von Ansprüchen auf einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen • § 55 SGB IX / Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft • §§ 1601 ff BGB / Verwandtenunterhalt (Kindesunterhalt) • §§ 1360 ff BGB / Ehegattenunterhalt Einrichtung: z.B.: Betreutes Wohnen, Tagestätten, Tagesförderstätte oder Fördergruppe und Einrichtungen der stationären Eingliederungshilfe – in freier Trägerschaft Kostenträger: 1) Leistungsempfänger 2) Örtlicher Sozialhilfeträger 3) Angehörige (Unterhaltspflicht nach BGB) Kosten: Werden im betreuten Wohnen z.B. nach Fachleistungsstunden (FLS) d.h. direkte Leistungen = 60 Minuten persönlicher Kontakt, zzgl. ca. 30 Min. Fahrtzeit pro Kontakt und mittelbarer sowie indirekter Zeiten. Ein Fachleistungsstunde kostet zur Zeit ca. 60,00 €. Der Besuch einer Tagesstätte wird pauschal abgerechnet, z.Z. mit ca. 1.000,00 € mtl. Bei stationärer Eingliederungshilfe liegen die Kosten zwischen ca. 1.500,00 und 3.000,00 € mtl. Einkommensgrenzen / § 85 SGB XII: • 2-facher Eckregelsatz 694,00 • + Miete • + Energie • + Monats-Karte ÖPNV • + Mehrbedarf • = Einkommensgrenze Vermögensfreigrenze: 2600,00 € Betroffene, 614,00 € Ehe-/Lebenspartner, 256,00 € weitere Pers. (Durchführungsverordnung zu § 90 SGB XII)
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Unterhaltspflichtige Angehörige: Die Unterhaltspflicht ist für die Eltern der Betroffenen entsprechend § 94(2) auf 26,00 € mtl. beschränkt. Bei stationären Maßnahmen der Eingliederungshilfe kommen weitere 20,00 € hinzu, wenn die Betroffene Person Leistungen nach dem dritten Kapitel SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt) bezieht. Achtung! Umgekehrt gilt diese Regelung nicht für unterhaltspflichtige Kinder und Ehegatten. Hier können erheblich höhere Ansprüche entstehen. Es greifen die Bestimmungen der §§ 1361, 1569 BGB (Selbstbehalt gegenüber Ehegatten) bzw. §§ 1601 ff BGB (Selbstbehalt gegenüber den Eltern) Ablauf: Selbstzahler oder Sozialhilfeantrag Der Sozialhilfeträger berät vor der Antragstellung Betroffene und Angehörige nicht über mögliche Kosten. Erst gestellte Anträge werden individuell bearbeitet. Bzgl. einer rechtlichen Beratung verweist der Sozialhilfeträger darauf geeignete Fachanwälte aufzusuchen. Literatur:
Marburger, H: SGB XII – Die neue Sozialhilfe, Walhalla-Verlag 2004
Internet: www. Erstellt durch: U. Blanke/Dipl. Sozialarbeiter/-pädagoge MHH – 7110 [email protected] 0511 – 5323182 Erstellt am: 01.09.2006 Aktualisiert am: 15.08.2007 Abbildung 18.1: Fachinformation Sozialdienst
aldienstes in der Psychiatrischen Klinik. Bereits der Einführungstext des Handbuchs erinnert alle Nutzer an die Notwendigkeit, dass das beschriebene Wissen kontinuierlich revidiert werden muss, um den sich verändernden Anforderungen gerecht werden zu können. Wissen wird kontinuierlich repräsentiert, kommuniziert, generiert und in aufgearbeiteter Form zugänglich gemacht und genutzt. Wir gehen davon aus, dass die Arbeit, die auf der einen Seite investiert wird, sich in einer kontinuierlichen Verbesserung der Beratungsqualität des Sozialdienstes zugunsten der Patienten niederschlägt. Da das System vollständig in den Rahmen bereits bestehender zeitlicher und materieller Strukturen integriert ist, entstehen keine zusätzlichen Kosten. Effektive Teamarbeit zeichnet sich nach Scholl (2003) durch Wissenszuwachs und dementsprechend durch gesteigerte Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit für die beteiligten Personen und Organisationen aus. Das beschriebene Modell dient dem Ziel, effektive Teamarbeit zu fördern und damit auch die persönliche Zufriedenheit der beteiligten Personen.
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U. Blanke
Literatur Blanke, U., Kropp, S. (2005). Das Erstinterview der klinischen Sozialarbeit in der Psychiatrie – Vom Leitfadeninterview zur abgestimmten patientenorientierten Komplexleistung. Krankenhauspsychiatrie 2005, 16, 162–166. Davenport, T. H., Prusak, L. (1998). Wenn Ihr Unternehmen wüßte, was es weiß. Das Praxisbuch zum Wissensmanagement. Landsberg: Verlage Moderne Industrie. DBSH – Deutscher Berufsverband für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik (Hrsg.) (2002). Qualitätskonzept für die Sozialarbeit in den psychiatrischen Kliniken. Bonn: VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung. Piel, K. (2008). Wissensgesellschaft und Wissensarbeit. Vortrag: Leibniz Universität Hannover – Weiterbildungsstudium Arbeitswissenschaften am 02.02.2008 Rappe-Giesecke, K. (1994). Supervision – Gruppen- und Teamsupervision in Theorie und Praxis. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag. Reinmann-Rothmeier, G., Mandl, H., Erlach, C., Neubauer, A. (2001). Wissensmanagement lernen. Weinheim u. Basel: Beltz Verlag. Scholl, W. (2003). Modelle effektiver Teamarbeit – eine Synthese. In S. Stumpf, A. Thomas (Hrsg.), Teamarbeit und Teamentwicklung (S. 3–34). Göttingen: Hogrefe. Seifter, H., Economy, P. (2001). Das virtuose Unternehmen. Frankfurt, New York: Campus-Verlag. Simon, H. (Hrsg.) (2000). Das große Handbuch der Strategiekonzepte – Ideen, die die Businesswelt verändert haben (2. Aufl.). Frankfurt, New York: Campus Verlag. Stichweh, R. (2004).Wissensgesellschaft und Wissenssystem. Schweizerische Zeitschrift für Soziologie, 30 (2), 147–167. URL: http://unilu.ch/files/35stichweh_7.pdf Wilcke, H. (1997). Dumme Universitäten, intelligente Parlamente. In R. Grossmann (Hrsg.), Wie wird Wissen wirksam? Iff-texte, Bd. 1, (S. 107–110). Wien, New York: Springer. Wilcke, H. (1998). Organisierte Wissensarbeit. Zeitschrift für Soziologie, 27 (3), 161–177.
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Wenn Zahlen rauschen statt sprechen Von der Problematik der epidemiologischen Bewertung psychischer und körperlicher Befunde am Beispiel einer Sekundärdatenanalyse Felix Wedegärtner und Siegfried Geyer
Seit Beginn der Psychiatrie liegt das grundsätzliche Problem der psychopathologischen Befunderhebung und Diagnostik darin, dass sie auf der von subjektiven Konzepten gelenkten Beobachtung des Untersuchers basiert. Die Krankheitskonzepte der Psychiatrie begannen mit der hippokratischen Humoralpathologie etwa ab dem 2. Jahrhundert n. Chr., die ein gestörtes Gleichgewicht der vier Körpersäfte als Ursache aller Krankheiten annahm. Der gleichzeitige Gebrauch einer Vielzahl unterschiedlicher Fachtermini, die mehr oder weniger auf ursachenspezifische Theorien bezogen waren, bewirkten eine Sprachverwirrung in der Psychiatrie, die einen Vergleich der psychiatrischen Krankheiten über lokale Gebiete hinaus lange Zeit erschwerte. Erstmalig gebrauchte der Münchner Psychiater Emil Kraepelin (1856– 1926) den Begriff der »natürlichen Krankheitseinheiten«. Der zentrale Gedanke dieses Ansatzes war, dass es in der Psychiatrie, wie auch in anderen medizinischen Fächern, von der Natur vorgegebene – in heutiger Terminologie: biologische – Krankheitseinheiten gibt. Das von Kraepelin vertretene, sehr weitgehende Postulat beinhaltete, dass verschiedene Forscher, unabhängig von der Methode des Herangehens – pathologische Anatomie, ätiologischpathogenetische Forschung oder Symptomatologie –, bei hinreichend ausgearbeiteter Technik sich immer auf die gleichen psychiatrischen Einheiten hinbewegen werden. Im Gegenentwurf thematisierte der Freiburger Psychiater A. E. Hoche (1865–1943), dass man »eine trübe Flüssigkeit« – nämlich das klinische Bild und der Verlauf seelischer Störungen – nicht dadurch klarer mache, dass man sie »von einem Gefäß in das andere gieße«, also den Störungen bloß andere Namen gebe (Hoche, 1913). Aus Hoches Aussage ergab sich sein Vorschlag, die Frage nach dem Vorkommen natürlicher Krankheitseinheiten zunächst als unbeantwortbar zurückzustellen und sich der Erarbeitung empirisch abgesicherter Symptomenkomplexe zu widmen. Der wichtigste Beitrag hierzu stammt noch heute von dem Nachfolger
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Kraepelins an der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (heute MaxPlanck-Institut für Psychiatrie) in München Kurt Schneider (1887–1967). In seinem Buch »Klinische Psychopathologie«, 1950 erstmalig zusammenfassend unter diesem Titel erschienen und 2007 nun in der 15. Auflage, behandelte er die psychischen Krankheiten in nur fünf Kapiteln. – Psychopathische Persönlichkeiten, – Abnorme Erlebnisreaktionen, – Schwachsinnige und ihre Psychosen, – Der Aufbau der körperlich begründbaren Psychosen, – Zyklothymie und Schizophrenie. Auch wenn sich die Einteilung geändert hat, hallen die Begriffe Schneiders in der von der WHO herausgegebenen »International Classification of Diseases«, 1992 in der 10. Revision »ICD-10« erschienen, nach (ICD-10, 2000). Eine beobachtende Klassifikation, mit Schneider gesprochen »nach der Form und nicht nach dem Inhalt«, hat sich weitgehend durchgesetzt, was allerdings die hinter den Syndromen stehenden »natürlichen Krankheitseinheiten« nicht prinzipiell ausschließt. Was bedeutet es aber, wenn wir heute psychische Krankheiten primär »nach der Form und nicht nach dem Inhalt« beurteilen? Nun, vor allem, dass diese Tätigkeit schwierig ist. Wie fröhlich können doch die Mikrobiologen sein, die sagen können »Das ist Chlamydia trachomatis« (oder irgendein anderer Keim). Was ist aber damit gemeint, wenn ein Untersucher sagt »Das ist eine Depression (ICD-10 F32.9)«? Die bekannten Antworten auf diese Frage wirken letztlich unbefriedigend. Das Vorhandensein der empirischen Klassifikationssysteme hat vor allem dazu geführt, dass riesige Datenberge in den Einrichtungen der sozialen Sicherung entstanden sind, in denen Krankheitsgeschichten zu Kodes geronnen sind. Die Datenberge sind erforderlich, ermöglichen sie doch die Abrechnung und Allokation der an den Menschen zu erbringenden Gesundheitsdienstleitungen auf buchhalterischem Niveau. Es soll auch nicht hinterfragt werden, ob der Umfang dieser Erfassung gerechtfertigt ist, da das Interesse eines Sozialleistungsträgers anzuerkennen ist, darlegen zu können, wofür er das von der Solidargemeinschaft aufgebrachte Geld ausgegeben hat. Es muss in dem Kontext allerdings daran erinnert werden, dass der Hintergrund jeder Tätigkeit im Sozialwesen die Hilfe zur Verwirklichung individueller, grundgesetzlich gesicherter Rechte ist. Es sind eben nicht primär kollektive Rechte, die das Sozialwesen verwirklichen helfen soll; das Individuum, das nicht weiter teilbare, steht im Zentrum des Interesses der sozialen Sicherungssysteme. Es ist dieses dem Kollektiven letztlich zuwiderlaufende Interesse, das der kollektivierenden Datenverwertung das Potential zur Absurdität mitgibt. Die genannten Datenberge provozieren gleichwohl Forschungsanstrengun-
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gen zur Generierung kleiner Wissensgranula über den Menschen und seine Krankheiten. Die Beschäftigung auf enumerativem Niveau kommt aber dem Kern der eingangs genannten Frage »Was ist eine Depression?« oder überhaupt einer Frage »Was ist X?« oft nicht näher. Was passieren kann, wenn man einen solchen Versuch des Näherkommens trotzdem unternimmt, soll im Folgenden geschildert werden.
19.1 Die Datenqualität von Schuleingangsuntersuchungen am Beispiel des Merkmals ZNS-Auffälligkeiten und Adipositas Nach Bekanntwerden der Tatsache, dass entsprechend der Dokumentation 25,9 % aller hannoverschen Kinder im Einschulungsalter eine Gewichtsauffälligkeit und 25,1 % ZNS-Auffälligkeiten hatten, wurde die Datenqualität von den Autoren überprüft. Anhand von Daten einer Reihenuntersuchung aus vier Jahren wurde untersucht, ob sich die Urteilsmuster innerhalb der Gruppe der untersuchenden Ärztinnen und Ärzte unterschieden. Alle erhobenen Diagnosen waren Gegenstand der Überprüfung. In diesem Aufsatz sollen kurz dargestellt werden: 1) Adipositas, weil für die Diagnose ein externes Kriterium zur Überprüfung vorhanden war. Die ärztlichen Klassifikationen konnten mit automatisch-korrekt erstellten Klassifikationen im Nachhinein verglichen werden. 2) ZNS-Auffälligkeiten, weil sie neben Gewichtsauffälligkeiten und Sprachauffälligkeiten die häufigste aller vergebenen Diagnosen darstellten. Im letzteren Fall gab es kein Außenkriterium, deshalb konnten die Unterschiede nur innerhalb der Gruppe von Untersuchern betrachtet werden. Es wurden die Einschulungsdaten der Stadt Hannover aus den Jahren 1998–2001 verwendet. Die Untersuchungen wurden nach dem standardisierten Untersuchungsprogramm SOPHIA (Sozialpädiatrisches Programm Hannover- Jugendärztliche Aufgaben) (IGFP, 1998) durchgeführt. Es wurde von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der Abteilungen Epidemiologie und Sozialmedizin sowie der Abteilung Medizinische Soziologie der Medizinischen Hochschule Hannover und der Abteilung Jugendgesundheitspflege des Gesundheitsamts Hannover entwickelt. Insgesamt waren 14 Ärztinnen und Ärzte beteiligt, die Daten von zweien mussten wegen zu geringer Fallzahlen ausgeschlossen werden. Die Analysen basieren auf den Daten von 18303 Schülerinnen und Schülern. Im Fall Adipositas wurden für die Ermittlung der Variabilität ärztlicher Diagnosen und der Klassifikation nach einem untersucherunabhängigen Kriterium Sensitivität und Spezifität berechnet. Die Vergleiche zu den nach Untersuchern unterschiedlichen Chancen einer Diagnose wurden mittels logistischer Regression durchgeführt.
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Tabelle 19.1: Basisverteilungen der Schuleingangsuntersuchungen 1998–2001 (N = 18.303) Auf die einzelnen Ärztinnen und Ärzte entfallende Untersuchungen 1001 1002 1003 1005 1006 1007 1008 1010 1011 2373 13%
1263 6,9%
2518 2895 650 13,8% 15,8% 3,6%
2425 894 13,3% 4,9%
1310 7,2%
1012
1013
1014
2317 918 12,7% 5,0%
384 2,1%
356 2,0%
In den Beobachtungsjahren durchgeführte Untersuchungen 1998 1999 2000 2001 5094 4640 4217 4352 27,8% 25,4% 23,0% 23,6% Merkmale der untersuchten Kinder Geschlecht Nationalität der untersuchten Kinder Durchschnittsalter Männlich Weiblich Deutsch Türkisch Andere 9555 8748 13598 2062 2669 M=5,75 52,2% 47,8% 74,2% 11,3% 14,6% Sd=0,55 Sozialstatus/ Position Niedrig Mittel Hoch Keine Angabe Gesamt 2388 7486 4629 3800 18303 13% 40,9% 25,3% 24,8% 100%
Über alle Jahre betrachtet, erreichen die Diagnosen bei der Erkennung gewichtsauffälliger Kinder eine Sensitivität von 64 % (Tabelle 19.2); unter diesem Gesamtwert verbergen sich deutliche Schwankungen über die betrachteten Jahre; so beträgt die Sensitivität im Jahr 1998 nur 46 %, im Jahr 1999 verbessert sie sich dagegen auf 72 % und liegt in den Jahren 2000 und 2001 bei 67 % und 68 %. Von 7265 gewichtsauffälligen Kindern wurden nur 4530 erkannt. Tabelle 19.2: Sensitivität und Spezifität ärztlicher Urteile für das Vorliegen von Übergewicht oberhalb der 75. und oberhalb der 97. Perzentile
Jahr 1998 1999 2000 2001 Alle Jahre
Auffälliges Körpergewicht (>75. Perzentile) Sensitivität Spezifität 0,46 0,99 0,72 0,98 0,67 0,98 0,68 0,99 0,64 0,99
Körpergewicht oberhalb der 97. Perzentile Sensitivität Spezifität 0,52 0,996 0,79 0,99 0,80 0,99 0,74 0,995 0,70 0,99
Diese vergleichsweise geringe Sensitivität bewirkt im Zusammenhang mit der hohen Prävalenz von Übergewichtigen oberhalb der 75. Perzentile einen insgesamt eher niedrigen prädiktiven Wert von 79,5 %. Die Ergebnisse verändern sich nicht wesentlich, wenn man die Güte der ärztlichen Urteile zur Erkennung eindeutig übergewichtiger Kinder unter-
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sucht, in dem nur die Gruppe der Kinder oberhalb der 97. Perzentile betrachtet werden (Tabelle 19.2). Die Gesamtsensitivität über alle Jahre lag in diesem Fall bei 70 %; von 2071 eindeutig adipösen Kindern wurden 1449 erkannt. Ein Arzt erkannte keines der von ihm untersuchten Kinder als adipös, obwohl in der untersuchten Gruppe 16 vorhanden waren.
19.2 Regressionsanalysen Im zweiten Schritt der Analyse wurden die Urteilsmuster der beteiligten Ärztinnen und Ärzte daraufhin untersucht, wie weit sie auseinanderliegen. Als Referenzkategorie wurde Ärztin/Arzt 1001 verwendet, weil sie/er in den dokumentierten Befunden die höchsten Übereinstimmungen mit der automatischen Klassifikation aufwies. In die Analyse wurden zusätzlich die wesentlichen Merkmale einbezogen, die Effekte auf das Risiko einer Adipositas haben können. Dies bezieht sich auf Geschlecht, sozioökonomische Position und die Nationalität. Zusätzlich wurden die Untersuchungsjahre sowie das Alter der Kinder zum Untersuchungszeitpunkt miteinbezogen.
Abbildung 19.1: Einfluss der Kovariaten auf das Risiko, eine Gewichtsauffälligkeit zu haben: Gegenüberstellung von Arzturteil und »golden standard«
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19.3 Adipositas: Diagnosen Die Regressionsanalyse zeigt, dass die Chancen, in die Gruppe der Kinder mit einer Adipositasdiagnose zu fallen, über die Untersucher stark variieren (Abbildung 19.1 und Tabelle 19.3). Insgesamt wurden 4679 Kinder (25,9 % aller untersuchten Kinder) als adipös klassifiziert. Arzt 1014 liegt mit weitem Abstand am unteren Ende; so liegt die Wahrscheinlichkeit, von dieser Ärztin/ diesem Arzt eine Adipositasdiagnose zu erhalten, in Relation zu Arzt 1001 nur bei 8 %, ähnlich niedrig ist die Chance bei Arzt 1008 (OR = 0,19). Die Analyse zeigt, dass die Untersuchereffekte deutlich höher sind als die Effekte Tabelle 19.3: Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit einer Diagnose »Adipositas«; der Untersucher mit der höchsten Übereinstimmung mit der automatischen Klassifikation (U1) wird als Vergleichsstandard gesetzt.
Variable Untersucher(in) 1001* Untersucher(in) 1002 Untersucher(in) 1003 Untersucher(in) 1005 Untersucher(in) 1006 Untersucher(in) 1007 Untersucher(in) 1008 Untersucher(in) 1010 Untersucher(in) 1011 Untersucher(in) 1012 Untersucher(in) 1013 Untersucher(in) 1014 Geschlecht (Frauen) SES** IV (unterste) SES III SES II SES I (oberste) Nationalität (deutsch) Nationalität (andere) Nationalität (türkisch) Unters.-Jahr 1998 Unters.-Jahr 1999 Unters.-Jahr 2000 Unters.-Jahr 2001 Alter (Jahre)
Arzturteil OR 95% CI 1 -0,97 0,84-1,12 0,29 0,25-0,33 0,74 0,66-0,83 0,25 0,19-0,33 0,59 0,52-0,67 0,19 0,15-0,24 0,55 0,47-0,65 0,66 0,58-0,74 0,43 0,36-0,52 0,75 0,59-0,96 0,08 0,05-0,13 1,10 1,02-1,18 1 Referenzkategorie 1,03 0,91-1,16 1,13 1,03-1,24 0,77 0,69-0,86 1 Referenzkategorie 1,30 1,18-1,43 1,75 1,58-1,95 1 Referenzkategorie 1,68 1,52-1,85 1,49 1,33-1,66 1,49 1,33-1,66 1,01 1,001-1,02
Vergleichsstandard OR 95% CI 1 -1,22 1,10-1,41 0,80 0,71-0,90 1,04 0,93-1,17 0,60 0,50-0,73 0,92 0,82-1,03 0,47 0,40-0,56 0,62 0,53-0,71 1,11 0,98-1,24 0,81 0,69-0,96 1,11 0,89-1,39 0,59 0,46-0,76 1,08 1,02-1,15 1 Referenzkategorie 1,08 0,97-1,21 1,10 1,01-1,20 0,86 0,79-0,95 1 Referenzkategorie 1,18 1,09-1,29 1,67 1,51-1,84 1 Referenzkategorie 0,89 0,81-0,97 0,83 0,76-0,92 0,84 0,76-0,92 1,003 0,996-1,011
* Referenzkategorie: Die betreffende Ärztin/der betreffende Arzt lag bei den Diagnosestellungen den Ergebnissen der automatischen Klassifikation am nächsten. ** Sozialschichtindex
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aller anderen Variablen, die in den Analysen berücksichtigt wurden. Die Effekte für die Untersuchungsjahre zeigen, dass in jedem Jahr eigenständige Bedingungen zusätzlich Einfluss auf die Untersuchungsergebnisse hatten.
19.4 Adipositas: Automatische Klassifikation Wenn die Adipositasdiagnose auf der Basis der automatischen Klassifikation vergeben wird, verändern sich die Ergebnisse erheblich. Das Odds Ratio für U14 steigt von OR = 0,08 auf OR = 0,59, Ähnliches findet sich bei Untersucher(in) U8 wieder. Insgesamt nähern sich die Odds Ratios bei Anwendung der automatischen Klassifikation stärker an. In einigen Fällen sind sie statistisch nicht mehr signifikant, trotzdem bleiben noch substanzielle Unterschiede zwischen den Beurteiler(innen). Hierin spiegeln sich die tatsächlichen Unterschiede der von den jeweiligen Ärzten untersuchten Stichproben wider. Diese sind nicht verwunderlich, da die jeweils untersuchten Stichproben aus diskreten Einzugsgebieten innerhalb Hannovers stammten, deren Bevölkerungen ethnisch und sozial unterschiedlich zusammengesetzt waren. Dennoch zeigt sich im Abstand zwischen den schwarzen und den roten Markierungen in Abbildung 19.1 die Qualität der Befundung. Je weiter die Punkte auseinanderliegen, desto weiter wich das durchschnittliche Arzturteil von der Wirklichkeit ab.
19.5 ZNS-Auffälligkeiten Für ZNS-Auffälligkeiten gab es im Gegensatz zu Adipositas kein externes Kriterium, deshalb mussten sich die durchgeführten Untersuchungen auf Vergleiche innerhalb der Gruppe der untersuchenden Ärztinnen und Ärzte beschränken (siehe Abbildung 19.2). ZNS-Auffälligkeiten waren häufig diagnostizierte Befunde. Deutliche Unterschiede waren zwischen den Untersuchern zu erkennen. Der Untersucher 1007 befundete von allen Kindern, die er zwischen 1998 und 2001 untersucht hat, durchschnittlich 40,2 % in dieser Hinsicht als auffällig, während der Untersucher 1011 im gleichen Zeitraum nur bei 13,8 % Auffälligkeiten feststellte. Mit der Ausnahme der Untersucher 1002 und 1005 blieb der Anteil positiver Befunde bei den untersuchenden Ärzten über die Jahre jedoch relativ konstant. Mit 9,9 % dokumentierte Arzt 1014 im Jahr 2001 den geringsten Anteil, mit 42,0 % Arzt 1007 im selben Jahr den höchsten Anteil pathologischer Befunde. 3,3 % aller untersuchten Kinder waren zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits aufgrund ZNS-Auffälligkeiten in ärztlicher Behandlung. Die Unter-
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Abbildung 19.2: Untersucherurteile – Prozentuale Häufigkeit der Diagnose »ZNS-Auffälligkeiten« bei den untersuchten Kindern nach Jahr und Arzt
sucher schickten dagegen zwischen 11,8 % (Arzt 1002, 1999) und 0,0 % (Arzt 1011 und 1012) zu einer ärztlichen Weiterbehandlung (Durchschnitt 4,7 %).
19.6 Können diese Zahlen trotzdem sprechen? Abschließend sind die praktischen Folgerungen aus den hier präsentierten Ergebnissen zu diskutieren. Einerseits zeigen die Befunde, dass die Übereinstimmung zwischen den an den Schuleingangsuntersuchungen beteiligten Ärztinnen und Ärzten relativ niedrig ist, und dies trifft auch auf andere Diagnosen zu, die wir hier nicht betrachtet haben (Wedegärtner, 2004). Als zusätzliches Beispiel für die geschilderte Problematik mag dienen, dass die Häufigkeit orthopädischer Auffälligkeiten bei Kindern abhängig vom untersuchenden Amtsarzt zwischen 5,4 % und 63,0 % variierte. Es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass dieser Häufigkeitsunterschied, wie auch alle anderen hier beschriebenen Häufigkeitsunterschiede auf tatsächliche Stichprobenunterschiede, die im beobachteten Objekt lagen, zurückzuführen sind. Lediglich für die Diagnose Adipositas gelang es nachzuweisen, dass nicht das tatsächliche Gewicht und die Größe eines Kindes die ärztliche Befundung am stärksten bestimmen, sondern die Person des Arztes selbst. Dies lässt aber alle anderen Befunde ebenfalls fragwürdig erscheinen. Warum sollte ein Untersucher, der den Adipositasstatus eines Kindes falsch einschätzt, orthopädische Auffälligkeiten oder ZNS-Auffälligkeiten besser befunden? Was sind nun die Gründe für die genannte Untauglichkeit der Daten? Sie
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lassen sich nur vermuten. An der Operationalisierung wird es nicht gelegen haben, denn sie war ausführlich und vorbildlich dokumentiert. Auch waren alle Untersucher langjährig in der Thematik erfahrene Ärzte. Trotzdem haben sie sich in den Schuleingangsuntersuchungen über die Operationalisierung hinweggesetzt und nach einem im Dunkeln bleibenden inneren Konstrukt gearbeitet. Dies ist so lange egal, wie die Daten nicht zum Zwecke der Bevölkerungsmedizin aggregiert werden. In diesem Bereich zeigt sich also sehr deutlich, dass man aus einem Datensatz eben vor allem die Fragen beantworten kann, für deren Beantwortung er gesammelt wurde. Konkret bedeutet das, dass man eben die Frage, ob ein Kind eingeschult werden kann oder ein gesundheitliches Risiko in der Einschulung liegt, mit einer Einschulungsuntersuchung wohl beantworten kann. Allerdings erscheint die Methode spätestens dann überstrapaziert, wenn ihre Ergebnisse zur Beantwortung generellerer Fragen dienen sollen; beispielsweise wie es um den seelischen Zustand aller Kinder in urbanen deutschen Regionen steht. Die Ergebnisse der Qualitätsanalyse stimmen derart besorgt, dass man geneigt ist, die Daten rundheraus als untauglich für alle epidemiologischen Fragestellungen zu klassifizieren. Was für die Schuleingangsuntersuchungsdaten gilt, trifft teilweise auch auf Sozialdaten zu, wenn sie dazu genutzt werden, die Prognose psychischer Erkrankungen abzuschätzen: Der ursprüngliche Sinn der Datenentstehung (beispielsweise Bescheinigung einer Arbeitsunfähigkeit) passt nicht zu dem später geäußerten Erkenntnisinteresse (epidemiologische Bewertung). Was passiert, wenn man einen »Fall« mit dem Kode »F32.9« mit einem anderen vergleicht? Man vergleicht zwei Fälle, die – mit Schneider gesprochen – scheinbar die gleiche Form haben. Sie haben aber nicht den gleichen Inhalt. Das abgewandelte volkstümliche Analogon mag stimmen: Zwar versucht man nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Aber man vergleicht Birnen
Abbildung 19.3: Was passiert, wenn man Birnen mit Birnen vergleicht? (Foto: aboutpixel.de)
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F. Wedegärtner und S. Geyer
mit anderen Birnen. Im verallgemeinernden Vergleich liegt eine gewisse Irrtumswahrscheinlichkeit, weil eben keine Birne der anderen gleicht. Und dennoch muss manchmal verallgemeinert werden, da sonst keine gemeinsame wissenschaftliche Sprache existieren könnte. Beschreibende Klassifikationen erzeugen eben immer wieder die Frage nach der Korrektheit der mit ihnen verbundenen Verallgemeinerung. Die Ergebnisse dieser Studie mögen daher als Warnung vor voreiligen Schlüssen aus Sekundärdaten dienen. Teile der hier dargestellten Ergebnisse wurden auch veröffentlicht in: Geyer, S., Wedegärtner, F. (2007). Variabilität von Arzturteilen in Schuleingangsuntersuchungen. Gesundheitswesen, 69, 621– 627.
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Sprache des Körpers – Ausdruck der Seele: Körperliche Aktivität und psychisches Wohlbefinden bei Migranten Marcel Sieberer und Iris Tatjana Calliess
20.1 Migration und seelische Gesundheit Eine stetig wachsende Zahl an Migrationsstudien beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Migration und seelischer Gesundheit. Bei vielen dieser Studien fällt eine vorwiegend auf Krankheit gerichtete Perspektive auf, während salutogenetische Ansätze beziehungsweise Ressourcen, die trotz vielfältig widriger Lebensumstände und Stressoren bei Migranten die Gesundheit erhalten können, verhältnismäßig selten thematisiert werden (Borde und David, 2007; Brucks, 2004; Faltermaier, 2001; Wiedl und Marschalck, 2001). Die eher defizitorientierte Sichtweise ist möglicherweise dadurch mitbegründet, dass bisherige Studien sich vorwiegend auf Inanspruchnahme-Populationen beziehen, während verlässliche epidemiologische Daten über die gesamte Population von Migranten bis heute fehlen (Boos-Nünning, 1998; Machleidt und Calliess, 2005; Machleidt, Behrens und Calliess, 2007). Es ist davon auszugehen, dass nicht nur das kritische Lebensereignis der Migration per se, sondern spezifische Risikokonstellationen, die mit der Migration verbunden sein können (u. a. Vorgeschichte, derzeitige Lebensbedingungen, körperlicher Gesundheitszustand), die Entstehung einer psychischen Erkrankung begünstigen (Bhugra und Jones, 2001; David, Borde und Kentenich, 1999; Hovey, 2000). Eine erhöhte Inzidenz psychischer oder somatischer Symptome ist möglicherweise zu einem beträchtlichen Teil auf stressreiche aktuelle Lebensbedingungen von Migranten (z. B. soziale Schicht, Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit, Wohnverhältnisse, Benachteiligung etc.) zurückzuführen (Al-Issa, 1997). Aus epidemiologischen Studien der Gesundheitswissenschaften ist bekannt, dass die soziale und materielle Lage eines Menschen einen wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit hat und dass in den unteren Gesellschaftsschichten ganz grundsätzlich eine höhere Prävalenz von Erkrankungen besteht (Mielck, 1994). Aufgrund dessen ist bei Migranten daher primär unabhängig von ihrer Ethnie und der Tatsache der Migration auch mit einer größeren gesundheitlichen Gefährdung zu rechnen (Faltermaier, 2001).
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Assion (2005) hat häufig mit einem Migrationsprozess assoziierte Störungen als »migrationstypische Störungen« bezeichnet; hierunter subsumiert er depressive Erkrankungen, psychosomatische Beschwerden, Somatisierung, Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen sowie Posttraumatische Belastungsstörungen. Depressive Syndrome sind bei Migranten in Europa und in den USA offenbar sehr verbreitet und vielleicht die häufigste psychische Störung bei Menschen, die ihren Wohnsitz in andere Länder verlegen und dabei besonderen sozialen und psychischen Belastungen sowie einer erhöhten Vulnerabilität ausgesetzt sind. Kleinman (2004) schätzt, dass wenigstens 50 % der Immigranten und Mitglieder ethnischer Minoritäten in den USA an einer klinischen Depression leiden. In einer Studie über die Lebenszeithäufigkeit von Major-Depressionen in verschiedenen Ethnien der USA wurden in zwei Gruppen weiße, schwarze und spanische Einwanderer in Los Angeles sowie Migranten aus Mexiko, Kuba und Puerto Rico untersucht (Oquendo, 2004). Es zeigte sich, dass in der Gruppe der weißen Einwanderer und der aus Puerto Rico die höchsten Depressionsraten gefunden wurden, was bei den Puertoricanern – und tendenziell auch bei den kubanischen Einwanderern – mit einer erhöhten Lebenszeitprävalenz an Suizidversuchen einherging. In einer Studie zu der Häufigkeit und den Risikofaktoren für eine depressive Erkrankung bei älteren türkischen und marokkanischen Migranten in den Niederlanden zeigte sich Ähnliches wie in den USA (Van der Wurff et al., 2004). Die Prävalenz depressiver Symptome, die mit Hilfe von Selbstbeurteilungsinstrumentarien erhoben wurden, lag für ältere Migranten aus Marokko bei 33,6 % und für türkische Migranten bei 61,5 % und damit erheblich höher als für einheimische Niederländer (14,5 %). Darüber hinaus waren der Ausbildungsgrad und das Einkommen von Migranten sehr niedrig, und sie hatten eine hohe Zahl körperlicher Behinderungen und chronischer medizinischer Erkrankungen. Der Faktor ethnische Herkunft war allein für sich mit dem Vorliegen bedeutsamer klinischer depressiver Symptome assoziiert. Die Ethnizität war also ein starker unabhängiger Risikofaktor für depressive Symptome. Neben Depressionen stellen Somatisierung im Allgemeinen und somatoforme Störungen im Besonderen kulturspezifisch unterschiedlich verteilte Phänomene dar (Rommel, 2005). Zusammenfassend kann man heute also davon ausgehen, dass Migration ein wesentlicher Auslösefaktor bei der Entwicklung sogenannter Stresserkrankungen, wie beispielsweise depressiver Störungen, Angst- und Abhängigkeitserkrankungen oder psychosomatischer Reaktionen, sein kann (Carta, Bernal, Hardoy und Haro-Abad, 2005).
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20.2 Körperliche Aktivität und psychisches Wohlbefinden In den vergangenen Jahren ist die Evidenz für positive Auswirkungen von körperlicher Aktivität auf die psychische Gesundheit gewachsen (Arent, Rogers und Landers, 2001). Ein günstiger Einfluss von Ausdauertraining auf psychologische Parameter wie Depressivität, Ängstlichkeit, Selbstbewusstsein, Konzentrationsvermögen oder Stressbewältigung konnte an Gesunden in einer Reihe von Studien gezeigt werden (Brooks et al., 1997). Neben günstigen Einflüssen von körperlicher Aktivität auf chronische Erkrankungen verbessert eine höhere körperliche Aktivität allgemein auch das subjektive Wohlbefinden (Biddle, 2000). Eine Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens durch gezieltes aerobes Ausdauertraining wird dabei neurobiologisch auf eine erhöhte Ausschüttung der Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin zurückgeführt (Kubesch und Spitzer, 1999). Aus psychologischer Sicht spielen vorrangig kognitiv-lerntheoretische Faktoren für die positiv erlebten Wirkungen von Ausdauertraining eine Rolle (Brooks et al., 1997). In der Behandlung psychischer Störungen zielen körperorientierte Therapieverfahren primär nicht auf eine Behandlung des Körpers ab, sondern auf eine Behandlung der Seele mittels des Körpers durch leibliche Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten. Das Ziel aller bewegungstherapeutischen Verfahren sollte demnach »über eine wie auch immer geartete Beeinflussung des Körpers hinausgehen und sich auf den Leib [. . . ] richten«, wobei der Begriff »Leib« über die reine Körperlichkeit hinausgeht und die seelische, geistige und soziale Einbindung des Menschen mit umfasst (Blankenburg und Haltenhof, 1993). Die Studienlage zu Auswirkungen von Sport- und Bewegungstherapie bei manifesten psychischen Störungen ist allerdings eher dürftig. Ein wissenschaftlicher Wirksamkeitsnachweis konnte bisher lediglich für depressive Störungen und wohl auch für Angsterkrankungen erbracht werden (Brooks et al., 1997). Auf eine Korrelation zwischen seelischer Gesundheit und dem körperlichen Aktivitätsgrad konnte in Populationsstudien hingewiesen werden (Paluska und Schwenk, 2000). Eine prospektive Kohortenstudie aus Südwales weist darauf hin, dass intensive körperliche Freizeitaktivität für einen Fünfjahreszeitraum mit einem geringeren Erkrankungsrisiko für Angststörungen oder Depressionen einhergeht (Wiles, Haase, Gallacher, Lawlor und Lewis, 2007). Abu-Omar, Rütten und Lehtinen (2004) berichten über Ergebnisse des Eurobarometer, einer europaweiten Befragung, in der eine positive Korrelation von körperlicher Aktivität und seelischer Gesundheit in 15 teilnehmenden Nationen gezeigt werden konnte. Da es sich dabei um Daten einer Querschnittstudie handelt, sind daraus allerdings keine Rückschlüsse auf kausale Zusammenhänge von körperlicher Aktivität und psychischer Gesundheit zu ziehen. Für außereuropäische Kulturkreise konnte ebenfalls – zum Beispiel in
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einer Querschnittstudie aus Sri Lanka – gezeigt werden, dass eine geringe körperliche Aktivität mit stärkerer depressiver Symptomatik assoziiert ist (Perera, Torabi, Jayawardana und Pallethanna, 2006). Die wachsende Gruppe älterer Migranten zeigt vergleichsweise hohe Raten gesundheitlicher Probleme, vor allem kardiovaskuläre, muskuloskeletale und auch psychische Probleme (Reinjeveld, Westhoff und Hopman-Rock, 2003). Deshalb gilt die Entwicklung spezieller Präventions- und Gesundheitsförderungsprogramme gerade für diese Zielgruppe als ein gesundheitspolitisch und sozioökonomisch lohnendes Ziel. Eine kontrollierte Studie aus den Niederlanden hat gezeigt, dass ein Edukations- und Bewegungsprogramm für ältere türkische Migranten zu einer Verbesserung psychischer Gesundheit führen kann (Reijneveld, Westhoff und Hopman-Rock, 2003). Um solche Effekte zu erzielen, sind allerdings umfassende kulturelle Adaptationen der Inhalte und Anwendungsmethoden geeigneter Präventionsprogramme unabdingbar.
