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German Pages 936 [940] Year 2004
Wilhelm Koller Perspektivität und Sprache
W G DE
Wilhelm Koller
Perspektivität und Sprache Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-018104-5 Bibliografische Information Der Deutschen
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Ich habe einen Gefangenen gemacht er lässt mich nicht mehr los. *
Für meine Frau Margareta und unsere Tochter Elisabeth
*Ein von Heinrich Heine entliehenes Denkbild Shakespeares Mädchen und die Frauen, König Heinrich VI, 1. Teil
Inhaltsverzeichnis Ein Perspektivitätsmärchen
l
Α DER PROBLEMZUSAMMENHANG
3
I II III IV
Der Perspektivitätsbegriff Sehsinn und Perspektivität Sprache und Perspektivität Ausblick
Β PERSPEKTIVITÄT IM VISUELLEN BEREICH I
II
III
IV
6 11 20 25
28
Die Grundstrukturen der visuellen Wahrnehmung
29
1. Das Leibapriori der Wahrnehmung 2. Die Raumproblematik 3. Die Eigenbeweglichkeit der Wahrnehmungssubjekte
29 32 37
Sinn und Struktur von Bildern
41
1. Zur Phänomenologie von Bildern 2. Abbildung und Interpretation 3. Die Eigenwelt von Bildern
42 45 49
Darstellungsformen in der frühen Kunst
53
1. Kindeibilder und archaische Kunst 2. Altägyptische Darstellungsformen 3. Die aspektivische Darstellungsweise
54 58 62
Darstellungsformen in der griechischen Kunst
67
1. Die Körperperspektive 2. Die Raumperspektive 3. Piatons Kritik der perspektivischen Darstellungsweise
68 72 76
VIII
V
Inhaltsverzeichnis
Die Zentralperspektive
80
1. Die Grundlagen der Zentralperspektive 2. Die Implikationen der Zentralperspektive 3. Die Perspektive als symbolische Form
82 89 96
VI
Das Perspektiveproblem in der modernen Kunst 1. Das Raumproblem 2. Der Polyperspektivismus 3. Das Problem der Form
101 101 104 108
VII
Perspektivierungsmittel 1. Größe und Konstellation 2. Linienführung 3. Farbe und Licht
111 112 114 116
C PERSPEKTIVITÄT IM KOGNITIVEN BEREICH I
122
Perspektivität als logisches Problem
124
1. Die Stufungen des Denkens 2. Die Selbstinterpretation des Denkens
125 129
II
Perspektivität als anthropologisches Problem 1. Natur und Kultur 2. Die Entfaltung von Wahrnehmungsperspektiven 3. Assimilation und Akkommodation 4. Schriftgebrauch und Perspektivität
133 135 139 151 154
III
Perspektivität als erkenntnistheoretisches Problem.... 168 1. Piatons Höhlengleichnis als Perspektivitätsgleichnis 2. Das analogische Denken 3. Die Suppositionslehre und der Universalienstreit 4. Die Ursprünge des neuzeitlichen Relationsdenkens 5. Subjektivität und Perspektivität 6. Perspektivität und Relativität
169 175 181 188 199 209
Inhaltsverzeichnis
IV
IX
Perspektivität als pragmatisches Problem
218
1. Das Repräsentationsproblem 2. Die sprachlichen Repräsentationsformen. 3. Die Zeichenmodelle 4. Die Formen des Wissens 5. Die Struktur von Perspektivierungsprozessen 6. Die Perspektivenbildung als Machtproblem 7. Die Perspektivierungsmacht der Sprache 8. Das Perspektivitätsproblem in der Geschichtsschreibung
219 228 235 249 261 271 278 290
D PERSPEKTIVITÄT IM SPRACHLICHEN BEREICH
309
I
Perspektivität im Bereich der Lexik 1. Lexik und Grammatik 2. Begriffsbildungen 3. Sprachliche Feldordnungen 4. Wortarten 5. Wortbildungen
313 313 320 333 340 357
II
Perspektivität im Bereich grammatischer Grundformen
370
1. Der Satz und seine Glieder 2. Die Kasusformen 3. Die grammatischen Kategorien beim Verb 4. Die Tempusformen 5. Die Modusformen 6. Die Genusformen
371 390 414 421 444 460
III
Perspektivität im Bereich von Verweisungszeichen...474 1. Das Deixisproblem 475 2. Die Pronomen 477 3. Die Artikel 483
IV
Perspektivität im Bereich von Verknüpfungszeichen 490 1. Die Präpositionen 2. Die Konjunktionen
491 501
χ
Inhaltsverzeichnis
V
VI
VII
Perspektivität im Bereich von Kommentierungszeichen
526
1. Die Partikelproblematik 2. Die Modalwörter 3. Die Modalpartikeln
527 531 534
Perspektivität im Bereich von Negationen
540
1. Die Negation als Perspektivierungshandlung 2. Die sprachlichen Negationsformen 3. Die Wörter nichts und Nichts 4. Die Negation im theologischen und religiösen Sprachgebrauch 5. Die pragmatischen Funktionen von Negationen 6. Die Ironie als Negationsphänomen
544 549 559
Perspektivität im Bereich von Metaphern
591
1. Wahrnehmungsperspektiven für das Metaphernproblem 2. Die ikonische Struktur von Metaphern 3. Die Perspektivierungsfunktionen von Metaphern 4. Metaphern für Wahrheit 5. Metaphern für Sprache 6. Metaphern für Metaphern
593 600 606 614 621 630
VIII Perspektivität im Bereich einfacher Kompositionsformen
IX
X
567 577 587
636
1. Die Attribution 2. Die Thema-Rhema-Relation
636 649
Perspektivität im Bereich von Fragen
660
1. Fragesätze und Fragehandlungen 2. Fragetypen 3. Funktionsvarianten von Fragen 4. Fragen in komplexen Handlungssituationen 5. Fragen mit Konterbande
663 664 668 672 681
Perspektivität im Bereich von Redewiedergaben
686
1. Das Zitat 2. Die direkte und die indirekte Rede 3. Die erlebte Rede
687 698 706
Inhaltsverzeichnis
XI
XII
Perspektivität im Bereich von Lügen
720
1. Die Lüge als ethisches und psychologisches Problem 2. Die Lüge als grammatisches und semiotisches Problem 3. Fiktion und Lüge 4. Die Lüge als anthropologisches Problem
721 724 737 746
Perspektivität im Bereich von Ironie
757
1. Zur Geschichte des Ironiebegriffs 2. Die Ironie als Strukturproblem 3. Die Ironie als Spielphänomen 4. Die Erscheinungsweisen der Ironie 5. Die sprachtheoretische Wertung der Ironie
757 764 771 779 784
XIII Perspektivität im Bereich von Paradoxien 1. Die sprachlichen Erscheinungsweisen von Paradoxien 2. Paradoxien als Denk- und Sinnbildungsformen 3. Die Vorkommensorte von Paradoxien 4. Die Sinnbildungsfunktionen von Paradoxien
XIV Perspektivität im Bereich des Erzählens
XV
XI
790 791 797 802 811
814
1. Das Verstricktsein in Geschichten 2. Das Erzählen als Objektivierungsform 3. Die Perspektivierungsmuster beim Erzählen 4. Erzählformen als Gestaltungsmuster von Perspektivität
815 818 823 831
Perspektivität im Bereich von Textmustern
840
1. Textmuster als Perspektivierungsmuster 2. DerWitz 3. Die Novelle 4. Die Geschichtserzählung
841 847 855 865
Schlussbemerkungen
879
Literaturverzeichnis
884
Personenregister
910
Sachregister
916
Ein Perspektivitätsmärchen Es war einmal ein Liebhaber der Wahrheit, der in seinen besten Wissensdurstjahren in eine tiefe Krise geriet. Er begann sich nämlich zu fragen, warum ihm immer nur Einzelaspekte der Dinge in den Blick kämen, aber nie die ganze Wahrheit über sie. Schon die einfache Erfahrung, dass er bei einer Münze immer nur die eine ihrer beiden Seiten sehen konnte, aber nicht beide zugleich, versetzte ihn in eine tiefe metaphysische Melancholie. Einmal hatte er die Idee, das Problem dadurch zu lösen, dass er sich eine Münze einfach als Geld vorstellte. Aber hatte nicht auch das Geld immer verschiedene Aspekte? Er musste einsehen, dass es wenig nützte, den Gegenstand seiner Betrachtung Münze, Geld, Zahlungsmittel oder gar Metallstück zu nennen. Immer kamen ihm wichtige Aspekte dieses Phänomens abhanden. Eine wehmütige Sehnsucht nach der Einsicht in die ganze Wahrheit seiner Betrachtungsgegenstände erfasste ihn auch, als er aus seinem Fenster auf die schöne Fassade des gegenüberliegenden Hauses sah. Warum musste er sich auch hier mit der bloßen Fassadenwahrnehmung begnügen? Warum konnte er nicht zugleich erkennen, wie das Haus von hinten und von innen aussah und was sich alles in ihm abspielte? Warum erreichte sein Streben nach Wissen immer nur Teilwahrheiten und höchstens die Vorhöfe der ganzen Erkenntnis? Als am Abend ein Freund aus frühen Kindertagen, den das Schicksal in das tätige Leben gespült hatte, auf eine Tasse Tee kam, klagte er diesem mit bewegten Worten sein theoretisches Leid. Dieser lächelte aber nur milde und machte dann einen sehr einfachen, wenn nicht trivialen Vorschlag: „Gehe doch einfach hinter das Haus und in das Haus, dann erfährst du alles, was du Narr von deinem Zuschauerplatz am Fenster nie erfährst. Und wenn du noch mehr über Häuser im Allgemeinen wissen willst, dann werde Maurer und baue ein Haus!" ,Ach", seufzte unser Liebhaber der Wahrheit: „Wie einfältig du doch denkst. Wenn ich deinem Rat folgte, dann käme ich aus dem Herumlaufen und den Berufswechseln gar nicht mehr heraus. Außerdem würde ich auch nur Teilwahrheiten entdecken und nie die ganze Wahrheit. Die ersten Wahrheiten über die Gegenstände hätte ich schon vergessen, wenn ich die letzten erkannt hätte. Ich würde Tausende von Trivialitäten erfahren, aber nicht die eigentliche Wahrheit über die Dinge und die Welt." „Ach", seufzte nun auch der Freund: „Ich glaube, ich verstehe dich besser als du dich selbst verstehst. Du willst ja gar nicht als Mensch die Dinge und die Welt keimen lernen! Du willst ein Engel werden, der weder Raum noch Zeit unterworfen ist, der weder Anstrengung noch Bewegung kennt, der keine
2
Ein Perspektivitätsmärchen
Sinne hat, der kein Gedächtnis braucht, weil er schon immer alles weiß, und der keine Sprache benötigt, weil er seine Gedanken allen Mitengeln wortlos vermitteln kann. Du willst alles abschaffen, was dich zum Menschen macht! Bist du wirklich ein Liebhaber, ein Amateur der Wahrheit? Denk doch mal an Kants Taube1. Diese fand es sehr deprimierend gegen den Widerstand der Luft anzufliegen und träumte davon, wie schön das Fliegen im luftleeren Raum sein müsse. Aber in diesem kann sie nur ersticken und abstürzen. Willst du um diesen Preis ein Engel werden?" , Ach je", erwiderte unser Liebhaber der Wahrheit: „Du kannst nur spotten, weil du dich in der Welt eingerichtet hast und es dir leicht machst. Du bist mit den Reizen der Erscheinungen in den Vorhöfen der Wahrheit schon zufrieden!" „Ach wirklich?", seufzte nun wiederum der Freund: „Wer macht es sich denn zu leicht, du oder ich? Du scheust die Mühen der kleinen Fortschritte und willst gleich alles. Ich jammere nicht über meine Einschränkungen, sondern habe mich entschlossen, diese zu lieben, um mit ihnen auch spielen zu können. Ein tüchtiger Segler nutzt eben den Wind, um gegen ihn voran zu kommen, und ein tüchtiger Judoka nutzt die Kraft des Gegners, um ihn zu Fall zu bringen." „Ach du mit deinen Gleichnissen", erwiderte unser Wahrheitssucher resigniert: „Sie machen uns nur Türen auf, damit wir neue Türen sehen." „Oh, was für eine schaurige Vorstellung von der Wahrheit hast du dir denn in deinem Studierstübchen zurecht gelegt?", wollte nun der Freund wissen: „Soll dir die Wahrheit eine zuverlässige Freundin sein, mit der du leben und überleben kannst, oder eine Sklavin, die du nur begehrst, um sie zu beherrschen? Warum liebst du deine eingeschränkten Wahrnehmungen nicht als konzentrierte Erkenntnisse? Gehe in die Welt und mache dein Glück! Warte nicht auf Professor Tofeles und seine Gentechnik! Noch kann er dir kein neues Wahrheitsauge einsetzen! Die Wahrheit kannst Du weder sehen noch begrifflich abpacken; in sie kannst du nur hineinfallen."
1
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 9, Werke, Bd. 3, S. 51
Α DER PROBLEMZUSAMMENHANG Die Begriffe Perspektivität und Sprache teilen miteinander das Schicksal, im strengen Sinne des Wortes undefinierbar zu sein. Allenfalls lässt sich phänomenologisch beschreiben, worauf sie sich beziehen. Beide Begriffe müssen als anthropologische Grundbegriffe verstanden werden, die keine Theorie vollständig in ihre Gewalt bringen kann, weil sie auf zwei Urphänomene menschlicher Existenz Bezug nehmen, die wir nicht distanziert von außen betrachten können, weil wir in unseren Lebensprozessen und Vorstellungsbildungen immer schon in sie verwickelt sind. Zudem haben beide Begriffe über metaphorische Redeweisen neue Anwendungsbereiche für sich erschlossen, die wir nicht einfach wegabstrahieren können, wenn wir sie verwenden oder über sie nachdenken. Für sie gilt in besonderem Maße das, was Nietzsche über komplexe Begriffe mit einer langen Entwicklungsgeschichte gesagt hat: „Alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehn sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat. Der Gegenstandsbereich des Terminus Perspektivität lässt sich vorab grob so beschreiben, dass mit ihm der systematische Zusammenhang aller wichtigen Faktoren erfasst werden soll, die konstitutiv an visuellen und geistigen Wahrnehmungs- und Objektivierungsprozessen beteiligt sind, wobei insbesondere der Faktor Perspektive eine zentrale Rolle spielt. Mit seiner Hilfe lässt sich gut darauf aufmerksam machen, dass alle Wahrnehmungsprozesse dadurch geprägt sind, dass konkrete Objekte für konkrete Subjekte immer nur in einem bestimmten Blickwinkel in Erscheinung treten können. Diese Erkenntnis erscheint auf den ersten Blick äußerst banal. Sie verliert allerdings schnell an Trivialität, wenn wir uns einmal Rechenschaft über ihre fast unübersehbaren Implikationen und Konsequenzen abzulegen versuchen und mögliche Alternativen oder zumindest Variationen in Betracht ziehen. Dann stoßen wir an die Grenzen unseres gängigen Vorstellungsvermögens, die insbesondere im Rahmen der Kunst immer wieder umspielt und transzendiert werden. Der Begriff Perspektivität wird dementsprechend als ein sehr umfassender Ordnungsbegriff verstanden, auf den man auch das Phänomen Sprache zuordnen kann, insofern sprachliche Zeichen als konstitutive Mittel angesehen werden können, um Vorstellungsinhalte zu objektivieren und zu vermitteln. Hinter der Korrelation der Problembereiche Perspektivität und Sprache steht ein semiotisches Erkenntnisinteresse. Es gilt der Grundsatzfrage, wie sich Objekt1
F. Nietzsche, Werke, Bd. 2, 19737, S. 820.
4
Der Problemzusammenhang
Sphäre und Subjektsphäre mit Hilfe von Zeichen miteinander in Kontakt bringen lassen und wie sich Sinn intersubjektiv vermitteln lässt. Diese sehr umfassenden semiotischen Zielsetzungen übersteigen natürlich sprachwissenschaftliche Fragestellungen im engeren Sinne, weil neben den sprachlichen zumindest auch noch visuelle Zeichenstrukturen zu berücksichtigen sind und weil außerdem auf kognitive, transzendentalphilosophische und hermeneutische Problemstrukturen Bezug genommen werden muss. Das ist aber kein Nachteil. Wer das Phänomen Sprache wirklich kennen lernen will, der darf nicht nur auf die Sprache selbst sehen, sondern muss seinen Blick auch auf die Zusammenhänge lenken, in denen Sprache wirksam wird. Wenn man Sprache im Horizont des Perspektivitätsgedankens und der Semiotik thematisiert, dann führt das ganz selbstverständlich zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die Sprache als Erschließungs- und Objektivierungsmedium. Sowohl der Perspektivitäts- als auch der Sprachbegriff offenbaren ihren Erkenntniswert erst dann, wenn sie nicht als statische Systembegriffe, sondern vielmehr als operative Funktionsbegriffe angesehen werden, die primär dazu dienen, uns Aufschluss darüber zu geben, wie die Menschen sich Vorstellungswelten entwerfen. Mit beiden Begriffen soll plausibel gemacht werden, dass in Sinnbildungsprozessen Subjekte und Objekte keine festen, vorab gegebenen Größen sind, sondern vielmehr dynamische Größen, die ihre Konturen letztlich erst im Rahmen von Sinnbildungsprozessen bekommen und die deshalb auch als interdependente Größen zu verstehen sind. Perspektivität und Sprache gehören sicher auch zu denjenigen Phänomenen, deren Lebensrelevanz sich ändert, wenn man nicht einfach mit ihnen und in ihnen lebt wie der Fisch im Wasser, sondern sie zum Gegenstand der Reflexion macht und ihren strukturierenden Einfluss zu beherrschen versucht. Sie verlieren dann ihre Funktion, unser Weltverhältnis spontan zu ordnen, und provozieren uns zu Überlegungen, wie wir uns ihrem Einfluss entziehen oder diesen zumindest variieren können. Wenn wir uns explizit bewusst machen, dass Perspektivität und Sprache zu den konstitutiven Basisprämissen unseres Vorstellungsvermögens gehören, dann kommen wir zwangsläufig zu der Einsicht, dass unsere sinnlichen und geistigen Gegenstandswahrnehmungen nicht voraussetzungslos sind bzw. nicht als erkenntnisneutrale Ausgangspunkte unserer Sinnbildungsprozesse anzusehen sind. Vielmehr werden sie immer durch Faktoren beeinflusst, die nicht aus der Objektwelt resultieren, sondern aus den Objektivierungsbedingungen und Objektivierungsanstrengungen der Subjekte. Die Besonderheit des Perspektivitätsgedankens besteht darin, dass in seinem Rahmen Objektwelt und Subjektwelt als interdependente Größen hervorgehoben werden, die ihr spezifisches Profil erst dann gewinnen, wenn sie aufeinander einwirken und eben dadurch sowohl in ihrer Differenz als auch in ihrer Zusammengehörigkeit in Erscheinung treten können. Der Einfluss von Perspektivität und Sprache auf unsere Wahrnehmungsprozesse bzw. die konstitutive Rolle dieser Phänomene in der Kultur- und Sozialsphäre des Menschen lässt sich nur auf einer Metastufe des
Der Problemzusammenhang
5
Sozialsphäre des Menschen lässt sich nur auf einer Metastufe des Denkens thematisieren. Erst in einem Reflexionsbewusstsein, in dem wir uns Rechenschaft über die Konstitutionsbedingungen der Inhalte des vorausliegenden Gegenstandsbewusstseins abzulegen versuchen, können diese Phänomene und ihre Funktionen für unser Denken in Erscheinung treten. Erst in einem metareflexiven Denken können Perspektivität und Sprache als strukturbildende Faktoren bzw. organisierende Spielregeln fassbar werden, ohne die wir nicht in der Lage sind, uns distinkte Inhaltsvorstellungen zu machen. Das, was im Reflexionsbewusstsein als das Auffalligste und Wichtigste erscheint, fällt im vorhergehenden Gegenstandsbewusstsein gar nicht auf, weil es dieses erst konstituiert und deshalb auch nicht zu dessen intentionalen Inhalten gehört. Das, was bei der Genese von konkreten Vorstellungsinhalten einen konstitutiven Einfluss hat, das kann bei der expliziten nachträglichen Analyse dieser Inhalte erst nach und nach ins Bewusstsein treten. Im Prinzip ist das Reflexionsbewusstsein natürlich auch ein Gegenstandsbewusstsein, nur liegen seine Inhalte auf einer anderen Sach- und Problemebene als die des ursprünglichen Gegenstandsbewusstseins. Die Motive für die Entwicklung des Reflexionsbewusstseins, das nur relational zu dem vorausliegenden Gegenstandsbewusstsein definiert werden kann, liegen darin begründet, dass man durch die Frage nach den Prämissen und der Genese von Wahrnehmungsinhalten hofft, diese besser kennen zu lernen. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass die ursprünglichen Bewusstseinsinhalte, die den Ausgangspunkt von metareflexiven Denkanstrengungen bilden, wieder ganz aus dem Blickfeld geraten, weil man den unterschiedlichen Inhalt beider Bewusstseinsebenen nicht mehr aufeinander bezieht. Erkenbrecht hat diese Gefahr, der natürlich auch jede Beschäftigung mit den Phänomenen Perspektivität und Sprache ausgesetzt sind, aphoristisch auf den Punkt gebracht: „ Wer alles durchschaut hat, sieht nichts mehr. "2 Umgekehrt muss nun aber auch betont werden, dass die alleinige Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Inhalte des Gegenstandsbewusstseins eine umfassendere Wahrnehmung von Inhalten auch einschränken oder gar verhindern kann, weil die metareflexive Distanz fehlt, in der der Stellenwert von konkreten Einzelwahrnehmungen richtig eingeschätzt werden kann. Das kommt sehr schön in einer Stellungnahme des Mondastronauten Aldrin zum Ausdruck, die dieser 1999 anlässlich des 30. Jahrestages der Mondlandung in einem Fernsehinterview abgegeben hat: Als wir auf die Erde zurückkamen und die Aufnahmen von den Ereignissen sahen, erkannten wir, dass wir das ganze Ereignis eigentlich verpasst hatten.
2
U. Erkenbrecht, Divertimenti, 1999, S. 148.
I Der Perspektivitätsbegriff Es ist offensichtlich, dass der Begriff Perspektivität genetisch auf den Begriff Perspektive zurückgeführt werden muss und dass dieser seine Heimat im Bereich von visuellen Wahrnehmungsprozessen hat. Ebenso offensichtlich ist aber auch, dass der Begriff Perspektive heute zu einem Basisbegriff aller Geisteswissenschaften geworden ist bzw. aller Redeweisen, die sich mit der Struktur von Sinnbildungen beschäftigen. Wortgeschichtlich geht der Terminus Perspektive auf das lateinische Verb perspicere zurück, das soviel bedeutet wie genau sehen oder gewiss wahrnehmen. Dementsprechend wurde bis zur Renaissance perspektiva als Lehre vom richtigen und genauen Sehen verstanden bzw. als Übersetzung des griechischen Terminus optike techne. Dürer hat dann im Kontext seiner Studien zur Konstruktion von zentralperspektivischen Darstellungsweisen eine Bedeutungsversion in Umlauf gesetzt, die dem Terminus die morphologisch durchaus nahe liegende Bedeutung Durchsehung zuordnet und auch verständlich macht, warum die Erkenntnistheorie gerne die Metapher des Durchblicks verwendet: „Item prospectiva ist ein lateinisch wort, pedewt ein durchsehung"? Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang dann auch, dass im 17. Jahrhundert das Fernrohr als Instrument konzentrierten Sehens als Perspektiv bezeichnet worden ist. Natürlich steht es uns frei, die metaphorische Dynamik des Perspektivebegriffs dadurch zu bändigen, dass wir ihn nach Inhalt und Umfang normativ definieren bzw. auf seinen ursprünglichen Anwendungsbereich in der Malerei einschränken. Das könnte beispielsweise dadurch geschehen, dass wir ihn ausschließlich im Sinne der Zentralperspektive in der Malerei verstehen. Bei einer solchen Normierung des Perspektivebegriffs würden wir uns aber nicht nur über den allgemeinen Sprachgebrauch hinwegsetzen, sondern ihm auch seine erkenntnistheoretische und anthropologische Relevanz nehmen bzw. seine fundierende Leistung für die umfassende Entfaltung des Begriffs Perspektivität. Obwohl die Herkunft des Perspektivebegriffs aus dem Bereich der visuellen Wahrnehmung bzw. aus der Welt des Auges und der Raumorientierung immer noch ganz offenkundig ist, ist seine metaphorische Ausweitung auf geistige Wahrnehmungsprozesse aller Art doch von einer so großen Plausibilität und suggestiven Überzeugungskraft, dass schon wieder Vorsicht geboten 3
H. Ruppich (Hrsg.), Dürer, Schriftlicher Nachlass, Bd. 2, 1966, S. 373.
Der Perspektivitätsbegriff
7
scheint. Selbst wenn wir mit Bühler den Menschen als „Sehtier"4 bestimmen, muss man sich doch davor hüten, visuelle Wahrnehmungsformen allzu schnell mit anderen zu analogisieren oder gar gleichzusetzen, um nicht in die berühmte Nacht zu geraten, in der alle Katzen grau sind und alle Wahrnehmungsformen demselben Muster zugeordnet werden. Einen Schutz vor vorschnellen Pauschalisierungen einerseits und atomisierenden Einzelbetrachtungen andererseits erreicht man nur, wenn man die spezifische Ausprägung des Phänomens Perspektive und Perspektivität in visuellen Wahrnehmungs- und Objektivierungsprozessen herauszuarbeiten versucht, ohne zu vergessen, dass die Struktur dieser Prozesse aus gutem Grunde auch als Exempel für die Struktur von kognitiven und sprachlichen Wahrnehmungs- und Objektivierungsprozessen angesehen werden kann. Bei der Strukturanalyse von solchen Prozessen ist es wichtig zu berücksichtigen, dass in ihnen historisch entwickelte und sozial stabilisierte Wahrnehmungs- und Objektivierungsmuster eine wichtige Rolle spielen. Diese Muster repräsentieren sich in der Nutzung konventionalisierter Zeichen und Zeichensysteme bzw. in Stiltraditionen. Erkenntnistheoretisch gesehen gehören diese Strukturierungsmittel für Vorstellungsinhalte zu den konstitutiven Bestandteilen von wahrgenommenen Sinninhalten, obwohl sie im Rahmen unseres spontanen Gegenstandsbewusstseins nicht im Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit liegen, sondern uns erst im Rahmen eines nachträglichen Reflexionsbewusstseins fassbar werden. Diese Muster sind als Kulturprodukte zu werten, denen immer schon eine ganz bestimmte kognitive Intentionalität eigen ist, deren prägende Kraft für die Konkretisierung von Wahrnehmungsinhalten sich gut mit Hilfe der Kategorie Perspektivität beschreiben lässt. Das besondere Interesse gilt hier der immanenten kognitiven Perspektivität solcher Muster, insbesondere derjenigen von sprachlichen Mustern. Es soll danach gefragt werden, wie diese Muster unsere Wahrnehmungsvorgänge über Wahrnehmungstraditionen vorstrukturieren bzw. wie sie festlegen, was an den jeweiligen Wahrnehmungsgegenständen in den Blickwinkel unserer Aufmerksamkeit gerät und was nicht. Anders ausgedrückt: Es wird von der Hypothese ausgegangen, dass kulturelle bzw. sprachliche Wahrnehmungs- und Objektivierungsmuster gleichsam kognitive Lichtquellen in sich tragen, die bestimmte Aspekte der jeweiligen Wahrnehmungsgegenstände sehr gut sichtbar machen und andere wiederum abschatten. Wenn man in dieser Weise die Begriffe Perspektive und Perspektivität als Erkenntniskategorien thematisiert, dann liegt es nahe, beide Begriffe mit dem Konzept der symbolischen Formen von Cassirer in Zusammenhang zu bringen. Dieser hat die symbolischen Formen, zu denen er in erster Linie Sprache, Mythos, Kunst, Religion und Wissenschaft rechnet, als umfassende Stile der Weltinterpretation und der Wirklichkeitsaneignung bestimmt, insofern „jede 4
K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. 127.
8
Der Problemzusammenhang
von ihnen eine besondere Art des Sehens ist und eine besondere, nur ihr eigene Lichtquelle in sich birgt. "5 Zwar muss man einräumen, dass die Begriffe Perspektive und Perspektivität nicht auf derselben Abstraktionsebene liegen wie die Begriffe Sprache, Mythos, Kunst, Religion und Wissenschaft, weil jede symbolische Form natürlich als komplexes sinnbildendes Muster eine ihr immanente Sichtweise bzw. Perspektivität hat, durch die sie sich als solche erst konstituiert. Gleichwohl ist die Idee der symbolischen Form aber nicht unerheblich für den Perspektivitätsgedanken. Entweder kann man das Phänomen Perspektivität als Grundstruktur aller symbolischen Formen ansehen oder man kann die verschiedenen Ausprägungsformen von Perspektivität in untergeordneten kulturellen Mustern als untergeordnete symbolische Formen ansehen. So hat beispielsweise Panofsky insbesondere die Zentralperspektive in der Malerei der Renaissance als symbolische Form gewertet.6 Dabei hat er besonderen Wert darauf gelegt, den Terminus Zentralperspektive nicht als eine künstlerische Wertbezeichnung zu verstehen, sondern vielmehr als Bezeichnung für einen besonderen Stil der Weltwahrnehmung und der Weltrepräsentation, was noch näher zu würdigen ist. Sofern man in dem bisher entwickelten Sinne das Phänomen Perspektivität als eine grundlegende Vorbedingung jeglicher Welterfassung und Weltrepräsentation ansieht, verbietet es sich von selbst, die Begriffe Perspektivität und Perspektive auf den Bereich der Optik zu beschränken, in dem sie ursprünglich beheimatet sind. Es ergibt sich die Chance, den Perspektivitätsbegriff zu einem anthropologischen Grundbegriff auszuarbeiten, mit dem man auf fruchtbare Weise eine Universalie menschlichen Wahrnehmens und Objektivierens auf allen Ebenen thematisieren kann. Methodisch ergibt sich aus dieser Einsicht in die Universalität des Perspektivitätsbegriffs für das konkrete Untersuchungsverfahren dreierlei. Erstens empfiehlt es sich, genetisch vorzugehen und zuerst den ursprünglichen Anwendungsbereich des Perspektivitätsbegriffs in der visuellen Raumwahrnehmung bzw. bei der Gestaltung des Raumes in Bildern aufzuklären, bevor man die Funktion des Perspektivitätsbegriffs bei der Strukturierung kognitiver Räume analysiert. Zweitens empfiehlt es sich, die verschiedenen Anwendungsbereiche des Perspektivitätsbegriffs phänomenologisch so genau wie möglich zu beschreiben, um über kontrastive Vergleiche die typischen Ausprägungsmöglichkeiten dieses Begriffs herauszuarbeiten. Drittens empfiehlt es sich, hermeneutisch vorzugehen und sowohl den Weg vom Allgemeinen zum Speziellen zu wählen als auch umgekehrt den Weg von Detailbeobachtungen zu umfassenden Hypothesen, da die Perspektivitätsproblematik wegen ihrer Omnipräsenz eher in zirkulären als in linearen Untersuchungsverfahren zu bewältigen ist. 5 6
E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 19765, S. 81-82. E. Panofsky, Perspektive als „symbolische Form", 1927.
Der Perspektivitätsbegriff
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Wenn man die Kategorie Perspektivität als eine apriorische Grundgegebenheit menschlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten ansieht, dann lässt sich diese durch die Subkategorien Aspekt, Sehepunkt und Perspektive näher erläutern. Mit Hilfe dieser drei Begriffe lässt sich nicht nur gut beschreiben, welche historischen und kulturellen Ausprägungsformen das Phänomen Perspektivität gefunden hat, sondern auch, wie mit Hilfe dieses Phänomens die Verschränkung von Objektsphäre und Subjektsphäre näher erfasst und beschrieben werden kann, die für jede Form von Erkenntnistheorie eine zentrale Rolle spielt. Der Begriff Aspekt ist genuin objektorientiert. Er dient dazu, die menschliche Grunderfahrung zu thematisieren, dass wir in keinem visuellen und keinem kognitiven Wahrnehmungsprozess unsere Wahrnehmungsgegenstände bzw. Referenzobjekte in ihrer ganzen Totalität erfassen können, sondern allenfalls hinsichtlich derjenigen Teilansichten, die die aktuellen Wahrnehmungsbedingungen jeweils zulassen. Die Aspektwahrnehmung von Gegenständen darf deshalb weder als zufälliges noch als besonders beklagenswertes Strukturmerkmal unserer Wahrnehmungsprozesse diffamiert werden, sondern muss vielmehr als konstitutives Merkmal menschlichen Wahrnehmens akzeptiert werden, das dieses erst zu dem macht, was es sein kann. Es wäre illusionär, wenn man für menschliche Wahrnehmungsprozesse einen Totalitätsanspruch stellte. Mit keiner methodischen Raffinesse wäre ein solches Postulat einzulösen. Allerdings ist nun auch zu betonen, dass die Unaufhebbarkeit der aspektuellen Wahrnehmung kein statisches, sondern ein dynamisches Strukturproblem ist. Jede aspektuelle Wahrnehmung verweist immanent auf andere und jede kann durch andere wieder aufgehoben bzw. ergänzt werden. Diese Dynamik ergibt sich aber nur dann, wenn es ein Bewusstsein von der Aspektwahrnehmung gibt und wenn diese nicht schon naiv als Wesenswahrnehmung verstanden wird. Die bewusste Einsicht in die Aspektualität unserer Wahrnehmungen erzeugt zugleich die Einsicht in die Notwendigkeit, unsere Wahmehmungsprämissen zu ändern, um durch eine Eigenbewegung ein umfassenderes Wissen von unseren Wahrnehmungsgegenständen zu erlangen. Der Begriff Sehepunkt7 bzw. die Varianten Standort, Gesichtspunkt oder Blickpunkt sind subjektorientiert. Mit ihm soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass Objekte sich nicht von selbst zur Erscheinung bringen, sondern immer von Subjekten von einer bestimmten räumlichen und geistigen Position aus bzw. mit Hilfe einer besonderen methodischen Anstrengung wahrgenommen werden. Ein Wahrnehmungsgegenstand konstituiert sich als Wahrnehmungsinhalt immer nur durch intentionale Akte. Das bedeutet, dass bei der Konstitution von Wahrnehmungsinhalten es nicht nur einen Informationsfluss vonseiten der Wahrnehmungsobjekte gibt, sondern auch einen Informationsfluss vonseiten der Wahrnehmungssubjekte. Deren Sehepunkte präjudizieren 7
Den Terminus Sehepunkt übernehme ich von Chladenius, der ihn schon im 18. Jahrhundert in seinen Überlegungen zur Theorie der Historiografie sehr gut ausgearbeitet hat, worauf noch näher im Kap. C IV 8 eingegangen wird.
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Der Problemzusammenhang
nämlich, welche potenziellen Aspekte des jeweiligen Wahrnehmungsgegenstandes überhaupt erfahrbar werden bzw. in welcher Schärfe und Detaildifferenzierung diese in Erscheinung treten können. Gerade mit Hilfe des Begriffs Sehepunkt lässt sich verdeutlichen, dass es keine Wahrnehmungsinhalte ohne Wahrnehmungssubjekte gibt und dass in jeder Wahrnehmung der Wahrnehmende irgendwie mitenthalten ist oder zumindest auf diesen verwiesen wird. Jede räumliche und geistige Bewegung des Wahrnehmungssubjektes erschließt andere Aspekte des jeweiligen Wahrnehmungsobjektes bzw. konstituiert andere konkrete Wahrnehmungsinhalte. Der Begriff Perspektive ist strukturorientiert. Mit ihm lässt sich darauf aufmerksam machen, dass alle Wahrnehmungsinhalte eine relationale, wenn nicht interaktive Genese haben und folglich weder von der Objektseite noch von der Subjektseite her befriedigend beschrieben werden können, sondern nur aus dem Zusammenwirken beider. Perspektiven lassen sich deshalb als die Weisen bestimmen, in denen Subjekte in die Welt hineingleiten und Kontakt zu ihren Wahrnehmungsgegenständen bekommen. Die Ausbildungen von Perspektiven sind als Bemühungen von Subjekten zu verstehen, Sehepunkte zu finden, von denen aus Objekte als aspektuell konturierte Objekte konkret zur Erscheinung kommen. Perspektivierungsprozesse sind deshalb die Grundlagen von Erkenntnisprozessen. Wenn man diese Differenzierung akzeptiert, dann lässt sich der Begriff Perspektivität strukturell etwas genauer als ein Ordnungsbegriff bestimmen, mit dessen Hilfe das Zusammenspiel von Objektsphäre und Subjektsphäre bei der Ausbildung von Vorstellungsinhalten beschrieben werden kann bzw. der Stellenwert und die operative Interdependenz der Phänomene Aspekt, Sehepunkt und Perspektive. Nachdrücklich hat Rombach im Rahmen eines phänomenologischen Erkenntnisinteresses betont, dass es zu der Natur der menschlichen Wahrnehmungswelt gehöre, in Perspektiven zu erscheinen, nämlich in Raumperspektiven, Zeitperspektiven, Geräuschperspektiven, Geschmacksperspektiven usw. Er kommt deshalb zu dem auch hier voll akzeptierten Schluss: „Perspektivität ist der,Realismus' der Wahrnehmung. "8 Die Einsicht, dass die Wahrnehmung von Gegenständen nicht im Sinne eines naiven Realismus allein vom Objekt her zu beschreiben ist, sondern auch die Subjektseite und damit auch die jeweiligen Wahrnehmungsbedingungen zu berücksichtigen hat, ist natürlich nicht neu und für Erkenntnistheoretiker sicher trivial. Allerdings ist auch festzustellen, dass wir in unseren alltäglichen Wahrnehmungsprozessen immer wieder in einen naiven Widerspiegelungsrealismus zurückfallen, der sich der Perspektivitätsproblematik nicht bewusst ist, und dass wir die Implikationen dieser Problematik noch keineswegs ganz überschauen können.
H. Rombach, Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins, 1980, S. 187.
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Kant hat uns mit seiner Vernunftkritik eindrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Erkenntnisinhalte sich nicht auf die Dinge an sich, sondern auf deren Erscheinungen beziehen. Cassirer hat uns mit seinem Konzept der symbolischen Formen nachdrücklich darauf verwiesen, dass das AprioriProblem nicht nur auf die Struktur der Vernunft zu beziehen ist, sondern auf die kulturellen Objektivationsformen von Welt auszudehnen ist. Hier soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Kategorie Perspektivität eine apriorische Grundbedingung aller Wahrnehmung darstellt, die sowohl in der Struktur des menschlichen Wahrnehmungsvermögens verankert ist als auch in den kulturellen Repräsentationsformen für unsere Welterfahrungen. Damit wird Perspektivität als eine, wenn nicht als die grundlegende semiotische Kategorie bestimmt, die alle kulturellen Zeichenbildungen prägt. Sie verdeutlicht, dass in jeder Wahrnehmung der Wahrnehmende mit dem Wahrgenommenen in unaufhebbarer Weise verstrickt ist und dass in jeder Zeichenbildung Objektwelt und Subjektwelt in unauflösbarer Weise ineinander verschränkt sind. Dieser Umstand rechtfertigt es, die Perspektivitätsproblematik in der Sprache näher zu untersuchen, weil die Sprache wohl das wichtigste der vom Menschen entwickelten Zeichensysteme darstellt.
II Sehsinn und Perspektivität Da der Perspektivitätsbegriff seine genetische Heimat in den Strukturverhältnissen des Sehsinns hat, ist es angebracht, die Grundstruktur von Sehvorgängen zu analysieren, bevor man den Perspektivitätsbegriff auch auf das Feld der Kognition bzw. der Zeichen bezieht. Von der phänomenologischen Analyse des Sehsinns aus erschließt sich dann auch leichter die kognitive Leistung der Raummetaphern, die sich inzwischen für die Beschreibung geistiger Phänomene und Prozesse eingebürgert haben (Sehepunkt, Hinsicht, Einstellung, Orientierung, Erfahrung, Annäherung, Sprung, zuwenden, Stellung nehmen, hintergründig, durchsichtig, oberflächlich usw.). Seit alters her hat man den Sehsinn prototypisch als Modellfall angesehen, um das Phänomen Wahrnehmung bzw. Erkenntnis in seinen sinnlichen und geistigen Dimensionen zu erfassen. Immer haben die Augen als besonders verlässliche und umfassende Sinnesorgane für den Kontakt mit der Realität gegolten, während man dem Hörsinn, dem Tastsinn, dem Geschmackssinn und dem Riechsinn vergleichsweise eingeschränkte Funktionsmöglichkeiten zugeordnet hat. Die herausgehobene Stellung des Sehsinns hat aber möglicherweise weniger mit dem Glauben zu tun, dass uns dieser in höherem Maße als andere
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Der Problemzusammenhang
Sinne vor Täuschungen schützen könne, als mit dem Umstand, dass sich die Struktur von Sehvorgängen besonders gut mit der Struktur von kognitiven Vorgängen analogisieren lässt. Seit der Antike ist deshalb das Sehen bzw. das Wahrnehmen zu einer Leitmetapher für das Denken bzw. das Theoretisieren geworden. Der Grund dafür liegt darin, dass uns der Sehsinn nicht so unmittelbar wie die anderen Sinne in die Welt der Objekte verwickelt. Er ermöglicht uns eine größere räumliche Distanz zu den Dingen, die zugleich auch eine umfassendere Wahrnehmung von ihnen gewährleistet bzw. eine Wahrnehmung auf unterschiedlichen Distanz- und Abstraktionsstufen. Nicht zufällig spielt auch die Licht- und Durchblicksmetaphorik eine große Rolle für die Kennzeichnung kognitiver Phänomene {Licht der Vernunft, Klarheit des Denkens, Aufklärung usw.). Hans Jonas spricht deshalb in seiner luziden Analyse der Sinne sogar vom „Adel des Sehsinns" („nobility of sight")? Während der Geschmackssinn und der Riechsinn kaum dazu einladen, sinnliche Erfahrungen metaphorisch auf geistige zu übertragen, steht der Sehsinn diesbezüglich mit dem Tastsinn und dem Hörsinn in einer gewissen Konkurrenz. Diese hat allerdings die Dominanz der Sehmetaphorik für die Erschließung geistiger Phänomene eher gestärkt als geschwächt, weil diese beiden Sinne eine Kontrastfolie gebildet haben, vor der sich die Leistungen des Sehsinns besonders gut profilieren konnten. Der Tastsinn vermittelt ähnlich wie der Sehsinn eine Raumerfahrung, aus der eine Reihe von Metaphern abgeleitet worden sind, die für die sprachliche Bewältigung der geistigen Welt inzwischen unverzichtbar geworden sind (Begriff, ergreifen, erfassen, berühren, entwickeln, glatt, grob usw.). Typisch für den Tastsinn ist, dass er sequenziell organisiert ist und dass er damit auch in sehr hohem Maße dem Fluss der Zeit unterworfen ist. Dieser Umstand verhindert aber nun eine ganzheitliche simultane Erfahrung der jeweiligen Wahrnehmungsgegenstände, die wiederum für den Sehsinn typisch ist. Erst nachträglich können die Einzelwahrnehmungen des Tastsinns integrativ zu einer Gesamtvorstellung verbunden werden. Für ihn ist außerdem bedeutsam, dass er unmittelbar mit körperlichen Aktivitäten gekoppelt ist, in denen die Widerständigkeit der jeweiligen Wahrnehmungsobjekte erfahrbar ist. Das schließt eine distanzierte Kontemplationshaltung aus. Der Tastsinn hat zwar einen unmittelbaren Realitätskontakt, aber die durch ihn erfassten Informationen müssen aus dem Sehsinn und dem Gedächtnis ergänzt werden, um zu komplexen Wahrnehmungsgestalten führen zu können. Der Hörsinn ist ähnlich wie der Tastsinn im hohen Maße dem Gesetz der Sukzessivität und damit auch dem des Zeitflusses unterworfen. Er ist aber im Gegensatz zum Tastsinn ähnlich wie der Sehsinn ziemlich passiv. Er kann durch die schwache Eigenaktivität seiner Wahrnehmungsorgane nicht neue Erfahrungen provozieren, sondern kann nur registrieren, was an Reizen auf ihn 9
H. Jonas, The phenomenon of life, 1982, S. 135.
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einströmt. Hörereignisse müssen von den Subjekten so hingenommen werden, wie sie anfallen. Sie lassen sich nicht so selektieren und fokussieren wie Tastund Sehereignisse. Die Ohren kann man nicht so schließen oder bewegen wie die Augen und sie können an ihren Wahrnehmungsgegenständen auch nicht so entlang gleiten wie die Hände. Das Hören ist primär auf das Werden bezogen, also auf das Erfassen von Verlaufsgestalten, während der Sehsinn primär auf das Sein bezogen ist, also auf die Erfassung von Simultangestalten, was allerdings die Wahrnehmung von Verlaufsgestalten nicht ausschließt. Hörereignisse integrieren die Subjekte ganz in eine Hörwelt, während Sehereignisse die Subjekte sehr viel stärker von ihren Objekten distanzieren und insofern auch eine kontemplative Grundhaltung ihnen gegenüber ermöglichen. Während der Hörsinn auf das Zusammenfließen von Einzelelementen aus ist, hat der Sehsinn eine immanente Tendenz, Einzelelemente im Rahmen von Gesamteindrücken voneinander zu unterscheiden. Die natürliche Passivität des Menschen beim Hören ist wohl auch der Grund dafür, dass in der Sprache die Bezeichnungen für passive Dispositionen und Verhaltensweisen sehr oft von dem Verb hören abgeleitet worden sind {Gehorsam, gehorchen, gehören, hörig usw.). Jakob Grimm hat die Differenz zwischen dem Sehsinn und dem Hörsinn so formuliert: „Das auge ist ein herr, das ohr ein knecht, jenes schaut um, wohin es will, dieses nimmt auf was ihm zugefiihrt wird. " 10 Angesichts dieser Implikationen des Hörsinns und des Sehsinns ist vielleicht auch verständlich, dass die frühe jüdische Kultur sehr stark auf den Hörsinn bezogen war und die griechische auf den Sehsinn. Im Judentum gehört die Sphäre des Göttlichen nicht zuletzt wegen des Verbotes der bildlichen Darstellung Gottes und der Handlungsgebote der Bibel in die Sphäre des Hörens und nicht des Sehens. Gott ist im Judentum eine Größe, dessen Ruf zu befolgen ist, und keine Instanz, von der man sich visuelle Vorstellungen machen darf und die man damit auch in die Reihe anderer Sehobjekte einreihen kann. Seit der griechischen Antike hat der Sehsinn aus strukturellen und pragmatischen Gründen eine besondere Vorrangstellung eingenommen. Die Welt des Sehens ist zum Bildspender für die sprachliche Objektivierung und Strukturierung mentaler Prozesse geworden. Nicht zufällig stammen ja auch die Begriffe Aspekt, Sehepunkt und Perspektive aus der Sphäre des Sehsinnes. Schon die Vorsokratiker haben die Augen als besondere Erkenntnisorgane gewürdigt. Empedokles hat darüber spekuliert, ob die Augen ein inneres Licht hätten, mit dem die Gegenstandswelt sichtbar gemacht werden könne. Demokrit und Leukipp sahen die Augen dagegen eher als passive Rezeptionsorgane an, in die kleine Bilder von Dingen eindringen könnten, die sich von den Originalen gelöst hätten. Auf diese Weise könnte die Seele unmittelbar Kontakt zu der
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J. Grimm, Rede auf Wilhelm Grimm. Rede über das Alter, 1963, S. 58.
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Dingwelt bekommen.11 Auch Piaton hat mehrfach über den Sehsinn spekuliert und Sehevorgänge mit Erkenntnisvorgängen analogisiert12 Goethe hat den Gesichtssinn als den edelsten Sinn bezeichnet, weil er unter den Sinnen dem Geist am nächsten stehe. „Das Gesicht aber steht unendlich höher, verfeint sich über die Materie und nähert sich den Fähigkeiten des Geistes. " 13 Schopenhauer hat betont, dass Töne störend auf den Geist einwirkten: „Sie zerreißen alle Gedanken, zerrütten momentan die Denkkraft. Hingegen gibt es keine analoge Störung durch das Auge, keine unmittelbare Einwirkung des Gesehenen, ALS SOLCHEN, auf die denkende Thätigkeit..., sondern die bunteste Mannigfaltigkeit von Dingen, vor unseren Augen, läßt ein ganz ungehindertes, ruhiges Denken zu. Demzufolge lebt der denkende Geist mit dem Auge in ewigem Frieden, mit dem Ohr in ewigem Krieg. "u Diese sehr positive Qualifizierung des Sehsinns durch Goethe und Schopenhauer gründet sich auf die Überzeugung, dass er den Wahrnehmungssubjekten die größtmögliche Freiheit von den Wahrnehmungsobjekten gebe, die zugleich auch als die größtmögliche Interpretationsfreiheit zu werten sei. Das ist sicher richtig. Nur sollte darüber nicht vergessen werden, dass auch der Sehsinn bestimmten Strukturierungszwängen unterliegt, die mit der Kategorie Perspektivität ganz gut thematisiert werden können. Diese Strukturierungszwänge gelten weitgehend auch für die Welt der geistigen bzw. der zeichengebundenen Wahrnehmungen. Hans Jonas hat der Sehwahrnehmung deshalb phänomenologisch drei Grundcharakteristika zugeordnet, über die sich auch gut verdeutlichen lässt, warum diese Wahrnehmungsform dazu prädestiniert ist, als Veranschaulichungsmodell für kognitive Wahrnehmungsprozesse zu dienen. Es handelt sich dabei um die ineinander verschränkten Merkmale Simultaneität, Neutralität und Distanz}5 Diesen kann außerdem noch das Merkmal Intentionaliät hinzugefügt werden. Das Merkmal Simultaneität zeichnet den Sehsinn insbesondere gegenüber dem Hör- und Tastsinn aus, weil dadurch ermöglicht wird, eine Mannigfaltigkeit von Elementen, Qualitäten und Relationen mehr oder weniger zugleich wahrzunehmen bzw. sehr komplexe Vorstellungsbilder zu entwerfen. Dadurch gewinnt der Sehraum eine sehr differenzierte Tiefenstaffelung. Eine vergleichbare Simultaneitäts- und Raumerfahrung gibt es beim Hör- und Tastsinn nicht, weil hier sukzessive Wahrnehmungen gemacht werden, die erst durch nachträgliche Imaginationen zu komplexen Wahrnehmungsgestalten verschmelzen. Der Sehsinn erleichtert deshalb auch eine betrachtende Grundeinstellung zu den jeweiligen Wahrnehmungsgegenständen. Daraus resultiert dann auch eine besondere Nähe des Sehsinns zur Philosophie, weil insbesondere die klassi-
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Piaton, timaios, 45bff., 67cff., Theaitetos 156dff.; Menon 76dff.; Politeia 507cff., 514sff. J. W. v. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 8, S. 480. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Werke, 1988, Bd. 2, S. 41. H. Jonas, The phenomenon of life, 1982, S. 136fif.