20.3 Migration – Körper und Seele in Bewegung Die derzeitige internationale Datenlage zu den Zusammenhängen von Migration, körperlicher und seelischer Gesundheit spricht dafür, dass Migration mit ihren psychischen Auswirkungen ein komplexes prozesshaftes Geschehen ist. Das Individuum wird dabei besonderen psychosozialen Stressoren aussetzt, die sich unmittelbar auf die Gesundheit oder die Entstehung von Krankheit auswirken können (Bhugra, 2003, 2005; Berry, 1997, 1998). Jüngst publizierte Ergebnisse einer Stichprobenerhebung an Migranten in Deutschland weisen ebenfalls auf Zusammenhänge zwischen Akkulturation beziehungsweise Akkulturationsstress und psychischer Belastung hin (Haasen et al., 2007). Als wirksame Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen sind dabei zu differenzieren das Individuum, welches migriert, die Motive für und die Umstände der Migration, die Beziehungen zwischen dem Heimat- und dem Gastland (z. B. politische, diplomatische) sowie das Verhältnis zwischen der Aufnahme- und der Ursprungskultur (z. B. individualistisch vs. kollektivistisch) und die Art und Weise der Aufnahme einschließlich des Aufenthaltsstatus des Migranten im Gastland. All diese Faktoren beeinflussen in hohem Maße die Akkulturationsmöglichkeiten und -fähigkeiten eines Migranten (Behrens und Calliess, 2008). Vermutlich bestehen Zusammenhänge zwischen dem Migrationsstatus beziehungsweise der Akkulturation, einem niedrigeren körperlichen Aktivitätsniveau und der psychischen Gesundheit. Aus US-amerikanischen Erhebungen ist bekannt, dass Merkmale der Akkulturation, wie etwa die Sprachakkulturation oder die Migrationsgeneration, mit dem Ausmaß körperlicher Freizeitaktivität korrelieren (Wolin, Colditz, Stoddard, Emmons und Sorensen,
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2006). Dies konnte beispielsweise für Frauen lateinamerikanischer Herkunft in North Carolina (USA) gezeigt werden: Bessere Englischkenntnisse und ein eher niedriges Alter (< 25 J.) bei der Immigration waren ein positiver Prädiktor für höhere körperliche Aktivität (Evenson, Sarmiento und Ayala, 2004). Eine Befragung von über 10.000 in den USA lebenden Erwachsenen zeigte, dass Angehörige lateinamerikanischer Ethnien und die schwarze Bevölkerung eine geringere körperliche Aktivität in der Freizeit zeigten als Weiße, gleichzeitig korrelierte für alle ethnischen Gruppen eine Zugehörigkeit zu einer niedrigen Gesellschaftsschicht durchgängig mit einer stärkeren Inaktivität in der Freizeit (Marshall et al., 2007). Ergebnisse des Canadian Community Health Survey haben gezeigt, dass das körperliche Aktivitätsniveau von Immigranten in Kanada mit der Aufenthaltsdauer und mit Zugehörigkeit zu einzelnen ethnischen Gruppen korreliert (Tremblay, Bryan, Pérez, Ardern und Katzmarzyk, 2006). Aus diesen Ergebnissen wurde die Forderung abgeleitet, dass öffentliche Präventions- und Interventionsprogramme zur Förderung körperlicher Aktivität das Akkulturationsniveau der Zielgruppen und ethnische Besonderheiten stärker berücksichtigen sollten. Eine niederländische Studie bestätigte für ein Kollektiv junger türkischer Migranten (n = 484, 15–30 J.), dass eine hohe kulturelle und soziale Integration mit stärkerer körperlicher Aktivität in der Freizeit korreliert (Hosper, Klazinga und Stronks, 2007). Allerdings wurden in dieser Studie die beobachteten Effekte bei Berücksichtigung weiterer soziokultureller und -ökonomischer Faktoren (wie: Kinder zu haben, ein weniger attraktives nachbarschaftliches Umfeld oder körperliche Arbeit im Beruf) nivelliert. In einem dänischen National Health Interview Survey zeigten nichtwestliche Immigranten im Vergleich zu der heimischen Bevölkerung zwar gesündere Ernährungsgewohnheiten und einen geringeren Alkoholkonsum, gaben aber ein geringeres körperliches Aktivitätsniveau in der Freizeit an (Hansen, Ekholm und Kjoller, 2008). Eine weitere Studie zu Gesundheit und Gesundheitsverhalten von Aussiedlern zeigte, dass diese im Vergleich zu der übrigen deutschen Bevölkerung weniger sportlich aktiv waren, wobei sich dieser Unterschied mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Deutschland weitgehend anglich (Aparicio, Döring, Mielck, Holle und die KORA Studiengruppe, 2005). Die bisherige Datenlage spricht in gewisser Weise also dafür, dass eine geringere körperliche Aktivität von Migranten möglicherweise Ausdruck für mit Migration verbundenem Stress oder das Ergebnis eines niedrigen Akkulturationsniveaus sein kann und zu weiteren gesundheitlichen Nachteilen für die betroffenen Individuen führen kann. Zwar korreliert eine hohe Akkulturation offenbar positiv mit körperlicher Freizeit-Aktivität, allerdings zeigen Individuen mit niedriger Akkulturation ein höheres körperliches Aktivitätsniveau in beruflichem Zusammenhang (Wolin et al., 2006). Inwieweit durch die unterschiedlichen Kontexte, in denen körperliche Aktivität ausgeübt wird, auch die Auswirkung auf die gesundheitliche Entwicklung modifiziert wird,
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ist bisher nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht. In den bisherigen Untersuchungen über körperliche Aktivität von Migranten wurden zudem interkulturelle Unterschiede bezüglich der normativen Einstellungen und der damit determinierten mehrheitlichen Gewohnheiten in der Herkunftskultur zu wenig berücksichtigt. Ein Vergleich des Niveaus körperlicher Aktivität von Migranten mit entsprechenden Ergebnissen aus dem jeweiligen Herkunftsland sollte den Vergleich mit einer Stichprobe aus der Aufnahmekultur ergänzen. Derartig konzipierte Studien könnten durch eine ethnozentristische Sichtweise bedingte Fehlinterpretationen, zum Beispiel hinsichtlich der Bedeutung und Ursachen einer niedrigeren körperlichen Aktivität von einzelnen Migrantengruppen, vermeiden. Die Potentiale von Sport als Instrumentarium einer besseren sozialen Integration von Migranten werden in den letzten Jahren zunehmend anerkannt und gesellschaftspolitisch gefördert (vgl. www.integration-durch-sport.de, www.bundesregierung.de). Um die Möglichkeiten einer Integration durch Sport maßgeblich zu verbessern, sollten die Ursachen eingehender untersucht werden, die dazu führen, dass gerade Migranten mit niedrigem sozioökonomischen Status und geringer Akkulturation in der Freizeit körperlich inaktiver sind als die übrige Bevölkerung. Als mögliche Zugangsbarrieren werden diskutiert: ein Informationsdefizit über bestehende Angebote, geringere zeitliche oder finanzielle Ressourcen, ein schlechteres soziales Netzwerk für gemeinschaftliche Aktivitäten oder kulturell abweichende Interpretationen des Gesundheitswertes von körperlicher Aktivität beziehungsweise Inaktivität (Wolin et al., 2006). Migranten sind naturgemäß eine überaus heterogene Gruppe, weshalb zukünftig gruppenspezifische Untersuchungen zu fordern sind, um die Zusammenhänge zwischen Ethnie beziehungsweise Herkunftskultur, dem Akkulturationsprozess, psychosozialen Determinanten, kultureller Interpretationen und dem physischen und psychischen Gesundheitsstatus sowie den möglichen Strategien für präventive und therapeutische Maßnahmen für die jeweilige Zielgruppe besser klären zu können.
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Sinneswahrnehmung und Ausdruck von Depression Stefanie Lampen-Imkamp
Kaum eine Erkrankung hat so viele Gesichter wie die Depression. Bereits viele große Dichter haben die Flut der Gefühle in Worte gefasst, Maler haben sie in ausdruckvollen Bildern dargestellt, Komponisten haben sie erklingen lassen. Bei einer Vielzahl bekannter Künstler ist die Sprache, die sie sprechen, die Sprache der Depression. So ließ William Shakespeare in Macbeth den depressiven Gefühlen freien Lauf: »So bin ich wieder krank; sonst wär’ ich stark, gesund wie Marmor, fest wie Fels gegründet, weit, allgemein, wie Luft und Windshauch; doch jetzt bin ich umschränkt, gepfercht, umpfählt, geklemmt von niederträcht’ger Furcht und Zweifeln« (Shakespeare, 1632/1991, S. 39). Aber nicht nur Schriftsteller, sondern auch Politiker wie Otto von Bismarck, Wissenschaftler wie Maria Montessori und Philosophen wie Karl Marx litten unter der anhaltenden Traurigkeit. Einen der wohl bekanntesten Aussprüche hierzu traf Abraham Lincoln: »Ich bin der bedauernswerteste unter allen lebenden Menschen. Wenn unsere ganze Menschheitsfamilie fühlen würde, wie ich fühle, gäbe es nicht ein fröhliches Gesicht auf dieser Erde. Ich weiß nicht, ob es mir jemals wieder besser gehen wird. Eine schreckliche Ahnung sagt mir, dass das nicht der Fall ist. So kann es einfach nicht weitergehen. Entweder es geht mir bald besser, oder ich muss sterben« (Lincoln; zit. n. BMBF, 2007). Auch bedeutende Komponisten wie Johannes Brahms, Wolfgang Amadeus Mozart oder Anton Bruckner litten unter depressiven Symptomen. Anton Bruckner hat eine Vielzahl größerer und kleinerer geistlicher Werke hinterlassen, die zumeist für den liturgischen Gebrauch bestimmt waren und als solche Eingang in die Musikgeschichte fanden. Seine drei großen Messen sind liturgische Werke, die bereits zu Lebzeiten als solche begriffen wurden. Seine Messe Nr. 3 in f-Moll entstand in einer Zeit der Bedrängnis. Aufgrund der Depression begab sich Bruckner 1867 für mehrere Monate in der Kaltwasserheilanstalt Kaltbrunn in ärztliche Behandlung. Dort begann er, für ihn wie eine Therapie, mit der Komposition der Messe in f-Moll, die »Große« genannt, die ihn nach eigenen Worten »aus dem Sumpf des geistigen Niedergangs befreit« und zu seiner Genesung beigetragen hat (Schneider, 2008). Immer wieder begegnet man in der Kunst Bildern, die wie stumme Zeugen eines Malers wirken, der in seiner Schaffenszeit geprägt war von Traurigkeit. Eins der bekanntesten und eindrücklichsten Werke ist sicherlich »Der Schrei« von Edvard Munch (1863–1944). Hier wird der Mensch in seiner Angst und Einsamkeit innerhalb der Natur gezeigt, die nicht tröstet, sondern den Schrei
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auffängt und über die weite Bucht hinweg gewissermaßen bis in den blutigroten Himmel weiter trägt. Als Vorlage für das Gesicht diente Munch eine peruanische Mumie. Die Depression fand im 19. Jahrhundert, wie auch heute noch ihren Ausdruck in verschiedensten Facetten. Neben den allgemein bekannten Symptomen wie Stimmungstief, Lustlosigkeit, einem Gefühl der inneren Leere, Interessen- und Freudlosigkeit dürfen aber auch somatische Anzeichen nicht missachtet werden. Viele Betroffene berichten über Schlafstörungen, Gewichtsabnahme, Abgeschlagenheit, Konzentrationsstörungen und über eine innere Unruhe. Statistisch nehmen sich 4 % aller depressiv erkrankten Menschen im Verlauf der Erkrankung das Leben. Dies verdeutlicht den Einfluss dieser Erkrankung auf das gesellschaftliche Leben. Hierfür gibt es in der Geschichte viele Beispiele. Ernest Hemingway erschoss sich im Jahre 1961, wie bereits sein Vater 33 Jahre zuvor im Alter von 61 Jahren im Rahmen einer depressiven Episode. Kurt Cobain erschoss sich ebenfalls in einer depressiven Phase unter Drogeneinfluss und auch Marilyn Monroe starb in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1962 im Alter von 36 Jahren vermutlich an einer Überdosis Schlaftabletten, die sie aufgrund langjähriger Depressionen einnahm. Versuche von Eigentherapien mit Rauschmitteln, Alkohol oder Tabletten haben in allen Epochen stattgefunden. So wurde Opium und der Saft des Schlafmohns wahrscheinlich schon in der Frühzeit um ca. 3000 v. Chr. als Rauschmittel und Medikament benutzt. Die Behandlung psychischer Erkrankungen wurde im 19. Jahrhundert vorwiegend mit sedierend wirkenden Substanzen, wie zum Beispiel Opium oder Belladonna durchgeführt. Dies erklärt den heute antiquierten Begriff der Schlaftherapie. Immer wieder beschrieben aber auch Künstler und Politiker ihre eigene Therapie mit Alkohol und Drogen. So prägte Wilhelm Buschs Werk den Ausspruch »Es ist ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör!« (Busch, 1987). Bereits im Mittelalter wurde Rauwolfia und später Kokain aufgrund der psychotropen Wirkung zur Therapie bei psychischen Erkrankungen eingesetzt, die ersten klinisch relevanten Medikamente wurden aber mit Lithium (1949) und Chlorpromazin (1952) erst verhältnismäßig spät entdeckt. Zwischen der Entdeckung des ersten trizyklischen Antidepressivums Imipramin 1956 und den Monoaminoxidase-Hemmern vergingen weitere 25 Jahre. Trotz der bewährten pharmakologischen und psychotherapeutischen Interventionen bleiben jedoch viele depressive Erkrankungen unzulänglich behandelt. Ein zentrales Problem in der Pharmakotherapie von Depressionen besteht in einer mangelnden Compliance von Patienten unter einer antidepressiven Medikation. Studien konnten zeigen, dass bis zu 60 % aller Patienten die begonnene antidepressive Therapie bereits drei Wochen nach Behandlungsbeginn aus eigenem Antrieb beendeten (Aspler, 1984; Fawcett, 1995). Auf der Suche nach effektiven und trotzdem für den Patienten akzeptablen
Sinneswahrnehmung und Ausdruck von Depression
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Behandlungsmethoden wurde die antidepressive Wirkung körperlicher Aktivität entdeckt (Brosse, 2002; Craft, 1998; Greist, 1979). In kontrollierten Studien wurden dabei vorwiegend aerobe Dauerleistungen wie Laufen oder Gehen untersucht. Die zeitliche Intensität lag zwischen drei und fünf Trainingseinheiten pro Woche mit einer Bewegungsdauer von 20 bis 60 Minuten. In seiner Übersichtsarbeit »Sport- und Bewegungstherapie in der Psychiatrie« zeigte Neumann 2005, dass die Methoden zwar feste Bestandteile in der Behandlung psychiatrischer Patienten sind, jedoch nicht zu den evidenzbasierten Therapien gezählt werden können. Es gibt zwar aktuell zahlreiche Untersuchungen, die auch überwiegend alle zu positiven Ergebnissen kommen, allerdings weisen viele dieser Studien Mängel auf (Neumann, 2005). Die meisten Arbeiten beruhen auf neurobiologischen Hypothesen hinsichtlich der antidepressiven Wirkung körperlicher Aktivität. Ein möglicher Einfluss neuromuskulärer Aktivität auf Neurotransmittersysteme, neuroendokrine Funktionen und Endorphine wird diskutiert (Brosse, 2002). Gemessen am BDI (Becks Depressions Inventar) konnte in Untersuchungen mit Patienten aus einer Lauftherapie-Gruppe signifikante Verbesserungen gegenüber der Kontrollgruppe nachgewiesen werden (Martinsen, 1989). Ein für den klinischen Alltag interessantes Ergebnis bietet die Untersuchung von Blumenthal et al. (1991). Diese Studie verglich Laufgruppen mit jeweils zwei Kontrollgruppen. Sie setzten sich zusammen aus einer medikamentös behandelten Gruppe, einer Gruppe mit medikamentöser Behandlung ergänzt durch Lauftherapie, einem Kollektiv mit zeitlich begrenzter und einer Gruppe mit zeitlich unbegrenzter Psychotherapie. Im Verlauf konnten alle Gruppen eine signifikante Besserung erzielen; ein Unterschied zwischen den Gruppen konnte nicht gefunden werden (Blumenthal, 1999). In der aktuell zur Verfügung stehenden Literatur fehlen Angaben zu den angewendeten Sportarten. Es ist unklar, ob Walking, Laufbandtraining, Schwimmen, Turnen oder Kraftsport geeignete Methoden mit antidepressiver Wirkung darstellen. In den meisten Fällen wurde aerobe Dauerleistung wie Laufen untersucht. Eine Empfehlung über die Art und die Intensität der körperlichen Betätigung kann daher nicht abgeleitet werden. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es einige Erklärungsmodelle, die sich insbesondere an der Pathophysiologie der Depression orientieren, die als Modell für den antidepressiven Effekt körperlicher Tätigkeit dienen. Zugrunde liegen hier die biologischen Grundlagen der Depression: – Neurotransmitter- und Neurorezeptorstörungen, – Durchblutungs- und Stoffwechselanomalien, speziell des präfrontalen Cortex, – Neuroendokrine Störungen, – Strukturelle Veränderungen wie Volumenminderung des Hippocampus oder Störungen der Neurogenese und Neuroplastizität.
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S. Lampen-Imkamp
21.1 Neurotransmitter- und Neurorezeptorstörungen Die Pharmakotherapie stützt sich auf die Hypothese einer gestörten serotonergen und noradrengergen Neurotransmission bei dem Einsatz von Antidepressiva. Dopamin, Acetylcholin und GABA spielen in diesem neurobiochemischen Störungsmodell eine wichtige Rolle. Tierexperimentelle Untersuchungen stützen die die These, das körperliche Aktivität auf die Synthese und den Stoffwechsel zerebraler Monoamine Einfluss nimmt (Chaouloff, 1989, 1997). In Humanstudien wurden die ZNS- Konzentrationen der Monoamine bisher nicht bestimmt. Im Tierversuch konnte eine signifikante Steigerung zerebraler Monoamine unter den Einfluss von Bewegung nachgewiesen werden. Antidepressiva beeinflussen die Neurotransmission, aber auch die Genexpression neurotropher Faktoren (Eriksson, 1998). Ob allerdings der unmittelbare Einfluss der Antidepressiva auf die Neurotransmission oder deren Einfluss auf die Neurogenese oder beides für den antidepressiven Effekt verantwortlich ist, ist ungeklärt.
21.2 Durchblutungs- und Stoffwechselanomalien Durch die Bestimmung der regionalen Hirndurchblutung durch funktionelle Bildgebung mittels SPECT und PET konnte bei Depressiven eine Reduktion der Hirndurchblutung und des Hirnstoffwechsels in der anterioren Region im linken präfrontalen Cortex gezeigt werden. Ebenfalls sichtbar waren Durchblutungsanomalien und Veränderungen des Glucosestoffwechsels im Bereich des anterioren und posterioren Cingulums und des medialen präfrontalen Cortex (Mayberg, 1997). Sowohl ein frontaler als auch ein cingulärer Hyperund Hypometabolismus wurden als typisches Zeichen einer Depression beschrieben. Körperliche Aktivität führte zu einer Steigerung der zerebralen Durchblutung. Ein eindeutiger antidepressiver Effekt konnte jedoch in bisherigen Studien nicht damit in Verbindung gebracht werden.
21.3 Neuroendokrine Störungen Ein großer Teil der depressiv erkrankten Patienten weist eine Störung der hormonellen Regelkreise, speziell der HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindensystem), auf. Studien konnten zeigen, dass durch körperliches Training die Stressanfälligkeit der HPA- Achse stabilisiert werden kann (Blumenthal, 1991). Besondere Bedeutung hat die Normalisierung der stress- und depressionsbedingt erhöhten Glukokortikoidsekretion. Hyperkortisolismus führt zu einem Zelluntergang im Limbischen System und
Sinneswahrnehmung und Ausdruck von Depression
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neuroprotektive sowie neurogenetische Mechanismen nehmen Schaden, da die Synthese von BDNF (Brain Derived Neurotrophic Factor) unter erhöhter Glukokortikoidaussschüttung signifikant abnimmt (Berchtold, 2001). Die sich so ergebende Atrophie hippocampaler Neurone kann zu dauerhaft erhöhten Glukokortikoidspiegeln mit hippocampalen Zelluntergängen führen. Eine Lauftherapie könnte über die vermehrte Stressreduktion somit zu einer vermehrten Expression neurotropher Faktoren und zu hippocampaler Neurogenese führen und diesem Kreislauf entgegenwirken.
21.4 Neurogenese und Neuroplastizität In den genannten Studien wurde gezeigt, dass ein Mindestmaß an neuromuskulärer Aktivität erforderlich ist, um physiologische Werte von BDNF zu erzielen und somit das Potential der Neuroplastizität zu sichern. Im Tiermodell kam es zu einer signifikanten Zunahme von BDNF unter Laufbandbelastung (Neeper, 1996). Auch in anderen Hirnarealen wie dem Gyrus dentatus, in cerebellären und kortikalen Regionen fanden sich vermehrte BDNF mRNA und Proteine. Dass körperliche Aktivität auch beim Menschen die BDNF-Expression fördert, ist sehr wahrscheinlich und hat für die Depressionsbehandlung einen großen Stellenwert. Die Tatsache, dass es unter antidepressiver Therapie zu einer Zunahme von hippocampaler BDNF-mRNA-Konzentration kommt, stützt diese Annahme zusätzlich. Eine Besserung depressiver Symptome wie die Steigerung der Kognition wäre über diese trainingsinduzierte BDNF-Aktivierung und die damit verbundenen adulten hippocampalen Neurogenese zu erklären (Eriksson, 1998). Ob und in welchem Maße Bewegung die Neurogenese im menschlichen Gehirn anregt, ist nicht gesichert. Im therapeutischen Alltag nimmt die Lauftherapie zwar keinesfalls den gleichen Stellenwert ein wie die etablierte Pharmako- und Psychotherapie. Jedoch könnte der Lauftherapie, basierend auf neurowissenschaftlicher Grundlagenforschung, künftig eine zunehmende Bedeutung in der Psychiatrie zukommen. Empirisch sprechen epidemiologische und klinische Studien dafür, dass körperliches Training in Form von Ausdauersport, dem Erhalt und der Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit und der emotionalen Stabilität dient. Auch wenn die bisher noch hypothetischen Zusammenhänge von körperlicher Aktivität und antidepressiver Wirkung im Detail nicht geklärt sind, sollte bedacht werden, dass Bewegungstherapie, speziell das Laufen, eine kostengünstige, gesundheitsfördernde Maßnahme ist, die die Patienten motiviert, schnelle Erfolgserlebnisse zulässt und ein Gruppengefühl durch gemeinsame Trainingseinheiten entstehen lässt. Als bedeutender Nebeneffekt können durch Bewegung das Herzinfarktrisiko
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gesenkt und dem Auftreten des metabolischen Syndroms entgegen gewirkt werden. Schon Joachim Ringelnatz war bewusst: »Sport stärkt Arme, Rumpf und Beine, kürzt die öde Zeit, und er schützt uns durch Vereine, vor der Einsamkeit« (Ringelnatz). Und auch der bedeutende Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau machte mit dem Ausspruch »Vor allem wegen der Seele ist es nötig, den Körper zu üben, und gerade das ist es, was unsere Klugschwätzer nicht einsehen wollen« (Rousseau) auf sich aufmerksam, vielleicht war es dieses Motto, das beide Künstler von der Volkskrankheit Depression verschonte.
Literatur Aspler, R., Rothmann, E. (1984). Correlates of compliance with psychoactive prescriptions. Journal of Psychoactive Drugs, 18, 193–199. Berchthold, N. C., Kesslak, J. P., Pike, C. J., Adlard, P. A., Cotman C. W. (2001). Estrogen and exercise interact to regulate brain-derived neurotrophic factor mRNA and protein expression in the hippocampus. European Journal of Neurosience, 14, 1992–2002. Blumenthal, J. A., Fredrikson, M., Matthews, K. A., Kuhn, C. M., Schniebolk, S., German, D., Rifai, N., Steege, J., Rodin, J. (1991). Stress reactivity and exercise training in premenopausal and postmenopausal women. Health Psychology, 10, 384–391. Blumenthal, J. A., Babyka, M. A., Moore, K. A., Craig, H. E. (1999). Comparison of aerobic exercise in older patients with major depression. Arch. Intern. Medizin, 159, 2349–2356. Brosse, A. L., Sheets, E. S., Lett, H. S., Blumenthal, J. A. (2002). Exercise and the treatment of clinical depression in adults. Sports Medizin, 32, 741–760. Bundesministerium für Bildung und Forschung, »Es ist, als ob die Seele unwohl wäre« Depression: Wege aus der Schwermut Forscher bringen Licht in die Lebensfinsternis. Zugriff am 12.05.2008 unter http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/_media/Depression_2007.pdf Busch, W. (1987). Die schönsten Bildergeschichten: Die fromme Helene. Gondrom, 16, 542. Chaouloff, F. (1989). Physical exercise and brain monoamines: a review. Acta Physiol. Scand., 137, 1–13. Chaouloff, F. (1997). Effects of acute physical exercise on central serotonergic systems. Med. Sci. Sports Exerc., 29, 58–62. Craft, L. L., Landers, D. M. (1998). The effect of exercise on clinical depression and depression resulting from mental illness: a metaanalysis. Journal of Sport Exerc. Psych., 20, 339–357. Eriksson, P. S. Perfilieva, E., Björk-Eriksson, T., Alborn, A. M., Nordborg, C., Peterson, D. A., Gage, F. H. (1998). Neurogenesis in the adult human hippocampus. Na. Med., 4, 481–490. Fawcett J. (1995), Compliance: Definitions and key issues. Journal Clinical Psychiatry, 56, 4–8. Greist, J. H., Klein, M. H., Eischens, R. R., Faris, J., Gurman, A. S., Morgan, W. P. (1979). Running as a treatment for depression. Compr. Psychiatry, 20, 41–54. Lawlor, D. A., Hopker, S. W. (2001). The effectiveness of exercise as an intervention in the management of deression: Systematic review and meta-regression analysis of randomised trials. BMJ, 322, 1–8. Martinsen, E. W., Hoffart, A., Solberg, O. (1989). Comparing aerobic with nonaerobic forms of exercise in the treatment of clinical depression; A randomized trial, Compr. Psychiatry, 30, 324–331. Mayberg, H. S., Brannan, S. K., Mahurin, R. K. (1997). Cingulate function in depression: a potential predictor of treatment response. Neuroreport, 8, 1057–1061.
Sinneswahrnehmung und Ausdruck von Depression
213
Neeper, S. A., Gomez-Pinilla, F., Cotman, C. W. (1996). Physical activity increases mRNA for brain-derives neurotrophic factor and nerve growth factor in rat brain. Brain Research, 726, 49–56. Neumann, N. U., Frasch, K. (2005). Sport- und Bewegungstherapie in der Psychiatrie. Krankenhauspsychiatrie, 16, 144–148. Ringelnatz, J.: Zugriff am 12.05.2008 unter: www.zitate.deZitat-Nr.: 9171. Rousseau J.-J. : Zugriff am 12.05.2008 unter: www.zitate.de, Zitat-Nr.: 9172. Schneider H., Basel sinfonietta; Zugriff am 12.05.2008 unter: http://www.sinfonietta-archiv.ch/ PPL/Saison01/Text_E3_2001.htm nach dem Stand vom 3. Mai 2008.
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Angst, Depressivität und Lebensqualität von sportlich aktiven und sportlich inaktiven Multiple-SklerosePatienten Anja Wilkening, Markus Lühmann und Horst Haltenhof
22.1 Vorbemerkung Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste chronische neurologische Erkrankung des jungen Erwachsenenalters. Neben den somatischen Folgen der Erkrankung mit zum Teil erheblicher körperlicher Behinderung treten häufig auch psychische Störungen auf. Angst und Depressivität sind hierbei die vorherrschenden Symptome (Sadovnick et al., 1996; Frühwald, Löffler-Stastka, Eher, Saletu und Baumhackl, 2001; Patten, Beck, Williams, Barbui und Metz, 2003), die unabhängig von der körperlichen Behinderung einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten haben (Wang, Reimer, Metz und Patten, 2000; Frühwald et al., 2001). Sport und regelmäßige körperliche Aktivität erhöhen das Wohlbefinden von Gesunden in der Allgemeinbevölkerung und vermindern Depressivität, Zustandsangst und Ängstlichkeit bei Patienten mit psychischen Erkrankungen, so dass körperliche Aktivität als wichtiger Baustein der Behandlung von Depressionen und Angsterkrankungen gewertet wird (Fox, 1999; Paluska und Schwenk, 2000; Haltenhof und Brack, 2004; Knechtle 2004). Demgegenüber steht, dass Patienten mit Multipler Sklerose weniger körperlich aktiv sind als Gesunde oder Patienten mit anderen chronischen Erkrankungen (Stuifbergen und Roberts, 1997; Motl, McAuley und Snook, 2005; Nortvedt, Riise und Maeland, 2005). Eine Erklärung dafür mag in der körperlichen Behinderung der Patienten liegen, wenngleich der Behindertensport deutlich macht, dass körperliche Aktivität an körperliche Beeinträchtigung angepasst werden kann. Daneben spielt sicher eine entscheidende Rolle, dass MS-Patienten lange Zeit davon abgeraten wurde, Sport zu treiben, um das Auftreten von Fatigue-Symptomatik oder gar die Provokation eines Schubes zu verhindern. Dem steht entgegen, dass neuere Studien sogar Hinweise auf einen möglichen neuroprotektiven Effekt von sportlicher Aktivität bei MS-Patienten andeuten (Heesen, Romberg, Gold und Schulz, 2006). Der Einfluss körperlicher Aktivität auf psychische Gesundheit und Lebensqualität von MS-Patienten ist bisher nicht gut untersucht und die Befunde sind
Angst, Depressivität und Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
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widersprüchlich. Auch bei MS-Patienten scheint Sport die Lebensqualität in vielen Bereichen zu erhöhen (Petajan et al., 1996; Nortvedt et al., 2005; Heesen et al., 2006). Demgegenüber zeigte eine weitere Studie keine Veränderungen der Lebensqualität (Romberg, Virtanen und Ruutiainen, 2005). In der Studie von Petajan et al. (1996) verringerte sich depressive Symptomatik durch aerobes Training über 15 Wochen, wohingegen Oken et al. (2004) weder in der Yoga-Gruppe noch in der Fitness-Gruppe Veränderungen bei der Ausprägung von Angst und Depressivität fanden.
22.2 Fragestellungen Die vorliegende Arbeit geht daher folgenden Fragen nach: 1. Wie groß ist der Anteil sportlich aktiver MS-Patienten und welche Sportarten werden ausgeübt? 2. Unterscheiden sich sportlich aktive von sportlich inaktiven Patienten im Hinblick auf Krankheitscharakteristika? 3. Sind Angst und Depressivität bei sportlich aktiven MS-Patienten geringer ausgeprägt als bei sportlich inaktiven Patienten und wie unterscheiden sich die beiden Gruppen in ihrer Krankheitsverarbeitung? 4. Gibt es zwischen sportlich aktiven und sportlich inaktiven MS-Patienten Unterschiede in der Lebensqualität und der Lebenszufriedenheit?
22.3 Methodik Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Querschnittsbefragung von 49 ambulanten MS-Patienten aus der MS-Ambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover. In die Untersuchung eingeschlossen wurden erwachsene Patienten mit der sicheren Diagnose einer MS, die bereit und aufgrund ihrer körperlichen Verfassung in der Lage waren, an der Studie teilzunehmen und die Selbstbeurteilungsbögen auszufüllen. Durch den behandelnden Arzt in der MS-Ambulanz wurden die Krankheitscharakteristika Dauer der MS, Verlaufstyp und Krankheitsaktivität dokumentiert und das Ausmaß der körperlichen Behinderung der Patienten mittels klinisch-neurologischer Untersuchung anhand der EDSS (Expanded Disability Status Scale nach Kurtzke, 1983) erhoben. Die Patienten wurden danach befragt, welche Sportarten sie ausüben und welche Bedeutung sie dem Sport für ihre persönliche Krankheitsverarbeitung geben. Darüber hinaus wurden die Patienten gebeten, die folgenden Selbstbeurteilungsbögen zu beantworten: MFIS (Modifizierte Fatigue Impact Skala; Zifko, 2003) zur Erfassung von Fatigue, BDI (Beck Depressions Inventar; Hautzinger, Bailer, Woral und Keller, 1995) zur Erfassung der Depressivität, STAI (State-trait-Angst-
216
A. Wilkening, M. Lühmann und H. Haltenhof
inventar; Laux, Glanzmann, Schaffner und Spielberger, 1981) zur Erfassung von Zustandsangst und Ängstlichkeit, FKV-LIS (Freiburger Fragebogen zur Krankheitsverarbeitung; Muthny 1989) zur Beurteilung der unterschiedlichen Mechanismen der Krankheitsverarbeitung und SF-36 (Fragebogen zum Gesundheitszustand; Bullinger und Kirchberg, 1998) zur Beurteilung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Als Ergänzung zu diesen in der Literatur gut etablierten Fragebögen erhielten die Patienten einen von den Autoren entwickelten Fragebogen, der sich auf MS-bedingte Veränderungen der Lebenszufriedenheit konzentriert. Die erhobenen Daten wurden zunächst mittels einer deskriptiven Statistik ausgewertet. Anschließend erfolgten Gruppenvergleiche zwischen sportlich aktiven und sportlich inaktiven MS-Patienten mittels Chi-Quadrat- beziehungsweise t-Test.
22.4 Ergebnisse 22.4.1 Anteil sportlich aktiver Patienten und ausgeübte Sportarten Von den 49 MS-Patienten, die an der Studie teilnahmen, gaben 41 (84 %) an, regelmäßig Sport zu treiben. In der vorliegenden Untersuchung war nicht nach der Dauer und Häufigkeit, mit der Sport ausgeübt wurde, gefragt worden. Allerdings gaben in einer kürzlich durchgeführten erneuten Befragung der Patientengruppe die sportlich aktiven MS-Patienten an, in der Regel zweibis viermal in der Woche für im Durchschnitt drei Stunden wöchentlich Sport zu treiben. sechs (12 %) der oben genannten 41 Patienten nannten als Sportart lediglich Spazierengehen. Auch Spazierengehen stellt eine Form von körperlicher Aktivität dar, so dass diese Kategorie mit in die ursprünglichen Befragungsbögen aufgenommen wurde. Da es sich aber beim Spazierengehen in der Regel nicht um eine kreislaufwirksame Tätigkeit handelt und Walking explizit als Antwortmöglichkeit angegeben war, wurden für die weiteren Gruppenvergleiche zwischen sportlich aktiven und sportlich inaktiven Patienten lediglich noch 35 (71 %) der 41 Patienten berücksichtigt. Wichtig erscheint uns herauszustreichen, dass sechs der 35 Patienten Sport für sich persönlich als einen wichtigen Baustein der Krankheitsverarbeitung und -bewältigung ansahen. Das Spektrum der ausgeübten Sportarten (Abbildung 22.1) war weit und reichte von Ausdauersportarten wie zum Beispiel Jogging bis hin zu Badminton oder Gymnastik. Am häufigsten wurden, neben Spazierengehen (29 Patienten), Radfahren (18 Patienten) und Schwimmen (17 Patienten) genannt. Bei der Mehrzahl der von den Patienten ausgeübten Sportarten handelt es sich also um solche, welche flexibel ausgeübt werden können und sich so unkompliziert an die Behinderungen der Patienten anpassen lassen. Bemerkenswert
Angst, Depressivität und Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
217
ist, dass die Patientin, welche die Sportart Badminton betreibt, einen EDSS von 7,0 aufweist. Trotz dieser schweren Behinderung mit einer auf wenige Meter beschränkten freien Gehstrecke hat sie einen Weg gefunden, eine solche Sportart auszuüben. 22.4.2 Vergleich von sportlich aktiven mit sportlich inaktiven Patienten im Hinblick auf Krankheitscharakteristika Ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen ließ sich lediglich für den Verlaufstyp der MS finden: Bei den sportlich aktiven MS-Patienten wiesen sechsmal mehr Patienten einen schubförmigen als einen chronisch progredienten Verlauf auf, während das Verhältnis bei den sportlich inaktiven Patienten ausgeglichen war. Insbesondere fanden sich keine signifikanten Unterschiede bei EDSS und MFIS als Maße für körperliche Behinderung und Fatigue (Tabelle 22.1). Tabelle 22.1: Klinische Daten der Patientengruppen im Vergleich
49 37 / 12 40,4 ± 9,3 20-62
Reine »Spaziergänger« 6 4/2 37 ± 9,2 20-43
Sportlich Sportlich inaktive aktive Pat. Pat. 35 8 27 / 8 6/2 40,8 ± 4,4 40,5 ± 9,0 22-62 22-59
11,0 ± 8,5 1-35
11,7 ± 7,6 1-23
10,7 ± 8,9 1-35
11,5 ± 8,1 4-29
n.s. §
39 / 10
5/1
30 / 5
4/4
p = 0,038*
35 / 14
5/1
26 / 9
4/4
n.s.*
3,3 ± 1,9 0,0-7,0
2,8 ± 1,1 1,0-4,0
3,0 ± 1,8 0,0-7,0
4,3 ± 2,5 0,0-7,0
n.s. §
0,6 ± 0,7 0,0-3,0
0,7 ± 1,1 0,0-3,0
0,6 ± 0,6 0,0-2,3
0,4 ± 0,2 0,0-0,7
n.s. §
1,6 ± 0,9 0-3,9
1,8 ± 0,5 1,4-2,6
1,5 ± 1,0 0-3,9
1,9 ± 0,7 1,0-3,0
n.s. §
Gesamt Anzahl Geschlecht (w / m) Alter Dauer der MS Verlaufstyp (RR / chr. prog.) Aktivität (stabil / aktiv) EDSS Progressionsindex (EDSS/Dauer der MS in Jahren) Fatigue (MFIS gesamt)
Berechnung des Signifikanzniveaus mittels * Chi-Quadrat-Test bzw. § T-Test
Sport vs. kein Sport n.s.* n.s.§
218
A. Wilkening, M. Lühmann und H. Haltenhof
22.4.3 Vergleich von Angst und Depressivität bei sportlich aktiven gegenüber sportlich inaktiven Patienten Sportlich aktive MS-Patienten wiesen im Trend niedrigere Werte für die sogenannte Zustandsangst auf und waren signifikant weniger ängstlich (Tabelle 22.2). Ein Vergleich der Einzelwerte des State-Trait-Angstinventars von sportlich aktiven gegenüber sportlich inaktiven Patienten ist in Tabelle 22.2 dargestellt. Tabelle 22.2: Psychometrische Daten der Patientengruppen im Vergleich
8,7 ± 6,2 0–30
Reine »Spaziergänger« 11,7 ± 11 3,2–33
Sportlich Sportlich inaktive aktive Pat. Pat. 8,1 ± 6,5 11,2 ± 4,8 0–30 5,3–17
1,9 ± 0,7 1,0–3,6
1,8 ± 0,6 1,2–2,8
1,9 ± 0,7 1–3,6
2,4 ± 0,6 1,6–3,2
40,0 ± 12,2 22–73 39,0 ± 11,0 20–69
40,2 ± 11,7 23–54 40,3 ± 8,4 29–49
38,4 ± 11,7 22–73 37,1 ± 10,2 20–64
47,1 ± 13,7 p = 0,073 § 29–71 46,4 ± 13,7 p = 0,036 § 30–69
Gesamt Depressivität (BDI) Skala 1 – depressive Verarbeitung– (FKV) Zustandsangst (STAI) Ängstlichkeit (STAI)
Sport vs. kein Sport n.s. § p = 0,075 §
§ Berechnung des Signifikanzniveaus mittels T-Test
Das Ausmaß der Depressivität gemessen mittels des BDI unterschied sich nicht signifikant zwischen den beiden Gruppen. Tendenziell griffen sportlich inaktive Patienten vermehrt auf depressive Krankheitsverarbeitungsstrategien wie zum Beispiel Selbstmitleid, Grübeln oder sozialen Rückzug zurück, so dass sich hier ein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko von sportlich nicht aktiven MS-Patienten ergibt, verstärkt Depressivität zu entwickeln. 22.4.4 Vergleich von Lebensqualität und Lebenszufriedenheit bei sportlich aktiven gegenüber sportlich nicht aktiven Patienten Sportlich aktive Patienten wiesen deutlich höhere Werte in der Skala körperliche Funktionsfähigkeit des SF-36 auf. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund bemerkenswert, als dass sich die beiden Gruppen nicht signifikant im EDSS unterschieden. Ebenfalls in der Tendenz höhere Werte fanden sich für die Skalen körperliche Rollenfunktion sowie psychisches Wohlbefinden, was sich mit den Befunden zu Angst und depressiver Verarbeitungstendenz der Patienten deckt. Sportlich inaktive Patienten beschrieben häufiger eine Ver-
Angst, Depressivität und Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
219
schlechterung ihres Gesundheitszustandes über das letzte Jahr als sportlich aktive Patienten (Tabelle 22.3). Tabelle 22.3: Werte des SF-36 zur Lebensqualität der Patientengruppen im Vergleich
Skalen des SF-36
Gesamt
Reine »Spaziergänger«
1. körperliche Funktionsfähigkeit
59,3 ± 30,6 0– 100
56,7 ± 25,2 64,87 ± 29,86 36,94 ± 29,80 p = 30–100 5–100 0–80 0,022 §
2. körperliche Rollenfunktion
45,8 ± 44,8 0–100
41,7 ±40,8 50,71 ± 47,55 25,00 ± 28,87 p = 0–100 0–100 0–75 0,079 §
3. körperliche Schmerzen
74,2 ± 27,9 0–100
56,7 ± 34,6 75,00 ± 26,23 83,75 ± 27,58 n.s. § 0–100 22–100 22–100
4. allgemeine Gesundheit
52,4 ± 19,1 17– 95
53,7 ± 20,2 53,27 ± 18,73 47,88 ± 22,02 n.s. § 35–92 20–95 17–67
5. Vitalität
48,8 ± 20,7 5–95
41,7 ± 9,8 35–60
Sportlich aktive Pat.
Sport vs. Sportlich kein inaktive Pat. Sport
51,71 ± 22,75 41,25 ± 14,58 n.s. § 5–95 30–55
6. soziale Funk- 78,8 ± 26,2 tionsfähigkeit 12,5–100
83,3 ± 24,6 80,36 ± 26,13 68,75 ± 28,35 n.s. § 37,5–100 12,5–100 25–100
7. emotionale Rollenfunktion
55,6 ± 40,4 65,69 ± 43,02 62,50 ± 45,21 n.s. § 0–100 0–100 0–100
63,9 ± 42,3 0–100
8. psychisches 68,8 ± 20,1 Wohlbefinden 16–100
73,3 ± 19,4 70,77 ± 19,36 57,00 ± 22,30 p = 40–96 16–100 24–84 0,085 §
9. Veränderung 3,3 ± 1,2 d. Gesund1–5 heitszustandes
3,8 ± 0,8 3–5
3,03 ± 1,20 1–5
3,88 ± 0,84 3–5
p= 0,067 §
§ Berechnung des Signifikanzniveaus mittels T-Test
Für die Beurteilung der Lebenszufriedenheit sollten die Patienten auf einer Skala von -2 (gar nicht zufrieden) bis +2 (völlig zufrieden) einschätzen, wie sie mit ihrem Leben in den entsprechenden Bereichen zufrieden sind. Sportlich aktive Patienten waren tendenziell (Chi-Quadrat-Test: p = 0,085 bzw. p = 0,062) zufriedener mit ihrem Leben im Allgemeinen und in ihrer Freizeitgestaltung als sportlich inaktive Patienten. Lediglich drei (38 %) beziehungsweise vier (50 %) von acht sportlich inaktiven Patienten waren eher beziehungsweise völlig zufrieden mit ihrem Leben im Allgemeinen beziehungsweise mit ihrer Freizeitgestaltung, während 25 (71 %) beziehungsweise 24 (69 %) von 35 sportlich aktiven Patienten sich als eher beziehungsweise völlig zufrieden in diesen Bereichen einschätzten.
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A. Wilkening, M. Lühmann und H. Haltenhof
Von den sportlich inaktiven Patienten litten sieben (88 %) von acht mäßig bis stark unter ihrer MS, während von den sportlich aktiven Patienten nur 19 (54 %) von 35 mäßig bis stark unter ihrer Erkrankung litten (p = 0,064). Hinsichtlich der durch die MS bedingten Lebensveränderungen im Allgemeinen, in der Partnerschaft, in der Familie und bei der Arbeit gab keiner der sportlich inaktiven Patienten eine positive Auswirkung der MS auf sein Leben an. Demgegenüber gaben acht (23 %, p = 0,047), zehn (29 %, p = 0,016), elf (31 %, p = 0,022) beziehungsweise zwei (6 %, p = 0,074) der 35 sportlich aktiven Patienten positive Auswirkungen der MS in den genannten Lebensbereichen an.
22.5 Diskussion Sport und körperliche Aktivität tragen in vielerlei Hinsicht dazu bei, die Lebensqualität zu erhöhen: Morbidität und Mortalität durch chronische körperliche Erkrankungen werden reduziert, das allgemeine psychische Wohlbefinden von Gesunden erhöht sich, die Schlafqualität wird verbessert. Sport ist auch ein wichtiger Baustein in der Therapie von psychischen Erkrankungen, insbesondere von Depressionen, aber auch von Angsterkrankungen (Fox, 1999; Haltenhof und Brack, 2004; Knechtle, 2004). Patienten mit MS leiden häufig unter Angst und Depressionen (Sadovnick et al., 1996; Frühwald et al., 2001; Patten et al., 2003), so dass dies den Anstoß gab zu untersuchen, in wie weit MS-Patienten, die sportlich aktiv sind, weniger unter Angst und depressiven Symptomen leiden, als MS-Patienten die nicht sportlich aktiv sind. Soweit uns bekannt ist, ist dies die erste Studie, die Hinweise dafür erbringt, dass sportlich aktive MS-Patienten weniger unter Angst leiden als sportlich inaktive MS-Patienten. Unterschiede im Hinblick auf depressive Symptomatik ließen sich demgegenüber nicht direkt zeigen. Sportlich inaktive Patienten griffen aber häufiger auf depressive Krankheitsverarbeitungsmechanismen zurück, was als Hinweis für ein erhöhtes Risiko, eine Depression zu entwickeln, gewertet werden kann. Rumpf und Wessel (1995) zeigten, dass depressive Verarbeitungsmechanismen bei MS-Patienten mit geringerer Lebenszufriedenheit gekoppelt sind. Dies steht im Einklang mit unseren Befunden, dass die sportlich aktiven MS-Patienten nicht nur weniger auf depressive Verarbeitungsmechanismen zurückgriffen, sondern auch insgesamt zufriedener mit ihrem Leben waren, weniger unter ihrer MS litten und in den Bereichen der körperlichen Funktionen (Skala 1 und 2 des SF-36) sowie beim psychischen Wohlbefinden (Skala 8 des SF-36) gegenüber sportlich inaktiven MS-Patienten höhere Werte der Lebensqualität aufwiesen. Die Frage, ob der Sport die Ursache für die beschriebenen Unterschiede ist, lässt sich anhand der vorliegenden Untersuchung nicht beantworten. Die
Angst, Depressivität und Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
221
eingangs beschriebenen Zusammenhänge und Auswirkungen von Sport auf psychische Erkrankungen und psychisches Wohlbefinden von Gesunden weisen aber in diese Richtung. Im Gegensatz zu den prospektiven Studien von Petajan et al. (1996) und von Oken et al. (2004), die zum Teil positive Effekte von Sport auf die psychische Verfassung und Lebensqualität zeigen konnten, handelt es sich bei den vorliegenden Befunden um beschreibende Querschnittsergebnisse. Sie legen jedoch die Annahme nahe, dass auch von den Patienten selbst nach ihren persönlichen Vorlieben und Fähigkeiten ausgewählte Sportarten positive Auswirkungen auf die Lebensqualität und Wohlbefinden haben können. Die Bewertung der Befunde wird eingeschränkt durch die relativ kleine Anzahl untersuchter Patienten, die Rückschlüsse auf MS-Patienten im Allgemeinen nur begrenzt zulässt. Eine größere Anzahl hätte möglicherweise dazu beigetragen, die Unterschiede, die jetzt nur tendenziell zu erkennen sind, deutlicher herauszuheben. Dennoch weisen die Befunde in eine gemeinsame Richtung, was die Aussage »Sport verbessert Lebensqualität und psychisches Wohlbefinden von MS-Patienten« unterstützt, die auch durch andere Studien untermauert wird (Petajan et al., 1996; Nortvedt et al., 2005; Heesen et al., 2006) und zu weiteren Untersuchungen an größeren Patientenzahlen ermutigt. Ungewöhnlich an unserer Studie ist der große Anteil von über 80 % der MS-Patienten, der angab, körperlich aktiv zu sein. So waren in der Untersuchung von Nortvedt et al. (2005) lediglich 37 % sportlich aktiv und auch die Meta-Analyse von Motl et al. (2005) zeigte ebenfalls eine generell geringere körperliche Aktivität von MS-Patienten als in der Allgemeinbevölkerung. Die Ergebnisse unserer Studie beruhen allerdings auf einer Selbstauskunft der Patienten, so dass keine objektiven Kriterien für den Grad an körperlicher Aktivität ermittelt werden konnten, was möglicherweise die Diskrepanz erklärt (Motl et al., 2005). Dennoch ist es unseres Erachtens bemerkenswert, wie viele Patienten unabhängig vom Ausmaß ihrer körperlichen Behinderung, gemessen an EDSS und Ausprägung von MFIS, sportlich aktiv sind.
22.6 Fazit – Mehr als zwei Drittel der befragten MS-Patienten betreiben aktiv Sport unabhängig von der körperlichen Behinderung oder Beeinträchtigung durch Fatigue. – Sportlich aktive Patienten leiden weniger unter Angst als sportlich inaktive Patienten und neigen weniger zu depressiven Krankheitsverarbeitungsmechanismen. – Sportlich aktive Patienten zeigen höhere Werte (bessere Lebensqualität) in den Bereichen körperliche Funktionsfähigkeit, körperliche Rollenfunktion
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A. Wilkening, M. Lühmann und H. Haltenhof
und psychisches Wohlbefinden, leiden weniger unter ihrer MS, sind im Allgemeinen und in der Freizeitgestaltung zufriedener mit ihrem Leben und empfinden sogar in einigen Bereichen ihres Lebens positive Auswirkungen durch ihre MS. – Die Ergebnisse stehen im Einklang mit aus der Literatur bekannten Befunden, dass Sport und körperliche Aktivität Wohlbefinden und Lebensqualität in der Allgemeinbevölkerung erhöhen und Angst und Depressivität vermindern. – Dieses Wissen sollte dazu anregen, MS-Patienten zu motivieren, Sport zu treiben. Körperliche Aktivität kann genutzt werden, um den häufigen psychischen Beeinträchtigungen der Patienten entgegenzuwirken und ihre Lebensqualität zu fördern.
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Angst, Depressivität und Lebensqualität von Multiple-Sklerose-Patienten
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Zum Einfluss der Psyche auf Sprachprozesse Detlef E. Dietrich und Yuanyuan Zhang
23.1 Einführung Die Betrachtung der Interaktionen emotionaler und kognitiver Prozesse ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der menschlichen Entwicklung sowie des menschlichen Verhaltens und für das Verständnis unterschiedlicher psychiatrischer Erkrankungen. Emotionale Prozesse sind beispielsweise von entscheidender Bedeutung für die Steuerung und Beeinflussung von Reaktionen auf externe Stimuli, für motivationale Faktoren und soziale Aspekte. Störungen dieser Systeme können weitreichende Veränderungen auch kognitiver Prozesse (z. B. von Aufmerksamkeit und Gedächtnis), vegetativer, sozialer und psychomotorischer Funktionen, aber auch der Sprache bewirken. Verschiedene Autoren (z. B. Bower, 1983, 1992; Bower und LeDoux, 1989, 1992a, 1992b, 1995) haben sich darum bemüht, Interaktionen dieser Systeme darzustellen und verständliche Modelle hierfür zu entwickeln, insbesondere die der Kopplung von Wahrnehmung, Emotionen und Kognitionen. Einige dieser Modelle zeigen ihre klinische Relevanz bei der Betrachtung affektiver Störungen, zum Beispiel die von Becks Theorie (1979) abgeleitete kognitive Therapie depressiver Menschen. Leider mangelt es oft an ausreichenden wissenschaftlichen Belegen für die diesen Ansätzen zugrundeliegenden Theorien. Hier kommt neueren, insbesondere funktionellen bildgebenden Verfahren eine besondere Bedeutung zu, zum Beispiel der Positronen-Emissions-Tomographie (PET), der funktionellen Kernspintomographie (fMRT) und elektrophysiologischen Verfahren, beispielsweise der Methode der ereigniskorrelierten Hirnpotentiale (EKP; engl.: event-related potentials = ERPs) und den ereigniskorrelierten magnetischen Feldern (MEG). Diese Verfahren erlauben es, im Gegensatz zu herkömmlichen Parametern wie Reaktionszeiten oder Anzahl richtiger Verhaltensantworten, Veränderungen dieser komplexen kognitiven Prozesse über ihre neurophysiologischen Korrelate darzustellen. Die Positronen-EmissionsTomographie hat dabei Vorteile bei der topographischen Auflösung der dargestellten Prozesse, die ereigniskorrelierten Hirnpotentiale bieten hingegen eine hohe zeitliche Auflösung der elektrophysiologischen Korrelate, zum Beispiel kognitiver und/oder emotionaler Prozesse im Millisekundenbereich. Für die Betrachtung der Wahrnehmungs/Emotions/Kognitions-Kopplung (im Folgenden wird zur Vereinfachung von der Emotions/Kognitions-Kopplung
Zum Einfluss der Psyche auf Sprachprozesse
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gesprochen, Wahrnehmungsprozesse sind aber in der Regel bei diesen Prozessen mitbeteiligt) bei gesunden Probanden oder deren Veränderungen bei Patienten mit einer affektiven Erkrankung bietet diese Methode die Möglichkeit, unterschiedliche Fragen im Hinblick auf die diesen Erkrankungen zugrundeliegenden Prozesse und Theorien sowie deren Beeinflussbarkeit (z. B. durch biologische Marker, Medikamente oder andere Substanzen) zu untersuchen. In der vorgestellten Arbeit werden anhand eigener Untersuchungen die Möglichkeiten der Anwendung dieser Methodik für Fragestellungen im Bereich der Emotions/Kognitions-Kopplung im Hinblick auf deren Relevanz für Sprachprozesse untersucht. Exemplarisch wird hierbei ein Experimentaldesign genutzt, das den Einfluss von Wahrnehmungsstörungen und emotionalen Faktoren auf kognitive Verarbeitungsschritte anhand eines Wortrekognitionsexperimentes darzustellen in der Lage ist. Die Befunde werden dabei fächerübergreifend (Psychologie, Neurobiologie, Psychiatrie und Elektrophysiologie) betrachtet.
23.2 Ereigniskorrelierte Potentiale Grundsätzlich versteht man unter ereigniskorrelierten Potentialen (EKP) Spannungsschwankungen im Elektroenzephalogramm (EEG), die synchron zu sensorischen, motorischen und kognitiven neuronalen Prozessen auftreten und elektrophysiologische Korrelate synchronisierter neuronaler Aktivität darstellen. Die EKP setzen sich in der Regel aus eine Reihe positiver und negativer Spannungsänderungen (Wellen oder Komponenten) zusammen, die in einem spezifischen zeitlichen Abstand zum auslösenden Stimulus auftreten (vgl. Abb. 23.1). Die wichtigsten Komponenten im Zusammenhang mit den hier untersuchten Wortverarbeitungsprozessen sind die P2, P3a /P3b und N400. Die größere zweite positive Welle nach einer Reizdarbietung wird als P2 oder P200 bezeichnet, da sie circa 200 ms nach Reizpräsentation ihr Maximum aufweist. Früher wurde die P2 immer in Verbindung mit der N1 betrachtet, einer negativen Komponente, die ca. nach 100 ms auftritt. Inzwischen konnten allerdings gezeigt werden, dass sich die P2 auch unabhängig von der N1 verändert und somit als eigenständige Komponente anzusehen ist (Pietrowsky, Schiemann, Fehm und Born, 1993). Vergleichbar mit der N1 spiegelt sie allgemeine Aufmerksamkeits-abhängige Prozesse, zum Beispiel die Merkmalselektion und/oder -verarbeitung wie die orthographische Analyse, wider. Die dritte Positivierung (P3) ist ab ca. 300 ms messbar und wird deshalb auch als P300 bezeichnet. Der übliche Versuch, eine P300 zu evozieren, besteht in einem sogenannten »oddball«-Paradigma, bei welchem zwei unterschiedliche Klassen von Stimuli erscheinen und die selteneren Zielreize gezählt werden
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D. E. Dietrich und Y. Zhang
Abbildung 23.1: Schematische Darstellung der Komponentenstruktur ereigniskorrelierter Hirnpotentiale bei akustischer Reizung (modifiziert nach Hillyard und Kutas, 1983, sowie Hillyard et al., 1995). Die frühen Komponenten bis etwa 100 ms stellen sog. exogene Komponenten dar, die hinsichtlich ihrer Charakteristik (Amplitude und Latenz) vorwiegend von physikalischen Reizparametern (z. B. Lautstärke, Tonhöhe) beeinflusst werden. Die späteren Kurven stellen unterschiedliche sog. endogene Komponenten dar. Sie weisen in der Regel eine Latenz von mehr als 100 ms auf und sind von spezifischen, psychologisch definierten Bedingungen abhängig, z. B. von der Aufgabenstellung oder der Verarbeitungsstrategie.
müssen. Die größere P300 wird dabei als Reaktion auf die Präsentation der selteneren gezählten Stimuli evoziert. Ein typisches Merkmal der P300 ist allerdings, dass sie durch eine Vielzahl unterschiedlicher Stimuli oder Ereignisse hervorgerufen werden kann. Einige Autoren haben auch darauf hingewiesen, dass die P300 nicht eine einzige Komponente, sondern vielmehr eine Aktivität eines viel weiter verteilten neuronalen Systems darstellt. Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Coles und Rugg (1995). Ein Teil dieses Komplexes wurde als sog. P300a (P3a) abgegrenzt. Die P3a ist am deutlichsten ausgeprägt, wenn ein Zielreiz neuartige Reizmerkmale aufweist (Squires, Squires und Hillyard, 1975). Diese neuen Stimuli rufen typischerweise eine große Positivität hervor, die früher als die der klassischen P300 auftritt und eine andere topographische Verteilung im Sinne einer eher frontalen Akzentuierung hat. Diese Komponente wird manchmal als frontale P300 benannt, um sie von der klassischen P300 zu unterscheiden (Soltani und Knight, 2000). Die klassische P300 wird hiernach als P3b oder parietale P300 bezeichnet. Die P3a und die P3b scheinen abhängig von der Integrität unterschiedlicher Hirnregionen zu sein. Es konnte beispielsweise gezeigt werden, dass die P3a
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(aber nicht die P3b) durch Läsionen des frontalen Cortex beeinträchtigt war. Die P3a wurde hierbei als Korrelat von Prozessen angesehen, die mit der unwillkürlichen Aufmerksamkeitssteigerung durch hervorspringende Stimuli in Zusammenhang stehen (Soltani und Knight, 2000; Polich, 2007). Im Hinblick auf Sprachprozesse korreliere die P3a insbesondere mit Prozessen des Zugriffs auf das sogenannte mentale Lexikon (Coles und Rugg 1995), die P3b hingegen eher mit Prozessen, die der semantischen Stimuluskategorisierung nachgeordnet sind, wie die Generierung zusätzlicher Assoziationen, und mit Kontextintegrationsprozesse, wie der postlexikalischen Integration der Stimuli, zum Beispiel präsentierter Wörter (Donchin und Coles, 1988a, 1988b). Die N400-Komponente wurde erstmals von Kutas und Hillyard (1980) in ihrer klassischen Studie der Wortverarbeitung in einem Satz beschrieben. In dieser Studie wurden die Probanden aufgefordert, einen Satz mit sieben Wörtern zu lesen, während jedes Wort in einem Abstand von einer Sekunde nacheinander präsentiert wurde. Bei manchen Sätzen war das letzte Wort semantisch abweichend, aber syntaktisch korrekt (z. B. »He spread the warm bread
Abbildung 23.2: Ereigniskorrelierte Potentiale als Reaktionen auf die Präsentation einzelner Wörter eines Satzes, die sukzessive auf einem Bildschirm dargeboten wurden. Der Satz endete entweder mit einem typographisch oder semantisch passenden Wort, mit einem typographisch passenden, aber semantisch unpassenden, oder mit einem typographisch unpassenden, aber semantisch passenden Wort. Die semantische Abweichung löste eine N400-Komponente aus, die typographische Abweichung hingegen eine P300-Komponente (P560). Die Abbildung wurde modifiziert nach Kutas und Hillyard (1980).
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D. E. Dietrich und Y. Zhang
with socks«), während in anderen Sätzen das letzte Wort syntaktisch und semantisch korrekt, jedoch groß geschrieben war (»She put on her high heeled SHOES«). Im Gegensatz zu Sätzen, bei denen das letzte Wort semantisch und von der Größe her passend war, riefen die semantisch abweichenden Wörter eine negative Kurvenveränderung mit einer Latenz von etwa 400 ms (N400) auf, während physikalisch abweichende Wörter (groß geschriebene Wörter) mit einer klassischen P300 (mit einer Latenz von etwa 560 ms) verbunden waren (vgl. Abbildung 23.2).
23.3 EKP bei Rekognitionsaufgaben Zur Untersuchung von Gedächtnisvorgängen durch Wiedererkennungsaufgaben (Rekognitionsaufgaben) bieten sich insbesondere zwei unterschiedliche Vorgehensweisen an. Zum einen ist es möglich, die in einer ersten Phase zu lernenden Stimuli in einer zweiten darauffolgenden Phase aus einer Mischung mit neuen Stimuli wiedererkennen zu lassen. Andererseits bietet das sogenannte kontinuierliche Wiedererkennen (»continuous recognition«) die
Abbildung 23.3: Darstellung des alt/neu-Effekts bei einem kontinuierlichen WortrekognitionsExperiment. Die Zweitpräsentation eines Items ruft dabei typischerweise einen positiveren Potentialverlauf im Zeitraum zwischen 250 und 900 ms hervor. Die Differenz stellt dabei den klassischen alt/neu-Effekt dar und lässt sich als Differenzwelle darstellen.
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Möglichkeit, in einem einzigen Versuchsdurchgang wiederholt präsentierte Stimuli bei der Zweitpräsentation wiederzuerkennen, während parallel auch neue Wörter dargeboten werden. Die bei solchen kontinuierlichen Rekognitionsexperimenten meist als »alt/ neu«-Effekt bezeichnete EKP-Differenz zwischen Erst- und Zweitpräsentation unterschiedlicher Stimuli (erste Präsentation = »neu«; zweite Präsentation = »alt«; vgl. Abbildung 23.3) spiegelt Veränderungen neuronaler Aktivität ab etwa 200 ms nach der Stimuluspräsentation wider, die vor allem mit Prozessen des episodischen Rekognitionsgedächtnisses im Zusammenhang stehen (Rugg, 1995; Rugg und Allan, 2000; Rugg und Curran, 2007). Die einzelnen hieran beteiligten Verarbeitungsschritte und Strukturen sind in der Übersichts-Tabelle 23.1 dargestellt.
23.4 Welchen Einfluss hat der emotionale Gehalt präsentierter Wörter? Um nun zunächst den spezifischen Einfluss des emotionalen Gehaltes präsentierter Stimuli darzustellen, präsentierten wir kontrolliert Wörter mit unterschiedlicher emotionaler Wertigkeit, ohne dass dies den gesunden Probanden (sechs Studentinnen, fünf Studenten; mittleres Alter 24.1+/-1.5 Jahre) bekannt war. Die parallel aufgezeichneten ereigniskorrelierten Hirnpotentiale unterschieden sich dahingehend, dass Wörter mit einem positiven oder negaTabelle 23.1: Übersicht über relevante EKP-Komponenten bei der Wortpräsentation und -rekognition und deren Zuordnung zu beteiligten kognitiven Funktionen und anatomischen Strukturen.
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tiven emotionalen Gehalt (der von einer unabhängigen Gruppe eingeschätzt wurde) eine größere alt/neu-Differenz der EKP hervorriefen. Dieser Unterschied zu den neutralen Wörtern ließ sich sowohl in den frontalen Elektroden in dem Zeitfenster von 250–500 ms als auch in den parietalen Elektroden zwischen 450 und 700 ms darstellen (vgl. Abbildung 23.4; durchgezogene Linien). Während für den erstgenannten Unterschied Veränderungen der N400 zusammen mit der vorausgehenden P3a als Korrelat für einen veränderten Zugriff auf das mentale Lexikon sowie die semantische Analyse der Wörter verantwortlich war, spiegelte die größere Positivität der P3b/späten positiven Komponente die postlexikalische Integration der Stimuli sowie das Generieren zusätzlicher Assoziationen (z. B. dazu passender interner Bilder) wider (Dietrich et al. 2000, 2001). Auch die Verhaltensparameter deuteten darauf hin, dass die Rekognitionsleistungen für die emotional bedeutsamen Wörter signifikant besser und die Reaktionszeiten kürzer waren. In diesen Daten spiegelte sich die Emotions/Kognitions-Kopplung insofern wider, dass bei der genaueren Analyse des präsentierten Materials die vorher mit gespeicherte emotionale Valenz die beteiligte neuronale Aktivität und damit die Wahrscheinlichkeit des Wiedererkennens bei der zweiten Präsentation erhöhte.
23.5 Welchen Einfluss hat die Grundstimmung auf die Verarbeitung präsentierter Wörter? Bei der nächsten Untersuchung stand nun die Frage im Vordergrund, inwiefern die Grundstimmung die Emotions/Kognitions-Kopplung bei der Wortrekognition verändert. Konsum von Cannabis induziert bei den meisten gesunden Menschen eine heiter-gehobene Stimmung. Dies nutzten wir im Rahmen einer durch die Ethikkommission der Medizinischen Hochschule genehmigten Studie (Leweke et al., 1997). Wir untersuchten kognitive und emotionale Funktionen bei gesunden Cannabiskonsumenten (neunzehn Männer; mittleres Alters: 27.2+/-2.6 Jahre). Mit Hilfe des oben genannten Rekognitionsparadigmas konnte gezeigt werden, dass im Vergleich zu Placebo (bei den gleichen Probanden) unter dem Konsum von Cannabis (Tetrahydrocannabinol = THC) sich sowohl subjektiv die Stimmung im Sinne einer heiteren Stimmung veränderte als auch Wörter mit einem positiven Gehalt einen größeren alt/neuEffekt im Vergleich zu Placebo-Konditionen aufwiesen, Wörter mit einem neutralen oder negativen Gehalt hingegen nicht (vgl. Abbildung 23.5). Dies wurde so gedeutet, dass die unter Cannabis aufgetretene heitere Stimmung im Sinne eines Stimmungskongruenz-Effektes zu einer veränderten Hirnaktivität vorwiegend bei der Präsentation positiver Begriffe geführt hat. Aus früheren
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Abbildung 23.4: Vergleich der Ausprägung des alt/neu-Effekts für die zentrale Elektrodenreihe (Fz, Cz, Pz) und die drei unterschiedliche emotionalen Wortkategorien (negativ, positiv und neutral) für eine Kontrollgruppe (n = 11) und depressive Patienten (n = 11). Während der alt/ neu-Effekt für die Kontrollgruppe sehr ausgeprägt und für die positiven und negativen Items betont zur Darstellung kommt, ist ein relevanter alt/neu-Effekt für die depressiven Patienten lediglich für die positiven Items parietal (Pz) nachweisbar.
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Abbildung 23.5: Gesamtmitteldarstellung der EKPs (n = 19) für die Pz-Elektrode und Items mit unterschiedlichem emotionalen Gehalt (negativ, positiv, neutral) sowie die zwei unterschiedlichen Versuchsbedingungen (Placebo-/THC-Gabe). Die EKPs für die negativen Wörter wiesen den größten, die EKPs für die neutralen Wörter den kleinsten alt/neu-Effekt (Unterschied zwischen erster und zweiter Präsentation) unter beiden Versuchsbedingungen auf. Die THC-Gabe beeinflusste selektiv den alt/neu-Effekt für die positiven Items.
Untersuchungen ist bekannt, dass sich Wörter besser wiedererkennen lassen, die mit dem emotionalen Status des Probanden übereinstimmen, also hiermit kongruent sind (Bower, 1981, 1983, 1992). Interessanterweise veränderte die Gabe von Alkohol in einer niedrigen Dosierung (die zu 0,3–0,4‰ Blutalkoholspiegel führte) in einer vergleichbaren Studie insbesondere die ereigniskorrelierten Potentiale für die Präsentation negativer Items signifikant. Diese Daten wurden von den Autoren (Gielsdorf, 2002; Dima et al., 2007) dahingehend gedeutet, dass Alkohol in einem Zustand der kognitiven Ermüdung (in einem solchen befanden sich die Probanden, da sie bereits vor dieser Untersuchung zwei Stunden lang andere Ex-
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perimente durchführten) zu einem Aktivieren des Einflusses des emotionalen Gehaltes führte, der unter Placebo im Rahmen der kognitiven Beanspruchung eher erniedrigt war. Die Beeinflussung vorwiegend der negativen Items unter Alkohol schien den differenziellen Einfluss unterschiedlicher psychotroper Substanzen auf emotionale Aspekte bei der Wortrekognition zu verdeutlichen (Dietrich, 2002).
23.6 Wie stellt sich die Stimulusverarbeitung bei depressiven Menschen dar? In einer weiteren Studie untersuchten wir Wortrekognitionsprozesse bei Menschen, die aufgrund einer depressiven Symptomatik auf einer Psychotherapiestation behandelt wurden und unmediziert waren (ICD-10: F32 oder F43; mittleres Alter 31.8+/-3.4 Jahre). Bei der Darstellung der EKP war zunächst sehr auffällig, dass der alt/neu-Effekt kaum vorhanden war (Abbildung 23.4; gepunktete Linien), sich lediglich im parietalen Bereich (Pz) für die positiven Items signifikant darstellte. Ansonsten war der Rekognitionseffekt über nahezu dem gesamten Cortex drastisch reduziert oder nicht nachweisbar. Diese Befunde wurden als Ausdruck deutlicher Störungen des Arbeitsgedächtnisses im Rahmen der depressiven Erkrankung gewertet. Die betroffenen Patienten beschrieben klinisch Grübeltendenzen, was offenbar neben anderen Faktoren die Zuordnung von Aufmerksamkeitsressourcen signifikant beeinträchtigte (Dietrich et al., 2000). Eine derartige Verteilung der für Aufmerksamkeitsfunktionen relevanten neuronalen Aktivität ist eins der zentralen Aufgaben des Arbeitsgedächtnisses (Baddeley, 1992). Die Probanden wiesen aber einen weiteren interessanten Unterschied zu der gesunden Kontrollgruppe im Hinblick auf die Wortverarbeitung auf. Begriffe mit einem negativen emotionalen Gehalt riefen sich signifikant unterscheidende EKP im Vergleich zu den positiven und neutralen Begriffen hervor (vgl. Abbildung 23.6). Dies betraf sowohl die Verarbeitungsschritte des Zugriffs auf das mentale Lexikon (P3a) und der semantischen Kontextintegration (N400) als auch den der postlexikalischen Integration und zusätzlichen assoziativen Aktivität (P3b und später positiver Komplex). Diese Befunde wurden dahingehend gedeutet, dass sich hierin die negative pessimistische und nicht in die Zukunft gerichtete Gedankenwelt depressiver Menschen abbildet. Negative Begriffe mussten also nicht so ausgeprägt in einen vorhergehenden semantischen Kontext integriert werden wie positive und neutrale Begriffe, sie waren den Depressiven vertrauter und waren bereits bei der ersten Präsentation mit einer vermehrten assoziativen Aktivität verbunden. Die Befunde waren hiermit auch ein neurophysiologisches Maß der von Theunissen (1992) beschriebenen negativen Werteerfahrungen depressiver Menschen (Emrich und Dietrich, 2007).
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Abbildung 23.6: Vergleich der Gesamtmittel-EKP (erste und zweite Präsentation gemittelt) der zentralen Elektrodenreihe (Fz und Pz) für die depressiven Patienten (n = 11), der den unterschiedlichen Einfluss des emotionalen Gehaltes der Items auf die EKP verdeutlicht.
23.7 Welche Besonderheiten lassen sich bei Menschen mit einer Zwangserkrankung darstellen? Menschen mit einer Zwangserkrankung können auch veränderte Aufmerksamkeits- (und Arbeitsgedächtnis-)funktionen aufweisen. Die Aufmerksamkeit ist oft auf bestimmte Denkinhalte (Zwangsgedanken) oder Kontrollvorgänge (Zwangshandlungen) fokussiert, um ein gewisses Unwohlsein, das sich beim Unterlassen dieser Handlungen und Gedanken einstellen würde, zu unterdrücken. Vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchungen und Interpretationen der gezeigten EKP-Daten musste also erwartet werden, dass in ähnlicher Weise wie bei depressiven Probanden Aufmerksamkeitsprozesse und damit elektrophysiologische Korrelate der Hirnaktivität verändert sind, die für die Bewältigung der dargebotenen Aufgabe notwendig wäre (Zhang et al., 2003, 2005).
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235
In der folgenden Untersuchung bestätigte sich diese Vermutung. Menschen mit einer klinisch relevanten Zwangserkrankung (ICD-10: F42.2, alle mit Zwangsgedanken und Zwangshandlungen; mittleres Alter 34,2+/-8,5 Jahre, mittlere Dauer der Erkrankung 12.4+/-8.4 Jahre) wurden mit dem beschriebenen Wortrekognitionsexperiment untersucht (Zhang et al., 2008). Zunächst wurde offensichtlich, dass der alt/neu-Effekt in ähnlicher Weise wie bei depressiven Probanden reduziert war. Außerdem konnte allerdings eine erhöhte Aktivität der N1-Komponente als Hinweis auf sehr frühe Veränderungen der Aufmerksamkeitsausrichtung dargestellt werden. Darüber hinaus war die alt/ neu-Effekt-Reduzierung mit der Ausprägung der Zwangserkrankung (gemessen mit der Yale-Brown-Obsessive-Compulsive-Scale) signifikant korreliert, das heißt je stärker die Symptomatik ausgeprägt war, desto kleiner war der alt/neu-Effekt. Die zunehmende Zwangserkrankung und Aufmerksamkeitsfokussierung führte offenbar zum ausgeprägteren Verbrauch von Arbeitsgedächtnisressourcen, die dann für die Rekognitionsprozesse fehlten. In weiteren Analysen zeigte sich eine Quelle dieser vermehrten Hirnaktivität in
Abbildung 23.7: A. Der alt/neu-Effekt wurde als Differenz der EKP (zweite minus erste Wortpräsentation) für die Patienten mit Zwangserkrankung mit schweren Symptomen (Gruppe S, n = 8), mit mäßigen Symptomen (Gruppe M, n = 8) und für die Kontrollgruppe (n = 16) dargestellt. Es zeigte sich eine reduzierte alt/neu-Differenz im Zeitfenster von ca. 450-650 ms bei der Gruppe S im Vergleich zur Gruppe M und zur Kontrollgruppe, jedoch kein Unterschied zwischen der Gruppe M und der Kontrollgruppe. B/C. Quelle neuronaler Aktivität berechnet mit Hilfe der «low resolution brain electromagnetic tomography« (LORETA) (Pizzagalli et al., 2002). Es zeigte sich eine signifikant geringer Hirnaktivität im Bereich des anterioren Gyrus cinguli (BA 32) im Zeitfenster von 450-650 ms bei der Gruppe S im Vergleich zur Kontrollgruppe.
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D. E. Dietrich und Y. Zhang
Hirnarealen, die aus anderen bildgebenden Untersuchungen (PET und fMRT) bereits im Verdacht standen, bei Zwangserkrankungen veränderte Aktivitäten aufzuweisen. Die hier präsentierte Studie konnte aber Beeinträchtigungen einzelner Verarbeitungsschritte durch die hohe zeitliche Auflösung sehr viel differenzierter darstellen (der anteriore Gyrus cinguli wies zum Beispiel nach 450 ms eine signifikant reduzierte Hirnaktivität im Vergleich zur Kontrollgruppe auf; vgl. Abbildung 23.7) Ein differenzieller Einfluss des emotionalen Gehaltes auf die ereigniskorrelierten Potentiale konnte in dieser Gruppe der Zwangserkrankten nicht nachgewiesen werden. Dies war insofern interessant, als es dahingehend gedeutet werden kann, dass der emotionale Gehaltes präsentierter Stimuli im Rahmen einer Zwangserkrankung aus bisher unbekannten Gründen zur Verbesserung der Rekognitionsleistung nicht so gut genutzt werden kann, wie dies bei gesunden Probanden der Fall ist.
23.8 Zusammenfassung Die hier dargestellten Befunde bestätigen, dass sich psychische Faktoren, insbesondere emotionale Aspekte, in komplexer Weise auf Sprachprozesse auswirken. Zwar wurden die Daten nur anhand eines Wortrekognitionsexperimentes erhoben, es war jedoch möglich, einzelne Verarbeitungsschritte und unterschiedliche Einflussfaktoren (emotionaler Gehalt beziehungsweise Grundstimmung und Aufmerksamkeitsfaktoren) differenziert dazustellen. Interessant ist darüber hinaus an diesen Befunden, dass sie zur integrativen Betrachtung psychologischer, neurophysiologischer und psychiatrische Ansätze zur Erweiterung des Verständnisses psychiatrischer Erkrankungen genutzt werden können. Die Sprache der Psyche, beispielsweise repräsentiert durch emotionale Aspekte, spiegelt sich hiernach auch in ihrem Einfluss auf Denk- und Sprachprozesse per se wider.