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sehe Philosophie der Antike nicht das zeitunterworfene Werden, sondern das zeitenthobene Sein zu ihrem zentralen Thema gemacht hat. Das simultane Sehen suggeriert sehr viel stärker als das sukzessive Hören und Tasten die Vorstellung von der Beständigkeit von Wahrnehmungsgegenständen und weckt eben dadurch wohl auch das Bedürfnis nach vergegenständlichenden statischen Begriffen mit zeitenthobener Gültigkeit. In der neuzeitlichen Philosophie ist das Ideal eines kontemplativen ganzheitlichen Erkennens allerdings nachhaltig relativiert worden und damit auch die generelle Vorbildlichkeit des Sehsinns für die Modellierung von Erkenntnisvorgängen. In ihr ist immer wieder betont worden, dass der Mensch seine Wahrnehmungsobjekte eher in Handlungs- als in Kontemplationsprozessen kennen lerne und dass das Ideal eines kontemplativen Gegenstandswissens zu Gunsten eines operativen Handlungswissens aufzugeben sei. Gleichwohl lässt sich aber darauf verweisen, dass auch im Rahmen des Sehsinns Wahrnehmungsinhalte eine dynamische Struktur bekommen können. Mit seiner Hilfe kann nicht nur die Eigenbewegung von Objekten registriert werden, sondern auch die Eigenbewegung der Subjekte zur Ausweitung von Objekterfahrungen. Dabei ist nicht nur an eine räumliche Veränderung des jeweiligen Sehepunktes zu denken, der neue Wahrnehmungsperspektiven eröffnet, sondern auch an den Einsatz von wahrnehmungserweiternden Hilfsmitteln wie etwa das Fernrohr oder das Mikroskop. Das Merkmal Neutralität ordnet Jonas dem Sehsinn zu, weil dieser es dem Subjekt in höherem Maße als alle anderen Sinne ermöglicht, sich dem direkten Sinnbildungseinfluss der Wahrnehmungsobjekte zu entziehen. Da hier die direkte Verknüpfung zwischen der Objekt- und der Subjektsphäre vergleichsweise reduziert ist, hat das Subjekt eine vergrößerte Chance, eine theoretische bzw. interpretierende Einstellung zur Objektwelt zu entwickeln. Die hohe Neutralität der Relationen zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre fördert die isolierende Imagination von Objekten, was wiederum die Klassenbildung bzw. die begriffliche Ordnung und sprachliche Benennung von Objekten erleichtert. Beim Sehen lässt sich der Widerstand und die Eigenpotenz der Wahrnehmungsobjekte durch theoretische Generalisierungen und Differenzierungen leichter brechen als beim Hören, Tasten, Riechen und Schmecken. Außerdem können die Subjekte beim Sehen auch sehr viel leichter als bei allen anderen Wahrnehmungsformen die Vorstellung aufrecht erhalten, dass sie die Objektwelt beherrschen, denn die Tücke des Objekts zeigt sich eher im praktischen Handeln als im kontemplativen Wahrnehmen und Theoretisieren. Das Merkmal Distanz kann als Grundlage der Merkmale Simultaneität und Neutralität angesehen werden, weil erst die Erfahrung der Distanz die Chance bietet, die Subjektsphäre vor dem unmittelbaren Einfluss der Objektsphäre zu schützen und beide Sphären klar voneinander zu trennen. Dadurch kann das Subjekt eine wirklich kontemplative Wahrnehmungshaltung entwickeln und ein theoretisches Gegenstandswissen erwerben, das auch als konzeptionelle
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Der Problemzusammenhang
Grundlage für die Einordnung von Informationen aus anderen Sinnesorganen dienen kann. Außerdem ermöglicht es die Distanzerfahrung beim Sehen, den Raum als potenzielles Objekt der Erfahrung wahrzunehmen und nicht nur als Behältnis für Dinge. Das Sehen lädt auch indirekt dazu ein, sich im Raum zu bewegen und Perspektiven zu variieren, um neue Raum- und Objekterfahrungen machen zu können. Wenn man nun als vierte Besonderheit des Sehsinns das Merkmal Intentionalität postuliert, dann wirkt das auf den ersten Blick sicher etwas verwunderlich, weil man dieses Merkmal in der Regel Handlungen bzw. psychischen Akten zuordnet, aber nicht Sinneswahrnehmungen, die eigentlich nur Außenreize zu registrieren und zu verarbeiten scheinen. Ein genauerer Blick zeigt dann aber, dass auch sinnliche Wahrnehmungen und insbesondere visuelle Wahrnehmungen eine spezifische Zielgerichtetheit haben bzw. eine intentionale Anspannung. Sie wollen etwas nicht nur passiv registrieren, sondern etwas als etwas wahrnehmen. Diese Intentionalität kann sich bei der visuellen Wahrnehmung darin dokumentieren, dass sich das Subjekt darum bemüht, bestimmte Reize in seinen Wahrnehmungsbereich zu bringen, indem es seinen Blickwinkel variiert, oder darin, dass es Reize nicht nur nach genetisch fixierten biologischen Mustern verarbeitet, sondern auch nach historisch entwickelten kulturellen Mustern. Ein spezifischer Wahrnehmungswille kann bestimmte Sinnesreize verstärken oder wegfiltern, so dass dieselben Gegenstände in Wahrnehmungsprozessen zur Objektivierung sehr verschiedener Wahrnehmungsgestalten führen können. Unterschiedliche Wissenspotenziale bedingen eine unterschiedliche Wahrnehmungsspannung und führen zu unterschiedlichen Formungsimpulsen bei der Verarbeitung von Reizen. Das dokumentiert sich beispielweise sehr schön an der Erfahrung eines Forschungsreisenden, der Eingeborenen Bilder zeigte und dann feststellen musste, dass deren Interesse sich nicht auf die Bilder richtete, sondern vielmehr auf das Papier, auf dem die Bilder fixiert waren, weil sie vorher noch nie Papier gesehen hatten. Bei der Klärung des Intentionalitätspotenzials des Sehsinns muss zuerst auf die Augen als Sehorgane eingegangen werden. Diese bieten durch ihre anatomische und physiologische Struktur eine besondere Chance, zielgerichtete Wahrnehmungen zu machen. Man kann die Augen öffnen und schließen, man kann ihren Blick auf bestimmte Punkte und Ebenen im Raum konzentrieren und dadurch festlegen, was Thema bzw. was Vordergrund und was Hintergrund einer bestimmten Wahrnehmungsgestalt sein soll. Die Augen haben zwar eine feste lokale Position im Körper, aber ihr Blick kann im Raum dennoch hin und her schweifen. Je nach den psychischen Dispositionen kann sich das Wahrnehmungsinteresse perspektivisch auf ganz unterschiedliche Tatbestände konzentrieren. Diese strukturellen Gegebenheiten ermöglichen es, visuelle Wahrnehmungsvorgänge mit kognitiven zu parallelisieren, die natürlich in einem noch höheren Maße durch das Phänomen Intentionalität geprägt sind, sei es durch eine bewusste methodische Intentionalität, sei es durch eine vor-
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bewusste psychische Intentionalität, die sich beispielsweise in bestimmten Wahrnehmungsdispositionen manifestiert. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Analogie zwischen der anatomisch-physiologischen Struktur des Auges als Werkzeug von visuellen Wahrnehmungsvorgängen und der begrifflich-funktionalen Struktur von Zeichen als Werkzeugen von kognitiven Objektivierungsvorgängen. In einem deutlichen Gegensatz zu der Empfindlichkeit eines Fotofilms ist die Empfindlichkeit der Augennetzhaut in Sehvorgängen dadurch charakterisiert, dass sie nicht auf Dauerreize anspricht, sondern auf Reizwechsel. Konstante Dauerreize fuhren zu einer Wahrnehmungsermüdung und im Extremfall sogar zu einem Wahrnehmungsausfall. Das bedeutet, dass im Prinzip eine Bewegung der Wahrnehmungsobjekte oder eine Eigenbewegung des Wahrnehmungssubjektes notwendig ist, um konkrete Wahrnehmungen machen zu können bzw. um einen Reizwechsel auf den Rezeptorzellen der Netzhaut zu gewährleisten. Aufschlussreich ist deshalb, dass der Evolutionsprozess des Augapfels nicht nur dazu geführt hat, dass sich dieser bewegen und seine Linse unterschiedlich einstellen kann, sondern auch, dass sich bei Säugetieren ein für diese selbst gar nicht wahrnehmbares physiologisches Augenzittern herausgebildet hat. Dieses stellt auch bei einem sehr starr fixierten Blick sicher, dass es auf den Rezeptorzellen zu einem Reizwechsel kommt und damit zu einem konstanten Seheindruck. Dieses unwillkürliche physiologische Augenzittern fehlt bei den Augen der Vögel, Reptilien und Frösche. Es wäre für diese auch gar nicht besonders lebenspraktisch, weil sich bei fliegenden Vögeln ohnehin ein ständiger Reizwechsel auf der Netzhaut einstellt und weil es für Schlangen und Frösche äußerst vorteilhaft ist, wenn sie in ruhender Lauerstellung nur sich bewegende Beuteobjekte sehen und keine unbeweglichen Gegenstände wie beispielsweise Steine, die konstante Reize auf die Netzhaut ausüben.16 Aus diesen Gegebenheiten lässt sich der Schluss ziehen, dass die visuelle Wahrnehmung evolutionär nicht dazu bestimmt ist, ein vollständiges Abbild der Objektwelt zu erzeugen, sondern vielmehr dazu, lebensrelevante Tatbestände zu erfassen, was im Prinzip auch als selektive bzw. perspektivische Wahrnehmung verstanden werden kann. Offenbar hat sich das physiologische Eigenzittern der Augen bei Säugetieren in Koevolution zur Ausdifferenzierung und Vermehrung der genetisch fixierten und der erworbenen Wahrnehmungsmuster entwickelt, die den Wahrnehmungsprozessen der Säugetiere ein vergleichsweise großes Ausmaß an intentionaler Wahrnehmungskonzentration ermöglichen und damit auch an Wahrnehmungsfreiheit. In diesem Zusammenhang lässt sich dann die These vertreten, dass die vom Menschen entwickelten kulturbedingten Wahrnehmungsmuster, die sich in Form von Zeichen und insbesondere in Form von sprachlichen Zeichen 16
Vgl. H. v. Ditfurth, Der Geist fiel nicht vom Himmel, 1976, S. 125ff.
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manifestiert haben, als Möglichkeiten zu betrachten sind, unsere Wahrnehmungsprozesse variantenreicher und intentional schärfer perspektiviert zu gestalten, weil sie als Manifestationsformen der Eigenbeweglichkeit bzw. der Perspektivierungsstrategie von Subjekten angesehen werden können. Vielleicht kann man über diese Feststellung hinaus auch noch die Auffassung vertreten, dass die semantische Vagheit von Zeichen der natürlichen Sprache im Prinzip eher eine erkenntnisfördernde als eine erkenntnishemmende Funktion hat, da man eine gewisse Analogie zum physiologischen Eigenzittern des Augapfels herstellen kann. Durch die semantische Vagheit der einzelnen Zeichen werden wir nämlich in sprachlichen Objektivierungs- und Verstehensprozessen immanent dazu gezwungen, diese Zeichen nicht als Muster mit einem starren Reizpotenzial zu verstehen, sondern vielmehr als Größen, die erst im Gebrauchszusammenhang ihre konkreten Objektivierungsfunktionen bzw. ihren sinnbildenden ,Reiz' bekommen. Dafür wären beispielsweise Metaphern sehr gute Beispiele. Bei der SehWahrnehmung wird wie bei kaum einer anderen Wahrnehmungsform die Bedeutsamkeit der jeweiligen Wahrnehmungsbedingungen akzentuiert. Der räumliche Sehepunkt, die Struktur des Wahrnehmungsorgans und die hintergründigen biologischen und kulturellen Wahrnehmungsmuster legen fest, was sichtbar werden kann und was nicht. Die Eigenbewegung des Wahrnehmungssubjekts im Rahmen dieser drei Faktoren führt zu sehr unterschiedlichen perspektivischen Erfassungen und Akzentuierungen der jeweiligen Gegenstandswelt. Die Veränderungen von Wahrnehmungsinhalten durch die Veränderung von Wahrnehmungsperspektiven zerstört nun aber keineswegs den Glauben an die Identität der Dinge. Es scheint sich vielmehr umgekehrt gerade dadurch das Bewusstsein zu verstärken, dass die Dinge in ihrem Kern mit sich selbst identisch bleiben, obwohl sich durch die Veränderung der jeweiligen Wahrnehmungsperspektiven ihre äußere Erscheinung und ihre Position im Raum ändert. Dadurch kann sich die Vorstellung entwickeln, dass man zwischen dem Ding an sich und seiner Erscheinung zu unterscheiden habe. Wahrnehmungsveränderungen werden intuitiv als Veränderungen der Wahrnehmungsperspektive interpretiert und nicht als Dingveränderungen. Die Bewegung des Wahrnehmungssubjektes im faktischen und kognitiven Raum wird als ein Verfahren der Wissenspräzisierung über dieselben Gegenstände verstanden und nicht als Eintritt in eine ganz andere Welt. Die Eigenbewegung des Subjekts bringt eine dynamische Komponente in den visuellen Wahrnehmungsprozess, der die kontemplative Schau nicht grundsätzlich in Frage stellt, sondern nur variiert. Die Analogie von visuellen und kognitiven Wahrnehmungen lässt sich besonders gut im Denkrahmen der traditionellen Substanzenontologie postulieren, die man vielleicht sogar als ein Kind der Sehmetaphorik ansehen kann. Sie gilt in etwas eingeschränkterer Form aber auch für den Denkrahmen der Funk-
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tionenontologie, die sich im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit herausgebildet hat.17 Im Rahmen der Substanzenontologie versteht sich das wahrnehmende Subjekt nicht als Konstruktivist und Sinnproduzent, sondern als Zuschauer. Das griechische Wort theoria bezeichnet aufschlussreicherweise ursprünglich so etwas wie die Schau des Göttlichen bei einem religiösen Fest bzw. die geistige Anschauung von etwas.18 Die Schau des Nicht-Alltäglichen und des qualitativ Höheren im sakralen Bereich war durchgängig kontemplativ geprägt, weil das Wahrnehmungsobjekt als eine Wahrnehmungsgröße verstanden wurde, vor der alle Eigenaktivität und alle Interpretationskraft des Wahrnehmungssubjektes nichtig wurde. Gleichwohl war mit dem Theoriebegriff aber auch immer das Reisemotiv verknüpft. Man musste sich aus der Alltagswelt lösen und sich in eine andere Position bringen, die dem jeweiligen Wahrnehmungsobjekt angemessen war. In der Schau konnte man sich dieses Objekt nicht unterwerfen, sondern war vielmehr ihm unterworfen. Verlässliches Wissen ergab sich nach diesem Modell nur, wenn man sich in die richtige Relation zu den jeweiligen Wahrnehmungsgegenständen gebracht hatte. Sowohl für die visuelle wie für die kognitive Wahrnehmung galt, dass das kontemplative Verhalten gegenüber den Dingen die adäquate Grundhaltung war, um Zugang zu dem Wesen dieser Dinge zu bekommen. Die Funktionenontologie bringt nun eine tiefgreifende metaphysische Umorientierung, insofern die Vorstellung aufgegeben wird, dass die Dinge hinter ihren vielfaltigen Aspekten einen festen Wesenskern haben bzw. dass hinter der variablen Erscheinungswelt eine stabile Ideenwelt liegt. Vielmehr wird nun die Vorstellung entwickelt, dass die Dinge keine festen Wesensmerkmale haben, die vorab festlegen, in welche Relationen sie eingebettet werden können, sondern dass umgekehrt die Einordnung in bestimmte Relationen die Dinge erst dazu bringen, bestimmte Charakteristika zu zeigen oder zu entwickeln. Damit verflüchtigt sich zugleich auch die Auffassung, dass eine intensive Kontemplation die adäquate Grundhaltung in Erkenntnisprozessen ist. Stattdessen entwickelt sich die Vorstellung, dass das hypothetische Denken und operative Handeln als eigentliche Quellen der Erkenntnis anzusehen sind. Das zeigt sich dann insbesondere in den Naturwissenschaften, in denen man versucht, der Natur durch Hypothesen und Experimente Wissen von gesetzlichen Zusammenhängen abzunötigen, das in der reinen Kontemplation nicht fassbar werden kann. Im funktionalistischen Denken büßt deshalb die Kontemplation als geistige Grundhaltung von Erkenntnisprozessen ihre Vorrangstellung ein. Der Perspektivitätsgedanke wird dadurch aber nun keineswegs grundsätzlich geschwächt, sondern im Gegenteil in gewisser Weise sogar gestärkt. Der Sehsinn 17 18
Vgl. H. Rombach, Substanz, System, Struktur, 2 Bde., 1965. H. Rausch, Theoria, 1982, S. 9ff., 34ff.
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kann im Kontext eines neu akzentuierten Perspektivitätsgedankens seinen Vorbildcharakter aufrechterhalten, weil nun die körperliche und geistige Eigenbewegung des Wahrnehmenden als methodische Raffinesse verstanden wird, Sehepunkte zu verschieben, um so auch diejenigen Aspekte von Phänomenen zu erschließen, die einer statisch-kontemplativen Wahrnehmungshaltung verschlossen waren. So ergibt sich beispielsweise durch die Mathematisierung der Naturwissenschaften eine Form von Naturerkenntnis, die einer rein kontemplativen Schau vorher überhaupt nicht zugänglich war. Der im funktionalistischen Denken gestärkte Methodengedanke fuhrt außerdem zu einem Systematisierungsdruck bei der Wissensrepräsentation. Wissensinhalte müssen in umfassende Wissenskonstellationen eingeordnet werden, weil sie relationsabhängig sind und nur im Hinblick auf bestimmte Voraussetzungen als gültig angesehen werden können. Damit wird der Perspektivitätsgedanke enorm gestärkt, der ja konsequent hervorhebt, dass Wissen als Strukturierung eines kognitiven Raumes von der jeweils gewählten Perspektive abhängig ist. Die Ordnungsstruktur eines kognitiven Raumes muss im Hinblick auf den jeweiligen Sehepunkt geordnet und gestaffelt werden, der sich aus den jeweiligen Denkprämissen, Erkenntnisinteressen, Methoden und objektivierenden Zeichen des Wahrnehmungssubjekts ergibt.
III Sprache und Perspektivität Das umgangssprachliche Verständnis des Terminus Sprache ist so vielschichtig und vage, dass es sinnvoll ist, sich zunächst einmal grob über die wesentlichen Dimensionen der menschlichen Verbalsprache zu verständigen, bevor man die Sprachproblematik mit der Perspektivitätsproblematik in Verbindung bringt. Seit Humboldt und de Saussure hat es sich aus heuristischen Gründen als brauchbar erwiesen, das Phänomen Sprache entweder unter der Leitvorstellung zu betrachten, dass sie als überindividuelles konventionalisiertes Zeichensystem allen konkreten Sprachverwendungen vorausliegt, oder unter der, dass sie ein Werkzeug ist, dessen konkrete kognitive und kommunikative Funktionen sich erst im aktuellen Sprachgebrauch im Rahmen recht allgemeiner Gebrauchskonventionen ergeben. Beide Leitvorstellungen sind nicht so sehr als alternative Grundaxiome der Sprachbetrachtung zu werten, sondern eher als unterschiedliche Sichtweisen auf Sprache, die sich methodisch nur dann rechtfertigen lassen, wenn man sie auf einer höheren Betrachtungsebene wieder ergänzend aufeinander bezieht.
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Humboldt hat betont, dass er sich dem Phänomen Sprache prinzipiell von den jeweiligen Sprechvorgängen als Sinnbildungsvorgängen nähern möchte bzw. von den konkreten Differenzierungs- und Mitteilungsfunktionen der jeweils verwendeten Sprachmittel. Die Vorstellung, dass die Sprache auch als überindividuelles Systemgebilde von Zeichen und Regeln zu betrachten sei, ist ihm nicht ganz fremd, aber sie erscheint ihm gleichwohl unfruchtbar zu sein. In unnachahmlicher Weise hat er seine Vorstellung von Sprache so präzisiert: „Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nun gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen."19 De Saussure hat demgegenüber die Auffassung vertreten, dass sich die Sprachwissenschaft im Prinzip nicht auf ein so dynamisches Sprachverständnis einlassen dürfe, weil sich bei dieser Betrachtungsweise ihr Gegenstandsbereich wegen der Vielfalt der zu berücksichtigenden Faktoren aufzulösen drohe. Er favorisiert deshalb eine Sprachvorstellung, die Sprache als ein sozial normiertes, überindividuelles System von Zeichen und Regeln ansieht, dem der einzelne Sprecher mehr oder weniger stark unterworfen ist. Die konkrete individuelle Sprachverwendung (parole) möchte er methodisch klar vom überindividuellen Sprachsystem (langue) unterschieden wissen. „Die Sprache ist nicht eine Funktion der sprechenden Person; sie ist das Produkt, welches das Individuum in passiver Weise einregistriert... "20 Der Perspektivitätsgedanke lässt sich mit beiden Grundvorstellungen von Sprache auf erhellende Weise in Verbindung bringen, wenn wir zwischen der kommunikativen und der kognitiven Perspektivität sprachlicher Formen unterscheiden. Von der kommunikativen Perspektivität können wir immer dann sprechen, wenn wir uns auf der Analyseebene der Sprachverwendung danach fragen, in welcher Wahrnehmungsperspektive konkrete Vorstellungsinhalte für einen Adressaten objektiviert werden. Wir interessieren uns dann für das konkrete Produkt eines sprachlichen Objektivierungs- und Sinnbildungsvorgangs. Wir wollen wissen, hinsichtlich welcher Aspekte ein Sachverhalt objektiviert wird und in welcher Konstellation einzelne Elemente thematisiert werden. Die Frage nach der kommunikativen Perspektivität sprachlicher Gebilde können wir auf der Ebene des Textes, des Satzes sowie der lexikalischen und grammatischen Grundformen stellen, sofern wir uns primär immer für die konkrete Sinngestalt interessieren, die ein Sprecher mit Hilfe sprachlicher Formen für sich und andere herzustellen versucht.
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W. V. Humboldt, Werke in 5 Bde., Bd. 3, 19633, S. 418. F. de Saussure, Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 1967 , S. 16.
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Der Problemzusammenhang
Ganz besonders klar tritt das Problem der kommunikativen Perspektivität in literarischen Texten mit einem explizit fassbaren Erzähler hervor. Dieser muss für seine Darstellung einen bestimmten zeitlichen, räumlichen und moralischen Sehepunkt einnehmen. Er kann in der Rückschau oder in der Mitschau, in der Innensicht oder in der Außensicht, in wertender oder in registrierender Weise erzählen. Er kann Ereignisse additiv gereiht oder korrelativ verknüpft objektivieren. Er kann eine begriffliche, narrative oder bildliche Darstellungsform bevorzugen. Er kann einen Sachverhalt in einem ganz bestimmten Vokabular bzw. mit Hilfe ganz bestimmter grammatischer Formmuster darstellen, um jeweils ganz spezifische Aspekte von ihm hervorzuheben. Beispielsweise fiele die Entscheidung eines Sprechers, einen Sachverhalt mit Hilfe von metaphorischer statt von begrifflicher Rede oder mit Hilfe von Passivformen statt von Aktivformen zu objektivieren, in den Bereich, der mit dem Terminus kommunikative Perspektivität thematisiert werden soll. Von der kognitiven Perspektivität sprachlicher Formen können wir dagegen immer dann sprechen, wenn sich unser Analyseinteresse nicht gegenstandsthematisch auf die Gestaltung konkreter Sachvorstellungen richtet, sondern reflexionsthematisch auf die konventionalisierte immanente Perspektivität der sprachlichen Muster, mit denen wir konkrete Vorstellungen objektivieren. Die Frage nach der kognitiven Perspektivität sprachlicher Formen zielt also auf die Struktur des kollektiven Wissens, das sich in sprachlichen Mustern verfestigt hat und das die kommunikativen Perspektivierungsmöglichkeiten dieser Muster vordeterminiert. Der Weg von der kommunikativen zur kognitiven Perspektivität einer sprachlichen Form lässt sich am Beispiel von Metaphern gut demonstrieren. Eine spontan neu geprägte Metapher will uns einen Sachverhalt in einer ganz bestimmten Perspektive hinsichtlich ganz bestimmter Aspekte vor Augen führen. Wenn diese Metapher zu einem konventionalisierten Sprachmuster wird, dann verändert sich die neuartige Sichtweise zu einer konventionellen. Die ursprünglich individuelle kommunikative Perspektivität dieser Metapher transformiert sich zu einer allgemeinen kognitiven Perspektivität. Der Übergang der kommunikativen Perspektivität zur kognitiven Perspektivität einer sprachlichen Form ist eine Erscheinungsweise der kulturellen Traditionsbildung. Spätere Sprecher können auf die Perspektivierungsanstrengungen früherer Sprecher zurückgreifen und diese für ihre aktuellen sprachlichen Objektivierungsanstrengungen übernehmen oder variieren. Das bedeutet, dass in allen sprachlichen Formen und Mustern schon konventionelle Sichtweisen auf die Welt eingelagert sind, die bei jedem Gebrauch dieser Formen ihre Wirksamkeit entfalten. Hugo von Hofmannsthal hat in einem Aphorismus sehr schön darauf verwiesen, dass wir den von uns verwendeten sprachlichen Formen keineswegs immer unsere Perspektivierungsziele aufzwingen könnten, sondern dass vielmehr diese Formen kraft ihrer immanenten
Sprache und Perspektivität
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kognitiven Perspektivität unsere Objektivierungsanstrengungen immer einfarbten. „ Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit. "21 Während man mit Hilfe des Konzepts der kommunikativen Perspektivität sehr gut auf die kreativen Dimensionen der Sprache aufmerksam machen kann, die natürlich immer auf individuellen kognitiven Anstrengungen aufbauen, lassen sich mit Hilfe des Konzepts der kognitiven Perspektivität sehr gut die sozialen Dimensionen der Sprache ins Auge fassen. Die immanente kognitive Perspektivität sprachlicher Formen verhindert die Ausbildung von Privatsprachen und stiftet Kommunikationsgemeinschaften, weil sie diese mit gemeinsamen Objektivierungsmustern versorgt. Sie stellt sicher, dass individuelle Perspektivierungsanstrengungen sich in traditionelle einbetten können und damit auch anderen nachvollziehbar werden. Die Unterscheidung der kommunikativen von der kognitiven Perspektivität sprachlicher Formen ist im Prinzip natürlich eine methodische Idealisierung, weil sich die faktische Grenzlinie zwischen beiden nicht ganz klar ziehen lässt. Jede konkrete Sprachverwendung führt zu Grenzverschiebungen. In formalisierten Sprachen mit definierten Objektivierungsfunktionen sind die Grenzen leichter zu ziehen als in den natürlichen Sprachen mit ihren polyfunktionalen Verwendungsmöglichkeiten. Im Bereich der lexikalischen Muster können wir mit diesen Differenzierungen leichter arbeiten als im Hinblick auf Satzmuster und Textmuster, weil letztere als sehr viel komplexere Objektivierungsmuster nicht so gut überschaubar sind. Gleichwohl müssen wir aber auch hier von der Existenz historisch erzeugter und kulturell tradierter Sprachmuster mit einer spezifischen immanenten kognitiven Perspektivität ausgehen, selbst wenn es vordergründig so scheint, als ob Sätze und Texte ganz in den Bereich der kommunikativen Perspektivität fallen. Als ganz besonders schwierig erweist sich auch die Aufklärung der kognitiven Perspektivität grammatischer Ordnungsmuster von grammatischen Morphemen über syntaktische Korrelationsmuster bis zu fundamentalen grammatischen Organisationsprinzipien. Das liegt daran, dass uns diese Muster in der Regel nicht als kulturell erzeugte Ordnungsmuster erscheinen, sondern vielmehr als gar nicht anders denkbare natürliche Ordnungen. Ihr Leistungsprofil können wir uns nur annäherungsweise explizit bewusst machen, weil unser Wissen von ihnen weitgehend intuitiver Art ist und sich aus unserem Sprachgefühl herleitet. Ihre vorstrukturierende Kraft für sprachliche Objektivierungsprozesse ist aber gerade deswegen besonders durchschlagend. Dies gilt insbesondere dann, wenn wir unseren Formbegriff nicht auf morphologisch fassbare Formen reduzieren, sondern auf grundlegende Organisationsprinzipien der Sprache ausdehnen, die dazu dienen, konkrete grammatische Formen auszubilden. In diesem Zusammenhang wäre beispielsweise daran zu denken, dass
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H. v. Hofmannsthal, Ges. Werke in Einzelausgaben, Prosa Bd. 1, 1950, S. 267.
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Der Problemzusammenhang
nicht alle Sprachen Kasus- bzw. Flexionsformen ausgebildet und dass nicht alle ihre Verben mit Tempus-, Genus- oder Modusformen versehen haben. Als Humboldt davon sprach, dass sich in den einzelnen Sprachen eine spezifische Weltansicht repräsentiere bzw. dass sie eine bestimmte innere Form hätten, da hatte er sicherlich vor allem einen solchen dynamischen Formbegriff im Auge, der eher im Sinne einer forma formans als im Sinne einer forma formata zu verstehen ist.22 Die formbildenden Prinzipien einer Sprache sind für ihn deshalb auch in einem sehr viel höheren Maße ein Einfallstor für den Einfluss der Sprache auf das Denken als die morphologisch konkret fassbaren lexikalischen und grammatischen Einzelformen. In diesem Sinne muss dann wohl auch Humboldts grundlegende These verstanden werden, dass schon der schlichte Gebrauch einer Sprache die jeweiligen Benutzer in die kognitive Perspektivität bzw. in die kognitiven Perspektivierungsstrategien ihrer Formen hineinzieht. „Der Mensch lebt hauptsächlich mit den Gegenständen, so wie sie ihm die Sprache zuführt, und da Empfinden und Handien in ihm von seinen Vorstellungen abhängt, sogar ausschliesslich so. Durch denselben Act, vermöge welches der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede Sprache zieht um die Nation, welcher sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andren Sprache hinübertritt. Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht seyn, da jede das ganze Gewebe der Begriffe und der Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält. Da man aber in eine fremde Sprache immer mehr oder weniger seine eigne Welt- ja seine eigne Sprachansicht hinüberträgt, so wird dieser Erfolg nie rein und vollständig empfunden."23
Da das Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit sich nicht auf individuelle sprachliche Objektivierungsleistungen richtet, sondern auf das allgemeine Objektivierungspotenzial von sprachlichen Formen, werden sich die künftigen Ausführungen deshalb vor allem auf die Fragen konzentrieren, die mit der kognitiven Perspektivität der einfachen und komplexen sprachlichen Muster zusammenhängen. Dass dabei natürlich auch die Herkunft der kognitiven Perspektivität sprachlicher Formen aus individuellen kommunikativen Perspektivierungsanstrengungen berücksichtigt wird bzw. die Nutzung der kognitiven Perspektivität sprachlicher Formen für individuelle sprachliche Perspektivierungsziele, versteht sich von selbst. Offensichtlich ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Beschäftigung mit der kognitiven Perspektivität sprachlicher Formen zu einem Problemzusammenhang führt, der sich auch durch folgende Formulierungen bezeichnen lässt: Weltansicht der Sprache, innere Form der Sprache, sprachliches Relativitätsprinzip, sprachliche Konstruktion der Wirklichkeit, sprachliche Vorordnung der Welt usw. 22 23
W. Koller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 243ff. W. v. Humboldt, Werke in 5 Bde., Bd. 3, 19633, S. 224-225.
Ausblick
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Die vorliegende Untersuchung wird von der Hoffnung getragen, dass der Perspektivitätsbegriff sich besonders gut dazu eignet, den angesprochenen Problembereich zu analysieren, weil er Sprache nicht von vornherein als autonomen Machtfaktor in kognitiven Prozessen thematisiert, sondern vielmehr als operativen Faktor in umfassenderen Ordnungsanstrengungen. Die Sprache erscheint so gesehen als ein kognitives Werkzeug, in deren Formen sich die Ergebnisse vorangegangener Perspektivierungsund Objektivierungsanstrengungen für eine künftige Nutzung niedergeschlagen haben. Das bedeutet, dass der Perspektivitätsbegriff gerade in seiner Korrelation mit dem Sprachbegriff letztlich als ein anthropologischer Grundbegriff zu verstehen ist, weil mit ihm das Zusammenspiel biologischer, kultureller und situativer Determinanten bei der subjektiven und intersubjektiven Repräsentation von Welt erfasst wird. Als flexibles und wandelbares Objektivierungs- und Perspektivierungsinstrument erlaubt es die Sprache, genetisch fixierte Wahrnehmungsmuster in einem Maße zu differenzieren und zu transzendieren, das Tiere nicht kennen. Der Perspektivitätsbegriff ist außerdem auch sehr gut dazu geeignet, auf nachvollziehbare Weise klarzustellen, dass die Sprache letztlich nicht dazu dient, Realität abzubilden, sondern sie von bestimmten Sehepunkten her aspektuell zu erschließen.
IV Ausblick Das Einföhrungskapitel diente dazu, den Rahmen abzustecken, in dem das Phänomen Perspektivität nun im Detail näher untersucht werden soll. In großen Linien wurde versucht, die Dimensionen und Implikationen des Perspektivitätsproblems zu skizzieren, um über eine solche ganzheitliche Grundorientierung einen Einstieg in den hermeneutischen Zirkel der Interpretation und des Verständnisses von Einzelaspekten der Perspektivitätsproblematik zu finden. Vor allem sollte plausibel gemacht werden, warum das Phänomen Perspektivität sowohl auf der visuellen als auch auf der kognitive Ebene als transzendentale bzw. apriorische Bedingung aller Wahrnehmung und Erkenntnis im Sinne Kants angesehen werden kann. Da sich der Perspektivitätsbegriff sehr gut in der sinnlichen Anschauung verankern lässt, kann er auch für die Erkenntnis und Veranschaulichung abstrakter Strukturen sehr gute Dienste leisten. Um den im Prinzip sehr abstrakten Vernunftbegriff Perspektivität durch sinnliche Anschauung mit Inhalt zu füllen, soll zunächst auf das Problem der Perspektive in der Malerei eingegangen werden. Hier soll das Anschauungsmaterial dafür gesammelt werden, um den Perspektivitätsbegriff als erkennt-
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Der Problemzusammenhang
nistheoretischen und anthropologischen Grundbegriff auszuarbeiten, der auch sprachtheoretisch genutzt werden kann. Dabei wird sich herausstellen, dass der Perspektivitätsbegriff sehr stark mit dem Raumbegriff verschränkt ist und dass sich beide wechselseitig erhellen können. Ebenso wie der Perspektivitätsbegriff kann auch der Raumbegriff sehr leicht von der visuellen Ebene auf eine kognitive Ebene gebracht werden, wie die reichhaltige Raummetaphorik zur sprachlichen Bewältigung kognitiver Phänomene beweist. Mit Bedacht wird die Perspektivitätsproblematik im visuellen Bereich weniger von der Optik als von der Kunst bzw. der Malerei her angegangen. Das lässt sich damit begründen, dass in der Kunst der Perspektivitätsgedanke sehr viel offensichtlicher mit dem Interpretationsgedanken verbunden ist als in der Optik, wo er sehr deutlich mit dem Reproduktionsgedanken verquickt ist. Sofern wir akzeptieren, dass die Kunst nicht die Funktion hat, Realität zu reproduzieren, sondern uns vielmehr dabei helfen soll, Realität auf vielfältige Weise wahrzunehmen, ist offensichtlich, dass der Perspektivitätsbegriff im Bereich der Malerei sehr viel differenzierter ausgearbeitet werden kann als im Bereich der physikalischen Optik. Außerdem bieten sich dann auch viel reichhaltigere Möglichkeiten, den Perspektivitätsbegriff für künstlerische Sprachverwendungsformen fruchtbar zu machen, die uns ja auch neue Sichtweisen auf die Welt erschließen sollen bzw. neue Gebrauchsweisen von Sprache. In der Malerei wie im künstlerischen Sprachgebrauch geht es historisch gesehen letztlich nicht darum, etablierte Sichtweisen und Objektivierungsstrategien zu perfektionieren, sondern vielmehr darum, verfestigte Konventionen zu überwinden und neue Wahrnehmungsweisen von Welt zu entwickeln. Das bedeutet, dass nicht nur für alte Objektivierungsformen durch die Einbettung in neue Kontexte eine neue Perspektivierungskrafit erschlossen werden muss, sondern auch, dass neue Objektivationsformen mit einer ganz anderen Perspektivierungskrafit bzw. mit einem ganz anderen Perspektivitätspotenzial entwickelt werden müssen. Gerade diese immanente Tendenz künstlerischer Formgebung und künstlerischen Zeichengebrauchs macht die Analyse künstlerischer Formen im visuellen Bereich so aufschlussreich für die Analyse der Perspektivitätsproblematik im kognitiven und sprachlichen Bereich. Der hier vorgelegte Versuch, die Perspektivitätsproblematik im visuellen, im kognitiven und insbesondere im sprachlichen Bereich näher zu bestimmen, ist durch eine gewisse Selbstbezüglichkeit geprägt, wenn nicht belastet. Da grundsätzlich die These vertreten wird, dass unsere Wahrnehmung bzw. unser Denken auf allen Ebenen und in allen Ausprägungen perspektivischer Natur ist, bleibt diese Grundauffassung auch nicht ohne Auswirkungen auf das hier praktizierte Darstellungsverfahren. Es wird keine Analyse der Perspektivitätsproblematik von einem festen Sehepunkt und in einem wohl abgegrenzten Blickwinkel angestrebt, sondern eine Thematisierung in unterschiedlichen Perspektiven, um möglichst viele Aspekte, Dimensionen, Implikationen und Konsequenzen dieses komplexen Phänomens in den Blick zu bekommen.
Ausblick
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Dieses Darstellungsverfahren, das einem Rundgang um das Phänomen Perspektivität gleicht, insofern dieses in immer wieder anderen Blickwinkeln, Fragestellungen und Kontexten thematisiert wird, setzt eine gewisse Gutmütigkeit beim Leser voraus. Er muss die Sprünge in immer wieder andere Wahrnehmungsweisen mitmachen, die zugleich auch immer Sprünge in unterschiedliche Wissenschaften, Theorien, Begrifflichkeiten, Sachgebiete und Epochen sind. Seine Langmut lässt sich nur dadurch belohnen, dass er auf diese Weise eine umfassende Wahrnehmung desselben fundamentalen Strukturprinzips unserer geistigen und insbesondere unserer sprachlichen Welt gewinnt.
Β PERSPEKTIVITÄT IM VISUELLEN BEREICH Wenn man das Phänomen Perspektivität im visuellen Bereich untersucht, dann lassen sich idealtypisch zwei Problemkreise voneinander unterscheiden. Zum einen kann man sich mit den Fragen der natürlichen Perspektivität beschäftigen, die sich unmittelbar aus der Struktur des Sehsinns und den optischen Gesetzen ergeben bzw. daraus, dass der Mensch ein leibgebundenes Wahrnehmungssubjekt in Raum und Zeit ist. Zum anderen kann man sich mit Fragen der künstlichen bzw. kulturellen Perspektivität beschäftigen, die sich daraus ergeben, dass alle in Bildern dargestellten Dinge und Sachverhalte in einer bestimmten Interpretationsperspektive objektiviert werden, die der natürlichen Wahrnehmungsperspektive nicht oder nur teilweise entspricht. Die Abweichung von den natürlichen Perspektivitätsstrukturen kann in Bildern soweit gehen, dass sich schon von einem eigenständigen Objektivierungswillen bzw. von einer eigenständigen Ausprägungsform von Perspektivität sprechen lässt. Die Geschichte der Malerei ist zu einem erheblichen Teil durch die Spannung zwischen der natürlichen und der künstlichen Perspektivität geprägt, was sich insbesondere im Zusammenhang mit der Beurteilung des künstlerischen Wertes der Zentralperspektive immer wieder gezeigt hat. Die Ordnungsstrukturen der natürlichen visuellen Perspektivität stehen hier nicht im Mittelpunkt des Interesses. Hauptsächlich sollen die Ordnungsstrukturen der künstlichen Perspektivität untersucht werden, wie sie in Bildern zur Erscheinung kommen können. Dabei werden sowohl systematische als auch historische Erkenntnisinteressen verfolgt, um einen Eindruck von dem Variationsspielraum und den Motiven menschlicher Objektivierungs- und Interpretationsanstrengungen zu gewinnen. Es wird angenommen, dass es weitreichende Analogien zwischen diesen Ausprägungsformen von Perspektivität und denjenigen in der Sprache gibt. Die unterschiedlichen historischen Ausprägungsformen von Perspektivität in der Malerei werden nicht als Manifestationsformen eines allgemeinen Gestaltungsfortschritts untersucht, sondern als Ausdrucksformen eines spezifischen, historisch gebundenen Gestaltungswillens. Dementsprechend wird dann auch die Zentralperspektive nicht als normgebende Idealform perspektivischer Gestaltung angesehen, sonder nur als eine historische Ausprägungsform von Perspektivität unter anderen, obwohl zuzugestehen ist, dass sie den höchsten Annäherungsgrad an die natürliche visuelle Wahrnehmung hat.
I Die Grundstrukturen der visuellen Wahrnehmung Die Grandstrukturen von visuellen Wahrnehmungs- und Gestaltungsprozessen werden insbesondere deshalb so ausführlich untersucht, weil angenommen wird, dass sich dabei wichtige Analogien zu kognitiven und sprachlichen Wahrnehmungs- und Gestaltungsprozessen aufdecken lassen. Insbesondere soll gezeigt werden, dass es in allen drei Bereichen eine produktive Spannung zwischen überindividuellen Konventionen auf der einen Seite und individuellen Sinnbildungsanstrengungen auf der anderen Seite gibt. Im Zusammenhang mit den Überlegungen zum Sehsinn wurde schon hervorgehoben, dass das Phänomen Perspektivität als ein anthropologisches Grandphänomen anzusehen ist, das besonders klar in der natürlichen visuellen Wahrnehmung hervortritt, weil hier die konstitutiven Merkmale von Perspektivität prägnant fassbar sind, nämlich Aspekt, Sehepunkt und Perspektive. Mit Hilfe dieser Merkmale lässt sich die schon erwähnte These Rombachs besonders gut exemplifizieren, dass Perspektivität als Realismus der Wahrnehmung zu verstehen sei. Die drei Grundmerkmale von Perspektivität sollen hier mit Bezug auf drei Problemzusammenhänge näher erläutert werden, die nicht nur für die Ausbildung der visuellen, sondern auch für die der kognitiven und der sprachlichen Perspektivität eine zentrale Rolle spielen. Es handelt sich um Problem- und Funktionszusammenhänge, die mit den Stichwörtern Leibapriori, Raumerfahrung und Eigenbewegung benannt werden können.
1. Das Leibapriori der Wahrnehmung Die Prämisse, die ein Wahrnehmungssubjekt in einem Wahrnehmungsprozess nicht mehr frei wählen kann, weil sie als Grundbedingung jeglicher Wahrnehmung immer schon gegeben ist, das ist der eigene Leib. Räumliche, zeitliche und geistige Sehepunkte kann das Wahrnehmungssubjekt wechseln, aber nicht seinen Leib als apriorischen Ausgangspunkt jeglicher Form von Wahrnehmung. Dieses Leibapriori der Wahrnehmung hat zwei fundamentale Dimensionen, die wegen ihrer Selbstverständlichkeit leicht übersehen werden, die aber eine phänomenologische Analyse thematisieren muss, die die elementaren Strukturen von Wahrnehmungsprozessen freilegen will. Einerseits ist immer zu berücksichtigen, dass wir unsere Augen als Wahrnehmungsorgane bzw. als Kontaktmedien benutzen. Dabei ist zu beachten, dass die Linsenaugen den Menschen natürlich ganz andere Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnen als die Facettenaugen den Insekten. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der
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Die Grundstrukturen der visuellen Wahrnehmung
eigene Leib den Menschen nicht nur einen bestimmten räumlichen, zeitlichen und optischen Blickwinkel auf die Welt eröffnet, sondern auch einen ganz bestimmten motivationalen. Der Leib bestimmt nicht nur, was wir sehen können, sondern auch, was wir sehen müssen und sehen wollen. Unsere Augen haben sich evolutionär aus umweltsensiblen Zellen entwickelt, die sich darauf spezialisiert haben, die Außenwelt mit Hilfe von Lichtdifferenzen wahrzunehmen. Dabei hat sich mit der Entwicklung des Linsenauges die Chance eröffnet, unsere Aufmerksamkeit punktuell zu konzentrieren und die Wahrnehmungsschärfe in jeweils peripheren Bereichen abnehmen zu lassen. Der Raum bekommt dadurch eine Tiefenstaffelung. Die mangelnde Veränderungsfahigkeit der Linse im Alter verursacht deshalb auch einen spezifischen Mangel an der Variation punktueller Wahrnehmungskonzentration. Interessant ist auch, dass der Evolutionsprozess dazu geführt hat, dass Lebewesen, die auf die Jagd spezialisiert sind (Katzen), frontal positionierte Augen haben, während Lebewesen, die auf die Flucht spezialisiert sind (Pferde), lateral positionierte Augen haben, die ihnen eine fast vollständige Rundumsicht ermöglichen. Die Reduktion des Sehfeldes bei Frontalaugen ist nun aber nicht nur als eine quantitative Einschränkung des Wahrnehmungsfeldes zu verstehen, sondern zugleich auch als eine qualitative Veränderung der Wahrnehmungsfähigkeit. Während die Rundumsicht primär dazu dient, auf Veränderungen im Sehfeld gegebenenfalls durch Flucht zu reagieren, so führt der eingeschränktere Blickwinkel von frontal angeordneten Augen bei jagenden Tieren und beim Menschen dazu, eine verstärkte intentionale Konzentration des Sehens auf bestimmte Objekte bzw. Weltausschnitte zu ermöglichen. Lebewesen mit frontal positionierten Augen müssen sich selbst bewegen, wenn sie mehr von der Welt sehen wollen. Die Überkreuzung von Sehachsen bei frontal angeordneten Augen führt außerdem noch zu einem verbesserten plastischen Sehen bzw. zu einer verbesserten Wahrnehmung der Tiefenstaffelung der Dinge im Raum. Anthropologisch gesehen lässt sich sagen, dass mein Leib nicht nur den räumlichen Punkt fixiert, von dem aus ich in die Welt sehe, sondern auch die Motive bestimmt, warum ich in die Welt sehe, und die Ziele, auf die ich meine Aufmerksamkeit richte. Ich sehe von meinem Leib und für meinen Leib in die Welt und nehme das in ihr wahr, was für meinen Leib biologisch und geistig von Interesse ist. Leib und Welt bilden eine Korrelationszusammenhang, dessen Instanzen sich nicht als autonome Gegebenheiten einzeln beschreiben lassen, sondern nur als interdependente Größen. Es ist deshalb auch nicht sinnvoll, den Leib als Gegenprinzip zum Geist beschreiben zu wollen. Wenn hier von einem Leibapriori der visuellen Wahrnehmung gesprochen wird, dann schließt das biologische wie geistige Wahrnehmungsbedingungen und Wahrnehmungsinteressen ein. Drastischer formuliert ließe sich auch sagen, dass das Leibapriori es uns ermöglicht, einen roten Apfel sowohl als Fressding als auch
Das Leibapriori der Wahrnehmung
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als Symbolding wahrzunehmen, weil beide Wahrnehmungsweisen gleichermaßen zu den menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten gehören. Merleau-Ponty hat nachdrücklich betont, dass wir bei unserer Weltwahrnehmung nicht vergessen dürften, dass der Leib in der Welt sei wie das Herz im Organismus und dass er die Vorbedingung dafür sei, dass sich uns die Gegenstände als Gegenstände enthüllen könnten bzw. die Welt als Welt. Wahrnehmungen ohne leibgebundene Gesichtspunkte seien nicht vorstellbar. „Mein Gesichtspunkt ist fiir mich weit weniger eine Beschränkung meiner Erfahrung als vielmehr eine Weise, in die Welt als ganze hineinzugleiten. Das Leibapriori der sinnlichen Wahrnehmung hat beim Menschen natürlich faktisch andere Konsequenzen als beim Tier, weil es durch das Ausmaß der menschlichen Kulturfähigkeit und Kulturangewiesenheit eine sehr große Flexibilität aufweist. Natürlich kann auch der Mensch in seinen visuellen Wahrnehmungen bestimmte biologische Grundgegebenheiten seiner Augen nicht überspringen, aber durch die Symbiose seiner biologischen und kulturellen Existenzweise kann er optische Daten mit Hilfe sehr viel differenzierterer Muster interpretieren und Referenzobjekte in sehr viel unterschiedlicheren Perspektiven betrachten als Tiere. Das bedeutet, dass der Mensch die Welt in einem sehr viel höheren Ausmaß als Tiere mit jeweils anderen Augen sehen kann. Phänomenologische Analysen bemühen sich deshalb auch immer, die elementaren von den eher nachgeordneten Wahrnehmungsweisen zu unterscheiden. Beispielsweise hat Heidegger darauf aufmerksam gemacht, dass wir ein Wahrnehmungsobjekt entweder als etwas Vorhandenes in seiner bloßen Dinglichkeit begaffen oder als etwas Zuhandenes in seiner Dienlichkeit für das menschliche Leben verstehen könnten.2 Nun kann man sich natürlich darüber streiten, ob man das Leibapriori der Wahrnehmung nicht auf die rein biologische Ebene beschränken sollte und die zuletzt thematisierten Konsequenzen nicht besser einem Kultur- oder Sprachapriori zuschreiben sollte, um den Begriff semantisch schärfer zu halten. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass die Grenzlinie zwischen Natur und Kultur faktisch nicht so scharf gezogen werden kann, wie es theoretisch wünschenswert wäre, und dass es zur Natur des Menschen gehört, ein Kulturwesen zu sein. Wenn man den Leibbegriff zu eng fasst, dann läuft man Gefahr, in der visuellen Wahrnehmung die Ergänzungsbedürftigkeit unserer biologischen durch kulturelle Wahrnehmungsmuster zu übersehen und damit die notwendige Symbiose beider. Das Kultur- und Sprachapriori ließe sich so gesehen auch als eine Spezifikation des allgemeinen Leibaprioris verstehen.
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M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 1966, S. 381. M. Heidegger, Sein und Zeit, 196310, S. 74ff.
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Die Grundstrukturen der visuellen Wahrnehmung
2. Die Raumproblematik In unserem Alltagsdenken verstehen wir das Phänomen Raum in der Regel auf euklidische Weise als ein gegebenes dreidimensionales Gebilde, das Höhe, Breite und Tiefe aufweist bzw. eine vertikale, horizontale und sagittale Achse. Newtons Konzept eines absoluten Raumes, der unabhängig von den in ihm vorfindbaren Subräumen und Gegenständen existiert, erscheint uns unmittelbar plausibel, weil wir uns diese Vorstellung sehr gut durch das Modell eines Hauses veranschaulichen können, in dem es unterschiedliche Zimmer gibt, in denen dann wieder unterschiedliche Dinge vorfindbar sind. Bei einer genaueren Betrachtung stellen sich dann aber drei Fragen, die sich kaum abschließend beantworten lassen. Findet die Ineinanderschachtelung von Räumen in Richtung auf die Makroweit oder die Mikroweit irgendwo ein natürliches Ende oder kann ein solches Ende nur methodisch postuliert werden? Ist der Raum eine eigenständige Größe, die als Wahrnehmungsding unter anderen Wahrnehmungsdingen existiert, oder ist er eine abgeleitete Vorstellung bzw. ein Denkkonstrukt, mit dem keine unmittelbare Anschauung korrespondiert? Wenn unsere Raumvorstellung eine abgeleitete Vorstellung ist, resultiert diese dann aus der perspektivischen Wahrnehmung der Korrelation von Dingen oder ist sie als apriorische Voraussetzung der Wahrnehmungsmöglichkeit von Dingen bzw. der Perspektivenbildung zu verstehen? Wenn Piaton im Timaios3 den Raum als Amme des Werdens thematisiert, weil er zwischen der Idee und der Erscheinung vermittele und insofern eine Vorbedingung dafür sei, dass die Körperwelt in Erscheinung treten könne, dann deutet sich schon ein Raumverständnis an, das mit der Hausmetaphorik nicht mehr problemlos in Einklang zu bringen ist. Der Raum wird hier zwar nicht als Derivat von Wahrnehmungsperspektiven verstanden, aber durchaus als gestaltender Faktor für die Ausbildung von Wahrnehmungsinhalten. Er ist die Voraussetzung dafür, dass die Erscheinungswelt sich konkretisieren kann. Kant denkt in diesem Zusammenhang noch radikaler. Er versucht der Vorstellung eines ontisch selbstständigen absoluten Raumes den Garaus zu machen, indem er den Raum ähnlich wie die Zeit oder die Kausalität zu einer Kategorie a priori erklärt, die nicht aus der Erfahrung stamme, sondern umgekehrt dazu diene, Erfahrungen machen zu können.4 Mit dieser These verlegt Kant seine Raumvorstellung vor alle konkreten Wahrnehmungsprozesse. Der Raumgedanke bleibt zwar grundsätzlich mit dem Perspektivitätsgedanken verknüpft, weil er die prinzipielle Voraussetzung für die Konstitution von Wahrnehmungsperspektiven ist, er kann aber nicht mehr mit konkreten Wahr3 4
Piaton, Timaios 49a, Werke, Bd. 5, S. 171. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 38, Weike, Bd. 3, S. 72.
Die Raumproblematik
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nehmungsperspektiven von konkreten Subjekten in Verbindung gebracht werden. Dagegen hat Leibniz ein Raumkonzept entwickelt, das sich sehr gut mit dem Perspektivitätsgedanken verbinden lässt, weil er den Raum als Derivat von Wahrnehmungsperspektiven versteht. Er vertritt die Auffassung, dass der Raum sich aus der Ordnung der gleichzeitig existierenden Dinge konstituiere und die Zeit aus der Ordnung der aufeinander folgenden Dinge. Das bedeutet, dass für ihn der Raum kein Ding unter Dingen ist, sondern ein relationales Phänomen, das aus Beziehungsgeflechten resultiere bzw. aus der spezifischen Konstellation von koexistierenden Einzelphänomenen.5 Wenn man in dieser Weise den Raum über die Möglichkeit des Beisammenseins von Dingen definiert und versteht, dann ist natürlich nicht nur an abstrakte geometrische Konstellationen zu denken, sondern auch daran, dass die jeweiligen Konstellationen von einem bestimmten Sehepunkt her wahrgenommen werden. Je nach Sehepunkt ergeben sich andere Raumgestalten, weil die Dinge hinsichtlich anderer Aspekte miteinander koexistieren und dementsprechend auch andere Beziehungsgeflechte miteinander bilden. Andere Wahrnehmungsperspektiven konstituieren so gesehen nicht nur andere Konstellationsformen und Sinngestalten, sondern auch andere Raumobjektivierungen. Da wir beim Sehen Korrelationsgeflechte unterschiedlichen Ausmaßes mehr oder weniger simultan wahrnehmen können (Baum, Baum am Weg, Baum am Weg in die Berge), gewinnen wir über die Wahrnehmung von Relationszusammenhängen kraft Implikation auch bestimmte Raumvorstellungen. Unsere Raumwahrnehmung können wir deshalb ebenso wie unsere Zeitwahrnehmung als abgeleitete Sekundärwahrnehmung verstehen, die wir aus anschaulichen Primärwahrnehmungen gewinnen. Länge, Breite und Tiefe können wir nicht direkt wahrnehmen, sondern nur aus langen, breiten und tiefen Gegenständen rekonstruieren. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass wir in unseren spontanen Wahrnehmungsprozessen Raumverhältnisse auch als Eigenschaften von Dingen verstehen und nicht als Eigenschaften von Räumen. Unser Sprachgebrauch exemplifiziert das sehr schön. Ganz unbefangen sprechen wir von einem großen Baum und einem entfernten Baum, obwohl das Attribut im ersten Fall die Eigenschaft eines Baumes angibt und im zweiten Fall ein Relationsverhältnis zwischen einem Baum und einem Betrachter. Nun ist allerdings einzuräumen, dass der konkrete psychische Aufbau von visuellen Raumvorstellungen im Prinzip noch nicht das ontologische Grundsatzproblem löst, ob der Raum die apriorische Prämisse der Dingvorstellung ist oder die Dingwahrnehmung die apriorische Prämisse der Raumvor
G.W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, 1978, Bd. 2, S. 450; Brief an B. des Bosses vom 16.6.1712 „Et hoc exponendi modo spatium fit ordo coexistentium phaenomenorum, ut tempus successivorum..."; vgl. auch G.W. Leibniz, Philosophische Werke in vier Bänden, 1966, Bd. 1, 5. Schreiben an Clark, § 29, S. 128; § 47, S. 133; Bd. 2, Briefentwurf fur Remond, S. 631.
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Die Grundstrukturen der visuellen Wahrnehmung
Stellung. Womöglich ist das Problem in dieser alternativen Zuspitzung auch falsch thematisiert. Aufschlussreicher scheint die Frage zu sein, welche Faktoren und Strategien unsere konkrete Raumvorstellung beeinflussen. Dabei stellt sich dann ziemlich schnell heraus, auf welch fundamentale Weise unsere Raumerfahrung mit der Perspektivitätsproblematik auf allen Ebenen verknüpft ist, nämlich nicht nur mit räumlichen Sehepunkten und Perspektiven, sondern auch mit geistigen, die sich in Form von kulturspezifischen Objektivierungsstrategien und sprachlichen Mustern manifestiert haben. Ebenso wie man sich das Phänomen Zeit nicht nur quantitativ über die Uhr objektivieren kann, sondern auch qualitativ über die Intensität von Erlebnisinhalten (Feste, Jahreszeiten, Altersstufen), so lässt sich auch der Raum nicht nur quantitativ über bestimmte Maßgrößen (Meter, Lichtjahre) erfassen, sondern auch über sakrale und profane Akzentuierungen (heiliger Hain, Hektar). Im Prinzip sind die quantitativen mathematischen Objektivierungen der Zeit und des Raumes späte Kulturprodukte, die zwar unsere heutigen Vorstellungsbildungen grundlegend prägen, aber die gleichwohl nicht als zwingend anzusehen sind. Die Rauminterpretation mit Hilfe der euklidischen Geometrie bzw. mit Hilfe der malerischen Zentralperspektive ist nicht als selbstverständlicher Abschluss einer geistigen Anstrengung zu verstehen, wie die Entwicklung der nicht-euklidischen Geometrie und der polyperspektivischen Malerei zeigt. Frühe Kulturstufen scheinen den Raum ganz selbstverständlich als Resultante der Existenz und der Eigenschaften von Dingen verstanden zu haben. Das zeigt sich darin, dass die Maße für die Objektivierung von Distanzen und Flächen von menschlichen Gliedern (Fuß, Elle) oder von menschlichen Handlungseinheiten (Morgen, Tagewerk) abgeleitet worden sind und dass viele Naturvölker unterschiedliche Maßeinheiten für horizontale und für vertikale Strecken haben.6 Die Objektivierung des Raumes mit abstraktiven mathematischen Größen und Mustern ist erst ein neuzeitliches Verfahren, was sich allerdings bei der Beherrschung des Raumes als sehr wirksam erwiesen hat. Bei der Analyse der Raumproblematik ist außerdem zu berücksichtigen, dass unsere Wahrnehmungsstrategien so organisiert sind, dass schon auf einer vorbewussten Ebene nicht sichtbare räumliche Dimensionen bei der Vorstellungsbildung automatisch aus unserem Sachwissen ergänzt werden. Selbst wenn wir nur die zweidimensionale Fassade eines Hauses sehen, nehmen wir das Haus kognitiv gleichwohl als dreidimensionales Gebilde wahr. Wenn das nicht so wäre, hätte Potemkin sich seine Mühen sparen können. Ganz selbstverständlich ergänzen wir beim Sehen vorstellungsmäßig auch die Teile von Wahrnehmungsgegenständen, die von anderen Objekten verdeckt werden. Die räumliche Ergänzung von fragmentarischen Seheindrücken ist eine so elementare Grundoperation der visuellen Wahrnehmung, dass es einer besonderen 6
E. Fettweis, Orientierung und Messung in Raum und Zeit bei Naturvölkern, Studium Generale 11,1958, S. 3ff.
Die Raumproblematik
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methodischen Anstrengung bedarf, beim Sehen wirklich nur das zu registrieren, mit dem man optisch tatsächlich konfrontiert wird, und nicht auch das in seine Vorstellungen einzubeziehen, was man optischen Reizen automatisch hinzufügt, um zu visuellen Ganzheiten zu kommen bzw. um bestimmte Wahrnehmungserwartungen zu erfüllen. Diese Vervollständigungstendenz bei Teilwahrnehmungen durch bestimmte Wahrnehmungserwartungen gibt es auch in komplexen Wahrnehmungsprozessen. Dabei braucht man nur daran zu denken, welch unterschiedliche subjektiven Wahrnehmungen Augenzeugen von denselben Vorgängen entwickeln können, ohne andere täuschen zu wollen. Die Art und Weise, wie tatsächliche optische Daten in visuellen Wahrnehmungen mit erwarteten optischen Daten und anderen Daten zu ganzheitlichen Vorstellungen verschmolzen werden, ist erfahrungs-, kultur- und sprachabhängig. Einzeldaten versuchen wir immer einen Stellenwert in umfassenderen Vorstellungen zu geben. Die Menge und die Differenziertheit von aktivierbaren Mustern und Organisationsstilen beeinflusst dementsprechend nicht nur unsere kognitive Sinnbildung, sondern schon unsere elementare visuelle Vorstellungsbildung und Raumerfahrung. Die These, dass schon objektbezogene visuelle Vorstellungsbildungen nicht nur als Reflexe von tatsächlichen optischen Reizen anzusehen sind, sondern vielmehr als interpretative Konstrukte, ist relativ leicht nachzuvollziehen und von der Gestaltpsychologie auch vielfaltig legitimiert worden. Die ergänzende These, dass es neben der subjektiv bzw. kulturell geprägten visuellen Objektwahrnehmung auch eine subjektiv bzw. kulturell geprägte visuelle Raumwahrnehmung gibt, ist sehr viel schwerer nachvollziehbar. Folgende Überlegungen lassen sich für diese These geltend machen. Grundlage der allgemeinen Raumwahrnehmung bzw. Raumvorstellung ist der Umstand, dass wir einerseits eine Dingkonstellation von einem bestimmten Sehepunkt hinsichtlich bestimmter Aspekte wahrnehmen und dass wir andererseits einzelne Phänomene nur in einer bestimmten kontrastiven und ergänzenden Beziehung zu anderen erfassen. Einzeldinge nehmen wir nicht als Elemente einer Summe wahr, sondern immer nur als Bestandteile einer räumlichen Konstellation, die ein Zentrum und eine Peripherie hat. Diese Struktur wird in der Phänomenologie in der Regel als Horizontgebundenheit der Wahrnehmung bezeichnet. Mit dieser Metapher will man darauf aufmerksam machen, dass Wahrnehmungen eines intentionalen Rahmens von Hypothesen und Erwartungen bedürfen, um eine konkrete Struktur zu bekommen, die gleichzeitig auch einen Raumeindruck erzeugt. Die Horizontgebundenheit ist als solche in keinem Wahrnehmungsprozess aufhebbar, die konkrete Ausprägung dieser Horizontgebundenheit aber durchaus. Am eindrucksvollsten lässt sich die Horizontgebundenheit unserer Wahrnehmung, die zugleich auch als eine Form der Raumkonstitution zu werten ist, am Beispiel der so genannten Kippfiguren demonstrieren, auf die die Gestalt-
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Die Grundstrukturen der visuellen Wahrnehmung
Psychologie immer wieder aufmerksam gemacht hat.7 Kippfiguren basieren auf der Möglichkeit, einen Wahrnehmungsbereich entweder als thematische Figur oder als kontrastiven Hintergrund für eine Figur wahrzunehmen. So lässt sich beispielsweise eine helle Fläche entweder als eine Vase wahrnehmen, die sich von einem dunklen Grund kontrastiv abhebt, oder als Kontrast gebender Grund, von dem sich zwei einander zugewandte Gesichtsprofile silhouettenhaft abheben. Je nach den aktuellen Wahrnehmungspräferenzen ergeben sich andere Konstellationen und Interpretationen von Elementen und damit natürlich auch andere Wahrnehmungsräume. Die Termini Aspekt, Sehepunkt, Perspektive, Konstellation, Horizont, Feld, Struktur haben nicht zufallig sowohl eine räumliche als auch eine geistige Bezugsebene. Sie verdeutlichen auf indirekte Weise, dass Raumordnungen immer zugleich auch als Sinnordnungen verstanden werden. Die Phänomenologen arbeiten deshalb auch ganz unbefangen mit Raumvorstellungen, wenn sie geistige Vorstellungen zu beschreiben versuchen. So spricht etwa Gurwitsch8 ganz vorbehaltlos davon, dass sich das Bewusstseinsfeld aus den drei Teilbereichen Thema, thematisches Feld und Rand konstituiere. Das Thema repräsentiere den Brennpunkt der Aufmerksamkeit, das thematische Feld die mit dem Thema kopräsenten Gegenstände und der Rand all die Phänomene, die den Übergang zu anderen Bewusstseinsfeldern ermöglichten. Der natürliche Raumbegriff, der sich auf die natürliche visuelle Raumerfahrung gründet, muss von dem apriorischen Raumbegriff klar getrennt werden, den Kant als logische Prämisse aller Dingerfahrung versteht und der visuell weder erfahren noch veranschaulicht werden kann. Da er die Verwendung visueller Kategorien erst ermöglicht, kann er mit diesen auch nicht beschrieben werden. Die natürliche Raumerfahrung konstituiert sich aus der konstellativen und aspektuellen Wahrnehmung von Dingen von einem bestimmten Sehepunkt aus. Sie ist also in einem hohen Maße subjektbezogen und deshalb auch als ein Konstitut des Subjekts zu betrachten. Das exemplifiziert sich sehr schön dadurch, dass auf zweidimensionalen Bildern durch eine stringente zentralperspektivische Darstellungstechnik die Illusion eines dreidimensionalen Raumes erzeugt werden kann. Da wir in der natürlichen Wahrnehmung aus den Größenverhältnissen und den Überdeckungen von Gegenständen eine bestimmte dreidimensionale Raumvorstellung ableiten, kann sich auch auf zweidimensionalen Bildern die Illusion eines dreidimensionalen Raumes ergeben, wenn die entsprechenden Dingkonstellationen hergestellt werden. Wenn wir auf Bildern optisch zwei Menschen von extrem unterschiedlicher Größe registrieren, dann nehmen wir diese nicht als Riese und als Zwerg wahr, sondern als Menschen, die eine unterschiedliche Position in einem dreidimensional vorgestellten Raum haben. 7 8
A. Wellek, Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie 19692, S. 55ff. A. Gurwitsch, Das Bewußtseinsfeld, 1975, S. 4ff.
Die Eigenbeweglichkeit der Wahrnehmungssubjekte
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Da sich die natürlichen Raumvorstellungen immer aus der Wahrnehmungsposition des jeweiligen Subjekts ableiten, kann für Gemälde, die sich normativ an natürlichen Wahrnehmungsprozessen orientieren, immer auch ein klar fixierbarer Sehepunkt rekonstruiert werden. Insbesondere in zentralperspektivisch organisierten Raumobjektivierungen ist das verhältnismäßig leicht, weil diese programmatisch die größtmögliche Annäherung an natürliche Raumwahrnehmungen bzw. Seheindrücke anstreben. Bei allen anderen in Bildern objektivierten Raumentwürfen ist das nicht so leicht, weil die dargestellten Dinge und Räume oft auf mehrere, leicht verschobene Sehepunkte zurückgeführt werden können oder weil die jeweilig objektivierten Dingkonstellationen sich ganz bewusst nicht an den Normen der natürlichen Dingund Raumwahrnehmung orientieren. Diese Umstände machen es notwendig, sich etwas näher mit dem Problem zu beschäftigen, welche Funktion der räumlichen und geistigen Verschiebung von Sehepunkten bzw. der Eigenbeweglichkeit von Subjekten bei der Wahrnehmung und Gestaltung von Räumen zukommt.
3. Die Eigenbeweglichkeit der Wahrnehmungssubjekte Wenn es richtig ist, dass der jeweilige Wahrnehmungsort bzw. Sehepunkt eine Horizont bildende Funktion für die Konstitution von Wahrnehmungsinhalten hat, dann ergibt sich daraus, dass man das Problem der visuellen Wahrnehmung und geistigen Vorstellungsbildung nicht befriedigend diskutieren kann, wenn man die räumliche und geistige Eigenbeweglichkeit der Wahrnehmungssubjekte methodisch ausklammert. Erst wenn wir die dynamischen Implikationen der Perspektivitätsproblematik berücksichtigen, lässt sich ganz nachvollziehen, welche fundamentale Rolle die Wahrnehmungssubjekte bei der Konstitution von Wahrnehmungsinhalten bzw. bei der Erschließung der räumlichen und geistigen Welt spielen. Auf den ersten Blick scheint die Eigenbeweglichkeit der Wahrnehmungssubjekte nur positive Funktionen zu haben, weil die Verschiebung von Sehepunkten zu neuen Erfahrungen führt und dadurch die Mehrung von Wissen garantiert. Ohne Eigenbeweglichkeit scheint es keinen umfassenden Wissensfortschritt und keinen Fortschrittsglauben geben zu können. Gleichwohl darf aber auch nicht übersehen werden, dass die räumliche und geistige Eigenbeweglichkeit der Wahrnehmungssubjekte auch bestimmte Risiken birgt. Wenn sich unsere Wahrnehmungsinhalte nämlich durch unsere Eigenbewegungen faktisch immer wieder ändern, dann stellt sich die Frage, ob wir unseren Wahrnehmungsgegenständen eigentlich eine Identität oder Invarianz zubilligen können. Es ist offensichtlich, dass die Fähigkeit eines Organismus, sich im Raum willentlich und zielgerichtet frei bewegen zu können, evolutionär gesehen eine
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Die Grundstrukturen der visuellen Wahrnehmung
späte Entwicklungsstufe darstellt, die die Wahrnehmungsmöglichkeiten nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ entscheidend verändert hat. Pflanzen haben in der Regel eine räumlich gebundene Existenzweise. Uber ihre Rezeptionsorgane können sie nur das erfassen, was von ihrem jeweils fixierten Standort aus registriert werden kann. Tiere haben dagegen durch ihre Eigenbeweglichkeit ein sehr viel höheres Maß an Wahrnehmungsmöglichkeiten, wenn man einmal von der unterschiedlichen Differenzierungsfähigkeit der jeweiligen Rezeptionsorgane absieht. Gleichwohl bleiben auch ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten im Vergleich zu denen der Menschen beschränkt, weil sie ihre optischen Wahrnehmungen mit Hilfe eines Inventars von genetisch fixierten Wahrnehmungsmustern interpretieren müssen, das nicht in demselben Ausmaß wie beim Menschen durch erworbene Wahrnehmungsmuster ergänzt und differenziert wird. Wenn Tiere ihre optischen Reizkonstellationen nicht mit den zur Verfügung stehenden Wahrnehmungsmustern interpretieren können, dann sind sie desorientiert. Sie stehen vor ihnen wie die sprichwörtliche Kuh vor dem neuen Scheunentor. Die Anthropologie hat der Eigenbeweglichkeit des Menschen einen qualitativ anderen Charakter zugeordnet als der der Tiere, weil sie im Prinzip nicht nur durch die Nahrungssuche motiviert sei, sondern auch durch so etwas wie theoretische Neugier. Die Verarbeitung optischer Reize im Rahmen vorgegebener Wahrnehmungsschemata sei beim Menschen nicht so rigide reguliert wie bei Tieren, weil ihnen mehr und variablere Wahrnehmungsschemata zur Verfügung stünden. Als Kulturwesen unterlägen die Menschen einem immanenten Zwang, ständig neue Wahrnehmungsmuster auszubilden, die sie insbesondere über sprachliche Fixierungen tradieren und intersubjektiv verfügbar halten könnten. Die Funktion der Eigenbeweglichkeit der Wahrnehmungssubjekte in Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen wird nicht nur durch Eroberer und Entdecker von Alexander dem Großen über Kolumbus bis zu den Astronauten exemplifiziert, sondern auch durch Dichter, Philosophen und Forscher. Letztere müssen sich nicht immer in einem räumlichen Sinne bewegen, sie können sich auch geistig bewegen. Dichter können sich fiktive Räume schaffen, in denen sie sich mit ihren Figuren bewegen; Philosophen können sich Begriffswelten schaffen und sich darin bewegen; Forscher können sich mit Hilfe ihrer Instrumente (Mikroskop, Fernrohr, Hypothesen) perspektivisch bewegen, ohne sich räumlich vom Fleck zu rühren. Die Eigenbewegung des Wahrnehmungssubjekts, in welchem Sinne auch immer, erschließt neue Aspekte der jeweiligen Wahrnehmungsgegenstände. Das Bedürfnis nach dem Wechsel von Perspektiven ist allerdings in den einzelnen Individuen, Kulturen und Epochen unterschiedlich ausgeprägt. Der Preis für die Eigenbeweglichkeit der Wahrnehmungssubjekte ist nun allerdings eine gewisse Wissensunsicherheit und im Gefolge davon auch eine gewisse Verhaltensunsicherheit. Die für Pflanzen und Tiere angenommene
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Wahrnehmungssicherheit, die keine sehr großen Varianten und Interpretationsspielräume offen lässt, ist deshalb gerade in solchen Kulturepochen zum utopischen Wunschbild geworden, in denen die Freiheit zur Eigenbewegung die Angst vor der Beliebigkeit von Bewegungsentscheidungen und Wissensinhalten geweckt oder gar das Schreckgespenst des Nihilismus heraufbeschworen hat. Deshalb gibt es auch Mechanismen und Tendenzen in der menschlichen Natur und Kultur, die Konsequenzen der Eigenbeweglichkeit von Wahrnehmungssubjekten einzuschränken oder zumindest abzumildern. Das beginnt auf einer sehr elementaren Ebene schon mit den so genannten Konstanzmechanismen, durch die es in Wahrnehmungsprozessen zu vorbewussten Verrechnungsprozessen kommt, durch die Konstanzvorstellungen erleichtert werden.9 So verschiebt sich beispielsweise bei jeder Augen- oder Kopfbewegung schon das Netzhautbild unserer Augen bzw. die Struktur der Netzhautreizung. Das registrieren wir in Wahrnehmungsprozessen aber nicht als Bewegung der jeweiligen Wahrnehmungsgegenstände, sondern als Eigenbewegung. Wenn diese Konsequenzen der Eigenbewegung nicht vorbewusst verrechnet würden, dann käme es zu einer heillosen Reizüberflutung und Desorientierung, die Objektivierungsprozesse unmöglich machten, weil es keine Dingkonstanz mehr gäbe. Vorbewusste Verrechnungsoperationen mit Hilfe von Informationen aus dem Gedächtnis finden auch dann statt, wenn wir einen Gegenstand als denselben Gegenstand wiedererkennen, obwohl wir ihn in verschiedenen Perspektiven sehen und dadurch die Konstellation von optischen Sinnesreizen faktisch sehr unterschiedlich ist. Gleichzeitig darf aber auch nicht vergessen werden, dass die Rezeptoren unserer Netzhaut einen ständigen Reizwechsel brauchen und dass identische Dauerreize zu einem Wahrnehmungsverlust führen. Unser Auge funktioniert zwar hinsichtlich seiner Linse ähnlich wie eine Kamera, aber hinsichtlich seiner Netzhaut nicht wie ein Film, worauf im Zusammenhang mit der Analyse des Sehsinns und dem physiologischen Eigenzittern der Augen bei Säugetieren schon hingewiesen worden ist. So etwas wie Konstanzmechanismen gibt es nicht nur im Bereich der Natur, sondern auch in dem der Kultur. Wenn die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen zur geistigen Eigenbeweglichkeit und Perspektivenverschiebung nicht durch Wahrnehmungstraditionen, Wahrnehmungsstile und sozial verbindliche Sprachmuster gedämpft und kanalisiert würde, käme es zu einer Desorientierung in der Wahrnehmung und zu gravierenden Problemen bei der intersubjektiv nachvollziehbaren Objektivierung von Vorstellungsinhalten durch Zeichen. Die Grundstrukturen unseres kognitiven Wahrnehmungsfeldes müssen stabil bleiben, wenn es Variationen in seinen peripheren Teilen geben soll. Wir können unsere Wahrnehmungsgegenstände immer nur partiell mit 9
K. Lorenz, Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis, Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie 6, 1959, S. 128ff.
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neuen Ordnungsmustern konfrontieren bzw. in neuen Perspektiven interpretieren, weil sich sonst der Glaube an die Konstanz unserer Wahrnehmungsgegenstände, die all unseren Wahrnehmungs- und Interpretationsanstrengungen als vorbewusste Prämisse zu Grunde liegt, auflösen würde. Kultur und Kulturerzeugnisse stehen in der ständigen Spannung zwischen Konstanzanforderungen auf der einen Seite und Variationsanforderungen auf der anderen. Kulturen brauchen eine innere Selbstbewegung, wenn sie nicht erstarren sollen, aber eine zu abrupte und zu radikale Eigenbewegung fuhrt zu Irritationen, die den Wunsch entstehen lassen, alte Wahrnehmungsschemata zu konservieren und zu restaurieren. Nicht zufällig ist deshalb auch Sokrates mit dem Vorwurf konfrontiert worden, die gegebene Ordnung aufzulösen und die Jugend zu verderben, weil das Ausmaß und das Ziel seiner geistigen Eigenbewegung die Verständniskraft der meisten seiner Zeitgenossen überforderte. Er wurde als Zerstörer der Tradition denunziert, weil er gegen zu viele kulturelle Konstanzmechanismen seiner Zeit verstieß. Erst später konnte er als Schöpfer einer neuen kulturellen Tradition verstanden werden, der mit seinen Fragen und Verhaltensweisen neue Denkperspektiven eröffnet hat. Ebenso wie in der Kultur, so gibt es auch in der Sprache bestimmte Bereiche, die ziemlich resistent gegen die interpretative Eigenbewegung der Subjekte sind bzw. bei denen Konstanzmechanismen ausgeprägter sind als in anderen Bereichen. So lässt sich beispielsweise der konventionalisierte semantische Inhalt und referenzielle Bezug lexikalischer Zeichen relativ leicht in den jeweiligen Sprechsituationen variieren, was metaphorische Redeweisen sehr klar dokumentieren. Die Konstanzmechanismen, die mit grammatischen Zeichen verbunden sind, erweisen sich demgegenüber historisch und systematisch als viel stabiler. Wenn das nicht so wäre, dann könnte das Ausmaß der individuellen Eigenbeweglichkeit der Subjekte im Bereich der Lexik nicht so groß sein, wie es faktisch ist. Individuen, Kulturen und Sprache werden nicht dadurch stabil, dass sie starr werden, sondern dadurch, dass sie Formen eines Fließgleichgewichts für sich entwickeln.
II Sinn und Struktur von Bildern Die Fähigkeit, Bilder zu machen, charakterisiert den Menschen womöglich noch fundamentaler als die Fähigkeit, Sprache zu verwenden, wenn man den Gebrauch der Sprache als eine spezifische Variante des Bildermachens versteht. Bilder sind Artefakte eines bestimmten Typs, die mit der Evolutionsgeschichte des Geistes in einem besonderen Maße verknüpft sind. Auch Tiere stellen Artefakte her (Nest, Höhle), aber all diese Artefakte haben einen unmittelbaren Nutzen fur die Sicherung des biologischen Lebens. Bilder haben dagegen nur in einem erweiterten Sinne einen lebenspraktischen Nutzen. Sie sind unverzichtbare Bestandteile des kulturellen Lebens, weil sie Kultur erzeugte Zeichen sind. Bilder sind Artefakte, die ein mehrdimensionales geistiges Funktionsspektrum haben, das sich kaum abschließend bestimmen lässt. Die Fähigkeit, Bilder zu machen, bzw. etwas mit Hilfe von Zeichen symbolisch präsent zu machen, dokumentiert eine Form von Welt- und Gegenstandsbezügen, über die die Tiere nicht im gleichen Ausmaß verfügen. Die Frage nach dem Sinn und der Struktur von Bildern ist deshalb zugleich als Frage nach der menschlichen Einbildungskraft zu verstehen. Cassirer hat daher den Menschen auch nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum bestimmt.1 Im Prinzip lässt sich die Ausbildung sprachlicher Muster und Texte trotz vieler Unterschiede als eine Form des Bildermachens verstehen. Auch wenn man einzuräumen hat, dass die Sprache entwicklungsgeschichtlich wohl eher aus handlungsunterstützenden Signalen als aus repräsentierenden Symbolen entstanden ist, so lässt sich dennoch nicht leugnen, dass die Darstellungsfunktion der Sprache im Laufe der Kulturgeschichte insbesondere durch die Entwicklung der Schrift einen immer größeren Stellenwert neben der Appell- und Ausdrucksfunktion im Sinne Bühlers bekommen hat. Deshalb ist auch die Hoffnung berechtigt, aus der Analyse des Sinns und der Struktur visuell wahrnehmbarer Bilder kraft Analogie und Differenz wichtige Einsichten in den Sinn und die Struktur sprachlicher Objektivierungsformen zu gewinnen. Wenn die These stimmt, dass allen kulturellen Objektivierungsformen eine bestimmte kognitive Perspektivität eingeprägt ist, dann böte sich außerdem die Gelegenheit, das Problem der immanenten Perspektivität sprachlicher Formen
1
E. Cassirer, Was ist der Mensch, 1960, S. 40.
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Sinn und Struktur von Bildern
mit Hilfe der immanenten Perspektivität visuell wahrnehmbarer Formen zu veranschaulichen.
1. Zur Phänomenologie von Bildern Obwohl die Phänomenologie mit ihrer Maxime zu den Sachen selbst primär auf eine präzisere Gegenstandserkenntnis ausgerichtet zu sein scheint, weiß sie sehr wohl, dass man eigentlich nur eine präzisere Wahrnehmungserkenntnis erreichen kann. Die so genannte phänomenologische Wesensschau darf deshalb auch nicht im Sinne einer angestrebten substanziellen Gegenstandserkenntnis verstanden werden, sondern muss vielmehr als ein Versuch gewertet werden, elementare Wahrnehmungsweisen zu entwickeln, in denen der Grundtypus der Dinge freigelegt werden kann, der meist durch vielerlei Sonderbedingungen der Wahrnehmung verdeckt und verschleiert wird. Phänomenologische Analysen stellen sich deshalb als Reduktions- und Abschälungsvorgänge dar, in denen die lebensweltlich fundamentalen Erscheinungsweisen der Dinge herausgearbeitet werden sollen, die wir üblicherweise leicht übersehen, weil sie uns als allzu selbstverständlich oder gar trivial erscheinen. Das bedeutet, dass die Phänomenologie im Prinzip nichts anderes anstrebt, als uns die Welt und die Dinge in anthropologisch elementaren und fundamentalen Wahrnehmungsperspektiven zugänglich zu machen. Der elementare Sinn von Bildern besteht darin, dass mit Hilfe eines sinnlich fassbaren Substrates auf etwas verwiesen wird, was der direkten visuellen Wahrnehmung aus aktuellen oder prinzipiellen Gründen nicht direkt zugänglich ist. Bilder wollen wie alle artifiziellen Zeichen etwas in einen aktuellen Wahrnehmungsraum hineinziehen, was in diesem von Natur aus nicht unmittelbar präsent ist. Diese Vergegenwärtigung ist dabei nicht als vollständige Reproduktion eines vorgegebenen ontischen Referenzgegenstandes zu verstehen, sondern vielmehr als eine Vergegenwärtigung von realen oder fiktiven Gegenständen hinsichtlich ganz bestimmter Aspekte. Während die Objektivierungsleistung sprachlicher Zeichen nur mit Hilfe von Konventionskenntnissen wirksam werden kann, soll die von Bildern in der Regel spontan über Ähnlichkeitsrelationen verstanden werden, was allerdings nicht ausschließt, dass auch Bilder Stilisierungen aufweisen, die nicht spontan verständlich sind, sondern nur mit Hilfe bestimmter Konventionskenntnisse. Semiotisch gesehen gehören Bilder im Prinzip der Zeichenklasse der Ikons im Sinne von Peirce an. Diese sind dadurch charakterisiert, dass aus der Struktur des sinnlich fassbaren Zeichenträgers sich kraft Analogie Hinweise auf die Struktur dessen ergeben, auf das inhaltlich verwiesen werden soll. Damit stoßen wir auf ein grundlegendes Strukturmerkmal von Bildern, das phänomenologisch allerdings nur schwer zu bewältigen ist, nämlich auf das Problem
Zur Phänomenologie von Bildern
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der Ähnlichkeit zwischen dem Bild als optisch wahrnehmbarem Gebilde und dem, was es geistig vergegenwärtigen soll. Das Bild soll als sinnlich fassbares Artefakt dem ähnlich sein, auf das es verweist, aber seinen Referenzgegenstand nicht verdoppeln. Wenn das nämlich so wäre, dann wäre das Bild kein Bild mehr, sondern ein anderes Exemplar dessen, was es präsent machen will. Das bedeutet, dass das Bild sowohl von der Ähnlichkeit als auch von der Differenz zu dem lebt, worauf es verweist. Nur weil das Bild seinen Referenzgegenstand nicht in allen Hinsichten repräsentiert, sondern nur in ganz bestimmten, kann es unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte des Referenzgegenstandes fokussieren. Bilder repräsentieren demzufolge streng genommen auch nicht vorgegebene Gegenstände und Sachverhalte, sondern Wahrnehmungsweisen von Gegenständen und Sachverhalten. Das bedeutet, dass man die Ähnlichkeit eines Bildes mit dem von ihm Dargestellten bzw. den Grad der Ikonizität eines Bildes keineswegs nur aus dem Ausmaß der Analogien zwischen dem Bild und dem intendierten Referenzgegenstand abzuleiten hat. Vielmehr muss auch berücksichtigt werden, was das Objektivierungsziel des Bildproduzenten ist, welche Gegenstandsaspekte er herausarbeiten will bzw. in welcher Perspektive er den jeweiligen Referenzgegenstand zugänglich machen will. Daraus ergibt sich, dass man die Ähnlichkeitsproblematik bei Bildern prinzipiell nicht von der Perspektivitätsproblematik trennen darf, weil insbesondere gegenständliche Bilder durch die Spannung zwischen ihrem Analogie- und ihrem Interpretationsanspruch geprägt werden. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn man sich die Frage stellt, welchen Ähnlichkeits- bzw. Interpretationsanspruch Bilder hinsichtlich der Repräsentation von Einzeldingen stellen und hinsichtlich der Repräsentation des Raumes, in dem Einzeldinge in Erscheinung treten können. Da Bilder optische Phänomene sind, verquicken sich bei ihnen alle Formfragen mit Raumfragen. Obwohl dieser Tatbestand phänomenologisch grundlegend ist, ist er kulturhistorisch erst recht spät ins Bewusstsein getreten, weil man seine Aufmerksamkeit zunächst darauf richtete, wie Bilder Dinge abbilden, aber nicht darauf, wie sie den Raum abbilden. Das ist historisch verständlich, weil man sich im Denkrahmen der Substanzenontologie vornehmlich für die Repräsentation von Einzeldingen interessierte, aber nicht für den Relationszusammenhang von Dingen im Raum. Am klarsten dokumentiert das die religiöse Bildmagie, wo das Bild gleichsam substanziell an dem repräsentierten Gegenstand partizipiert und deshalb auch zu einer eigenständigen Wirkungsmacht werden kann, da es als Teil oder zumindest als Emanation dessen verstanden wird, was es repräsentiert. Für das Raumproblem in Bildern wurde man erst dann wirklich sensibel, als der Seinsbegriff ontologisch seine Vorrangstellung eingebüßt hatte, der Relationsbegriff seine Wirksamkeit zu entfalten begann und somit Konstellationsprobleme in den Vordergrund des Interesses rückten. Jetzt war die Raumgestaltung in Bildern kein Randproblem
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Sinn und Struktur von Bildern
mehr, das man durch die Ansammlung von Einzeldingen nebenbei löste, sondern ein Zentralproblem, weil die Anordnung der Dinge im Raum zu einer Weise der Dinginterpretation wurde. Im frühen bzw. mythischen Denken ist das Raumerlebnis nach Cassirer dadurch gekennzeichnet, dass die Position eines Dinges im Raum einen Teil seines Seins ausmacht. Der Raum werde dadurch gleichsam von der Übermacht der in ihm versammelten Dinge als eigener Wahrnehmungsgegenstand absorbiert oder die Raumbereiche würden selbst als substanzielle und nicht als relationale Phänomene wahrgenommen. Beispielsweise verstehe man Osten und Westen nicht als bloße Orientierungsrichtungen im Raum, sondern als Seinsregionen, insofern sie den Ursprung des Lichts und des Lebens verkörperten oder das Reich des erlöschenden Lichts und des Todes. Erst mit Leibniz höre der Raum auf, als Ding unter Dingen verstanden zu werden, und erscheine als Resultante des Sinnzusammenhangs von koexistierenden Dingen.2 Wenn man den Raum als Konsequenz des Sinnzusammenhangs korrelierter Dinge versteht, dann ist klar, dass umgekehrt der Maler über die Raumgestaltung auch einen großen Einfluss auf die Sinninterpretation der in ihm versammelten Dinge nehmen kann. Die Anordnung der Dinge im Raum des Bildes ist im Rahmen dieses Denkansatzes immer als eine Form der Ding- und Weltinterpretation anzusehen, ganz gleich ob man die Dinge im Bildraum nun zentralperspektivisch, teilperspektivisch oder bloß additiv anordnet. Die Art und Weise, wie die Dinge aufeinander bezogen werden, ermöglicht Rückschlüsse darauf, welche ihrer Aspekte für wichtig angesehen werden bzw. in welche Sinnzusammenhänge sie eingebracht werden sollen. Der Raum des Bildes ist so gesehen für den Maler kein leeres Zimmer, in das er die Dinge einziehen lässt, sondern eine Ordnungsvorstellung für den Zusammenhang von Dingen und damit eine Form der Dinginterpretation. Variationen der Raumgestaltung in der Geschichte der Malerei dokumentieren deshalb Variationen der Dingwahrnehmung bzw. des Interesses an Dingen. Angesichts dieser Überlegungen ist nun ganz offensichtlich, dass die Raum-, Perspektivitäts- und Interpretationsproblematik bei Bildern unauflöslich ineinander verschränkt ist. Ohne Berücksichtigung der Perspektivitätsproblematik können wir weder die in Bildern konstituierten Räume in ihrer sinnbildenden Funktion analysieren noch durch eine neue Anordnung der Dinge im Raum neue Wahrnehmungsweisen für Dinge entwickeln. Eine Phänomenologie des Bildes muss deshalb auch immer eine Phänomenologie der im Bild realisierten Raumgestaltung einschließen.
2
E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2, 19644, S. 12Iff. Ε. Cassirer, Symbol, Technik, Sprache, 1985, S. 98, 102.
Abbildung und Interpretation
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2. Abbildung und Interpretation Solange wir Bilder als ikonische Zeichen ansehen, müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, was sie abbilden. Nach den bisherigen Überlegungen ist es allerdings nicht mehr zulässig, diese Abbildungsfunktion so zu verstehen, dass gemalte Bilder originale Gegenstände abbilden, sondern allenfalls so, dass sie primäre Vorstellungen von Originalen abbilden, also Urbilder. Das bedeutet, dass wir den Abbildungsanspruch von Bildern weniger mit Bezug auf den ontischen Referenzgegenstand selbst diskutieren dürfen, sondern eher mit Bezug auf unsere Grundvorstellungen von den jeweiligen Referenzgegenständen. Das Faktische, das Bilder abzubilden scheinen, ist bei genauerer Betrachtung selbst wieder etwas Gemachtes (factum). Solange die jeweiligen Urbilder durch bestimmte Wahrnehmungstraditionen eine feste Gestalt haben, macht es uns keine großen Schwierigkeiten, den Abbildcharakter von Bildern festzustellen bzw. ihren Grad an Ikonizität. Schwierig wird es, wenn es keine festen konventionalisierten Urbilder von den jeweiligen Gegenständen mehr gibt oder wenn neue Wahrnehmungsweisen bzw. neue Urbilder mit Hilfe von Bildern objektiviert werden sollen. Davon zeugen neue Darstellungsstile in der Malerei, die neue Sichtweisen für alte Erfahrungsbereiche objektivieren wollen. Aus diesen Überlegungen folgt nun, dass der Abbildcharakter von Bildern bzw. das Phänomen der Ähnlichkeit immer mit den Kategorien Selektion, Intentionalität und Interpretation in Zusammenhang gebracht werden muss. Weil Ahnlichkeitsrelationen gewollte Ahnlichkeitsrelationen sind, muss man sich fragen, im Hinblick auf welche Gegenstandsaspekte Bilder Ähnlichkeiten herausstellen wollen. Autos einer Serie sind einander auch ähnlich, aber dennoch werden wir kaum ein Auto als Bild eines anderen Autos ansehen, weil die hier vorliegenden Ähnlichkeiten keine intentional gewollten und selektiv akzentuierten Ähnlichkeiten sind. Eine mechanisch bedingte Ähnlichkeit eines Phänomens mit einem anderen reicht nicht aus, um es zu einem Bild von einem anderen Phänomen zu machen. Da auch bei intentional nicht gestalteten Fotos und Spiegelbildern das Phänomen der Ähnlichkeit mit den jeweiligen Originalen in einem sehr hohen Maße mechanisch-technisch bedingt ist, werden wir auch diese nicht als genuine Bilder ansehen können, weil ihnen die Merkmale Selektivität und Intentionalität fehlen und damit auch das Moment der Geformtheit. Sie weisen zwar eine reproduktive Ähnlichkeit auf, aber keine produzierte Ähnlichkeit, die zugleich immer auch als eine produktive Ähnlichkeit zu verstehen ist, weil der Abbildungsvorgang unter diesen Umständen immer auch als ein Interpretationsvorgang zu werten ist. Eine andere Beurteilung ergibt sich allerdings,
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Sinn und Struktur von Bildern
wenn beispielsweise Fotos durch die Anstrengungen eines Fotografen ihre Gegenstände in ungewöhnlichen Perspektiven, Lichtverhältnissen, Rasterungen oder Kontexten zu objektivieren versuchen und wenn Spiegelbilder kontrastiv in andere Wahrnehmungen bzw. Bilder integriert werden. Wenn man dieser Argumentation folgt, dann ergibt sich der Schluss, dass die Ähnlichkeit von Bildern mit ihren Referenzgegenständen nur dann ihren eigentlichen Zweck erfüllt, wenn sie unvollständig ist, wenn das Bild also nicht anstrebt, eine vollständige Imitation dessen zu werden, was es abbildet, und wenn es beim Wahrnehmenden nicht die Illusion erzeugt, es unmittelbar mit den abgebildeten Gegenständen zu tun zu haben. In diesem Falle verlöre das Bild nämlich seine Zeichenfunktion, weil es für den Bildrezipienten zu einer unmittelbaren Präsenz der repräsentierten Sache käme. Bilder können ihre eigentliche Sinnfunktion offenbar erst dann erfüllen, wenn sich das Dingbewusstsein vom Bildbewusstsein unterscheiden lässt, wenn man den Unterschied von Sein und Dargestellt-Sein erfasst hat, wenn ein mediales Bewusstsein vorhanden ist und wenn das Bild seinen Repräsentationscharakter und Kunstcharakter nicht vertuscht, sondern ausdrücklich kenntlich macht. Die Zeichenfunktion von Bildern kann allerdings im Bild selbst nicht dargestellt werden, sie muss aus der Struktur des Bildes abgeleitet werden können bzw. in die Wahrnehmung des Bildes integriert werden. Mit diesen Überlegungen stoßen wir auf den fast paradoxen Sachverhalt, dass das Defizit an Ähnlichkeit zwischen dem Bild und dem Gegenstand des Bildes als ontologische Grundlage des Bildes gewertet werden muss bzw. als Voraussetzung seiner Repräsentationsfunktion. Ohne die Differenz von Bild und Bildgegenstand können Bilder ihre genuine Sinnbildungsfunktion nicht optimal erfüllen, die nicht darin besteht, Realität zu verdoppeln bzw. eine Illusion von Realität zu erzeugen, sondern vielmehr darin, Realität zu erschließen bzw. unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten für Realität zu differenzieren. Diese Problematik illustriert sehr schön die Geschichte von Zeuxis und Parrhasios, die uns Plinius überliefert hat.3 Zeuxis war nach dieser Überlieferung ein Maler, dessen Ruhm darin bestand, dass er von Gegenständen so naturalistische Abbilder herstellen konnte, dass die Illusion entstand, man habe es mit den jeweiligen Gegenständen selbst zu tun. So soll er Trauben so naturgetreu abgebildet haben, dass Vögel kamen, um an ihnen zu picken. Parrhasios wollte diese Form der Abbildungskunst des Zeuxis nun noch überbieten. Er lud Zeuxis ein, um ihm ein eigenes Meisterwerk zu präsentieren. Als man ihm dieses Werk dann nicht sofort zeigte, verlangte Zeuxis ungeduldig, einen Vorhang wegzunehmen, der ihm das Meisterwerk zu verhüllen schien. Zu seiner Überraschung musste er einsehen, dass das Meisterwerk der gemalte Vorhang war. Zeuxis gab sich geschlagen, weil
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C. Plinius, Naturalis historia - Naturiomde 1978, Buch XXXV, Kap. 65, S. 55.
Abbildung und Interpretation
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er selbst nur Vögel habe täuschen können, während es Parrhasios gelungen sei, ihn als Künstler zu täuschen. Mit Hilfe dieser Anekdote lässt sich sehr schön zeigen, wie problematisch es ist, den Kunstcharakter bzw. den Sinngehalt von Bildern aus dem Ausmaß ihrer Ähnlichkeit mit den jeweiligen Referenzgegenständen abzuleiten bzw. aus der Möglichkeit des Bildes, die Illusion von Realität vorzugaukeln. Visuelle Abbilder müssen ebenso wie kognitive Abbilder bzw. Begriffe abstraktiv und selektiv sein, um die Welt perspektivisch erschließen zu können. In der Unvollständigkeit der Ähnlichkeit des Bildes mit dem von ihm präsentierten Sachverhalt liegt das ontologische Existenzrecht des Bildes begründet, weil Bilder nur dadurch unsere Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Aspekte von Sachverhalten fokussieren können. Schematisierte Zeichnungen sind deshalb für die Erfassung von Realitätsstrukturen oft sehr viel hilfreicher als Fotos, die dem Selektionspostulat viel weniger gerecht werden können. Für die Beschreibung von Bildern sind deshalb die Begriffe Abbildung und Interpretation als sich ergänzende Analysebegriffe zu werten. Wenn Bilder Sachverhalte abbilden, dann interpretieren sie diese zugleich, weil sie durch ihre besondere Gestaltungsstrategie unsere Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Weise lenken und akzentuieren. Für Hamann konkretisiert sich deshalb gerade in Bildern unsere geistige Welt. „Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.,A Die interpretative Kraft von Bildern gründet sich wie gesagt darauf, dass sie nicht Gegenstände, sondern bestimmte Wahrnehmungsweisen von Gegenständen objektivieren. Solche Wahrnehmungsweisen sind nicht als bloße Gegenstandsregistrierungen zu werten, sondern als Prozesse der Gestaltbildung, in denen optische Reize nach genetisch- und kulturbedingten Strategien zu bestimmten Vorstellungsbildern verarbeitet werden. Streng genommen sehen nicht die Augen, sondern wir sehen vermittels von Augen, neuronalen Verarbeitungsprogrammen sowie kulturell entwickelter Sehgewohnheiten als Stilen der Realitätsinterpretation und Realitätsobjektivierung. Gerade weil Bilder ihre Gegenstände selektiv objektivieren, können sie als Manifestationen bestimmter Interpretationsperspektiven verstanden werden. Die Objektivierungsstruktur von Bildern ist durch eine dialektische Spannung geprägt. Einerseits sollen Bilder den Betrachtern über vertraute Sichtweisen die Wahrnehmung der repräsentierten Gegenstände erleichtern und auf diese Weise Bilder leichter lesbar machen. Andererseits müssen die Objektivierungsverfahren einen dynamischen Variationsspielraum haben, um die Gegenstände der Bilder auf eine neue und interessante Weise zugänglich zu machen. Da alle Interpretationsprozesse dadurch bestimmt sind, dass sie Unbekanntes mit Bekanntem verknüpfen, brauchen auch Bilder sowohl 4
J.G. Hamann, Aestetica in nuce, Schriften zur Sprache, 1967, S. 107.
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kontinuitätsstiftende Darstellungskonventionen als auch traditionstranszendierende Sichtweisen, um ihren Aufgaben als unbegrifflichen Erkenntnismitteln gerecht werden zu können. Das Schicksal von Künstlern, die neue Objektivierungsstile entwickeln, ist es deshalb, dass sie von ihren Zeitgenossen meist nicht verstanden werden, während Epigonen, die traditionelle Objektivierungsstile perfektionieren, erfolgreich sind, ohne allerdings innovativ wirksam werden zu können. Die verschiedenen Realisationsformen von Perspektivität in Bildern von der additiven Füllung des Bildraumes mit Gegenständen über die perspektivische Gestaltung des Raumes bis zur Negation zentralperspektivischer Darstellungsweisen lassen sich als kulturelle Objektivierungsstile verstehen, in denen unterschiedliche Formen der Weltwahrnehmung erprobt werden. Die Geschichte dieser Objektivierungsstile wird man kaum als Fortschrittsgeschichte beschreiben können, sondern eher als eine Ausprägungsgeschichte von unterschiedlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und Darstellungsintentionen. Wenn beispielsweise in der altägyptischen Kunst Menschen so dargestellt werden, dass die Brust in Vordersicht und der Kopf in Seitensicht objektiviert werden, dann ist das nicht als Mangel an darstellerischem Vermögen zu werten, sondern vielmehr als Ausdruck eines Darstellungswillens, dem nichts daran liegt, faktische Seheindrücke von Gegenstände wiederzugeben, sondern der vielmehr darauf aus ist, Menschen so darzustellen, dass ihre jeweiligen Körperteile so markant wie möglich hervortreten. Arnheim hat deshalb auch betont, dass es das generelle Ziel der Kunst sei, eindrucksvolle Objektivierungsmuster zu erfinden. Die Einbildungskraft des Künstlers als eine Fähigkeit, Altbekanntes auf neue Weise zu sehen und diese Sichtweisen in Bilder zu verwandeln, äußere sich deshalb auch nicht in erster Linie in der Erfindung eines neuen Themas oder in der Erfindung beliebig neuer Formen. Vielmehr bestehe sie darin, altbekannte Inhalte in neuartigen Formen zu objektivieren, um auf diese Weise neue Aspekte von scheinbar schon vertrauten Sachverhalten zu erschließen bzw. einen „ neuen Zugang zu einem alten Thema " zu finden.5 Eine Form kann im Objektivierungsvorgang mit einem Inhalt so zu einer Gestalt verschmelzen, dass sie sich als Form kaum noch isolieren lässt und deshalb als ganz selbstverständlich erscheint. Erst wenn die Form schlecht oder der Darstellungsstil ganz unvertraut ist, bleiben wir in spontanen Wahrnehmungsprozessen an der Form hängen und unterscheiden diese von dem Inhalt. Auch über die Ausbildung eines historischen Bewusstseins und den Vergleich von Objektivierungsstilen können wir die jeweiligen Darstellungsformen partiell von den jeweiligen Darstellungsinhalten isolieren und Formen als Interpretationsstile qualifizieren. Robuste Künstler und Kulturen haben Formen, aber in der Regel kein explizit ausgebildetes Formbewusstsein, weil 5
R. Arnheim, Kunst und Sehen, 1978, S. 136.
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die von ihnen realisierten Formen für die Objektivierung von Gegenständen ihnen als völlig selbstverständlich erscheinen. Obwohl ein ausgeprägtes Formbewusstsein zur Professionalität eines Kunsthistorikers gehört, findet auch er nicht den archimedischen Punkt, von dem aus er Formen absolut vom Inhalt trennen könnte, denn auch ihm begegnet kein Inhalt ohne Form und keine Form ohne Inhalt. Allenfalls können wir eine Verbildlichungsform mit einer anderen vergleichen und feststellen, dass zu verschiedenen Zeiten Sachverhalte auf andere Weise objektiviert worden sind und deshalb wohl auch für die Wahrnehmenden auf andere Weise in Erscheinung getreten sind. Die bildende Kunst kann dementsprechend als ein heuristisches Verfahren angesehen werden, Muster und Modelle der Weltwahrnehmung zu entwickeln, die uns helfen, auf differenziertere Weise sehen zu lernen, als es die Rahmenbedingungen unseres Alltagslebens notwendig machen. Gombrich zitiert deshalb auch zustimmend einen epigrammatischen Ausspruch des Malers John Constable. „Die Kunst, die Natur zu sehen ... muß fast ebenso gelernt sein, wie die Kunst, ägyptische Hieroglyphen zu lesen. "6 Goodman akzentuiert die heuristische Kraft von Bildern sogar so stark, dass er unsere phänomenale Naturwahrnehmung auf die Formen zurückführt, mit denen wir uns die Natur verbildlicht und versprachlicht haben. „Die Natur ist ein Produkt der Kunst und der Sprache. "7 Die heuristische Funktion der Kunst für die Weltwahrnehmung hat auch Picasso ausdrücklich hervorgehoben. „ Wir wissen alle, daß die Kunst nicht Wahrheit ist, Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können. "8
3. Die Eigenwelt von Bildern Wenn man Bilder als heuristische Modelle für unsere Ding- und Weltwahrnehmung betrachtet, dann muss man ihnen auch einen hohen Grad innerer Autarkie zubilligen. Erst wenn man das Bild und insbesondere das künstlerische Bild als einen eigenen Kosmos ernst nimmt, kann es seine Funktion, als Modell und Erschließungswerkzeug für die Welt zu dienen, wirklich erfüllen. Wenn Bilder nicht selbst strukturierte Gestalten sind, können sie uns nicht helfen, neue Strukturen zu entdecken. Die Konstellation der Teile muss dabei keineswegs immer unseren alltäglichen Sehgewohnheiten entsprechen, aber sie muss die Teile in einen sinnbildenden Relationszusammenhang bringen. Ebenso wie Spiele und literarische Fiktionen müssen auch Bilder als eigenständige Welten betrachtet werden, die zwar aus der realen Welt hervorgehen
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E.H. Gombrich, Kunst und Illusion, 19862, S. 30. N. Goodman, Sprachen der Kunst, 1973, S. 44. P. Picasso, Wort und Bekenntnis, 1954, S. 9.
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Sinn und Struktur von Bildern
und mit Elementen dieser Welt arbeiten, die aber dennoch als autonome Ordnungsgestalten anzusehen sind. Für bildliche Artefakte gilt dasselbe, was Novalis für die Herstellung von sprachlichen Texten postuliert hat. Erst wenn man sich bei der Herstellung von Bildern ganz darauf konzentriert, eigene Welten herzustellen, können sie helfen, die reale Welt differenzierter wahrzunehmen. Gerade weil das, was wir objektive Realität zu nennen pflegen, nicht der stabile Ausgangspunkt von Interpretationsprozessen ist, sondern selbst schon ein Konstitut aus elementaren bzw. pragmatisch bewährten Wahrnehmungsmustern, ist die Eigenständigkeit der Bildwelt eine notwendige Voraussetzung dafür, um Bilder als Einstieg in den hermeneutischen Zirkel der Weltinterpretation nutzen zu können. „Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache ... Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen - sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, - daß, wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmtem sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen ... Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei - Sie machen eine Welt für sich aus - Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll - eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge. Nur durch ihre Freiheit sind sie Glieder der Natur und nur in ihren freien Bewegungen äußert sich die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maaßstab und Grundriß der Dinge."9
Die Verankerung der heuristischen Kraft von Bildern in ihrer Eigenweltlichkeit ist natürlich nicht so zu verstehen, dass die Strukturierung dieser Eigenweltlichkeit willkürlichen und zufälligen Relationierungen entspringen darf. Ebenso wie bei der Erzeugung von Metaphern muss auch bei der Erzeugung von Bildern die Korrelation von Einzelteilen motiviert sein, weil sonst keine wahrnehmbaren Sinngestalten entstehen können. Die Grenzen für die Kombinationsfähigkeit von Elementen lassen sich allerdings nicht vorab festlegen, weil sie sich im Vollzug von Sinnbildungsprozessen verschieben können. Gerade wenn wir die These der Funktionenontologie ernst nehmen, dass die Dinge nicht von sich aus normativ festlegen, in welche Relationen sie eintreten können, sondern dass sie vielmehr für uns nur über diejenigen Relationsgeflechte wahrnehmbar werden, in denen sie uns erscheinen, dann müssen wir auch zugestehen, dass die Eigenwelt von Bildern eine unabdingbare Voraussetzung ihrer heuristischen Funktionen ist. Das lässt sich gut an der Rezeption kubistischer Bilder demonstrieren.
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Novalis, Monolog um 1798, Werice Bd. 2, 1999, S. 438.
Die Eigenwelt von Bildern
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Bei kubistischen Bildern zeigt sich sehr klar, dass sie keineswegs natürliche Seheindrücke spiegelbildlich objektivieren wollen, sondern dass sie ausdrücklich eine eigene Welt aufzubauen versuchen, die nur mittelbar auf die reale Welt zu beziehen ist. Auf kubistischen Bildern kann derselbe Gegenstand in Vorder-, Seiten-, Rück- und Aufsicht objektiviert werden, also in Wahrnehmungsperspektiven, die wir in natürlichen visuellen Wahrnehmungsprozessen nicht simultan ineinander verschränken können. Dadurch kommt es in kubistischen Bildern zu einer Negation unserer üblichen Raum- und Perspektivitätserfahrung, durch die uns diese Gestaltbildungsstrukturen oft erst explizit bewusst werden. Uns wird auf diese Weise klar, dass unsere Wahrnehmungsinhalte nicht nur von den jeweiligen Wahrnehmungsobjekten her bestimmt werden, sondern auch von der Position der Wahrnehmungssubjekte im Raum bzw. von der Reihenfolge einzelner Wahrnehmungsakte in der Zeit. Obwohl wir die Welt üblicherweise nicht so sehen, wie die Kubisten sie darstellen, lässt sich schwerlich leugnen, dass auch sie versuchen, bestimmte Gegenstände ganzheitlich zu repräsentieren, wenn auch auf eine Weise, die unserer traditionellen Vorstellung von Ganzheitlichkeit und Realismus nicht entspricht, weil diese sich sehr stark an unseren natürlichen Seheindrücken und nicht an unseren allgemeinen Erfahrungen mit den Dingen orientiert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch, dass Kinder sich bei der Gestaltung ihrer Bilder zunächst eher an ihren Wissensbeständen von den dargestellten Gegenständen ausrichten als an ihren natürlichen Seheindrücken. So haben die Autos auf Kinderbildern in der Regel vier Räder, obwohl das keinem natürlichen optischen Seheindruck von Autos entspricht. Woran liegt es nun, dass Bilder eine immanente Tendenz haben, eine Welt eigener Ordnung auszubilden und keine natürlichen Seheindrücke zu repräsentieren? Ein Grund liegt sicher darin, dass die Bilder eigentlich nicht individuelle Einzeldinge und individuelle Konstellationen von Dingen zu objektivieren versuchen, sondern einen Dingtypus bzw. einen Konstellationstypus. Dürers Bild des Hasen oder der Mutter repräsentiert keinen bestimmten Hasen und keine bestimmte Mutter, sondern den Typus Hase bzw. Mutter. Auf dieses Objektivierungsziel sind wir bei der Wahrnehmung von Bildern so eingestellt, dass Arnheim sogar von „ Wahrnehmungsbegriffen " spricht, um darauf aufmerksam zu machen, dass schon elementare Sinnestätigkeiten wie das Sehen eine natürliche Tendenz zur Ausbildung von Mustern haben bzw. zur Gestaltwahrnehmung.10 Diese Tendenz zeigt sich dann natürlich auch in der Bildgestaltung. Wenn Kinder Menschen als Kopjfüßler darstellen, also Arme und Beine direkt aus dem Kopf hervorwachsen lassen und auf die Darstellung des Rumpfes verzichten, dann haben sie weder etwas verdrängt noch falsch wahrgenommen, sondern nur das akzentuiert, was ihnen am Menschen am bemerkenswertesten erscheint. Da Kinder ebenso wie Künstler die Erschei10
R. Amheim, Kunst und Sehen, 1978, S. 49ff.
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Sinn und Struktur von Bildern
nungswelt nicht imitieren wollen, sondern nur das darzustellen versuchen, was ihnen besonders wichtig erscheint, kann aus der Struktur der Eigenwelt ihrer Bilder auch auf die Struktur ihrer geistigen Welt zurückgeschlossen werden. Die Eigenwelt von Bildern ist pragmatisch gesehen der Eigenwelt von Begriffen oder Texten vergleichbar. Beide sind dadurch bestimmt, dass sie einerseits als autonome Ordnungsgestalten wahrnehmbar sein sollen, dass sie andererseits aber auch über sich selbst hinauszuweisen versuchen und als Zeichen etwas repräsentieren wollen, was sie selbst nicht sind. Sie wollen unsere Aufmerksamkeit perspektivisch auf Ordnungsstrukturen der Welt richten, die wir in unseren alltäglichen Wahrnehmungsprozessen nicht oder nicht prägnant genug wahrnehmen, weil die Intentionalität unserer Wahrnehmungen zu sehr von unseren unmittelbaren Lebensbedürfnissen und Wahrnehmungstraditionen bestimmt wird. In der Eigenwelt von Bildern und sprachlichen Formen sammelt sich dann allerdings ein Wissen an, das mittelbar wieder auf unsere künftigen Wahrnehmungen und Sinnbildungsanstrengungen zurückwirken kann, weil Wahrnehmungsmuster geschaffen werden, die dabei helfen, die Welt differenzierter und akzentuierter sehen zu können. Alle Kunst ist konkret, insofern sich in ihr eine Eigenwelt manifestiert, und abstrakt, insofern sie typische Strukturordnungen herauszuarbeiten versucht. Das gilt sowohl für die traditionelle gegenständliche Bildkunst als auch für die moderne abstrakte Bildkunst. In Letzterer tritt die Eigenweltlichkeit von Bildern nur deutlicher hervor, weil ihr Interesse an Strukturordnungen einen höheren Grad an Abstraktivität hat und sich oft ganz auf das Problem der Färb- und Formordnungen konzentriert. Das Phänomen der Perspektivität ist im Zusammenhang mit dem Problem der Eigenweltlichkeit von Bildern auf doppelte Weise von Bedeutung. Einerseits ist nämlich danach zu fragen, welche Rolle die verschiedenen Erscheinungsformen von Perspektivität (Größenperspektive, Bedeutungs- bzw. Relevanzperspektive, Zeitperspektive, Farbperspektive, Luftperspektive usw.) spielen, um dem jeweiligen Bild eine spezifische Ordnungsgestalt zu geben. Andererseits ist danach zu fragen, wie ein Bild perspektivisch auf potenzielle Wahrnehmungssubjekte zugeordnet ist. Soll das Bild sich an möglichen realen Seheindrücken orientieren bzw. sogar die Illusion von Realität erzeugen oder soll es sich als Artefakt kenntlich machen und natürliche Seheindrücke ausdrücklich negieren? Dieses Problem wird dann insbesondere im Zusammenhang mit der Beurteilung zentralperspektivischer Objektivierungsformen wichtig-
III Darstellungsformen in der frühen Kunst Wer sich mit der Entwicklungsgeschichte des Denkens und der Kultur beschäftigt, dem stellt sich die Frage, warum es im Laufe der Zeit in der bildenden Kunst, der Philosophie und Literatur so viele unterschiedliche Objektivierungsstile für die Repräsentation von Welt gegeben hat und ob all diese Stile das gleiche Existenzrecht haben. Insofern man dem Fortschrittsgedanken huldigt, wird man annehmen, dass sich die Objektivierungsverfahren im Laufe der Zeit qualitativ verbessert haben. Sofern man historisch denkt, wird man eher annehmen, dass die verschiedenen Objektivierungsstile ihren spezifischen Eigenwert haben, da sie Ausprägungsformen unterschiedlicher Sinnbildungsanstrengungen sind. Für den Bereich der Kunst und der Philosophie ist die Brauchbarkeit des Fortschrittsgedankens immer wieder in Zweifel gezogen worden, weil es hier im Gegensatz zu den Fachwissenschaften keinen verbindlichen Maßstab gibt, an dem der Fortschritt zu messen wäre. Deshalb zeigt sich auch hier eine natürliche Tendenz, nicht die Defizite zeitlich früherer Objektivierungsstile gegenüber späteren herauszuarbeiten, sondern vielmehr die spezifische Intentionalität jedes einzelnen Stils. Die Beschäftigung mit kindlichen, prähistorischen oder archaischen Darstellungs- und Kunstformen lässt sich deshalb nicht nur durch ein historisch-antiquarisches Interesse rechtfertigen, sondern auch durch ein systematisch-philosophisches. Wir stoßen hier auf Sinnbildungsanstrengungen und Repräsentationsformen, die in späteren Kulturepochen oft verstellt, verdrängt oder vergessen worden sind, die aber nicht in dem Sinne überholt werden können, dass sie als Möglichkeiten der Weltsicht und der Welterschließung gegenstandslos und überflüssig werden. Wenn wir für die bildende Kunst postulieren, dass die unterschiedlichen Repräsentationsstile prinzipiell gleichberechtigt sind, dann müssen wir das auch für die sprachliche Kunst tun. Darüber hinaus können wir postulieren, dass auch die verschiedenen Objektivierungsstile, die sich in der Grammatik und Lexik der einzelnen Sprachen manifestieren, prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander stehen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch, dass schon am Ende des 18. Jahrhunderts der Königsberger Historiker Christian Jakob Kraus im Denkhorizont der sich formierenden vergleichenden
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Darstellungsformen in der frühen Kunst
Sprachforschung die Sprachen als „ Gemälde von den Gedankensystemen der Sprechenden " angesehen hat.1 Dieses prinzipielle Gleichberechtigungspostulat schließt natürlich nicht aus, dass für die Realisierung bestimmter Objektivierungsintentionen bestimmte sprachliche Objektivierungsformen und -Stile besser geeignet sind als andere. Die Ausbildung von Fachsprachen mit definierten Objektivierungszielen dokumentiert das sehr klar. Wenn es aber darum geht, mögliche Objektivierungsziele erst zu erkunden, dann haben die verschiedenen Objektivierungsstile zunächst dasselbe Lebensrecht. Sie müssen erst einmal hinsichtlich ihrer immanenten kognitiven Perspektivität analysiert werden, bevor sie mit Hilfe kontrollierbarer Maßstäbe bewertet werden.