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Zum Einfluss der Psyche auf Sprachprozesse
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D. E. Dietrich und Y. Zhang
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24
Die Neurobiologie der Kreativität Wolfgang Dillo
Kreativität als ein Vorgang, der Neues aus Altem schafft, ist eine wesentliche Fähigkeit des Menschen. Der ungeheuer kreative Vorgang der Herstellung von komplizierten Werkzeugen wird gemeinhin als einer der Unterscheidungsmerkmale von Menschen und Tieren verstanden. Kreativität ist ein Vorgang, der davon lebt, Grenzen zu überschreiten und Dinge in ein anderes Licht zu rücken oder in einem anderen Licht zu betrachten. Mit anderen Worten: Kreativität führt dazu, dass etwas verrückt wird. Schon hierin zeigt sich die Nähe zwischen Kreativität und Verrücktsein. Es ist kein Zufall, dass psychisch kranke Menschen als »verrückt« bezeichnet werden, denn ganz offensichtlich haftet psychisch kranken Menschen etwas Kreatives an. Moderne psychotherapeutische Ansätze sprechen sogar bei psychischen Erkrankungen von einem kreativen Ansatz, ein nicht lösbares Problem durch die Erkrankung zu lösen (von Schlippe, 1996). Bei dem Versuch kreativ zu sein, muss unser Gehirn eine heikle Gratwanderung vollziehen. Auf der einen Seite muss es sich von bewährten inneren Konzepten lösen und entfernen, um überhaupt etwas Neues zu erschaffen, auf der anderen Seite darf es nicht zu weit von bisherigen Ideen abweichen, um nicht als verrückt zu gelten. Der Maßstab, welche Freiheiten möglich sind, wird dabei wesentlich von gesellschaftlichen und kulturellen Normen bestimmt, aber natürlich auch von eigenen inneren Repräsentanzen (Selbstvertrauen, Rollenvorstellungen, Größenideen) die zum Beispiel durch die eigene aktuelle Lebensphase geprägt sind. Sehr anschaulich wird dies in dem Buch »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry (1946): »Ich habe damals viel über die Abenteuer des Dschungels nachgedacht und ich vollendete mit meinem Farbstift meine erste Zeichnung. Meine Zeichnung Nr.1. So sah sie aus:
Abbildung 24.1: aus »Der kleine Prinz« von A. de Saint-Exupéry (1946)
240
W. Dillo
Ich habe den großen Leuten mein Meisterwerk gezeigt und sie gefragt, ob ihnen meine Zeichnung nicht Angst mache. Sie haben mir geantwortet »Warum sollen wir vor einem Hut Angst haben?« Meine Zeichnung stellte aber keinen Hut dar. Sie stellte eine Riesenschlange dar, die einen Elefanten verdaut. Ich habe dann das Innere der Boa gezeichnet, um es den Leuten deutlich zu machen. Sie brauchen ja immer eine Erklärung. Hier meine Zeichnung Nr. 2.«
Abbildung 24.2: aus »Der kleine Prinz« von A. de Saint-Exupéry (1946)
Das Finden einer kreativen Lösung scheint ein Prozess zu sein, der mit einer hohen inneren Befriedigung einhergeht. Dieses Phänomen lässt sich immer dann beobachten, wenn es Menschen gelingt, eigenständig ein Problem zu lösen. Zum Beispiel bei Kindern, wenn sie sich neue Fertigkeiten aneignen, aber auch im psychotherapeutischen Kontext, sobald sich bei dem Patienten eine Erkenntnis einstellt. Kreativität ist nicht auf eine Modalität begrenzt. Sie kann auf musikalischer, künstlerischer, sprachlicher, aber auch auf technischer Ebene etwas Neues hervorbringen. Sie ist aber auch auf der Ebene der Wahrnehmung ständig anzutreffen. Das Interpretieren von Sprache beispielsweise ist ein äußerst kreativer Vorgang und wahrscheinlich ist es jedem schon einmal passiert, dass eine unbedachte Äußerung auf die Kreativität eines Gesprächspartners getroffen ist und dort eine vollkommen unerwartete Reaktion ausgelöst hat. Im Folgenden soll anhand des Verstehens und Formulierens von Sprache das Phänomen aus neurobiologischer Sicht betrachtet werden. Es wird die Frage beantwortet, wie es uns gelingt, immer Neues zu schaffen, ohne dass wir es vorhersehen können. Rein mechanistisch betrachtet, ist Kreativität nichts anderes als das Verbinden beziehungsweise in Beziehung setzen von Fakten, die bis dahin nicht in Beziehung standen und eine anschließende Prüfung, ob diese neue Verbindung im Kontext einer bestehenden Aufgabe sinnvoll ist. Neurobiologisch gesehen ist sie somit dem Vorgang des Lernens ähnlich, denn auch hier werden Fakten, die bisher nicht in Verbindung standen, in einen Zusammenhang gebracht. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass beim Lernen Fakten von außen vorgegeben und dann als zusammengehörig abgespeichert werden, während bei der Kreativität die Verbindung im Inneren generiert
Die Neurobiologie der Kreativität
241
werden muss. Auch die Prüfung der Sinnhaftigkeit einer neuen Verbindung muss in Eigenverantwortung erfolgen und kann nicht wie beim Lernen nach außen projiziert werden (Emrich, 1990). Es lassen sich also zwei wesentliche Prozesse abgrenzen, die Einfluss auf das Maß an kreativem Denken haben. Zum einen muss die Fähigkeit vorhanden sein, neue Verbindungen zu knüpfen, zum anderen muss eine Plausibilitätskontrolle erfolgen. So reduziert lässt sich erkennen, dass es sich bei der Kreativität um einen allgemeinen und allgegenwärtigen Vorgang des Denkens handelt, in dem beide Prozesse nicht etwa nacheinander, sondern gleichzeitig ablaufen (Emrich, 1990). Dies soll anhand der Wahrnehmung und dem Verstehen von Sprache erläutert werden. Ein hannoverscher Radiosender hat einmal seine Hörer aufgefordert, Textpassagen von Popsongs einzusenden, bei denen sie offensichtlich einen falschen Text verstanden haben. Ein Hörer namens Mirco berichtet daraufhin, dass er in der Textzeile »I believe in miracle[s]« höre: »Alle lieben Mirco«. Tatsächlich kann man nach mehrmaligem Hören des Textes diesen Satz deutlich erkennen. Natürlich sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, weitere Interpretationen zu konstruieren. Beispielsweise wäre auch möglich »Eibe leaving miracle« zu hören. Aus »believe in« wäre dann »leaving« geworden und man müsste sich fragen, wer »Eibe« ist und wen er oder sie verlässt. Auch eher sinnlose Konstruktionen, die sich direkt am Klang des Gehörten orientieren, wären denkbar: »Eibe lief in mirkel«. Da es offensichtlich mehrere Möglichkeiten der Interpretation der Textpassage gibt, stellt sich die Frage, in welcher Weise die gehörten Laute in Verbindung gesetzt werden, wie die Plausibilitätskontrolle erfolgt und wie es letztendlich zu einer Entscheidung kommt. Im Sinne der oben beschriebenen Prozesse, handelt es sich hierbei um eine kreative Leistung. Wie in der Abbildung 24.3 durch die Doppelpfeile angedeutet, ist das Ergebnis dieses Prozesses nicht das Resultat einer unidirektionalen Weitergabe von Informationen in Form von Aktionspotentialen. Bereits auf der Ebene der Hörrinde ist zu erwarten, dass die Aktivierung der neuronalen Netzwerke nicht allein auf der Aktivierung durch Impulse der Sinneszellen des Ohres beruht, sondern dass diese Netzwerke auch Impulse von anderen hierarchisch höher gelegenen Netzwerken erhalten. Ein neuronales Netzwerk, das auf das Erkennen des Klanglauts »Ei« programmiert ist, wird auf das Hören des Klangs »Ei« mit einer hohen Frequenz von Aktionspotentialen reagieren und nur gering auf das Hören des Klanges »Al« (Spitzer, 2000). Im nächsten Schritt muss allerdings ein Netzwerk vorhanden sein, dass »Ei« als Englisches »Ich« interpretieren kann. Wenn dies nicht der Fall ist (weil der Hörer kein Englisch spricht), werden keine rückläu-
242
W. Dillo
figen Aktionspozentiale entstehen. Es bleibt dann zunächst nur die Möglichkeit »Ei« im Zusammenhang mit der nächsten Silbe als »Eibe« zu verstehen. Wenn auch dies zu keiner sinnvollen Interpretation führt, werden auch hier keine rückläufigen Aktionspotentiale ausgelöst. Entgegen gesetzt stellt sich die Situation für das Verstehen des ersten Lautes als »Al« dar. »Al« beziehungsweise »Alle« löst zunächst in den primären Netzwerken nur geringe Aktivität aus, hingegen sind die rückläufigen Impulse intensiv, weil die Interpretation in den nachfolgenden Netzwerken auf Resonanz stößt und wiederum rückläufige Aktionspotentiale auslöst. Denkbar wäre, dass sich am Ende die Interpretation durchsetzt, auf die die meisten Aktionspotentiale entfallen (Heiligenberg, 1987). Das hieße, dass die Plausibilitätskontrolle das Ergebnis eines Abstimmungsprozesses wäre. Einen wesentlichen Einfluss auf das Wahrnehmungsergebnis haben die übergeordneten Assoziationsareale. Es ist kein Zufall, dass der Hörer, der die
S i n n e s o r g a n
I believe in miracle Alle lieben Mirco
Ei/Al
I
Alle
be/le
Eibe
liev/lie
believe
I believe in miracle
Textverständnis
lieben
in/ben
lief
mir/Mir
in in
Eibe lief in mirakel
miracle
acle/co
Mirco
mirake
Alle lieben Mirco
Erwartungshaltung
H ö r r i n d e
A s s o z i a t i o n s c o r t e x
Abbildung 24.3: Modell zur Verarbeitung eines gehörten Satzes. Verschiedene Möglichkeiten der Interpretation. Die Rechtecke stellen neuronale Netzwerke dar, die durch die angebotenen Informationen aktiviert werden.
Die Neurobiologie der Kreativität
243
Textpassage »Alle lieben Mirco« erkannt hat, Mirco mit Vornamen heißt. Bei ihm besteht ein neuronales Netzwerk, dass auf das Hören des Namens »Mirco« stark reagiert, und bereits Laute, die ähnlich klingen wie Mirco, werden Antworten in Form von Aktionspotentialen auslösen. Anders ist dies bei jemandem, der den Namen »Mirco« zwar kennt, aber nur gelegentlich hört. Bei ihm ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei ihm ähnlich klingende Laute bereits eine Assoziation in Richtung Mirco wachrufen, eher gering. Das Hören von »miracle« wird ihn eher an »Mirakel« oder »Mirakoli« denken lassen. Beim Radiohörer wird eine starke Erwartungshaltung geweckt, die dann ihrerseits die Wahrnehmung beeinflusst. Bei einem englischsprachigen Hörer wiederum existiert in den Assoziationsarealen ein neuronales Netzwerk, das auf das Hören von »Ei« stark antwortet und dies im Sinne von »Ich« versteht, so dass eine alternative Interpretation wie »Alle« kaum möglich ist. Ein unvoreingenommener Hörer der Textpassage ohne Englischkenntnisse hat keine Konzepte zur Verfügung, die die Entscheidung für die eine oder andere Seite beeinflussen. Er hat am ehesten die Möglichkeit den Klang der Textpassage exakt so zu hören, wie er gesungen wurde. Keine Interpretation ist die absolut richtige, vielmehr hat jede im Rahmen eines bestimmten Kontextes ihre Berechtigung. Die alltäglichen Erfahrungen machen dies deutlich. Möchte man zum Beispiel einen schwer verständlichen Text einfach nur mitsingen, ist das Erkennen der Klanglaute wichtig und das Verständnis des Inhalts unbedeutend. Besteht dagegen die Aufgabe, den Text inhaltlich zu diskutieren, verzichtet man auf das exakte Verstehen der Klanglaute zugunsten eines Gesamtverständnisses. Ein Erklärungsansatz wäre, dass die Aktionspotentiale, die aus entgegengesetzten Richtungen kommen nicht zwangsläufig die gleiche Gewichtung haben, in dem Sinne, dass sie sich einfach addieren lassen. Genauso denkbar wäre, dass bei der Verrechnung die eine oder andere Komponente einen größeren Einfluss hat oder aber dass das Verhältnis der Gewichtung flexibel ist. Dies könnte bedeuten, dass sich die Gewichtung je nach Bedarf und aktuellen Anforderungen an das System mal mehr in die eine oder andere Richtung verschieben würde. Je stärker der Wunsch besteht, den Text zu verstehen, desto mehr müssen die eingehenden Sinnesdaten einem übergeordneten Konzept angepasst werden. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass ein stark übergeordnetes Konzept eine flexible Auswertung einschränkt und somit kreative Lösungen verhindert. In Analogie zum obigen Schema kann man nun exekutive kreative Prozesse analysieren. Im obersten Kästchen stände dann beispielsweise: Schreiben sie ein Gedicht zum Thema »Herbst«. Diese Aufgabe würde dazu führen, dass im nächsten Schritt Assoziationen zum Thema »Herbst« aktiviert werden. Diese verschiedenen Assoziationen könnten dann wiederum willkürlich miteinander verbunden werden. Im weiteren Denkprozess werden nur die Ver-
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W. Dillo
knüpfungen Bestand haben, die wiederum in übergeordneten Arealen auf Resonanz stoßen und somit sinnvoll erscheinen. Es ist bei der großen Zahl von Assoziationen zum Thema »Herbst« eine unüberschaubare Vielzahl von Kombination denkbar. Übergeordnete Konzepte beziehen sich natürlich nicht nur auf die inhaltliche Ebene, also die Frage, ob die Verbindung sinnvoll ist, sondern zum Beispiel auch auf die emotionale Ebene. Die verschiedenen Modalitäten können sich in ihrer Wirkung ergänzen oder auch gegensätzlich sein. Möglicherweise sind die Worte inhaltlich sinnvoll, drücken aber keine oder nicht die gewünschten Emotionen aus. Oder andersherum, es gelingt Emotionen auszudrücken, ohne dass sich der Sinn unmittelbar erschließt. Einen wesentlichen Einfluss auf den kreativen Prozess hat die Fähigkeit zu assoziieren. Im Schema der Abbildung 24.3 bedeutet dies, wie weit gefächert beziehungsweise wie fokussiert werden Information weitergegeben beziehungsweise lösen sie Aktivität aus. Löst der Begriff »Herbst« nur die Assoziation »Jahreszeit« und »Regen« aus, sind nicht viele Kombinationen beziehungsweise Kreativität möglich. Das Gedicht »Septembermorgen« von Eduard Mörike (1829) zeigt dagegen, wie weit gefächerte Assoziationen zu Kreativität führen können, wahrscheinlich vor dem konzeptuellen Hintergrund, eine sehnsuchtsvolle Stimmung zeichnen zu wollen. »Im Nebel ruhet noch die Welt Noch träumen Wald und Wiesen Bald siehst du, wenn der Schleier fällt Herbstkräftig die gedämpfte Welt In warmem Golde fließen.«
Auf Grundlage dieser Überlegungen soll abschließend die Frage erörtert werden, wodurch Kreativität gefördert wird und was Kreativität hemmt. Wie die bisherigen Erörterungen zeigen, ist das Ergebnis eines kreativen Lösungsprozesses sowohl von der Aufgabenstellung, als auch von der konzeptuellen Erwartungshaltung abhängig. Ist die Erwartungshaltung sehr starr und dominant, sind kreative Lösungen kaum möglich. Im Fall des Beispiels mit der falsch verstanden Textzeile zeigt sich sehr deutlich, dass – sobald man den Text erst einmal falsch verstanden hat – eine andere alternative Interpretation kaum noch möglich ist. Das Konzept ist dann offensichtlich so dominant, dass andere Lösungsvorschläge unterliegen. Es zeigt sich daran aber auch, dass vorschnelle Lösungen, die möglicherweise kurzfristig sinnvoll sein können, einen kreativen Prozess verhindern. Das Gleiche gilt auch für Lösungsvorschläge von außen. Gut gemeinte Ratschläge können in diesem Sinne Kreativität verhindern, weil sie den Denkprozess voreilig in eine Richtung lenken und somit das Erwägen von Alternativen überflüssig machen. Überfordert eine Aufgabe die kreativen Lösungsmöglichkeiten, wird dies dazu führen, dass auf
Die Neurobiologie der Kreativität
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alte, bewährte Lösungsmuster zurückgegriffen wird, die dann wiederum nicht optimal angepasst sind und im Sinne der vorher diskutierten vorschnellen Lösungen Kreativität verhindern. Grundlage für jede Kreativität ist, dass eine grundsätzliche konzeptuelle Erwartungshaltung besteht, dass originelle Lösungen erlaubt sind und nicht negativ sanktioniert werden. Übertragen auf Kontexte, in denen Kreativität gewünscht ist beziehungsweise gefördert werden soll, wie etwa in der Erziehung von Kindern, bedeutet dies: Wie viel darf ein Kind ausprobieren, wie hoch ist der Druck, etwas »richtig« machen zu müssen, sich anzupassen, um geliebt zu werden, etc. Natürlich braucht man auch Selbstvertrauen, dass einem schon etwas einfallen wird. In einer ängstlichen Grundhaltung wird man »mehr vom Selben« produzieren, also auf alte bewährte aber suboptimale Lösungsstrategien zurückgreifen. Gedeihen kann Kreativität somit in einer Atmosphäre die von Sicherheit, Geduld, Vertrauen und Zuversicht geprägt ist.
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25
Neurobiologische Grundlagen sexuellen Bindungsverhaltens beim Menschen Tillmann Krüger
25.1 Vorbemerkungen Sexuelle Anziehung und die damit oftmals einhergehende selektive soziale und sexuelle Bindung zählt zu den stärksten treibenden Kräften menschlichen Verhaltens. Die neurobiologischen Grundlagen sexuellen Bindungsverhaltens sind bisher jedoch vorwiegend im Tiermodell erforscht worden. Unter sexuellem Bindungsverhalten werden hier sexuelle und soziale Verhaltensweisen verstanden, die in der Regel durch eine sexuelle Interaktion zwischen zwei Organismen induziert werden und in erster Hinsicht durch eine Bindung und Verhaltensweisen sozialer und sexueller Natur gekennzeichnet sind wie zum Beispiel in Form der konditionierten Partnerpräferenz. Sexuelles Bindungsverhalten ist damit mehr als nur eine Bindung zwischen zwei Menschen wie zum Beispiel bei Freundschaften oder der Mutter-Kind-Bindung. Insbesondere Studien an monogam beziehungsweise polygam lebenden Nagetieren (Präriewühlmaus bzw. Rocky-Mountains-Wühlmaus) liefern die Grundlage für ein neurobiologisches Modell der Paarbindung (Young, Murphy Young und Hammock, 2005). Bei der zentralen Prozessierung sozialer und sexueller Schlüsselreize spielen dabei insbesondere die Neuropeptide Oxytocin und Vasopressin eine wesentliche Rolle. Das dopaminerge mesolimbische System ist hingegen für Verstärkermechanismen und Belohnungslernen von immenser Bedeutung. Die gleichzeitige Aktivierung dopaminerger und neuropeptiderger Strukturen in den Belohnungszentren des zentralen Nervensystems (ZNS) während der Kopulation führt im Tiermodell zu einer konditionierten Partnerpräferenz, die letztlich eine stabile Paarbindung repräsentiert (Young und Wang, 2004). Feste und andauernde soziosexuelle Bindungen sind in den meisten menschlichen Gesellschaften zu beobachten, insbesondere wenn durch die gesellschaftlichen Normen monogame Verhaltensweisen vorgegeben werden. Epidemiologische Daten und Beobachtungen von Humangenetikern zeigen aber auch, dass in vielen Gesellschaften ein nicht unerheblicher Prozentsatz der Männer und Frauen sexuelle Kontakte und Bindungen außerhalb der eigentlichen Beziehung pflegt (Polygamie) (Morell, 1998). Befragungen von Männern und Frauen belegen ein beachtliches Interesse an wechselnden Ge-
Neurobiologische Grundlagen sexuellen Bindungsverhaltens beim Menschen
247
schlechtspartnern mit Hinweisen für eine Alters- und Geschlechtsabhängigkeit (Wilson, 1989). Soziologische Arbeiten zu romantischen (Verliebtsein) und sexuellen Beziehungen unter College-Studenten zeigen komplexe Interaktionsmuster mit mehrheitlichem Interesse an und Kontakt zu mehreren Partnern (Abbildung 25.1; Bearman, Moody und Stovel, 2004).
Abbildung 25.1: Struktur der romantischen und sexuellen Beziehungen unter 832 College-Studenten eines anonymen Colleges im mittleren Westen der USA (Bearman et al., 2004, Grafik entnommen aus »Die Zeit«, 2005, Nr. 5, Gisela Breuer); Nachdruck mit freundlicher Genehmigung
Insgesamt besteht also wenig Zweifel, dass Paare in der Lage sind, lang anhaltende soziosexuelle Bindungen einzugehen, die entsprechende Korrelate auf neuronaler, neurochemischer und molekularer Ebene aufweisen müssen. Empirische Arbeiten zeigen aber auch, dass das sexuelle Bindungsverhalten variabel ist und ebenso polygame Verhaltensmuster zu beobachten sind. Im Folgenden soll ein Überblick zu den bisherigen Erkenntnissen humanund tierexperimenteller Studien zu sexueller Interaktion und Bindung gegeben werden, die die Grundlage für die weitergehende Erforschung dieser wesentlichen verhaltensneurobiologischen Phänomene bei Männern und Frauen sind.
25.2 Neuroendokrine Alterationen während sexueller Aktivität Die funktionellen Zusammenhänge zwischen sexueller Aktivität und neuroendokrinen Parametern sind erst seit Kurzem Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Neben einer transienten und moderaten psychophysiologi-
248
T. Krüger
schen/sympathoadrenergen Aktivierung während sexueller Aktivität kommt es unmittelbar nach dem Orgasmus zu einer prolongierten Prolaktinsekretion bei Männern und Frauen, die über mindestens eine Stunde anhält (Krüger et al., 1998; Exton et al., 1999; Krüger et al., 2006). Pharmakologische Interventionsstudien konnten zeigen, dass akute Veränderungen der Prolaktinspiegel mit Veränderungen der sexuellen Appetenz und des sexuellen Erlebens einhergehen (Krüger et al., 2003). Neben einer möglichen reproduktiven Funktion wird daher eine zentrale Rolle von Prolaktin-Plasmakonzentrationen in der Modulation appetitiven und konsumatorischen Sexualverhaltens beim Menschen diskutiert. Es gibt Hinweise dafür, dass Prolaktin Teil eines sexuellen Sättigungsmechanismus sein könnte und in wechselseitiger Beziehung mit dem dopaminergen System steht (siehe Abbildung 25.2; Krüger, Haake, Hartmann, Schedlowski und Exton, 2002; Krüger et al., 2003; Krüger, Hartmann und Schedlowski, 2005; Krüger et al., 2003). Die im Tiermodell gut belegte reproduktive Bedeutung von Prolaktin (Egli, Bertram, Sellix und Freeman, 2004; Egli et al., 2006) wird derzeit in weitergehenden Studien bei Frauen untersucht.
Abbildung 25.2: Neurobiologisches Modell zur physiologischen Bedeutung postorgastisch erhöhter Prolaktin-Plasmaspiegel bei Männern und Frauen (Krüger et al., 2002).
Neurobiologische Grundlagen sexuellen Bindungsverhaltens beim Menschen
249
Neben Prolaktin kommt es während des Orgasmus zu einer pulsatilen Ausschüttung von Oxytocin (Carmichael et al., 1987; Murphy, Seckl, Burton, Checkley und Lightman, 1987; Blaicher et al., 1999; Kruüger et al., 2003). Die physiologische Bedeutung dieser Oxytocinausschüttung ist noch nicht abschließend geklärt worden. Zum einen werden Effekte auf glatte Muskelzellen verschiedener Abschnitte des Reproduktionsapparates bei Männer und Frauen diskutiert, mit dem Ziel, eine Konzeption zum Beispiel durch Verbesserung des Spermientransportes im männlichen wie auch im weiblichen Reproduktionstrakt zu begünstigen (Carmichael, Warburton, Dixen und Davidson, 1994). Zum anderen stellt sich die Frage, ob das durch sexuelle Aktivität ausgeschüttete Oxytocin ein neuroendokrines Korrelat für die weiter unten beschriebene konditionierte Partnerpräferenz ist beziehungsweise diese begünstigt. Erste humanexperimentelle Studien haben überzeugende Effekte intranasaler Oxytocingaben auf soziale Kognition und Verhalten sowie Affektregulation zeigen können (Kirsch et al., 2005; Kosfeld, Heinrichs, Zak, Fischbacher und Fehr, 2005; Domes et al., 2007a; Domes, Heinrichs, Michel, Berger und Herpertz, 2007b; Feldman, Weller, Zagoory-Sharon und Levine, 2007b; Burri, Heinrichs, Schedlowski und Krüger, 2008). Es ist daher anzunehmen, dass Oxytocin auch für sexuelles Bindungsverhalten beim Menschen von großer Bedeutung ist.
25.3 Neuronale Verarbeitung sexueller Reize in der funktionellen Bildgebung Die Aktivierungsmuster während sexueller Erregung beziehungsweise während der Verarbeitung sexueller Reize bei gesunden Männern und Frauen sind in den letzten Jahren erstmals charakterisiert worden (für einen Überblick siehe Schiffer, 2007). Es finden sich übereinstimmend Aktivierungen des okzipitotemporalen Cortex, der Gyri präcentralis und cinguli sowie der Lobuli parietalis superior und inferior während visuell induzierter sexueller Erregung. Darüber hinaus finden sich Aktivierungen in Teilen des Frontallappens sowie verschiedenen Thalamusregionen und dem Striatum (Nucleus caudatus und Putamen). Eigene Untersuchungen von homo- und heterosexuellen Männern belegen beim Betrachten des jeweilig präferierten sexuellen Reizes Aktivierungen im Hypothalamus, Amygdala, Claustrum, Striatum, in der Inselregion, im anteriorem Gyrus cinguli und im orbitofrontalen Cortex. Die Aktivierung des Hypothalamus korreliert dabei am stärksten mit der subjektiv erlebten sexuellen Erregung (siehe Abbildung 25.3; Paul et al., 2007). Zudem waren Aktivierungen in Teilen des okzipitalen, temporalen und parietalen Cortex zu beobachten. Insgesamt fand sich eine hohe Konkordanz der Aktivierungsmuster mit einem zuvor von Redoute und Mouras (Redoute
250
T. Krüger
et al., 2000; Mouras et al., 2003) postulierten verhaltensneurobiologischen Modell, welches kognitive, motivationale, emotionale und autonome Komponenten der zentralen Prozessierung sexueller Reize beschreibt.
A
B
C
D
E
F
Abbildung 25.3: Koronare und sagittale Schichtbilder mit den Aktivierungsmustern der Vergleichsanalysen (A, B, E, F) und der Regressionsanalysen der hypothalamischen Aktivierung (C, D) bei heterosexuellen Männern (A, C, E) und homosexuellen Männern (B, D, F). (A) Der HET-COR- (heterosexuelle Männer, die den präferierten sexuellen Stimulus präsentiert bekamen) minus HOM- OPP- (homoesexuelle Männer, die den nicht präferierten sexuellen Stimulus präsentiert bekamen) Kontrast zeigt eine starke hypothalamische Aktivierung. (B) Der HOMCOR- minus HET-OPP-Kontrast zeigt eine leichte hypothalamische Aktivierung. (C) Der HETCOR-Kontrast mit der subjektiven Einschätzung der sexuellen Erregung als Regressor zeigt eine starke hypothalamische Aktivierung. (D) Der HOM-COR-Kontrast mit der subjektiven Einschätzung der sexuellen Erregung zeigt eine leichte hypothalamische Aktivierung. (E) Der HETOPP- minus HOM-COR-Kontrast zeigt keine hypothalamische Aktivierung. (F) Ebenso fand sich keine hypothalamische Aktivierung im HOM-COR-minus HET-OPP-Kontrast (Details bei Paul et al., 2007).
Darüber hinaus sind geschlechtsspezifische Unterschiede in den Aktivierungsmustern von Männern und Frauen nachgewiesen worden, wobei die Aktivierung thalamischer und hypothalamischer Kerngebiete sowie der Amygdalae bei Männern signifikant stärker war und die Aktivierung des Hypothalamus nur bei Männern mit dem Ausmaß der sexuellen Erregung korrelierte (Karama et al., 2002; Hamann, Herman, Nolan und Wallen, 2004).
Neurobiologische Grundlagen sexuellen Bindungsverhaltens beim Menschen
251
25.4 Sexuelle Aktivität, Belohnung und Bindung Die bildgebenden und neuroendokrinen Arbeiten haben also zeigen können, dass während sexueller Aktivität ein Netzwerk neuronaler Strukturen (u. a. ventrales tegmentales Areal, Nucleus accumbens, präfrontaler Cortex und ventrales Pallidum) sowie neuroendokrine Faktoren involviert sind. Teile dieser neuronalen Strukturen sind auch für die Generierung des konditionierten Belohnungslernens verantwortlich. Es wird angenommen, dass auf verhaltensbiologischer Ebene eine Paarbindung das Ergebnis eines konditionierten Belohnungslernens ist, bei dem die (Geruchs-)Wahrnehmung des Kopulationspartners (UCS) im Tiermodell zum konditionierten Stimulus (CS) wird, der an ein Belohnungserleben gekoppelt ist (CR), welches zuvor durch die sexuelle Aktivität beziehungsweise Kopulation induziert wurde (UCR) (Young und Wang, 2004). Eine alleinige Aktivierung des dopaminergen Systems scheint für eine anhaltende Paarbindung jedoch nicht ausreichend zu sein, sondern erst die Interaktion des dopaminergen Belohnungssystems mit den Neuropeptiden Oxytocin (vorrangig bei Weibchen) und Vasopressin (vorrangig bei Männchen) beziehungsweise deren neuronalen Strukturen scheint die Paarbindung zu festigen (Becker, Rudick und Jenkins, 2001; Pfaus et al., 1990; Liu und Wang, 2003).
25.5 Neurobiologisches Modell der Paarbindung im Sinne der konditionierten Partnerpräferenz – Implikationen für die frühe Phase einer Bindung Die obigen Befunde führen zu einem neurobiologischen Modell der konditionierten Partnerpräferenz (Young und Wang, 2004; Young et al., 2005), das zukünftig erstmals im Humanbereich analysiert werden soll. Vor dem Hintergrund einer sexuellen Interaktion integriert dieses Modell das dopaminerge, oxytocinerge und vasopressinerge System und bietet eine neurobiologische Erklärung für die Entstehung einer konditionierten Partnerpräferenz. Das neuropeptiderge System scheint dabei eine wesentliche Rolle in der Verarbeitung sozialer und sexueller Reize zu spielen. So konnte beispielsweise eindrücklich gezeigt werden, dass in Knockout-Maus-Modellen für das Oxytocin- und Vasopressin-Gen eine soziale Amnesie aufzuweisen ist (Ferguson et al., 2000). Aber auch erste humanexperiementelle Arbeiten belegen die immense Bedeutung von Oxytocin und Vasopressin für soziale Kognition, Annäherungsverhalten und Bindung (Heinrichs, Baumgartner, Kirschbaum und Ehlert, 2003; Heinrichs und Domes, 2008; Kirsch et al., 2005; Domes et al., 2007a; Domes et al., 2007b; Feldman, Weller, Zagoory-Sharon und Levine, 2007a).
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T. Krüger
Das postulierte Modell belegt eine neuronale und neurochemische Interaktion zwischen dem ventralen tegmentalen Areal (Abbildung 25.4, VTA), der medialen Amygdala (MeA), der Area praeoptica (POA), dem Hypothalamus und dem ventralen Anteil des Striatums. Dopaminerge Projektionen des VTA führen zum Nucleus accumbens (Nacc, lila) und präfrontalen Cortex (PFC, lila), der wiederum intensive glutamaterge Projektionen zurück zum Nucleus accumbens unterhält. Die mediale Amygdala und die Stria terminalis sind reich an vasopressinergen Projektionen, während oxytocinerge Projektionen von der Area praeoptica und dem Hypothalamus zum Nucleus Accumbens ausgehen. Bei der Kopulation kommt es dann zu einer simultanen Aktivierung von D2-Rezeptoren im Nucleus accumbens sowie von Oxytocinrezeptoren im PFC und N. accumbens bei Weibchen beziehungsweise von Vasopressinrezeptoren im ventralen Pallidum bei Männchen.
Abbildung 25.4: Neurobiologisches Modell der Paarbindung beim Nagetier. VTA ventrales tegementales Areal, CP Caudatum Putamen, MeA mediale Amygdala, POA Area praeoptica, Hyp Hypothalamus, Nacc Nukleus accumbens, PFC präfrontaler Cortex, OB Bulbus olfactorius, LS laterales Septum, ventrales Pallidum, MdThal mediodorsaler Thalamus (Erläuterungen siehe Text und Young und Wang, 2004). (Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von MacMillan Publishers Ltd.: Nature Neuroscience 7 [10] – © 2004)
Daraus folgt eine Kopplung der verstärkenden und hedonistischen Aspekte der Kopulation mit den soziosexuellen Reizen und Erkennungsmerkmalen des Kopulationspartners, was zu einer konditionierten Partnerpräferenz führt; vergleichbar mit der konditionierten Platzpräferenz bei Drogenkonsumenten. Für den Humanbereich bleibt vorerst ungeklärt, ob es in Analogie zum Tiermodell eine derart strenge Funktionsaufteilung von Oxytocin und Vasopressin gibt, da die bisher zur Verfügung stehenden Daten dem Oxytocin auch bei Männern eine wesentliche Bedeutung für soziale Kognition und Verhalten beimessen (Kosfeld et al., 2005; Domes et al., 2007a; Domes et al., 2007b). Die konditionierte Partnerpräferenz kann also als neurobiologisch deter-
Neurobiologische Grundlagen sexuellen Bindungsverhaltens beim Menschen
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minierter Vorgang von immenser Bedeutung für das Verständnis der frühen Bindungsphase sexuell interagierender Partner sein und bietet die besondere Gelegenheit einer Untersuchung der physiologischen Funktion von Neuropeptiden für sexuelles Bindungsverhalten beim Menschen.
25.6 Der Coolidge-Effekt als ein neurobiologisches Phänomen sexueller Appetenz und Sättigung in Abhängigkeit vom Neuheitsgrad eines sexuellen Reizes – Implikationen für die späte Phase einer Bindung Der konditionierten Partnerpräferenz als verhaltensbiologischem Modell scheint in vielen langjährigen Beziehungen das Phänomen abnehmenden sexuellen Interesses zum Beispiel aufgrund der zunehmenden Bekanntheit des sexuellen Reizes gegenüberzustehen. Dieses Phänomen hielt in Anlehnung an eine Anekdote des 30. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika (Calvin Coolidge 1872–1933) in der Psychologie und Neurobiologie als Coolidge-Effekt Eingang. Neben der Abnahme der sexuellen Appetenz mit der zunehmenden Bekanntheit eines sexuellen Reizes beschreibt der CoolidgeEffekt auch die Möglichkeit einer Reinitiierung sexuellen Interesses bei Präsentation eines neuen, unbekannten sexuellen Reizes (Beamer, Bermant und Clegg, 1969; Bermant, Clegg und Beamer, 1969). Neurobiologische Arbeiten zeigen, dass es bei Antizipation einer sexuellen Interaktion und während der Kopulation innerhalb des mesolimbischen Systems zu einer deutlichen Erhöhung der dopaminergen Transmission im Nucleus accumbens kommt, die parallel zum Eintreten einer sexuellen Sättigung wiederum abfällt. Lediglich die Präsentation eines neuen, geschlechtsbereiten Weibchens führt zu einer erneuten Zunahme der Dopamintransmission in diesem Kerngebiet (Fiorino, Coury und Phillips, 1997). Der perirhinal-entorhinalen Cortex scheint bei der Speicherung der Erkennungsmerkmale der Kopulationspartnerin von Bedeutung zu sein (Petrulis und Eichenbaum, 2003).
25.7 Ausblick Für den Humanbereich bieten die Phänomene der konditionierten Partnerpräferenz und des Coolidge-Effektes Erklärungsmodelle für die Ausbildung einer stabilen soziosexuellen Bindung zwischen zwei Geschlechts- oder Kopulationspartnern mit initial starker Ausprägung an sexueller Appetenz und Bindung, die im späteren Verlauf eine Abschwächung erfahren können. Aus neuro- und sozialwissenschaftlichen Gründen liegt es daher nahe, die zugrundeliegenden verhaltensneurobiologischen Mechanismen bei Männern
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T. Krüger
und Frauen während der Entstehung einer soziosexuellen Bindung und bei Personen aus langfristigen Partnerschaften systematisch zu untersuchen.
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T. Krüger
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26
Über therapeutische Mechanismen und Wirkungen der Psychotherapie mit entaktogenen Substanzen Torsten Passie
Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen. Vielleicht ergeben sich noch ungeahnte andere Möglichkeiten der Therapie . . . S. Freud (1939)
Psychoaktive Substanzen wie die Halluzinogene LSD oder Psilocybin und die als Entaktogene bezeichneten Stoffe Methylendioxymethamphetamin (MDMA) oder Methylendioxyethylamphetamin (MDE) und andere können eine große Hilfe bei der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und in der Traumatherapie sein (Jungaberle, Gasser, Weinhold und Verres; Winkelman und Roberts, 2007; Abramson, 1967). Diese therapeutischen Optionen waren Gegenstand umfangreicher Forschungen in den 1950er- und 1960er Jahren (vgl. Passie, 1997). Nach Diskreditierung und Verbot dieser Substanzen für medizinisch-therapeutische Anwendungen zum Ende der 1960er Jahre gibt es seit Mitte der 1980er Jahre wieder eine Reihe von Bemühungen, Wirkungen dieser Stoffe im psychotherapeutischen Kontext nutzbar zu machen. Diese Bemühungen wurden nicht zuletzt angestoßen durch das Bekanntwerden einer neuen Gruppe von psychoaktiven Substanzen, den sogenannten Entaktogenen, die besser klinisch handhabbar als die vordem üblichen Halluzinogenen sind und neuartige therapeutische Möglichkeiten eröffnen können. Bisher gibt es keine systematische Beschreibung der therapeutischen Wirkmechanismen beziehungsweise Wirkungen der Therapie mit Entaktogenen. Die vorliegende Arbeit stellt sich die Aufgabe, die für die therapeutischen Wirkungen von Entaktogenen verantwortlichen Elemente beziehungsweise Mechanismen herauszuarbeiten. Diese sind nämlich nur in Teilen mit denen für die Behandlung mit Halluzinogenen (wie sie Leuner, 1971, und Grof, 1983, herausgearbeitet haben) identisch und rechtfertigen von daher eine eigenständige Betrachtung. Vor dem Verbot im Jahre 1986 wurde MDMA von Psychotherapeuten in den USA als Hilfsmittel in der Psychotherapie angewendet (Stolaroff, 1997). Noch vor dem endgültigen Verbot intervenierten diverse dieser Psychotherapeuten bei der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) und stellten das psychotherapeutische Potential von MDMA dar (Seymour,
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T. Passie
1987). Dadurch kam es zu einem Gerichtsverfahren, welches das Verbot der Substanz nochmals überprüfte und kurzzeitig wieder aufhob. Letztlich hatten sich die Hinweise auf ein therapeutisches Potential derart verdichtet, dass die Suchtstoffkommission der WHO anlässlich des (durch sie veranlassten) Verbotes der Substanz MDMA dem Verbotserlass folgendes Statement beigab: »Es sollte beachtet werden, dass die Kommission bei ihren Diskussionen der Frage eines angeblichen therapeutischen Nutzens von 3,4-Methylendioxymethamphetamin breiten Raum gab. Obwohl die vorliegenden Berichte die Neugier der Kommission weckten, gelangte sie zu der Auffassung, dass den Untersuchungen ein entsprechender methodologischer Aufbau fehlte, der für eine Ermittlung der Verläßlichkeit der getroffenen Beobachtungen unerlässlich ist. Es war jedoch genügend Interesse geweckt worden, um die Empfehlung auszusprechen, dass Untersuchungen angeregt werden sollten, die diesen vorläufigen Befunden nachgehen. Zu diesem Zweck legte es die Kommission den einzelnen Ländern nahe, den Artikel 7 des Übereinkommens über psychotrope Substanzen auszuschöpfen, der die Forschung über diese interessante Substanz erleichtert« (WHO Expert Committee on Drug Dependence, 1985, S. 25).
Seit dieser Zeit rissen die Bemühungen, diese Stoffe tatsächlich doch noch therapeutisch zu nutzen, nicht mehr ab. Beispielhaft seien hier die Studien von Greer und Tolbert (1986), der Schweizerischen Ärztegesellschaft für psycholytische Therapie (SÄPT) (Styk, 1994; Benz, 1989) sowie die aktuellen Studien zur MDMA-unterstützten Psychotherapie bei Posttraumatischen Belastungsstörungen in den USA durch Michael Mithoefer (Persönliche Mitteilung, 2008) in der Schweiz wie auch die Studie zur Angstminderung in der Psychotherapie bei terminal Krebskranken an der renommierten Harvard-Universität in Boston (Halpern, 2008), angeführt. Der Autor dieses Beitrags stand beziehungsweise steht mit den genannten Arbeitsgruppen in direktem Kontakt und konnte außerdem in der Praxis von Hanscarl Leuner (Göttingen) sowie in anderen Zusammenhängen eine Reihe praktischer Erfahrungen mit der therapeutischen Wirkung derartiger Stoffe sammeln. Außerdem konnte er die Ergebnisse einer Interviewstudie zu Veränderungsprozessen in der psycholytischen Therapie mit Entaktogenen auswerten (vgl. Passie und Dürst, 2008). Um sich den teils außergewöhnlichen subjektiven Erlebnissen mit angemessenem Vorverständnis nähern zu können, sollen einleitend Wirkungen und therapeutische Implikationen des veränderten Erleben unter psychoaktiven Substanzen skizziert werden.
Veränderungen des Erlebens unter psychoaktiven Substanzen Unter der Wirkung von typischen psychoaktiven Substanzen wie den Entaktogenen (MDMA, MDE, MDA, MBDB) und den Halluzinogenen (Psilocybin, LSD) kommt es bei weitgehend klarem Bewusstsein (im Sinne von Selbst-
Über therapeutische Mechanismen und Wirkungen der Psychotherapie
259
wahrnehmung und Realitätsprüfung) und gutem Erinnerungsvermögen zu einer Aktivierung von Affektivität und Sinnesfunktionen und tagtraumartigen Imaginationen bei geschlossenen Augen (Passie, Hartmann, Schneider und Emrich, 2005a; Leuner, 1962). Die Fähigkeit zu abstrahieren tritt zurück. Die aufkommenden Einfälle und Gedankenreihen sind sinnkohärent verbunden und gehorchen den Regeln des Freud’schen Primärvorganges. Bildhaftes Denken steht im Vordergrund, emotionale Einsichten werden gewonnen und unbewusste psychische Inhalte treten hervor. Diese sind überwiegend konfliktzentriert beziehungsweise spiegeln die latenten (unbewussten) Konflikterfahrungen in teils bildhaft-symbolischer Form nach Art der Traumsymbolik wider. Häufig gelingt es dem Patienten aus einer Beobachterperspektive, nach dem Prinzip eines Weitwinkelobjektives, weit auseinanderliegende innerseelische Fakten wie Erinnerungen, menschliche Beziehungen, Gefühlserlebnisse oder fehlerhafte charakterliche Einstellungen miteinander in Sinnzusammenhang zu bringen. Dabei sind mehrere Bewusstseinsbereiche gleichzeitig angesprochen, so dass eine breite Integration unbewussten Materials gelingen kann. Der Betreffende kann eine Fülle introspektiver Einsichten in neurotische Fehlhaltungen gewinnen. Deren Überzeugungscharakter ist durch die ausgeprägte emotionale Beteiligung ausgesprochen gut, so dass der therapeutische Prozess beträchtlich vertieft und beschleunigt wird (Grof, 1983; Leuner, 1981). Während der Sitzung bleibt die situative Orientierung im Sinne einer Einsicht in den therapeutischen Charakter der Situation erhalten (»reflektierender Ich-Rest« nach Leuner, 1962). Dies lässt sich über eine individuell angepasste, niedrige bis mittlere Dosierung der Substanzen regulieren. Die psycholytische Methode ist jedoch keine eigenständige Therapie. Vielmehr ist sie Hilfsmittel für eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Im tiefenpsychologischen Behandlungskontext entfaltet sich durch die psycholytischen Sitzungen regelhaft ein Netzwerk von Konnotationen und Einsichten in die unbewusste Psychodynamik der Person (Abwehrmechanismen des Ich, Affekt- und Triebimpulse, Traumsymbolik usw.).
Die Entaktogene MDMA und MDE Bei den Entaktogenen handelt es sich um Substanzen mit einem spezifischen Wirkungsbild, das weder den Halluzinogenen noch den Stimulantien (Amphetaminen) zuzuordnen ist. Zwar teilen Entaktogene einige Eigenschaften beider Substanzgruppen, doch ihr Wirkungsschwerpunkt liegt im emotionalen Bereich (Gouzoulis-Mayfrank, Hermle, Kovar und Sass, 1996).
260
T. Passie
Tabelle 1: Subjektive Effekte von MDMA (Liester, Grob, Bravo und Walsh, 1992)
Veränderte Zeitwahrnehmung
90%
Gesteigerte Fähigkeit zur Interaktion und Offenheit mit anderen
85%
Verminderte Abwehrhaltung
80%
Verminderte Furcht
65%
Vermindertes Empfinden der Isolation und Entfremdung von anderen
60%
Veränderungen der visuellen Wahrnehmung
55%
Gesteigerte Wahrnehmung von Gefühlen
50%
Verminderte Aggression
50%
Bewusstwerden unbewusster Erinnerungen
40%
Verminderte Zwanghaftigkeit
40%
Verminderte Unruhe
30%
Verminderte Impulsivität
25%
Verminderte Angst
15%
In seiner ersten Publikation aus dem Jahre 1986 zur pharmakologischen Charakterisierung der Entaktogene leitet der Medizinchemiker David Nichols (1986) den Begriff Entaktogene wie folgt her: »Diese Substanzen wirken so, dass sie es dem Therapeuten beziehungsweise dem Patienten ermöglichen, den inneren Kern seiner selbst zu berühren und sich mit schmerzlichen emotionalen Aspekten auseinanderzusetzen, die sonst nur schwer oder gar nicht zugänglich sind. Ich halte die lateinische Wurzel tactus für geeignet als Teil des neuen Begriffes, da das Wort ›Takt‹ eine sensible und behutsame Art der Kommunikation impliziert, die der Entstehung von Abwehr entgegenwirkt. Ergänzt durch die griechischen Wurzeln ›en‹ (= innen) und ›gen‹ (= entstehen lassen) entsteht der Name ›Entaktogen‹ mit der Bedeutung des Ermöglichens einer behutsamen Berührung mit dem eigenen Inneren« (Nichols, 1986, S. 37; Übersetzung T. P.). Die psychischen Wirkungen der Entaktogene sind – im kontrollierten und geschützten therapeutischen Rahmen – gekennzeichnet durch eine leicht kontrollierbare Erlebnisveränderung mit primär emotionaler Tönung bei oft vorkommender Entängstigung und ausgeprägter psychophysischer Entspannung. Sie induzieren regelmäßig eine erhöhte Bereitschaft zur Kommunikation und eine gesteigerte Introspektionsneigung. Die Aufmerksamkeit lässt sich leicht auf emotional bedeutsame Inhalte lenken. In einer Art innerem Dialog können durch die angstreduzierende Wirkung (»Auflösung neurotischer Furcht«) und eine dadurch begünstigte Erweiterung der Assoziationswelt neue Aspekte des
Über therapeutische Mechanismen und Wirkungen der Psychotherapie
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eigenen Selbst beziehungsweise der eigenen Geschichte wahrgenommen und in neue Bedeutungszusammenhänge gestellt werden. Dabei können, im Sinne einer katalytischen Wirkung, latente, sonst unbewusste innere Spannungssysteme (»transphänomenale dynamische Steuerungssysteme« nach Leuner, 1962; »systems of condensed experience« nach Grof, 1978) auf Auflösung drängen und die mit ihnen verbundenen psychischen Inhalte ins Bewusstsein treten. Weiter entsteht ein Gefühl erhöhter Selbstsicherheit und Selbstakzeptanz sowie der empathischen Wahrnehmung anderer. Im Unterschied zu den Halluzinogenen bleiben kognitive Funktionen und Ich-Integrität weitgehend unverändert (Passie et al., 2005a). Die intrapsychischen Abwehrmechanismen werden zwar gelockert, bleiben aber dem Ich weiterhin verfügbar. Der Zustand bietet lediglich die Möglichkeit beziehungsweise lädt dazu ein, diese Mechanismen »beiseite zu lassen«, sich selbst auf neue Weise kennenzulernen (Passie et al., 2005a, Hess, 1997). Bei einer mittleren Dosierung haben MDMA bzw. MDE eine Wirkdauer von vier bis sechs Stunden.
Psychophysiologische und neurobiologische Wirkungen der Entaktogene Entaktogene stimulieren den Sympathikus und verursachen darüber eine leichte Steigerung von Blutdruck und Pulsfrequenz sowie eine Ausschüttung von Prolaktin und Kortisol (vgl. Passie et al., 2005a). Die psychischen Effekte der Entaktogene werden nur sekundär über das dopaminerge System vermittelt. Gemäß neueren Forschungsergebnissen wird die Wirkung der Entaktogene über eine massive Freisetzung und Wiederaufnahmehemmung des Neurotransmitters Serotonin aus Nervenendigungen verursacht. Inwieweit eine Wiederaufnahmehemmung für Noradrenalin für die Wirkungen der Entaktogene mitverantwortlich ist, muss noch offen bleiben, da alle Entaktogene auch geringfügig mit diesem Mechanismus interagieren (Vollenweider, 2001). In einer Studie zum Neurometabolismus unter dem Einfluss des Entaktogens Methylendioxyethylamphetamin (MDE) (2 mg/Kg p. o.) mittels [18F] FDG-Positronen-Emissions-Tomographie (Gouzoulis et al., 1999) zeigte sich keine signifikante Veränderung des globalen Hirnmetabolismus, aber eine Stoffwechselsteigerung im Kleinhirn und eine Reduktion des kortikalen Metabolismus mit Betonung der frontalen Regionen. Im Bereich des anterioren Cingulums zeigte sich dagegen eine deutliche Stoffwechselsteigerung. Womöglich mitbedingt durch ein anderes Aktivierungsparadigma während der Untersuchung, zeigte die FDG-PET-Studie von Gamma, Buck, Berthold, Liechti und Vollenweider (2000) unter MDMA (1,7 mg/Kg p. o.) beidseits signifikante Steigerungen des regionalen zerebralen Blutflusses (rCBF) im Klein-
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hirn, dem ventromedialen präfrontalen Kortex, dem ventralen anterioren Cingulum sowie dem inferioren Temporal- und dem medialen Okzipitallappen. Beidseitige Verminderungen des rCBF zeigten sich in den Arealen der prä- und parazentralen Lobi, dem dorsalen und posterioren Cingulum sowie dem superioren temporalen Gyrus, der Insula und dem Thalamus. Die untereinander reich vernetzten Strukturen des ventralen und dorsalen Cingulums, des Thalamus, des Temporallappens und des Kleinhirns werden als zentrales Netzwerk bei der Regulation von Stimmungen und Emotionen diskutiert (George et al., 1995). Von besonderer Bedeutung erscheint eine ausgeprägte Deaktivierung der linken Amygdala, bei der es sich um das neurobiologische Substrat der Entängstigung und Euphorie unter MDMA handeln dürfte. Eine besondere psychophysiologische Wirkung von Entaktogenen wie MDMA und MDE ist die Induktion eines psychischen und physiologischen Zustandes, wie er typischerweise unmittelbar nach dem Erleben eines Orgasmus auftritt (postorgasmischer Zustand) (Passie, Hartmann, Schneider und Krüger, 2005b) (Tabelle 2). Jüngst konnte zudem nachgewiesen werden, dass es während des postorgasmischen Zustandes auch zur Deaktivierung der linken Amygdala kommt (Komisaruk und Whipple, 2007). Tabelle 2: Psychophysiologische Ähnlichkeiten von typischem MDMA-induzierten Zustand und postorgasmischen Zustand (nach Passie et al., 2005b).
Psychophysiologische Funktionen
MDMA-induzierter Zustand
Post-orgasmischer Zustand
Gesamtzustand
tiefe Relaxation
tiefe Relaxation
ZNS-Arousal
erhöht
erhöht
Neurobiologisch
Deaktivierung der linken Amydala
Deaktivierung der linken Amydala
Kardiovaskulär
RR + Puls erhöht
RR + Puls erhöht
Neuroendokrin
Prolaktin erhöht
Prolaktin erhöht
Vigilanz
erhöht
erhöht (vermindert)
Gefühle
intensiviert
intensiviert
Angst
vermindert
vermindert
Denken
imaginativer
imaginativer
Körpererleben
intensiviert
intensiviert
Mind set
geöffnet
geöffnet
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Implikationen neurobiologischer Entaktogen-Wirkungen für die Traumatherapie Neuere neurobiologische Forschungen haben gezeigt, dass es bei der Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen während der Einwirkung traumatischer (d. h. die normale psychische Verarbeitungskapazität überschreitenden) Erlebnisse zu einer abnormen Reizverarbeitung kommt. Normalerweise werden die eingehenden Sinnesreize von den sensorischen Feldern an den Thalamus weitergeleitet, der für deren Distribution in die weiterverarbeitenden Hirnstrukturen sorgt. Vor der Abspeicherung im Gedächtnis (Hippokampus) werden die Sinnesinformationen zunächst mittels der Amygdala auf ihre Überlebens- und Gefahrenrelevanz vorsondiert und dann in entscheidenden Teilen dem Kortex zugeführt, der für eine weitere Bewertung und Einordnung sorgt, bevor die Reize dann im Gedächtnis abgelegt werden. Bei traumatischen Erlebnissen kommt es nun zu einer »Vereinfachung« der Verarbeitungsweise. Dabei werden die Verarbeitungsschritte in phylogenetisch älteren Hirnarealen (Limbisches System, Amygdala und Hippocampus) bevorzugt, die komplexeren Bewertungs- und Einordnungsvorgänge über den Kortex »ausgelassen«, und es kommt zu einer »direkten Abspeicherung« (ohne Zwischenschritt über den Kortex). Treten nun Sinneseindrücke, die an das Trauma erinnern, in das Erlebnisfeld, so kommt es zu einer überstarken Aktivierung der Amygdala, ohne die Möglichkeit der Hemmung dieser Reaktion durch die – in ihrer Aktivität stark reduzierten – Strukturen des Cingulums und des medialen frontalen Kortex (Nutt und Malizia, 2004). Insbesondere in der linken Amygdala findet sich bei PTSD-Patienten eine überstarke Aktivierung (Liberzon und Sripada, 2008), die mit dem Ausmass der Symptomatik korreliert (Shin et al., 2005). Die unter den Entaktogenen MDMA und MDE zu findende basale Entängstigung, die neurobiologisch mit einer Deaktivierung der linken Amygdala in Beziehung steht (Gamma et al., 2000), kann möglicherweise hilfreich bei der Integration traumatischer Erfahrungen beziehungsweise Erinnerungen sein. Dies wurde mehrfach berichtet und ist aktuell Gegenstand von zwei klinischen Studien (Oehen, Persönliche Mitteilung, 2008; Mithoefer, Persönliche Mitteilung, 2008). Möglich erscheint, dass die Deaktivierung der Amygdala den Zugang zu vordem im oben skizzierten pathologischen Modus abgespeicherten und amnestisch unzugänglichen Erinnerungen eröffnet, da die Amygdala normalerweise eine Freisetzung von traumatischen Erinnerungen (aufgrund ihrer ängstigenden Qualität) verhindert. Über diesen neurobiologischen Mechanismus könnten somit traumatische Erinnerungen einem therapeutischen Reprozessieren zugänglich werden. Auch könnte damit, über eine (auch anderen Trauma-Therapieverfahren zugrundeliegende) »nachgeholte« kortikale Verarbeitung, eine bessere und symptommindernde Integration von Trauma-
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ta gelingen (Pagani et al., 2007). Aktuelle klinische Erfahrungen zeigen, dass offenbar das psychische Erleben unter Wirkung von MDMA »wie von selbst« in die Richtung einer benigner Reprozessierung einschlägiger traumatischer Erinnerungen läuft (Oehen, Persönliche Mitteilung, 2008; Mithoefer, Persönliche Mitteilung,2008). Tabelle 3: Übersicht der bekannten Entaktogene (Angaben aus Shulgin und Shulgin, 1991; Trachsel und Richard, 2000; Kraemer und Maurer, 2002).
Substanz
MDA
MDMA
MDE
MBDB
BDB
MethylamiMethylennomethydioxyethyllendioxyamphetamin phenylbutan 100–160 180–210
Aminomethylendioxyphenylbutan 150–200
3–5
4–6
4–8
?
?
Entaktogen
Entaktogen
Formel Chemische Bezeichnung
Methylendioxyamphetamin
Dosis (mg) Wirkdauer (Std.)
80–150
Methylendioxymethamphetamin 80–125
8–10
4–6
7–9
(R)-MDMA 6 (S)-MDE 4 (S)-MDMA (R)-MDE 8 3,5
Halbwertszeit
Wirkcharakter
Entaktogen/ Halluzino- Entaktogen gen
Entaktogen
Rahmenbedingungen der psycholytischen Sitzungen Bei den dieser Arbeit in Teilen zugrunde liegenden Sitzungen beziehungsweise Beschreibungen von Behandlungswirkungen durch die Interviewpartner von Dürst (2006) wurden mittlere Dosierungen von MDE (125-150 mg p.o.) oder MDMA (100-125 mg p.o.) verwendet. Die Behandlungen wurden nach den Prinzipien der psycholytischen Methode (Passie, 2007; Leuner, 1971; Fontana, 1965) im Rahmen von Wochenendseminaren in einer Gruppe von 8–15 Klienten durchgeführt. Vor den Sitzungen wurden mit den Klienten diverse Einzelgespräche (10–30) im Sinne einer tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie geführt. Die Psycholyse-Sitzungen wurden von drei permanent anwesenden professionellen Psychotherapeuten (zwei Männer, eine Frau) begleitet. Die Teilnehmer verwendeten während der Sitzung Augenklappen und über Kopfhörer wurde leise Hintergrundmusik zur Stimulation des Erlebens gespielt. Die Teilnehmer wurden angehalten, sich dem inneren Erleben möglichst unbefangen hinzugegeben. Eine Integration und Deutung des in
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der Sitzung Erlebten fand in einer Gruppensitzung am Morgen des Folgetages statt (Dürst, 2006). Bei den behandelten Patienten handelte es sich um weibliche und männliche Patienten mit Charakter-, Angst-, und Sexualneurosen sowie neurotischen Depressionen und psychosomatischen Störungen (Duerst, 2006). Was Fragestellungen, Erhebungs- und Auswertungsmethodik der Studie von Dürst angeht, so wird auf Dürst (2006) verwiesen.
Psychotherapeutische Erfahrung mit Entaktogenen und ihre Elemente In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, welche Elemente Patienten in der Therapie mit Entaktogenen für die Bearbeitung ihrer Probleme als besonders eindrücklich, hilfreich und wirksam erlebt haben, um darüber Einblicke in die therapeutischen Wirkmechanismen zu gewinnen (phänomenologische Methode; vgl. Moustakas, 1994). In der Übersicht stellen sich die zu behandelnden Elemente wie folgt dar: 1. Erfahrungsmöglichkeiten in der Gruppe, 2. Bedeutung der Therapeuten, 3. Entängstigung, Öffnung, Vertrauensbildung, 4. Psychophysische Relaxation und verändertes Körpererleben, 5. Dynamisierung intrapsychischer Prozesse, 6. Altersregressionen, 7. Mentale Alternativsimulationen, 8. Problemaktualisierung und korrigierende Neuerfahrungen, 9. Transpersonale Erfahrungen. Nachfolgend werden die genannten Elemente genauer beschrieben und zumeist anhand von Aussagen in den Interviews illustriert. Die Seitenangaben beziehen sich, wo nicht anders angegeben, auf die Arbeit von Dürst (2006). Die ursprünglich auf Tonträger aufgezeichneten und dann wörtlich transkribierten Interviewtexte wurden zur Verbesserung der Lesbarkeit von Füllwörtern befreit und bezüglich Syntax und Grammatik der Schriftsprache angeglichen. Wo mehr als zwei Worte heraus- oder hereingenommen beziehungsweise verändert wurden, ist dies mit . . . bzw. [ ] kenntlich gemacht. Selbstverständlich wurde darauf geachtet, dass sich durch diese Veränderungen keine inhaltliche Veränderung beziehungsweise Sinnentstellung ergibt.
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1. Erfahrungsmöglichkeiten in der Gruppe Die Therapiegruppen hatten jeweils zehn bis fünfzehn Teilnehmer. Einige Teilnehmer kannten sich durch mehrfache Teilnahme untereinander. Da die Teilnehmer sich während ihrer Teilnahme an den psycholytischen Sitzungen in tiefenpsychologischen Einzelbehandlungen befanden, war für sie die Gruppensitzung eine neue Erfahrung, die viele Ängste und Wünsche mobilisierte. »Die Erfahrung in der Gruppe war auch sehr wichtig, weil man da zutiefst mit sich konfrontiert war, aber zugleich auch in der Gruppe war und das gleich praktisch umsetzen konnte. Dadurch, dass man sich geöffnet hat, es wagte sich zu öffnen, und eine Gruppe da war, die auch bereit war einen anzunehmen, konnte man das neue Gefühl gleich praktisch üben. Und das waren sehr gute und hilfreiche, auch lehrreiche Kontakte. Man hat voneinander gelernt . . . « (35) »Am Ende der Gruppensitzungen fanden dann ja auch Gespräche statt und nachts war man zusammen und konnte sich unterhalten. Da war die Bedrohung völlig weg. Das war für mich ganz wichtig, dass ich Menschen nicht mehr in erster Linie als Bedrohung empfinde, sondern stattdessen wieder Vertrauen aufbauen kann, insbesondere Gruppen gegenüber, die ich ja nicht kontrolliere. Ich bin früher mit Gruppen zusammen gewesen, aber dann habe ich die Gruppen immer kontrolliert. Und hier hatte ich das Gefühl, ich kann die Kontrolle aufgeben. Ich kann mich wirklich entspannen. Da passiert mir nichts, da ist Wohlwollen vorhanden. . . . eine ganz wichtige Erfahrung, die sich in meinem Leben fortsetzt, weil ich Menschen wieder mehr Vertrauen entgegenbringen kann.« (28)
Aus den Beispielen wird deutlich, dass in einer derartigen Gruppe in Abhängigkeit von den biographischen Vorerfahrungen eine ganze Palette von Ängsten und Vorbehalten im zwischenmenschlichen Raum mobilisiert wird. Daneben werden auch korrigierende Neuerfahrungen und vertrauensfördernde Erlebnisse ermöglicht. Auf der Grundlage einer Sicherheit und therapeutische Struktur vermittelnden Gruppenatmosphäre und der entängstigenden Wirkung entwickelt sich nicht selten eine von Liebesempfindungen getragene Offenheit, Gelassenheit und Behutsamkeit in der Kommunikation mit anderen Gruppenmitgliedern. Lange gewohnte interpersonale Ängste, Vorbehalte und Barrieren scheinen wegzufallen (Adamson und Metzner, 1988). Hierbei kann zwischen neuartigen Erfahrungen in Einzelbegegnungen und dem Effekt einer tragenden Gruppe unterschieden werden. Die Gruppe wird dann zu einem interpersonalen Probierfeld, zu einem Experimentierraum, in dem korrigierende Neuerfahrungen mit mitmenschlicher Nähe gemacht werden können. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist dabei die Tatsache, dass diese interaktionellen Prozesse sich weitgehend ohne sexuelle Ambitionen (und interpersonale Fixierungen nach Abklingen der Wirkung) ereignen. Dies ist ein erstaunliches und immer wieder beobachtetes Phänomen, welches den Probiercharakter der Situation begünstigt, da neue Formen von Nähe und Interaktion mit großer Unbefangenheit gelebt werden können. Wie schon erwähnt, hat diese Wirkung ihre neurobiologische Begründung vermutlich in der Ähnlichkeit von entaktogen-induziertem und postorgasmischem Zustand (Passie et al., 2005b). Interessant ist auch, dass sich die Gruppenprozesse nicht,
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wie man aufgrund der großen individuellen Verschiedenheit des Erlebens vielleicht erwarten könnte, im Sinne einer Chaotifizierung auswirken. Vielmehr scheinen sich autoregulative Prozesse abzuspielen, die (ergänzt durch Strukturierung der Therapeuten) die Gruppe in einem weitgehend ungestörten Gleichgewicht halten. Dies wird auch durch die Ergebnisse von Fontana (1965) und den Schweizer Psycholysetherapeuten (Gasser, 1996) bestätigt. 2. Bedeutung der Therapeuten Grundsätzlich kommt der Beziehung zum Therapeuten in der Psychotherapie zentrale Bedeutung zu. Aufgrund der während einer psycholytischen Sitzung weitgehend eigengesetzlich ablaufenden pharmaka-induzierten »psycholytischen« Prozesse tritt der Therapeut offenbar längere Zeit eher in den Hintergrund. Aufgezeigt werden sollen aber auch die Aspekte, für die der Therapeut von Bedeutung bleibt. »In dem Augenblick, als man sich innerlich von falschen und beängstigenden Vorstellungen gelöst hatte, . . . da hat er eine Atmosphäre von Unerschrockenheit vor dem angeblich Schrecklichen vermittelt . . . als ob da ein Löwenbändiger wäre, der, wenn so ein Vieh in den Käfig reinkommt, sagt: Okay, es ist ein Löwe, gucken wir uns den mal an. Dieser Umgang mit beängstigenden Gefühlen war sehr wichtig.« (56) »Im Gegensatz zu den Einzelsitzungen spielte der Therapeut während der Gruppensitzungen eine fast dezentrale, periphere Rolle. Er war sehr wichtig in der Einleitungsphase, für das Vertrauen, dass ich aufgebracht hatte, für den Sprung in dieses Wasser . . . Da war er mir sehr wichtig in seiner Rolle als jemand, der dieses Setting herstellt, diese Atmosphäre. Während der Sitzung selbst spielte er für mich fast keine Rolle.« (56)
Aus den Beschreibungen wird klar, dass die Therapeuten als eine sichernde Struktur und Atmosphäre herstellend gewünscht und erlebt werden. Außerdem haben sie eine im individuellen Fall therapeutische Struktur und Halt vermittelnde Funktion. Darüber hinaus ist zu entnehmen, dass sich Übertragungen auf die Therapeuten oft positiv akzentuieren. Die Patienten empfinden offenbar erheblich weniger Vorbehalte, können sich besser öffnen und anvertrauen. Da psychotherapeutische Beziehung zentral darauf bezogen ist, adäquates mitmenschliches Vertrauen wiederherzustellen, erscheint es möglich, dass psycholytische Gruppensitzungen eine katalytische Wirkung auf das (Wieder-)Erleben zwischenmenschlichen Vertrauens haben. Interessanterweise kommt es dadurch nach klinischen Erfahrungen, trotz einer Intensivierung positiver Übertragungsaspekte, nicht zu einer für die Therapie hinderlichen Idealisierung der Therapeuten (Dürst, 2006; Styk, 1997).