1. Kinderbilder und archaische Kunst Bilder sind prinzipiell abstrakt, weil sie selektiv und interpretativ sind. Erst in relativ späten Kulturstufen treffen wir auf Bilder, die sich darum bemühen, die Erscheinungswelt so realistisch wie möglich abzubilden bzw. durch eine zentralperspektivische Gestaltungsweise die Illusion von Realität zu erzeugen. Die Objektivierungsstile, die wir in Kinderbildern und Bildern der archaischen Kunst antreffen, ähneln sich in vielem. Das ist auch nicht besonders überraschend, wenn die These stimmt, dass die Menschheitsentwicklung (Phylogenese) und die Individualentwicklung (Ontogenese) eine große Analogie zueinander aufweisen. Das Interesse an der Raumobjektivierung beginnt offenbar erst dann, wenn die Dingobjektivierung beherrscht wird. Das wohl auffälligste gemeinsame Strukturmerkmal von Kinderbildern und archaischen Bildern besteht darin, dass sie gemessen an den Normen einer zentralperspektivischen Darstellungsweise unperspektivisch organisiert sind. Das bedeutet nun aber keineswegs, dass sie ohne Perspektivität sind, sondern nur, dass sie eine bestimmte Ausprägungsform von Perspektivität nicht aufweisen. Typisch für diese Bilder ist, dass sie die dargestellten Dinge konstellativ nicht auf einen spezifischen Sehepunkt zuordnen und deshalb auch natürlichen Seheindrücken nicht entsprechen. Diese Bilder sind in dem Sinne unrealistisch, als sie keinen potenziellen optischen Seh- und Raumwahrnehmungen entsprechen. Man hat diese Bilder auch als Streubilder gekennzeichnet, weil die jeweilige Bildfläche additiv mit Einzeldingen angefüllt wird. Die Einzeldinge können dabei von ganz unterschiedlichen Sehepunkten bzw. in ganz unterschiedlicher Perspektive dargestellt sein. Für die auf den Bildern dargestellte Szenerie gibt es keinen festen Betrachtungsort, sondern allenfalls feste Sehepunkte für die Darstellung der einzelnen Dinge.
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Zit. nach H. Arens, Sprachwissenschaft, 1994, Bd. 1, S. 136.
Kinderbilder und archaische Kunst
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Panofsky hat in erhellender Weise davon gesprochen, dass in der frühen Kunst der Raum als „Aggregatraum " objektiviert werde und in der zentralperspektivischen Kunst der Renaissance als „Systemraum"} Vielleicht bietet es sich an, diese beiden Analysebegriffe Panofskys noch durch den Begriff Strukturraum zu ergänzen. Damit hat man dann einen weiteren Analysebegriff zur Verfügung, der räumliche und kognitive Ordnungszusammenhänge erfassen kann, in denen die einzelnen Elemente weder additiv noch systemhaft geschlossen aufeinander bezogen sind, sondern in relativ offenen und variabel interpretierbaren Strukturordnungen.
Als Beispiel für die Gestaltung eines Aggregatraumes verweist Panofsky im Anschluss an Schäfer auf ein altägyptisches Gartenbild. Hier ist eine rechteckige Wasserfläche im Grundriss aus der Vogelperspektive von oben gezeichnet. Die Bäume, die die Wasserfläche umrahmen, sind im seitlichen Aufriss gestaltet und stehen mit ihren Wurzeln jeweils senkrecht zu den vier Wasserlinien. Das bedeutet, dass jede der vier Baumlinien von einem anderen Sehepunkt her dargestellt worden ist und dass das Gesamtbild schließlich so aussieht, als ob die Bäume nach den vier Himmelsrichtungen seitlich umgeklappt worden sind. Die auf dem Bild dargestellten Menschen sind nun merk-
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E. Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form", 1927, S. 269. Schon Schiller hatte im Hinblick auf die Geschichtsschreibung davon gesprochen, dass die philosophisch orientierte Geschichtsschreibung sich darum bemühe, „ein Aggregat von Bruchstücken ' durch sinnvolle Verknüpfungen zu einem System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen" zu machen. F. v. Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Schillers Werke, Bd. 17, 1970, S. 373. Vgl. auch Kant, Werke, 19782, Bd. 11, S. 48. Abb. 1: H. Schäfer, Von ägyptischer Kunst, 19634, S. 251. Abb. 2: Elisabeth Koller, 8 Jahre.
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Darstellungsformen in der frühen Kunst
würdigerweise nicht in derselben Manier objektiviert worden, sondern vielmehr so, dass sie immer aufrecht mit dem Kopf nach oben stehen. Insgesamt ergibt sich aus dieser Konstellation von Einzeldingen ein Bild, das in dem Sinne extrem unrealistisch ist, als es keinem potenziellen Seheindruck entspricht und den Raum auf eine Weise objektiviert, die unserer natürlichen Raumwahrnehmung nicht entspricht. Die Einzeldinge werden auf dem Bild zwar auf abstraktive Weise mehr oder weniger eindeutig von einem bestimmten Sehepunkt her dargestellt, für die ganze Szenerie gibt es aber keinen systemstiftenden einheitlichen Sehepunkt. Eine ganz ähnliche Ding- und Raumobjektivierung zeigen auch Kinderbilder. Wenn Kinder beispielsweise einen Kreis von Menschen zeichnen, dann objektivieren sie dabei nicht den natürlichen Seheindruck von einer solchen Konstellation. Vielmehr gestalten sie ihr Bild so, dass die einzelnen Personen von einem je eigenen Sehepunkt in Frontalsicht dargestellt und dann additiv zu einem Kreis zusammengefügt werden. Die Einzelpersonen werden in einer bestimmten Perspektive objektiviert, aber die ganze Szenerie wird in dem Sinne unperspektivisch dargestellt, als es keine raumbildende Einheitsperspektive für das Gesamtbild gibt. Auf diese Weise entsteht ein additiver Aggregatzusammenhang, der keinem potenziellen optischen Erscheinungsbild entspricht. Wenn man nun archaische Bilder oder Kinderbilder als unperspektivisch bezeichnet, dann ist das eine Redeweise, die methodologisch problematisch ist, weil dadurch die Struktur dieser Bilder nicht durch vorhandene Merkmale positiv bestimmt wird, sondern durch nicht vorhandene Merkmale negativ. Ein solches Verfahren führt leicht dazu, das zentralperspektivische Objektivierungsverfahren als natürliche Norm anzusehen und alle anderen Objektivierungsverfahren als Vor-, Mangel- oder Negationsstufen dieses Ideals. Dadurch unterwirft man diese Bilder einem Beurteilungsmaßstab, der ihren eigenen Darstellungsintentionen gar nicht entspricht. Angemessener wäre es deshalb, diese Bilder als vorperspektivisch zu kennzeichnen, weil diese Qualifizierung eher historisch-deskriptive als normativ-wertende Zielsetzungen hat. Die Charakterisierung dieser Bilder als vorperspektivisch bedeutet nicht, dass es in ihnen das Phänomen Perspektivität nicht gibt, sondern lediglich, dass die in ihnen dargestellten Dinge nicht von einem, sondern von unterschiedlichen Sehepunkten her objektiviert werden. Dieser Repräsentationsstil fällt natürlich auch unter die Kategorie der Perspektivität, weil dahinter ein ganz bestimmter Objektivierungswille steht. Dieser ist dadurch geprägt, dass sich das Wahrnehmungsinteresse ganz darauf konzentriert, die kontextunabhängigen Wesensmerkmale der Dinge herauszuarbeiten, aber nicht darauf, potenzielle Seheindrücke von Dingen wiederzugeben. Die angenommenen Wesensmerkmale der Dinge können dabei durchaus abstraktiv vereinfacht und stilisiert werden. Beispielsweise sind Beine nur als Beine interessant, aber
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nicht als Beine mit Kniegelenken. Die einzelnen Teile von Dingen werden farblich und zeichnerisch scharf voneinander abgesetzt, weil man nicht funktionalistisch und korrelativ denkt, sondern atomisierend und isolierend. Der Verzicht von archaisch denkenden Menschen und Kindern, Dinge und Sachverhalte bildlich so zu objektivieren, wie sie optisch erscheinen, wird meist damit erklärt, dass sie nicht das verbildlichen wollen, was sie sehen können, sondern vielmehr das, was sie wissen. Da sie wissen, dass ein Tisch rechtwinkelig oder rund ist, zeichnen sie ihn dementsprechend, obwohl rechtwinkelige Tische optisch immer mit verschobenen Winkeln und runde Tische immer oval in Erscheinung treten. Dieser Tatbestand hat Verworn dazu inspiriert, zwischen „physioplastischer" und „ideoplastischer" Kunst zu unterscheiden.4 Während die physioplastische Kunst eine natürliche Wiedergabe von konkreten Seheindrücken anstrebe, tendiere die ideoplastische Kunst zu abstraktiven Typisierungen. Kinderzeichnungen sind seiner Meinung nach durch und durch ideoplastisch, weil Kinder nicht ihre Seheindrücke, sondern ihr Wissen zu repräsentieren versuchten. Deshalb mache es ihnen auch gar keine Schwierigkeiten, z.B. Wagen zu zeichnen, bei denen der Wagenrumpf in der Aufsicht und die Räder in der Seitensicht dargestellt würden. Den Darstellungswillen von Naturvölkern stuft Verworn ebenfalls als ideoplastisch ein. Kinder und archaisch denkende Menschen intendieren im Prinzip keine naturgetreue Wiedergabe von realen oder potenziellen Seheindrücken, sondern versuchen eine Objektivierung der von allem Individuellen und Zufälligen gereinigten Typik der jeweiligen Gegenstände. Um die konstitutiven Merkmale der jeweiligen Gegenstände herauszuarbeiten, wählen sie diejenige Wahrnehmungsperspektive, die diese Merkmale am eindrucksvollsten erschließt. Vierfüßler, Fische oder Rosenknospen werden deshalb in Seitensicht dargestellt, während Fliegen, Eidechsen und geöffnete Rosen in der Regel in Aufsicht objektiviert werden.5 Bei dieser Objektivierungsintention gibt es deshalb auch keine Probleme, die einzelnen Teile des menschlichen Körpers in jeweils derjenigen Perspektive darzustellen, in der sie am eindrucksvollsten hervortreten. So kann beispielsweise die Brust in Vordersicht dargestellt werden und der Kopf in Seitensicht. Es wird auch nicht als problematisch angesehen, einen im Profil dargestellten Kopf unrealistischerweise mit zwei Augen zu versehen, weil die Augen zu den markantesten Merkmalen des Kopfes gehören. Pfleiderer6 sieht bei Kinderzeichnungen eine Entwicklungslinie vom Begriffsbild, in dem nur die typischen Merkmale von Dingen hervorgehoben würden, über das Körperbild, in dem Einzeldinge in einer einheitlichen Perspektive dargestellt würden, zu einem Raumbild, in dem durch Überschnei-
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M. Verworn, Zur Psychologie der primitiven Kunst, 19172, S. 17ff. E. Löwy, Die Naturwiedergabc der ältesten griechischen Kunst, 1900, S. 7ff. W. Pfleiderer, Die Geburt des Bildes, 1930, S. 24ff., 81. Vgl. auch G. Britsch, Theorie der bildenden Kunst, 19664, S. 17ff.
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Darstellungsformen in der frühen Kunst
düngen, Staffelungen, Schattierungen und Verkürzungen von Winkeln eine Raumobjektivierung angestrebt werde. Eine vorzeitige Anleitung der Kinder zum zentralperspektivischen Zeichnen hält Pfleiderer für verhängnisvoll, weil dadurch eine unreine Denkatmosphäre geschaffen werde. Die Begriffsbilder der Kinder betrachtet er als eine elementare künstlerische Ausdrucksform, für deren Wert uns insbesondere der Expressionismus wieder die Augen geöffnet habe, weil auch dieser bestrebt sei, die Grundtypik von Dingen herauszuarbeiten und Raumbilder wieder zu Flächenbildern zurückzuverwandeln. Wenn man kindlichen und archaischen Darstellungsformen einen Mangel an Realismus im Sinne von Naturalismus zuschreibt, dann bedarf das einer Erklärung. Solange man von Bildern erwartet, dass sie faktische Erscheinungsbilder von Dingen so getreu wie möglich wiedergeben, dann muss man die Bildzeugnisse von Kindern und frühen Kulturen als unrealistisch einstufen, weil sie keine einheitliche Darstellungsperspektive haben und die Raumdarstellung ganz vernachlässigen. Sie sind in dem Sinne unrealistisch, als sie uns nicht dazu verführen, in uns eine Illusion von Realität zu wecken. Sofern man aber von Bildern erwartet, dass sie die Typik von Dingen objektivieren, dann stellt sich das Problem des Realismus ganz anders. Ebenso wie die Platoniker ihr Denken für realistisch halten, weil sie die Ideen bzw. die Begriffe für das eigentlich Reale halten und nicht die sinnlich fassbaren Dinge, so kann man nun auch die vorperspektivischen Bilder für besonders realistisch halten, weil sie nicht konkrete Erscheinungsweisen von Dingen zu objektivieren versuchen, sondern ihre konstitutive Typik bzw. ihr Wesen. Der Verzicht auf eine monoperspektivische Darstellung und Raumobjektivierung ist dann kein Mangel, sondern eine ausgesprochene Stärke dieser Bilder. Auf diese Weise kann man sich von der normativen Übermacht der unmittelbaren Erscheinungswelt lösen sowie von den kognitiven Einschränkungen, die mit einem einzigen Sehepunkt und einer einzigen Objektivierungsperspektive verbunden sind. Dementsprechend sind vorperspektivische Objektivierungsverfahren dann nicht durch einen grundsätzlichen Mangel an Perspektivität bei der Welterfassung geprägt, sondern durch eine spezifische Erscheinungsform von Perspektivität.
2. Altägyptische Darstellungsformen In der altägyptischen Kunst finden wir viele Darstellungsprinzipien wieder, die auch die Kinderbilder und die archaische Kunst prägen. Allerdings haben sich diese Prinzipien hier so zu einem konsistenten Objektivierungsstil verdichtet, dass von einem eigenständigen Typus von Flachbildern gesprochen werden kann. Bildmerkmale wie abstraktive Typisierung von Gegenständen, additive Füllung des Raumes, Interesselosigkeit für einen einheitlichen Sehepunkt und
Altägyptische Darstellungsformen
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Verzicht auf eine Raumrepräsentation im Sinne einer Raumillusion sind eine solche Korrelation miteinander eingegangen, dass sich ein Darstellungsstil ausgebildet hat, der sich grundlegend von dem uns vertrauten perspektivischen Repräsentationsstil unterscheidet. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die altägyptische Darstellungskunst eine Behandlung der Bildfläche zeigt, die diese Fläche als zweidimensionale Fläche ernst nimmt und nicht so behandelt, dass auf ihr die Illusion eines dreidimensionalen Raumes entsteht. Gerade weil diese Kunst die Fläche nicht zum Raum machen will, hat sie Verfahren zur bildlichen Transformation und Interpretation von dreidimensionalen Gegenständen entwickelt, die eine typologische Erfassung von Einzeldingen sehr erleichtern, die aber für die perspektivisch orientierte Kunst unbrauchbar sind. Wenn beispielsweise auf altägyptischen Bildern bei der Darstellung von Menschen die Brust in Vordersicht, die Beine in Seitensicht, der Kopf in Seitensicht und das dazu gehörige Auge wieder in Vordersicht objektiviert werden, dann sollte man das nicht als unzulässige Vermischung von unterschiedlichen Perspektiven verstehen, sondern als einen Versuch, die einzelnen Körperteile in der Perspektive darzustellen, in der sie aspektuell am eindrucksvollsten sichtbar werden. Bei der Darstellung von Menschen und Gegenständen wird nicht von einem potenziellen Betrachter her gedacht und dementsprechend das repräsentiert, was dieser von seinem Sehepunkt her wahrnehmen kann, sondern vielmehr von den zu repräsentierenden Gegenständen her und dem, was diese substanziell auszeichnet. Das Bild soll nicht das objektivieren, was man in einer bestimmten Perspektive von einem Gegenstand sehen kann, sondern das, was diesen prinzipiell ausmacht.
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Abb. 3: H. Schäfer, Von altägyptischer Kunst, 19634, S. 181. Abb. 4: a.a.O., S. 119. Abb. 5:, a.a.O., S. 129.
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Darstellungsformen in der frühen Kunst
Wenn beispielsweise ein Esel mit einer Packtasche in Seitensicht dargestellt wird, dann dürfte entsprechend den optischen Gesetzen nur der Teil der Packtasche sichtbar gemacht werden, der an der jeweiligen Vorderseite herunterhängt. Diese optische Einschränkung unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten für eine Packtasche kann man nun in der bildlichen Objektivierung dadurch umgehen, dass man den eigentlich nicht sichtbaren Teil der Packtasche so darstellt, als sei er um 180° senkrecht nach oben geklappt. Diese Objektivierungsweise ist insofern unrealistisch, als sie keinem natürlichen Seheindruck entspricht. Sie ist aber in dem Sinne sehr realistisch, als sie der substanziellen Natur der Packtasche entspricht. Bei diesem Repräsentationsstil gibt es auch keine Probleme, bestimmte Gegenstände durchsichtig darzustellen, also eine Schakalsmaske zu objektivieren und zugleich den Kopf des Priesters, über den diese Maske gestülpt ist. Der künstlerische Objektivierungsstil, Sachverhalte nicht so wiederzugeben, wie sie uns in der Wahrnehmung potenziell erscheinen können, sondern so, wie man glaubt, dass sie seien, hat wichtige Implikationen. Dahinter steht kein organismisches Denken, wie man aus heutiger Sicht vermuten könnte, sondern eher ein atomistisches. Ganzheiten werden nicht funktional als ein hierarchisch geordneter Systemzusammenhang verstanden, in dem alle Teile in einem interdependenten Funktionszusammenhang stehen, sondern eher als ein parataktischer Aggregatzusammenhang, in dem die Einzelteile eine relativ große Eigenständigkeit haben und eigentlich nur mit ihren unmittelbaren Nachbarteilen verknüpft sind. Als Ordnungsprinzip tritt das Additionsprinzip sehr viel stärker in Erscheinung als das Korrelationsprinzip. Vielleicht lässt sich in diesem Zusammenhang auch auf die These Riegls verweisen, dass für die altägyptische Kunst der Gesichtssinn eine weniger große Rolle spiele als der Tastsinn. In ihr werde vornehmlich das dargestellt, was sich prinzipiell auch ertasten ließe, und weniger das, was simultan sichtbar sei. Deshalb hätten die Ägypter auch keinen immanenten Drang gehabt, auf ihren Bildern den Raum bzw. die dritte Dimension zu repräsentieren.8 Der Vorrang des Additionsprinzips vor dem Korrelationsprinzip hat wichtige Konsequenzen für die Bildrezeption. Altägyptische Bilder erheben einen immanenten Anspruch, linear gelesen zu werden. Sie wollen gar nicht als geschlossene Welten simultan wahrgenommen werden. Wenn die auf Bildern dargestellten Phänomene Stück für Stück erfasst werden wollen, dann wirken sich die unterschiedlichen Objektivierungsperspektiven für die einzelnen Wahrnehmungsstücke auch nicht so störend aus wie bei Bildern, deren Teile simultan wahrgenommen werden wollen. Außerdem ergibt sich eine immanente Tendenz, Einzelbilder zu Bildstreifen anzuordnen. Das Prinzip der 8
A. Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, 19875, S. 26ff. Vgl. auch E.H. Gombrich, Kunst und Illusion, 19862, S. 34.
Altägyptische Darstellungsformen
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Addition und der parataktischen Reihung gilt deshalb sowohl für die Ordnung der Teile von abgebildeten Gegenständen als auch für die Ordnung ganzer Bildtafeln. Die konsequente Orientierung des altägyptischen Künstlers am realen Darstellungsgegenstand und sein mangelndes Interesse an der spezifischen Wahrnehmungsweise des jeweiligen Gegenstandes dokumentiert sich auch in der Farbgestaltung. Die Dinge bekommen ihre Natur- bzw. Lokalfarbe. Diese wird nicht durch bestimmte Beleuchtungsumstände beeinflusst, weil es nur ein abstraktes, aber kein positionell gebundenes Licht gibt, das die Dinge unterschiedlich erscheinen lassen könnte. Es wird kein Versuch unternommen, durch Färb-, Licht- und Schattengestaltung die Illusion einer Raumtiefe zu erzeugen. Die Farbe interessiert nur als natürliches Merkmal der Dinge, aber nicht als ein optisches Phänomen, das zur Gestaltung von Seheindrücken genutzt werden kann. Es geht nicht um die wahrnehmungsgebundene, sondern vielmehr um die seinsgebundene Farbigkeit der Dinge. In einem Flachbilde lässt sich der Eindruck von Raumtiefe im Prinzip dadurch erreichen, dass man die hinteren Dinge durch die vorderen teilweise verdeckt, dass man sie im Bilde hochrückt und verkleinert und dass man eventuell gegebene Winkel verkürzt. Ansätze zu solchen Darstellungstechniken für die Illusion von Raumtiefe hat es in der altägyptischen Kunst offenbar gegeben, aber sie scheinen als Kuriositäten wieder in Vergessenheit geraten zu sein, weil sie den dominierenden Objektivierungsintentionen nicht entsprachen. Sie mussten erst in der griechischen Kunst im Kontext eines anderen Darstellungswillens wiederentdeckt werden.9 Da die vorperspektivische Kunst nicht optische Seheindrücke objektivieren will, sondern die reale Natur der Dinge, vermeidet sie transformierende Schrägansichten und versucht, die Dinge geometrisch korrekt darzustellen. Das führt bei der Gestaltung von Bildern zu einer Realisationsform von Perspektivität, in der Aufsicht, Vordersicht und Seitensicht konsequent bevorzugt wird. Auf diese Weise werden Verkürzungen und Winkelveränderungen vermieden. Rundes bleibt rund und Rechteckiges rechteckig. Schäfer hat für diese Objektivierungsmethode den Terminus „geradvorstellig" eingeführt, um zu verdeutlichen, dass die vorperspektivische Kunst im Gegensatz zu der „schrägvorstelligen" perspektivischen Kunst bestrebt sei, Dinge sachgetreu und nicht sehbildgetreu zu repräsentieren. Die Opposition von geradvorstelliger und schrägvorstelliger Darstellungsweise hält er für so grundlegend, dass er sogar von einer geradvorstelligen und einer schrägvorstelligen künstlerischen „Gerüstschicht" in Bildern spricht. Die Gerüstschicht habe für ein Bild die gleiche Funktion wie das Knochengerüst
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H. Schäfer, Von ägyptischer Kunst, 19634, S. 86ff., 271ff. L. Klebs, Die Tiefendimension in der Zeichnung des alten Reiches, Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde, 52, 1914, S. 19-34.
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Darstellungsformen in der frühen Kunst
für den menschlichen Körper. Auf ihr baue alles andere auf. Sie sei nach einem Wort Goethes das Gefäß, in das jeder hineinlegen könne, was er vermöge.10
3. Die aspektivische Darstellungsweise Den Denkansatz Schäfers hat Emma Brunner-Traut in einer veränderten Terminologie auf fruchtbare Weise fortgeführt. Den etwas sperrigen Terminus geradvorstellige Darstellungsweise hat sie durch den Terminus aspektivische Darstellungsweise bzw. Aspektive ersetzt und den Terminus schrägvorstellige Darstellungsweise durch den Terminus perspektivische Darstellungsweise bzw. PerspektiveDiese Termini sind für die hier verfolgten Ziele brauchbarer als die Schäfers, weil sie sich problemloser von der Ebene der Bilder auf die Ebene kultureller Zeichen und Objektivierungsstile aller Art übertragen lassen. Allerdings gibt es nun gewisse terminologische Spannungen, wenn man die aspektivische und die perspektivische Darstellungsweise als unterschiedliche Objektivierungsstrategien in das Perspektivitätskonzept zu integrieren versucht. Für dieses war ja geltend gemacht worden, dass grundsätzlich alle Objektivierungsweisen perspektivisch geprägt sind, weil Perspektiven nach Merleau-Ponty die Weisen sind, in denen die Subjekte in die Welt hineingleiten. Das bedeutet, dass für beide Darstellungsweisen als unterschiedlichen Ausprägungsformen von Perspektivität die Merkmale Aspekt, Perspektive und Sehepunkt konstitutiv sein müssen. Dieses Dilemma entschärft sich, wenn wir für diese drei Merkmale in der aspektivischen und perspektivischen Darstellungsweise jeweils unterschiedliche Konkretisationsweisen annehmen und den Terminus perspektivisch auf zweierlei Weise verstehen. Im kontrastiven Gebrauch zu aspektivisch ist er dann entsprechend dem üblichen Sprachgebrauch weitgehend im Sinne von räum- bzw. zentralsperspektivisch zu verstehen, während er im allgemeinen Gebrauch nur im Sinne von sehepunkt- und aspektbezogen zu verstehen ist. Dementsprechend gilt dann auch, dass der Begriff Perspektive im kontrastiven Gebrauch zu Aspektive diesen jeweils ausschließt, während er im unspezifischen Gebrauch zu einem Oberbegriff wird, der den Begriff Aspektive einschließt. Dieser Sprachgebrauch ist logisch etwas verwirrend, aber unvermeidlich, wenn man sich nicht allzu sehr von der üblichen Sprachverwendung entfernen will. Das kontextsensitive Denken wird mit einem solchen Problem auch ganz gut fertig. Beispielsweise benutzen wir
10
"
H. Schäfer, a.a.O., S. 346f. E. Brunner-Traut, Frühformen des Erkennens, 1990. Vgl. auch ihr Nachwort zur 4. Aufl. von Schäfers Buch von 1963.
Die aspektivische Darstellungsweise
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den Terminus Tag ja auch in einem allgemeinen Sinne als Oberbegriff und in einem speziellen Sinne als Oppositionsbegriff zu dem Terminus Nacht. Als aspektivische Darstellungsweise bezeichnet Brunner-Traut eine Objektivierungs- und Denkform in der Kunst, aber auch in anderen Kulturbereichen wie beispielsweise der Medizin, dem Rechtswesen, der Religion, der Literatur und der Sprache, die in frühen Kulturepochen sowie bei Kindern anzutreffen sei. Diese Darstellungsweise werde im alten Griechenland durch eine variantenreiche perspektivische Objektivierungs- und Denkform abgelöst, die in der Renaissance dann in Form der Zentralperspektive ihre Perfektion gefunden habe. In der Kunst des 20. Jahrhunderts sieht sie eine Tendenz am Werke, sich wieder aspektivischen Darstellungsweisen anzunähern. Aspektive und Perspektive sind für sie keineswegs nur kunsttheoretische Beschreibungsbegriffe, sondern vielmehr kulturwissenschaftliche, wenn nicht ontologische Grundbegriffe, weil sie Hypothesen über die Ordnungsstruktur des Seins enthalten. Auf der Basis der Strukturanalysen von Brunner-Traut, die die bisherigen Überlegungen bestätigen, lassen sich aspektivische und perspektivische Objektivierungsverfahren idealtypisch folgendermaßen kennzeichnen. Negativ lässt sich die Objektivierungsintention der aspektivischen Darstellungsweisen dahingehend beschreiben, dass es ihr nicht darum geht, die Konstellation von Dingen so darzustellen, wie sie sich von einem bestimmten räumlichen oder geistigen Sehepunkt her darbietet. Positiv lässt sie sich dahingehend kennzeichnen, dass sie ein besonderes Interesse daran hat, die Einzeldinge in ihrer allgemeinen Typik hervortreten zu lassen bzw. hinsichtlich derjenigen Sachaspekte, die für sie als konstitutiv angesehen werden. Deswegen lassen sich aspektivische Darstellungen auch als Begriffsbilder verstehen. Diese Objektivierungsintention hat zur Folge, dass nicht angestrebt wird, den Raum als Tiefenraum bzw. als eigenständige Größe darzustellen. Der Raum wird vielmehr als Aggregatraum verstanden, in dem Dinge vorkommen, aber nicht als Systemraum, der aus der spezifischen Konstellation der Dinge resultiert. Im Aggregatraum lassen sich die Dinge problemlos nach dem Prinzip der Addition bzw. Parataxe anordnen, während sie im Systemraum nach dem Prinzip der Verflochtenheit bzw. Hypotaxe angeordnet werden müssen. Aus dieser unterschiedlichen Grundbedingung ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen für das Verständnis der Dinge und Bilder. Zum einen treten in der aspektivischen Objektivierungsweise die dargestellten Dinge als eigenständige Größen hervor, wenn nicht als autonome Monaden. Sie werden weder in einen übergeordneten Systemzusammenhang integriert noch von diesem vereinnahmt und substanziell entmachtet. Die aspektivische Darstellungsweise legt deshalb auf klare Färb- und Formkontraste wert, um die Dinge in ihrer Eigenständigkeit klar hervortreten zu lassen. Die einzelnen Dinge werden nicht als Relata von Relationen wahrgenommen, sondern als substanzielle Größen, die von sich aus festlegen, welche Relatio-
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Darstellungsformen in der frühen Kunst
nen sie eingehen können. Insofern ist die aspektivische Darstellungsweise eine Ausdrucksform der Substanzenontologie, während die perspektivische Darstellungsweise eher eine der Funktionenontologie ist. In der aspektivischen Objektivierungsform treten uns die Dinge in ihrer ganzen Mächtigkeit als eigenständige Urphänomene entgegen, wenn nicht als sinnlich exemplifizierte platonische Ideen. Da es bei dieser Objektivierungsintention auf die ontische Typik der Dinge ankommt und nicht auf die Ähnlichkeit mit konkreten oder potenziellen Seheindrücken, können die konstitutiven Merkmale der Dinge auch in unterschiedlichen Blickwinkeln dargestellt werden. Zum anderen legt die aspektivische Darstellungsweise nahe, Bilder eher linear Stück für Stück zu lesen als auf simultane Weise ganzheitlich zu erfassen. Die Objektivierung von einzelnen Dingaspekten in unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven und die additive Anordnung von Dingen im Bildraum erleichtert es, die Aufmerksamkeit von einem Element des Aggregatzusammenhangs sukzessiv auf einen anderen zu verlagern. Diese Rezeptionsweise entspricht durchaus den Objektivierungsintentionen der aspektivischen Darstellungsweise, die ja nicht die Interdependenz und den Systemzusammenhang von Einzelelementen herausarbeiten will, sondern vielmehr deren wesenhafte Typik. Deshalb gibt es in ihr auch eine ausgeprägte Vorliebe für klare Konturen und Kontraste, weil klare Grenzen die Voraussetzung dafür sind, die eigenständige Identität und die aspektuelle Typik der jeweiligen Gegenstände herauszuarbeiten. Schrägansichten und kontinuierliche Farbübergänge wären für eine typologische Interpretation der Dinge nicht hilfreich, weil dadurch eine Annäherung an faktische Erscheinungsbilder erreicht würde. Für die aspektivische Darstellungsweise ist es deshalb auch kein Mangel, wenn es für die ganze Szenerie des Bildes keinen einheitlichen Sehepunkt gibt bzw. keinen konkreten potenziellen Betrachter, dessen Wahrnehmungsperspektive der Bildrezipient zu übernehmen hätte. Die Eigenart der perspektivischen Darstellungsweise bedarf noch einer ausführlichen historischen und systematischen Erläuterung. Vorerst lässt sie sich kontrastiv zur aspektivischen aber schon dahingehend beschreiben, dass es in ihr primär um die Objektivierung von realen oder potenziellen Seheindrücken geht bzw. um die Interpretation der Dinge im Kontext ihrer spezifischen Korrelationen. Auch in dieser Darstellungsweise werden die Dinge natürlich nicht vollständig, sondern nur aspektuell objektiviert, aber dabei geht es nicht um zeitunabhängige wesenhafte Aspekte und Merkmale der Dinge, sondern eher um die besonderen Eigenschaften der Dinge, wie sie sich nur in ganz bestimmten Konstellationen offenbaren. Während die aspektivische Darstellungsweise Grenzen immer als Grenzen betont, um bestimmte Phänomene klar von anderen abzusetzen, hat die perspektivische Darstellungsweise eine immanente Tendenz, Grenzen nicht als Begrenzungen, sondern als Übergänge darzustellen, um die angestrebte Objektivierung des Raumes und den Systemzusammenhang des ganzen Bildes nicht zu stören.
Die aspektivische Darstellungsweise
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Die aspektivische und die perspektivische Gestaltungsform haben eine je unterschiedliche Hintergrundontologie und einen je unterschiedlichen Realismusbegriff. Die aspektivische Darstellungsweise lässt sich als objektivistisch in dem Sinne qualifizieren, dass alle Strukturierungsanstrengungen von den Darstellungsobjekten ausgehen bzw. von denjenigen Aspekten der Objekte, die man für typisch hält. Das angenommene Wesen der jeweiligen Gegenstände ist der Maßstab, an dem man seine geistigen und bildlichen Objektivierungen orientiert. Dabei nimmt man allerdings relativ naiv an, dass die jeweiligen Gegenstände ein festes substanzielles Wesen haben, das sich auch vorurteilsfrei erfassen lässt, weil man eine mögliche Beeinflussung seiner eigenen Wahrnehmungsvorgänge durch die Struktur des Sinnesapparates, der Vernunft und der kulturellen Objektivierungsmuster noch nicht in Betracht zieht. Die perspektivische Gestaltungsweise lässt sich demgegenüber als subjektivistisch in dem Sinne qualifizieren, dass alle Strukturierungsanstrengungen von dem räumlichen und geistigen Sehepunkt eines Wahrnehmungssubjekts ausgehen. Nicht die Dinge an sich werden zum Thema der geistigen und bildlichen Objektivierungsprozesse, sondern die Erscheinungsweisen von Dingen. Sehepunktbezogene Verkürzungen, Verschiebungen, Verdeckungen und Größenfestlegungen gehören deshalb notwendigerweise ebenso zur perspektivischen Darstellungsweise wie das Postulat, auf einem Bild nur das darzustellen, was chronologisch simultan zur Erscheinung kommen kann. Bilder dürfen Raum- und Zeitgrenzen nicht transzendieren, weil sie nicht auf ideelle, sondern auf individuelle Zusammenhänge aufmerksam machen wollen. Während bei der aspektivischen Darstellungsweise immanent der Anspruch erhoben wird, die Dinge realistisch in dem Sinne darzustellen, dass man ihre typischen Merkmale und Bezüge objektiviert, wird bei der perspektivischen Darstellungsweise immanent der Anspruch erhoben, die Dinge realistisch in dem Sinne darzustellen, dass man real mögliche Seheindrücke von ihnen objektiviert. Nach Kant wäre die Repräsentationsintention des aspektivischen Objektivierens als vorkritisch und naiv zu kennzeichnen, weil ihr der Glaube zugrunde liegt, das Wesen der Dinge bzw. die Dinge an sich erfassen zu können. Gleichwohl ist nun aber auch die Repräsentationsintention des perspektivischen Objektivierens nicht problemlos, weil sie mit dem Problem des Solipsismus zu kämpfen hat bzw. mit der Schwierigkeit, dass nun das Subjekt und der Sehepunkt des Subjekts zur konstitutiven Bedingung der Weltobjektivierung wird. Gerade weil wir heute die faktische Verflechtung von Objektsphäre und Subjektsphäre bei der Vorstellungsbildung nicht leugnen können, dürfen wir nicht übersehen, dass die Umorientierung der Aufmerksamkeit von der Objektorientierung auf die Subjektorientierung das Denken nicht nur zu beflügeln, sondern auch zu verarmen vermag. Auf diese Weise werden die Dinge nämlich als eigenständige Gegenstände, Widerstandsinstanzen und Dialogpartner in gewisser Weise entmachtet, weil
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Darstellungsformen in der frühen Kunst
die Gefahr besteht, dass sie in den wechselnden Betrachtungsweisen der Subjekte ihre eigenständige Identität verlieren. Das wahrnehmende Subjekt erkauft die Freiheit, sich von den Dingen je nach Sehepunkt ganz unterschiedliche Bilder machen zu können, mit der Erfahrung eines Substanzverlustes bei den Dingen. Wenn auch die Dinge in diesem Denken nicht zu Projektionen der Subjekte werden, so werden sie doch leicht zu deren gefugigen Objekten, die sich nur so zeigen können, wie es die Perspektiven dieser Subjekte erlauben. In der perspektivischen Darstellungsweise droht die Struktur der Dinge zu einer bloßen Funktion der Wahrnehmungsweise zu werden. Die aspektivische Objektivierungsweise ist ein kulturelles Grundphänomen, das eine historische und eine systematische Dimension hat. Sie prägt insbesondere die frühen Stufen von Kulturen und wird in späteren oft wiederbelebt. Sie hat für das geistige und praktische Leben Auswirkungen gehabt, die nicht immer eindeutig positiv oder negativ zu kennzeichnen sind. In der Medizin hat sie eher problematische Konsequenzen gehabt, weil der Körper als ein Kompositum aus selbstständigen Einzelorganen verstanden wurde und nicht als Systemzusammenhang mit funktional vernetzten Einzelorganen. Im Rechtsdenken hat das aspektivische Denken zu einem kasuistischen Recht geführt, das nicht durchsystematisiert war, aber gerade deswegen sehr flexibel gehandhabt werden konnte. Im religiösen Bereich hat es den Polytheismus begünstigt bzw. Vorstellungen von Göttern, deren Machtbereiche nicht systematisch geordnet waren. Bei der Schriftentwicklung hat das aspektivische Denken zu nicht durchsystematisierten Schriftsystemen geführt. So haben die Ägypter beispielsweise ihr Schriftsystem nicht wie die Griechen zu einer konsequenten Lautschrift fortentwickelt, sondern sind bei einer gemischten Begriffs- und Lautschrift stehen geblieben, in der auf sehr additive Weise Rebusverfahren und Determinative eingesetzt worden sind, um konkrete Einzelschwierigkeiten zu meistern. Die Schrift wird dadurch in systematischer Hinsicht unübersichtlich, aber im Detail flexibel. Bei der Textgestaltung werden im aspektivischen Denken parataktische Verknüpfungen, klare Kontraste und Abgrenzungen, ruckhafte Veränderungen von Sachverhalten, Typisierungen von Handlungen und Personen, Verwendungen von Versatzstücken sowie ein Verzicht auf komplizierte Verflechtungen von Inhalten bestimmend.
IV Darstellungsformen in der griechischen Kunst In der griechischen Kunst der Antike ist der Weg von der vorperspektivischen bzw. aspektivischen zur perspektivischen Objektivierung von Sachverhalten gut zu verfolgen. Bernhard Schweitzer möchte deshalb die Griechen als die eigentlichen Erfinder der perspektivischen Kunst gewürdigt wissen, die er als „ revolutionäre Schöpfung " mit tiefgreifenden Folgen für die gesamte geistige Welt ansieht. „Die arsperspectiva ist also eine Urerfindung der Griechen. Sie bedeutet eine besondere Form der Wirklichkeitsauffassung, die einer besonderen historischen Situation ihre Entstehung verdankt... Die Perspektive kehrt nur zweimal in der Weltgeschichte wieder und zwar unter ähnlichen Aspekten: an der Schwelle der Klassik bei den Griechen des 5. Jahrhunderts und zu Beginn der italienischen Renaissance in der Neuzeit."' Die besondere Rolle der Griechen bei der Entwicklung von im engeren Sinne perspektivischen Darstellungsformen in der Kunst ist nicht zu bestreiten, sie bedarf aber der erläuternden Präzisierung. Insbesondere darf nicht übersehen werden, dass die Entwicklung der Zentralperspektive in der Kunst der italienischen Renaissance nicht eine bloße Weiterentwicklung griechischer Objektivierungsformen darstellt, sondern als eine besondere Konkretisationsweise von Perspektivität anzusehen ist, die qualitativ entscheidend über das hinausgeht, was in der Antike angestrebt worden ist. Die perspektivische Objektivierungsweise hat in der Renaissance durch die Berücksichtigung geometrischer und optischer Gesetzlichkeiten eine Radikalität und Konsequenz bekommen, die es vorher und nachher nicht gegeben hat und die auch schon sehr klar die Grenzen des perspektivischen Darstellens und Denkens aufgezeigt hat. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Kunst des perspektivischen Darstellens im griechischen Denken keineswegs unumstritten war. Piaton zählte beispielsweise zu den Kritikern dieser Objektivierungsweise und hielt die Darstellungsweisen der vorperspektivischen Kunst aus ontologischen Gründen für sehr viel angemessener. Weiterhin ist zu klären, ob die perspektivische Kunst, wie Schweitzer betont, als revolutionäre Schöpfung zu werten ist oder eher als ein evolutionär gewachsenes Kulturphänomen, das sich bestimmten historischen Rahmenbedingungen und Denkzielen verdankt. Die perspektivischen Darstellungsformen der griechischen Kunst sind sicher etwas historisch Besonderes, weil sie in der ägyptischen, ostasiatischen, 1
B. Schweitzer, Vom Sinn der Perspektive, 1953, S. 12.
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Darstellungsformen in der griechischen Kunst
byzantinischen und mittelalterlichen Kunst nicht entwickelt worden sind, aber als überraschende Erfindungen wird man sie kaum kennzeichnen können. Vielmehr ist eher davon auszugehen, dass sich die perspektivische Darstellungsweise evolutionär aus mehr oder minder zufälligen Darstellungsvarianten entwickelt hat, wobei allerdings das geistige Klima in Griechenland dem evolutionären Selektionsprozess eine ganz bestimmte Richtung gegeben hat. In diesem Zusammenhang könnte man dann wieder von einer schöpferischen Potenz der Griechen sprechen. Sehr schwer zu beurteilen ist allerdings, ob dieses Denkklima die Evolution der perspektivischen Darstellungsweise verursacht hat oder ob aus dieser Darstellungsweise dieses Denkklima erst entstanden ist. Hier wird man wohl eher mit komplizierten Rückkopplungsprozessen zu rechnen haben als mit linearen Kausalrelationen oder revolutionären Schöpfungsakten. Die Evolution der perspektivischen Darstellungsweise soll mit Hilfe der Begriffe Körperperspektive, Raumperspektive und Zentralperspektive beschrieben werden, wobei die ersten beiden Entwicklungsstufen der griechischen Antike zugeordnet werden können und die letzte der italienischen Renaissance. Die einzelnen Entwicklungsstufen werden mit bestimmten Entfaltungsstufen des Denkens korreliert und damit auch mit bestimmten Entwicklungsstufen der Sprache und des Sprachgebrauchs. Auf die platonische Kritik der perspektivischen Darstellungsformen wird deshalb näher eingegangen, weil sich dabei recht gut darstellen lässt, welche geistigen Implikationen und Konsequenzen mit bestimmten Objektivierungsformen von Welt verbunden sind bzw. welchen ontologischen Sinn man der Kunst prinzipiell zuordnen kann.
1. Die Körperperspektive Als Körperperspektive lässt sich mit Schweitzer2 diejenige Konkretisationsweise von Perspektivität bezeichnen, bei der einzelne Figuren oder Dinge im Bild entsprechend einem potenziellen Seheindruck perspektivisch dargestellt werden, aber noch nicht die ganze Szenerie des Bildes bzw. der ganze Raumausschnitt. Das bedeutet, dass die einzelnen Dinge und insbesondere die menschlichen Körper nicht mehr flächig oder silhouettenhaft objektiviert werden, sondern wie reale Sehdinge mit einer gewissen Plastizität und Tiefendimension. Die Vorherrschaft der Fläche wird damit für die einzelnen Figuren gebrochen, aber sie bleibt für das ganze Bild noch erhalten.
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B. Schweitzer, Vom Sinn der Perspektive, 1953, S. 13.
Abb. 63
Darstellungsweisen, bei denen von einer Körperperspektive gesprochen werden kann, finden wir insbesondere auf griechischen Vasenbildern. Die Körperperspektive wird auch dadurch begünstigt, dass insbesondere auf Vasenbildern die Aufmerksamkeit sich natürlicherweise auf einzelne Dinge und Figuren konzentriert, weil man die Gesamtdarstellung nur durch die Drehung der Vase sukzessiv wahrnehmen kann. Gleichwohl wäre es aber zu kurz gedacht, wenn man die Körperperspektive nur durch den Zwang zur Reihenbildung bei der Vasenmalerei bedingt sieht und nicht als eine besondere Ausdrucksform des Denkens wertet. Im Gegensatz zur aspektivischen Darstellungsweise werden bei der Körperperspektive die Einzeldinge von einem einheitlichen Sehepunkt her objektiviert, wobei durch Schrägsichten mit entsprechenden Verkürzungen, durch Ansätze zur Schattenbildung und durch verdeckende Überschneidungen schon die Illusion von Körpertiefe bzw. die Illusion einer dreidimensionalen Gestalt auf einer zweidimensionalen Fläche erzeugt wird. Körper werden nicht additiv aus Einzelteilen in verschiedenen Objektivierungsperspektiven zusam3
Abb. 6: B. Schweitzer, a.a.O., Anhang Abb. 5.
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Darstellungsformen in der griechischen Kunst
mengesetzt, sondern als Gestalten präsentiert, die natürlichen Seheindrücken zu entsprechen versuchen. Das Additionsprinzip gilt zwar noch für die Gestalt des Gesamtbildes, aber nicht mehr für die einzelnen Dinge und Figuren. Vom menschlichen Körper wird das dargestellt, was von einem bestimmten Sehepunkt her sichtbar ist, und nicht das, was ontisch prinzipiell für relevant gehalten wird. Das bedeutet einen ersten Schritt auf dem Wege von einer typisierenden zu einer individualisierenden Darstellung von Phänomenen und eine beginnende Integration eines potenziellen Wahrnehmungssubjektes in das jeweilige Bild. Die geistigen Implikationen und Konsequenzen dieser künstlerischen Objektivierungsform sind weitreichender, als man auf den ersten Blick vermutet. Mit Hilfe der Körperperspektive werden die einzelnen Gegenstände und insbesondere die menschlichen Körper als einheitliche Größen hervorgehoben, die simultan in einer einheitlichen Perspektive wahrzunehmen sind. Sie erscheinen nun als integrativ geschlossene Gestalten mit interdependenten Teilen und nicht mehr wie in der aspektivischen Darstellungsweise als Größen, die sich additiv aus relativ eigenständigen Teilen zusammensetzen. Dadurch wird ihr phänomenaler Eindruck auf die jeweiligen Wahrnehmungssubjekte gestärkt. Die phänomenale Dominanz der einzelnen Körper wird insbesondere dadurch hervorgehoben, dass es für jeden einzelnen Körper eine einheitliche Wahrnehmungsperspektive gibt, die an den Grenzen dieser Körper endet und die diese Körper nicht in umfassendere Ganzheiten oder Szenerien integriert. Dadurch wird die Autonomie der Einzelfiguren besonders akzentuiert. Diese können in Relation zu anderen Figuren stehen, aber daraus ergibt sich nicht eine Konstellation, die als durchstrukturierter Gesamtzusammenhang interpretierbar wäre, in dem jedes Element seinen bestimmten Stellenwert hat und deshalb auch als autonome Substanz verblasst. Da bei der Körperperspektive die Größe der einzelnen Figuren nicht durch ihre Position im Raum bedingt ist, kann die faktische Größe einer Figur im Prinzip auch dazu genutzt werden, um ihre besondere Bedeutsamkeit hervorzuheben. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit zu einer Darstellungsweise, die als Bedeutungs- bzw. Relevanzperspektive bezeichnet worden ist. Diese Möglichkeit ist im Prinzip natürlich auch schon in aspektivischen Darstellungsweisen angelegt, aber sie konnte sich hier nicht so recht entfalten, weil die einzelnen Figuren eher als additive denn als integrierte Ganzheiten objektiviert wurden. Durch die Körperperspektive wird nun aber ontologisch gesehen keineswegs nur die Sphäre der wahrgenommenen Objekte gestärkt, sondern durchaus auch die der wahrnehmenden Subjekte. Die einzelnen Dinge werden nicht nach abstrakten Schemata typisiert, sondern so dargestellt, wie sie aus der Sicht eines Wahrnehmungssubjektes in Erscheinung treten. Es wird nicht mehr konsequent vom Objekt her gedacht wie bei den aspektivischen Darstellungs-
Die Körperperspektive
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weisen, sondern beachtet, dass alle Wahrnehmungsinhalte subjektbezogene Implikationen haben, d.h. Wahrnehmungsobjekte von Wahrnehmungssubjekten sind. Ontologisch gesehen ist die Körperperspektive durch eine produktive Spannung zwischen zwei entgegengesetzten Tendenzen geprägt. Einerseits stärkt sie das objektorientierte Denken, weil sie die einzelnen Dinge und Figuren als einheitlich konzipierte Gestalten darstellt, andererseits stärkt sie das subjektorientierte Denken, weil sie die Wahrnehmungsgegenstände auf den Sehepunkt von Wahrnehmungssubjekten zuordnet. Dadurch fördert die Körperperspektive auf entscheidende Weise die Entwicklung, Menschen und Dinge nicht mehr aspektuell schematisiert, sondern perspektivisch individualisiert darzustellen. Die Entwicklung der Körperperspektive vollzieht sich in einem kulturellen Denkklima, das sich von dem der aspektivischen Darstellungsweise deutlich unterscheidet. Die neue Darstellungsweise fällt in eine Epoche der griechischen Geschichte, in der demokratische Staatsordnungen entstehen und die Menschen ein neues Selbstbewusstsein entwickeln. „Der frei gewordene Mensch findet in der Körperperspektive seine Darstellungsform. Die Körperperspektive spiegelt so in der Kunst dieser Zeit ein neues Sich-selbst-Bewußtwerden des Menschen, seiner Freiheit und seiner Stellung in der Welt. "4 Es ist nun verständlich, dass in einer Epoche, in der die Körperperspektive als künstlerische Objektivierungsform entwickelt worden ist, auch andere Ansprüche an die sprachlichen Objektivierungsformen von Welt gestellt werden als in den vorangegangenen Epochen. Zwar ist nicht zu erwarten, dass sich die grammatischen und lexikalischen Formen der Sprache grundlegend ändern, wohl aber, dass ein anderer Gebrauch von der Sprache gemacht wird und andere Textformen entwickelt werden. Der Mythos bzw. das Epos als universale sprachliche Objektivierungs- und Wissensformen werden abgelöst durch Textformen wie Drama, Geschichtsschreibung und philosophisch-wissenschaftliche Abhandlung, die ihre Inhalte in viel individualisierteren Formen und Sichtweisen objektivieren als Mythos und Epos. Auch in diesen Textformen finden wir natürlich noch typisierende Darstellungen von Vorgängen und Personen, aber die Tendenz zur individualisierenden Objektivierung ist nicht zu übersehen. Damit ergeben sich auch neue Ansprüche an das Funktionsspektrum der Sprache. Sie kann nicht mehr nur als überindividuelles Objektivierungsinstrument existieren, sondern muss sich zu einem flexiblen Medium entwickeln, mit dem auch individuelle Gestaltungsabsichten und Sichtweisen realisierbar sein müssen.
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B. Schweitzer, a.a.O., S. 13.
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Darstellungsformen in der griechischen Kunst
2. Die Raumperspektive Im kulturhistorischen Rückblick erscheint die Raumperspektive als logische Konsequenz der Körperperspektive, weil durch sie nicht mehr nur einzelne Körper als geschlossene Seheindrücke von bestimmten Sehepunkten her objektiviert werden, sondern ganze Szenerien. Logisch erscheint dieser Schritt klein und konsequent, ontologisch ist er aber groß und keineswegs zwingend, denn dadurch entsteht eine ganz neue Objektivierungsweise von Welt. Das Verhältnis von Objektsphäre und Subjektsphäre wird durch diese neue Darstellungsweise tiefgreifend verändert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die Entwicklung der Raumperspektive ihre entscheidenden Impulse nicht aus der Wand- und Tafelmalerei als Kunst im engeren Sinne bekommen hat, sondern aus der Bühnenmalerei als Kunst im weiteren Sinne, die durch ganz spezifische Zwecksetzungen geprägt ist. Das dokumentiert sich u.a. auch darin, dass die griechische Sprache für raumperspektivische Darstellungsformen keine eigenständige Bezeichnung entwickelt hat, sondern dafür den Terminus Bühnenmalerei (Skenographia) verwendet. Die historische Genese der perspektivischen Raumdarstellung aus der Bühnenmalerei dokumentiert, dass die perspektivische Raumobjektivierung von Anfang an mit dem Problem der Illusionsbildung zusammenhängt bzw. mit dem Problem der Fiktion von Realität. Die Bühnenmalerei, die seit Sophokles üblich geworden war,5 stellte sich nämlich insbesondere die Aufgabe, Häuser, Fassaden, Dächer, Türme und Fenster nicht als solche künstlerisch zu objektivieren, sondern diese vielmehr als gegebene Realitäten vorzutäuschen. Sie musste ihre Objektivierungen deshalb so gestalten, dass sie möglichst genau natürlichen Erscheinungsbildern entsprachen, was eine konsequente Anpassung an die optischen Gesetzmäßigkeiten des Sehens erforderlich machte. Das Problem der Perspektive wurde dementsprechend auch nicht als künstlerisches oder philosophisches Problem angesehen, sondern als ein optisches. Anaxagoras und Demokrit haben das Perspektiveproblem deshalb auch im Kontext ihrer Überlegungen zur Optik thematisiert. Erst sehr langsam hat die perspektivische Raumdarstellung von der Bühnenmalerei Eingang in die Wand- und Tafelmalerei gefunden, weil sie im Gegensatz zu körperperspektivischen Darstellungsformen wegen ihrer Täuschungsimplikationen künstlerisch offenbar als sehr viel problematischer angesehen wurde. Offenbar fürchtete man, dass sie eher aus der Wirklichkeit hinaus· als in diese hineinführe. Piatons Kritik der perspektivischen Darstellungsformen ist deshalb auch nicht völlig überraschend. Im antiken Kunstschaffen war der Raum ursprünglich kein genuiner Darstellungsgegenstand, weil er sich 5
H. Kenner, Das Theater und der Realismus in der griechischen Kunst, 1954, S. 155.
Die Raumperspektive
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im Gegensatz zu Einzelkörpern stofflich nicht konkretisieren ließ. Das Interesse galt eher der Raumbegrenzung als der Raumgestaltung oder gar der Raumillusion.6 Obwohl in der Bühnenmalerei der Raum als eigenständiges Darstellungsproblem entdeckt wurde, das man durch Schrägansichten, Winkelverkürzungen, Schattenbildungen, Staffelungen usw. bewältigen konnte, blieb die Raumdarstellung lange nicht das Ziel künstlerischer Darstellungsintentionen, sondern war eher ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt des Versuchs, die Dinge als Erscheinungsdinge so natürlich wie möglich darzustellen. Das bedeutete nicht nur, dass man sich konsequent an möglichen Seheindrücken zu orientieren hatte, sondern auch, dass man die Dinge in ihre natürlichen Kontexte integrieren musste. Die allmähliche Entdeckung des Raumes als eigenständiges Darstellungsproblem und als Interpretationsmedium für das Verständnis von Einzeldingen blieb dann nicht ohne Folgen für das ontologische Weltverständnis der Menschen. Zunächst ergibt sich im Zusammenhang mit der Raumperspektive ein anderes Verständnis der Dinge. Sie werden nicht mehr so sehr als isolierbare autonome Dinge gesehen, sondern eher als Dinge im Raum bzw. im Kontext mit anderen Dingen. Ihre ontische Eigenständigkeit wird einerseits dadurch gebrochen, dass sie nun als Teile eines umfassenderen Systemzusammenhangs wahrgenommen werden, und andererseits dadurch, dass sie so dargestellt werden, wie sie von einem bestimmten Sehepunkt aus erscheinen, und nicht so, wie man sie sich wesenhaft vorstellt. In der Raumperspektive wird noch konsequenter als in der Körperperspektive vom Wahrnehmungssubjekt her gedacht und objektiviert. Der Anspruch auf eine typologisch orientierte Wesensdarstellung löst sich tendenziell auf, weil die im Bild dargestellten Dinge aspektuell dem Sehepunkt eines möglichen Betrachters angepasst werden. Das Ziel der Darstellung ist nicht mehr die Objektivierung des Wesens von Dingen, sondern vielmehr die Darstellung eines konkreten Seheindrucks aus potenziell unendlich vielen. Schweitzer hat das präzise und luzide beschrieben. „Perspektive bedeutet Anpassung der Dinge an das Auge des Betrachters. Die Objekte im Bild erleiden einen Verlust an Eigengesetzlichkeit, und das Gesetz der Darstellung wandert von jenen zum aufnehmenden Subjekt. Auch die Pole, das Wesen des Betrachters und der Wirklichkeitscharakter des Bildes, verändern sich. Der Mensch als Empfänger des Bildes verwandelt sich in das neu eingegrenzte Individuum, auf das die Bildstruktur abzielt, weil erst in seinem Auge die Linien der Darstellung zu einem sinnvollen Ganzen zusammenschießen. Die Wesenhaftigkeit der Bildgegenstände geht in der neuen Realität des Erscheinungszusammenhangs auf, der sich in der Summe seiner hundertfaltigen Raumbeziehungen erschließt. In dem Zurückgehen auf den Augeneindruck liegt eine neue Wahrhaftigkeit. Sie liegt in dem Verzicht auf die die Objekte isolierende Erfassung und befreiende Deutung ihrer Wesenheit in der 6
Vgl. A. Riegl, Spätrömische Kunstindustrie, 198 75, S. 30ff.
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Darstellungsformen in der griechischen Kunst
vorperspektivischen Kunst und in dem Zurückgeworfensein auf die verwirrende Fülle und Problematik des in optischer Einheit sich darbietenden Wahmehmungszusammenhangs. Unbegrenzte Möglichkeiten der Deutung durch den individuellen Künstler - unbegrenzte wie im Anblick der Natur selbst werden hierdurch freigesetzt. Die Redensart, daß der Künstler die Welt .wiedergibt wie er sie sieht', erhält hier ihren prägnantesten Sinn. Wie im Denken durch die Sokratik eine neue Stufe des Begreifens der Wahrheit, so wird in der Kunst durch die Perspektive eine neue Stufe des Schauens der Wirklichkeit η erklommen."
Mit der Raumperspektive als einer neuen Objektivierungsweise von Welt ergibt sich sowohl für die Erkenntnisobjekte als auch für die Erkenntnissubjekte ein anderes Verständnis. Die einzelnen Erkenntnisobjekte verlieren an Autonomie, weil sie mit anderen Erkenntnisobjekten enger verwoben werden und damit in ihrem Sein von anderem Sein abhängig werden. Sie gewinnen aber auch an potenzieller Sinnträchtigkeit, weil man über neue Verknüpfungen neue Sinndimensionen von ihnen erschließen kann. Die Erkenntnissubjekte lassen sich bei der Beurteilung von einzelnen Objektivierungen nun nicht mehr als unerhebliche Faktoren vernachlässigen, da die dargestellten Dinge ja konsequent auf spezifische Sehepunkte zugeordnet werden. Die künstlerischen Darstellungsweisen geraten dadurch auch unter einen sich verstärkenden Kreativitätsdruck, insofern jetzt unterschiedliche Objektivierungsweisen spielerisch erprobt werden können. Die Subjektsphäre, die in aspektivischen und körperperspektivischen Objektivierungsweisen kaum fassbar ist, tritt infolgedessen deutlicher hervor und wird auf spannungsreichere Weise mit der Objektsphäre verknüpft. Einerseits wird in perspektivischen Bildern die Objektsphäre der Subjektsphäre unterworfen, weil Objekte nur so in Erscheinung treten, wie sie Wahrnehmungssubjekte von einem bestimmten Sehepunkt her wahrnehmen bzw. wahrnehmen können. Insofern werden diese dann immer in gewisser Weise Hersteller der Wahrnehmungsobjekte. Andererseits wird aber auch die Subjektsphäre in bestimmter Hinsicht von Objektsphäre entmachtet, weil beispielsweise den Bildbetrachtern über die Konstellation der Dinge in der Objektsphäre ein ganz bestimmter Sehepunkt aufgezwungen wird. Dadurch werden die Wahrnehmungssubjekte konzeptionell ein Teil des Bildes und stehen diesem nicht mehr in freier Kontemplation gegenüber. Durch die Raumperspektive sind die Bilder zweifellos realistischer in dem Sinne geworden, dass sie reale Seheindrücke im höheren Maße repräsentieren als früher. Sie sind aber zugleich auch zufälliger und geheimnisvoller geworden, weil sie Sehbilder objektivieren und nicht Begriffsbilder bzw. kategoriale Wissensgehalte. „Im perspektivischen Bild, das so sehr dem Augenschein angenähert ist, muß die Wahrheit wiederum gesucht werden wie in der Natur selbst. Das perspekti-
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B. Schweitzer, Vom Sinn der Perspektive, 1953, S. 18.
Die Raumperspektive
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vische Sehen eröffnet daher unendlich viele Möglichkeiten der Deutung der Natur. Sie sind abhängig von dem jeweiligen , Standpunkt' des Künstlers, von seiner Perspektive' im übertragenen Sinne. "8 Die interdependente Zuordnung von Objektsphäre und Subjektsphäre in perspektivischen Darstellungsweisen repräsentiert zugleich auch ein neues ontologisches Denkmodell. Objektwelt und Subjektwelt stehen sich nicht mehr als autonome Größen gegenüber, was natürlich Machtdifferenzen nie ausgeschlossen hat, sondern konstituieren sich in einem dialektischen Sinne gegenseitig wie Herr und Knecht. Auf den ersten Blick erscheinen die Objekte in der Raumperspektive als eigenständige Größen entwertet zu werden, weil sie als Erscheinungsdinge eines Subjekts dargestellt bzw. nach dessen Willen und Sehepunkt interpretiert und objektiviert werden. Auf den zweiten Blick wird aber auch deutlich, dass das darstellende und wahrnehmende Subjekt sein Selbstbewusstsein als objektivierende Instanz verlöre, wenn sich die Dinge von ihm nicht in dieser oder jener Perspektive darstellen ließen. Die Objekte erscheinen einerseits zwar als Spielmaterial der Subjekte, aber was bliebe von den Subjekten, wenn sie dieses Spielmaterial räumlich und geistig nicht mehr arrangieren könnten. Obwohl die Subjekte im Wahrnehmungsrahmen der Raumperspektive die Objektwelt ihrem Blick unterworfen zu haben scheinen, sind sie auf subtile Weise doch auch wieder von der Objektwelt abhängig geworden. Es ist offensichtlich, dass die Umorientierung der Objektivierungsanstrengungen, wie sie uns im Übergang von aspektivischen zu perspektivischen Darstellungsweisen fassbar wird, tiefgreifende Rückwirkungen auf Denk-, Sprach- und Textformen haben muss. Wenn realistische Wahrnehmung bzw. Objektivierung jetzt nicht mehr heißt, die Dinge bildlich und geistig in ihrem typisierten substanziellen Wesen zu erfassen, sondern vielmehr bedeutet, sie in ihren möglichen Erscheinungsweisen wahrzunehmen, dann bekommen auch sprachgebundene Erkenntnis- und Objektivierungsprozesse eine ganz andere Grundstruktur. In der perspektivischen Repräsentation von Welt wird die Macht der traditionellen Wissens- und Darstellungsweisen gebrochen, weil es keinen stabilen Konsens über das Wesen der Dinge mehr gibt und geben kann und damit auch keinen Konsens über angemessene Typisierungsstrategien. Mit typisierten sprachlichen Baumustern kann immer weniger gearbeitet werden. Die Objektivierungs- bzw. Sinnbildungsleistung sprachlicher Formen wird immer mehr von ihren kontextuellen Einbettungen abhängig. Sprachliche Weltobjektivierungen können unter diesen Rahmenbedingungen nicht mehr einfach vollzogen werden, sondern werden nun zu einem perspektivischen und methodischen Problem, weil die Einzeldinge sich nicht mehr als Einzeldinge erfassen und bedenken lassen, sondern vielmehr als Bestandteile umfassender Konstellationen zu repräsentieren sind. Die Entwick8
B. Schweitzer, a.a.O., S. 23.
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Darstellungsformen in der griechischen Kunst
lung individueller Perspektiven auf Sachverhalte braucht dabei nicht als ein Mangel an allgemeiner kognitiver Kraft gewertet zu werden, sondern kann auch als eine schöpferische Potenz verstanden werden, die sich vom Zwang traditioneller Wahrnehmungsweisen zu befreien versucht. Sprachliche Objektivierungen wollen die einzelnen Phänomene so gesehen nicht mehr als eigenständige Gegebenheiten hervortreten lassen, sondern vielmehr als kontextgebundene Phänomene. Dadurch entsteht ein immanenter Zwang, die hypotaktischen Ordnungsstrukturen der Sprache auszubauen und ihre parataktischen einzuschränken bzw. in Form von neuen Textsorten variable Objektivierungsmuster zu entwickeln.
3. Piatons Kritik der perspektivischen Darstellungsweise Es wurde schon darauf verwiesen, dass Piaton der perspektivischen Darstellungsweise in der Malerei sehr ablehnend gegenübergestanden hat, weil sie seiner Meinung nach in einem Widerspruch zu dem prinzipiellen Sinn und Ziel der Kunst steht. Diese Skepsis hängt eng mit seinen ontologischen Grundüberzeugungen zusammen und ist aufschlussreich im Hinblick auf die Leistungen und Grenzen dieses Darstellungskonzeptes. Etwas verkürzt lässt sich sagen, dass von Piaton die geistige Schau der Ideen, die er als Urbilder aller konkreten empirischen Erscheinungen versteht, als das höchste Ziel aller geistigen Betätigung des Menschen angesehen wird. Dieses Ziel fallt für ihn im Prinzip in das Reich der Philosophie, aber gleichwohl könne auch die bildende Kunst wichtige Hilfestellungen geben, um es zu erreichen. Die gelungene Form vermöge nämlich den Geist bzw. die Seele so zu ergreifen, dass der Zugang zu den Urbildern bzw. den Ideen erleichtert werde. Dem Sehsinn als dem schärfsten aller körperlichen Sinne schreibt Piaton einen besonderen Vorrang zu, weil das Auge unter den Sinnesorganen dasjenige sei, mit dem der Übergang von der Sinnenwelt zur Ideenwelt bzw. von der empirischen zur intelligiblen Welt am besten vorzubereiten und zu bewerkstelligen sei.9 Die leider nicht mehr erhaltenen Bilder Polygnots, die nach antiken Berichten offenbar durch die Körperperspektive, aber noch nicht durch die Raumperspektive geprägt waren, scheinen Piaton ebenso tief beeindruckt zu haben wie die Bildhauerei des Pheidias.10 Das Ziel der Malerei liegt demgemäß für Piaton nicht in der naturgetreuen Wiedergabe faktisch möglicher Seheindrücke, sondern in der Anstrengung, in sinnlich-fassbaren Formen den Weg zu den abstrakten Urbildern zu bahnen bzw. diese in allem konkret Wahrnehmbaren durchschimmern zu lassen. Diese Kunstauffassung dokumentiert sich auf indirekte Weise sehr gut in einer Frage, 9 10
Piaton, Phaidros 250d, Sämtl. Werke, Bd. 4, S. 31; Timaios 47a, a.a.O., Bd. 5, S. 169. B. Schweitzer, Piaton und die bildende Kunst der Griechen, 1953, S. 25ff.
Piatons Kritik der perspektivischen Darstellungsweise
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die in der Politeia aufgeworfen wird. Hier wird rein rhetorisch zur Debatte gestellt, ob ein Maler etwa weniger gut sei, wenn er zwar das Urbild eines schönen Mannes gemalt habe, aber dennoch unfähig sei aufzuzeigen, ob es einen solchen Mann auch geben könne.11 Zu diesem Denkansatz bei der Funktionsbestimmung der Kunst passt auch der antike Bericht von Cicero und Plinius über den Maler Zeuxis von Herakleia. Für ein Gemälde der schönen Helena habe er sich nicht mit einem schönen Mädchen als Modell begnügt. Er habe vielmehr fünf schöne Mädchen verlangt, deren jeweils reinste Züge er dann zu einem Bild von makelloser Schönheit vereinigt habe.12 Je deutlicher Piaton dann die empirische Sinnenwelt als abgeleitete Welt der intelligiblen Ideenwelt als der ursprünglichen Wirklichkeit gegenüberstellt, desto mehr vermindert sich für ihn die philosophische Bedeutsamkeit der Kunst. Da Bilder eine natürliche Tendenz haben, Sichtbares abzubilden, bleiben sie für ihn notwendigerweise der Welt des Werdens und Vergehens verhaftet, während Worte bzw. Begriffe von vornherein sehr viel leichter auf die Welt der unveränderlichen Ideen als den eigentlichen Gegenständen menschlicher Erkenntnisbemühungen bezogen werden können. Für Piaton beginnt die Erkenntnis der Ideenwelt zwar in der sichtbaren Welt und insbesondere bei den schönen Dingen, aber die philosophische Erkenntnis müsse prinzipiell die Erscheinungswelt transzendieren, um zu der intelligiblen Welt der Ideen vorstoßen zu können. Der Maler kann helfen, diesen Weg zu bahnen, aber letztlich gehen kann ihn nur der Philosoph. Die Kunst hat für Piaton nur dann ein Recht, wenn sie ihre Repräsentationsfunktion (Mimesis) nicht darin sieht, eine individuelle empirische Sache bzw. ein Erscheinungsbild zu objektivieren, sondern darin, den Typus bzw. das Wesen einer Sache. Der Kunst darf es dementsprechend nicht auf fotografische Genauigkeit ankommen, sondern vielmehr auf typologische Adäquatheit. Bilder werden für ihn prinzipiell problematisch, wenn sie so gestaltet werden, dass sie zu einer Nachahmung der Nachahmung werden. Schweitzer vermutet wohl zu Recht, dass der Wertsturz der bildenden Kunst beim alten Piaton nicht nur eine Konsequenz seiner immer schärfer ausgearbeiteten Ideenlehre sei, sondern auch eine Konsequenz seiner Erfahrungen mit der zeitgenössischen Malerei, die er mit großem Misstrauen beobachtet habe. Die Art der Mimesis, die in der Bühnenmalerei (Skenographia) und der Schattenmalerei (Skiagraphia) das Ziel gehabt habe, auf der zweidimensionalen Fläche die Illusion einer dreidimensionalen Welt zu erzeugen, habe er für ganz verderblich gehalten, weil sie von dem eigentlichen Ziel der Kunst nur ablenke, den Weg in die Welt der Ideen zu erleichtern.13 Gerade vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit der Bühnenmalerei und der Raumperspektive mussten Piaton alle Formen der Kunst als Gaukler" 13
Piaton, Politeia 472d, a.a.O., Bd. 3, S. 192. B. Schweitzer, Piaton und die bildende Kunst der Griechen, 1953, S. 55. B. Schweitzer, a.a.O., S. 83.
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Darstellungsformen in der griechischen Kunst
stücke vorkommen, die die Illusion von empirischer Realität hervorzurufen versuchten, weil sie eher aus der Wirklichkeit der Welt der Ideen heraus- als in diese hineinführten. Verständlich ist in diesem Zusammenhang dann auch, dass von Piaton im Prinzip nicht die Kunst, sondern die Mathematik als die zweitwichtigste geistige Anstrengung des Menschen nach der Philosophie angesehen wurde, weil auch die Mathematik dazu prädestiniert sei, die Welt der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände zu transzendieren. In den Nomoi tröstet deshalb auch der Athener seinen Gesprächspartner damit, dass er nichts Wesentliches versäumt habe, wenn er sich in der Malerkunst nicht auskenne.14 Sehr aufschlussreich ist außerdem, dass Piaton den Athener insbesondere die ägyptische Malkunst preisen lässt, weil diese in festen Traditionen stehe und es nicht gestatte, Neuerungen zu treffen, die von den Ursprüngen und Zielen der Kunst wegführten.15 Im Sophistes16 unterscheidet der Fremde bei der nachbildenden Kunst zwischen einer „ ebenbildnerischen " und einer „ trugbildnerischen " und vergleicht letztere mit der argumentativen Scheinkunst der Sophisten, die „gesprochene Schattenbilder" produzierten, die keinen Eindruck vom wahren Wesen der Dinge vermitteln könnten. Auf bemerkenswerte Weise wird hervorgehoben, dass auch mit Worten Trugbilder und nicht Ebenbilder von Urbildern hervorgebracht werden könnten. Jede Nachahmungskunst (Mimesis) müsse auf der Hut sein, nicht zur Trugkunst zu werden. Während Piaton nachdrücklich die täuschenden Absichten der perspektivischen Malerei und des sophistischen Sprachgebrauchs akzentuiert, denkt Aristoteles in dieser Hinsicht sehr viel pragmatischer. Ihn interessieren die Analogien zwischen der perspektivischen Malerei und einem perspektivisch organisierten Sprachgebrauch vor allem in kommunikationstheoretischer Hinsicht. Im Hinblick auf die Rhetorik hat Aristoteles hervorgehoben, dass der Sehepunkt für konkrete sprachliche Objektivierungen nicht willkürlich gewählt werden dürfe, sondern von den jeweiligen Adressaten und Zielsetzungen der Rede abhänge. Das Problem der sprachlichen Perspektivierungen wird von ihm damit nicht nur in erkenntnistheoretischen, sondern auch in wirkungsästhetischen Zusammenhängen gesehen. „Die Redeweise, die nun für die Volks- (bzw. Staats)rede geeignet ist, ist ganz und gar vergleichbar mit der Dekorationsmalerei (Kulissenmalerei). Je größer nämlich die Volksmenge ist, desto ferner muß der Standpunkt der Betrachtung liegen. Daher scheint in beiden Fällen, hohe artistische Vollendung überflüssig und wenig zweckmäßig zu sein. Die Ausdrucksweise, die aber für die Gerichtsrede bestimmt ist, muß in höherem Maße sorgfältig sein. "17
14 15 16 17
Piaton, Politeia 602cff., a.a.O., Bd. 3, S. 294, Nomoi 769b, a.a.O., Bd. 6, S. 143. Piaton, Nomoi 656e, a.a.O., S. 39. Vgl. auch W.M. Davis, Plato on egyptian art, Journal of Egyptian Art, 65, 1979, S. 121-127. Platon, Sophistes 234b-236d, a.a.O., Bd. 4, S. 205-208. Aristoteles, Rhetorik 1414a, 1980, S. 201.
Piatons Kritik der perspektivischen Darstellungsweise
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Bezeichnend ist, dass Piaton im Banne seiner Ideenkonzeption und der damit verbundenen Wahrheitskonzeption blind dafür war, dass mit der perspektivischen Malerei und der künstlerischen Fiktionsbildung Objektivierungsmöglichkeiten verbunden sind, die auch erkenntnistheoretische Relevanz haben. Das Illusionäre bzw. Fiktive ist für Piaton Ausdruck eines irregeleiteten Denkens, weil dadurch der Weg zur Wesenserkenntnis versperrt werde. Das hypothetische und pragmatische Denken, das man mit dem perspektivischen Objektivieren in Kunst und Sprache verbinden kann, war Piaton ziemlich fremd. Sein essentialistisches Denken impliziert nach Ansicht Poppers immer die Gefahr, in ideologischen Formen zu erstarren.18 Demgegenüber ist hervorzuheben, dass das perspektivische Denken und Darstellen nicht auf endgültige Abstraktionen aus ist, dass es Phänomene immer kontextual einzubinden versucht und dass es dem Individuellen besondere Aufmerksamkeit schenkt. Im perspektivischen Denken stellen alle Objektivierungen nur einen hypothetischen, aber keinen essentiellen Wahrheitsanspruch.
18
K.R. Popper, Die offene Gesellschaft und Ihre Feinde, 19806, Bd. 1, S. 43ff.
V Die Zentralperspektive Im Rückblick erscheint die Ausbildung der Zentralperspektive als selbstverständliche Konsequenz der Ausbildung von Körperperspektive und Raumperspektive, weil dadurch ein bestimmtes Gestaltungsprinzip erst voll entwickelt wird. Geschichtlich betrachtet ist die Entwicklung der Zentralperspektive aber keineswegs so zwingend, wie es in der Rückschau erscheint. Die Zentralperspektive war nur eine Option der Kunstgeschichte. Die byzantinische und mittelalterliche Kunst haben nicht an die perspektivischen Darstellungsweisen der griechisch-römischen Antike angeknüpft, sondern sind eigene Wege gegangen. Erst nach fast tausend Jahren ist in der Renaissance diese Entwicklungslinie wieder aufgenommen und fortgeführt worden, weil nun wieder Rahmenbedingungen herrschten, die zu den Prinzipien und Intentionen der perspektivischen Objektivierung von Welt passten. Die mit der perspektivischen Darstellungsweise verbundene Intention, Dinge im Sinne konkreter Erscheinungsbilder bzw. potenzieller Seheindrücke darzustellen, den Raum als eigene Größe zu objektivieren und das Spannungsverhältnis von Objektsphäre und Subjektsphäre zum Ausdruck zu bringen, ist kein generelles, sondern ein historisches Ziel künstlerischer Darstellungsformen. In der modernen Kunst ist dieses Ziel wieder aufgegeben worden. In der archaischen, der ostasiatischen, der byzantinischen und der mittelalterlichen Kunst ist es nie angestrebt worden. Im Prinzip wird man sagen können, dass es das Ziel der bildenden Kunst ist, eher das sichtbar zu machen, was wir im alltäglichen Sehen nicht sehen, als das, was wir ohnehin sehen oder leicht sehen können. Die ostasiatische Kunst strebt nicht danach, die Illusion eines dreidimensionalen Raumes auf der Fläche zu erzeugen bzw. Erscheinungsräume darzustellen, die sich einem Subjekt von einem spezifischen Sehepunkt aus darbieten. Die Einzeldinge werden eher additiv-parataktisch als integrativ-hypotaktisch angeordnet. Glaser spricht der ostasiatischen Kunst sogar eine symphonische Darstellungsintention zu, bei der Themen sich bilden und wieder ausklingen.1 In der byzantinischen Kunst werden wieder vorperspektivische Darstellungsformen bevorzugt, weil an perspektivischen Körper- und Raumdarstellungen offenbar kein Interesse besteht, sondern vielmehr an isolierenden Figurendarstellungen. Die einzelnen Figuren werden parataktisch auf der Fläche '
C. Glaser, Die Kunst Ostasiens, 1922, S. 40ff., 88ff.
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angeordnet und nicht als Elemente eines Systemraums verstanden. Durch die Verwendung des Goldgrundes werden einzelne Figuren klar von ihrer Umgebung isoliert und damit als eigenständige Größen akzentuiert. In dem so genannten byzantinischen Bilderstreit offenbarte sich dann sehr klar, dass Bilder nicht dazu bestimmt waren, mögliche Seheindriicke präsent zu machen, sondern dazu, das Wesen der dargestellten Dinge und Personen herauszuarbeiten. Da sich auf diese Weise Bildern leicht eine Wesensteilhabe am Abgebildeten zusprechen ließ, war es bei Heiligenbildern sehr schnell zu einer Bilderverehrung gekommen, die natürlich nicht den Bildern als materiellen Gebilden galt, sondern den Bildern als einer Form der Mitgegenwart der jeweiligen Urbilder. Wie in der vorperspektivischen Kunst wurde bei der Gestaltung von Bildern ganz von den Wahrnehmungsobjekten her gedacht und nicht von den Wahrnehmungssubjekten bzw. von deren möglichen Seheindrücken. Auch die mittelalterliche Malerei bringt kein besonderes Interesse dafür auf, Gegenstände als Sehgegenstände eines spezifischen Subjekts zu interpretieren bzw. den Raum als potenziellen Sehraum zu gestalten. Deshalb hat man auch keine Schwierigkeiten, die Größe von Personen auf den Bildern nach ihrer sozialen Bedeutsamkeit zu stufen (Relevanzperspektive) und nicht nach der Entfernung von dem Betrachter (Raumperspektive). Auf einem Bild lassen sich problemlos auch Personen vereinen, die zeitlich in ganz unterschiedlichen Epochen und Räumen gelebt haben. Die Entwicklung zentralperspektivischer Darstellungsformen in der Renaissance kann zwar prinzipiell als Ergebnis evolutionärer Prozesse beschrieben werden, aber sie ist weder ein zwangsläufiger Schritt kunstgeschichtlicher Entwicklungen noch das unüberbietbare Endstadium künstlerischer Darstellungsverfahren. Im Laufe der Geschichte hat es immer wieder Darstellungsintentionen in der Kunst gegeben, für die die Zentralperspektive keine optimale Objektivierungsweise war bzw. für die diese sogar kontraproduktiv war. Unter bestimmten historischen Rahmenbedingungen und künstlerischen Zielsetzungen wurden perspektivische Darstellungsweisen gar nicht erst entwickelt oder fielen wieder kulturellen Selektionsprozessen zum Opfer. Unter anderen historischen Rahmenbedingungen wurden dagegen perspektivische Darstellungsweisen durch kulturelle Selektionsprozesse fortentwickelt und systematisiert. In der Renaissance herrschte offenbar ein günstiges geistiges Klima, um perspektivische Darstellungsweisen zu zentralperspektivischen fortzuentwickeln und als generelle künstlerische Norm zu propagieren. Das hat bis heute so nachgewirkt, dass wir andere Darstellungsformen oft nur als Negationen der zentralperspektivischen verstehen, obwohl diese Darstellungsformen intentional eine solche Norm gar nicht negieren wollten, sondern Objektivierungsziele hatten, die eigentlich positiv zu beschreiben sind. Kulturhistorisch greift man zu kurz, wenn man die Zentralperspektive bloß als eine Form der Repräsentation und der Beherrschung des Raumes in der Malerei versteht. Sie kann durchaus auch als ein ontologisches Denkmodell
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Die Zentralperspektive
bzw. als ein Konzept für die Erschließung und Beherrschung der Welt verstanden werden oder als eine symbolische Form im Sinne Cassirers. Vordergründig ist sie ein Verfahren für die Objektivierung des dreidimensionalen Raumes auf einer zweidimensionalen Fläche. Hintergründig ist sie aber ein exemplarisches Konzept für die Objektivierung und Beherrschung von Systemzusammenhängen. Das bedeutet, dass die prägenden Strukturordnungen der Zentralperspektive sich auch in anderen kulturellen Ordnungssystemen wiederfinden lassen müssten, wie etwa in staatlichen Organisationen, in Geld- und Handelssystemen, in der Organisation von Arbeitsprozessen, in der Strukturierung von Wissenschaften usw., und dass umgekehrt auch von diesen Gebieten wieder wichtige Impulse auf die Ausbildung der Zentralperspektive ausgehen könnten. Solche Homologien haben dann insbesondere in marxistischen Denkansätzen Interesse gefunden. 2 So gesehen kann man dann auch den Begriff der Zentralperspektive mit dem Habitusbegriff von Bourdieu in Verbindung bringen, der unter Habitus eine konzeptionelle Denkform versteht, die zur Strukturierung ganz unterschiedlicher Sachgebiete nach ähnlichen Grundprinzipien bestimmt ist. Als „modus operandi" und als „System verinnerlichter Muster" diene der Habitus dazu, „ alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen - und nur diese. "3 In diesem Zusammenhang lässt sich dann auch daran erinnern, dass die Ausbildung der Novellenstruktur Parallelen zur Ausbildung der Zentralperspektive aufweist und dass die Mathematisierung der Naturwissenschaften bzw. die Konzipierung aller Wissenschaften als konsistente Systemordnungen in die gleiche Zeit fällt. Aufschlussreich dafür ist Galileis Maxime: IIes messen, was meßbar ist, und alles meßbar machen, was es noch nicht ist."A Wie die Zentralperspektive dem Maler ein Raumgerüst vorgibt, in das er die einzelnen Gegenstände einordnen kann, so gibt der Habitus dem Denken ein Strukturgerüst vor, in dem Einzelphänomene verortet werden bzw. nur so objektiviert werden, wie das Gerüst es zulässt.
1. Die Grundlagen der Zentralperspektive Bezeichnend ist, dass die entscheidenden direkten Impulse für die Ausbildung der Zentralperspektive in der Malerei nicht aus dieser selbst, sondern aus der Architektur kamen. Als Begründer der zentralperspektivischen Darstellungsweise gelten der Architekt Filippo Brunelleschi (1377-1466), der Erbauer der Domkuppel von Florenz, und der Architekt und Gelehrte Leon Battista Alberti (1401-1472). Ihnen stellte sich als Architekten das Problem, den Raum bzw. 2 3 4
Vgl. L. Goldstein, The social and cultural roots of linear perspective, 1988. P. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, 1974, S. 143. Vgl. J. Gebser, Gesamtausgabe, Bd. 1, S. 181, Bd. 3, S. 381.
Die Grandlagen der Zentralperspektive
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Gebäude zeichnerisch so zu objektivieren, dass sich auf einer zweidimensionalen Fläche eine adäquate Raumvorstellung von künftigen Bauwerken ergab. Dies war praktisch nur durch eine schrägansichtige Darstellungstechnik zu erreichen, die wir heute als Zentralprojektion bzw. als Zentralperspektive bezeichnen. Aus den Aufzeichnungen Vasaris geht hervor, dass Brunelleschi als erster das räumliche Bild eines Gegenstandes als eine Zentralprojektion auf die Fläche verstanden hat bzw. als vertikalen Schnitt durch die Sehpyramide. Die erste schriftlich überlieferte Darstellung dieses Konzeptes findet sich in Albertis Traktat über die Malerei von 1435.5 Dieses primär optisch und geometrisch fundierte Bildverständnis, das das Bild als Objektivierung eines bestimmten Seheindrucks von einer bestimmten Sehposition aus versteht und nicht als interpretative WesensObjektivierung von Gegenständen, hat weitreichende Folgen gehabt. Unter einer Zentralprojektion bzw. unter einem vertikalen Schnitt durch die Sehpyramide ist folgendes zu verstehen: Von einem Gegenstand, etwa einem Würfel oder einem Haus, werden von den markanten Eckpunkten Linien (Sehstrahlen) auf einen bestimmten Betrachtungsort (Augenpunkt/Sehepunkt) gezogen, der in einer bestimmten Distanz und Höhe zu dem jeweiligen Objekt liegt. Dadurch ergibt sich eine Sehpyramide bzw. ein Sehkegel, dessen Spitze den Augenpunkt bildet und dessen Basis das jeweilige Objekt. Wenn man nun zwischen dem jeweiligen Gegenstand und dem jeweiligen Augen- bzw. Sehepunkt eine vertikal stehende Fläche annimmt, die die Sehlinien zwischen dem Gegenstand und dem Augenpunkt passieren müssen, dann lässt sich diese Fläche als Projektionsschirm verstehen, auf dem sich der jeweilige Gegenstand als zweidimensionales Bild mit den entsprechenden Verkürzungen und Verschiebungen von Linien und Winkeln darstellt. Durch den Augenpunkt wird festgelegt, was die Sehstrahlen von dem jeweiligen Gegenstand objektivieren können und was nicht. Die zentralperspektivische Darstellung von Gegenständen und Räumen bemüht sich nun, genau dem Projektionsbild zu entsprechen, das bei einem vertikalen Schnitt durch die Sehpyramide entstehen würde. Das Modell der Sehpyramide macht dann auch verständlich, warum Alberti Bilder mit Blicken durch ein Fenster verglichen hat und warum Dürer, wie schon erwähnt, die Perspektive als Durchsehung definiert hat.
5
Vgl. H. Eith, Die perspektivische Darstellungsart in ihrem Verhältnis vom Vorstellungsbild und Sehbild, 1936, S. 18ff. W.A. Bärtschi, Lineaiperspektive, 19792, S. 13ff.
Abb. 76, Dürer: Zeichner der Laute
Abb. 8, Dürer: Zeichner, liegenden Akt zeichnend
6
Abb. 7: G. Britsch, Theorie der bildenden Kunst, 1966, S. 70. Abb. 8: a.a.O. S. 69.
Die Grundlagen der Zentralperspektive
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Dürer hat das Ideal, Bilder so zu gestalten, dass sie Schnitte durch eine Sehpyramide repräsentieren, eindrucksvoll in zwei Holzschnitten dargestellt. In dem Bild Zeichner der Laute von 1525 werden die Sehstrahlen bzw. Projektionsstrahlen durch Fäden repräsentiert, die von markanten Punkten der Laute durch ein vertikal angeordnetes Blatt Papier zu einem fixen Punkt an der Wand (Augenpunkt) hinter der Projektionsfläche verlaufen. Durch die Löcher in dem als Projektionsfläche dienenden Blatt Papier entsteht so auf ganz mechanische Weise eine perspektivische Konfiguration der Laute. Bei dem Bild Zeichner, einen liegenden Akt zeichnend fixiert der Zeichner von der Spitze eines kleinen Obelisken als festem Augenpunkt eine liegende Frau durch einen Gitterrahmen mit einzelnen Planquadraten, der wie ein Fenster fungiert. Den so gewonnenen Seheindruck von der Frau mit seinen spezifischen Distanzen, Winkeln und Linien überträgt er dann getreulich auf ein Blatt Papier mit entsprechenden Planquadraten. Damit entspricht das so erzeugte Bild im Prinzip dem vertikalen Schnitt durch die Sehpyramide. Auf eindrucksvolle Weise dokumentiert Dürer mit diesen beiden Holzschnitten, dass das hergestellte Bild eine Funktion des Sehepunktes ist, den das objektivierende Subjekt festgelegt hat. Aus diesem theoretischen Konzept für die Herstellung zentralperspektivischer Bilder ergibt sich, dass drei Faktoren im Zusammenhang mit der Zentralperspektive eine konstitutive Rolle spielen, nämlich der Augenpunkt bzw. Sehepunkt, der Horizont und der Fluchtpunkt. Diese drei Faktoren müssen als Strukturmerkmale noch näher untersucht werden, damit die geistigen Implikationen der zentralperspektivischen Darstellungsweise herausgearbeitet werden können. Die stabile Fixierung des Augenpunktes ist die Voraussetzung dafür, dass die zentralperspektivische Konstruktion eines Bildes in sich stimmig ist und dass alle Gegenstände in derselben Perspektive objektiviert werden. Deshalb hat Dürer in seinen Bildern diesen Augenpunkt einmal durch einen festen Punkt an der Wand repräsentiert, auf den alle Einzelfäden zulaufen, und das andere Mal durch die Spitze des Peilungsobelisken. Der fixierte Augenpunkt ist geometrisch unabdingbar, weil erst auf diese Weise ein einheitlicher Seheindruck von dem ganzen Raum zustande kommt bzw. eine systemhaft geschlossene Szenerie oder ein Systemraum. Ontologisch bemerkenswert ist nun, dass der Augenpunkt eines Bildes nicht zum faktischen Bestand des Bildes selbst gehört und auch nicht gehören kann, weil er der Metaort ist, von dem her die dargestellte Welt objektiviert wird. Der Augenpunkt ist nur indirekt im Bild präsent, weil durch ihn die Tiefenlinien sowie die Horizontlinie des Bildes organisiert werden. Er ist „eine Art,Kraftpunkt'..., der sich eine , Welt' entwirft mitsamt der ihr zugehörigen Gegenstände. "7
7
G. Böhm, Studien zur Perspektivität, 1969, S. 18.
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Die Zentralperspektive
Die These, dass durch einen fixierten Augenpunkt sowie durch einen Schnitt durch die Sehpyramide eine exakte realistische Abbildung von Gegenständen und Räumen möglich ist, wird durch die Konstruktion des Fotoapparates eindrucksvoll bestätigt. Allerdings wirfit diese technische Lösung des Objektivierungsproblems die Frage auf, warum man sich die Welt auf diese Weise bildlich objektivieren soll. Diese Lösung des Darstellungsproblems ist geometrisch exakt, aber anthropologisch möglicherweise nicht sehr sinnvoll, weil dadurch die Gegenstandswelt nicht auf neue Weise sichtbar gemacht wird, sondern eher mechanisch in einem bestimmten Blickwinkel exakt reproduziert wird. Technisch wirken deshalb zentralperspektivische Bilder befriedigend, aber ob sie das auch künstlerisch und kognitiv tun, ist eine andere Frage. Anthropologisch ist in diesem Zusammenhang auch zu bedenken, dass es in unseren normalen Sehprozessen keinen absolut fixierten Augenpunkt gibt. Wir sehen normalerweise nicht nur mit zwei Augen, sondern auch im Kontext einer bestimmten zeitlichen Erstreckung und Eigenbewegung. Zum Realismus der Wahrnehmung gehören feste, aber auch bewegliche Perspektiven. Der fixierte Einaugenpunkt ist eine methodische Idealisierung, ohne die eine mathematisch-geometrische Exaktheit nicht möglich ist, durch die aber zugleich auch die anthropologische Relevanz dieses Objektivierungsverfahrens eingeschränkt wird. Es ergibt sich nämlich das Problem, ob sich Objektsphäre und Subjektsphäre fruchtbar miteinander verschränken lassen, wenn man die Objektivierung der Welt der tyrannischen Macht eines absolut fixierten Augenpunktes unterwirft. Möglicherweise ist es angemessener, Objektivierungsprozesse eher mit dynamischen Wahrnehmungsbahnen in Verbindung zu bringen bzw. mit Perspektivenvariationen. Es ist sicher auch kein Zufall, dass zentralperspektivische Bilder dann ihre größte Exaktheit und ihren größten Eindruck erzielen, wenn sie nicht natürliche Gegebenheiten zu objektivieren versuchen (Menschen, Tiere, Landschaften), sondern Artefakte mit geraden Linien, scharfen Kanten, klaren Winkeln und harten Rändern (Fliesenmuster, geometrische Formen, Häuser). Fixierte Sehepunkte sind auch fur kognitive Wahrnehmungen nicht unproblematisch, was Fach- und Wissenschaftssprachen deutlich zeigen. Jede Weltobjektivierung, die mathematische Exaktheit anstrebt, bedarf fixierter Sehepunkte bzw. fester Betrachtungskategorien, aber es ist keineswegs ausgemacht, dass die Ergebnisse dieser Objektivierungen neben ihrer instrumenteilen auch eine anthropologische Relevanz haben. Sprachtheoretisch ergibt sich diesbezüglich die Frage, ob die semantisch unscharfe natürliche Sprache mit ihren variablen Sehepunkten bzw. Begriffsstrukturen den menschlichen Objektivierungsbedürfhissen nicht angemessener ist als eine semantisch normierte Fachsprache mit fixierten Sehepunkten. Der Augenpunkt einer zentralperspektivischen Bildkomposition spielt auch für die Konkretisation des Horizontes eine konstitutive Rolle. Mit der Wahl des Augenpunktes bzw. mit der Festlegung seiner Distanz und Höhe zu
Die Grundlagen der Zentralperspektive
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der jeweiligen Gegenstandswelt wird auch entschieden, wieviel Welt auf dem Bild ins Blickfeld geraten kann und was von dieser Welt in Aufsicht, Untersicht oder auf derselben Ebene wahrgenommen wird. Die Fixierung des Augenpunktes bzw. Sehepunktes legt also fest, welche Spreizung die jeweilige Wahrnehmungsperspektive hat und auf welcher Höhe der Horizont im Bild verläuft. Sie entscheidet, ob Gegenstände in einer Froschperspektive, einer Normalperspektive oder in einer Vogelperspektive wahrgenommen werden. Der Horizont ist deshalb ein konstitutives Element jeder zentralperspektivischen Objektivierungsweise, das entscheidend zur Systemkohärenz von Bildern beiträgt. Der Horizont, den ein Maler in Korrelation mit dem Augenpunkt festlegt, ist vom Bildbetrachter nicht zu verändern. Dieser muss die Welt so sehen, wie der Maler sie mit Hilfe dieser Kompositionsfaktoren in Erscheinung treten lässt. Allerdings könnte der einheitliche Horizont des zentralperspektivisch konzipierten Bildes den Betrachter auch dazu anregen, die Horizontlinien des Bildes gedanklich zu variieren und sich zu fragen, was und wie er von einem anderen Augenpunkt her sehen könnte. Horizontlinien gibt es natürlich auch in körperperspektivischen und raumperspektivischen Darstellungsweisen, aber da sie hier eher als Organisationslinien für Teildarstellungen anzusehen sind, üben sie nicht einen so großen dialektischen Impuls aus, sie gedanklich zu transzendieren. Der dritte konstitutive Faktor zentralperspektivischer Konstruktion ist, neben dem Augenpunkt und dem Horizont, der Fluchtpunkt. Er ist in einem zentralperspektivisch organisierten Bild deijenige Punkt, in dem alle faktisch parallelen Linien im Bild auf der sagittalen Achse auf dem Bildhorizont zusammenzulaufen scheinen. Dieses optische Phänomen exemplifiziert sich sehr gut bei Eisenbahngleisen. Hier scheinen die einzelnen Schienen am Horizont zusammenzulaufen, obwohl sie faktisch parallel angeordnet sich. Wenn es für ein Bild keinen einheitlichen Augenpunkt gibt, dann kann es natürlich mehrere Horizonte und Fluchtpunkte haben, was in der modernen Kunst Escher auf verwirrende Weise vorgeführt hat. Mit perspektivischen Verwirrungen haben im 18. Jahrhundert allerdings auch schon der Engländer William Hogarth und der Venezianer Giovanni Battista Piranesi gespielt. Der einheitliche Fluchtpunkt auf der Horizontlinie ist in zentralperspektivisch organisierten Bildern wichtig, weil dadurch indirekt ein bestimmter Aufmerksamkeitssog erzeugt wird. Da sich unser Wahrnehmungsinteresse immer auf einen solchen Fluchtpunkt zentriert, kann zugleich festgelegt werden, was thematisches Zentrum und was thematische Peripherie eines Bildes ist.
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Die Zentralperspektive
Es gibt zwei berühmte Beispiele für die aufmerksamkeitslenkende Funktion des Fluchtpunkts auf der Horizontlinie. Auf Leonardo da Vincis Wandbild Abendmahl laufen alle Tiefenlinien des Bildes auf den Kopf von Jesus als Fluchtpunkt zu, so dass auf diesen Punkt unsere Aufmerksamkeit konzentriert wird. Auf Raffaels Bild Schule von Athen liegt der Fluchtpunkt aller sagittalen Parallellinien zwischen den Figuren von Piaton und Aristoteles. Raffaels Bild ist nun allerdings nicht realistisch in dem Sinne, dass es eine potenziell reale Situation repräsentiert, aber durchaus realistisch in dem Sinne, dass es einen geistigen Raum repräsentiert, für den die Gestalten von Piaton und Aristoteles eine strukturbildende Funktion haben. Als Objektivierung eines geistigen Raumes spielt es dann auch keine Rolle, dass auf diesem Bild Philosophen aus verschiedenen Zeiten kopräsent gemacht werden.
Abb. 98, Leonardo da Vinci: Abendmahl
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Abb. 9: W.A. Bärtschi, Linearperspektive, 19972, S. 22. Abb. 10: a.a.O., S. 27.
Die Implikationen der Zentralperspektive
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Abb. 10, Raffael: Schule von Athen
2. Die Implikationen der Zentralperspektive Zweifellos ist die perspektivische Objektivierungsform von Welt diejenige, die faktisch möglichen Seheindrücken von Raumphänomenen am nächsten kommt. Deshalb gilt sie vielen wegen ihrer großen Nähe zur Fotografie auch als realistischste Darstellungsweise. So wichtig solche Repräsentationsformen für viele Zwecke auch sein mögen, so stellt sich doch die generelle Frage, ob bzw. inwieweit eine solche illusionäre Quasiverdopplung von Welt auf der Ebene der Zeichen das Ziel von Kunst und Erkenntnis ist oder sein sollte. Für das Zeitalter der Renaissance ist es allerdings keine Frage, dass der Kunst das Ziel zugeordnet werden kann, faktische oder potenzielle Seheindrücke so exakt wie möglich bildlich zu objektivieren, was die Zentralperspektive natürlich zu einem selbstverständlichen künstlerischen Gestaltungsmittel gemacht hat. Enthusiastisch hat Leonardo da Vinci die zentralperspektivische Darstellungsweise als Existenzgrundlage der Malerei gepriesen. „Die Perspective ist Leitseil und Steuerruder der Malerei. "9 Der Malerei billigt er außerdem einen höheren Rang zu als der Poesie, weil letztere ihre Vorstellungsbilder kraft 9
Lionardo da Vinci, Das Buch der Malerei, 1970, S. 233.
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Imagination aus Höreindrücken oder Schriftzeichen erzeugen müsse, während die Malerei ihre Sachverhalte direkt darstellen könne. „Die Malerei dient einem vornehmeren Sinn als die Poesie und stellt die Werke der Natur mit mehr Wahrheit dar als der Dichter. Auch sind die Werke der Natur weit höher von Rang als Worte, die des Menschen Werke sind, denn von den Werken der Menschen zu denen der Natur ist eben solch' ein Abstandsverhältniss, wie vom Menschen zu Gott. So ist also Nachahmung der natürlichen Dinge, die thatsächlich aus den wahrhaftigen Scheinbildern besteht, ein würdigeres Ding als das Nachahmen der Thaten und Reden der Menschen." 10
Bei diesem Grundverständnis der Malerei ist auch nicht überraschend, dass Leonardo da Vinci die These vertritt, die Malerei habe sich normativ an der Qualität von Spiegelbildern zu orientieren. „ Willst du sehen, ob dein Bild im ganzen mit der Sache Übereinstimmung habe, die du nach der Natur gemacht hast, so nimm einen Spiegel, laß darin den lebendigen Gegenstand sich spiegeln, vergleiche den abgespiegelten Gegenstand mit deinem Gemälde und schau gut nach, ob das Objekt des einen und das andere Abbild miteinander in Übereinstimmung sind... Man muß den Spiegel zum Meister nehmen ... "n Die Vorstellung, dass das höchste Ziel der Kunst darin bestehe, faktisch mögliche Seheindrücke zu objektivieren, hat von der Renaissance bis zum sozialistischen Realismus immer wieder Anhänger gefunden. In der Aufklärung hat Lambert in Anspielung auf die schon erwähnte Anekdote über den Malerwettstreit zwischen Zeuxis und Parrhasios folgende Auffassung vertreten: „ Wenn Vögel auf gemalte Trauben fallen und sie aufzehren wollen; wenn ein Maler selbst nach dem gemalten Vorhange greift, um denselben aufzuziehen, oder eine gemalte Fliege wegtreiben will, so ist dies das höchste, was man von der Kunst erwarten kann. "12 Lambert erinnert außerdem daran, dass Leonardo da Vinci Gemälde mit Spiegelbildern verglichen habe, und entwickelt in diesem Zusammenhang dann eine These, die für die ontologische Beurteilung der Kunst höchst bedeutsam ist. Er vertritt nämlich die Auffassung, dass die künstlerische Widerspiegelung im Prinzip danach zu streben habe, dass das jeweilige Bild sich als artifizielles Medium idealiter ganz in Vergessenheit zu bringen habe. Das Bild müsse so gestaltet sein, dass es im Rezeptionsvorgang gar nicht mehr als Bild von etwas bzw. als Interpretationsanstrengung in Erscheinung trete. Für eine solche perfekte Illusion ist dann natürlich die zentralperspektivische Darstellungsweise eine unabdingbare Voraussetzung. „Es ist ein Fehler des Spiegels, wenn man das geringste vom Glase sieht, aus dem er gemacht ist. Ebenso soll man im Gemälde nichts von der Tafel, dem Tuche, den Farbstrichen, sondern schlechthin nur den Gegenstand in derjenigen Größe und Entfernung sehen, die bei der Zeichnung zugrundegelegt worden [sind]. 10 11 12
Lionardo da Vinci, a.a.O., S. 17. Leonardo da Vinci, Der Denker, Forscher und Poet, 1904, S. 149. J.H. Lambert, Schriften zur Perspektive, 1943, S. 263, §217.
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Dazu wird nun vielerlei erfordert. Einmal die genaueste perspektivische Zeichnung. Dann die dem Gegenstand angemessene Farbengebung, Licht und Schatten. Ferner muß es mit einem Auge gesehen werden. Endlich muß es im rechten Lichte stehen und so gestellt sein, daß das Auge sich in dem bei der Zeichnung zugrundegelegten Gesichtspunkte befindet. Das Auge muß ferner nichts [weiter] als das Gemälde sehen ... Die Perspektive trägt das meiste dazu bei. Denn sie tut ihre Wirkung, wenn auch die Farben sehr mittelmäßig aufgetragen sind."13
Die von Leonardo da Vinci und Lambert postulierte Vorbildlichkeit des Spiegels bzw. des Spiegelbildes für die Malerei hat nun allerdings auch ihre Kehrseite. Wenn ein Bild ganz in seiner unmittelbaren Widerspiegelungsfunktion aufgeht und seinen Sinn am besten erfüllt, wenn seine ontische Eigenständigkeit ganz verblasst, dann verliert es auch seinen interpretativen und vermittelnden Charakter. Aber sind Bilder denn schon defizitär, wenn sie ihre Bezugsgegenstände anders darstellen, als sie optisch normalerweise in Erscheinung treten? Soll man die Sprache der Bilder im Sinne einer unmittelbar verständlichen Natursprache verstehen, die jedermann beherrscht, weil sie sich auf optische Naturgesetze gründet, oder muss man lernen, Bilder zu verstehen, ebenso wie man lernen muss, sprachliche Texte zu verstehen? Haben wir den Sinn eines Bildes schon erfasst, wenn wir wissen, welche Gegenstände es repräsentieren will? Ist die Realität mit dem identisch, was uns Seheindrücke zugänglich machen, oder gibt es unterschiedliche Ebenen der Realität, die auf je unterschiedliche Art und Weise objektiviert werden wollen? Vor dem Hintergrund solcher Fragen lässt sich die Existenz zentralperspektivischer Objektivierangsweisen auch als Indikator eines bestimmten Realitätsverständnisses bzw. einer bestimmten Subjekt-Objekt-Relation verstehen. Als Realität wird nicht mehr das verstanden, was hinter den konkreten Erscheinungsbildern steht und was sich nur begrifflich oder typusmäßig darstellen lässt, sondern genau das, was sich von einem Subjekt empirisch erfassen, quantifizieren und berechnen lässt. Konkrete Wahrnehmungen sollen nicht transzendiert, sondern als solche ernst genommen werden. Die Malerei, die sich optisch-geometrischen Gesetzlichkeiten anvertraut, ist gut beraten und steht in keiner grundsätzlichen Spannung zur Wissenschaft, weil sie über die genaue Abbildung ihrer Gegenstände denselben Kontakt zur Wirklichkeit herstellt wie die Wissenschaft über die Formulierung und Anwendung von Gesetzen. Panofsky hat die Wertakzentuierung der Seheindrücke des Subjekts, wie sie in den theoretischen Überlegungen der Renaissance zur Zentralperspektive immer wieder zum Ausdruck kommen, in folgender These zusammengefasst: „ es war eine Überführung des psychophysiologischen Raumes in den mathematischen erreicht, mit anderen Worten: eine Objektivierung des Subjekti-
13
J.H. Lambert, a.a.O., S. 319, 320.
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ven."14 Was ist nun mit dieser Formel von der Objektivierung des Subjektiven gemeint? Welches Spannungsverhältnis will sie zum Ausdruck bringen und welche Lösung bietet sie an? In welche Probleme verstricken sich die Malerei und das Denken, wenn sie nach zentralperspektivischen Objektivierungsverfahren streben? Kann diese Formel mit dem Homo-Mensura-Satz des Protagoras, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, in Verbindung gebracht werden? Dabei wäre dann insbesondere an ein relationstheoretisches und erkenntniskritisches Verständnis dieses Satzes zu denken, insofern der von einem Menschen räumlich und geistig eingenommene Sehepunkt prädeterminiert, wie etwas für diesen überhaupt in Erscheinung treten kann.15 Zunächst ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass in zentralperspektivischen Objektivierungsweisen der Standort des wahrnehmenden Subjekts in einem Maße wie nie zuvor in die bildliche Darstellung von Welt einbezogen worden ist. Darin dokumentiert sich ein gestiegenes Selbstbewusstsein des Subjekts. Arnheim hat das sehr prägnant formuliert: ,JDie perspektivischen Verzerrungen werden nicht durch Kräfte verursacht, die in der dargestellten Welt selbst stecken. Sie sind der anschauliche Ausdruck der Tatsache, daß diese Welt ,gesehen' wird."16 Das auf dem Bild faktisch Objektivierte wird deshalb als eine gesetzmäßige Funktion verstanden, die sich aus dem Sehepunkt des Subjekts, dem jeweiligen Gegenstandsbereich und der Entfernung zwischen beiden ergibt. Diesen Tatbestand hat auch schon Dürer sehr klar herausgearbeitet, als er darauf verwies, dass das sehende Auge, das gesehene Objekt und der Zwischenraum zwischen beiden die grundlegenden Faktoren der zentralperspektivischen Darstellungsweise seien.17 Objektivierung des Subjektiven bedeutet unter diesen Umständen, dass man sich in der Zentralperspektive konsequent darum bemüht, den faktischen Seheindruck wiederzugeben, der sich jedem potenziellen Wahrnehmungssubjekt von einem bestimmten Sehepunkt her darbietet. Das hat natürlicherweise zur Konsequenz, dass auf einem Bild ein faktisch quadratischer Tisch nie als ein Tisch mit vier rechten Winkeln dargestellt werden darf, sondern immer nur als ein parallelogrammartiges Gebilde mit verschobenen Winkeln und verkürzten Kantenlinien. Panofskys Formel von der Objektivierung des Subjektiven ist so gesehen weder im Sinne eines radikalisierten Konstruktivismus oder gar Solipsismus zu verstehen, wonach alles Objektivierte mehr oder weniger ein genuines Produkt von Subjektaktivitäten wäre, noch in dem Sinne, dass dadurch der Realitätskontakt von Bildern gemindert oder geleugnet würde - im Gegenteil. Die Verschiebung von Winkeln, Verkürzungen von Linien und Variationen von 14 15 16 17
E. Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form", 1927, S. 287. Vgl. W.H. Pleger, Die Vorsokratiker, 1991, S. 141ff. R. Arnheim, Kunst und Sehen, 1978, S. 287. „Daz erst ist daz awg, daz do siht. Daz ander ist der gegen würff, der gesehen wirt. Daz trit ist dy weiten do tzwischen." H. Rupprich (Hrsg.), Dürer, schriftlicher Nachlaß, Bd. 2, 1966, S. 373.