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3. Entängstigung, Öffnung, Vertrauensbildung Entaktogene üben ihre Wirkung offenbar maßgeblich über eine entängstigende Wirkung auf die Psyche aus. Auf der neurobiologischen Ebene wurde unter MDMA eine signifikante Verringerung des Hirnstoffwechsels in der, das »Furchtnetzwerk des Gehirns« (Bandelow, 2001) maßgeblich unterhaltenden, linken Amygdala gefunden (Gamma et al., 2000). Für die entängstigende Wirkung finden sich folgende Beispiele: »Bei MDMA bin ich einfach völlig ›verweichlicht‹ und das war für mich ganz wichtig. Es ist also so, als wenn alle Schranken fallen, als wenn alle Gefühle einfach zugelassen sind. . . . Ich hatte keine Kontrolle mehr darüber, ob ich mich öffne oder nicht. Das war ja genau der Punkt, dass ich eigentlich zu stark kontrolliert bin oder war. Das fiel dann weg. Dann war ich irgendwie schon fast eher anhänglich, weich, offen und redselig; was ich so nicht kannte.« (10) »Es ist, als würde sich der Brustkorb öffnen, ganz tief einatmen und untertauchen, so dahingleiten mit einem enormen Gefühl des Glücks. Wenn man das dann einmal erlebt hat und das dann wieder eintritt, ist es einfach unbeschreiblich. Also, Öffnen und Wohlsein zugleich, körperliches Wohlbefinden, sich gut fühlen und sich unter seiner Decke verkriechen und wunderbar bei sich sein. Ja, auch lustvoll. Man ist sehr wach, sehr aktiv, aber ich habe mich immer so weich dabei gefühlt. Ganz entspannt war ich, sehr aufmerksam, aber entspannt.« (36) »MDMA ist . . . die Herzöffnung und Gefühlsöffnung. Da war für mich erstmal sehr große Angst, weil das ja genau meine Problematik war, meinen Gefühlen keinen freien Lauf zu lassen. Ich verkrampfte. Es war kalt. Ich hatte Angst, Angst, Angst. So wie das eigentlich in meinem Leben auch immer war, das heißt, immer wenn ein Gefühl hochkommen wollte, bekam ich Angst. Ich habe also unter MDE/MDMA dieses Wehren, dieses Kämpfen genau gesehen oder gefühlt. Ich kann so weitermachen oder ich kann langsam versuchen, in kleinen Schritten mich darauf einzulassen und dieses Gefühl kommen zu lassen, zu spüren, sprich, meinen Körper zu spüren. Das hat sich im Laufe der Sitzungen dann auch verändert. Es kam immer mehr Gefühl und ich habe dann immer mehr Vertrauen zu mir selbst gekriegt. . . . Mein Herz wurde immer weiter, ich hatte also die Möglichkeit, an all meine Gefühle ranzukommen, an Bilder ranzukommen, auch an Ängste ranzukommen, die zu sehen.« (62) »Das Zentrale, Verändernde an diesen Erfahrungen . . . ist schwer auszudrücken. Es ist ja ganz vielschichtig. Da waren Erlebnisse dabei, die sich auf ganz vielen Ebenen abgespielt haben. . . . Das Zentrale ist sicherlich . . . , dass alles, was mir problematisch, unlösbar, verwehrt vorkam, auf eine ganz eigenartig geschlossene Art und Weise Sinn machte. Ohne Trennung zwischen Geist, Körper, Seele. Diese drei Ebenen kamen miteinander in Einklang und schienen plötzlich an einem Strang zu ziehen; was Ideen betrifft, was Erfahrung betrifft, auch was Der-Wahrheit-insAuge-Sehen betrifft. . . . Diese Einheit von bei mir doch immer getrennt agierenden Schichten war sehr bedeutsam . . . « (54)
Es zeigt sich in den Beschreibungen, dass die basale Balance von Angst und Vertrauen unter der Wirkung von Entaktogenen verschoben wird. Sie erzeugen eine ausgeprägte Verminderung von Ängsten; ein Effekt, der auch als basale Entängstigung bezeichnet werden kann. Dies zumeist zugunsten eines in tiefgehender Weise verspürten Vertrauens in sich selbst, seine eigenen Kräfte und das Wohlwollen und die Güte anderer. Diese Entängstigung eröffnet im therapeutischen Rahmen Möglichkeiten einer erweiterten Selbstexploration von Motiven, Hintergründen, Gefühlslagen und Zusammenhängen von Er-
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eignissen der eigenen Biographie. Insbesondere werden Ängste vor einer Gefährdung der eigenen Integrität vermindert, was neue Selbstwahrnehmungen und Erkenntnis von Problemen ermöglicht. Meist ist auch das Selbstwerterleben stark positiv verändert (»Ich bin mehr okay, als ich dachte«, »Öffnung gegenüber Liebe und Selbstliebe«). Dies kann mit Freud verstanden werden als eine temporäre Aufhebung narzisstischer Blockierungen oder Dysregulationen, was eine bedeutende – salutogenetisch relevante – »Veränderung der Verteilung der Energien im psychischen Apparat« (Freud, 1941, S. 108) impliziert. Auch eine bei vielen neurotischen Störungen die Selbstentfaltung behindernde verurteilende innere Instanz scheint weitgehend ausgeschaltet (Greer und Tolbert, 1986). Aufgrund des veränderten Bewusstseinsrahmens sind auch die Bahnen, in denen sich gewöhnlich die zugehörigen Assoziationen bewegen, verändert und es kann zu einer neuen Kontextualisierung des Erlebten kommen (ähnlich dem »Reframing« in der Hypnotherapie). Da die kognitiven Fähigkeiten unter der Wirkung von Entaktogenen nur wenig beeinträchtigt sind (vgl. Passie et al. 2005a), können die gefühlsaktivierenden beziehungsweise gefühlsöffnenden Aspekte der Erfahrung weitgehend zwanglos – bei eher relaxierten als qualitativ veränderten kognitiven Funktionen – mit kognitiven Einsichten verbunden werden. Diese Neuordnung geht nicht selten sehr tief und bleibt aufgrund der Realitätsnähe (die unter Umständen größer sein kann als in dem durch Ängste eingeengten gewöhnlichen Wachbewusstsein) nicht selten dauerhaft erhalten. Da auch die persönlichen Eigenarten und Erfahrungshintergründe anderer mit größerer Empathie und Akzeptanz erlebt werden, kann es in Folge der Sitzungen auch zu bleibenden Veränderungen von Beziehungen kommen. Bedeutende Heilwirkungen kommen über das Erleben der dazugehörigen Gefühle, insbesondere von Trauer, zustande. Gelegentlich kommt es jedoch nicht zur affektiven Abreaktion zum Zeitpunkt des dazugehörigen Erlebnissses, sondern die Betroffenen gelangen dann erst verspätet, nach dem Abklingen der Substanzwirkung (abends bzw. nachts), zur Abreaktion der Affekte. 4. Psychophysische Relaxation und verändertes Körpererleben Mit großer Regelmäßigkeit berichten Personen unter der Wirkung von Entaktogenen von einer fundamentalen psychophysischen Entspannung. Der Körper wird als sehr angenehm und frei von Verspannungen erlebt. Viele spüren durch die sehr tiefreichende psychophysische Entspannung eine tiefe Geborgenheit über den ganzen Körper (Adamson und Metzner, 1988). »Das war zunächst eine ganz körperliche Wahrnehmung . . . da haben sich in mir richtig – auch körperlich spürbar – Barrieren gelöst. Und über diese . . . schon fast vitale physische Wahrnehmung kam dann sekundär die Erlebnisebene dazu und auch die . . . konkreten Erlebnisse von der
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Kindheit bis jetzt. Nach einer ersten leichten Verkrampfung wurde ich sehr arglos . . . als würde ich mich in einen Strom legen, wohl wissend, dass ich da drin schwimme und nicht untergehe. [Ich] habe da ganz physisch so etwas wie Urvertrauen oder Vertrauen erfahren, . . . ein Gefühl, als würde ich über Wendeltreppen in eine Tiefe gehen, aber nicht so in finstere, unheimliche Keller, sondern in Unterschichten, völlig wertfrei. Eine Lösung von körperlichen Sperren zu erleben, die unglaublich faszinierend war, weil ich mir dann erst bewusst wurde, wie . . . verkrampft ich sonst in meinem Alltag bin . . . « (50/51)
Ein ausgeprägtes Nähebedürfnis und die Verminderung innerer Barrieren vor körperlicher Annäherung und Körperkontakt können zu ganz neuen Erfahrungen im Kontakt mit anderen führen. Sonst oft bestimmende Gefühle von Scham und Gefährdung der emotionalen Integrität sind in diesen Zuständen weniger bestimmend. Besonderer Erwähnung bedarf die Tatsache, dass es sich bei diesen oft sehr positiv erlebten Näheerfahrungen um sexuell neutrale Möglichkeiten von körperlicher Nähe handelt. Die Entaktogene stimulieren zwar ein Bedürfnis zum Nahesein mit anderen, erzeugen aber keine eigentliche sexuelle Stimulation (Zemishlany, Aizenberg und Weizmann, 2001; Buffum und Moser, 1986). Dies deckt sich auch mit den umfangreichen Erfahrungen von Schweizer Therapeuten, die über nicht einen Fall von sexualisiertem Verhalten während psycholytischer Gruppensitzungen berichteten (Gasser, 1996; Styk, 1997). Eine plausible psychophysiologische Erklärung für diese entsexualisierten Möglichkeiten körperlicher und menschlicher Nähe lieferten Passie et al. (2005b) mit ihrer Hypothese einer psychophysiologischen Äquivalenz von MDMA/ MDE-induzierten Zuständen und dem postorgasmischen Zustand. Für viele Patienten bieten sich hier enorme Möglichkeiten von körperlichen und menschlichen Näheerfahrungen, die frei von sexuellen Motiven sind und es ihnen ermöglichen, sich (wieder) für positive Erfahrungen von menschlicher und körperlicher Nähe zu öffnen und diese auch konkret zu erleben. 5. Dynamisierung intrapsychischer Prozesse Eine Hauptwirkung von Entaktogenen ist die Aktivierung des Gefühlserlebens. Es macht den Eindruck, dass die Substanzwirkung dabei als Promotor der latenten Psychodynamik des Patienten wirkt. Typischerweise kommt es in therapeutischen Rahmenbedingungen zur Konfrontation mit Ängsten, Mitgefühl und Liebe sowie unaufgearbeiteten und problematischen Beziehungen. Auch kann es zur Reaktivierung traumatischer Erfahrungen kommen, die gewöhnlich auf eine Weise erfolgt, die das aufkommende (unbewusste) Material für den Betroffenen mit relativ großer innerer Ruhe und in geordneter Form erlebbar macht und so eine konstruktive Verarbeitung beziehungsweise Integration des – im gewöhnlichen Wachbewusstsein abgespaltenen – Erlebten ermöglicht. Sehr differenziertes, emotionales und intellektuelles Klarwerden, Erinnern und Eruieren von aktuellen und vergangenen Sachverhalten und
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Beziehungen sind möglich. Typisch ist auch die Zusammenschau innerpsychischer Problemlagen und Zusammenhänge bei erhaltener therapeutischer Ich-Spaltung. »Einmal hatte ich vor dem inneren Auge tatsächlich einen runden Tisch meiner inneren Instanzen: Da saßen die Vernunft, die Kreativität, die Lust und der Zorn und sie durften alle mal einen Kommentar abgeben. Ich hatte den Eindruck, mein Ich sitzt als Moderator da und sagt: ›So, wir haben jetzt ein Problem, wie können wir das lösen?‹ Jeder darf mal was einbringen. Zorn sagt: ›Alles kaputtschlagen‹, Lust sagt: ›Ach, machen wir einfach was anderes‹, Vernunft sagt: ›Oh, wenn das mal gut ausgeht‹. Alle durften allen zuhören und jeder durfte was sagen. Es kamen alle möglichen Ideen. Ich habe mir alles angehört und dann am Schluss entschieden: ›Ich denke, wir machen das jetzt so . . . « (58)
Auch Altersregressionen, die ein sehr realistisches Wiedererleben von Geschehenem auf dem psychischen Organisationsniveau der entsprechenden Altersstufe ermöglichen, werden berichtet. Interessant sind auch die dabei gelegentlich auftretenden Alternativsimulationen von prägenden Situationen der Vergangenheit in einem inneren Erlebnisraum. Trotz der Ähnlichkeiten des Erlebnisflusses mit dem Träumen beziehungsweise Tagträumen kommt es bei diesen außergewöhnlichen und intensiven Erlebnisformen nicht zu einer traumartigen Fragmentierung oder Verfremdung des Erlebens. Zugespitzte Formen intrapsychischer Prozesse finden sich in den seltenen und erlebnisverdichteten szenisch-synoptischen Rekapitulationen von wesentlichen Strängen prägender biographischer Erfahrungen. Mit den beschriebenen intrapsychischen Prozessen verbunden kommt es auch zum Erahnen, Spüren und Erkennen eigener Möglichkeiten und Ressourcen. »Ein Beispiel für ein konkretes Erlebnis während der Sitzungen: Ich hatte mal eine Abtreibung und ich konnte mich unter MDE/MDMA sehr schön von dem Kind verabschieden. Ich habe das Bild noch einmal gesehen und konnte das loslassen. Ich hatte vordem immer so ein Schuldgefühl in mir, dass das nicht sein darf und dass ich das nicht hätte machen dürfen. Das war für mich unter MDE/MDMA sehr angenehm, weil ich an dieses Gefühl der Traurigkeit noch einmal rankam. . . . und ich hatte dann das Bild auch klar im Kopf, dieses Kind, so wie ich mir das vorgestellt hatte. Und ich habe damit meinen Frieden gefunden, weil ich durch die Herzöffnung noch einmal behutsam an diese Schuld rankam.« (63)
6. Altersregressionen Altersregressionen sind definiert als Rückbildungen der psychischen Strukturiertheit beziehungsweise des psychischen Funktionierens auf das Niveau einer jüngeren Altersstufe. Altersregressionen im Rahmen der psycholytischen Therapie wurden erstmals von Fernandez-Cerdeno (1964) untersucht. Im Unterschied zu Altersregressionen bei hypnotischen Verfahren (vgl. Scott, 1993) kommen diese in psycholytischen Sitzungen eher spontan themengebunden vor und weisen eine große Erlebnisintensität auf. Zudem werden sie mit einer großen inneren Beteiligung erlebt und führen den Betroffenen auch in das typische Erleben
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der jeweiligen Altersstufe in nahezu realistischer Weise zurück. Dies kann von einem hypermnestischen Erleben innerer Szenarien begleitet sein zu starken Gefühlsevokationen mit affektiven Abreaktionen führen. Gelegentlich kommt es unter dem Einfluss eines altersregressiven Prozesses zum Durchleben verschiedener aufeinanderfolgender Phasen von zunächst meist fragmentarisch und undeutlich beginnenden Erinnerungen, die dann immer deutlichere Gestalt gewinnen. »Die Schmerzerlebnisse, die hatten was Biographisches. Da wusste ich genau, wann dieser große Schmerz entstanden ist. Zum Beispiel hab ich immer gewusst, dass, als ich vier Jahre alt war, mein Vater für ein Jahr weggegangen ist. Er musste gehen . . . und ich habe diesen Schmerz nochmals durchlebt mit vier und dann wusste ich, dieser Schmerz war so heftig aus der Perspektive eines vierjährigen Kindes. In diesem Moment habe ich verstanden, dass da bei mir Verlustschmerz stattgefunden hat und dass ich diesen Schmerz abgekapselt habe. Den habe ich nie gespürt und nie erkannt. Erst durch so eine Reise bin ich darauf gestoßen und konnte mir erklären, warum ich an der Stelle so hart geworden bin. Nämlich weil dieser Schmerz, also den ich durchgemacht habe, so heftig war. Es muss mich wirklich umgehauen oder bedroht oder zerstört haben, dass mein Vater gegangen ist. Ich weiß nicht, wie das abgelaufen ist, aber nachdem ich diesen Schmerz erlebt habe, hat sich dieses Problem aufgelöst. Ich fühle seitdem keine diffuse Wehmut mehr, auch keine Verlustangst oder irgendwas Trauriges mehr. Solche Erfahrungen habe ich öfter gemacht, dass ich einem Schmerz begegnet bin, der mir dann den Rest erklärt hat; warum ich so und so und so bin. Und durch die Begegnung mit diesem Schmerz habe ich dann die Sache aufgelöst. Dann war sie weg . . . « (13)
Anscheinend sind biographische Erlebnisse von besonders großem subjektivem Gewicht oft Anlass zu Altersregressionen und stehen dann im Zentrum des Erlebens. Naranjo (1973) hat in seinen Erörterungen zur psycholytischen Therapie mit dem Entaktogen Methylendioxyamphetamin (MDA) Altersregressionen als typischen Bestandteil psycholytischer Therapieerfahrungen herausgestellt und Spezifika dieser Altersregressionen folgendermaßen charakterisiert: [During age regression with MDA] »[. . . ] the patient simultaneously regresses and retains awareness of the present self. The person more than conceptually remembers, as he may vividly recapture visual or other sensory impressions inaccessible to him in the normal state, and he usually reacts with feelings that are in proportion to the event. All the way from hypermnesia to repetition of a past experience in which not only the old feelings are again felt« (Naranjo, 1973, S. 26). Im Unterschied zu Altersregressionen, wie sie typischerweise unter Halluzinogenen wie LSD vorkommen, findet sich unter der Wirkung von Entaktogenen keine LSD-typische Alteration des kognitiven Systems. 7. Mentale Alternativsimulationen Im Rahmen von mit dem Wiedererleben verbundenen regressiven Prozessen kann es zu spontan sich entwickelnden kreativen und konstruktiven Prozessen in Bezug auf eigenes Erleben und Verhalten in den Erfahrungswelten
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der Vergangenheit kommen. Zum einen können im Rahmen der therapeutischen Ich-Spaltung (d. h., ein Teil des Ich regrediert, ein anderer Teil behält die Erwachsenenperspektive) vergangene Situationen nicht nur wiedererlebt, sondern auch unter Einbezug von kreativen Kräften des erwachsenen Anteils konkret umgestaltet werden. Es wäre vorstellbar, dass man sich darüber von der Fixierung auf ein aus der Vergangenheit überkommenes Verhaltens-/Erlebensmuster löst, indem neue Möglichkeiten des Umgangs mit den wiedererinnerten, aber auch mit aktuellen (von diesem Verhaltensmuster bestimmten) Gefühlsreaktionen und Situationen erkannt werden. »Da gab es eine Situation, wo es um die Beziehung zwischen meiner klammernden Mutter und mir ging und ich sagte: Die ist immer in meinem Kinderzimmer drin, die geht nie raus aus meinem Leben. Hier habe ich es als Kind erlebt, dass sie immer in meinem Kinderzimmer ist . . . auf der Sitzung. Was auch immer ich mache, die ist immer dabei; und dann habe ich richtig laut in den Raum gerufen: Hau ab, raus hier, ja, raus hier! [Ich probierte] tausend Möglichkeiten, in einer fast kindlichen Experimentierlust: Auf welchen Ton reagiert die so, dass sie endlich hier rausgeht. Ich habe dann bewusst gespürt: Rein körperlich kriege ich es nicht hin. Ich fühlte mich schon klein, aber nicht hoffnungslos unterlegen, sondern entwickelte plötzlich Strategien, wie kriege ich die da raus. . . . dann habe ich auch geschrien, habe geschimpft, mit dem Fuß aufgestampft . . . und dann entwickelte ich plötzlich kreative Ideen. Was könnte man aus dieser scheinbar unlösbaren Situation eigentlich machen, damit man die mal endlich auflöst? Dies mit einer fast kindlichen Neugier und dann schlicht und einfach – auch das war eine wunderbare einfache Lösung – zu sagen: Na, dann gehe ich eben raus, ja. Und dann bin ich innerlich in diesem Bild rausgegangen; soll die doch im Kinderzimmer bleiben, viel Spaß noch!« (52/53)
Für eine Entwicklung von veränderten Umgangsformen mit Erfahrungen und Situationen ist natürlich eine Klärung des in der Vergangenheit stattgehabten Geschehens beziehungsweise Erlebens von großer Bedeutung. Hierbei kann das für psycholytische Prozesse typische Hineingehen in die Vergangenheit mit erhaltenen Ich-Funktionen und einer erweiterten Perspektive im Sinne eines Weitwinkelobjektivs, welches in die Lage versetzt, zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Erfahrungen und Fakten in einer retrospektiven Rekapitulation miteinander in Sinnzusammenhang zu bringen, erheblich zu einer klärenden Neuordnung der Vergangenheit beitragen. »[Ich hatte immer] die Vorstellung von einem stattgehabten Missbrauch. Das hat sich unter MDE/MDMA ganz gut aufgelöst. Wichtig war, dass ich dieses Gefühl zu meinem Vater wiedergefunden habe; diese Liebe noch einmal gespürt habe, die er mir damals gegeben hat. Am Anfang war das eher so ein Schwarz-Weiß-Bild. Das hat sich aber im Laufe der Zeit verändert, so dass ich zum Schluss unter MDE/MDMA sagen konnte: Ich kann dieses Gefühl zu ihm wahrnehmen. . . . Ich habe ihn als Bild gesehen, habe ihn als Vater gesehen und dieses Gefühl dazu. Es war ein anderes Gefühl, ein tanzendes Gefühl. Es war einfach eine schöne Schwingung zwischen uns, als ich Kind war. Darüber habe ich gemerkt, dass dieser Missbrauch nie stattgefunden hat, dass es mein Kopf, dass ich es war, die sich das ausgedacht hat. Es war die Racheaktion eines kleinen trotzigen Kindes, was sehr enttäuscht darüber war, dass die Eltern sich getrennt haben. . . . Dadurch habe ich auch diese Angst gespürt, die ich dann später, gegenüber anderen Menschen, anderen Männern hatte, dass die mich halt wieder enttäuschen könnten. Mir wurde deutlich, dass ich mich als junges Kind entschlossen habe: Ich lasse mich nicht mehr auf irgendwelche Menschen ein, die mir sagen, sie lieben mich. Ich wollte damit einfach nichts mehr zu
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tun haben. Das habe ich dann auch in Bildern gesehen: Dieses Kind, das sich gewehrt hat und gesagt hat: Nein, will ich nicht. Ich habe auch gemerkt, wie ich mir damit selbst Dinge kaputt mache . . . « (48)
Die oben beschriebenen psycholytischen Prozesse lassen sich in wesentlichen Teilen den psychotherapeutisch relevanten Klärungsprozessen im Sinne Grawes (1995) zuordnen (vgl. auch Schlichting, 2000). 8. Problemaktualisierung und korrigierende Neuerfahrungen Problemaktualisierung ist nach Grawe (1995) ein wesentliches Element des therapeutischen Veränderungsprozesses. Problemaktualisierung heißt, dass das, was verändert werden soll, in der den therapeutischen Bedingungen auch real erlebt werden kann. Neben der Aktualisierung des Problems spielen für Veränderungsprozesse auch korrigierende Neuerfahrungen eine wichtige Rolle. Für diese beiden Aspekte lassen sich folgende Beispiele anführen: »Einmal habe ich ein Vertrauenserlebnis gehabt. Also ich hatte absolut kein Vertrauen während dieser Sitzung, dem Umfeld gegenüber, den Therapeuten gegenüber, den Leuten gegenüber, es war alles ganz furchtbar für mich. Ich habe dann durch Gespräche mit dem Therapeuten Vertrauen kennengelernt. Ich lernte wie sich das anfühlt, der Situation zu vertrauen. Ich habe vorher nie anderen vertraut; oder doch: solange ich das alles im Griff hatte. Doch mich einfach einer Situation aussetzen und dem anderen vertrauen, dass der mir hilft und gut ist zu mir, das kannte ich nicht. Dieser Situation bin ich in den Sitzungen begegnet, dieser Seite an mir, meinem Misstrauen und dann der Erfahrung, wirklich Vertrauen zu erleben. Seit dieser Sitzung kann ich vertrauen, nicht ständig, nicht immer, aber durch die Vertrauenserfahrung ist Vertrauen entstanden in mir. Und das ist auch nie wieder weggegangen . . . « (14) »Es gab eine Begegnung mit einem Mann auf einer Sitzung, wo ich den Mut gefunden habe, mich dem männlichen Part zu nähern. Erstmal war natürlich diese Angst da: Soll ich mich darauf einlassen oder soll ich nicht? Letztlich war es dann eine wunderschöne Erfahrung. Ich konnte mich auf diesen männlichen Teilnehmer einlassen. Ich habe das erste Mal diese Angst vor Nähe verloren, was ja immer mein Thema war. . . . Ich habe meinem Gefühl vertraut und konnte mich einlassen und es wurde auch angenommen. Das war für mich das Wichtige, das bedeutete nämlich, ich konnte meinem Gefühl vertrauen. Für mich war ganz wichtig, dass ich diese männliche Seite auch ganz anders kennengelernt habe. Vorher war ich ja immer sehr misstrauisch und die Männer standen im schlechten Bild. Und dann hatte ich plötzlich eine ganz andersartige Begegnung . . . « (67)
Die Beispiele demonstrieren, wie neurotisch eingeengte Erlebens- und Verhaltensmuster einer Bearbeitung und Veränderung zugänglich werden, wenn sie im Rahmen psychotherapeutischer Prozesse zum Erleben gebracht werden. Hierbei ist sowohl das konkrete Erleben der einengenden Muster als auch deren Veränderung durch neue Erfahrungen mit anderem Inhalt und Ausgang entscheidend, denn für erfolgreiche Veränderung kommt es nach Grawe darauf an, »dass der Patient tatsächlich erlebt, worum es geht« (Grawe, 1995, S. 137). Dieses »tatsächliche Erleben« kann im Rahmen von psycholytischen Therapien in einem Zustand von Entängstigung und vermehrter Offenheit gegenüber Neuerfahrungen in großer Verdichtung erfahren werden, was eine
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durchgreifende Wirkung auf Vertrauensbildung in zwischenmenschlichen Beziehungen entfalten kann. 9. Transpersonale Erfahrungen Schon aus frühen klinischen Erfahrungen mit Halluzinogenen ist bekannt, dass viele Menschen unter deren Wirkung mystische Erfahrungen haben und in ungewöhnlicher Weise Einblick in archetypische Menschheitsprobleme gewinnen können (Grof, 1978; Masters und Houston, 1966). Mystische Erfahrungen können starke triggernde Wirkungen auf psychotherapeutische Entwicklungen haben und deutliche Effekte auf Lebensorientierungen und Wertewelt entwickeln (empirisch belegt durch Griffith, Richards, McCann und Jesse, 2005 und McGothlin, Cohen und McGothlin, 1967). »Die ersten Reisen hatten eher immer was Negatives; nein, im Nachhinein was super Positives, aber in dem Moment negativ, weil ich irgendeiner Seite an mir beziehungsweise einer Situation begegnet bin, die schmerzhaft, belastend oder traurig war. Später hatte ich den Eindruck, als wenn Wissen in mir aufstieg, und das war sehr beglückend. Ich hatte das sichere Gefühl, viel von den Zusammenhängen der Welt verstanden zu haben. Plötzlich habe ich gewusst, was wirklich Liebe ist. . . . als wenn ich ein schlaues Buch gelesen hätte, aber ich habe es dann auch gefühlt. Ja, das sind Zusammenhänge, die ich dann verstanden habe. Das Universum, das Leben, Sterben, Krieg, Freiheit, so große Begriffe die ich plötzlich verstanden habe oder fühlen konnte. Das Tolle war, dass ich wusste, was es ist, was Liebe ist oder Freiheit ist. Aber ich konnte es nicht formulieren, und das war genau das großartige Erlebnis. Es war nicht in Worte zu fassen und trotzdem ganz klar da, fühlbar und sichtbar. Das waren tolle Erlebnisse. Dies ist erst in den letzten Sitzungen passiert, als . . . meine Belange nicht mehr so im Vordergrund waren, also erst nach der Entrümpelung.« (12/13) »In der ersten Sitzung, in der ich diese körperliche Lösung und Erlösung erlebt habe, habe ich auch eine Liebe zu mir selbst gespürt, wie ich sie in dieser Art und Weise nie erfahren hatte. Das kann man sicher auch als eine Art spirituelle Erfahrung sehen. Das war ganz herznah und ganz gefühlsnah und mit körperlich spürbarer Gewissheit; dass ich von irgendeiner Form von Liebe getragen bin, die in mir ist, und die durch mich durchfließt, wenn ich mich öffne . . . « (53/54) »Ich hatte auf MDE/MDMA Gefühle, dass ich mich auflöse, in nichts oder in andere Leben, oder dass ich einfach irgendwo war, dass ich einfach in so einer Farbenwelt war. Es war wunderbar und es war schön und ich war einfach nichts. Das war eine wunderbare Erfahrung, ein sehr schönes Gefühl, einfach mal nichts zu sein . . . « (52/53)
Für LSD wurde schon früh das Auftreten von »Peak-Experiences« (A. Maslow) oder »integralen Erfahrungen« (Masters und Houston, 1966) beschrieben. Die Person erlebt dabei eine Art subjektiven Aufstieg in eine neue Wahrnehmungsebene. Die emotionale Ladung dieser Erlebnisse ist ausgesprochen hoch, auch wenn sich das Erleben äußerlich meist in einem Zustand der Ruhe vollzieht. Der Betreffende nimmt auf intensivste Weise mit Gewissheit wahr, sich auf der tiefsten Ebene menschlichen Erlebens zu bewegen, verstanden als Essenz, existenzieller Urgrund oder Gott. Dabei erscheint das eigene Ich als Illusion und verliert seine Begrenzungen, indem es sich in einem Größeren, Umfassenderen aufzulösen scheint. Sherwood, Stolaroff und Harman (1963)
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sowie Pahnke und Richards (1966) haben die persönlichkeitswandelnde Wirkungen solcher »psychedelic experiences« genauer beschrieben. Auch unter der Wirkung von Entaktogenen kommt es zu sogenannten Peak-Experiences, die jedoch ein anderes Gepräge haben. Wie die Beschreibungen zeigen, scheint bei diesen eher eine Affirmation der individuellen Aspekte des Selbst im Zentrum zu stehen; während bei LSD eher die Ich-Auflösung und eine Begegnung mit einem umfassenderen Transzendenten typisch sind. Die Ich-Auflösung unter Entaktogenen wäre dagegen eher als Auflösung einer durch Vorerfahrungen bedingten Einengung des Ich-Erlebens zu beschreiben, die sich durch eine von (Selbst-)Akzeptanz getragene Offenheit der subjektiven Erfahrungswelt auszeichnet. Die weltlichen Dinge und Zusammenhänge verschwinden hier aber keineswegs (etwa angesichts eines übergeordneten Transzendenten), sondern ihre Wahrnehmung ist lediglich durch Entängstigung und innere Ruhe so verändert, dass sich der Endruck einer basalen Intaktheit und Geordnetheit des (eigenen) Lebens ergibt. Man scheint nichts mehr zu benötigen zum Glück, denn alles ist vorhanden in der tiefsten Ruhe, der man sich hinzugeben in der Lage ist. Der chilenische Psychiater Claudio Naranjo (1973), der sowohl mit Halluzinogenen als auch mit Entaktogenen Erfahrungen in der Psychotherapie gesammelt hat, kennzeichnet die Peak-Experiences unter Halluzinogenen wie LSD mit dem Begriff der »Depersonalisierung« und diejenigen unter Entaktogenen mit dem (neuen) Begriff der »Personalisierung«. Kennzeichnende Elemente der in den obigen Beschreibungen geschilderten transpersonalen Erfahrungsqualitäten sind: 1. eine vollständig entspannte Öffnung gegenüber dem inneren Erleben; 2. das Empfinden einer emotionalen Gelöstheit, derart, dass alles in Ordnung und sicher scheint; 3. eine positiv erlebte Annäherung an einen »inneren Kern« der eigenen Person; 4. ein Erkennen und Spüren, »was Liebe ist«; 5. ein Geöffnetsein für Selbstliebe, ein Sich-annehmen-Können mit basaler Selbstakzeptanz; 6. eine Besinnung auf nichtmaterielle Aspekte von Sein und Glück. Transpersonale Erfahrungen könne sehr tiefgehende Einsichten vermitteln, sind von großer Erlebnisintensität und können in einigen Fällen eine durchgreifende Wandlung der persönlichen Lebensorientierung und Wertewelt nach sich ziehen. Sie stimulieren oft eine neue Wahrnehmung der eigenen Person, anderer oder der Welt, verändern Blickwinkel und Perspektive und können darüber auch triggernde Wirkungen auf psychotherapeutische Veränderungsprozesse entfalten.
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Therapieresultate aus der Sicht von Patienten Es ist für das Thema der vorliegenden Arbeit von Belang, anhand von Selbstschilderungen aufzuzeigen, was von Patienten als Resultat der abgelaufenen therapeutischen Prozesse wahrgenommen wird, auch wenn dies nur hinweisenden Charakter beanspruchen kann. »Durch diese Sitzungen hat sich für mich verändert, dass die Wahrnehmung intensiver und die Beziehungen zu Menschen klarer geworden sind. . . . ich habe im Grunde genommen ein deutlich tieferes und besseres Verhältnis zu Menschen. Ich kann sie stärker fühlen und mitbekommen und auf sie eingehen. Ich bin viel empathischer geworden.« (9) »Danach habe ich viele Dinge gemacht, einfach gemacht. Ich spürte ein kaum beschreibbares Vertrauen in die eigene innere Stärke und Fähigkeit, was immer auch an Folgen, Konflikten, Problemen entsteht, lösen zu können. . . . Ich entwickelte einen viel direkteren Bezug zu den tiefsten Gefühlen. Ich glaube, ich habe von da an erst gespürt, was Liebe ist. . . . Es gab natürlich auch schmerzliche Veränderungen, Risse, Brüche, aber ich war plötzlich sehr, sehr viel angstfreier und sehr viel mutiger.« (50) ». . . die Erlebnisse, die ich da gemacht habe, wie ich mich gesehen habe, kennengelernt habe, die begleiten mich. Meine harten Seiten, aber auch meine liebevollen Seiten sind mir viel präsenter geworden. Ich sehe das auch in meiner Arbeit, dass ich viel einfacher, natürlicher, umgänglicher bin als vorher, weniger kontrolliert. Ich muss weniger beweisen. . . . Der Umgang mit Menschen hat sehr von den Erfahrungen mit den Medikamenten profitiert.« (35/36)
Was durchgängig aus diesen Beschreibungen zu sprechen scheint, ist, dass es einen Zuwachs an Selbsterkenntnis (im Sinne des Erlebens und Verstehens eigener Beschränkungen und Möglichkeiten) sowie eine Vermehrung von Selbstakzeptanz gegeben hat. Daneben stehen Erweiterungen des Erlebens von Vertrauen und Gefühlen im Allgemeinen sowie veränderte Erfahrungen im mitmenschlichen Raum. Diese spezifischen Koordinaten der Veränderung spiegeln (trotz ihres teils auch unspezifischen Charakters) spezifische Merkmale des veränderten Erlebens unter Entaktogenen wieder und können von daher Anlass zu der Vermutung geben, es handele sich bei den geschilderten Veränderungen um Ausflüsse der spezifischen Erfahrungen unter der Wirkung von Entaktogenen beziehungsweise von durch diese Erfahrungen in spezifischer Richtung beeinflussten Veränderungsprozessen. In Bezug auf die Kategorien von Grawe (1995) scheint sich hier der Wirkfaktor »veränderte Bedeutungen«, in denen der Patient sich selbst und seine Umwelt erfährt, in großer Deutlichkeit zu zeigen. Zudem kommt es im Gefolge von Prozessen, die am ehesten der Klärungsperspektive nach Grawe (1995) zuzuordnen wären, zu einer »Mobilisierung individueller Ressourcen«.
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Weitere Aspekte des therapeutischen Prozesses Aus den bisherigen Erörterungen ergeben sich zwei weitere Elemente, die bei der therapeutischen Wirkung psycholytischer Sitzungen mit Entaktogenen eine Rolle spielen. 1. Verminderung und Transparenz und von Übertragungsphänomenen Im Rahmen der Gruppensituation, bei der gewöhnlich zwei bis drei Therapeuten (beider Geschlechter) anwesend sind, hat es den Anschein, als würden – im Unterschied zu den im dyadischen Setting bei der psycholytischen Therapie beschriebenen Intensivierungen der Übertragung – Übertragungsphänomene in dem beschriebenen gruppentherapeutischen Setting eine fast nur marginale Rolle spielen. Da sich die Klienten primär auf die Aspekte der Therapeuten konzentrieren, die positiven Halt, Anlehnung und Unterstützung vermitteln und darüber hinaus die meiste Zeit auf sich selbst konzentriert sind (Augenklappen, Kopfhörer), scheinen problematische Übertragungsphänomene stark vermindert. Auch können durch die Gruppensituation Übertragungstendenzen weniger Raum greifen und eher »wegdiffundieren«. 2. Psycholytische Erfahrung und psychotherapeutische Integrationsarbeit Es ist anzunehmen, dass sich eine nachhaltige therapeutische Wirkung nur mittels einer psychotherapeutischen Nachbereitung und Integrationsarbeit erreichen lässt. In der substanzunterstützten Situation des Wiedererlebens beziehungsweise Neuerlebens geht es zunächst um das Spüren, Ansehen und Annehmen des Wahrgenommenen und dann erst um dessen Integration. Selbstverständlich sollten die neu gewonnenen Erfahrungen, Erkenntnisse und Gefühlszugänge in einer sorgfältigen Einzelbehandlung durchgesprochen und durchgearbeitet werden, da diese wichtige Integrationsarbeit allein an den erlebnisintensiven Wochenenden nicht gelingen kann. Unterbleibt dieses Durcharbeiten, so bleibt das Erlebte und Erreichte nicht wirksam verankert.
Aktivieren Entaktogene Selbstheilungskräfte? Aufgrund der geschilderten Wirkungen, über welche die Entaktogene (unter geeigneten psychotherapeutisch strukturierten Bedingungen) psychotherapeutisch wirksame Prozesse fördern können, kann die Annahme sinnvoll erscheinen, dass es sich um die Aktivierung von Selbstheilungsvorgängen handelt. So sind die im veränderten Bewusstseinszustand ablaufenden Prozesse praktisch immer weitgehend eigenständige Bewusstwerdungen sonst
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unbewusster Erinnerungen, Bewertungen, Prozesse und Verhaltensweisen. Der Therapeut handelt während der psycholytischen Sitzungen lediglich supportiv und anregend, und nur selten konfrontierend oder führend, da diese Prozesse im Normalfall »fast wie von selbst« ablaufen und kaum einmal intensivere Interventionen der Therapeuten erforderlich machen. Die Aufgabe der Therapeuten besteht demzufolge primär in der Sicherung des Rahmens und einer supportiven Haltung, die primär auf die Kräfte und Ressourcen des Patienten orientiert. Die durch die Entaktogene induzierte tiefreichende psychophysische Relaxation und Entängstigung setzen narzisstische Dysregulationen und Verzerrungen außer Kraft (positives Ganzheitsempfinden, »Selbstliebe«, »Geborgenheit«) und könnte darüber Selbstheilungskräfte entfalten. Aus den Beschreibungen und klinischen Beobachtungen wird zudem deutlich, dass die oben aufgezeigten Möglichkeiten von korrigierenden Neuerfahrungen, insbesondere im interpersonalen Raum sehr konstruktiv von den Patienten genutzt werden können. Die Destrukturierung von oft chronischen neurotischen seelisch-körperlichen Verspannungen können so Heilungsprozesse begünstigen. Hierzu schreibt der LSD-Therapeut Grof: »Ein wesentliches Nebenprodukt dieser therapeutischen Strategie ist die Entwicklung des Gefühls bei den Klienten, Herr über sich selber zu sein. Sie erkennen sehr rasch, dass sie sich selber helfen können und dass sie eigentlich die einzigen sind, die dies vermögen. Dadurch schrumpft . . . der Glaube, dass nur eine magische Intervention von seiten des Therapeuten . . . ihnen von Nutzen sein könnte« (1985, S. 367).
Die psycholytische Therapie mit Entaktogenen und die vier allgemeinen Wirkfaktoren von Psychotherapie nach Grawe In Bezug auf die vier Wirkfaktoren von Psychotherapie nach Grawe kann aufgrund der vorliegenden Studie (im Einvernehmen mit Schlichting, 2000, S. 73 f.), Folgendes festgehalten werden: »Gerade weil sich in der Erlebnissitzung nicht nur die Pathologie darstellt, sondern eben auch die Erlebnisfähigkeit, Gefühle der Liebe und der Bindung, also intensive positive Affekte für den Patienten wieder erlebbar werden, kann er lernen, zur Problemlösung auf seine eigenen emotionalen Ressourcen zurückzugreifen und damit auch sein Selbstkonzept von seinen eigenen Kompetenzen positiv zu korrigieren. Ebenso nutzt die psycholytische Therapie die Problemaktualisierung und Konfrontation, wenn sich in der Sitzung eben auch problematische Beziehungsmuster, Ängste, neurotische Symptombildungen und Abwehrmechanismen sehr plastisch und erlebnisintensiv für den Patienten darstellen.« Dazu kommt die verstärkte Möglichkeit korrigierender Neuerfahrungen im
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intrapsychischen und insbesondere auch interpersonalen Bereich. Diese hat gewichtige Implikationen in Bezug auf die von Grawe postulierte »neurobiologische Umformung durch Neuerfahrung« (Grawe, 2004). » . . . Schließlich die Klärungsperspektive, die in Form der verbesserten Introspektion und Einsicht in die Psychogenese der Störungen und Probleme, in die Wurzeln der eigenen Lebensgeschichte, aber auch in die kreativen Potentiale sowie in die eigenen Erlebnis- und Verhaltensmöglichkeiten einen ganz besonderen Stellenwert in der psycholytischen Behandlung besitzt« (Schlichting, 2000, S. 74).
Schluss Zusammenfassend kann davon gesprochen werden, dass die psycholytische Therapie (insbesondere diejenige mit Entaktogenen) sowohl die Wirkfaktoren konventioneller Psychotherapie bedient als auch diese in therapeutisch zuträglicher Weise zu verstärken in der Lage ist. Dazu kommen weitere, bisher nur wenig beforschte Wirkfaktoren, wie sie etwa die starke intrapersonale und interpersonale Entängstigung, das veränderte Körpererleben, die Altersregressionen, die hypermnestischen Phänomene, die mentalen Alternativsimulationen und die transpersonalen Erfahrungen darstellen. Allerdings stellt das klinische Arbeiten mit dieserart von veränderten Erlebnisweisen sehr hohe Anforderungen an die Ausbildung der Therapeuten und deren persönliche Integrität.
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Geschichte des Zwangs in der Psychiatrie1 Hermann Elgeti
27.1 Vorbemerkungen Die ehrliche Vergegenwärtigung unserer Geschichte gibt uns wertvolle Anhaltspunkte für die Gestaltung unserer Zukunft. Das gilt auch für die Psychiatrie und ihren Einsatz von Zwang. Ein offener Blick auf die Geschichte des Zwangs in der Psychiatrie kann dazu beitragen, dialogisch zu handeln und dialektisch zu denken, bei allen Hilfen die Würde und Freiheit der psychisch Kranken in den Mittelpunkt zu stellen. Das gelingt uns eher, wenn wir den Kontext unseres Denkens und Handelns im Auge behalten, offen sind auch für das Unerwartete, Unberechenbare und Unvorhersehbare. Der Beitrag bietet einen kurzen Überblick über die Formen des Zwangs, die in der Geschichte gegenüber psychisch Kranken zur Anwendung kamen. Zu diesem Zweck wird zunächst versucht, das Blickfeld zu öffnen für die Vorgeschichte der Psychiatrie und die Dialektik zwischen angepasstem und abweichendem Verhalten in unserer Gesellschaft. Beim Durchgang durch die Psychiatriegeschichte wird deutlich, wie sehr der Umgang mit den Geisteskranken von Unterdrückung und Ausgrenzung, Gewalt und Mord gekennzeichnet ist. In einem letzten Abschnitt kommen einige Bemühungen zur Sprache, den Umgang mit psychiatrischen Patienten möglichst frei von Zwang zu gestalten. Literaturhinweise am Schluss sollen dem interessierten Leser dabei helfen, die unvermeidlichen Einseitigkeiten und Lücken dieser Darstellung zu beheben.
27.2 Versuch, den Blick zu weiten Wenn wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Geschichte der Psychiatrie in den Blick nehmen, müssen wir uns erst einmal darüber verständigen, wie weit wir zurückschauen wollen und wie breit das Feld unserer Rückschau sein soll. Wir wären kurzsichtig, wenn wir uns auf Europa und die gut 200 Jahre seit der Französischen Revolution von 1789 beschränkten, in denen sich das Fach herausgebildet und die Nähe der Medizin gesucht hat. Und wir müssten 1 Geringfügig revidierte Fassung eines Beitrags für die Zeitschrift Kerbe (Heft 3/2007, S. 7-11) mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers und der Redaktion.
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Scheuklappen tragen, wenn wir davon absehen wollten, dass gerade in der Psychiatrie der Zeitgeist mit denkt und handelt, ob wir uns das nun eingestehen oder nicht. Nach der psychiatrischen Krankheitslehre versteht man unter einem Zwang den schmerzlich und ohnmächtig wahrgenommenen Verlust innerer Handlungsfreiheit. Bei der Zwangsneurose quälen sich die Betroffenen vor allem selbst damit, beim Zwangscharakter bekommen die Qual eher ihre Mitmenschen zu spüren. Sehen wir einmal die Psychiatrie selbst als eine zwangskranke Patientin an, so zwingt diese nicht nur die von ihr behandelten psychisch Kranken, sondern ist auch selbst in ihrem eigenen Handlungsspielraum eingezwängt. Im Rückblick auf die Geschichte erkennen wir, wie stark die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse der Psychiatrie ihr Denken und Handeln aufzwingen. Wir haben es hier allerdings weniger mit einer Zwangsneurose als vielmehr mit einem Zwangscharakter zu tun: Die Psychiatrie litt nur selten unter der Unfreiheit ihres Denkens und Handelns, zu leiden hatten vielmehr meistens die Patienten unter der Psychiatrie. In seinen »Aphorismen zur Lebensweisheit« von 1851 beschrieb Arthur Schopenhauer den Zwang als den unzertrennlichen Gefährten jeder Gesellschaft; die beste Möglichkeit, sich dem Zwang von außen zu entziehen, sei der Selbstzwang. Wem dies auf die Dauer zu anstrengend ist, dem bietet sich zur Abhilfe die Reaktionsbildung im Sinne von Sigmund Freud an, der 1923 in seiner Abhandlung »Ich und Es« dieses innerseelische Abwehrinstrument als einen bedeutsamen Faktor bei der Ausbildung des Über-Ich beschrieben hat. Die Reaktionsbildung überführt nämlich den Selbstzwang in den Zwangscharakter, so kann man dann guten Gewissens das Böse im anderen verfolgen und muss den Kampf gegen verbotene Wünsche nicht in sich selbst ausfechten. Unsere Gesellschaft sucht wie alle abendländischen Kulturen seit vielen Jahrhunderten ihr Heil im Fortschritt, bevorzugt die Innovation gegenüber der Tradition, schätzt das Individuum höher ein als das Kollektiv. Mit dieser Ausrichtung haben wir dank forcierter Arbeitsteilung und Spezialisierung, raffinierter Zurichtung und Ausbeutung von Mensch und Natur immer mehr Wohlstand und Wissen angehäuft. In seinem Buch »Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit« von 1984 spricht Mario Erdheim von heißen Kulturen, und diese verdanken ihre Dynamik nicht zuletzt dem besonders gestalteten Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter: An die Stelle des Initiationsrituals in kalten Kulturen tritt bei uns die Experimentierphase der Adoleszenz. Als Jugendliche nehmen wir den gesellschaftlichen Wandel in uns auf, indem wir uns von unseren Eltern abgrenzen, deren Lebensweise wir als nicht mehr zeitgemäß in Frage stellen. In der Adoleszenz geraten die Dinge in Fluss, die damit einhergehende Unberechenbarkeit ist gleichzeitig erwünscht und gefürchtet. Eine hoch entwickelte, arbeitsteilig organisierte Gesellschaft
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braucht flexible und innovative, aber eben auch angepasste und berechenbare Subjekte. Sie ist sehr verletzlich und muss sich schützen vor unangepassten Menschen, die zu stark von den Normen abweichen und an entscheidenden Stellen Sand ins Getriebe streuen könnten. Wie erklären wir aus der Dialektik von sozialer Anpassung und Abweichung den übertriebenen Zwang, mit dem die Psychiatrie im Auftrag der Gesellschaft immer wieder den Verrückten begegnet? Meine beiden psychiatrischen Lehrer betrachteten die Überangepassten genauso wie die Ausgegrenzten als ver-rückte Menschen, unfrei geworden im Verlust ihrer Fähigkeit zum wirklichen Dialog mit ihren Mitmenschen und mit sich selbst. In seiner genialen Schrift »Dialogik der Verrücktheit« von 1970 unterteilte Karl Peter Kisker das Feld des Dialogs in die Regionen des angepasst Gängigen und des abweichend Abwegigen; unsere Dialogfähigkeit kann nach beiden Seiten hin verloren gehen, den Zustand dieses Verlustes nannte er Vertagung beziehungsweise Umnachtung. In einem Beitrag unter dem Titel »Zementierung oder Zerspielung« (1987) konzipierte Erich Wulff eine sogenannte Normopathie als Gegenstück zur Soziopathie. In beiden Varianten dienen innere und äußere Feindbilder zur Absicherung eines illusionären Selbstbildes. Zwanghafte und selbstgerechte Verteidiger herrschender Normen verfolgen die verwahrlosten oder kriminellen Außenseiter mit einer Irrationalität und Maßlosigkeit, wie man sie auch bei den Verfolgten beobachtet in deren Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Spontaneität und unmittelbarer Befriedigung. Bei dem folgenden historischen Abriss über die Anwendung von Zwang gegen psychisch Kranke sind diese Wechselbeziehungen mit zu bedenken. Die Normen der Gesellschaft, die Formen psychosozialer Abweichung und der Umgang damit beeinflussen sich gegenseitig mehr, als man gemeinhin vermutet. Im Buch »Was weiß der Psychiater vom Menschen« von Christian Scharfetter (2000) fand ich das treffende Motto: »Misstrauen Sie der Normalität, am meisten der eigenen« (Scharfetter, 2000, S. 95).