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Größen entspringt ja keiner subjektiven Willkür, sondern optisch-geometrischen Gesetzmäßigkeiten. Alle Transformationsprozesse erfolgen nach einer rational legitimierbaren und intersubjektiv absolut gültigen Methode. Der Realitätskontakt der Bilder wird dadurch keineswegs geschwächt, sondern eher gestärkt. Mit Hilfe des Begriffs Methode bzw. Wissenschaft lässt sich deshalb vielleicht am besten klären, was Panofskys Formel von der Objektivierung des Subjektiven in Bezug auf die Zentralperspektive bedeutet und welche Form der Verschränkung von Objektsphäre und Subjektsphäre damit gemeint wird. Die zentralperspektivische Darstellungsweise erlaubt es, individuelle Erfahrungen auf methodisch kontrollierbare Weise intersubjektiv exakt nachvollziehbar zu machen (Zentralprojektion, Schnitt durch die Sehpyramide). Der Begriff des Subjektiven kann deshalb auch nicht als ein Oppositionsbegriff, sondern allenfalls als ein ergänzender Relationsbegriff zum Begriff des Objektiven verstanden werden, weil er in diesem Verständnis nicht mehr mit den Kategorien der Willkürlichkeit oder Zufälligkeit in Verbindung gebracht werden kann. Die Zentralperspektive stärkt das Selbstbewusstsein der Subjekte, weil man erkennt, dass man durch sie die Gegenstandswelt auch beherrschen kann. Merleau-Ponty kommt deshalb zu der These: „Die Perspektive ist viel mehr als ein technischer Trick zur Nachahmung einer Realität, die sich allen Menschen dergestalt darböte; sie ist die Erfindung einer beherrschten Welt, die man in einer momentanen Synthese ganz und gar besitzt..." Zu den methodischen Prinzipien, die zentralperspektivische Darstellungsweisen vor subjektivistischer Willkür schützt, gehört wohl auch das, was Gombrich das ,4ugenzeugenprinzip" genannt hat.19 Es besagt, dass in einem Bild nur das aufgenommen bzw. objektiviert werden dürfe, was von einem bestimmten Sehepunkt auch tatsächlich sichtbar werden könne und nichts anderes. Gerade weil sehen ein transitives Verb sei, das nach einem Objekt verlange, dürfe auf einem Bild nur das dargestellt werden, was ein bestimmter Sehepunkt zugänglich mache. Montage- und Collagetechniken sind deshalb mit zentralperspektivischen Darstellungsweisen prinzipiell nicht vereinbar. Zentralperspektivisch strukturierte Bilder repräsentieren die Welt aus dem Blickwinkel eines bestimmten Beobachters. Das wird weder verheimlicht noch als kreativer Anspruch verherrlicht, sondern schlicht in gelassenem Selbstbewusstsein praktiziert. Das wahrnehmende Subjekt wird als eine Ordnungsinstanz angesehen, an der alle Subjektivismusvorwürfe solange als gegenstandslos abprallen, wie es seine Ordnungsanstrengungen methodisch zu kontrollieren vermag. Goethe preist deshalb auch die perspektivischen Gesetze, „die mit so großem Sinn als Richtigkeit die Welt auf das Auge des Menschen und seinen Standpunkt beziehen und dadurch möglich machen, daß jedes sonderbare verworrene Gedräng von Gegenständen in ein reines ruhiges 18 19
M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, 1984, S. 80. E.H. Gombrich, Büd und Auge, 1984, S. 176,248ff., 277.
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Bild verwandelt werden kann. "20 Diese beruhigende Funktion perspektivischer Gestaltung ist allerdings auch wieder mit einer beunruhigenden Funktion verbunden. Der Beobachter von Welt wird indirekt dazu aufgefordert, sich selbst als Beobachter von Welt zu beobachten. Die Formel von der Objektivierung des Subjektiven bleibt solange relativ unproblematisch, wie man sie auf den räumlichen und visuellen Bereich beschränkt, wo die Implikationen dieses Verfahrens beherrschbar bleiben und jedermann auch offensichtlich sind. Die Formel gewinnt erst dann wirkliche Brisanz, wenn sie auf den geistigen Bereich übertragen wird und wenn der Sehepunkt des Subjekts als ein Faktor verstanden wird, der sich aus individuellen Erkenntnisinteressen, spezifischen Betrachtungskategorien und aktuellen Situationen ergibt. Unter diesen Bedingungen bekommt die Formel individualpsychologische Implikationen, die sie für den Vorwurf des Subjektivismus und Solipsismus sehr viel anfalliger macht. Je mehr man diese Formel mit der Befriedigung menschlicher Sinnbildungsbedürfnisse in Verbindung bringt, desto näher liegt der Gedanke, dass die Objektsphäre letztlich als Projektion der Subjektsphäre zu verstehen sei oder zumindest als Produkt der jeweils zugelassenen Objektivierungsverfahren und Objektivierungskategorien. Diese Psychologisierung der Formel ist aber keineswegs zwingend, wenn man sie vom visuellen auf den geistigen Bereich ausdehnt, denn sie kann durchaus auch in einem hermeneutischen Sinne verstanden werden. Dann lässt sich mit ihr darauf aufmerksam machen, welche Aktivitäten auf der Subjektseite notwendig sind, um die Objektseite zu erschließen, und welche Leistungen und Konsequenzen bestimmte Objektivierungsverfahren für die Erschließung der Welt haben. In diesem Zusammenhang ist dann die schon erwähnte Unterscheidung Panofskys vom Aggregatraum und Systemraum aufschlussreich, weil sie die verschiedenen Objektivierungsweisen eher als ontologische denn als psychologische Problemlagen thematisiert.21 Die archaische Kunst repräsentiert die Welt so, dass die einzelnen Dinge ein eindeutiges Übergewicht über den Raum bekommen. Sie füllen den Raum aus und dieser wird so gesehen zu einer Funktion der dargestellten Dinge. Die Dinge sind in ihren Erscheinungsweisen nicht von ihrer Position im Raum abhängig. Die Raumdarstellung ist kein intentionales Ziel der Bildgestaltung, sondern ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt der jeweiligen Dingdarstellungen. Er wird so gesehen zu einem bloßen Versammlungsort der Gegenstände. Mit der Entwicklung der Körperperspektive, der Raumperspektive und der Zentralperspektive ändert sich die Lage nun aber grundlegend. Es ergibt sich zunächst die Tendenz und dann die Notwendigkeit, die einzelnen Dinge von einem fixierten Sehepunkt aus zu objektivieren und auf diese Weise systematisch in den Raum einzuordnen, der dadurch als Systemraum immer klarer und 20 21
J.W. v. Goethe, Goethes Werke, Hamburger Ausgage, Bd. 12, S. 477. E. Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form", 1927, S. 269.
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schärfer durchstrukturiert werden muss. Das fuhrt nun aber insbesondere in zentralperspektivischen Darstellungsweisen auch zu Problemen. In der Korrelation von Objektsphäre und Subjektsphäre gewinnt letztere eine immer größere Dominanz und Bilder bekommen als statische Systemzusammenhänge einen immer größeren Mangel an Spannung und Dynamik, weil viele Details gleichsam gesetzlich ableitbar sind. Für die Verschränkung von Objektsphäre und Subjektsphäre spielen dann Korrelationsformen keine Rolle, die wir heute etwa mit den Stichwörtern Interaktion, Rückkopplung, Ambivalenz, hermeneutischer Zirkel, Spontaneität usw. erläutern könnten. Solche Phänomene sind weder mit dem Gedanken eines Aggregatraumes noch mit dem eines Systemraumes in Einklang zu bringen, sondern allenfalls mit dem eines offenen Strukturraumes, in dem die jeweiligen Wechselbeziehungen sich nicht stringent berechnen lassen. In Bildern kann sich das beispielsweise dadurch bemerkbar machen, dass sie keinen einheitlichen Sehepunkt mehr haben bzw. keinen einheitlichen Fluchtpunkt, dass sie uns zwingen, ihre Inhalte nicht mehr simultan, sondern sukzessiv wahrzunehmen, oder dass sie uns Entscheidungen darüber abnötigen, was wir für dominant und was wir für weniger dominant halten wollen. So gesehen ist es verständlich, warum sich die Zentralperspektive mit ihrer immanenten Neigung zur Ausbildung von Systemräumen nicht dauerhaft in der Malerei gehalten hat und durch Objektivierungsformen ergänzt und abgelöst worden ist, die sich eher mit dem Ordnungskonzept des Strukturraumes in Verbindung bringen lassen. Auch Systemräume haben natürlich Strukturen, aber diese sind recht starr, weil das System Ordnungsprinzipien hat, die unumstößlich sind, da sie außerhalb des jeweiligen Systems anzusiedeln sind. Strukturräume sind dagegen wesentlich labiler, aber auch flexibler, weil sie keine absoluten äußeren Setzungen aufweisen, sondern allenfalls funktional variable Festlegungen. Deshalb sind Strukturordnungen auch sehr viel elastischer als Systemordnungen, da Strukturordnungen nur ein Fließgleichgewicht kennen und ihre Festigkeit aus ihrer Flexibilität und Variationsfähigkeit bekommen. Totalitäre Staatsordnungen sind deshalb gute Beispiele für Systemräume, während demokratische Staatsordnungen gute Beispiele für Strukturräume sind. Systemräume haben feste Grenzen, Strukturräume kennen dagegen Grenzen nur als Übergänge. Während in Systemräumen die Relationszusammenhänge von vorgegebenen Zwecken abgeleitet werden, gewinnen Strukturräume ihre Ordnung aus ihrer Fähigkeit zur Selbstregulierung. Letztere brauchen eine Regelhaftigkeit, aber zugleich auch eine Abweichung davon, um ihre interne dynamische Spannung aufrecht erhalten zu können. Die Differenzierung von Aggregatraum, Systemraum und Strukturraum ist nicht nur für die Unterscheidung von Objektivierungsstilen in der Malerei interessant, sondern auch für die Differenzierung unterschiedlicher Objektivierungsstile in der Sprache. Grammatische und lexikalische Feldordnungen in frühen Stadien der Sprachentwicklung lassen sich sowohl in phylogenetischer
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als auch in ontogenetischer Hinsicht durchaus als parataktisch organisierte Aggregaträume verstehen, während spätere Feldordnungen eher als hypotaktisch organisierte Systemordnungen anzusehen sind. Das gleiche gilt im Prinzip auch für frühe und späte Textformen. Auch die Differenz zwischen der natürlichen Umgangssprache einerseits und der wissenschaftlichen Fachsprache andererseits lässt sich insbesondere auf der Ebene der Lexik sehr gut mit den Kategorien des Aggregatraumes und des Systemraumes beschreiben. Beispielsweise muss das Feld von Tötungsdelikten in der juristischen Fachsprache verständlicherweise sehr viel strenger durchsystematisiert werden {Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung) als im Bereich der natürlichen Umgangssprache. Die Kategorie des Strukturraumes lässt sich auch sehr gut im Hinblick auf moderne literarische Textformen verwenden oder im Hinblick auf artifizielle Formen des Sprachgebrauchs wie etwa die ironische und die metaphorische Redeweise.
3. Die Perspektive als symbolische Form Panofsky hat die Perspektive - und dabei hatte er im Wesentlichen die Zentralperspektive als konsequenteste Ausprägung der perspektivischen Objektivierungsweise von Welt vor Augen - im Anschluss an Cassirer als symbolische Form qualifiziert. Hinter der Aufnahme dieses zentralen Begriffs aus der Kulturphilosophie Cassirers steht die Absicht, die perspektivische Darstellungsweise nicht als „ Wertmoment", sondern in einem ganz spezifischen Sinne als „Stilmoment" zu verstehen, um auf diese Weise das Phänomen Perspektive nicht nur als optisches Phänomen zu thematisieren, sondern vielmehr auch als eine kunstgeschichtliche Kategorie, die mehr beinhaltet als die Tatsache, dass das Sehen bestimmten optischen Gesetzen unterliegt.22 Leider hat Panofsky den von Cassirer in einem sehr umfassenden Sinne entwickelten Begriff der symbolischen Form nicht zureichend erläutert, sondern nur programmatisch verwendet, weshalb die Implikationen und Konsequenzen dieser Zuordnung nicht recht klar werden. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass sich die nachfolgende kunstwissenschaftliche Diskussion dieses Problemzusammenhangs auf einer Ebene abgespielt hat, die zumindest Cassirer nicht im Auge hatte, als er diesen Begriff prägte. Die Diskussion der These, dass die Perspektive als eine symbolische Form aufzufassen sei, ist insbesondere deshalb in eine Schieflage gekommen, weil der Begriff der symbolischen Form meist so verstanden wurde, als ob es sich dabei nur um eine Stilkonvention in einem mehr oder weniger trivialen und zufälligen Sinn handele, obwohl Cassirer und Panofsky ganz offensichtlich
E. Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form", 1927, S. 268.
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sehr viel mehr darunter verstanden haben. Dadurch ist das eigentliche Anliegen dieses Konzeptes eher verdeckt als aufgedeckt worden. So unterstellt beispielsweise Pirenne, dass mit dem Begriff symbolische Form wenig mehr gemeint sei als eine bloße Konvention im Sinne der Versform des Alexandriners in der Literatur.23 Er glaubt deshalb, ausdrücklich betonen zu müssen, dass die in der Renaissance entwickelte Zentralperspektive keine künstlerische Konvention sei, sondern eine wissenschaftliche Lehre, die der Psychologie und der Physiologie des Sehens entspreche. Die Faszination, die die Perspektive auf die Renaissance ausgeübt habe, sei nicht die einer historisch entwickelten Besonderheit gewesen, sondern die Faszination, die von der Wahrheit selbst ausgehe.24 Die Frage, ob es zwingend sei, in der Kunst ein Objektivierungskonzept zu verwenden, das optischen Gesetzen entspricht, stellt sich Pirenne nicht. Gombrich sieht sich genötigt, gegen ein vergröberndes Verständnis des Konzeptes von Panofsky anzugehen, das Gefahr laufe, der wissenschaftlichen Perspektive der Renaissance den Anspruch auf Allgemeingültigkeit abzusprechen und die perspektivische Raumdarstellung nur als eine unter vielen anderen anzusehen. Die perspektivische Darstellungsweise sei mehr als eine bloße künstlerische Konvention. „Sie beruht nämlich auf der schlichten Erkenntnis, daß man nicht um die Ecke sehen kann. Aus der Tatsache, daß unsere Blickbahn geradlinig verläuft, folgt zwangsläufig alles, was die Perspektive lehrt. " 25 Eine Auseinandersetzung mit den eigentlichen Intentionen Cassirers und Panofskys findet aber auch bei Gombrich nicht statt. Er beschränkt sich darauf, das Ziel perspektivischer Objektivierungsprozesse anzugeben und verzichtet darauf, dieses Ziel kunsthistorisch und kunstphilosophisch zu beurteilen. „Es muß immer wieder betont werden, daß die Perspektive eine Gleichung anstrebt: Das Bild soll aussehen wie der abgebildete Gegenstand und der abgebildete Gegenstand wie das Bild. Wenn sie dieses Versprechen eingelöst hat, verbeugt sie sich vor dem Publikum und tritt ab. "26 Im Gegensatz zu Pirenne und Gombrich hat Goodman ausdrücklich an der Auffassung festgehalten, dass in der Malerei die perspektivische Darstellungsweise eine Darstellungskonvention unter anderen sei. Er begründet das vor allem damit, dass Bilder im Prinzip nie völlig spontan zu erfassen seien, sondern dass man es lernen müsse, sie entsprechend den für sie maßgeblichen Konventionen zu lesen. „Perspektivisch gemalte Bilder müssen wie alle anderen gelesen werden; und die Fähigkeit zum Lesen muß erworben werden. Das allein an orientalische Malerei gewohnte Auge versteht ein perspektivisch gemaltes Bild nicht sofort. Doch nach einiger Übung kann man sich mühelos 23 24 25 26
M.H. Pirenne, The scientific basis of Leonardo da Vinci's theory of perspective. The British Journal for the Philosophy of Science, 3, 1952/53, S. 170. M.H. Pirenne, a.a.O., S. 185. "'The strange fascination which perspective had for the Renaissance mind' was the fascination of truth?' E.H. Gombrich, Kunst und Illusion, 19862, S. 275-276. E.H. Gombrich, a.a.O., S. 283.
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auf Brillen einstellen, die die Sicht verzerren, oder auf Bilder, die in schiefer oder sogar in umgekehrter Perspektive gemalt sind. "21 Die Stichhaltigkeit der Argumente für oder gegen die These, dass die perspektivische Darstellungsweise eine künstlerische Konvention sei, kann nicht beurteilt werden, solange man mit einem ungeklärten Konventionsbegriff arbeitet oder diesen vorschnell mit Cassirers Begriff der symbolischen Form identifiziert, der eigentlich weit über das hinausgeht, was Pirenne, Gombrich und Goodman unter einer Konvention zu verstehen scheinen. Der Begriff der symbolischen Form ist der entscheidende Grundbegriff von Cassirers Kulturphilosophie, in der der Versuch unternommen wird, das Programm der Transzendentalphilosophie Kants von der Vernunftkritik auf die Ebene der Kultur- und Zeichenkritik auszudehnen bzw. von der Analyse der Struktur der menschlichen Vernunft auf die Ebene der Analyse der kulturellen Objektivierungsformen, mit denen die Vernunft arbeitet. Ganz im Sinne der auch schon von Leibniz vorgetragenen Auffassung, dass die menschliche Wahrnehmungskraft nicht passiven mechanischen Spiegeln gleiche, sondern vielmehr aktiven lebenden Spiegeln, will Cassirer die sinnbildenden Funktionen kultureller Symbol- und Objektivierungssysteme für die Welterfahrung herausarbeiten. Ohne vermittelnde Zugangsformen lasse sich von der Welt nichts erfahren. In seiner Philosophie der symbolischen Formen hat Cassirer die Anstrengung unternommen, die verschiedenen Objektivierungs- bzw. Symbolisierungsstile darzustellen, die der Mensch im Laufe der Kulturgeschichte zur Weltaneignung und Weltvorstellung entwickelt hat. Das sind für ihn insbesondere Sprache, Mythos, Kunst, Religion und Wissenschaft, die sich als „ Urphänomene des Geistes" nicht mehr auf andere zurückführen ließen, weil jede dieser symbolischen Formen „ eine besondere Art des Sehens ist und eine besondere, nur ihr eigene Lichtquelle in sich birgt. "28 Für Cassirer spielen die symbolischen Formen als Formen der Weltobjektivierung deshalb eine so große Rolle, weil bei der Konstitution von Erkenntnisinhalten nicht nur die Dinge wichtig werden, auf die sich das jeweilige Interesse richtet, sondern auch die Mittel, mit denen Erkenntnisse strukturiert und objektiviert werden. „Nicht Nachahmungen dieser Wirklichkeit, sondern O r g a n e derselben sind jetzt die einzelnen symbolischen Formen, sofern nur durch sie Wirkliches zum Gegenstand der geistigen Schau gemacht und damit als solches sichtbar werden kann. Die Frage, was das Seiende an sich, außerhalb dieser Formen der Sichtbarkeit und der Sichtbarmachung sein und wie es beschaffen sein möge: diese Frage muß jetzt verstummen. Denn sichtbar ist für den Geist nur, was sich ihm in einer bestimmten Gestaltung darbietet; jede bestimmte Seinsgestalt aber entspringt
27 28
N. Goodman, Die Sprachen der Kunst, 1973, S. 26. E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, 1976\ S. 81-82.
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erst in einer bestimmten Art und Weise des Sehens, in einer ideellen Form- und Sinn g e b u n g il29
Der entscheidende Punkt der Kulturphilosophie Cassirers ist nun der, dass die einzelnen symbolischen Formen in einer gleichberechtigten und ergänzenden Relation zueinander stehen, weil sie je eigene Leistungen für unsere Wirklichkeitsvorstellungen liefern. Die historisch später entwickelten symbolischen Formen heben das Lebensrecht früherer nicht auf, weil sie je eigene Dimensionen der Wirklichkeit zu erschließen helfen. Deshalb sind sie für Cassirer natürlich auch mehr als nur modische Varianten der Weltinterpretation und der Weltobjektivierung. Sie sollten deshalb auch nicht auf negative Weise hinsichtlich ihrer Trübungsfunktionen für das Ideal einer reinen Erkenntnis qualifiziert werden, sondern vielmehr hinsichtlich ihrer Akzentuierungs- und Erhellungsfunktion für bestimmte Ordnungsstrukturen der Welt. Die symbolischen Formen dienen dazu, zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre auf je unterschiedliche Weise zu vermitteln und darauf aufmerksam zu machen, dass die Erkenntnis- und Wahrnehmungsproblematik eine historische Dimension hat. Ein Problem ist nun allerdings, ob man das Konzept der symbolischen Formen auf so umfassende Symbolisierungsstile wie Sprache, Mythos, Kunst, Religion und Wissenschaft beschränken sollte, wie es Cassirer zunächst vorgeschlagen hat, oder ob man dieses Konzept auch auf untergeordnete Symbolisierungsstile ausdehnen darf, etwa innerhalb der Sprache auf die Grammatik, innerhalb der Wissenschaft auf die Mathematik und innerhalb der Kunst auf die Perspektive bzw. Zentralperspektive. Im Prinzip kann gegen eine solche Ausweitung des Konzeptes nichts Grundsätzliches eingewandt werden, weil auch hier jeweils spezifische Formen des Sehens mit je eigenen Lichtquellen vorliegen, die durch andere Formen nicht ersetzt, sondern nur ergänzt werden können. Allerdings ist aber auch nicht zu übersehen, dass eine solche Ausweitung dieses Konzeptes zu einer gewissen Beliebigkeit führt, die seine Erklärungskraft eher schwächt als stärkt, weil jeder organisierte Zeichenzusammenhang dann den Status einer symbolischen Form bekommen kann. Die Kennzeichnung der Perspektive bzw. der Zentralperspektive als symbolische Form ist dagegen sicher noch zu akzeptieren, weil die bisherigen Ausführungen wohl deutlich gemacht haben, dass perspektivische Darstellungsweisen einen Objektivierungsstil von Welt repräsentieren, der seine eigene Lichtquelle in sich trägt bzw. ganz bestimmte Formen der Welterfahrung ermöglicht. Gerade wenn man daran denkt, dass zentralperspektivische Objektivierungsverfahren Formen der Raumrepräsentation ermöglichen, die in anderen Objektivierungsverfahren so nicht möglich sind, und dass in ihnen die Objektsphäre und die Subjektsphäre auf eine Weise miteinander korreliert E. Cassirer, a.a.O., S. 79. Vgl. auch E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 19644, Bd. 1,S. 18, Bd. 3, S. 479.
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werden, die in aspektivischen Objektivierungsverfahren nicht anzutreffen sind, dann lässt sich durchaus rechtfertigen, die Zentralperspektive als symbolische Form bzw. als einen spezifischen Wahrnehmungs- und Erkenntnisstil zu qualifizieren. Gerade die idealtypische Konfrontation von aspektivischen und perspektivischen Gestaltungsweisen bzw. von Aggregaträumen und Systemräumen verdeutlicht das besonders gut. Dieses Urteil lässt sich auch noch dadurch rechtfertigen, dass die zentralperspektivische Objektivierungsweise nicht den Endpunkt einer kunstgeschichtlichen Entwicklung bildet, sondern nur als eine historische Idealvorstellung mit begrenzter normativer Wirkung anzusehen ist. Als diese Darstellungsweise neuen Objektivierungsbedürfnissen nicht mehr gerecht wurde, sei es, dass die Idee des Systemraumes an Faszinationskraft verlor, sei es, dass die Idee eines sich ins Unendliche öffnenden Raumes als unheimlich empfunden wurde, sei es, dass der Glaube verloren ging, die Dinge durch ihre Zuordnung auf das wahrnehmende Subjekt beherrschen zu können, da konnte die zentralperspektivische Darstellungsweise nicht mehr als selbstverständliche Form der bildlichen Objektivierung des Raumes bzw. der Welt angesehen werden. Damit wird dann auch deutlich, dass die Zentralperspektive nicht nur eine historisch entwickelte Form der Weltrepräsentation ist, sondern dass sich zugleich wie alle anderen symbolischen Formen auch eine systematische Form der Weltinterpretation repräsentiert, deren spezifische Vermittlungsleistungen durch andere Formen nicht ersetzt, sondern nur ergänzt werden können. Aus all dem lässt sich das Fazit ziehen, dass die Kategorie Perspektivität als anthropologisches Urphänomen nicht als eine symbolische Form anzusehen ist, wohl aber die verschiedenen Realisationsweisen dieser Kategorie von der aspektivischen Darstellungsweise bis zu den perspektivischen und polyperspektivischen Darstellungsweisen in ihren verschiedenen Varianten. Die symbolische Leistung des perspektivischen Objektivierens ist auf isolierte Weise nicht so leicht zu erfassen, sie erschließt sich aber recht gut über kontrastive Vergleiche.
VI Das Perspektiveproblem in der modernen Kunst In der modernen Kunst sind die Darstellungspostulate der Zentralperspektive praktisch weitgehend ignoriert worden, ohne dass man sich genötigt sah, dies argumentativ zu rechtfertigen. Auch die Erfindung der Fotografie hat sicher dazu beigetragen, das Ziel der Malerei nicht mehr in der Wiedergabe möglicher Sehbilder zu sehen. Wie so oft in der Kunstgeschichte wurden schlicht neue Objektivierungsformen erprobt, ohne sich vorab Gedanken über die Ziele, Implikationen und Konsequenzen dieser Formen zu machen. Die neuen Objektivierungsformen negieren in der Regel nicht vollständig die Normen der perspektivischen Darstellungsweisen, aber sie variieren diese Normen so, dass gerade dadurch oft erst die Probleme des zentralperspektivischen Darstellens in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Die These, dass die perspektivische Darstellungsweise als eine symbolische Form zu werten sei, wird durch die moderne Kunst eher bestätigt als relativiert. Die neuen künstlerischen Darstellungsweisen machen die alten keineswegs bedeutungslos, sondern offenbaren durch produktive Kontraste erst deren spezifisches Leistungsprofil. Umgekehrt wird die Leistung der neuen Objektivierungsweisen oft auch erst im Kontrast mit der der alten wirklich fassbar. Selbst dort, wo die neuen Darstellungsstile sich als direkte Negationen der alten verstehen, bleiben sie im Grunde konstruktiv und ergänzend miteinander verbunden.
1. Das Raumproblem Das Interesse an der zentralperspektivischen Raumrepräsentation kam nicht von ungefähr. Kolumbus hatte die Vorstellung vom Erdraum entscheidend verändert. Kopernikus hatte die Vorstellung eines heliozentrischen Raumes entwickelt. Galilei hatte durch die Verwendung des Fernrohrs den visuell erfassbaren Raum entscheidend ausgeweitet. Die Öffnung des Raumes ins Unendliche und die Notwendigkeit, ihn mit Hilfe von Sehepunkten und Fluchtpunkten durchzustrukturieren, ist nicht ohne Rückwirkungen auf das Ich geblieben, das sich in dieser Weise mit dem Raumproblem konfrontiert sah. Das Bewusstsein der Raumbeherrschung konnte für das Ich auch in eine Raumangst umschlagen bzw. in das Bewusstsein, nur eine funktionale Größe unter anderen zu sein.
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Das Perspektiveproblem in der modernen Kunst
Gebser hat darauf verwiesen, dass die extreme Raumbeherrschung und Raumperspektivierung die Gefahr eines Gleichgewichtsverlustes beim Ich ausgelöst habe. Die zentralperspektivisch organisierte Weltwahrnehmung erschließe zwar die Tiefe des Raumes, aber je tiefer man sehe, desto enger werde auch der Sehsektor und desto verlorener könne sich das sehende Individuum vorkommen. Nicht zufallig beginne parallel mit der zentralperspektivischen Darstellungsweise auch eine immer stärker werdende Sektorierung der Welt (Religion, Staat, Volk, Wissenschaft) und die Verselbstständigung, wenn nicht der Fanatismus der Einzelsektoren.1 Dieser Sektorierungstendenz, die natürlich nicht nur auf die Zentralperspektive zurückgeführt werden kann, war nur zu begegnen, wenn auch gegenläufige Kräfte aktiviert werden konnten. Dazu gehörte dann auch, dass in der Malerei die Dominanz der Raumobjektivierung zu Gunsten anderer Objektivierungsziele geschwächt wurde. Die Zentralperspektive konnte im Bewusstsein der Maler natürlich nicht mehr gestrichen werden, aber ihren Normen und der Stringenz ihrer Systembildungen musste man sich nicht mehr vollständig beugen. In der Malerei Cezannes ist beispielsweise eine programmatische Schwächung der zentralperspektivischen Darstellungsweise zu beobachten. Die Größe der einzelnen Objekte nimmt nicht mehr in dem Maße ab, wie es der lineare Abstand vom Sehepunkt eigentlich erforderlich machen würde. Dadurch wird der Tiefensog des Raumes entscheidend vermindert und das Erlebnis der Ferne erschwert. Die Ungewissheit über die perspektivischen Größenverhältnisse führt zu einer Schwächung des Systemraumes und gibt den einzelnen Dingen wieder ein größeres Eigengewicht. Außerdem erwächst die Raumvorstellung auf den Bildern Cezannes auch weniger aus geraden Fluchtlinen als aus Kurven, was natürlichen Raumerlebnissen eher entspricht. Die Sehepunkte für einzelne Gegenstände können sich auch leicht verschieben, so dass beispielsweise in Stillleben einzelne Objekte eher in Aufsicht und andere eher in Seitensicht dargestellt werden. Auch die Farbe setzt Cezanne ganz dezidiert dazu ein, um Flächeneindrücke zu verstärken und die Illusion von Dreidimensionalität zu schwächen. Er hebt die perspektivische bzw. zentralperspektivische Darstellungsweise nicht auf, aber er vermindert ihre Intensität so, dass sie nicht mehr als selbstverständliches Gerüst der Gesamtdarstellung angesehen werden kann und dass die einzelnen Bildteile nicht mehr als bloße Bestandteile eines Systems erscheinen.2 Außerdem ergibt sich aus dieser Darstellungsweise, dass der Rezeptionsvorgang sehr viel größere dynamische Implikationen bekommt, weil die leicht gegeneinander verschobenen Sehepunkte größere integrative Anstrengungen erforderlich machen als ein einziger statisch fixierter Sehepunkt. 1 2
J. Gebser, Gesamtausgabe, 1986, Bd. 2, S. 59. Vgl. F. Novotny, Cezanne und das Ende der wissenschaftlichen Perspektive, 1938, S. 38ff.
Das Raumproblem
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Herzog hat darauf verwiesen, dass der Terminus „realiser" ein Lieblingswort Cezannes sei, weil er den Inbegriff der Malerei repräsentiere.3 Er bringe zum Ausdruck, dass das Ziel der Malerei nicht in der Abbildung einer vorgegebenen Welt, sondern in der Erschaffung einer eigenen Bildwelt liege, die immer in einer gewissen Spannung zur faktisch sichtbaren Welt stehe. Das bedeutet, dass die Illusion eines dreidimensionalen Körpers oder Raumes nicht als genuines Ziel der Malerei anzusehen ist und dass in Kunstwerken die Form des Sehens die gleiche Aufmerksamkeit auf sich ziehen darf wie das Gesehene selbst, da das Gesehene nicht unabhängig von der Sehform präsent werden kann. Die Rückbesinnung auf die Fläche kann unter diesen Umständen dann als ganz natürlich empfunden werden, weil sie die prägende Prämisse von Bildern ist. Die Transformation einer dreidimensionalen Welt auf eine zweidimensionale Fläche muss deshalb auch keineswegs als ein Mangel empfunden werden, sondern kann durchaus auch als Chance begriffen werden, Fläche und Farbe wieder eine größere Bedeutsamkeit geben zu können. Die bei Cezanne feststellbare Tendenz, die Elemente einer Szene aus leicht gegeneinander verschobenen Sehepunkten darzustellen und auf diese Weise eine Tendenz zum bewegten Sehen auf einer Sehbahn zu befördern, hat sich im Kubismus radikalisiert. Hier trifft man auf Objektivierungsweisen, die Gegenstände so zeigen, als ob man sie von verschiedenen Seiten oder gar von innen sehen könnte. Der optische Realismus wird dadurch gleichsam auf den Kopf gestellt, weil Wahrnehmungsaspekte zusammengefügt werden, die sich eigentlich nur sukzessiv erfassen lassen und die nur in der Erinnerung miteinander verbunden werden können. Kubistische Bilder wollen keine Erscheinungsbilder repräsentieren und sich nicht dem Einfluss von Raum und Zeit in der natürlichen Wahrnehmung unterwerfen. Es wird versucht, die unterschiedlichen Aspekte von Gegenständen auf eine Weise miteinander in Verbindung zu bringen, wie sie in der natürlichen Welt optisch nicht erfahrbar sind. Der Kubismus negiert den Raum nicht generell, sondern versucht, ihn nicht von einem fixierten Sehepunkt aus in Erfahrung zu bringen, sondern von einer dynamischen Sehbahn aus. Der Wahrnehmende soll nicht in statischer Kontemplation verharren, sondern sich mit Hilfe seiner Einbildungskraft im Raum bewegen. Beispielsweise hat es Picasso nachdrücklich abgelehnt, Bilder als Abbilder der natürlichen Gegenstands- und Erscheinungswelt zu verstehen. „Man spricht immer vom Naturalismus als dem Gegensatz zur modernen Malerei. Ich möchte wohl wissen, ob irgend jemand schon einmal ein natürliches Kunstwerk gesehen hat. Natur und Kunst sind verschiedene Dinge, können also nicht das gleiche sein. Durch die Kunst drücken wir unsere Vorstellung von dem aus, was die Natur nicht ist.,A 3 4
Th. Herzog, Einfuhrung in die moderne Kunst, 1948, S. 89. P. Picasso, Wort und Bekenntnis, 1954, S. 10.
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Das Perspektiveproblem in der modernen Kunst
2. Der Polyperspektivismus Die Abkehr von perspektivisch strukturierten Darstellungsweisen und die Betonung der Eigenrealität von Bildern bringt auch Probleme mit sich. Solange es in Bildern nur leicht gegeneinander verschobene Sehepunkte gibt, ergeben sich kaum Schwierigkeiten. Wenn aber bei der konkreten Gestaltung von Bildern diametral entgegengesetzte Sehepunkte gewählt werden, dann kann es zu einer räumlichen und dinglichen Desorientierung kommen, weil wir die Erinnerung an reale Seheindrücke nicht mehr als Orientierungshilfe verwenden können. Manche sehen sich dann vor die Wahl gestellt, ein Bild entweder als Possenstreich zu verstehen oder in allgemeine Ratlosigkeit zu versinken. Wenn ein Gegenstand zugleich in verschiedenen Perspektiven objektiviert wird, dann ist zu fragen, ob es bei dem Bild thematisch noch um diesen Gegenstand selbst geht oder nicht eher um den Prozess der Wahrnehmung dieses Gegenstandes durch einen Betrachter. Biemel hat deshalb den Polyperspektivismus auch als eine Machtattitüde verstanden. Der Darstellende wähle nicht diejenige Perspektive, die ihm sachlich am angemessensten erscheine, um einen Gegenstand kennen zu lernen, sondern er probiere unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven an den jeweiligen Gegenständen aus. Deshalb verweise die polyperspektivische Darstellungsweise weniger auf das, was sie zeige, sondern eher auf den, der etwas zeige. „ Wir werden vom Gesehenen auf den Sehenden zurückgeworfen und der Sehende zeigt sich durch die Gewalt, die er dem Gesehenen gegenüber anwenden kann, er zeigt sich als der verfügende Wille."5 Zur Begründung dieses Urteils verweist er auf eine Bemer-kung Picassos zur experimentellen Grundhaltung des Künstlers. „Ich verwende in meinen Bildern alle Dinge, die ich gerne habe. Wie es den Dingen dabei ergeht, ist mir einerlei - sie müssen sich eben damit abfinden.,l6 Diese Deutung des Polyperspektivismus als Ausdruck eines experimentierfreudigen Machtanspruchs wäre aber wohl noch durch eine Deutung zu ergänzen, die darin auch ein Moment der Ratlosigkeit sehen kann. Wer bei seiner Darstellung experimentieren muss, dem hilft offenbar weder die Tradition noch der Gegenstand diejenige Perspektive zu finden, die am angemessensten ist, um einen Gegenstand kennen zu lernen. Die Freiheit, Gegenstände polyperspektivisch zu objektivieren, kann auch ein Ausdruck der Unfähigkeit sein, sich für eine Perspektive entscheiden zu können. Die Angst, den richtigen Zugang zu den Dingen zu verfehlen, wäre dann ein Motiv, mehrere Zugänge zugleich zu verwenden. Marie Luise Kaschnitz deutet deshalb auch den Poly5 6
W. Biemel, Bemerkungen zur Polyperspektivität bei Picasso, Philosophisches Jahrbuch 74, 1966/67, S. 162. P. Picasso, Wort und Bekenntnis, 1954, S. 26.
Der Polyperspektivismus
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perspektivismus in der Malerei und der Dichtung als ein Symptom der Angst, sich einer Wahrnehmungsperspektive anvertrauen zu können. „Uber den verwickelten Prozess des Erkennens kommt die Wertgebung zu kurz, wer immer um einen Gegenstand herumläuft, hat keinen festen Standpunkt, keine Meinung, die von innerer Sicherheit spricht und die dem Leser oder Beschauer innere Sicherheit verleiht. Die neue Darstellungsform ist nur der Spiegel solcher Sehweise, immer wieder wird angesetzt, versucht, neu umrissen und unter den letzten Linien bleiben die früher gezeichneten stehen. "7 Sehr aufschlussreich für das Problem des Polyperspektivismus sind auch die Bilder M.C. Eschers. Einerseits treibt er ein verwirrendes Spiel mit der Relation von Grund und Figur, weil er immer wieder das Eine zum Anderen macht. Andererseits führt er in seinen Bildern Wahrnehmungsinhalte aus verschiedenen Wahrnehmungsperspektiven zu Gesamtdarstellungen zusammen, die uns zugleich skurril und komplex vorkommen. Besonders aufschlussreich dafür ist das Bild Andere Welt, in dem er uns ein verwirrendes Spiel mit Sehepunkten, Fluchtlinien und Horizonten präsentiert.
Abb. II 8 , Escher: Andere Welt
7 8
M.L. Kaschnitz, Engelsbrücke, 1955, S. 76. M.C. Escher's "Other World" © 2003 Cordon Art. B.V. - Baarn - Holland. All reserved.
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Dieser Holzschnitt von Escher repräsentiert ein Bild, in dem eigentlich drei Teilbilder integriert sind, die dasselbe Motiv - persischer Menschenvogel auf einem Fenstersims, der durch einen Bogen überwölbt wird - in drei unterschiedlichen Perspektiven zeigen. In dem ersten Teilbild wird der Fenstersims und der Vogel aus der Froschperspektive gesehen, der Horizont wird dabei folgerichtig in den Zenith verlegt. Im zweiten Teilbild wird der Fenstersims und der Vogel in der Normalperspektive gesehen, der Horizont liegt damit auf gleicher Höhe wie der Sehepunkt. Im dritten Teilbild wird der Fenstersims und der Menschenvogel aus der Vogelperspektive gesehen, der Horizont liegt dementsprechend im Nadir. Das Verwirrende an dem Bild ist nun, dass diese drei unterschiedlichen Gegenstandsobjektivierungen nicht bloß additiv miteinander kombiniert, sondern integrativ miteinander verzahnt sind. Die Tiefenlinien aller drei Teildarstellungen haben nämlich einen gemeinsamen Fluchtpunkt, der auf der Horizontlinie des zweiten Teilbildes liegt. Dadurch entsteht für das ganze Bild ein integrierender Aufmerksamkeitssog auf die Mitte des Gesamtbildes hin, dem man sich schwerlich entziehen kann. Insgesamt führt uns das Bild dieselbe Gegenstandswelt simultan in drei ganz unterschiedlichen Perspektiven vor. Escher zwingt in seinem Bild über die Form etwas zusammen, was visuell nie als Einheit wahrgenommen werden kann, weil dafür bei den Wahrnehmenden eine räumliche und zeitliche Ubiquität vorausgesetzt werden müsste, über die Menschen faktisch nicht verfügen, sondern allenfalls Engel. Im Denken können wir uns aber gleichzeitig dessen bewusst werden, dass die drei unterschiedlichen Teilbilder nicht drei unterschiedliche Welten repräsentieren, sondern nur drei unterschiedliche Sichtweisen auf dieselbe Welt. Obwohl Eschers Bild einerseits extrem unrealistisch ist, weil es keinem potenziellen Sehbild entspricht, so ist es andererseits doch auch wiederum realistisch, weil es nicht nur einen, sondern mehrere Aspekte eines gegebenen Gegenstandsbereiches objektiviert. Wir müssen uns dementsprechend entscheiden, ob wir unseren Realismusbegriff an die adäquate Objektivierung möglicher Sehbilder binden oder an die möglichst vielfältige Präsentation von Dingaspekten bzw. ob wir unseren Realismusbegriff vom Wahrnehmungssubjekt oder vom Wahrnehmungsobjekt her entwickeln. Im Zusammenhang mit Bildern sprechen wir üblicherweise dann von Realismus, wenn diese faktischen oder möglichen Seheindrücken entsprechen. Im Zusammenhang mit Begriffen sprechen wir dagegen eher dann von Realismus, wenn sie alle relevanten Eigenschaften eines Phänomens erfassen, wozu insbesondere auch diejenigen zählen, die visuell nicht wahrnehmbar sind. Es ist deshalb sehr aufschlussreich, dass Escher seine Bilder immer wieder als Gedankenbilder qualifiziert hat, weil er sie eher als gedankliche denn als optische Sinneinheiten verstanden haben möchte. Der visuelle Polyperspektivismus Eschers negiert von vornherein eine mögliche Abbildungsfunktion seiner Bilder auf der optischen Ebene. Eine Abbildfunktion auf der
Der Polyperspektivismus
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kognitiven Ebene wird dagegen aber nicht ausgeschlossen. Eschers Bilder sind keine Kämpfe gegen eine realistische Weltobjektivierung an sich, sondern allenfalls eine Abkehr von dem Realismusbegriff, den wir üblicherweise visuellen Darstellungen zu Grunde legen. Grundsätzlich stellt sich natürlich die Frage, warum Escher immer wieder so große Anstrengungen unternommen hat, ganz unterschiedliche optische Wahrnehmungsperspektiven in ein einziges Bild zu integrieren. Die Antwort auf diese Frage nach dem Sinn des Polyperspektivismus muss sicher auf die ambivalenten Funktionen von Perspektiven Bezug nehmen. Einerseits offenbart jede perspektivische Darstellung, dass wir unsere Gegenstandswelt immer nur aspektuell wahrnehmen können. Andererseits befähigt uns aber unser Erinnerungsvermögen und unser Wissen, im Denken jede konkrete perspektivische Einschränkung unserer Wahrnehmung zu überwinden und als Teilphase unserer allgemeinen Wahrnehmungsprozesse zu verstehen. Der Polyperspektivismus Eschers kann deshalb als ein Versuch verstanden werden, eine bildliche Objektivierungsform für polyperspektivische Denkstrukturen zu finden. Dieser Versuch Eschers ist allerdings sehr riskant, weil er an die Grenzen des Objektivierungsmediums Bild stößt. Schon im Denken bedarf der Polyperspektivismus im Prinzip der Zeit, weil er sich auch in begrifflicher Form nur sukzessiv in der Zeit entfalten kann. Allerdings gibt es auch Denk- und Sprachformen, die ebenso wie die Bilder Eschers einen simultanen Polyperspektivismus anstreben, wenn man beispielsweise paradoxe oder ironische Denkformen in Betracht zieht. Auch in ihnen wird nichts Vorgegebenes mit Hilfe von Zeichen widergespiegelt, sondern vielmehr durch bestimmte Zeichenkonstellationen auf Bedingungen und Strukturen von Objektivierungsund Wahrnehmungsprozessen aufmerksam gemacht. In dem Maße, in dem Escher uns dazu zwingt, auf die Hilfe fester Perspektiven zu verzichten, macht er uns eben dadurch indirekt auf die Strukturierungsleistungen von Perspektiven aufmerksam. Deshalb gibt es bei Escher auch keinen Verzicht auf Perspektiven, aber ein Spiel mit diesen. Dass Escher sein Spiel mit Perspektiven gerade in dem Medium verwirklicht, in dem zentralperspektivische Objektivierungsweisen am stringentesten ausgebildet worden sind, zeigt, dass alle Objektivierungsmedien ihre spezifischen Grenzen haben, aber keineswegs Grenzen, die ein für alle Mal a priori feststehen. Escher hat in seinen Bildern das relationale Denken der Moderne in ungewöhnlich eindrucksvoller Weise veranschaulicht. Sein Polyperspektivismus ist dabei aber fundamental von dem zu unterscheiden, der uns auf den ersten Blick auch in aspektivischen Objektivierungsweisen zu begegnen scheint. Während der Polyperspektivismus bei Escher konstruktiv intendiert ist, ist er in aspektivischen Darstellungsweisen eher ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt von Anstrengungen, im Rahmen eines substanzorientierten Denkens die wichtigsten Einzelaspekte von Gegenständen herauszuarbeiten.
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Das Perspektiveproblem in der modernen Kunst
Das konsequent relationale Denken, das hinter dem Polyperspektivismus Eschers steht, lässt sich sehr schön durch zwei Anekdoten veranschaulichen. Sie demonstrieren, dass wir den Perspektivismus auf die Spitze treiben müssen, um die perspektivische Gebundenheit unserer Einzelwahrnehmungen zu verdeutlichen. Einstein soll einen Zugschaffner in arge Verlegenheit gebracht haben, als er ihn fragte, ob denn Potsdam an seinem Zug halten würde.9 In nicht minder große Verlegenheit soll ein Soldat seinen Vorgesetzten gebracht haben, indem er dessen Befehl allzu konsequent ausführte. Ihm war befohlen worden, alle Gefangenen zu erschießen, die sich bewegten. Nach kurzer Überlegung schritt er zur Tat, weil er meinte, alle Gefangenen hätten sich sowohl um die Erdachse als auch um die Sonne bewegt.
3. Das Problem der Form Das Formproblem hat sich der Kunst zu allen Zeiten gestellt, weil es ein Grundproblem aller geistigen Tätigkeit ist. Je weniger die Malerei sich allerdings an potenziellen Sehbildern orientierte, sondern sich vielmehr die Funktion zuordnete, eigenständige Welten zu objektivieren, desto brennender wurde das Problem. Picasso hat das sehr deutlich ausgesprochen, als er betonte, dass der Sinn der Kunst nicht in der Imitation der Natur liege. „Kunst ist immer Kunst und nie Natur gewesen ...Und vom Standpunkt der Kunst aus gesehen, gibt es weder konkrete noch abstrakte Formen, sondern nur Formen, die mehr oder weniger überzeugende Lügen sind. Daß diese Lügen für unser geistiges Selbst notwendig sind, steht außer Frage, denn mit ihrer Hilfe bilden wir uns eine ästhetische Lebensanschauung. "10 Die Kunst hat es nach Picasso immer mit Abstraktionen und Transformationen zu tun, weil sie durch diese Operationen mehr von der Struktur der Welt offenbaren könne als durch bloße Reproduktionen. Deshalb sei es auch nicht ihre Aufgabe, schon erfahrene Strukturzusammenhänge abzubilden, sondern neue zu erzeugen. „Es gibt den Maler, der aus der Sonne einen gelben Fleck macht, aber es gibt auch den, der mit Überlegung und Handwerk aus einem gelben Fleck eine Sonne macht. "n Es ist ein alter Topos der Kunstreflexion, dass Schöpfen und Begreifen Hand in Hand miteinander gehen und dass Formen weder falsch noch wahr, sondern allenfalls aufschlussreich oder banal sind. Jede Form ist insofern immer schon sinntragend, als sie eine Interpretationshypothese darstellt und damit ein Stück Begriffsbildung. Formen sind immer Objektivierungsmethoden, weil sie Verfahren der Kontrastbildung und der Relationierung sind, ohne die nichts wahrnehmbar wäre. An Formen bleiben wir hängen, wenn sie nicht ganz selbstverständlich mit ihren Inhalten verwachsen oder wenn sie Ausdruck von 9 10 11
E.H. Gombrich, Das forschende Auge, 1994, S. 117. P. Picasso, Wort und Bekenntnis, 1954, S. 11. P. Picasso, a.a.O., S. 22.
Das Problem der Form
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Objektivierungsverfahren sind, die uns noch nicht vertraut sind. Der Dualismus von Form und Stoff ist ebenso problematisch wie der von Subjekt und Objekt oder von Existenz und Essenz. Solche Oppositionen sind vereinfachende Denkmodelle, die uns Denkrichtungen anzeigen, aber keine gegebenen Seinszustände. Bei überzeugenden Gestalten sind Form und Inhalt unauflöslich ineinander verschränkt. Deshalb haben wir letztlich auch nicht die Wahl, einen Inhalt aspektivisch, perspektivisch oder polyperspektivisch darzustellen, wie wir etwa die Wahl haben, Wasser in verschiedene Gefäße zu füllen. Jede Darstellungsform erzeugt einen anders strukturierten Darstellungsinhalt, weil Inhalte sich nicht ohne Formen objektivieren lassen. Ein Wechsel der Formen führt uns in andere Welten oder zumindest in anders interpretierte Welten. Die These von der Formbedürftigkeit aller Inhalte zwingt uns auch dazu, unseren Realismusbegriff zu präzisieren. Ist diejenige Bildform realistisch, die sich natürlichen Sehbildern annähert, oder diejenige, die das zu objektivieren versucht, was einen Gegenstand wesensmäßig ausmacht und was natürliche Sehbilder immer nur fragmentarisch erfassen können, weil sie an natürliche raum-zeitliche Sehepunkte gebunden sind? Ist diejenige Form realistisch, die viele Details eines Gegenstandsbereiches festhält, oder diejenige, die nur die fundamentalen Grundstrukturen dieses Gegenstandsbereiches darzustellen versucht? Ist diejenige Objektivierungsform realistisch, die die spezifische Individualität eines Gegenstandes aufzuzeigen versucht, oder diejenige, die sich bemüht, den Typus der Gegenstände herauszuarbeiten? Ist diejenige Form realistisch, die die Welt im Rahmen vertrauter Stile zu objektivieren versucht, oder diejenige, die anstrebt, etwas von der Welt zu enthüllen, was vorher nicht oder nicht so klar sichtbar war? Möglicherweise sind sogar die hier vorgestellten Alternativen nicht sehr sinnvoll, weil in ihnen ein recht statischer Form- und Realismusbegriff zu Grunde gelegt worden ist, der viel zu viel Aufmerksamkeit auf die Ergebnisse von Formbildungsprozessen legt und viel zu wenig auf das, was im Prozess der Formgebung in Erscheinung treten kann. Arnheim hat gerade mit Bezug auf Kinderbilder nachdrücklich betont, dass Formen Erschließungswerkzeuge für die Welt seien, da sie zur Ausbildung von Wahrnehmungsmustern führten. „Diese Fähigkeit, ein eindrucksvolles Muster zu erfinden - vor allem wenn es um so vertraute Formen wie einen Kopf oder eine Hand geht - , ist genau das, was als künstlerische Einbildungs- oder Vorstellungskraft bezeichnet wird. Diese Einbildungskraft äußert sich keineswegs in erster Linie in der Erfindung eines neuen Themas und auch nicht in der Erfindung einer beliebig neuen Form. Künstlerische Einbildungskraft läßt sich besser als das Finden einer neuen Form für einen alten Inhalt beschreiben, oder - wenn die bequeme Zweiteilung von
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Form und Inhalt umgangen werden soll - als neuen Zugang zu einem alten Thema."12
Die künstlerische Einbildungskraft ist deshalb für ihn letztlich nichts anderes als die Fähigkeit, „Dinge in Bilder zu verwandeln"11, also eindrucksvolle Objektivierungsformen zu erzeugen. Gerade bei Kindern, die unter keinem Originalitätszwang stehen, ist deshalb besonders gut zu beobachten, was es heißt, Formen als Erkenntnis- und Interpretationsmuster zu entwickeln. Als Menschen mit spezifischen Sinnesorganen, einer räumlich-zeitlichen Existenzweise und mit Geistesfähigkeiten, die auf sozial stabilisierte Zeichensysteme angewiesen sind, können wir uns nicht von der Kategorie der Perspektivität als der grundlegenden anthropologischen Prämisse unseres Wahrnehmens und Denkens lösen. Die Bindung an diese Kategorie verhindert aber nicht, dass wir sehr unterschiedliche Ausprägungsformen von Perspektivität im visuellen und kognitiven Bereich entwickeln können. Die perspektivische bzw. zentralperspektivische Objektivierungsweise in der Malerei ist letztlich nur als eine Ausprägungsform von Perspektivität unter anderen zu begreifen. Diese Repräsentationsform von Welt in Bildern bedurfte eines langen historischen Entwicklungsprozesses. Sie wird sicher nicht vergessen werden, sie darf aber nicht als generelle Norm der bildlichen Weltobjektivierung angesehen werden, weil sie nicht nur bestimmte Weltzugänge eröffnet, sondern auch andere verstellt. Aspektivische, perspektivische und polyperspektivische Objektivierungsformen von Welt gehören in je unterschiedliche historische Kontexte und können schwerlich nach einem einzigen Maßstab beurteilt werden, weil sie sich jeweils ganz unterschiedliche Objektivierungsziele stellen. Solange wir den Formbegriff statisch verstehen und Formen nur als Transportbehälter für Inhalte auffassen, aber nicht als Formungskräfte für Inhalte, werden wir den unterschiedlichen Ausprägungsformen von Perspektivität in der bildenden Kunst und in der Ausbildung von Zeichenwelten nicht gerecht. Formen und Zeichen sind nicht nachträglich verwendbare Repräsentationsmittel für schon vorgegebene Inhalte, sondern Mittel zur Erzeugung von Inhalten als Ergebnissen von Interpretationsanstrengungen. Die Kategorie Perspektivität muss als eine forma formans aufgefasst werden, die immer wieder neue konkrete Objektivierungsformen aus sich entlässt, denen dann der Status einer forma formata zugeschrieben werden kann.
12 13
R. Arnheim, Kunst und Sehen, 1978, S. 136-137. R. Arnheim, a.a.O., S. 138.
VII Perspektivierungsmittel Bisher sind im Hinblick auf die Perspektivitätsproblematik im visuellen Bereich fünf verschiedene Objektivierungsverfahren unterschieden worden, nämlich das aspektivische, das körperperspektivische, das raumperspektivische, das zentralperspektivische und das polyperspektivische. Diese Realisationsformen von Perspektivität stellen sehr komplexe und implikationsreiche Objektivierungsverfahren von Welt dar bzw. sehr spezifisch akzentuierte Verschränkungen von Objektsphäre und Subjektsphäre. Mit ihnen sind sehr unterschiedliche Formen der Objekt-, der Subjekt- und der Raumerfahrung verbunden bzw. sehr unterschiedliche Auffassungen über die Zielsetzungen künstlerischer Anstrengungen. Wenn man in Bildern diesen Realisationsformen von Perspektivität konkreten Ausdruck geben will, dann ist es notwendig, bestimmte Darstellungstechniken einzusetzen bzw. auf bestimmte konsequent zu verzichten. So kann beispielsweise in perspektivisch organisierten Objektivierungsverfahren auf die Strukturierungshilfe von fixierten Sehepunkten, Fluchtpunkten, Tiefenlinien und Horizontlinien nicht verzichtet werden bzw. auf das Augenzeugenprinzip Gombrichs, während in aspektivischen und polyperspektivischen Objektivierungsverfahren diese Gestaltungsfaktoren funktionslos oder sogar kontraproduktiv sind und deshalb auch konsequent vermieden werden. Es ist nun offensichtlich, dass es neben den genannten Gestaltungsfaktoren noch eine Reihe anderer gibt, um in Bildern der Kategorie Perspektivität Ausdruck zu geben, sei es, dass durch solche Gestaltungsmittel die Annäherung an zentralperspektivische Gestaltungsweisen unterstützt wird, sei es, dass durch sie eine bewusste Distanz zu diesen gesucht wird. Zuweilen sind diese Perspektivierungsmittel als Perspektivierungsstrategien so aufgewertet worden, dass sie zu eigenen Ausformungen des Perspektivebegriffs erklärt wurden: Zeitperspektive, Bedeutungsperspektive, Größenperspektive Lichtperspektive, Schattenperspektive, Farbperspektive, umgekehrte Perspektive usw. Dabei wird dann allerdings leicht übersehen, dass die so bezeichneten Phänomene nicht eigene Wahrnehmungsweisen darstellen, sondern nur helfen, umfassende Objektivierungsstrategien zu konkretisieren. Diese Perspektivierungsmittel können hier nicht erschöpfend beschrieben werden. Exemplarisch soll auf drei übergeordnete Kategorien etwas näher eingegangen werden, unter denen sie sich weitgehend zusammenfassen lassen (Größe und Konstellation, Linienführung, Farbe und Licht). Außerdem
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Perspektivierungsmittel
erleichtern es diese Kategorien, Perspektivierungsstrategien im visuellen Raum mit denen im kognitiven Raum zu parallelisieren.
1. Größe und Konstellation Das einfachste Verfahren, auf der zweidimensionalen Fläche die Vorstellung eines dreidimensionalen Raumes zu erzielen, besteht darin, die Größe der Einzeldinge in Relation zu dem jeweiligen Sehepunkt zu staffeln und dafür zu sorgen, dass sich die abgebildeten Dinge überlappen. Das Größengefälle und die Teilverdeckungen garantieren Bildern eine Nähe zu realen Seheindrücken und gestatten es, einen in der Tiefe gestaffelten Systemraum herzustellen. Unerheblich ist dabei, ob man den Raum dann als eine Funktion der Größendarstellung und der Überlappung der Dinge versteht oder die Festlegung der Größenverhältnisse und Überlappungen der Dinge als eine Funktion der Raumdarstellung. In jedem Fall stehen Raum- und Dingdarstellung in einem konstitutiven Korrelationsverhältnis zueinander. Die Vorstellung der Raumtiefe kann abgesehen von der noch zu erörternden Färb- und Schattengebung auch noch dadurch konkretisiert werden, dass die entfernteren Dinge unschärfer konturiert werden als die nahen. Beispielsweise werden Vielecke in gewisser Entfernung ja eher als rund denn als eckig wahrgenommen. In aspektivischen Objektivierungsweisen wird das Strukturierungsmittel des Größengefälles und der Überlappung tunlichst vermieden, weil dadurch die Objektivierung von charakteristischen Dingaspekten gestört wird. Auf diese Weise kommt es dann zur Ausbildung von parataktisch ausgefüllten Aggregaträumen ohne Tiefendimension. Die Konstellation von Dingen im Raum wird durch thematische Schwerpunktsetzungen gesteuert und nicht danach, welchen Systemplatz sie in einem potenziellen Erscheinungsbild haben. Gleichwohl ist nun festzuhalten, dass auch in aspektivischen Darstellungsweisen das Größengefälle zwischen Personen und Dingen als sinngebender Faktor eingesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang hat sich der Begriff Bedeutungsperspektive bzw. Relevanzperspektive eingebürgert. Er besagt, dass die Größe von Gegenständen nach ihrem sozialen oder emotionalen Wert festgelegt werden kann. Die Größe kann so gesehen gleichsam als ein ikonisches Zeichen für die Gestaltung eines geistigen Sinnraumes verstanden werden, aber nicht als ikonisches Zeichen für die Gestaltung eines realen Sehraumes. So werden dann beispielsweise Könige immer größer dargestellt als Diener, ganz gleich, wo sie auf der Bildfläche platziert werden. Diese kognitiven Perspektivierangsverfahren treffen wir sowohl in archaischen und mittelalterlichen Bildern an als auch in Kinderbildern. Eine Variante dieses Perspektivierungsverfahrens besteht darin, thematische Personen und Dinge relativ
Größe und Konstellation
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groß und nicht-thematische relativ klein darzustellen, um auf diese Weise die Wahrnehmung zu lenken und Bildern ein Relevanzrelief zu geben. In aspektivischen Darstellungsweisen ist außerdem ein Konstellationsprinzip anzutreffen, das auf eine nicht ganz glückliche Weise als Zeitperspektive bezeichnet worden ist. Mit diesem Terminus wird ein Objektivierungsverfahren benannt, das dadurch gekennzeichnet ist, dass Personen und Dinge aus ganz unterschiedlichen Zeiten in demselben Bildraum vereinigt werden. Das bedeutet, dass ein Bild natürlich keinem natürlichen Seheindruck entsprechen kann, weil das Dargestellte verschiedenen Zeitebenen oder Zeitdimensionen angehört. Dieses Objektivierungsverfahren erscheint im Denkrahmen eines chronologisch-linearen Zeitkonzeptes als ganz unrealistisch. Im Denkrahmen eines zyklischen Zeitverständnisses ist es dagegen gar nicht so außergewöhnlich. Solange wir davon ausgehen, dass Bilder die Aufgabe haben, Sachverhalte und Konstellationen zu objektivieren, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt manifestiert haben, wirkt es natürlich sehr merkwürdig, auf einem Bild einen Menschen in verschiedenen Lebensaltern oder verschiedenen Lebenssituationen darzustellen. Wenn man allerdings der Meinung ist, Bilder sollten verborgene Wesenszusammenhänge aufzeigen, dann spricht prinzipiell nichts dagegen, denselben Menschen in verschiedenen Lebensaltern und Lebenssituationen zu zeigen, weil dabei nur die verschiedenen Aspekte einer Grundsubstanz zum Ausdruck gebracht werden bzw. die verschiedenen Metamorphosen dieser Grundsubstanz. Unter diesen Umständen wird die Zeit dann nicht als eigenständige Macht verstanden, die die Ausbildung von etwas qualitativ anderem ermöglicht, sondern als ein vorgegebener Rahmen, in dem sich etwas in verschiedenen Ausprägungsformen zur Erscheinung bringen kann. Die Integration verschiedener Zeitebenen in ein Bild wäre unter der Voraussetzung, dass Bilder ideelle Zusammenhänge zu objektivieren haben und nicht faktische, kein besonderes Problem, weil die Gestaltung von Sinnzusammenhängen auf Raum- und Zeitschranken keine prinzipielle Rücksicht zu nehmen braucht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Raffael in seinem Bild Schule von Athen, das im Prinzip ja zentralperspektivisch organisiert ist, Philosophen aus ganz unterschiedlichen Zeiten vereinigt hat. Daraus kann man perspektivitätstheoretisch den Schluss ziehen, dass es Raffael im Prinzip nicht um die Repräsentation eines realen historischen Raumes ging, sondern um die Repräsentation eines geistigen Systemraumes, in dem die einzelnen Philosophen bestimmten Denkräumen zugeordnet werden, die exemplarisch durch die Namen Piaton und Aristoteles repräsentiert werden. Nun kann man natürlich argumentieren, dass es der Natur von Einzelbildern entspricht, die Dimension der Zeit auszuklammern und sich ganz auf die Repräsentation der momentanen Konstellation von Gegenständen zu konzentrieren. So gesehen könnte dann nicht ein Einzelbild ein Geschehen repräsentieren bzw. Geschichten erzählen, sondern allenfalls eine Bildfolge. Des-
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halb hat Lessing in seinem Laokoon-Aufsatz1 ja auch hervorgehoben, dass die Malerei eine raumbezogene Kunst sei, weil ihre genuinen Mittel Figuren und Farben im Raum seien, und die Poesie eine zeitbezogene Kunst, weil ihre genuinen Mittel die artikulierten Töne im Fluss der Zeit seien. Gleichzeitig hat er aber auch betont, dass in die Werke der Bildhauerei und Malerei insofern auch eine zeitliche Denkperspektive eingearbeitet werden müsse, als in ihnen Situationen und Strukturverhältnisse so objektiviert werden müssten, dass sie auf immanente Weise zeitlich über sich hinauswiesen. So dürfe beispielsweise nicht der Höhepunkt eines Prozesses abgebildet werden, sondern vielmehr die Situation kurz davor, damit der Rezipient seine Einbildungskraft noch frei entfalten könne. Das bedeutet im Prinzip, dass ein Kunstwerk seine eigentliche Bestimmung nicht vollständig erfüllt, wenn das Dargestellte nicht perspektivisch über sich selbst hinausweist. Wenn in Bildern über spezifische Größenverhältnisse und Konstellationen kein fester Sehepunkt eingearbeitet wird, dann tritt auf ganz natürliche Weise die Objektsphäre als eigenständige Größe gegenüber der Subjektsphäre hervor. Das Dargestellte wird nicht von dem fixierten Sehepunkt eines Subjekts dargestellt, sondern bringt sich gleichsam selbst zur Erscheinung. Dem Rezipienten werden die Dinge nicht in einer fixierten Perspektive präsentiert, sondern dieser wird eher dazu aufgefordert, sich räumlich, zeitlich und geistig in eine bestimmte Position zu dem Dargestellten zu bringen.
2. Linienführung Es ist offensichtlich, dass neben der Größenstaffelung und der Überlappung von Dingen die Liniengestaltung ein wesentliches Mittel ist, um auf der zweidimensionalen Fläche die Illusion eines dreidimensionalen Raumes zu erzeugen. Insbesondere in zentralperspektivischen Darstellungsformen fuhrt die Ausprägung von Horizontlinien und die Konvergenz von Tiefenlinien in einem Fluchtpunkt auf der Horizontlinie zur Ausbildung eines durchstrukturierten Systemraumes. Die Horizontlinie legt jeweils fest, was in Untersicht, Normalsicht und Aufsicht wahrgenommen wird und was in einem Bild als oben und als unten empfunden wird. Der Fluchtpunkt übt außerdem einen bestimmten Aufmerksamkeitssog auf die jeweiligen Rezipienten aus, weil er das Wahrnehmungsinteresse auf einen bestimmten Punkt konzentriert. So laufen wie schon erwähnt in Leonardo da Vincis Abendmalbild ja alle Tiefenlinien auf einen Fluchtpunkt zu, der durch den Kopf von Jesus repräsentiert wird, und in Raffaels Bild Schule von Athen konvergieren alle Tiefenlinien in einem Punkt zwischen Piaton und Aristoteles.2 1 2
G.E. Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Werke, Bd. 6, S. 7-187. Vgl. W.A. Bärtschi, Linearperspektive, 1976, S. 22,27.
Linienführung
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Die Linienführung und die Fluchtpunktgestaltung sind als Perspektivierungsmittel insbesondere dann sehr wirksam, wenn es auf den jeweiligen Bildern um die Objektivierung einer artifiziellen Welt geht, wenn also Gebäude, Mauern, Kanten oder Fliesenmuster dargestellt werden. In reinen Naturdarstellungen spielen diese Perspektivierungsmittel naturgemäß keine so große Rolle, weil es hier kaum geometrische Strukturen mit ausgeprägten Linien gibt. Auch in aspektivischen Darstellungen und in der Ikonenmalerei wird auf dieses Mittel weitgehend verzichtet, weil die Raumgestaltung hier gar nicht thematisch ist. Allenfalls geht es darum, einen Hintergrund für die Darstellung einzelner Gegenstände und Personen zu gestalten. Allerdings ist nun auch zu berücksichtigen, dass die Linienführung auf einen bestimmten Fluchtpunkt hin eine gewisse Ambivalenz bekommt, wenn nicht geschlossene Räume, sondern offene Szenen dargestellt werden. Die Linienführung auf einen Fluchtpunkt hin öffnet nämlich auch den Raum ins Unendliche, wodurch die Zuordnung der Dinge auf den Betrachter wiederum geschwächt wird. Braque hat deshalb die Zentralperspektive auch einen schlechten Trick genannt, weil sie eine immanente Tendenz habe, die dargestellten Dinge aus der Reichweite des Betrachters entschwinden zu lassen, obwohl die eigentliche Aufgabe von Bildern darin bestehe, die Dinge dem Betrachter anzunähern.3 Nun ist es aber durchaus möglich, dass auf einem Bild die Linienführung so geordnet ist, dass eigentlich parallel verlaufene Tiefenlinien nicht in einem Fluchtpunkt auf der Horizontlinie konvergieren, sondern vielmehr so verlaufen, dass sie in Richtung zum Horizont divergieren und in Richtung zum Betrachter konvergieren. Bei dieser Liniengestaltung wird in der Regel von einer umgekehrten Perspektive als einem eigenständigen Verfahren der Raumund Dinggestaltung gesprochen.4 Bei diesem Objektivierungsverfahren ergibt sich beispielsweise die Möglichkeit, ein Gebäude in Frontalsicht darzustellen und zugleich doch auch seine beiden Seitenteile abzubilden, was in einer zentralperspektivischen Darstellungsweise prinzipiell ausgeschlossen ist, weil das keinem potenziellen Seheindruck entspricht. Die Nutzung der umgekehrten Perspektive ermöglicht es, auf einer zweidimensionalen Fläche dreidimensionale Gegenstände darzustellen, ohne sich dem Anspruch auf eine sehbildgetreue Widerspiegelung von Gegebenheiten zu beugen. In der modernen Kunst hat Picasso beispielsweise dieses Objektivierungsverfahren genutzt, um Tische so in Frontalsicht darzustellen, dass deren Seitenlinien nicht auf der Horizontlinie, sondern beim Betrachter konvergieren. Dadurch bekommen die so objektivierten Tische eine merkwürdige Unmittelbarkeit und Selbstmächtigkeit.
3 4
Vgl. W. Kemp, Perspektive als Problem der Malerei des 19. Jahrhunderts, in: W. Busch u.a. (Hrsg.), Kunst als Bedeutungsträger, 1978, S. 412. R. Amheim, Kunst und Sehen, 1978, S. 258ff.
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Perspektivierungsmittel
Eine ganz wichtige Rolle spielt die umgekehrte Perspektive in der byzantinischen Kunst. Florenskij hat nachdrücklich herausgearbeitet, dass sie nicht als Indiz einer künstlerischen Unzulänglichkeit zu verstehen sei, sondern umgekehrt als Ausdrucksform eines bestimmten Gestaltungswillens.5 Wenn beispielsweise von einem Evangelienbuch nicht eine oder zwei, sondern drei oder gar vier Außenseiten dargestellt werden, so sei das ein Mittel, um einen erhöhten Grad von Aufmerksamkeit auf den so dargestellten Gegenstand zu lenken. Damit bestätigt Florenskij indirekt die These Braques, dass die zentralperspektivische Darstellungsweise auch eine immanente Tendenz habe, die Dinge in ihrer Eigenmächtigkeit zu schwächen, weil sie in einem unendlichen Raum eingeordnet werden. Außerdem hat Florenskij betont, dass in der byzantinischen Kunst und Ikonenmalerei auch deshalb kein Gebrauch von einer zentralperspektivischen Linienführung gemacht werde, weil es in ihr prinzipiell nicht darum gehe, eine Illusion von Realität herzustellen, sondern vielmehr darum, Realität über die symbolische Transformation von realen Seheindrücken zu verdichten. Nicht weil man die zentralperspektivische Darstellungsweise nicht beherrsche, sondern weil sie den jeweiligen Darstellungsintentionen zuwiderlaufe, treffe man sie sowohl in der byzantinischen wie in der mittelalterlichen Malerei nicht an. Die umgekehrte Perspektive ist für ihn keine missglückte Form der Linienführung, „sondern sie stellt eine eigenständige Weise der Welterfassung dar, ein klares und selbständiges Verfahren schöpferischer Darstellung. Ein Verfahren, das man vielleicht nicht unbedingt mögen muß, von dem man aber keinesfalls voll Mitleid und gönnerhafter Herablassung reden darf. "6 Auch in der japanischen Landschaftsmalerei hat das Phänomen der umgekehrten Perspektive eine wichtige Sinnbildungsfunktion.7 Es gibt in ihr eine klare Tendenz, parallele Linien nicht am Horizont, sondern beim Betrachter konvergieren zu lassen, und die Figurengröße bildeinwärts zu vergrößern. Die Dinge werden außerdem gerne übereinander gestaffelt, um die Illusion einer unbegrenzten Raumtiefe zu vermeiden.
3. Farbe und Licht Da Farbe und Licht zweifellos sehr wichtige Mittel sind, um auf der Fläche eine Raumillusion zu erzeugen, hat man die Begriffe Farbperspektive und Lichtperspektive geprägt. Die Grundlage der so genannten Farbperspektive ist die empirische Erfahrung, dass die Farbwerte der einzelnen Gegenstände sich je nach der Distanz des Betrachters zu ihnen ändern, und zwar dergestalt, dass 5 6 7
P. Florenskij, Die umgekehrte Perspektive, 1989, S. 7ff. P. Florenskij, a.a.O., S. 32. Vgl. C. Glaser, Die Raumdarstellung in der japanischen Malerei, Monatshefte für die Kunstwissenschaft, 1908, S. 402-420.
Farbe und Licht
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die Eigenfarbe der einzelnen Gegenstände mit zunehmender Entfernung geschwächt wird und eine blau-weiße Tönung bekommt. Das bedeutet zugleich, dass sich das Farberlebnis bei den einzelnen Gegenständen mit zunehmender Entfernung von warm nach kalt verschiebt. Diesen natürlichen Farbwandeleffekt haben die Maler genutzt, um auch durch Farbverschiebungen die Illusion einer Raumtiefe zu erzeugen. Der Horizont eines Bildes lässt sich dann dort lokalisieren, wo sich der Helligkeits- und Farbwert der einzelnen Gegenstände denen des Himmels am meisten angenähert hat. Dieses Phänomen, das zuweilen auch als Luftperspektive oder als Perspektive des Verschwindens bezeichnet worden ist, hat Leonardo da Vinci dadurch zu erklären versucht, dass der Farbwandel nach blau durch die zunehmende Luftdichte verursacht würde.8 Als einer der ersten Maler scheint der Grieche Polygnot die Verschiebung von Farben nach Blau-Weiß als Mittel der Raumgestaltung eingesetzt zu haben. Den archaischen Grundfarben Schwarz, Rot und Weiß hat er Ockergelb beigemischt. Dadurch konnte er dann bläuliche und grünliche Zwischentöne erzeugen, die zum Aufbau der Vorstellung einer Raumtiefe verwendbar waren. Damit war der Weg eröffnet, die Farbe als Perspektivierungsmittel zu nutzen und nicht nur dazu, den Gegenständen eine spezifische Eigenfarbe zuzuordnen, die notwendigerweise immer die Flächigkeit der Einzelobjekte hervorhob.9 Die Verschiebung von Farben zu größerer Unbestimmtheit als Mittel der Raumgestaltung lässt sich bis zu einem gewissen Maße mit der Verwendung von metaphorischen und ironischen Sprachformen als Mittel der Ausgestaltung von Sinnräumen vergleichen. Sinnräume entstehen weniger durch die Verwendung von semantisch normierten Bausteinen, sondern eher durch sprachliche Formen, die eine gewisse Vagheit haben und erst im Gebrauch eine bestimmte Sinnintentionalität bekommen. Neben der Farbperspektive spielt auch die so genannte Licht- bzw. Schattenperspektive eine große Rolle bei der Erzeugung von Raumvorstellungen. Während eine gleichmäßige Helligkeit ein Bild flach erscheinen lässt und gleichmäßig ausgeleuchtete Felder Flächen als Flächen hervorheben, verleihen Helligkeitsabstufungen einem Bild Tiefe. Die Vorstellung einer Raumtiefe lässt sich auch dadurch erzeugen, dass der Maler innerhalb oder außerhalb des Bildes eine Lichtquelle konzipiert, die dazu führt, dass von den dargestellten Dingen eine systemhaft geordnete Schattenbildung ausgeht. Schöne spricht im Zusammenhang mit der ottonischen Malerei des Mittelalters davon, dass die dargestellten Dinge bzw. die Bilder ein „Eigenlicht" hätten, das im Sinne eines „Sendelichtes" vom Bild auf den Rezipienten ausstrahle. Im Gegensatz dazu gebe es in den Renaissancebildern dann ein „Beleuchtungslicht", das im Sinne eines „Zeigelichts" die Bildwelt von außen beleuchte. Im Eigenlicht erschienen die Farben als eigenständige Lokalfarben 8 9
Lionardo da Vinci, Das Buch von der Malerei, 1970, S. 17ff., 124. Vgl. H. Eith, Die perspektivische Darstellungsart in ihrem Verhältnis zum Vorstellungsbild und Sehbild, 1936, S. 12ff.
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Perspektivierungsmittel
der Dinge, während sie im Beleuchtungslicht als Funktionen der jeweiligen Lichtquelle in Erscheinung träten.10 Farbwandel, Helligkeitsgefälle und Schattenbildung sind ganz offensichtlich Mittel, die die Gestaltung von Systemräumen erleichtern, während die Akzentuierung von Eigenfarben sowie ein gleichmäßiges, auf keine spezifische Quelle zurückfuhrbares Licht Mittel sind, die für die Gestaltung von Aggregaträumen eingesetzt werden können. Wo es eine Lichtquelle gibt, da gibt es notwendigerweise auch Farbgefälle und Schattenbildung. Farbe und Licht treten unter diesen Umständen nicht so sehr als Eigenschaften von Dingen hervor, sondern als Phänomene, die uns etwas über die Struktur des jeweiligen Raumes und den Sehepunkt des Malers für diesen Raum mitteilen. Farbe und Licht werden eingesetzt, um bestimmte Relationen zwischen der Objektsphäre und der Subjektsphäre zu konkretisieren. Die Farbe verliert dadurch mehr und mehr die Funktion, eine genuine Eigenschaft von Objekten anzuzeigen, und gewinnt mehr und mehr die Funktion, eine räumliche Beziehung zwischen dem Betrachtungsobjekt und dem Betrachtungssubjekt zu kennzeichnen. Das Licht verliert immer mehr die Funktion, die Dinge in einem allgemeinen und prinzipiellen Sinne sichtbar zu machen, und gewinnt zunehmend die Funktion, die Dinge in einer bestimmten Beleuchtung zugänglich zu machen. Dadurch kann dann eine spezifische Spannung zwischen den gewussten Objektfarben einerseits und den erscheinenden Beleuchtungsfarben andererseits entstehen. Wenn man nun für die perspektivierende Funktion von Farbe und Licht in der Malerei ein Analogon in der Satz- und Textbildung sucht, dann muss man sein Interesse auf alle Sprachformen richten, die zur Reliefbildung verwendet werden können. Das Spektrum reicht hier von der Verwendung typisierender und individualisierender Attribute über die Verwendung von erzählenden und feststellenden Tempora bis zu Darstellungsweisen, die auf einen konkret fassbaren Erzähler oder auf einen anonymen Vermittler zurückgehen. Die Schattenbildung in der Malerei ist nicht nur ein Mittel, den Raum im Hinblick auf eine bestimmte Lichtquelle zu strukturieren, sondern auch ein Mittel, die empirische Individualität der Dinge zu akzentuieren. Solange man bestrebt war, den allgemeinen Typus der Dinge herauszuarbeiten und nicht ihre spezifische Individualität in einem bestimmten Systemzusammenhang, war die Schattenbildung als perspektivierendes Gestaltungsmittel nicht aktuell. Das änderte sich natürlich, als man im Kontext körperperspektivischer Darstellungsweisen sehbildgetreue Eindrücke von Dingen zu objektivieren versuchte. Der Schatten bzw. die Schattenbildung hat ontologisch gesehen eine ebenso komplizierte Struktur wie die Perspektive. Ähnlich wie sich eine Perspektive dadurch konkretisiert, dass Dingaspekte und Sehepunkte in bestimm10
W. Schöne, Über das Licht in der Malerei, 1954, S. 12ff., 82.
Farbe und Licht
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ter Weise aufeinander bezogen werden, so entsteht ein Schatten daraus, dass ein Objekt auf spezifische Weise mit einer Lichtquelle korreliert wird. Ebenso wenig wie die Perspektive allein zum Objekt oder zum Subjekt gehört, so gehört auch der Schatten ebenso wenig allein zum Objekt oder zum Licht. Der Schatten verweist ebenso wie die Perspektive auf eine bestimmte Wahrnehmungsweise von Objekten. Bemerkenswert ist nun allerdings, dass der Schatten keineswegs immer als etwas Funktionales aufgefasst worden ist bzw. als Resultante einer Lichtquelle und eines Objekts, sondern zuweilen auch als eine substanzielle Eigenschaft von Gegenständen. Als Peter Schlemihl seinen Schatten verkauft hatte, fällt er aus der menschlichen Gesellschaft, weil er etwas aufgegeben hat, was ihn ontisch zum konkreten Menschen macht. Hier wird der fehlende Schatten eher als ein Mangelsymptom aufgefasst und weniger als ein Resultat einer gestörten Relation zu einer bestimmten Lichtquelle. Wenn Lucky Luke seinen Colt schneller zieht als sein Schatten, dann wird auch mit der Vorstellung eines substanziellen Schattens gespielt. Der in Bildern objektivierte Systemraum ist in hohem Maße davon abhängig, von wo Licht auf die jeweilige Szene fallt bzw. wo das erhellende Licht in der Szene selbst platziert worden ist. Wenn ein Bild durch verschiedene Lichtquellen geprägt wird, dann ergibt sich in ihm eine spezifische Systemspannung, die vergleichbar mit der ist, die aus der Verwendung unterschiedlicher Sehepunkte resultiert. In jedem Fall trägt die Lichtgestaltung entscheidend zur Autonomie des im Bilde dargestellten Systemraumes bei. Daraufhat Leonardo da Vinci schon ausdrücklich hingewiesen, als er herausstellte, dass ein Bild im Gegensatz zu einer Skulptur sein eigenes Licht und seinen eigenen Schatten mit sich führe und sich deshalb viel leichter als ein Werk der Bildhauerei als eigene Welt konstituieren könne, weil eine Skulptur in verschiedenen Lichtund Kontextzusammenhängen ganz unterschiedlich wahrgenommen werden könne.11 Arnheim hat darauf aufmerksam gemacht, dass es insbesondere bei Rembrandt eine eigenartige Spannung in der Lichtgestaltung gebe.12 Einerseits seien bei ihm Bilder so gestaltet, dass die Dinge das Licht als eine von außen kommende Kraft passiv hinnähmen, andererseits könnten bei ihm aber auch Gesichter und Gegenstände zu sekundären Lichtquellen werden, die selbst Energie ausstrahlten, nachdem sie von außen Licht empfangen hätten. Es ist offensichtlich, dass auf diese Weise das Licht als interpretatives Perspektivierungsmittel eingesetzt werden kann, mit dem sich deutliche Sinnakzente setzen lassen. Farbe und Licht lassen sich nun aber keineswegs nur dazu einsetzen, konkrete Anschauungsräume durchzustrukturieren, sondern auch dazu, kognitive 11 12
Leonardo da Vinci, Der Denker, Forscherund Poet, 1904, S. 134. R. Arnheim, Kunst und Sehen, 1978, S. 319.
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Perspektivierungsmittel
Räume perspektivisch auszugestalten. Traditionell spricht man in diesem Zusammenhang meist von Färb- und Lichtsymbolik, aber es lässt sich kaum etwas dagegen einwenden, Farbe und Licht auch als geistige Perspektivierungsmittel zu qualifizieren. Da Farben psychologisch gesehen eine bestimmte affektive Wertigkeit haben, kann ihre quantitative Verwendung auf der Fläche und ihre qualitative Zuordnung zu einzelnen Gegenständen eine ganz bestimmte geistige und emotionale Rezeptionsweise für die Wahrnehmung von einzelnen Sachverhalten nahe legen. Durch Farben lässt sich der emotionale Stellenwert von einzelnen Wahrnehmungsgegenständen akzentuieren, wobei die einzelnen Perspektivierungseffekte sowohl auf anthropologische Grundkonstanten des Farbverständnisses aufbauen können als auch auf kulturbedingte Farbbewertungen. Solche Farbsymbolik hat im Mittelalter eine große Rolle gespielt, die bis weit in die Renaissance nachgewirkt hat. So hat man etwa der Farbe Weiß die Kategorie der Reinheit zugeordnet, der Farbe Rot die der Barmherzigkeit, der Farbe Goldgelb die der Würde und der Farbe Schwarz die der Demut.13 Spengler hat sich in diesem Zusammenhang auch gefragt, warum sich die antike Malerei zunächst auf die Farben Rot, Schwarz, Weiß und Gelb beschränkt habe und in ihrer großen Zeit Blau und Blaugrün vermieden habe. Seine Antwort lautet, dass die Farben Blau und Blaugrün eigentlich keine gegenständlichen, sondern vielmehr atmosphärische Farben seien, nämlich die Farben des Himmels, des Meeres und der fruchtbaren Ebenen und deswegen auch den Eindruck des Weiten, ja des Grenzenlosen hervorriefen. Da diese Farben den Betrachter in die Ferne zögen, müssten sie als transzendente, geistige und unsinnliche Farben angesehen werden, die der klassische Freskenstil der Antike im Gegensatz zur venezianischen Malerei auch konsequent vermieden habe. Da die Farbe Blau eine verklärende Farbe sei, sei sie die prädestinierte Farbe für den Mantel der Madonna. Die Farben Gelb und Rot hält Spengler für endliche, euklidische, apollinische und polytheistische Farben. Dagegen sieht er Blau und Grün als monotheistische und faustische Farben an, weil sie einen Sog ins Unendliche implizierten, was dem antiken Weltgeffihl gar nicht entsprochen habe.14 Zu beachten ist nun auch, dass zu bestimmten historischen Zeiten der geistige Perspektivierungseffekt von Farben unmittelbar mit dem Handelspreis dieser Farben zusammenhing. Da die Herstellung bestimmter Farben besonders kostenintensiv war, konnte man mit der quantitativen Verteilung und der qualitativen Zuordnung von Farben auch einen Prestige- und Relevanzakzent setzen. Baxendall hat darauf aufmerksam gemacht, dass beispielsweise in der Renaissance die Auftraggeber zuweilen vorgeschrieben hätten, welche Quantitäten von konkreten Farben jeweils zu verwenden seien. So habe etwa ein 13 14
Vgl. M. Baxendall, Die Wirklichkeit der Bilder, 1977, S. 101. J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, 1975", S. 283ff. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1963, S. 317.
Farbe und Licht
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Auftraggeber die Anweisung gegeben, die Farbe Blau fur zwei Florin die Unze bei der Darstellung der Jungfrau zu verwenden und zu einem Florin die Unze für den Rest des Bildes.15 Bei der Beurteilung der Perspektivierungsleistungen von Farben muss man insofern sicher vorsichtig sein, als Farbperspektivierungen natürlich immer in Kombination mit anderen Perspektivierungsmitteln wirksam werden und bestimmte Menschen sich eher durch Formen und andere eher durch Farben beeinflussen lassen. Gleichwohl wird man aber daran festhalten können, dass Farben wichtige Perspektivierungsleistungen erbringen, weil sie Einfluss darauf ausüben, wie etwas rezipiert wird. Wenn man in der Sprache nach Perspektivierungsleistungen sucht, die denen der Farbe entsprechen, dann kann man sicher auf die emotionalen Wertakzentuierungen von einzelnen Wörtern Bezug nehmen. Diese spielen eine wichtige Rolle bei der Rezeption derjenigen Sachverhalte, die durch die so akzentuierten Wörter bezeichnet werden.
15
M. Baxendall, Die Wirklichkeit der Bilder, 1977, S. 20, 102.
C PERSPEKTIVITÄT IM KOGNITIVEN BEREICH Wenn man den Geltungsanspruch des Perspektivitätskonzeptes von den visuellen auf die geistigen Wahrnehmungsprozesse ausdehnt, dann sind immer vier Problembereiche im Auge zu behalten, um nicht vorschnell ähnliche Ordnungsstrukturen als identische anzusehen. Erstens ist zu berücksichtigen, dass durch diese Ausweitung dem Begriff der Perspektivität methodisch eine innere Dynamik gegeben wird, die seine informative Präzision schwächt, aber seine hermeneutische Kraft stärkt, da dadurch unser Denken von dem Glauben weggeführt wird, dass komplexe Phänomene mit starren Begriffsmustern direkt zu bewältigen sind. Zweitens ist zu beachten, dass der Bereich der Kognition eigentlich kein eigenständig analysierbarer Bereich ist, da er auf vielfaltige Weise mit dem Bereich der Sinne, der genetisch verankerten Wahrnehmungsschemata und der kulturell entwickelten Zeichensysteme, zu denen insbesondere die Sprache gehört, verquickt ist. Drittens darf nicht vergessen werden, dass unser Erkennen prinzipiell mit unserem Handeln verschränkt ist und deshalb nie zu einem definiten Ende kommen kann, sondern allenfalls zu einem methodisch begründbaren Abschluss. Viertens muss in Betracht gezogen werden, dass alle Erkenntnisformen und Erkenntnisinhalte immer auch eine soziale Dimension haben, insofern sie nur dann als richtig und wahr angesehen werden, wenn sie auch von anderen anerkannt werden. Obwohl die Zeichen- bzw. die Sprachimplikationen des Problemzusammenhangs von Perspektivität und Kognition ganz offensichtlich sind, empfiehlt es sich methodisch gleichwohl doch, ihn soweit wie möglich einmal ohne direkten Sprachbezug ins Auge zu fassen, um den allgemeinen kognitiven Rahmen kennen zu lernen, in dem sprachliche Formen ihre perspektivierenden Funktionen entfalten können. Da der Gegenstandsbereich, der potenziell in den Rahmen der kognitiven Perspektivität fällt, unübersehbar groß ist, soll hier nur auf vier große Problembereiche eingegangen werden. Konkret soll danach gefragt werden, wie sich das Phänomen der Perspektivität im Kontext der Logik, der Anthropologie, der Erkenntnistheorie und der Pragmatik darstellt und welche Erschließungs- und Strukturierungsfunktionen der Perspektivitätsbegriff in diesen Bereichen entfalten kann. Aus dieser Zielorientierung ergibt sich schon, dass unter den Begriff der Kognition nicht nur geistige Wahrnehmungsstrukturen im engeren Sinne fallen sollen, sondern auch deren Prämissen, Implikationen und Konsequenzen. Nur in diesem weiten Blickwinkel kann erfasst werden, was es heißt, Perspektivität
Perspektivität im kognitiven Bereich
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als ein Urphänomen zu betrachten, das alle menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und Wahrnehmungsinhalte auf konstitutive Weise bedingt und prägt. In diesem Denkrahmen lässt sich der Perspektivitätsbegriff dann 2x1m einen als eine transzendentale Kategorie im Sinne der Vernunftkritik Kants verstehen, insofern es keine Form der Erkenntnis gibt, die sich den Bedingungen der Perspektivität entziehen kann, und zum anderen als eine transzendentale Kategorie im Sinne der Kulturkritik Cassirers, insofern alle kulturellen Zeichensysteme und Handlungsstile grundlegend von diesem Phänomen geprägt werden. Wenn man diese Denkprämissen schon vorab akzeptiert, dann scheint es fast überflüssig zu sein, sich noch im Detail mit der Perspektivitätsproblematik zu beschäftigen, weil man möglicherweise nur noch Triviales zutage fördern kann. Die Erfahrung lehrt aber, dass auch Triviales sehr schnell wieder rätselhaft werden kann, wenn man seine konkreten Ausprägungsformen und Strukturimplikationen näher untersucht, wenn man es in neue Kontexte stellt oder wenn man es von neuen Sehepunkten aus betrachtet. Der Fortgang der Untersuchung wird zeigen, dass die Perspektivitätsproblematik mit keiner Theorie endgültig zu erledigen ist, weil jede Theorie dieses Phänomen wiederum in einer bestimmten Perspektive objektiviert und damit natürlich zwangsläufig auch die Frage nach den Perspektivitätsimplikationen deqenigen Perspektiven auslöst, in der das Phänomen Perspektive erfasst und theoretisch strukturiert werden soll. Ebenso wenig wie wir wohl letztlich in der Lage sein werden, das Phänomen Leben theoretisch zu bewältigen, weil wir dabei schon immer in das zu erklärende Phänomen verwickelt sind, so werden wir letztlich wohl auch nicht in der Lage sein, das Phänomen Perspektivität kognitiv vollständig zu klären, weil all unsere diesbezüglichen Anstrengungen von eben diesem Phänomen schon vorstrakturiert werden. Vielleicht könnte nur ein Toter das Phänomen Leben verstehen und nur ein Gott das Phänomen Perspektivität. Aber welche Fernleihe besorgt uns deren Publikationen?
I Perspektivität als logisches Problem Wenn die Einschätzung richtig ist, dass immer auch von Perspektivität gesprochen werden muss, wenn von Wahrnehmung, Erkenntnis, Kultur und Zeichen gesprochen wird, dann stehen wir mitten im Dilemma der Selbstbezüglichkeit. Wie sollen wir das Phänomen Perspektivität mit perspektivisch vorgeprägten Denkformen aufklären und objektivieren? Wie sollen wir insbesondere das Problem der sprachlichen Perspektivität mit perspektivisch vorgeprägten Sprachmitteln erhellen und darstellen? Gleicht diese Aufgabe nicht dem Münchhausenproblem, sich am eigenen Schöpf aus dem Sumpf zu ziehen, oder den Anstrengungen des Auges, sich selbst zu sehen? Hier stehen wir offenbar vor dem gleichen Rätsel, das Niels Bohr beim Aufenthalt auf einer Skihütte höchst verwunderlich, aber durchaus lösbar fand. Wie ist es möglich, schmutzige Teller und Gläser mit schmutzigem Spülwasser und schmutzigen Küchentüchern zu reinigen?1 Das hier aufgezeigte Dilemma der Selbstbezüglichkeit, mit dem jede theoretische Beschäftigung mit der Perspektivitätsproblematik zu kämpfen hat, lässt sich im traditionellen Sinne methodisch und logisch nicht lupenrein lösen. Wir haben keinen archimedischen Sehepunkt, von dem aus wir die Perspektivitätsproblematik ganzheitlich überschauen und durchschauen könnten. Allenfalls können wir die Perspektivitätsproblematik pragmatisch bewältigen, indem wir sie uns durch den methodischen Wechsel von Sehepunkten und durch die Verwendung von heuristischen Hilfskonstruktionen so überschaubar machen, dass wir praktisch mit ihr umgehen können. Hoffnung kann uns dabei machen, dass auch das Auge mit Hilfe eines Spiegels Teile von sich selbst sehen kann und dass auch ein schmutziges Glas durch den geregelten Einsatz anderer Formen von Verunreinigungen doch relativ sauber zu machen ist. Mut kann uns weiterhin machen, dass wir dem Problem der Selbstbezüglichkeit nicht nur faktisch ausgesetzt sind, sondern es auch theoretisch formulieren können, was zumindest zeigt, dass wir uns partiell von ihm distanzieren können. Bei dem Vorhaben, das Phänomen Perspektivität mit perspektivisch geprägten Objektivierungsmitteln sichtbar und handhabbar zu machen, sollten wir unsere Hoffnung nicht auf alles lösende Befreiungsschläge setzen, wie sie Alexander am gordischen Knoten und Kolumbus am Ei vorgeführt haben, denn diese Problemlösungen waren ja dadurch gekennzeichnet, dass dabei zugleich auch die Sachverhalte beseitigt wurden, die das Problem erst sichtbar gemacht haben. Größere Hoffnung wird hier deshalb auf einen 1
W. Heisenberg, Der Teil und das Ganze, 19815, S. 190.
Die Stufungen des Denkens
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hermeneutischen Denkansatz gesetzt, der weniger darauf aus ist, Probleme durch methodische Abstraktionen aus der Welt zu schaffen, sondern eher darauf, die Dimensionen dieser Probleme zu verstehen, um sinnvoll mit ihnen umgehen zu können. Das bedeutet, dass vorerst versucht werden soll zu klären, welchen Stellenwert selbstbezügliche bzw. selbstinterpretative Strukturen prinzipiell in unserem Denken haben und welche Rolle der Perspektivitätsgedanke spielen kann, um diese Strukturen aufzuklären. Der Begriff der Logik wird unter diesen Umständen nicht in einem engeren Sinne als Bezeichnung der Lehre vom schlussfolgernden Denken verstanden bzw. als Lehre davon, wie man aus gegebenen Informationen auf zwingende Weise andere Informationen ableiten kann, sondern vielmehr in einem erweiterten semiotischen Sinne als Lehre von den Ordnungsstrukturen des Denkens und des Zeichengebrauchs. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Peirce die Ethik und Ästhetik zu den propädeutischen Wissenschaften der Logik rechnet, insofern die Ethik sich mit den Zielen des Denkens und Handelns zu beschäftigen hat und die Ästhetik mit den Intensitätsformen des Denkens und des Zeichengebrauchs.2 Die Aufklärung der hierarchischen Struktur von Sinnbildungsebenen und der interpretativen Verschränkung von Informations- und Denkperspektiven gehört deshalb zu den zentralen Aufgaben einer semiotisch orientierten Logik.
1. Die Stufungen des Denkens Die theoretische Entdeckung und Beschäftigung mit apriorischen Phänomenen, die vor aller Erfahrung liegen und die den Aufbau von Erfahrungsinhalten konstitutiv prägen, ist eine phylo- und ontogenetisch späte Erscheinung. Erst wenn wir unseren elementaren Sinneserfahrungen zu misstrauen beginnen oder sie für einseitig halten, ergibt sich ein Interesse für diesen Problemzusammenhang, da jetzt mehr und mehr deutlich wird, dass man ein verhältnismäßig sicheres Wissen von den Dingen nur dann hat, wenn man auch die Entstehungsbedingungen und den Stellenwert dieses Wissens kennt. In der Antike wurde der Terminus Dialektik benutzt, um die Kunst der richtigen Gesprächs- und Gedankenfuhrung zu bezeichnen, die es erlauben soll, von der perspektivisch eingeschränkten Sinneserfahrung zu einer zuverlässigeren Wesens- und Ideenerkenntnis vorzustoßen. Allerdings haben auch schon damals Skeptiker die Frage aufgeworfen, ob man die eingeschränkte Sinneserfahrung dabei möglicherweise nicht nur durch eine ebenfalls eingeschränkte Begriffserfahrung ersetzt. Das würde dann bedeuten, dass das Problem der Perspektivität durch die Bildung von Begriffen nicht aufgehoben, sondern nur verschoben würde. 2
Ch. S. Peirce, Collected Papers 2.197-199, 5.129-132.
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Perspektivität als logisches Problem
Insbesondere der Neuplatonismus und die Mystik haben nicht nur der sinnlichen, sondern auch der begrifflichen Erkenntnis grundsätzlich misstraut und deshalb negierende, paradoxe und bildliche Denk- und Sprachstrukturen favorisiert, um Erkenntnisinhalte eher hypothetisch anzudeuten als abschließend zu objektivieren. Erkenntnistheoretisch sehr viel optimistischer war dagegen Thomas von Aquin, der einen sechsten allgemeinen Sinn (sensus communis) postulierte, welcher die perspektivisch eingeschränkte Leistungskraft der fünf privaten körperlichen Sinne integrativ vermitteln und damit als Metasinn dann auch transzendieren sollte.3 Zumindest seit Kant hat sich der Schwerpunkt des philosophischen Denkens dann immer mehr von der Seinsreflexion auf die Vernunft- und Erkenntnisreflexion verlagert, was Odo Marquard zu der etwas giftigen Bemerkung veranlasst hat, dass der Philosoph mehr und mehr in die Rolle eines „ transzendentalen Entertainers " hineingewachsen sei.4 Diese Hinweise zeigen, dass es im Laufe der Kulturgeschichte immer selbstverständlicher geworden ist, das Denken auf sich selbst anzuwenden und dabei seine eigenen Voraussetzungen und Ergebnisse von übergeordneten Sehepunkten aus zu klären und zu qualifizieren. Die Bedingungsfaktoren, die auf unser Wahrnehmen und Denken einwirken, sind uns meistens nicht präsent und können nur bis zu einem gewissen Grade präsent gemacht werden. Wir brauchen sie in der Regel auch nicht zu kennen, um erfolgreich wahrnehmen und denken zu können. Ebenso wie der Fisch kein Bewusstsein von der Struktur des Wassers haben muss, um schwimmen zu können, und der Vogel kein Bewusstsein von der Struktur der Luft, um fliegen zu können, so brauchen auch die Menschen eigentlich kein Bewusstsein von der Struktur ihrer Vernunft oder den transzendentalen Voraussetzungen ihres Denkens, um gegenstandsthematisch erfolgreich denken zu können, wovon die Fachwissenschaften ja ein beredtes Zeugnis ablegen. Wir können Subjektsphäre und Objektsphäre in einen fruchtbaren Kontakt miteinander bringen, ohne ein Bewusstsein von der immanenten Perspektivität der dabei verwendeten Denkstile und Denkmittel zu haben. Erst wenn wir uns nicht mehr damit zufrieden geben, in einem vorgegebenen Rahmen objektorientiert zu denken, sondern uns auf einer höheren logischen Stufe sinnorientiert für die Voraussetzungen, Strukturen und Ziele des objektorientierten Denkens interessieren, dann stellt sich die Frage nach den Prämissen, Bedingungen und Leistungsgrenzen dieses Denkens. Die transzendentalen Voraussetzungen, medialen Bedingungen und funktionalen Leistungen unseres Denkens und Kommunizierens treten als Wahrnehmungsgrößen normalerweise erst dann ins Bewusstsein, wenn sie nicht mehr reibungslos funktionieren bzw. wenn wir die Wahl zwischen konkurrierenden Objektivierungsformen haben. Das illustriert sehr schön eine Passage 3 4
Vgl. H. Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 1,1979, S. 59ff. O. Marquard, Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie, in: H. Lübbe, Wozu Philosophie, 1978, S. 77.
Die Stufungen des Denkens
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aus Molieres Der Bürger als Edelmann. Als der neureiche Jourdain seinen Hausphilosophen darum bittet, ihm beim Abfassen eines Liebesbriefes behilflich zu sein, und dieser harmlos zurückfragt, ob der Brief in Prosa oder in Versen verfasst werden solle, macht Jourdain eine fundamentale Entdeckung über seinen bisherigen Sprachgebrauch: „Ich spreche Prosa! Meine Güte, so habe ich 40 Jahre lang Prosa gesprochen, ohne es zu wissen." (2. Akt, 4. Szene). Wenn wir entdecken, dass wir perspektivisch wahrnehmen und denken, ist das im Rückblick eine ähnlich triviale Erkenntnis wie die Entdeckung Jourdains, dass er Prosa spricht. Gleichwohl fallt es uns schwer, diese Trivialität theoretisch in den Griff zu bekommen. Helfen könnte dabei das Konzept eines hierarchisch gestuften Denkens, dessen einzelnen Ebenen je unterschiedliche Sehepunkte und Zielorientierungen zuzuordnen wären. Gerhard Frey5 unterscheidet in Denkprozessen ein sachthematisch orientiertes Gegenstandsbewusstsein und ein reflexionsthematisch orientiertes Reflexionsbewusstsein. Während das Denken im sachthematischen Bewusstsein perspektivisch darauf ausgerichtet ist, unmittelbar registrierbare Erfahrungsinhalte kognitiv zu bewältigen (intentio recta), und es außerdem als ganz selbstverständlich ansieht, dass die jeweils ins Auge gefassten Sachverhalte als solche ganz unabhängig von den auf sie gerichteten Objektivierungsverfahren existieren, ist das Denken im reflexionsthematischen Bewusstsein (intentio obliqua) perspektivisch darauf ausgerichtet, die Inhalte des Gegenstandsbewusstseins auf ihre Entstehungsbedingungen und Konsequenzen hin näher zu untersuchen. Dabei muss dann notwendigerweise auch die Frage gestellt werden, welchen Einfluss die jeweiligen Objektivierungsverfahren und -mittel auf die Konstitution von Objektivierungsinhalten haben. Diese hierarchisch gestufte Doppelstruktur unseres Bewusstseins lässt sich auch mit Hilfe der Termini Reflexion und Metareflexion beschreiben, wobei allerdings zu beachten ist, dass diese Begriffe rein relational zu verstehen sind, weil jeder metareflexive Denkinhalt auf einer höheren Stufe wieder zu einem sachthematischen Denkgegenstand erklärt werden kann, auf den man wiederum metareflexiv reagieren kann usw. Wenn man nun dem menschlichen Erkenntnisvermögen diese hierarchisch und perspektivisch gestufte Grundstruktur zuordnet, dann entschärft sich das Problem der perspektivisch gebundenen Wahrnehmungsverfahren und Wahrnehmungsinhalte auf entscheidende Weise, obwohl das Perspektivitätsproblem insgesamt keineswegs dadurch aufgehoben wird. Die spezifische Perspektivität der einen Denkebene lässt sich auf einer Ebene thematisieren und interpretieren. Zu jeder Denkebene kann das Denken theoretisch eine interpretierende Metaebene entwickeln und auf diese Weise das Denken in Rückkopplungsschleifen immer wieder auf sich selbst beziehen. Dadurch wird die Perspektivität als apriorische Grundbedingung 5
G. Frey, Sprache - Ausdruck des Bewußtseins, 1965, S. 18ff.
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Perspektivität als logisches Problem
konkreter Wahrnehmungs- und Denkakte nicht aufgehoben, aber durchaus verhindert, dass eine spezifische Konkretisierung von Perspektivität sich verselbstständigt und eine Endgültigkeitsfarbe bekommt. Die Fähigkeit des Menschen zum dynamischen Wechselspiel von intentio recta und intentio obliqua bzw. zum selbstbezüglichen Denken, lässt sich als ein im Prinzip unabschließbarer Vorgang betrachten, der allerdings aus praktischen Gründen meist kaum über zwei oder drei Stufen hinweg ausgedehnt wird. Wahrheitstheoretisch ist diese Denkdynamik möglicherweise unbefriedigend, insofern sie in Sinnbildungsprozessen einen unendlichen Regress und Progress von Reflexionen möglich macht und eine Letztbegründung von Erkenntnisinhalten ausschließt bzw. eine solche allenfalls in einem bestimmten methodischen Rahmen zulässt. Anthropologisch ist diese Situation aber gar nicht so fatal, weil dadurch gewährleistet wird, dass der Mensch ein fragendes Wesen bleiben kann, das alle von ihm entwickelten Denkformen im Prinzip irgendwie transzendieren kann und das im Wechselspiel von intentio recta und intentio obliqua bzw. in der metareflexiven Qualifizierung von perspektivischen Einzelerkenntnissen sein spezifisches Selbstbewusstsein zu entwickeln weiß. Litt hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, dass sich Sprache und Geist erst in dieser Selbstaufstufung zu dem ausbildeten, was sie prinzipiell sein könnten.6 Auf diese Weise kann das Denken auch seine eigenen Strukturen erhellen, weil es ständig zwischen der Wahrnehmung von Objekten und der Wahrnehmung der Wahrnehmung von Objekten oszillieren kann. Auch die kantische Unterscheidung von Verstand und Vernunft lässt sich heranziehen, um die Selbstaufstufung des Denkens bzw. der Perspektivenbildung zu beschreiben. Mit dem Terminus Verstand wäre dann das geistige Vermögen zu bezeichnen, die Welt mit Hilfe von sachthematischen Begriffen zu erschließen. Mit dem Terminus Vernunft wäre demgegenüber ein geistiges Vermögen zu benennen, mit dem reflexionsthematisch der Sinn von Verstandesbegriffen qualifiziert werden kann. Kant hat deshalb die Vernunftbegriffe auch „ transzendentale Ideen " genannt, da sie im Gegensatz zu den Verstandesbegriffen nicht Schlüssel für die Welt der konkreten sachthematischen Erfahrungen sind, sondern reflexionsthematisch Zugang zu den Voraussetzungen und Bedingungen eröffnen, unter denen der Verstand arbeitet.7 Diese Differenzierung legt nahe, das sachthematisch orientierte fachwissenschaftliche Denken als genuine Domäne des Verstandes zu begreifen und das reflexionsthematisch orientierte Denken als genuine Domäne der Vernunft und der Philosophie, weil Letzteres sich mit den Grenzen und Leistungen des Ersteren zu beschäftigen hat. So gesehen ist dann auch der Verstand die Voraussetzung für die Vernunft, weil diese erst dann arbeiten kann, wenn der Verstand schon gearbeitet hat. Das gilt nicht nur logisch, sondern auch kultur6 7
Th. Litt, Mensch und Welt, 1948, S. 217ff. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke, Bd. 3, Β 367-368, S. 119-320; Β 384, S. 331; Β 26, S. 63.
Die Selbstinterpretation des Denkens
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geschichtlich. Während also der Verstand auf Gegenstandserkenntnisse aus ist bzw. vorsichtiger formuliert auf Erscheinungserkenntnisse, ist die Vernunft auf Sinnerkenntnisse aus, in denen neben dem jeweiligen Sachwissen auch die transzendentalen Bedingungen des Sachwissens mit erfasst werden. Es ist nun schlechterdings nicht zu leugnen, dass eine Sinnerkenntnis ohne Berücksichtigung der Perspektivitätsproblematik unmöglich ist, weil erst auf diese Weise die Verschränkung von Objektsphäre und Subjektsphäre überzeugend aufgeklärt werden kann. Die Unterscheidung zwischen dem sachthematischen Denken auf der einen Seite und dem reflexionsthematischen Denken auf der anderen hat zu dem Wunsch geführt, für jede dieser Denkweisen in Form einer Objektsprache und einer Metasprache eigens zugeschnittene Sprachsysteme zu entwickeln. Das hat sich letztlich als undurchführbar erwiesen, weil sich herausstellte, dass die perspektivische Umorientierung im alltäglichen Sprachgebrauch so häufig vorkommt und so variantenreich ist, dass sie mit einem mechanischen Wechsel von unterschiedlichen Sprach- bzw. Zeichensystemen gar nicht zu bewältigen ist. Man sah sich gezwungen, die Termini Objektsprache und Metasprache nicht an sich, sondern rein relational in ihrem Verhältnis zueinander zu definieren. Dementsprechend ist es dann auch am nützlichsten, zwischen denjenigen sprachlichen Einheiten zu unterscheiden, die in einer gegebenen Sprachgebrauchssituation eine Grundinformation liefern, und denjenigen, die eine darauf bezogene interpretierende Metainformation vermitteln. Das bedeutet, dass je nach den konkreten Analyseinteressen unter Umständen dieselbe Informationseinheit sowohl als Grundinformation als auch als Metainformation qualifiziert werden kann. Die ganze Diskussion über die logische Stufung von Sprachebenen hat zu einem wichtigen Postulat für den konkreten Sprachgebrauch geführt. Man hat zu Recht die Forderung aufgestellt, dass Aussagen nicht so formuliert werden dürfen bzw. nicht so verstanden werden dürfen, dass sie sich referenziell zugleich auf etwas anderes und auf sich selbst beziehen können. Das würde nämlich zu einer perspektivischen Verwirrung ihrer Zielorientierung fuhren bzw. zu Aussagen, die sich selbst aufheben (Alle Verallgemeinerungen sind falsch. Ein Kreter sagt, dass alle Kreter lügen.). Auf solche Strukturen treffen wir insbesondere im paradoxen Sprachgebrauch, der deshalb noch eigens thematisiert werden soll.