27.3 Wandel und Wiederkehr der Zwangsmittel In vorgeschichtlicher Zeit wurden Geisteskranke wie alte und sieche Menschen wahrscheinlich getötet (Haisch, 1959). Alle Krankheiten galten als Folge übersinnlicher Einflüsse, und die Heilkunde gehörte zum Bereich der Religion. Magische Rituale wurden vollzogen zur Abwehr oder Austreibung böser Geister, mit der Befolgung religiöser Gesetze und gesellschaftlicher Regeln konnte man sich schützen gegen die Macht der Dämonen (Schott und Tölle, 2006). Daneben gab es aber bereits in der Antike empirisch-rationale Ansätze zur Erklärung von Geisteskrankheiten. Sie gewannen seit der Renaissance und frühen Neuzeit eine größere Bedeutung und verbanden sich – beispielsweise
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in alchimistischen und romantischen Konzepten – auch mit magischen Vorstellungen. Die Versorgung der Geisteskranken war selbstverständliche Verpflichtung der Familien, bei fremdgefährlichem Verhalten wurden sie auch zu Hause eingesperrt, angekettet oder in Tollkisten gehalten. Wo das alles nicht funktionierte, gab die Gemeinde den Betroffenen für billiges Geld irgendwo in Kost, oder sie setzte ihm die Narrenkappe auf und jagte ihn weg, steckte ihn in den Narrenturm oder ins Gefängnis, stellte ihn gelegentlich auch öffentlich zur Schau. Bei solchen Umgangsformen kann man sich vorstellen, dass mancher, den wir heute psychisch krank nennen würden, die Flucht vor den Mitmenschen ergriff, in Wäldern und Höhlen zu überleben suchte, dort vielleicht auch mal verwilderte und dann zur Bildung von Werwolflegenden Anlass gab. Die Vorläufer der psychiatrischen Heilanstalten waren Hospitäler im christlichen Abendland, in denen arme Kranke aus religiöser Motivation heraus gepflegt wurden. Im Zentrum standen dort nicht ärztliche Kunst und medizinische Wissenschaft, sondern Wohltätigkeit und Barmherzigkeit. Vor allem im islamischen Herrschaftsbereich gab es auch bereits ab dem 9. Jahrhundert spezielle Abteilungen für Geisteskranke in Verbindung mit Medizinschulen. Die ersten reinen Irrenhäuser entstanden Anfang des 15. Jahrhunderts unter arabischem Einfluss in Spanien. Das Spital »Urbis et Orbis« in Saragossa führte neben einer menschenwürdigen Behandlung sogar eine reguläre Arbeitstherapie ein. Im Allgemeinen aber verweigerte man den Irren als von Gott gerichtet die christliche Barmherzigkeit und behandelte sie denkbar schlecht. Das fürsorgerische Element trat mit der Zeit immer mehr zurück, exorzistische Rituale traten an die Stelle der segnenden Zeremonie. Für Michel Foucault (siehe dazu sein Werk »Wahnsinn und Gesellschaft« von 1961) ist das historische Vorfeld der Psychiatrie gekennzeichnet durch eine zunehmende Ausgrenzung der Unvernunft im Laufe des 17. Jahrhunderts. In dieser Zeit verstummte das dramatische Gespräch, das der Mensch noch im Mittelalter und in der Renaissance mit der Verrücktheit führte, in der Ruhe einer Gelehrsamkeit, die den Wahnsinn vergaß, weil sie ihn nun zu gut kannte. Unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. begann in Frankreich die »große Einschließung« der Abwegigen mit der Gründung des »Hôpital général« 1657 in Paris. Die Behauptung von Klaus Dörner, aufgestellt in seinem Buch »Bürger und Irre« von 1969, ganz Europa sei damals überzogen worden mit einem System von Konzentrationslagern für Menschen, die als unvernünftig galten, stieß allerdings auf Widerspruch. Doris Kaufmann zeigte in ihrer Forschungsarbeit »Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die ›Erfindung‹ der Psychiatrie in Deutschland« von 1995, dass bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die allermeisten psychisch Kranken weiterhin in ihren Familien versorgt wurden. Zumindest in Deutschland und England wurden nur die wenigen als
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gemeingefährlich eingeschätzten Geisteskranken in die Arbeits-, Zucht- oder Tollhäuser verbracht (Blasius, 1980). Die Unterbringung der Geisteskranken in den Asylen des 16. bis 18. Jahrhunderts war fast ausnahmslos mehr als erbärmlich, die Behandlung streng und grausam. Ketten, Tollriemen, eiserner Halsring, Handschrauben, Drahtpeitsche, betrunkene Wärter, Ungeziefer, schlechte Ernährung und schwere Zwangsarbeit verursachten eine hohe Sterblichkeit unter den Insassen. Das im absolutistischen Zeitalter herrschende Unterwerfungs- und Ordnungsprinzip verschwand keineswegs mit dem Aufbau ärztlich geleiteter Irrenanstalten im 19. Jahrhundert, es wurde nur in die medizinischen Behandlungsstrategien integriert. Unter dem Etikett »moralischer« (psychologischer) und »physischer« (somatischer) Behandlung wurden Methoden angewandt, die man heute nur als Folter bezeichnen kann: Aderlass, Schröpfen, Brechmittel, Laxantien, kalte Duschen, Fixierung auf dem Zwangsstuhl, Isolation in einer Dunkelzelle – eine fachliche Begründung dafür fand sich immer. Dirk Blasius hat 2006 in seinem Beitrag »Der gebändigte Kranke« noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Zwangsmaßnahmen zwischen Anfang und Ende des sonst so fortschrittlichen 19. Jahrhunderts kaum veränderten. Der gesellschaftliche Wandel im Zuge der Industrialisierung führte unter den gegebenen politischen Verhältnissen bis zum Ersten Weltkrieg zu einem enormen Anstieg von Zahl und Größe psychiatrischer Anstalten. Die entwürdigenden Lebensumstände ihrer Insassen waren für den aufkommenden Sozialdarwinismus ein gefundenes Fressen. Ein ausbleibender Heilerfolg wurde einem angeblich degenerativen Krankheitsprozess angelastet, man fürchtete eine Verunreinigung und Wertminderung der Rasse durch Vererbung schädlicher Eigenschaften. Bald galten die internierten psychisch Kranken – ebenso wie die geistig Behinderten und körperlichen Krüppel – als Volksschädlinge und unnütze Esser. Im Ersten Weltkrieg wurden ihre Essensrationen immer weiter heruntergesetzt, allein in Deutschland verhungerten über 70.000 von ihnen (Faulstich, 1997). Bis 1924 hielt dort die erhöhte Sterblichkeit an, und ab 1933 wurde unter nationalsozialistischer Herrschaft neu angesetzt: Reduzierung der Ernährungskosten, Abbau von Personal, Überbelegung der Anstalten. Systematisch gingen die Nationalsozialisten daran, angeblich lebensunwertes Leben »auszumerzen«. Die Gesetze zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1933 und zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes von 1935 wurden von den meisten Psychiatern lebhaft begrüßt. Über 200.000 Menschen fielen den so legitimierten Zwangssterilisierungen zum Opfer (Güse und Schmacke, 1976). Im Rahmen der T4-Aktion von Januar 1940 bis August 1941 wurden mehr als 70.000 Menschen in Gaskammern ermordet. Noch einmal knapp 100.000 starben in den folgenden Jahren durch gezielten Nahrungsentzug, Überdosierung von Medikamenten und – nach
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dem Einmarsch der Alliierten – erzwungene Todesmärsche. Wegen Knappheit an Nahrungsmitteln und Heizmaterial hörte das Hungersterben der übrig gebliebenen Anstaltsinsassen auch nach der Befreiung bis in die 1950er Jahre hinein nicht auf. Je näher die Geschichte der Gegenwart kommt, desto größer wird die Gefahr, das Wesentliche an ihr zu übersehen; Nähe macht blind. Die psychiatrischen Behandlungsmethoden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren wohl nicht weniger gewaltsam als diejenigen des 19. Jahrhunderts, nur technisch ausgefeilter. Man erfand neue Schocktherapien (Cardiazol-, Insulin-, Elektroschock) oder schnitt im Gehirn herum (Lobotomie). Diese Brutalitäten gingen dann mit der Entdeckung wichtiger Psychopharmaka (Antipsychotika, Antidepressiva, Tranquilizer, Lithium) zurück, und ein Übriges taten die gemeindepsychiatrischen Reformen. Nirgendwo im Gesundheitswesen hat es in den letzten Jahrzehnten so viele Verbesserungen gegeben wie in der Diagnostik und Therapie, Rehabilitation und Pflege psychisch Kranker. Psychotherapeutische und sozialpsychiatrische Konzepte haben eine breite Wirkung entfaltet, die für die Betroffenen eindeutig in Richtung Selbstbestimmung und soziale Teilhabe weist. Es stellt sich aber doch auch die Frage, wie stark der Zwang tatsächlich abgenommen hat und wo er nur wieder sein Kleid wechselte. Auch heutzutage gibt es Zwangsunterbringungen, Zwangsbehandlungen, Isolierungen, Fixierungen und die chemische Zwangsjacke, die viele Patienten nicht nur bei offensichtlicher Überdosierung der ihnen verordneten Medikamente spüren. Nicht alles, was wir psychisch Kranken ambulant oder stationär aufzwingen und vorenthalten, wird von uns selbst, von ihnen oder von ihrer Umgebung bewusst als Zwang wahrgenommen, obwohl es doch die Handlungsfreiheit massiv einschränkt. Wir können froh sein, dass inzwischen über diese dunklen Seiten heutiger psychiatrischer Praxis recht offen und durchaus kontrovers diskutiert wird, auch wenn es weh tut (Kebbel und Pörksen, 1998).
27.4 Wege aus dem vermeidbaren Zwang Zwang ist eine Erscheinungsweise der Unfreiheit, und Freiheit hilft gegen vermeidbaren Zwang. Meine Freiheit hat ihre unvermeidliche Grenze dort, wo sie die Freiheit meiner Mitmenschen einschränkt. Den notwendigen Interessenausgleich können wir nur erreichen, wenn wir den universell gültigen Satz befolgen: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Voraussetzung dafür ist in der Psychiatrie genauso wie in der Gesellschaft insgesamt, dass die Beteiligten sich einander anerkennen in ihrer Mitmenschlichkeit und Würde, unabhängig von ihrer Lebensgeschichte, ihrem Eigensinn oder ihrer Leistungsfähigkeit. Schwierig wird es, wenn sich der eine durch
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die Anwesenheit oder bloße Existenz des jeweils anderen direkt bedroht fühlt oder psychisch nicht in der Lage ist, von diesem anderen her einen Blick auf sich selbst zu werfen. Das kann jedem passieren, auch den psychisch Kranken und auch dem in der Psychiatrie tätigen Personal. Man weiß, wie schnell solche Schwierigkeiten in Beziehungen entstehen und sich ausbreiten, durch Interessengegensätze, durch Angst und Wut, Rechthaberei und Demütigung. Ist eine Gesellschaft ohne Zwang und Gewalt denkbar? Herbert Marcuse erklärte in seinem Werk »Triebstruktur und Gesellschaft« von 1955 eine notwendige Unterdrückung im Sinne von Triebmodifizierung als unerlässlich für das Fortbestehen der Menschheit mit ihren kulturellen Errungenschaften. Von zusätzlicher Unterdrückung sprach er im Hinblick auf diejenigen Beschränkungen, die jede soziale Herrschaft nach sich zieht. Mit Bezug auf die »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« von Friedrich Schiller aus dem Jahre 1826 konnte er sich Freiheit als Abwesenheit von sozialer Herrschaft nur in einer Ordnung der Fülle und des Überflusses vorstellen. Hannah Arendt hat beiden Herren in ihrem Opus magnum »Vita activa« von 1972 widersprochen. Sie nahm an, dass die Notwendigkeit und das Leben so sehr miteinander verwandt und so vielfältig aufeinander bezogen sind, dass die Lebendigkeit des Lebens verloren geht, wenn die Notwendigkeit verschwindet. In ihrer Analyse des tätigen Lebens ordnet sie das Arbeiten und Herstellen dem Bereich der Notwendigkeit, Mühe und Plage zu, unterschieden vom Handeln und Sprechen, das zum Bereich der Freiheit, der Politik und der Möglichkeit zum Besonderen gehört. Handeln und Sprechen schaffen keine weltlichen Gegenstände wie Arbeiten und Herstellen, sondern stiften mitmenschliche Beziehungen. Nur in der Vielfalt der Perspektiven existiert die gemeinsame Welt, der Sinn politischen Handelns ist die Freiheit. Der Totalitarismus dagegen zerstört die Beziehungen zwischen den Menschen und damit die Voraussetzungen für politisches Handeln: Bewegungsfreiheit, Spontaneität und Unberechenbarkeit. Es kommt mir so vor, als ob im alten Streit um die Möglichkeit einer gewaltfreien Psychiatrie die von Herbert Marcuse und Hannah Arendt formulierten Positionen aufeinander treffen. Die einen beharren darauf, dass Gewalt und Zwang in der Psychiatrie so lang bestehen, wie es soziale Herrschaft in einer Gesellschaft mit begrenzten Ressourcen gibt. Sie versäumen dabei oft, in ihrem Verantwortungsbereich fortlaufend und selbstkritisch nach Wegen zu weniger Zwang und Gewalt zu suchen. Die anderen betonen, dass auch in unserer Gesellschaft mehr Freiheit erreichbar ist, wenn – im Sinne von Hannah Arendt – politisch gehandelt wird. Schon in der Gründungsphase der Psychiatrie gab es erste Pioniertaten von Vincenzo Chiarugi ab 1785 in Florenz, Abraham Joly ab 1787 in Genf und Philippe Pinel ab 1793 in Paris. In England bewiesen dann Robert Gardiner Hill ab 1829 und John Conolly ab 1839, dass man psychisch Kranke in der Anstalt praktisch ohne Einsatz von
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Zwangsmaßnahmen behandeln kann. Das Non-Restraint-System von Hill und Conolly fand in der Folgezeit Nachahmer, vor allem aber mächtigen Widerspruch, auch in Deutschland, und das geht bis heute so weiter. Bemühungen um eine stationäre Behandlung ohne vermeidbaren Zwang sind bei uns bekannt geworden als Psychiatrie mit offenen Türen (Bernardi, Gerber und Krisor, 2000) und – besonders für Psychosekranke – Soteria (Ciompi, Hoffmann und Broccard, 2001). Eine Verwirklichung im Versorgungsalltag stellt hohe Ansprüche. Sie braucht zunächst Mitarbeiter mit der steten Fähigkeit und Bereitschaft zu respektvollen, interessierten und freundlichen Beziehungen auch mit denen, die diese Fähigkeit und Bereitschaft vermissen lassen. Sie fordert darüber hinaus eine große gemeinsame und nie endende Bemühung um eine bekömmliche Gestaltung des Milieus, in dem sich der Umgang mit den Abwegigen vollzieht. Und sie wird größere Chancen haben, wenn die Umfeldbedingungen günstig beeinflusst werden können. Ein großartiges Beispiel ist für mich in diesem Zusammenhang die 1978 begonnene Umwandlung der Psychiatrie im Saarland unter der Federführung von Wolfgang Werner, dokumentiert in seinem Buch »Auflösung ist machbar« von 1998. Das von ihm herausgegebene Lehrbuch der Krankenhauspsychiatrie (Werner, 2004) zeigt im Einzelnen und im Grundsätzlichen, wie Psychiatrie mit offenen Türen und ohne viel Zwang funktionieren kann. Die dort zitierten Worte eines Zen-Meisters passen auch hier: »Der Weg ist nichts Sichtbares und nichts Unsichtbares. Er ist nichts Erkennbares und auch nichts Unerkennbares. Suche ihn nicht, lerne ihn nicht, nenne ihn nicht! Sei weit und offen wie der Himmel, und Du bist auf dem richtigen Weg« (Werner, 2004, S. 196)
Literatur Arendt, H. (1972/2006). Vita activa oder Vom tätigen Leben. München u. Zürich: Piper. Bernardi O., Gerber, H. G., Krisor, M. (Hrsg.) (2000). Psychiatrie mit offenen Türen. Stuttgart: Thieme. Blasius D. (1980). Der verwaltete Wahnsinn – eine Sozialgeschichte des Irrenhauses. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Blasius D. (2006). Der gebändigte Kranke – Zur Geschichte der Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Sozialpsychiatrische Informationen 36 (4), 9–12. Ciompi L., Hoffmann, H., Broccard, M. (Hrsg.) (2001). Wie wirkt Soteria? Bern: Verlag Hans Huber. Dörner, K. (1969/1984). Bürger und Irre – Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frqankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt. Erdheim, M. (1984). Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit – Eine Einführung in den psychoanalytischen Prozeß. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Faulstich H. (1997). Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1945. Freiburg: Lambertus. Foucault, M. (1961/1973). Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Freud, S. (1923/1999). Das Ich und das Es. In S. Freud, Gesammelte Werke XIII. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag (S. 235–289). Güse H.-G., Schmacke N. (1976). Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus (2 Bände). Kronberg: Athenäum. Haisch E. (1959). Irrenpflege in alter Zeit. CIBA-Zeitschrift Nr. 95 (Band 8). Wehr/Baden: CIBA. Kebbel J., Pörksen N. (Hrsg.) (1998). Gewalt und Zwang in der stationären Psychiatrie. Köln: Rheinland-Verlag. Kisker, K. P. (1970). Dialogik der Verrücktheit – Ein Versuch an den Grenzen der Anthropologie. Den Haag: Nijhoff. Schopenhauer, A. (1851/2006). Aphorismen zur Lebensweisheit. In A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena I (S. 311–483). Frankfurt a. M.: Haffmans Verlag bei Zweitausendeins. Marcuse, H. (1955/1979). Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Scharfetter, C. (2000). Was weiß der Psychiater vom Menschen? Unterwegs in der Psychiatrie: Menschenbild, Krankheitsbegriff und Therapieverständnis. Bern: Huber. Schott H, Tölle R (2006). Geschichte der Psychiatrie. München: Verlag C.H. Beck. Werner W. (Hrsg.) (2004). Lehrbuch der Krankenhauspsychiatrie – Psychiatrie im sozialen Kontext. Stuttgart u. New York: Schattauer. Wulff, E. (1987). Zementierung und Zerspielung – Zur Dialektik von ideologischer Subjektion und Delinquenz. In W. F. Haug und H. Pfefferer-Wolf (Hrsg.), Fremde Nähe – Festschrift für Erich Wulff (S. 171–212). Berlin u. Hamburg: Argument.
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Die Geschlechtlichkeit des Menschen im psychiatrischen Diskurs Bernd Rüdiger Brüggemann
Dem Begriff der Geschlechtlichkeit des Menschen liegen in der Biologie, Psychologie und Soziologie verschiedene Bedeutungen zugrunde. Für das Verständnis des Einflusses des Geschlechts bei psychischen Erkrankungen ist die Reflexion über die entsprechende Bedeutungsebene unerlässlich. Im Folgenden werden deshalb gängige Konzepte der Geschlechtlichkeit vorgestellt.
28.1 Biologische und neurokognitive Modelle der Geschlechtlichkeit In der Biologie wird das genetische, chromosomale, gonadale und somatische Geschlecht unterschieden. Auf molekularbiologischem Niveau ist die Zuordnung relativ unproblematisch, sofern das Geschlechtschromosomenpaar XX weiblich und XY männlich bedeuten. Schwierigkeiten bei der Zuordnung auf chromosomalen Niveau ergeben sich allerdings bei Aberrationen der Geschlechtschromosomen. In Abhängigkeit vom genetischen Geschlecht entwickelt sich das gonadale Geschlecht. Das somatische Geschlecht wird maßgeblich durch hormonelle Wirkungen auf die verschiedenen Körpergewebe bestimmt. Studien konnten neurokognitive Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen bereits im Neugeborenenalter nachweisen (Nopoulos und Andreasen, 1999). Im erwachsenen Säugetiergehirn konnten Östrogen- und Androgensensitive Zellsysteme im Bereich des Hypothalamus und im Limbischen System nachgewiesen werden (Birbaumer und Schmidt, 2002). Das Auswachsen von Nervenfortsätzen dieser Zellen unter dem Einfluss der geschlechtstypischen Hormonkonzentrationen könnte zu strukturellen Unterschieden des weiblichen und männlichen Gehirns auch noch im Erwachsenenalter führen. Das weibliche und das männliche Gehirn von Erwachsenen weist eine Reihe struktureller und funktioneller Unterschiede auf (Halpern, 2000; Kimura, 1999; Nopoulos und Andreasen, 1999). Neurokognitive Untersuchungen sprechen für eine mehr bilaterale Organisation und Funktion des weiblichen Gehirns. Gonadale Steroidhormone scheinen sowohl für die geschlechtstypischen Unterschiede in der Asymmetriestärke als auch für die stärkeren Variationen bei Frauen mitverantwortlich
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zu sein (Hausmann, 2001). Auch intrahemisphärische Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen wurden beschrieben – mit einer stärkeren Fokussierung der Funktionen bei Frauen (Halpern, 2000). Biologische Konzepte hinsichtlich der Entstehungsgeschichte von Geschlechtsunterschieden in Morphologie, Kognition, Emotion und Verhalten favorisieren evolutionstheoretische Modelle – zum Beispiel im Sinne der Jäger-und-Sammler-Hypothese (Halpern, 2000).
28.2 Soziologische und psychologische Modelle In der Soziologie zentriert sich die Problematik der Geschlechtlichkeit des Menschen im Begriff der Geschlechtsrolle, bei der es sich um ein hypothetisches Konstrukt handelt, das die Summe der Verhaltenserwartungen und Normen bezeichnet, die von der Mehrheit der Mitglieder einer Kultur an die Träger des biologischen weiblichen und an die Träger des biologischen männlichen Geschlechts gestellt werden. Zur Beantwortung der Frage, wie die Geschlechtsrolle vom Individuum erworben wird, muss auf psychologische Modelle zurückgegriffen werden.
28.3 Psychoanalytische Konzepte der Geschlechtlichkeit des Menschen Freud ging von einer unterschiedlichen männlichen und weiblichen Sexualentwicklung aus. Die frühen Phasen der Libidoentwicklung – die orale, sadistisch-anale und phallische Phase – würden von beiden Geschlechtern noch in gleicher Weise durchlaufen (Freud, 1989). In diesen Phasen sei die Mutter sowohl für den Jungen als auch für das Mädchen das primäre Objekt. Die unterschiedliche psychosexuelle Entwicklung des Jungen und des Mädchens werde durch die Entdeckung des anatomischen Geschlechtsunterschieds eingeleitet, die eine geschlechtstypische Lösung des Ödipuskomplexes zur Folge habe. Freuds Konzept der Entwicklung der Geschlechtlichkeit wurde und wird sehr kontrovers diskutiert. In Anlehnung an Callan (2001) kann die aktuelle psychoanalytische Sicht der Entwicklung der Geschlechtsidentität wie folgt wiedergegeben werden: Elterliche Fantasien bezüglich des Kindes vor und während der Schwangerschaft beeinflussen bereits, wie das Kind bei seiner Geburt wahrgenommen und behandelt wird, was sich wiederum auf das Erleben und Verhalten des Kindes auswirkt. Multiple biologische, psychische und soziokulturelle Einflüsse beeinflussen im Weiteren die Ausbildung der Geschlechtsidentität von
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Jungen und Mädchen, wobei der sozialen Umwelt und der Erlebniswelt der Kinder ein besonders hohes Gewicht zukommt. Von Geburt an entwickeln Mädchen und Jungen im Umgang mit sich selbst und ihrer Umwelt ein Gefühl für ihren Körper – es konsolidiert sich der Kern des Körperbildes. Perzeptive, kognitive und motorische Funktionsmodi helfen dem Säugling, die verschiedenen Körperzonen voneinander zu unterscheiden und seine verschiedenen Körpererfahrungen und -empfindungen zu einem Körperselbst zu integrieren. Dieses Körperselbst ist ein bedeutsames Konstituens der sich entwickelnden Geschlechtsidentität (Tyson und Tyson, 2001). Die Mutter beziehungsweise die primäre Betreuungsperson ist für das Kind die erste Identifikationsperson. Sowohl Jungen als auch Mädchen identifizieren sich mit der Mutter und internalisieren eine Unzahl von ihren Eigenschaften und Aspekten. Im Alter von 18 bis 24 Monaten können Kinder sich einem Geschlecht zuordnen. Das bewusste Gewahrwerden des anatomischen Geschlechtsunterschieds fällt zumeist ins dritte Lebensjahr. Das vorbestehende Erleben, alles (u. a. sowohl Frau als auch Mann) sein zu können, muss nun aufgegeben werden. Hierbei scheint es weniger um den Penis- oder Gebärneid zu gehen als vielmehr darum, sich von den bisherigen Allmachtvorstellungen zu verabschieden. Im Verhältnis zu den Eltern resultiert die ödipale Konstellation. Neben der primären Bezugsperson dienen in der Entwicklung weitere Menschen als Identifikationsobjekte und beeinflussen das weibliche oder männliche Selbstbild. Sowohl Mädchen als auch Jungen treten in eine Phase ein, in der das Bedürfnis nach Autonomie und Unabhängigkeit in Konflikt mit dem Bedürfnis nach Nähe und Bindung zu den Eltern gerät. Für Mädchen kann in der ödipalen Konstellation die Aufgabe der Individuation erschwert sein. Trotz der Ähnlichkeit und Abhängigkeit von der Mutter muss es seine Eigenständigkeit und Differenz ihr gegenüber wahrnehmen und festigen. In diesem Balanceakt und bei der Regulierung der damit einhergehenden Emotionen spielen die Väter eine gewichtige Rolle. Für den Jungen spielt der Vater besonders in der Phase der Entidentifizierung von der Mutter eine zentrale Rolle. Er verkörpert das Ideal der Selbständigkeit und des Hinausgehens aus der mütterlichen Sphäre. Im Zwiespalt zwischen Nähewunsch zur Mutter und Symbioseangst, aufgrund des Verlustes der männlichen Geschlechtlichkeit bei einer Wiedervereinigung mit ihr, kann sich der Junge mit dem Vater identifizieren. Nach erfolgreicher Lösung des Ödipuskomplexes treten Jungen und Mädchen in die sogenannte Latenzphase ein, in der sich die Geschlechtsidentität weiterentwickelt. Die Peer-Group, die zumeist aus gleichgeschlechtlichen Freunden besteht, festigt die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht. Neben dem fortbestehenden Einfluss der Eltern treten nun auch andere Autoritätspersonen in den Vordergrund.
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In der Pubertät führt die Auseinandersetzung mit den körperlichen Veränderungen zu einer weiteren Konsolidierung der Geschlechtsidentität. In der Adoleszenz kommt es dann zu einer Intensivierung sexueller Triebe, Gefühle und Fantasien. Hierdurch wird die Beschäftigung mit der eigenen Geschlechtsidentität, der Geschlechtspartnerorientierung und der Sexualität verstärkt. Schließlich kommt es auch im Erwachsenenalter noch zur Reifung und Ausdifferenzierung der Persönlichkeit – einschließlich der Geschlechtsidentität.
28.4 Verhaltenspsychologische und kognitionspsychologische Konzepte der Geschlechtlichkeit Die verhaltenstheoretisch ausgerichtete Psychologie geht von zwei grundlegenden Lernprozessen aus, die zur Erklärung der geschlechtstypischen Persönlichkeitsentwicklung herangezogen werden können: das Lernen durch direkte Verstärkung von Verhaltensweisen und das Lernen am Modell (Lott und Maluso, 2001). Im Vordergrund kognitiver Theorien zur Weiblichkeit und Männlichkeit steht der Begriff des kognitiven Schemas (Martin und Dinella, 2001). Eines der ersten und einflussreichsten Schemata, welches das Kind aufbaut, ist das Geschlechtsschema. Das Kind ordnet sich und andere in die Kategorien Frau und Mann ein und entwickelt in Abhängigkeit der vorherrschenden Geschlechterstereotypen immer differenziertere Konzepte über das Aussehen, die Fähigkeiten, die psychologischen Eigenschaften und die Tätigkeiten von Männern und Frauen. Durch die Zuordnung seiner selbst zu einem bestimmten Geschlecht partizipiert das Selbstschema des Kindes schließlich am allgemeinen Geschlechtsschema. Das Selbstschema, das somit eine geschlechtliche Färbung erhält, beeinflusst wiederum die Wahrnehmung und das Verhalten des Individuums. Die verschiedenen psychologischen Theorien stimmen darin überein, dass es sich bei der psychischen Geschlechtlichkeit nicht um etwas primär Gegebenes handelt. Die psychologischen Konzepte betonen den Entwicklungsaspekt von Geschlechtlichkeit. Kritisch an den hier vorgestellten traditionellen Konzepten ist, dass sie die psychische Weiblichkeit und Männlichkeit als zwei Pole einer Dimension darstellen. In Reaktion hierauf wurden alternative Konzepte entwickelt, in denen Männlichkeit und Weiblichkeit als voneinander unabhängige Variablen betrachtet oder konstruktivistisch aufgefasst werden.
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28.5 Androgynie und konstruktivistische Konzepte der Geschlechtlichkeit Im Begriff der Androgynie werden Weiblichkeit und Männlichkeit als in einer Person vereint vorgestellt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte ein eindimensionales Modell der psychischen Geschlechtlichkeit mit den Polen Maskulinität und Femininität. Diese Vorstellung beinhaltete, dass Individuen nicht gleichzeitig maskuline und feminine Eigenschaften in das Selbstbild integrieren können. In den 1970er Jahren entwickelten Autoren wie Bem (1974) und Spence und Helmreich (1978) demgegenüber Modelle der psychischen Geschlechtlichkeit, in denen Maskulinität und Femininität als zwei unabhängige Dimensionen der Geschlechtsrollenidentität verstanden werden. Personen, bei denen maskuline und feminine Eigenschaften in etwa ausgeglichen vorhanden sind, werden nach diesem Modell als androgyn bezeichnet. Empirische Untersuchungen fanden die neueren zweidimensionalen Modelle gegenüber den älteren eindimensionalen bestätigt (Strauss und Möller, 1999). Nach der Alltagstheorie der Geschlechtlichkeit gibt es nur zwei Geschlechter. Jeder Mensch habe entweder das eine oder das andere Geschlecht. Die Geschlechtszugehörigkeit stehe von Geburt an fest und verändere sich nicht mehr. Anhand der Genitalien könne die Geschlechtszugehörigkeit zweifelsfrei erkannt werden. Diese sei deshalb ein natürlicher, biologischer, eindeutig bestimmbarer Tatbestand, auf den wir keinen Einfluss hätten. Demgegenüber verstehen konstruktivistische Konzepte die soziale Wirklichkeit zweier Geschlechter in Gesellschaften als Ergebnis historischer Entwicklungsprozesse und einer fortlaufenden sozialen Praxis, die immer neu auch zur Reproduktion der Alltagstheorie der Zweigeschlechtlichkeit beiträgt. Auch das biologische Geschlecht wird als historisiert angesehen und nicht als Basis, sondern als Effekt sozialer Praxis begriffen (Wetterer, 2004). Ethnologische Untersuchungen konnten aufzeigen, dass nicht in allen Gesellschaften zwischen genau zwei Geschlechtern unterschieden wird; dass nicht in allen Kulturen die Geschlechtszugehörigkeit lebenslang zugeschrieben wird und dass es nicht immer die Genitalien sind, die die Geschlechtszugehörigkeit verbürgen (Ortner und Whitehead, 1981; Pomata, 1983). Eine begriffsanalytische (De)Konstruktion von Geschlecht wurde von Butler (1991) geleistet. Der Modus der Konstruktion des Geschlechts wird von ihr im Bereich der Sprache – im Diskurs – verortet (Villa, 2004). Der Geschlechter-Diskurs steckt hierbei den Bereich des Denk- und Lebbaren ab. Auch das Geschlecht in seiner Materialität (sex) wird als diskursiver Effekt einer sich ständig wiederholenden und zitierenden Praxis verstanden (Buttler, 1995).
Die Geschlechtlichkeit des Menschen im psychiatrischen Diskurs
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28.6 Implikationen für die psychiatrische Theorie und Praxis Das Konzept der Geschlechtlichkeit des Menschen hat Implikationen für die psychiatrische Theorie und Praxis. Nimmt man ein biologisches Modell der Geschlechtlichkeit des Menschen an, so lässt sich dies sinnvoll mit biologischen Theorien der Ätiopathogenese und Therapie psychischer Störungen Tabelle 28.1: Hypothesen zur Ätiopathogenese der Geschlechterverteilung depressiver Störungen mit den korrespondierenden Modellen der Geschlechtlichkeit des Menschen (Brüggemann und Haltenhof, 2002; Brüggemann und Garlipp, 2005; Halpern, 2000; Kestemberg, Tarnofsky, Silverman und Santandreu, 2003; Nolen-Hoeksema, 1990; Nopoulos und Andreasen, 1999).
Modelle der Geschlechtlichkeit des Menschen Biologische und neurokognitive Modelle
Psychoanalytische und psychodynamische Modelle
Verhaltens- und kognitionspsychologische Modelle
Soziokulturelle Modelle
Konzept der Androgynie und konstruktivistische Modelle
Hypothesen zur Ätiopathogenese der Geschlechterverteilung depressiver Störungen Genetische Faktoren Endokrine Faktoren Neurostrukturelle und -funktionelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern Geringeres Selbstwertgefühl bei Frauen Größere Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von interpersonellen Beziehungen bei Frauen Ausgeprägterer Narzissmus bei Frauen Geschlechtstypische Mutter-Kind-Beziehung Geschlechtstypische Verstärkersysteme und Verstärkerwirksamkeiten Das kognitive Geschlechtsschema in der heutigen Zeit begünstigt die negative kognitive Triade und Konstellationen, die zu erlernter Hilflosigkeit führen Geschlechtstypische kognitive Stile Depressiogene Wirkung der Hausarbeit Geringere Berufstätigkeit bei Frauen und dadurch Verlust eines Verstärkersystems Rollenüberlastung durch Beruf, Hausarbeit, Kindererziehung, Pflege von Angehörigen Höhere Armut unter Frauen Gewalt und Diskriminierung von Frauen Protektivere Wirkung der Ehe für Männer Höhere gesellschaftliche Akzeptanz von Alkoholkonsum bei Männern Artefakthypothesen (u. a. Variablen des Klassifikationssystems und der diagnostischen Instrumente, geschlechtstypisches Hilfesuchverhalten, geschlechtstypische soziale Interaktionen zwischen Patient und Behandler)
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verknüpfen, während ein psychosoziales Verständnis der Geschlechtlichkeit auch psychosoziale Einflüsse nahelegt. Dies soll am Beispiel der Geschlechterverteilung depressiver Störungen kurz erläutert werden. Für die Geschlechtsverteilung depressiver Störungen in der Allgemeinbevölkerung können verschiedene Hypothesen gebildet werden, die verschiedenen Modellen der Geschlechtlichkeit des Menschen zugeordnet werden können (siehe Tabelle 28.1). Depressive Störungen haben eine multifaktorielle Ätiopathogenese. Hinsichtlich des Verständnisses der epidemiologischen Befunde zur Geschlechterverteilung depressiver Störungen haben sich die psychosozialen und kulturellen Faktoren als besonders fruchtbar erwiesen (Brüggemann und Haltenhof, 2002; Nolen-Hoeksema, 1990). Natürlich spiegeln sich diese auch auf der biologischen Ebene wider. Der soziologische Begriff der Geschlechtsrolle sowie die psychologischen Modelle, wie diese vom Individuum erworben wird, stehen im Mittelpunkt des Verständnisses, warum Frauen häufiger als Männer an depressiven Störungen erkranken. Soziologische Modelle können jedoch nicht ohne Rückgriff auf biologische und psychologische Theorien erklären, warum nur ein kleiner Teil der Menschen, die pathogenen psychosozialen Bedingungen ausgesetzt sind, tatsächlich eine depressive Störung entwickeln, und warum andere Personen trotz Fehlens dieser Bedingungen erkranken. Damit bestimmte Situationen zu einer depressiven Störung führen, muss eine entsprechende Prädisposition vorhanden sein.
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Die Geschlechtlichkeit des Menschen im psychiatrischen Diskurs
299
und deren Relevanz für die Psychiatrie. In A. Riecher-Rössler, A. Rohde (Hrsg:), Psychische Erkrankungen bei Frauen – Für eine geschlechtersensible Psychiatrie und Psychotherapie (S. 124–137). Basel: Karger. Kestemberg, L. B., Tarnofsky Silverman, M. B., Santandreu, N. G. (2003). Gender differences in neuropsychological functioning. In M. Kapala and M. Keitel (Eds.), Handbook of counseling women (S. 86–105). London: Sage Publications. Kimura, D. (1999). Sex and cognition. Cambridge: MIT Press. Lott, B., Maluso, D. (2001). Gender development. Social learning. In J. Worell (Ed.), Encyclopedia of women and gender. Sex similarities and differences and the impact of society on gender (S. 537–570). San Diego: Academic Press. Martin, C. L., Dinella, L. M. (2001). Gender development: Gender schema theory. In J. Worell (Ed.), Encyclopedia of women and gender. Sex similarities and differences and the impact of society on gender (S. 507–522). San Diego: Academic Press. Nolen-Hoeksema, S. (1990). Sex differences in depression. Stanford: University Press. Nopoulos, P. C., Andreasen, N. C. (1999). Gender differences in neuroimaging findings. In E. Leibenluft (Ed.), Gender differences in mood and anxiety disorders – From bench to bedside (S. 1–30). Washington: American Psychiatric Press. Ortner, S. B., Whitehead, H. (1981). Sexual meanings, the cultural construction of gender and sexuality. Cambridge: Cambridge University Press. Spence, J. T., Helmreich, R. L. (1978). Masculinity and femininity. Their psychological dimension, correlates and antecedents. Austin: University of Texas Press. Strauss, B., Möller, J. (1999). Androgynie: Typ oder Trait? In U. Bock and D. Alfermann (Hrsg.), Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 1999. Androgynie. Vielfalt der Möglichkeiten (S. 200–209). Stuttgart: Metzler. Tyson, P., Tyson,R. L. (2001). Lehrbuch der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. Villa, P. I. (2004). (De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie: Zur Position und Rezeption von Judith Butler. In R. Becker and B. Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und GeschlechterForschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Wetterer, A. (2004). Konstruktion von Geschlecht: Reproduktionsweisen der Zweigeschlechtlichkeit. In R. Becker and B. Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechter-Forschung. Theorie, Methoden, Empirie (S. 122–131). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
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Wandel und Kontinuität tagesklinischer Behandlung Klaus-Peter Seidler und Petra Garlipp
Psychisches Leiden stellt eine zunehmende Herausforderung für die westlichen industriellen Gesellschaften dar. Epidemiologische Daten (Wittchen, 2005; Wittchen und Jacobi, 2005) zeigen ein dramatisches Bild: In Europa erkranken 27 % der Bevölkerung, das heißt 83 Millionen Menschen, innerhalb eines jeden Jahres an einer psychischen Störung. Etwa jeder zweite Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens eine psychische Störung. Auch besteht ein großes Risiko zur Chronifizierung. An die 40 % der Menschen mit psychischen Störungen sind chronisch erkrankt. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Depressionen und Suchterkrankungen in den letzten Jahren zugenommen haben. Psychische Störungen haben zudem gravierende Auswirkungen. Sie sind nahezu ausnahmslos mit Beeinträchtigungen der sozialen Rollen verbunden (wie schulische oder berufliche Leistung, soziale Kontakte). Schwere soziale Beeinträchtigungen finden sich bei circa einem Drittel der psychisch erkrankten Menschen. So sind die indirekten gesundheitsökonomischen Kosten (wie krankheitsbedingte Ausfalltage, Frühberentung) immens und übersteigen bei weitem die direkten Kosten im Gesundheitswesen. Dabei hat sich das Gesundheitssystem bislang nur unzureichend auf diese Herausforderungen eingestellt, denn pro Jahr bleiben zwei Drittel aller psychischen Störungen unbehandelt. Nur ein Viertel der Betroffenen erhält zumindest eine minimale Intervention (z. B. kurzes Gespräch mit dem Hausarzt). Psychiatrische Tageskliniken zielen von ihrer meist sozialpsychiatrischen Behandlungskonzeption darauf ab, neben der Behandlung der psychischen Störungen insbesondere den damit verbunden sozialen Beeinträchtigungen zu begegnen (Seidler, Garlipp, Machleidt und Haltenhof, 2006). So werden Patienten nach einer stationären psychiatrischen Behandlung langsam an die Anforderungen des Alltags herangeführt, indem sie ihre sozialen Rollenverpflichtungen (z. B. Elternschaft) wieder übernehmen. Sie, wie auch die Patienten, die von ihrem ambulanten Behandler in die Tagesklinik überwiesen werden, erhalten therapeutische Unterstützung bei der Ausübung ihrer sozialen Rollen. Die in der Therapie erarbeiteten Verhaltensweisen zur Bewältigung schwieriger Situationen im Alltag können täglich dort geübt werden. Eine zeitnahe Arbeit an aktuellen Konflikten im sozialen Umfeld ist möglich, häufig bei Einbeziehung von Angehörigen in die Behandlung. Die hohe therapeutische Dichte mit der Integration von Psycho-, Sozio- und Pharmakotherapie ermöglicht die effektive Behandlung psychisch schwer erkrankter Patienten
Wandel und Kontinuität tagesklinischer Behandlung
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(Kallert und Schützwohl, 2004). Neben der patientenorientierten Dosierung dieser unterschiedlichen Therapiemaßnahmen stellt dabei die therapeutische Gemeinschaft als bedeutsamer Erfahrungsraum für interpersonelles Lernen sowie für das Erleben sozialer Unterstützung einen wesentlichen Wirkfaktor tagesklinischer Behandlung dar (Seidler, Garlipp, Brüggemann und Haltenhof, 2001). Seit Eröffnung der ersten deutschen allgemeinpsychiatrischen Tagesklinik für Erwachsene an der Psychiatrischen Universitätsklinik Frankfurt/Main 1962 hat sich dieses Behandlungsangebot kontinuierlich ausgeweitet. Für das Jahr 2005 sind 353 Tages- und Nachtkliniken im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie offiziell ausgewiesen (Statistisches Bundesamt, 2007), wobei es sich hierbei überwiegend um Tageskliniken handelt. Tageskliniken stellen somit etwa zehn bis zwanzig Prozent der Behandlungsplätze an psychiatrischen Kliniken in Deutschland. Dies ist im Vergleich zum Ausland recht viel (Eickelmann, 2007). Dennoch lässt sich von einer zu geringen Nutzung der Tagesklinik als Organisationsrahmen moderner psychiatrischer Therapie sprechen, wenn davon auszugehen ist, dass etwa 30 % der stationären Patienten auch tagesklinisch behandelt werden könnten (Kallert et al., 2004b). Für die letzten zwanzig Jahre lässt sich ein deutlicher Wandel von Klientel und Strukturmerkmalen der Tageskliniken konstatieren. So hat die Belegungsauslastung der Tagesklinik deutlich zugenommen, während die Behandlungsdauer dramatisch zurückging (Haltenhof, Brüggemann, Garlipp und Seidler, 2006). An der Sozialpsychiatrischen Tagesklinik der Medizinischen Hochschule Hannover konstituierte sich im Jahr 1999 eine Forschungsgruppe mit dem Ziel, die eigene Behandlungspraxis zu evaluieren und Verfahren der Qualitätskontrolle zu etablieren (Seidler et al., 2001). Die Auswertung der kontinuierlichen Datenerhebung über einen Sieben-Jahres-Zeitraum (Juli 1999 bis Juni 2006) sowie die Ergebnisse einzelner Studien aus dem Kreis der Forschungsgruppe geben interessante Aufschlüsse über aktuelle Herausforderungen und Problemfelder tagesklinischer Praxis. So wird deutlich, wo die Tagesklinik sich in ihrem Behandlungskonzept auf einen Wandel einstellen muss, um gesellschaftlichen Entwicklungen zu begegnen, aber auch, welcher Kontinuität ihre Praxis unterliegt. Dies soll an folgenden Fragestellungen verdeutlicht werden: – Welche sozio-ökonomischen Merkmale weisen die Patienten der Tagesklinik auf? – Sind Veränderungen festzustellen, mit welchen psychischen Störungen Menschen zur Behandlung in die Tagesklinik kommen? – Wie viel Zeit braucht tagesklinische Behandlung? – Wem hilft die Tagesklinik?
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29.1 Sozio-ökonomische Merkmale der Patienten In dem oben genannten Sieben-Jahres-Zeitraum erfolgten 652 Behandlungen. 12 % der Patienten hatten in diesem Zeitraum zwei Aufenthalte in der Tagesklinik, bei drei Prozent kam es zu drei Behandlungen und 1 % der Patienten wiesen mehr als drei Behandlungsepisoden auf. Das mittlere Alter betrug 38 Jahre bei einer sehr großen Spanne von 18 bis 76 Jahren. Bei 63 % der Patienten handelt es sich um Frauen. Dies spiegelt den epidemiologischen Befund wider, dass Frauen von psychischen Störungen stärker betroffen sind als Männer (33 % vs. 22 %; vgl. Wittchen, 2005) beziehungsweise eher professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Auf Beeinträchtigungen der sozialen Rollen bei den Tagesklinikpatienten weisen folgende Zahlen hin: 65 % der Patienten sind ledig, was deutlich über den Angaben in der Allgemeinbevölkerung liegt (mit 45 % bei Männern und 37 % bei Frauen; Statistisches Bundesamt, 2007). Auch der Anteil allein lebender Patienten liegt mit 49 % deutlich über dem entsprechenden Anteil in der Allgemeinbevölkerung (37 %; Statistisches Bundesamt, 2007). Nur 38 % der Patienten verfügen über ein eigenes Einkommen, wobei auch Renten und BAföG als Einkommen bewertet wurden. Dass viele Patienten keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, liegt aber nicht in einem geringen Ausbildungsstatus begründet. 32 % der Patienten haben einen Realschulabschluss und ebenfalls 32 % besitzen die (Fach-)Hochschulreife. Diese Zahlen liegen sogar über den entsprechenden der Allgemeinbevölkerung (20 % bzw. 22 %; Statistisches Bundesamt, 2007) und sind möglicherweise auf den großstädtischen Einzugsbereich unserer Tagesklinik zurückzuführen.
29.2 Diagnosen der Patienten In unserer Tagesklinik wurden in dem Sieben-Jahres-Zeitraum vor allem Patienten mit einer affektiven Störung, häufig aber auch Patienten mit einer neurotischen Störung oder einer Schizophrenie beziehungsweise wahnhaften Störung behandelt (siehe Tabelle 29.1). Der Vergleich mit den Daten einer bundesweiten Tagesklinik-Befragung (Kallert et al., 2004a) verdeutlicht, dass Patienten mit einer affektiven Störung als Hauptdiagnose bei uns überrepräsentiert, dagegen Patienten mit einer Schizophrenie oder wahnhaften Störung unterrepräsentiert sind. Dies war zum Beginn des Sieben-Jahres-Zeitraum noch anders (siehe Abbildung 29.1). So wurden im Jahreszeitraum 1999–2000 noch zu über 30 % Patienten mit einer schizophrenen beziehungsweise wahnhaften Störung behandelt. Patienten mit einer affektiven Störung waren dagegen nur mit einem Anteil von etwa 20 % vertreten. Im Verlauf der Jahre nahm der Anteil
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Tabelle 29.1: Verteilung psychiatrischer Erstdiagnosen gemäß ICD-10, Kapitel V (F) (Weltgesundheitsorganisation, 2005) in der Tagesklinik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und in einer bundesweiten Tagesklinik-Umfrage zum Jahr 2000 (adaptiert aus Kallert et al., 2004a).
Erstdiagnose Organische Störungen (F0) Suchtstörungen (F1) Schizophrene u. wahnhafte Störungen (F2) Affektive Störungen (F3) Neurotische, Belastungs- u. somatoforme Störungen (F4) Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F5) Persönlichkeitsstörungen (F6) Andere
MHH 1% 2% 21 % 38 % 22 % 2% 15 % 1%
BRD 2% 4% 33 % 24 % 19 % 4% 12 % 2%
dieser Patienten drastisch zu, wohingegen Patienten mit einer schizophrenen beziehungsweise wahnhaften Störung immer seltener in der Tagesklinik aufgenommen wurden. Für andere Diagnosegruppen lassen sich keine Entwicklungstrends im Erhebungszeitraum ausmachen. Der Zuwachs des Anteils affektiver Störungen im Diagnosespektrum der Tagesklinik dürfte auf die oben erwähnte Zunahme depressiver Erkrankungen in der Gesamtbevölkerung zurückzuführen sein. Die Abnahme des Anteils schizophrener beziehungsweise wahnhafter Störungen mag darin begründet sein, dass in unserer Versorgungsregion in den letzten Jahren durch ein gut ausgebautes Angebot komplementärer Dienste, wie Tagesstätten und psychosoziale Kontaktstellen, eine von den psychotisch erkrankten Patienten häufig gewünschte klinikfernere Betreuung oder Behandlung möglich ist als durch unsere Tagesklinik, die sich in unmittelbarer räumlicher Nähe der psychiatrischen Regelstationen befindet. Eine drastische Zunahme ist für den Anteil komorbider psychischer Störungen zu verzeichnen, der von knapp 40 % zum Beginn des Erhebungszeitraums auf siebzig Prozent zum Ende hin gestiegen ist (siehe Abbildung 29.1). Von den komorbid erkrankten Patienten weisen 54 % zwei psychiatrische Diagnosen auf und 46 % haben drei oder mehr Diagnosen. Bei über einem Drittel der komorbiden Störungen handelt es sich dabei um Diagnosen, die bekanntermaßen zu komplizierten Behandlungsverläufen führen können: Suchtstörungen (ICD-10 F1) finden sich bei 18 % der komorbiden Diagnosen, Persönlichkeitsstörungen (ICD-10 F6) bei 15 % und (komplexe) Posttraumatische Belastungsstörungen (ICD-10 F43.1 u. F62.0) bei 4 %. Eine Zunahme dieser komorbiden Diagnosen im Sieben-Jahres-Verlauf lässt sich aber nicht feststellen. Bislang galten die (chronisch) psychotisch erkrankten Patienten als diejenige Zielgruppe der schwer erkrankten Menschen, für die sich Tageskliniken ins-
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Abbildung 29.1: Prozentualer Anteil von schizophrenen bzw. wahnhaften Störungen (F2), affektiven Störungen (F3) und Komorbidität im Sieben-Jahres-Verlauf.
besondere zuständig fühlen (Engfer, 2004). Der Rückgang dieser Patienten im Diagnosespektrum der Tagesklinik bedeutet aber nun nicht, wie unsere Daten zur Komorbidität zeigen, dass somit vermehrt nur leicht erkrankte Patienten behandelt werden (Beine, Engfer und Bauer, 2005). Vielmehr handelt es sich um in anderer Weise schwer erkrankte Patienten. Die komorbid erkrankten Patienten leiden nicht nur unter einer Vielzahl von Beschwerden, die, wie oben aufgeführt, nicht selten mit komplizierten Behandlungsverläufen einhergehen. Sie weisen zudem, so zeigen die epidemiologische Daten (Wittchen, 2005), häufig äußerst schwierige Lebenssituationen und Krankheitsverläufe auf: Bei psychisch komorbid erkrankten Menschen ist gewöhnlich von einem höheren Grad sozialer Beeinträchtigung und Behinderung auszugehen; es besteht ein erhöhtes Risiko für Suizid, Hospitalisierung, Arbeitslosigkeit und Isolation.
29.3 Behandlungsdauer Die tagesklinische Behandlungsdauer weist eine große Variabilität auf. Die Hälfte der Patienten beendete die Behandlung innerhalb von 53 Tagen mit einer Standardabweichung von 52 Tagen. Bei 9 % der Patienten kam es bereits innerhalb der ersten Behandlungswoche zu einer Beendigung des Tagesklinikaufenthalts, sei es, weil sie die Behandlung vorzeitig abbrachen oder weil eine stationäre Verlegung erfolgte. Sehr lange Behandlungszeiträume, die über ein halbes Jahr (bis zu 271 Tage) gingen, sind nur für eine kleine Anzahl von Patienten (3 %) zu verzeichnen. Im Sieben-Jahres-Verlauf ist ebenfalls eine große Variabilität zu konstatieren, ohne dass sich aber ein klarer Trend zeigt. Im ersten Erhebungsjahr beendet die Hälfte der Patienten bereits innerhalb
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von 32 Tagen die Behandlung, im fünften Erhebungsjahr dagegen lag der entsprechende Wert bei 68 Tagen. Die durchschnittliche Behandlungsdauer unserer Tagesklinik von 63 Tagen liegt über den entsprechenden Werten, die als mittlere Behandlungsdauer in den Jahren 1997 und 2000 bei bundesweiten Tagesklinik-Befragungen ermittelt wurden (56 bzw. 43 Tage; Haltenhof et al., 2006). Unsere längere Behandlungsdauer dürfte vor allem methodisch begründet sein: Wurde die tagesklinische Behandlung eines Patienten durch eine kriseninterventorische Verlegung auf eine Akutstation am Wochenende oder durch eine kurze Beurlaubung aufgrund familiärer Angelegenheiten des Patienten, wie einer Beerdigung, unterbrochen, so wurden im Rahmen unserer Sieben-Jahres-Erhebung die tagesklinischen Behandlungsabschnitte zu einer Behandlungsepisode zusammengefasst. Zudem ist zu berücksichtigen, dass sich Tageskliniken in Abhängigkeit von ihrer konzeptuellen Schwerpunktsetzung und damit auch insbesondere in Abhängigkeit davon, welche psychischen Störungen überwiegend behandelt werden, in deutlichem Ausmaß in ihrer mittleren Behandlungsdauer unterscheiden (Seidler et al., 2006). Der starke Einfluss der Art der psychischen Störung auf die Behandlungsdauer spiegelt sich auch in unseren Daten wider und soll hier exemplarisch für diejenigen Störungen, die bei uns häufig vorkommen, verdeutlicht werden (siehe Abbildung 29.2). Die Behandlung von Patienten mit einer Angst- oder Anpassungsstörung entspricht von ihrer Dauer her dem mittleren Wert sämtlicher Tagesklinikpatienten. Deutliche Abweichungen hiervon sind dagegen für depressiv erkrankte Patienten sowie Patienten mit einer Schizophrenie oder Borderline-Persönlichkeitsstörung zu finden. Erstere benötigen eine deutlich längere Behandlungszeit; die Hälfte der depressiven Patienten beendet innerhalb von 70 Tagen die Behandlung. Kürzere Verweildauer ergeben sich bei den beiden letzteren Patientengruppen: 50 % der Patienten mit einer Schizophrenie oder Borderline-Persönlichkeitsstörung haben ihre Behandlung innerhalb von etwa 40 Tagen beendet. Die hier gefundene längere Behandlungsdauer der depressiven Patienten steht im Einklang mit empirischen Befunden, dass depressive Störungen von kurzen Behandlungen nicht ausreichend profitieren (Lambert und Ogles, 2004). Hinsichtlich der kürzeren Verweildauer der schizophrenen Patienten ist zu vermerken, dass wir in einer Untersuchung zum Therapieabbruch, die auf einer Teilstichprobe unserer Sieben-Jahres-Erhebung basierte, bei den schizophrenen Patienten eine erhöhte Rate (34 %) vorzeitiger Behandlungsbeendigung entgegen therapeutischer Empfehlung fanden (Garlipp, 2008). Die kürzere Behandlungsdauer der Patienten mit der Erstdiagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erklärt sich möglicherweise daher, dass wir aufgrund klinischer Erfahrungen darauf achten, mit diesen Patienten eine klare zeitliche Begrenzung der Behandlung zu besprechen, um regressiven Tendenzen entgegenzuwirken.
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Abbildung 29.2: Behandlungsdauer für Patienten mit der Erstdiagnose Schizophrenie (F20; n = 88), (rezidivierender) Depression (F32/33; n = 198), Angststörung (F40/41; n = 62), Anpassungsstörung (F43.2; n = 40) und Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31; n = 36).
Sehr deutlich belegen die Daten, dass komorbide psychische Erkrankungen, die Behandlung verkomplizieren, das heißt hier, dass Komorbidität mit einer längeren Behandlungsdauer einhergeht (siehe Abbildung 29.3). Patienten, die drei oder mehr psychiatrische Diagnosen aufweisen, werden signifikant länger in der Tagesklinik behandelt als Patienten mit nur einer psychiatrischen Diagnose. Insbesondere das Vorliegen einer komorbiden Persönlichkeitsstörung oder Posttraumatischen Belastungsstörung führt zu einer deutlich längeren Verweildauer. In der eher kürzeren Behandlungsdauer beim Vorliegen einer komorbiden Suchtstörung spiegelt sich eine andere Art schwierigen Behandlungsverlaufs wider: In der oben genannten Studie (Garlipp, 2008) zeigte sich, dass Patienten mit Substanzabhängigkeit eine höhere Therapieabbruchswahrscheinlichkeit aufweisen.
29.4 Behandlungsergebnis Als Maß für das Behandlungsergebnis wird hier die Veränderung des Ausmaßes psychischer Beschwerden herangezogen. Anhand der Skala zur Globalen Erfassung des Funktionsniveaus (GAF; Saß, Wittchen und Zaudig, 1996) beurteilten wir die Patienten zum Beginn und zum Ende der Behandlung hinsichtlich ihres psychischen Funktionsniveaus; die soziale Leistungsfähigkeit und die berufliche Leistungsfähigkeit, die auch Bestandteil der GAF sind, blieben bei unseren GAF-Einschätzungen unberücksichtigt, da sie anhand einer anderer Skala von uns erfasst wurden. Über den gesamten Erhebungszeitraum gesehen, zeichnet sich für die tagesklinische Behandlung ab, dass diese nicht zu sehr deutlichen Verbesserungen
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Abbildung 29.3: Behandlungsdauer in Abhängigkeit von der Anzahl der Diagnosen sowie für Patienten mit komorbider Persönlichkeitsstörung (F60/61; n = 96), komorbider Suchtstörung (F1; n = 115) und komorbider (komplexer) Posttraumatischer Belastungsstörung (F43.1/62.0; n = 28).
psychischer Beschwerden führt. Die Effektstärke beträgt 0,46 und ist gemäß der Einteilung von Cohen (1988) noch als klein zu bezeichnen (siehe Abbildung 29.4). Ein Trend im Sieben-Jahres-Erhebungszeitraum lässt sich nicht feststellen, vielmehr ergeben sich deutliche Schwankungen der Effektstärke mit einem Minimum von 0,28 und Maximum von 0,60. Der Durchschnittswert verdeckt, dass beträchtliche Unterschiede in der Effektstärke zu beobachten sind, wenn die Art der Erstdiagnose berücksichtigt wird (siehe Abbildung 29.4). Demnach profitieren Patienten mit einer Anpassungsstörung in hohem Ausmaß von der Tagesklinik (0,95), dagegen schizophren erkrankte Patienten wenig (0,25). Dies bestätigt sich auch im statistischen Vergleich, der das Ausgangsniveau der psychischen Beeinträchtigung in den einzelnen Diagnosegruppen durch die Berechnung sogenannter residual gain scores berücksichtigt. Schizophren erkrankte Patienten profitieren signifikant weniger von der Tagesklinik als die Patienten mit einer Depression, einer Angst- oder Anpassungsstörung (siehe Abbildung 29.5). Um zu klären, womit der unzureichende durchschnittliche Behandlungserfolg bei schizophrenen Patienten zusammenhängt, werteten wir deren Entlassungsbriefe aus (Rosenthal, Haltenhof und Seidler, in Druck). Es zeigte sich, dass in allen Fällen, in denen entweder (a) ein affektives Zustandsbild mit depressiver sowie ängstlicher Symptomatik, (b) eine noch bestehende produktive psychotische Symptomatik oder (c) Schwierigkeiten in der Kontaktaufnahme zur Patientengruppe oder dem therapeutischen Team beschrieben wurden, das Behandlungsergebnis als nicht zufrieden stellend beurteilt wurde. Das Vorliegen komorbider psychiatrischer Diagnosen geht keineswegs, wie vielleicht zu erwarten wäre, mit einem schlechteren Behandlungsergebnis einher. Im Gegenteil zeigen sich für Patienten mit einer komorbiden Persönlich-
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Abbildung 29.4: Psychisches Funktionsniveau (GAF) zum Behandlungsanfang (Prä) und -ende (Post) sowie Effektstärke (ES) für die Gesamtstichprobe (N = 615) sowie für Patienten mit der Erstdiagnose Schizophrenie (F20; n = 86), (rezidivierender) Depression (F32/33; n = 189), Angststörung (F40/41; n = 58), Anpassungsstörung (F43.2; n = 36) und Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31; n = 32).
Abbildung 29.5: GAF-residual-gain-Scores für Patienten mit der Erstdiagnose Schizophrenie (F20; n = 86), (rezidivierender) Depression (F32/33; n = 189), Angststörung (F40/41; n = 58), Anpassungsstörung (F43.2; n = 36) und Borderline-Persönlichkeitsstörung (F60.31; n = 32).
Abbildung 29.6: Psychisches Funktionsniveau (GAF) zum Behandlungsanfang (Prä) und -ende (Post) sowie Effektstärke (ES) für Patienten mit komorbider Persönlichkeitsstörung (F60/61; n = 91), komorbider Suchtstörung (F1; n = 103) und komorbider (komplexer) Posttraumatischer Belastungsstörung (F43.1/62.0; n = 26).
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keitsstörung oder Posttraumatischen Belastungsstörung sogar im Vergleich zum Gesamtdurchschnittswert erhöhte Effektstärken von mittlerer Größe (0.60 bzw. 0.83; siehe Abbildung 29.6).
29.5 Fazit Auch wenn offenbleibt, inwieweit die hier geschilderten Ergebnisse ebenfalls für andere Tageskliniken zutreffen, so zeichnen sich dennoch mit Wandel und Kontinuität einhergehende Herausforderungen an die tagesklinische Behandlungspraxis in den letzten Jahren ab. Zunächst ist zu konstatieren, dass Tagesklinikpatienten deutliche Merkmale sozialer Exklusion aufweisen. Unsere Daten zeigen, dass soziale Isolierung und fehlende Erwerbstätigkeit häufig bei ihnen vorzufinden sind. In Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und der zunehmenden Auflösung familiärer Bindungen ergeben sich von daher solch grundsätzliche Fragen wie, welche realistische Zielsetzungen die Tagesklinik überhaupt verfolgen kann und ob sie der Gefahr unterliegt, zu einer Psychiatrisierung gesellschaftlicher Missstände beizutragen. In der alltäglichen Arbeit sind wir froh, unsere Patienten auf solche Angebote wie psychosoziale Kontaktstellen, Selbsthilfegruppen, ambulante Ergotherapie und berufliche Rehabilitationsmaßnahmen in unserer Region verweisen zu können, wohlwissend, dass es sich dabei allenfalls um einen zeitweisen Ersatz verlässlicher sozialer Bindungen und Erwerbstätigkeit handeln kann. Von den Diagnosen her zeigt sich in den letzten Jahren für unsere Tagesklinik ein Trend, der zumindest auch für einen Teil anderer Tageskliniken in Deutschland gilt, wonach zunehmend weniger Patienten mit einer Schizophrenie behandelt werden, dagegen deutlich mehr Patienten, die an einer Depression erkrankt sind. Dass die Tagesklinik es aber nicht mit leichter erkrankten Patienten zu tun hat, sondern mit Patienten, die in anderer Weise als die psychotischen Patienten schwer erkrankt sind, verdeutlicht der dramatische Anstieg komorbider Störungen im Erhebungszeitraum. Unsere Daten zeigen, dass Komorbidität mit längeren Behandlungsverläufen einhergeht, sich aber nicht negativ auf das Behandlungsergebnis auswirkt. Dies lässt vermuten, dass die größeren Beeinträchtigungen bei komorbid erkrankten Patienten durch eine längere Behandlungsdauer kompensiert werden können – eine durchaus ermutigende Perspektive für uns Behandler, die es den Kostenträgern zu vermitteln gilt. Die große Heterogenität der Behandlungsdauer von Tagesklinikpatienten lässt diagnoseorientierte Fallpauschalen wenig sinnvoll erscheinen. Wohl beendet die Hälfte der Tagesklinikpatienten ihre Behandlung innerhalb von sieben bis acht Wochen, einige Patienten benötigen aber deutlich längere Be-
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handlungszeiträume, die auch über mehrere Monate gehen können. Dabei sind insbesondere bei dem Vorliegen einer komorbiden Persönlichkeitsstörung oder Posttraumatischen Belastungsstörungen, aber auch einer depressiven Störung als Erstdiagnose längere Behandlungen zu verzeichnen. Solche diagnosebezogenen Aussagen dürfen aber nicht über die große Variabilität der Behandlungsdauer innerhalb der Diagnosegruppen hinwegtäuschen. Die Tagesklinik führt im Mittel nicht zu sehr deutlichen, sondern eher zu moderaten Verbesserungen psychischer Beschwerden. Beim Behandlungsende liegt das mittlere psychische Beeinträchtigungsniveau noch im Bereich mäßig ausgeprägter Symptome. Eine ambulante Behandlungsperspektive ist von daher für die meisten Patienten dringend notwendig, kann aber selbst in unserer Region mit vergleichsweise guter Versorgungsstruktur nicht immer gewährleistet werden. Insbesondere Patienten, die einen ambulanten Psychotherapieplatz suchen, müssen mit mehrmonatigen Wartezeiten rechnen. Zudem fehlen häufig Nachsorgeangebote mit mehr stützendem Charakter sowie Beratung durch einen Sozialarbeiter angesichts der zunehmenden Überforderung von Patienten in der Bewältigung ihrer Behördenangelegenheiten. Ein Ausbau von Tagesklinikplätzen ist von daher nur sinnvoll, wenn damit einhergehend komplementäre und ambulante Angebote sichergestellt sind. Die nur geringen positiven Behandlungseffekte, die sich im Mittel bei den schizophren erkrankten Patienten in unserer Tagesklinik zeigen, verweisen auf die Schwierigkeit, bei einer von der Diagnose her stark heterogenen Patientengruppe Behandlungsangebote so zu gestalten, dass möglichst alle Patienten davon profitieren. So stellen unsere verschiedenen Gruppenangebote, mit ihren Möglichkeiten der Beziehungsaufnahme und emotionalen Öffnung in einem wertschätzenden, wenig konfrontierenden Klima, einen therapeutischen Rahmen dar, der zwar depressiven Patienten und Patienten mit einer Angst- oder Anpassungsstörung Entlastung und Entwicklung ermöglicht, dagegen Patienten mit einer Schizophrenie häufig überfordert. Wie oben aufgeführt, trifft dies insbesondere für diejenigen schizophrenen Patienten zu, die Kontaktschwierigkeiten haben, noch eine produktive Symptomatik oder ein ängstlich-depressives Zustandsbild aufweisen. Aufgrund dieser Ergebnisse denken wir jetzt viel häufiger und schneller daran, diese Patienten von den mehr oder weniger psychotherapeutisch ausgerichteten Gruppenangeboten zu befreien und sie stattdessen an handlungs- und aktivierungsorientierten Gruppen teilnehmen zu lassen. Die Spezialisierung von Tageskliniken oder die Diversifikation ihrer Behandlungsangebote bei heterogenen Patientengruppen dürften in der Zukunft eine zunehmende Rolle spielen. Dabei geht es nicht nur um eine störungsspezifische Spezialisierung oder Diversifikation. So benötigen etwa Patienten mit Migrationshintergrund kultursensitive Therapieangebote (Erim, 2002) oder alleinerziehende Mütter mit kleinen Kindern einen Behandlungsrahmen, der
Wandel und Kontinuität tagesklinischer Behandlung
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deren speziellen Lebensumstände berücksichtigt (Kersting et al., 2000). So wichtig eine solche Fortentwicklung tagesklinischer Behandlungskonzepte für die Zukunft auch sein wird, die damit verbundenen Grenzen und Gefahren sollten nicht außer Acht gelassen werden. So sind wohnortnahe Verfügbarkeit und Integration in das gewohnte Umfeld als sozialpsychiatrische Leitlinien tagesklinischer Behandlung wahrscheinlich für spezialisierte Tageskliniken, wenn sie sich nicht gerade in Großstädten befinden, schwer zu realisieren. Eine weitreichende Diversifikation der Behandlungsangebote birgt die Gefahr, Patienten und therapeutisches Team zu überfordern, wenn zum Beispiel die therapeutische Gemeinschaft der Patienten nicht mehr zum Tragen kommen kann und das Ausmaß personeller Ressourcen des Teams oder die Verfügbarkeit von Supervision nicht beachtet werden. Die Entwicklung der Tagesklinik dürfte sich auch zukünftig in einem Spannungsfeld von Wandel und Kontinuität vollziehen. Man darf gespannt sein, welche Antworten auf die Herausforderungen die (unsrige) Tagesklinik in den nächsten sieben Jahren findet.
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K.-P. Seidler und P. Garlipp
Kersting, A., Welke, U., Malewski, P., Lamprecht, F. (2000). Ein ambulantes Rehabilitationskonzept für Mütter mit psychosomatischen Erkrankungen. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation, 13, 4–9. Lambert, M. J., Ogles, B. M. (2004). The efficacy and effectiveness of psychotherapy. In M. J. Lambert (Ed.), Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behaviour change (5th ed., pp. 139–193). New York: Wiley. Rosenthal, O., Haltenhof, H., Seidler, K.-P. (in Druck). Die Behandlung von Patienten mit einer lang andauernden schizophrenen Psychose in der psychiatrischen Tagesklinik. In H. Haltenhof, B. R. Brüggemann, A. Wessels, W. Machleidt, M. Ziegenbein (Hrsg.), Schizophrenie. Frühintervention und Langzeitbegleitung. Lengerich: Pabst Science Publishers. Saß, H., Wittchen, H.-U., Zaudig, M. (Hrsg.) (1996). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-IV. Göttingen u. a.: Hogrefe Seidler, K.-P., Garlipp, P., Brüggemann, B., Haltenhof, H. (2001). Evaluation und Qualitätskontrolle tagesklinischer Behandlung. Sozialpsychiatrische Informationen, 31 (Sonderheft), 36–44. Seidler, K.-P., Garlipp, P., Machleidt, W., Haltenhof, H. (2006). Treatment concepts of day hospitals for general psychiatric patients. Findings from a national survey in Germany. European Psychiatry, 21, 110–117. Statistisches Bundesamt (2007). Statistisches Jahrbuch 2007. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Weltgesundheitsorganisation (2005). Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD10 Kapitel V (F) (5. Auflage). Bern: Huber. Wittchen, H.-U. (2005). Psychische Störungen in Deutschland und der EU. Größenordnung und Belastung. Vortrag auf dem 1. Deutschen Präventionskongress, Dresden. Zugriff am 22.04.2008 unter http://www.tu-dresden.de/presse/psyche.pdf Wittchen, H.-U., Jacobi, F. (2005). Size and burden of mental disorders in Europe. European Neuropsychopharmacology, 15, 357–376.
Die Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. med. Siegfried Geyer ist Leiter der Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Soziologie des Zentrums öffentliche Gesundheitspflege der Medizinische Hochschule Hannover. Prof. Dr. phil. Roland Posner ist Leiter der Arbeitsstelle für Semiotik an der Technischen Universität Berlin. Alle weiteren Autoren sind oder waren Mitarbeiter der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover: Uwe Blanke ist Sozialarbeiter der Klinik. Catharina Bonnemann ist Assistenzärztin der Klinik. PD Dr. med. Bernd Rüdiger Brüggemann ist Assistenzarzt der Klinik. Dipl.-Psych. Nadine Buddensiek ist jetzt Diplom-Psychologin/Psychologische Psychotherapeutin im Mediclin Klinikum Soltau. PD Dr. med. Iris T. Calliess ist Assistenzärztin der Klinik. PD Dr. rer. biol. hum. Stephan Debus ist Leiter der Forschungsstelle »Milieu und Methodik« der Klinik. Prof. Dr. med. Detlef E. Dietrich ist Oberarzt der Klinik. Dr. med. Wolfgang Dillo ist Oberarzt der Klinik. Dr. med. Hermann Elgeti ist Oberarzt der Klinik. Prof. Dr. med. Dr. phil. Hinderk M. Emrich, emeritierter Leiter der Klinik. Prof. Dr. med. Petra Garlipp ist Oberärztin der Klinik. Prof. Dr. med. Horst Haltenhof war Oberarzt der Klinik und ist jetzt Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im HELIOS Vogtland-Klinikum Plauen. Dr. med. Ute Hauser ist Oberärztin der Klinik. Prof. Dr. med. Thomas Huber war Oberarzt der Klinik und ist jetzt Chefarzt der Klinik am Korso in Bad Oeynhausen. PD Dr. med. Tillmann Krüger ist Assistenzarzt der Klinik.
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Die Autorinnen und Autoren
Dr. med. Stefanie Lampen-Imkamp ist Assistenzärztin der Klinik. Markus Lühmann war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Klinik und ist jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter im Universitätsklinikum Aachen. Prof. Dr. med. Kirsten Müller-Vahl ist Oberärztin der Klinik. PD Dr. med. Martin D. Ohlmeier was Oberarzt der Klinik und ist jetzt Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Ludwig-Noll-Krankenhaus. PD Dr. med. Torsten Passie ist Oberarzt der Klinik. Dr. med. Thomas Peschel ist Assistenzarzt der Klinik. Prof. Dr. med. Johann Pfefferer-Wolf ist Oberarzt der Klinik. Dr. Dipl.-Psych. Frauke Rodewald ist Diplompsychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Klinik. PD Dr. med. Jann E. Schlimme ist Oberarzt der Klinik. Prof. Dr. med. Udo Schneider war Oberarzt der Klinik und ist jetzt Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Krankenhaus Lübbecke. Prof. Dr. phil. Klaus-Peter Seidler ist Leiter der Tagesklinik der Klinik. Dr. med. Marcel Sieberer ist Assistenzarzt der Klinik. Dr. med. Bert T. te Wildt ist Oberarzt der Klinik. Dr. med. Felix Wedegärtner ist Oberarzt der Klinik. Dr. med. Claudia Wilhelm-Gößling ist Oberärztin der Klinik. Dr. med. Anja Wilkening ist Assistenzärztin der Klinik. Dr. med. Markus Zedler ist Oberarzt der Klinik.
Entschieden tiefgründig
Jann E. Schlimme hl (Hg.) ( ) Unentschiedenheit und Selbsttötung Vergewisserungen der Suizidalität
Jann E. Schlimme / Bert T. te Wildt / Hinderk M. Emrich Scham und Berührung im Film
2007. 205 Seiten mit 1 Abbildung, kartoniert ISBN 978-3-525-49124-9
2008. 141 Seiten mit 16 Abbildungen, kartoniert ISBN 978-3-525-40404-1
Seit Anbeginn der Kultur stellt sich der Mensch immer wieder die ungeheure Frage: Tod oder Leben? Ob man weiterleben will oder nicht, erfordert eine ganz persönliche Antwort. Doch auch für einen suizidalen Menschen ist die Entscheidung nicht eindeutiger, klarer oder einfacher, sondern zunächst schlicht dringlicher. Das Furchtbare an der Suizidalität ist genau diese Hin- und Hergerissenheit zwischen Leben und Nichtleben.
Berührung im Film hat mehrfache Bedeutung: Nicht nur berühren sich die Protagonisten, sondern der Film berührt die Zuschauenden. Gefangen in ihren Kinosesseln, gefesselt vom Geschehen, wird der Einzelne von seinen Helden unwillkürlich berührt. Dem Kino sind kaum Grenzen gesetzt, es sei denn, man verlässt den Saal. Abseits alltäglicher Gefühlsduselei zeigt Kino, wie es berühren kann: sanft und zärtlich, intensiv und fordernd, erotisch und erregend, invasiv und brutal.
Diese Unentschiedenheit im Diskurs zur Suizidalität wird aus philosophischen, psychiatrisch-psychologischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven thematisiert. Dabei wird deutlich, dass es keine eindeutigen Antworten geben kann, auch wenn uns alle der Wunsch begleitet, dass jeder Mensch sein Leben bejahen kann.
Und wie ist es mit der Scham? Nicht nur die Protagonisten können beschämt werden, auch wir als Zuschauer erleben dies, dem Blick ausgeliefert, den wir uns im Spiegel der Leinwand selbst zuwerfen, angetrieben durch den Vergleich mit den Filmhelden.
Jenseits von Sprache
Annemarie Jost Rhythmen der Kommunikation
Margarete Schnaufer Musiktherapie in der Gerontopsychiatrie
Wie zwischenmenschliche Abstimmung gelingt
Ein Lehrfilm
2009. 191 Seiten mit 5 Abbildungen und 1 Tabelle, kartoniert ISBN 978-3-525-40417-1
Wenn andere schneller oder langsamer sind, wenn man sich gedrängt fühlt oder warten muss, ist das irritierend und kann sogar zu Beziehungsproblemen führen. Manchmal wiederum gelingen gemeinsame Handlungen wie im Fluss. Annemarie Jost zeichnet nach, wie die Rhythmen der Kommunikation bereits im frühen Säuglingsalter geprägt werden und sich im Laufe des Lebens modifizieren. Insbesondere bei Fehlabstimmungen wird deutlich, ob es um respektvolle Gegenseitigkeit oder eher um machtbetonte Selbstdurchsetzung geht. Der Leser wird eingeladen, sich mit seiner persönlichen Art und Weise der zeitlichen Abstimmung mit anderen auseinanderzusetzen.
2009. Booklet mit 16 Seiten, DVD-Box ISBN 978-3-525-40108-8
Im Mittelpunkt des Films stehen drei Porträts von chronisch psychisch kranken Frauen, die in einer gerontopsychiatrischen Einrichtung leben. Die Sequenzen zeigen Diagnose, Anamnese, personzentrierte Behandlungsziele und -wege Integrativer Musiktherapie. Besonderes Augenmerk liegt darauf, den Sinn therapeutischer Interventionen im Gesamtzusammenhang des Therapieprozesses transparent zu machen. Der Film zeigt, dass vieles getan werden kann, damit Menschen in scheinbar aussichtsloser Lage Lebensqualität erleben, indem sie Kreativität entfalten, Sinn und Selbstwert finden.