2. Die Selbstinterpretation des Denkens Die Unterscheidung von intentio recta und intentio obliqua bzw. von sachthematischem und reflexionsthematischem Denken legt auf den ersten Blick nahe, die Struktur von Denkprozessen so zu verstehen, dass die einzelnen Denkschritte mit ihren spezifischen Denkinhalten sukzessiv aufeinander folgen und
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Perspektivität als logisches Problem
deshalb auch leicht auseinander gehalten werden können. Das trifft oft, aber keineswegs immer zu. In bestimmten Formen von Sinngestalten und geistigen Prozessen sind die verschiedenen Informations- und Sinnebenen so ineinander verschränkt und werden in einem so hohen Maße simultan präsent, dass es einer besonderen methodischen Anstrengung und Zeichenanalyse bedarf, um sie voneinander zu unterscheiden und in ihrem Zusammenspiel zu beschreiben. Wenn wir in der Organisationsstruktur des natürlichen Sprachgebrauchs ein Analogon zu der Organisationsstruktur von natürlichen Denkprozessen sehen, dann lässt sich feststellen, dass selbstbezügliche Strukturen für alle Formen komplexer Sinngestalten und für alle Formen komplexen Denkens konstitutiv sind. Ohne die Relation von Grundinformationen und interpretierender Metainformation auf verschiedenen Komplexitätsebenen lassen sich komplexe Sinngebilde gar nicht herstellen.8 Wir treffen auf diese Relation in der Verschränkung von lexikalischen und grammatischen Informationen im Wort, im Satzglied und im Satz, insofern die Wortartindikatoren angeben, wie wir einen allgemeinen Vorstellungsinhalt konkret verstehen sollen (warm, erwärmen, Wärme), insofern Kasusmorpheme uns Hinweise auf die Satzgliedrolle eines Substantivs geben, insofern Konjunktionen uns sagen, wie wir Teilsätze formal oder inhaltlich aufeinander zu beziehen haben. Die Relation von Grundinformation und Metainformation dokumentiert sich auch in Sprechakten, wo die illokutiven Indikatoren uns sagen, ob wir eine gegebene Proposition als Mitteilung, Drohung, Empfehlung oder als Warnung zu verstehen haben (Der Hund ist bissig.). Metaphorische und ironische Äußerungen können wir nur adäquat verstehen, wenn wir das Gesagte nicht wortwörtlich verstehen, sondern so, wie der Kontext es nahe legt. Ein Problem ist dabei allerdings, dass die interpretierende Metainformation nicht immer auf konkret fassbare Zeichen zurückführbar ist, sondern sich oft nur als Implikation aus der Einschätzung von Situationen und Sinnintentionen ergibt. Auch das Verhältnis von Textinhalt und Textsorte lässt sich als Exemplifikation des Strukturmodells von Grundinformation und Metainformation verstehen, insofern uns erst die Einschätzung der Textsorte (Fabel, Märchen, politische Rede, Werbeanzeige) sagt, wie wir einen Vorstellungsinhalt sinngemäß zu verstehen haben. Das Verblüffende ist nun, dass das Verwenden und Verstehen selbstinterpretativer Sprachstrukturen sich schon auf Bewusstseinsebenen vollzieht, die unserer expliziten Kontrolle meist gar nicht zugänglich sind bzw. die wir auch gar nicht methodisch zu kontrollieren brauchen. Den Sinn eines Satzes können wir spontan verstehen, ohne uns bewusst zu machen, welches komplizierte Geflecht von lexikalischen Grundinformationen und grammatischen Metainformationen ihm zu Grunde liegt. Eine Metapher können wir verstehen, ohne uns bewusst zu machen, auf welche Metainformationen bzw. auf welches 8
Vgl. W. Koller, Philosophie der Grammatik, 1988, S. 193ff.
Die Selbstinterpretation des Denkens
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Wissen wir konkret zurückgreifen, um das wortwörtlich Gesagte sinngemäß zu verstehen. Unser Gehirn ist offenbar so organisiert, dass es die Korrelation von Grundinformationen und Metainformationen für die Ausbildung komplexer Sinngestalten schon unterhalb der Schwelle der explizit kontrollierbaren Bewusstseinsstufen leistet. Im Rahmen des Sprachgebrauchs bezeichnen wir dieses Vermögen in der Regel als Sprachgefühl. Seine Regularitäten können wir uns nachträglich durch Sprachanalysen bis zu einem gewissen Grade bewusst machen, aber mit Sicherheit nicht vollständig. Im Rahmen des allgemeinen Denkens werden wir wohl ein analoges Vermögen annehmen müssen, denn unser Denkvermögen wäre mit Sicherheit nicht erschöpfend beschrieben, wenn wir es auf explizit kontrollierbare Denkprozesse beschränkten. Evolutionär gesehen hat unser Gehirn einerseits die Ausbildung und die Handhabung komplexer Zeichensysteme ermöglicht, es ist andererseits aber auch an der Ausbildung und Handhabung dieser Systeme gewachsen. Komplexe und flexibel verwendbare Zeichensysteme sind nun aber nicht denkbar ohne die Möglichkeit zur Ausbildung von selbstinterpretativen Strukturen, d.h. ohne Zeichen, die organisiert werden und die organisieren. Deshalb ist das Denken auch schon auf ganz elementaren Ebenen durch selbstinterpretative Strukturen bzw. durch den geregelten Wechsel von Perspektiven geprägt. Der Reiz vieler Denk- und Sprachstrukturen liegt ja oft gerade darin, dass kategorial sehr unterschiedliche Einzelinformationen blitzartig zu neuen Sinngestalten verschmolzen werden. Dafür stellen Witz und Ironie ausgezeichnete Exempel dar, die ja nicht zufällig sowohl als Ordnungsgestalten des Denkens als auch als solche des Sprechens angesehen werden können. Insbesondere Till Eulenspiegel macht sich einen Spaß daraus, auf unsere vorbewussten Denkund Verstehensstrukturen hinzuweisen, indem er alle Anweisungen wortwörtlich befolgt. Darin zeigt sich nicht sein Unvermögen, situationsadäquat perspektivisch zu denken, sondern seine besondere Raffinesse, mit den vorbewussten Denkoperationen anderer zu spielen. Unser Denkvermögen zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass es komplizierte Programme anwenden kann, sondern auch dadurch, dass es seine Programme im Vollzug umgestalten kann und damit den jeweiligen Sinnbildungsbedürfnissen flexibel anzupassen weiß. Für solche perspektivischen Umorientierungen sind selbstbezügliche und selbstinterpretative Strukturen natürlich unabdingbar. Die Phänomene Perspektivität, Metareflexion und Selbstinterpretation sind Phänomene, die mit menschlicher Geistestätigkeit und Zeichenverwendung prinzipiell verbunden sind. In frühen Kulturepochen stellten sich diese Phänomene im Gegensatz zu späteren aber noch nicht in so hohem Maße als praktische und theoretische Problembereiche dar, weil hier Denkformen und Denkinhalte noch durch stabile Traditionen organisiert wurden und keine allzu große Variationsbreite aufwiesen. Erst als Traditionen brüchig wurden oder
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Perspektivität als logisches Problem
viele alternative Denkmöglichkeiten zur Verfügung standen, begann man, metareflexiv nach der Gültigkeit, der Genese und den Implikationen der einzelnen Möglichkeiten zu fragen. Das lässt sich dann auch als Geburtsstunde der Philosophie als einer Denkweise ansehen, deren Interesse sich nicht nur auf die Welt richtet, sondern auch selbstbezüglich auf die Perspektiven und Formen, in denen die Welt wahrgenommen wird. Hegel hat das in einem eindrucksvollen Bild beschrieben. „ Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst in der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. In späten Phasen von Kulturen entwickelt sich auf ganz natürliche Weise ein Bewusstsein für die Perspektivität und Interpretationsbedürftigkeit von Wissensformen bzw. ein Bewusstsein für die Notwendigkeit hermeneutischen Denkens. Dieses Bewusstsein, dem in dem Hegelzitat ein Zug ins Resignative zugeordnet wird, weil es in ihm nur um das nachträgliche Verstehen von etwas bereits Gegebenem zu gehen scheint, kann aber auch eine kreative Dimension bekommen. Diese wäre dann gegeben, wenn das hermeneutische Denken sein Selbstverständnis nicht nur aus rekonstruierenden Akten schöpft, sondern auch aus konstruierenden, bzw. wenn es danach strebt, Sehepunkte und Perspektiven für die Erfassung von Sachverhalten zu entwickeln, die vorher nicht präsent waren.
9
G.W.F. Hegel, Werke, Bd. 7, S. 28.
II Perspektivität als anthropologisches Problem Durch die Überlegungen zur Perspektivitätsproblematik im visuellen Bereich wurde grundsätzlich plausibel zu machen versucht, warum das Phänomen Perspektivität als anthropologisches Urphänomen angesehen werden kann, das menschliche Wahrnehmungsprozesse aller Art grundlegend prägt und damit natürlich auch die menschliche Existenzweise. Im Prinzip ist diese Einsicht nicht neu, sondern eine alte Erkenntnis, die im Rahmen der antiken und mittelalterlichen Engelsspekulation schon klar zum Ausdruck gekommen ist. Heute haben wir nur eine bessere Chance, diese anthropologische Einsicht empirisch und historisch besser zu begründen als zu früheren Zeiten und ihr damit ihren zunächst recht spekulativen Charakter zu nehmen. Wenn wir die ontogenetischen und phylogenetischen Implikationen des Perspektivitätsgedankens herauszuarbeiten versuchen, dann zeigt sich, welche Variationsbreite die Perspektivitätsproblematik hat. Es bietet sich weiterhin die Chance zu verdeutlichen, dass der Perspektivitätsgedanke neben dem Naturgedanken auch mit dem Kulturgedanken verknüpft werden muss, weil sich viele Erscheinungsmöglichkeiten kognitiver Perspektivität erst im Laufe der Kulturgeschichte ergeben haben. Insbesondere kann gezeigt werden, dass die Entwicklung kultureller Zeichensysteme einen großen Einfluss auf die Ausprägungsformen von Perspektivität im kognitiven Bereich gehabt haben, wofür die Entwicklung der Schrift, abgesehen von der der Sprache, ein ausgezeichnetes Beispiel abgibt. Um die anthropologischen Dimensionen der Perspektivitätsproblematik in diesem Sinne zu erfassen, ist es nützlich, sich die Gottes- und Engelsspekulationen früherer Epochen im Sinne einer Kontrastfolie zu vergegenwärtigen. Diese lassen sich als eine erste Ausdrucksform anthropologischen Denkens begreifen, insofern hier versucht wurde, die spezifische Position des Menschen mit Hilfe von Gegenmodellen zu beschreiben, wobei nicht zufällig die Perspektivitätsproblematik eine wichtige Rolle gespielt hat. Als höchstes bzw. allmächtiges Wesen kann Gott in den Denkkonzepten der monotheistischen Religionen nicht den Bedingungen der Perspektivität unterworfen werden. Raum, Zeit, Kausalität, Wissen, Gedächtnis usw. können sein Sein und seine Wahrnehmungen nicht einschränken. Deshalb ist er im Prinzip auch nicht als körperliches Wesen vorstellbar. Das Bilderverbot in den monotheistischen Religionen ist aus diesem Grunde auch nur konsequent. Wenn man Gott tatsächlich bildlich darstellen könnte, dann könnte man ihn
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Perspektivität als anthropologisches Problem
nur aspektuell zur Erscheinung bringen und würde damit zwangsläufig sein eigentliches Sein als höchstes Wesen verfehlen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang dann auch, dass man sich seit der griechischen Antike das Sein bzw. Gott als Ursache alles Seienden immer wieder hilfsweise im Bilde einer Kugel vorgestellt hat, da die Kugel von allen Seiten den gleichen Anblick bietet und in ihrer konkreten Wahrnehmbarkeit, abgesehen von Lichtreflexen, unempfindlich gegenüber der perspektivischen Wahrnehmung von einem bestimmten Sehepunkt aus ist. Zumindest metaphorisch konnte die Kugel am besten das repräsentieren, was alle irdische Existenzweise übersteigt und was sich den üblichen irdischen Wahrnehmungsbedingungen ganz entzieht. Die antiken und mittelalterlichen Engelspekulationen sind perspektivitätstheoretisch deshalb so interessant, weil die Engel ontologisch als reine Geisteswesen zwischen Gott und den Menschen angesiedelt wurden und weil sie wegen ihrer Vermittlungsfunktion zwischen der Sphäre des Materiellen und des Göttlichen auch als Metaphern für die Welt des Geistes bzw. der Seele verstanden werden konnten. So hat beispielsweise Dionysios Areopagita betont, dass die Engel als reine Formen bzw. als Wesen ohne materielles Substrat weder eine sinnlich gebundene noch eine sequenzielle Wahrnehmungsweise hätten und dass sie sich im Gegensatz zu den Menschen dementsprechend nicht darum bemühen müssten, die Dinge diskursiv in kreisender Bewegung aspektuell zu erfassen. Den Engelsgeistern sei es gegeben, „ die ganze Wahrheit jeweils in einem Nu zu erfassen, vermöge ihres eigenen Einsseins, während unsere menschlichen Seelen immer nur aus vielen Teilansichten und von vielen Standpunkten aus ihre verschiedenen Erkenntnisse zusammensetzen müssen, wenn sie nicht gar in verzerrenden Einseitigkeiten verharren. Die Idee einer simultanen, perspektivisch ungebundenen Wahrnehmungsweise bei Engeln hat Thomas von Aquin dann zu Spekulationen darüber angeregt, ob Engel überhaupt Begriffe und Sprache benötigten. Sie brauchten Sprache weder zur Objektivierung von Einzelerkenntnissen im Fluss der Zeit, weil sie alles auf einmal erfassen könnten, noch zur Kommunikation untereinander, weil ihnen dazu eine bloße Parallelisierung ihrer Gedanken genüge. Nur im Sinne eines geistigen Überschussphänomens billigt er den Engeln dann eine Sprache zu, die sich aber als locutio spiritualis nicht unbedingt an Laute binden müsse, sondern in einer rein geistigen Sphäre verbleiben könne.2 Die Engelsspekulationen der Antike und des Mittelalters kommen uns auf den ersten Blick ziemlich gekünstelt, haarspalterisch, wenn nicht absurd vor. Sie stellen sich aber etwas anders dar, wenn man sie auch als Spekulation darüber versteht, welche Rolle das Phänomen Perspektivität im Reiche des reinen Geistes spielen könnte und wie die Menschen Zugang und Teilhabe an
1 2
Dionysios Areopagita, Mystische Theologie und andere Schriften, 1956, S. 114. Vgl. F. Manthey, Die Sprachphilosophie des hl. Thomas von Aquin, 1937, S. 238ff.
Natur und Kultur
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diesem Reich bekommen können, wofür dann seit Augustin die Vorstellung der göttlichen Illumination des Denkens wichtig geworden ist.
1. Natur und Kultur Der Biologe Jakob von Uexküll3 hat die These entwickelt, dass jedes Lebewesen aufgrund seiner Sinnesausstattung und Körperorganisation in einer artspezifischen Wahrnehmungswelt bzw. Umwelt lebe. Seine Nachfolger haben dann diese artspezifische Umwelt vielleicht noch treffender als Eigenwelt bezeichnet. Diese These impliziert, dass alle Lebewesen die Welt im Prinzip nur perspektivisch wahrnehmen können, nämlich so, wie es ihre artspezifischen Handlungsmöglichkeiten und die artspezifische Differenzierungskraft ihrer Rezeptionsorgane zulassen. Das bedeutet, dass die Fliege die Welt fliegenformig, der Hund hundeförmig und der Mensch menschenförmig wahrnimmt. Dieser Tatbestand legt es nahe, die artspezifische biologische Struktur des jeweiligen Organismus gleichsam als einen Sehepunkt zu verstehen, der im Sinne eines Leibapriori festlegt, was von der Welt wahrgenommen werden kann und was nicht. Die einzelnen Arten sind dabei je nach dem Differenzierungsgrad ihrer sinnlichen und zerebralen Organe in unterschiedlich starrer Weise in ihre Eigenwelt eingebunden, und ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten werden in unterschiedlich starrer Weise durch Schlüsselreize und genetisch fixierte Wahrnehmungsmuster reguliert. Sie haben unterschiedliche Möglichkeiten, ihre Wahrnehmungsinhalte durch Eigenbewegungen räumlicher und kognitiver Art zu vergrößern. So genügt es der berühmten Uexküllschen Zecke beispielsweise, in der Welt zwischen hell und dunkel zu unterscheiden, sowie den Geruch von Buttersäure bei schwitzenden Säugetieren zu erfassen. Dann weiß sie nämlich, in welcher Richtung sie an einem Strauch klettern muss bzw. wann sie sich fallen lassen muss, um sich in das Fell solcher Tiere bohren zu können. Höher entwickelte Arten von Lebewesen haben natürlich sehr viel mehr Möglichkeiten zur Variation ihrer Wahrnehmungsperspektiven bzw. zur aspektuellen Erfassung von Welt. In anthropologischen Überlegungen ist immer wieder darauf verwiesen worden, dass der Mensch sich dadurch aus der für Tiere typischen instinktgebundenen Einbettung in die Natur gelöst hat, dass er sich in Gestalt der Kultur eine ergänzende zweite Natur schuf. Auf diese Weise hat er sich nämlich einen sehr großen geistigen Wahrnehmungsspielraum erarbeitet, weil seine Wahrnehmungsmuster nun nicht mehr alle genetisch verankert werden mussten, sondern auch durch kulturelle Traditionen weitergegeben werden konnten. Da-
3
J. v. Uexküll, Theoretische Biologie 1973.
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Perspektivität als anthropologisches Problem
durch ließ sich die Zahl und die Differenzierungsmöglichkeiten dieser Muster enorm steigern. Allerdings können Traditionsbrüche nun auch sehr leicht zum Verlust dieser Muster und der mit ihnen verbundenen Denkperspektiven fuhren. Auch die genetisch fixierten Muster sind natürlich nicht starr, sondern verändern sich auf evolutionäre Weise oder lassen sich in unterschiedlichem Ausmaß durch individuell erworbene Erfahrungsmuster ergänzen. Beim Menschen hat die Entwicklung von kulturell verankerten Wahrnehmungsmustern und Denkperspektiven aber ein Ausmaß erreicht, das es nahe legt, den Begriff Eigenwelt nur noch sehr vorsichtig zu gebrauchen bzw. ihn auch im Sinne von kulturellen Eigenwelten zu verstehen. Seit dem Mittelalter ist der Topos bekannt, dass eine Generation auf den Schultern der vorangegangenen stehe und deshalb auch weiter zu sehen vermöge. Die spätere Generation könne ihre Erkenntnisarbeit dort fortsetzen, wo die frühere aufgehört habe, weil sie deren in kulturellen Formen gespeichertes Wissen übernehmen könne.4 Dieses Bild ist gerade wegen seiner Ambivalenz sehr aufschlussreich. Wenn wir auf den Schultern unserer Vorfahren stehen, dann sehen wir zwar weiter als diese, aber wir sind auch weiter von den wahrzunehmenden Phänomenen entfernt und lernen sie nicht mehr in unmittelbaren Handlungskontexten kennen, sondern mit Hilfe von Denkperspektiven, die andere Menschen in Form von Begriffen, Theorien und Handlungsstilen konkretisiert haben. Dadurch ersparen wir uns eine gewaltige Menge kognitiver Differenzierungsarbeit, aber wir werden auch dazu verfuhrt, uns in den Denkbahnen zu bewegen, die andere ausgearbeitet haben. Auch der Mythos vom Baum der Erkenntnis, auf den im Zusammenhang mit Jacobis metaphorischer Rede von Sprache als alter Schlange noch näher eingegangen werden wird, lässt sich als ein Mythos über die Entfaltung des Geistes und des perspektivischen Bewusstseins verstehen. Das Essen vom Baum der Erkenntnis löst die Menschen aus ihrer instinktgebundenen Lebensweise und ist deshalb nach Schiller „ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte ", weil dadurch der Grundstein zu seiner moralisch-kulturellen Existenzweise gelegt worden sei.5 Herder hat die im Vergleich mit Tieren geschwächte Sinnlichkeit und Instinktsicherheit des Menschen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Problem des Sprachursprungs und der Kulturentfaltung gemacht. Da der Mensch von Natur aus nicht zureichend durch Instinkte abgesichert sei, habe er sich Sprache und Kultur entwickeln müssen, um in dieser Schutzsphäre überleben zu können.6 Arnold Gehlen hat im Rückgriff auf Herder vom Menschen sogar als einem „Mängelwesen" gesprochen, das durch „Instinktreduk-
4 5 6
Vgl. R.K. Μ ertön, Auf den Schultern von Riesen, 1989. F. v. Schiller, Etwas über erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde, Schillers Werke, Bd. 17, 1970, S. 399-400. J.G. Heider, Sprachphilosophische Schriften, 19642, S. 16ff.
Natur und Kultur
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tion " geprägt sei und das sich deshalb in Form von gesellschaftlichen Institutionen", zu denen auch die Sprache gehöre, eine Kultursphäre schaffen müsse, die ihm die lebensnotwendigen perspektivischen Orientierungen geben könne.7 Die mit der Kulturentwicklung gegebene perspektivische Flexibilität und Weltoffenheit des Menschen sieht Gehlen keineswegs nur positiv. Sie berge Gefahren, die über gesellschaftliche Institutionen und kulturelle Normen aufgefangen werden müssten. Die Kultur wird dementsprechend von ihm eher als eine Perspektiven setzende Hilfsinstitution angesehen denn als ein Operationsfeld für die kreative Entwicklung neuer Denkmöglichkeiten. Den Gedanken, die Kultur als zweite Natur mit Existenz sichernden Funktionen zu betrachten, hat Michael Landmann zu einer philosophischen Kulturanthropologie verdichtet. Er fasst in Variation eines hegelschen Konzeptes unter dem Begriff objektiver Geist alle Kulturobjektivationen von den Denkformen über die Sprachformen bis zu den sozialen Institutionen zusammen. Im Rahmen des objektiven Geistes werde das bewahrt, was die Menschen im Laufe der Geschichte an Ordnungsformen geschaffen hätten und was als Kultursphäre jedes Individuum als zweite Natur umgebe wie das Wasser den Fisch und die Luft den Vogel. Nur im Medium des objektiven Geistes könnte sich der subjektive Geist als individuelle Denk- und Schöpfungskraft entfalten. Obwohl die Menschen im Prinzip die Schöpfer der Kulturschemata seien, hätten diese im Laufe der Zeit eine von den jeweiligen Individuen losgelöste Existenzform bekommen, die dann rückprägenden Einfluss auf ihre Erzeuger entwickelt habe. Diese Verhältnisse machten den Menschen zugleich zum Schöpfer und Geschöpf seiner Kultur. Die Kultur sei gleichsam ein nach außen verlagertes Organ des Menschen, das dieser mit seinen jeweiligen Kulturgenossen teile, wobei dann allerdings zu berücksichtigen sei, dass die jeweiligen Kulturschemata eine sehr viel größere Plastizität aufwiesen als die biologischen Schemata.8 Gleichwohl sind die Kulturschemata für Landmann ebenso notwendig wie die biologisch fundierten Denk- und Handlungsmuster. „Kultur ist nicht Zierde, nicht Nacherwerb, sondern Bedingung der menschlichen Existenzform. "9 Wenn man Landmanns Überlegungen in die hier entwickelte Begrifflichkeit überträgt, dann ergibt sich, dass der vorbahnende Einfluss der Kulturformen bzw. des objektiven Geistes auf den individuellen Menschen als sachlicher Gehalt der Sehepunkte und Perspektiven zu verstehen ist, die sich in einer Kultur für die Weltwahrnehmung und Weltbewältigung herausgebildet und in Form von Denkstilen, Zeichensystemen und Institutionen objektiviert haben. Allerdings wäre es wohl treffender, statt von objektivem Geist von objektiviertem Geist zu sprechen. Mit der Menge und der Differenziertheit der einzel-
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A. Gehlen, Der Mensch, 197812, S. 79ff. M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961, S. 20ff. M. Landmann, Fundamental-Anthropologie 19842, S. 53.
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nen Formen nimmt die Rigidität der perspektivischen Vorbahnungen des Denkens durch diese Formen allerdings ab, weil nun Wahlmöglichkeiten bestehen. Das gibt den einzelnen Menschen eine größere Freiheit und Beweglichkeit im Denken, aber auch eine größere Unsicherheit im Hinblick auf die Vertrauenswürdigkeit seiner Denkergebnisse. Wo es viele Sehepunkte und Perspektiven gibt, da haben die einzelnen nur noch einen relativen Wert. Zur menschlichen Existenz und Kultur gehört nun aber nicht nur die Bindung an das Phänomen Perspektivität im Allgemeinen und an konkrete Perspektiven im Besonderen, sondern auch das Spiel mit Perspektivität und Perspektiven. Die Bildung, die Variation, die Transzendierung, die Kontrastierung und die Engführung von Perspektiven im Spiel der Kunst und Fiktion gehören ebenso zum Menschen wie das Sich-Einrichten, das Stabilisieren und das SichFühren-Lassen durch Perspektiven. Die Veränderung von Perspektiven setzt natürlich eine bestimmte psychische Disposition voraus, die das Wagnis, die Anstrengung, aber auch die Lust an der Eigenbewegung bei der Ausarbeitung neuer Sehepunkte auf sich nimmt. Odysseus kann als Archetypus des gewollt oder ungewollt beweglichen und vielsichtigen Menschen gelten, der sich dem starken, aber einäugigen und unflexiblen Polyphem pragmatisch ebenso überlegen erweist wie der Mensch den möglicherweise starken, aber perspektivisch sehr viel eingeschränkteren Tieren. Nicht zufällig ist von Schiller bis Huizinga das Spiel immer wieder als konstitutives Merkmal des Menschen bezeichnet worden, weil in ihm Freiräume eröffnet werden, um Denkperspektiven zu erfinden, auszugestalten und zu erproben.10 Perspektivitätstheoretisch gesehen bietet das Spiel einerseits die Chance, sich aus den Ordnungszusammenhängen der realen Welt zu lösen und in eine Spielwelt mit je eigenen Ordnungsgesetzen und Denkperspektiven einzutreten, die die Geltungsansprüche der üblichen Denkmuster relativieren. Deshalb haben ja auch literarische Fiktionen eine so hohe Sprengkraft für diktatorische Ordnungssysteme aller Art. Im Spiel können Denkmöglichkeiten geistig erprobt werden, bevor sie ordnungsstiftende Funktionen für das reale Leben bekommen. Andererseits offenbart das Spiel perspektivitätstheoretisch aber auch, dass keine Ordnungsanstrengung ohne geregelte Denkperspektiven und Ordnungsmuster auskommt. Jedes Spiel braucht Regularitäten, gegen die im Spiel selbst kein Skeptizismus möglich ist, ohne es selbst zu zerstören. Spielregeln werden dem Spiel nicht von außen auferlegt, sondern sind eine innere Notwendigkeit des Spiels, ohne die es gar nicht zustande kommt. Der Spielverderber, der Ordnungsperspektiven des Spiels generell in Frage stellt, ist schlimmer als der Regelverletzer oder Falschspieler, der zwar Regeln bricht, aber der eben dadurch die Berechtigung und die Notwendigkeit von Regeln auch bestätigt. Das Spiel kann als ein Phänomen verstanden werden,
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Vgl. H. Scheuerl (Hrsg.), Theorie des Spiels, 197510.
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das dazu dient, den Gebrauch von Regeln und Perspektiven einzuüben, um in einem überschaubaren Reich mit dem Problem der Perspektivität fertig zu werden. Daraus ergibt sich, dass man im Spiel nicht nur lernt, konkrete Grenzen und Denkperspektiven zu transzendieren, sondern dass man in ihm auch lernt, die Notwendigkeit von Grenzen und Perspektiven beim Aufbau von Sinnwelten zu erkennen. Je differenzierter eine Kultur ist, eine desto größere Spielfreiheit und kulturelle Distanz muss sie entwickeln, aber gleichzeitig auch eine desto klarere Einsicht in die Notwendigkeit, die Vielfalt von Einzelperspektiven in umfassenderen Metaperspektiven zu ordnen. Das Außer-Kraft-Setzen von üblichen Denkperspektiven prägt das Spiel ebenso wie die Anerkennung von Denkperspektiven. Strukturtranszendierung und Strukturaufbau gehören im Spiel auf konstitutive Weise zusammen und bilden die Grundlage der Funktionslust, die sich für die Beteiligten in jedem Spiel entfalten soll.
2. Die Entfaltung von Wahrnehmungsperspektiven Wenn es richtig ist, dass alle menschlichen Kognitionen sowohl eine biologische als auch eine kulturelle Grundlage haben, dann ist die Frage nach der ontogenetischen und phylogenetischen Entfaltung von Wahrnehmungsperspektiven natürlich von zentralem anthropologischem Interesse. Es muss geklärt werden, wie genetisch und kulturell bedingte Objektivierungsstrategien sich entfalten und sich ineinander verschränken. Dabei ist zu beachten, dass sowohl genetisch als auch kulturell bedingte Wahrnehmungsprozesse eine immanente strategische Zielorientierung haben, selbst wenn die Wahrnehmenden sich dessen gar nicht bewusst sind. Bartlett hat betont, dass alle Wahrnehmungsprozesse unter einem Sinnpostulat stünden („effort after meaning")11, insofern uninterpretierte Daten dem menschlichen Denken ein Graus seien. Die Gestaltpsychologie hat ebenfalls darauf verwiesen, dass alle Wahrnehmungsprozesse unter einem Gestaltbildungspostulat stünden, insofern nur diejenigen Daten registriert und beachtet würden, die zu einer vorgängigen Gestalthypothese passten, und dass sich jeder Wahrnehmungsprozess als ein Strukturierungsprozess darstelle, in dem man sich bemühe, aus vagen Vorgestalten prägnante Endgestalten herzustellen.12 Auch der moderne Konstruktivismus betont, dass das Entdecken und das Erfinden gar nicht so weit auseinander lägen, wie man üblicherweise meine. Ernst von Glasersfeld vertritt sogar die These, dass es in Erkenntnisprozessen eigentlich nicht darauf ankomme, eine Isomophie zwischen Erkenntnisinhalten
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F. C. Bartlett, Remembering, 19672, S. 227. A. Wellek, Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie, 1969, S. 49ff.
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und Gegenstandswelt herzustellen, sondern vielmehr darauf, Vorstellungen zu entwickeln, die wie passende Schlüssel einen guten Zugang zur Welt ermöglichten. Wenn er von Erkenntnisinhalten Viabilität, d.h. Gangbarkeit, fordert, dann ist das gleichbedeutend mit der Forderung nach der Entwicklung anthropologisch relevanter Perspektiven für die Welterschließung.13 Die phylogenetische Entfaltung des perspektivischen Denkens können wir erst ab der Zeit rekonstruieren, aus der kulturelle Zeugnisse vorliegen. Wenn man die These von der Parallelität zwischen der Ontogenese und der Phylogenese akzeptiert, dann bietet sich allerdings die Chance, aus der ontogenetischen Entfaltung von Wahrnehmungsperspektiven auch gewisse Rückschlüsse auf die Entfaltung phylogenetischer zu ziehen. Deshalb sind die Untersuchungen von Bruner, Wygotski, Lurija, Piaget und Flavell über die Typik und die spezifische Organisationsstruktur kindlicher Wahrnehmungs- und Kognitionsformen so interessant für die Aufklärung der anthropologischen Dimensionen der Perspektivitätsproblematik.
Bruners Repräsentationstheorie Jerome Bruner unterscheidet mit grundlegenden Bezügen zu Piaget modellhaft vereinfacht drei verschiedene Formen der Weltbegegnung von Kindern, in denen sich diese die Welt auf je unterschiedliche Weise objektivieren. Diese drei unterschiedlichen Vergegenwärtigungsformen von Welt korrespondieren mit drei unterschiedlichen Richtungen des intentionalen Interesses an der Welt bzw. mit drei unterschiedlichen Weisen des perspektivischen Hineingleitens in die Welt. Bruner bezeichnet diese drei unterschiedlichen Objektivierungsformen von Welt in der Ontogenese als enaktive bzw. aktionale, als ikonische und als symbolische Repräsentationsformen. Sie folgen entwicklungsgeschichtlich aufeinander, aber die späteren heben die früheren hinsichtlich ihrer pragmatisch-anthropologischen Funktionen nicht auf.14 Als aktionale Repräsentation benennt Bruner eine Kontaktaufnahme von Kindern mit der Welt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Einzeldinge für die Kinder ihre Gegenständlichkeit erst im Kontext derjenigen Handlungen gewinnen, in die sie eingebettet sind. Die Dinge bekommen ihren Objektcharakter vornehmlich dadurch, dass sie als Bestandteile von Handlungen wahrgenommen werden, bzw. dadurch, dass man sie in Geschichten integrieren
13 14
E. v. Glasersfeld, Konstruktion der Wirklichkeit und der Begriff der Objektivität, in: H. Gumin/A. Möhler (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, 1985, S. 9. J. S. Bruner u.a., Studien zur kognitiven Entwicklung, 1971, S. 21ff. J. S. Bruner, Der Verlauf der kognitiven Entwicklung, in: D. Spanhel (Hrsg.), Schülersprache und Lernprozesse, 1973, S. 49ff.
Die Entfaltung von Wahmehmungsperspektiven
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kann. Dementsprechend ist ein Stein das, was man werfen kann, ein Hund das, was bellt, und ein Vogel das, was fliegen kann. Diese Form der Dingerschließung haben Kinder in der Fernsehsendung Dingsda, in der sie aufgefordert wurden, Begriffe zu definieren, sehr schön exemplifiziert. Bei ihren Definitionsbemühungen zählten sie natürlich weder die Merkmale auf, die ein Phänomen haben muss, um unter den jeweiligen Begriff zu fallen, noch beugten sie sich den Forderungen des klassischen Definitionsschemas und nannten die nächsthöhere Gattung und die spezifische Besonderheit, sondern sie verwiesen schlicht auf die charakteristischen Handlungszusammenhänge, in denen die jeweiligen Phänomene vorkommen. {Blondine:... auf die fliegen alle Männer.) Da Kleinkinder noch nicht über repräsentierende Zeichen verfugen, mit denen sie sich die Einzeldinge unabhängig von konkreten Handlungskontexten objektivieren können, erschließen sie sich ihre Welt notwendigerweise über das Tun und nicht über das Betrachten. Die Dinge sind fiir sie in bestimmte Handlungsschemata eingebunden und haben außerhalb von diesen keine wirkliche Permanenz. Das kann im Extremfall sogar zu Denkweisen führen, die von dem Glauben getragen werden, dass der Vollzug von Handlungen eine Bedingung für die Existenz von Dingen sei bzw. dass Handlungen den Dingen Existenz verleihen könnten. Davon zeugen nicht nur die Jagd- und Regenriten der Naturvölker, sondern auch eine interessante Beobachtung Piagets. Er hat gesehen, wie ein Kleinkind eine Zigarettenschachtel spielerisch hin und her bewegte, bis sie ungewollt außerhalb seines Sehfeldes niederfiel. Nun habe das Kind erstaunt in seine leere Hand gesehen, diese dann genau wie vorher immer wieder hin und her bewegt und jeweils nachgeschaut, ob es gelungen sei, die Schachtel auf diese Weise faktisch wieder präsent zu machen.15 Es ist nun offensichtlich, dass die aktionale Repräsentationsweise von Phänomenen keineswegs nur eine kindliche Form der perspektivischen Welterschließung darstellt, sondern dass sie eine elementare menschliche Wahrnehmungsweise unter anderen ist. So hat Heidegger betont, dass unsere elementare Wahrnehmung von Dingen so strukturiert sei, dass wir sie immer in Zweck- und Handlungsstrukturen einbetteten. Wir nähmen die Dinge primär nicht in ihrer „ Vorhandenheit" wahr, sondern in ihrer „Zuhandenheit" fiir bestimmte Handlungszwecke (Werkzeug, Schreibzeug, Fahrzeug usw.). Die kontemplative und theoretische Betrachtungsweise der Dinge im Blickwinkel ihrer bloßen Vorhandenheit sei ein abgeleiteter Modus der Wahrnehmung, der zu einem „Begaffen " der Dinge führe, weil diese dabei von ihren elementaren Wirkungszusammenhängen isoliert würden.16 Auch die Mythenbildung und das Geschichtenerzählen lassen sich als Formen der aktionalen Repräsentation von Welt verstehen, insofern Phänomene nicht als eigenständige Größen objektiviert werden, sondern als Bestandteile von Handlungszusammenhängen. 15 16
J. Piaget, Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, 1974, S. 32. M. Heidegger, Sein und Zeit, 196310, S. 68ff.
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Schapp hat deshalb pointiert herausgearbeitet, dass die Namen der Dinge ursprünglich nicht die Aufgabe gehabt hätten, den Begriff der Dinge zu kennzeichnen, sondern dass sie vielmehr als Überschriften für den Typ von Geschichten zu verstehen seien, der vorzugsweise mit den jeweiligen Dingen assoziiert werde.17 Die ikonische bzw. bildhafte Repräsentation von Welt als zweite Entwicklungsstufe der Wahrnehmung ist nach Bruner dadurch charakterisiert, dass die visuell-sinnliche Erfahrung im Vordergrund des Wahrnehmungsinteresses steht bzw. das, was sich als sinnlich fassbare Vorstellung räumlich, zeitlich und qualitativ klar abgrenzen lässt. Einzelwahrnehmungen lösen sich auf diese Weise aus ihren Handlungseinbettungen und verselbstständigen sich zu geschlossenen Vorstellungsbildern, in denen die Dinge in ihrer phänomenalen Eigenständigkeit hervortreten. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass in der ikonischen Repräsentation die einzelnen Phänomene natürlich immer idealtypisch schematisiert repräsentiert werden und nicht im Sinne eines fotografisch genauen individuellen Erinnerungsbildes. Da die Dinge aber in Form eines Bildschemas und nicht als Teil eines Handlungsschemas vergegenwärtigt werden, kann man hier schon in einem strengeren Sinne des Wortes von Repräsentation sprechen als bei der aktionalen Repräsentation. Die ikonische Repräsentation von Welt in kognitiven Prozessen stellt die Anschaulichkeit der Phänomene in den Mittelpunkt des Interesses und versucht diese über sprachliche Benennungen dann auch zu stabilisieren. Die Prototypentheorie in der Semantik hat eine gewisse Nähe zu diesem Konzept, weil sie davon ausgeht, dass wir uns die Bedeutung von Wörtern in der Regel nicht über die Merkmalsstruktur der von ihnen bezeichneten Begriffe erschließen, sondern über die Vorstellung eines prototypischen Exemplars deqenigen Phänomene, die unter diesen Begriff fallen. So exemplifizieren wir uns beispielsweise den Begriff Vogel eher über die Vorstellung einer Amsel als über die eines Zaunkönigs oder eines Pinguins. Weiterhin ist zu beachten, dass bei ikonischen Repräsentationsformen nicht nur an statische Einzelvorstellungen zu denken ist, sondern durchaus auch an bildhafte Handlungsvorstellungen, wie sie sich beispielsweise in Form anschaulicher Geschichten manifestieren. In der Sprache konkretisieren sich deshalb ikonische Repräsentationsformen nicht nur in Metaphern, sondern auch in Parabeln, Fabeln, Anekdoten, Mythen usw., in denen uns abstrakte Strukturzusammenhänge durch übersichtliche Beispielgeschichten fassbar gemacht werden. Perspektivitätstheoretisch muss deshalb insgesamt auch betont werden, dass die ikonische Repräsentation von Welt eine bestimmte Form der kognitiven Verarbeitung von Dingen und Ereignissen darstellt, die diese nicht als facta bruta nur registriert, sondern als Exempel für umfassende Sinn-
17
W. Schapp, In Geschichten verstrickt, 1976.
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zusammenhänge wahrzunehmen versucht. Sie muss deshalb als eine besondere Form der Kontaktaufnahme mit der Welt angesehen werden, die das analogische Denken lebendig hält. Die symbolische Repräsentation von Welt als dritte Stufe der kognitiven Entwicklung ist nun entsprechend dem angloamerikanischen Sprachgebrauch von symbolisch dadurch gekennzeichnet, dass die jeweiligen Phänomene mit Hilfe von begrifflichen Rastern erfasst werden, die sich insbesondere über sprachliche Zeichen konkretisiert und stabilisiert haben. Bei der Objektivierung von Dingen treten nun Handlungserfahrungen und sinnliche Vorstellungen zu Gunsten von abstrakten Denkinhalten in den Hintergrund des kognitiven Interesses. Beispielsweise lassen sich unter diesen Umständen eine Säge und ein Bleistift unter dem abstrakten Denkmuster Werkzeug zusammenfassen, obwohl ihre sinnlich fassbaren Merkmale und ihre Handlungsimplikationen sehr unterschiedlich sind. Bei dieser Objektivierungsform von Welt findet nicht das äußere Erscheinungsbild der Dinge bzw. der Phänotyp besondere Aufmerksamkeit, sondern nur der begrifflich fassbare Genotyp bzw. die abstrakten und sinnlich kaum zugänglichen Ordnungsstrukturen der Dinge. Allen drei Repräsentationsweisen von Welt liegen bestimmte Selektionsprozesse zu Grunde, die das Erkenntnisinteresse auf je unterschiedliche Aspekte der Dinge lenken. Allerdings muss betont werden, dass die Variationsmöglichkeiten bei der Ausarbeitung von Wahrnehmungsperspektiven bei den symbolischen Repräsentationsformen am größten sind, weil die Dominanz von Handlungserfahrungen und sinnlichen Erfahrungen hier am stärksten zurücktritt und wir dementsprechend unsere Wahrnehmungsperspektiven und Sehepunkte sehr viel freier wählen können. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass die Sprache eine herausragende Rolle bei allen symbolischen Repräsentationsformen spielt, weil hier die Relation von Zeichenträger und Zeicheninhalt im Prinzip rein konventionell geregelt wird und deshalb die Möglichkeiten von zeichengebundenen Objektivierungsprozessen kaum eingeschränkt werden. Als eine typische Form der symbolischen Repräsentation von Welt bzw. als eine typische Realisationsform von Perspektivität kann man auch den von Nikolaus von Kues vorbereiteten und von Galilei massiv propagierten Versuch ansehen, die Natur nicht mehr mit Hilfe der natürlichen Sprache, sondern mit Hilfe der Mathematik zu objektivieren. In dieser Denk- und Wahrnehmungsperspektive erscheint uns die Natur nicht mehr als das, was uns die Sinne zugänglich machen, sondern als das, was über die Naturgesetze an Strukturverhältnissen objektiviert werden kann. Galilei hat einen Naturbegriff entwickelt, der sich radikal von dem des Aristoteles unterscheidet, weil er einen anderen Sehepunkt für die Natur hat und sich dementsprechend für andere Aspekte von ihr interessiert. Wenn Aristoteles von der Natur spricht, dann hat er die sinnlich fassbare Natur vor Augen und nicht diejenigen Aspekte der Natur, die sich nur mit Hilfe der mathematischen Gesetzmäßigkeiten objektivieren lassen.
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Deshalb kann er seine Naturbetrachtungen auch ganz unbefangen mit Wertbegriffen durchsetzen und die Kreisbewegungen der Gestirne als die höchsten Formen von Bewegungen bezeichnen.18
Wygotskis Denkformen Schon vor Bruner hat Wygotski eine in vielen Hinsichten ähnliche Hypothese über die Struktur der kindlichen Weltwahrnehmung und Denkentwicklung formuliert.19 Auch er hat betont, dass Kinder im Verlaufe ihrer Denk- und Sprachentwicklung unterschiedliche kognitive Strategien entwickeln, um in die Welt hineinzugleiten bzw. um sich Welt zu repräsentieren. Es sei deshalb zu beachten, dass die einzelnen Wörter in den einzelnen Phasen der geistigen Entwicklung der Kinder ganz unterschiedliche Perspektivierungs- und Objektivierungsfunktionen hätten. Idealtypisch unterscheidet Wygotski zwischen der Phase des synkretistischen, des komplexen und des begrifflichen Denkens, wobei er allerdings die letzte Phase als sachadäquat ansieht und nicht in Betracht zieht, dass auch hier eine perspektivierende Denkform vorliegt, die ebenso wie die anderen einem bestimmten Selektionsinteresse unterliegt. Die Phase des synkretistischen Denkens ist nach Wygotski dadurch geprägt, dass Kinder Dinge, die für Erwachsene ganz unterschiedlichen Sachkategorien angehören, unter demselben Begriffsmuster subsumieren, weil sie selbst ganz andere Ähnlichkeitskriterien verwenden. Beispielsweise ist es für ein Kind in der Phase dieses Denkens ganz natürlich, alle positiv erlebten Dinge unter einem groben Ordnungsraster zusammenzufassen, das sprachlich etwa mit dem Terminus burtsa (Geburtstag) benannt wird. Typisch für die synkretistische Phase des Denkens ist, dass die Einordnung der Dinge in kognitive Schemata sich weniger nach objektiven Merkmalen der Dinge selbst richten, sondern eher danach, welche subjektive Relevanz die Dinge für die Kinder haben. Da Kinder einen anderen kognitiven Sehepunkt für die Wahrnehmung von Dingen haben, ordnen sie ihre Wahrnehmungsinhalte natürlich auch nach ganz anderen Ahnlichkeitskriterien als Erwachsene. Die Phase des komplexen Denkens ist nach Wygotski dadurch geprägt, dass die Kinder Phänomene, die sie räumlich, zeitlich oder funktionell als miteinander korreliert erlebt haben, auch sachlich als zusammengehörig betrachten, obwohl die Erwachsenen sie ganz unterschiedlichen Seinssphären zuordnen würden. Beispielsweise hätte unter diesen Umständen ein Kind keine Schwierigkeiten, mit dem Wort öf sowohl ein reales Schwein als auch das Papier, auf dem es abgebildet ist, als auch den Bleistift, mit dem es gezeichnet 18 19
Vgl. K. Lewin, Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie, Eikenntnis 1, 1930/31, S. 421-466. L. S. Wygotski, Denken und Sprechen, 19712, S. 119ff.
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worden ist, zu benennen. Dabei ist es nun aber keineswegs so, dass das Kind die Phänomene Schwein, Papier und Bleistift nicht unterscheiden könnte, aber seine kognitive Perspektive auf die Welt der Objekte ist so, dass es alle Phänomene als zusammengehörig betrachten kann, die es in einer räumlichen, zeitlichen oder funktionellen Verbindung erlebt hat. Für Erwachsene ist diese Kategorisierungsstrategie nicht akzeptabel, weil sie Einzelphänomene nach ihren inhärenten Merkmalen und nicht nach ihren zufalligen Korrelationszusammenhängen zu kategorisieren versuchen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch eine Mitteilung von Charles Darwin über das Sprachverhalten seines Enkelkindes, die uns Romanes überliefert hat.20 Das Kind habe nicht nur eine Ente auf dem Wasser quak genannt, sondern anschließend auch das Wasser, auf dem die Ente schwamm. Später habe es das Wort sogar zur Bezeichnung aller Vögel, Insekten und fließenden Substanzen verwendet und sogar Münzen damit benannt, nachdem es auf einer solchen das Bild eines Adlers gesehen habe. Diese Zusammenordnung von Phänomenen zu einem kognitiven Komplex ist für Außenstehende natürlich kaum nachvollziehbar, aber im Rahmen der Wahrnehmungsinteressen und der Wahrnehmungsperspektiven des Kindes durchaus verständlich. Die Phase des begrifflichen Denkens ist nach Wygotski nun dadurch bestimmt, dass die Kinder bei der Bildung kognitiver Muster subjektiv motivierte und bedingte Differenzierungskriterien mehr und mehr aufgeben und sich zunehmend an den Sachmerkmalen der Dinge orientieren. Damit passen sie sich den Objektivierungsstrategien der Erwachsenen an und übernehmen deren Wahrnehmungsperspektiven. Durch den schulischen Unterricht und den Erwerb der Schriftsprache wird dieser Prozess dann sehr verstärkt. Fraglich ist nun allerdings, ob man diese Form von Begriffsbildungen nun mit Wygotski als objektiv und wissenschaftlich im Sinne von allgemeingültig bezeichnen sollte, weil auch diese Wahmehmungsweise natürlich nicht völlig subjektfrei ist, sondern ebenfalls perspektivisch von bestimmten Wahrnehmungsinteressen geprägt ist, wenn auch in einer Weise, die sich insbesondere bei der Beherrschung der Welt in hohem Maße praktisch bewährt hat.
Lurijas kulturhistorische Untersuchungen Die von Bruner und Wygotski beschriebene ontogenetische Entwicklung von kognitiven Representations- und Wahrnehmungsweisen hat ihre Parallele in der kulturellen Entfaltung von Wissens- und Wahrnehmungsformen. Interessante Beobachtungen verdanken wir in diesem Zusammenhang dem russischen
20
G.J. Romanes, Die geistige Entwicklung beim Menschen, 1893, S. 283- 284.
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Psychologen Lurija, der in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts experimentell die spezifischen Wahrnehmungs- und Denkstrategien analphabetischer Landbewohner in Usbekistan untersucht hat. Bei diesen Experimenten ging es im Wesentlichen um die Klassifikation von Gegenständen unter Begriffe. Das ist für die Perspektivitätsproblematik insofern interessant, als diese Experimente Rückschlüsse darüber erlauben, welche Aspekte der jeweiligen Dinge den Versuchspersonen besonders wichtig erschienen und von welchen Sehepunkten aus sie ihre Klassenzuordnungen vornahmen. Im Anschluss an Wygotski betont Lurija dabei immer wieder, dass die gleichen Wörter je nach den kulturellen Kontexten und Lebensbedingungen der einzelnen Menschen ganz unterschiedliche Bedeutungsdimensionen haben könnten. In einem Experiment legte Lurija beispielsweise seinen Versuchspersonen Bilder vor, auf denen ein Beil, eine Säge, ein Holzscheit und ein Spaten abgebildet waren, und forderte sie auf, das Bild desjenigen Gegenstandes auszusondern, der nicht in diese Gruppe passt.21 Es stellte sich dabei heraus, dass die analphabetischen Bauern, die anschaulich und praktisch dachten, das Bild mit dem Spaten aussonderten, da sie Beil, Säge und Holzscheit wegen ihres funktionellen Zusammenhangs auch kategorial als zusammengehörig empfanden. Die Versuchspersonen mit Schulbildung sonderten hingegen den Holzscheit aus, da sie Beil, Säge und Spaten in einer theoretischen Einstellung unter der abstrakten Kategorie Werkzeug zusammenfassten. Während für die Analphabeten diejenigen Dingaspekte für Ähnlichkeitsüberlegungen wichtig wurden, die in konkreten Handlungssituationen hervortreten, spielten für die Versuchspersonen mit Schulbildung eher diejenigen Aspekte eine Rolle, die in situationsabstrakten theoretischen Betrachtungsweisen hervortreten, wie sie typisch für den Schulunterricht sind. Für die Perspektivitätsproblematik ist auch ein anderes Experiment Lurijas sehr interessant, das die Fähigkeit zu rein begrifflich fundierten Schlussfolgerungsprozessen betrifft. 22 Er stellte Versuchspersonen mit und ohne Schulbildung die Aufgabe, aus zwei allgemeinen Aussagen, die als Prämissen dienten, logisch eine dritte Aussage abzuleiten. „Im hohen Norden, wo Schnee liegt, sind alle Bären weiß. Nowaja Semlja befindet sich im hohen Norden. Welche Farbe haben dort die Bären? " Während die schriftkundigen Versuchspersonen in der Regel keine Schwierigkeiten hatten, den richtigen Schluss aus den beiden Prämissen zu ziehen, hatten die analphabetischen Versuchspersonen große Probleme, weil sie nicht gewohnt waren, sich auf den abstrakten generellen Informationsgehalt der als Prämissen fungierenden Sätze einzustellen. Sie waren nur gewohnt, mit Sätzen umzugehen, die einen konkreten Situationsbezug hatten. Sie erklärten dann meist, dass sie die Frage nicht beantworten
1 22
A.R. Lurija, Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse, 1986, S. 115ff. A.R. Lurija, a.a.O., S. 128ff.
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könnten, weil sie noch nie im hohen Norden gewesen seien und keine Bären gesehen hätten. Dieses Experiment Lurijas zeigt, dass die analphabetischen Versuchspersonen offenbar kaum in der Lage waren, sich kognitiv bzw. perspektivisch auf Sprachformen einzustellen, die nicht dazu dienen, empirische Einzelerfahrungen bzw. Einzelvorstellungen zu repräsentieren, sondern abstrakte Strukturordnungen. Während die schriftkundigen Versuchspersonen keine Schwierigkeiten hatten, ein solches Verständnis von Sätzen zu realisieren, gelang das den schriftunkundigen Versuchpersonen nicht, da ihre situationsverschränkte Sprachpraxis sie zu wenig dazu disponierte, Sätze rein semantisch ohne konkreten referenziellen Bezug zu verstehen. Daraus lässt sich nun der Schluss ziehen, dass die Schrift ein ganz bestimmtes kognitives Perspektivierungspotenzial hat und keineswegs nur als technisches Mittel angesehen werden darf, mündlich realisierte Sprache zu fixieren.
Piagets und Flavells Untersuchungen zur kommunikativen Perspektivität Die bisherigen Überlegungen haben sich vornehmlich auf die Entfaltung der kognitiven Perspektivität im engeren Sinne konzentriert, insofern es immer darum ging zu erfassen, wie sich die Perspektiven für die Erfassung der Welt im Laufe der Zeit bei den einzelnen Menschen verändern können. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass sich auch die Fähigkeit der Menschen ontogenetisch wie phylogenetisch ändert, sich im Kommunikationsverhalten auf die Denkperspektiven anderer einzustellen und die Sehepunkte anderer bei der Objektivierung von Sachverhalten zu berücksichtigen. Zu diesem Problembereich haben Piaget und Flavell wichtige Überlegungen angestellt. Piaget hat herausgearbeitet, dass das Denken und auch das Sprechen des Vorschulkindes im Prinzip einen egozentrischen Charakter habe, der sich im Verlaufe der kognitiven Entwicklung langsam verliere, der aber auch noch bei Erwachsenen insbesondere in spontanen und emotionalen Reaktionsweisen anzutreffen sei. Wichtig für das Verständnis der Argumentation Piagets ist, dass der Begriff Egozentrismus bei ihm kein sozialkritischer Begriff ist, der eine andauernde und intentional mehr oder weniger gewollte Beschäftigung eines Menschen mit sich selbst bezeichnet, sondern dass er als ein erkenntnistheoretischer Begriff verstanden wird, der eine bestimmte Grundstruktur kognitiver Prozesse bezeichnet. Deshalb spricht Piaget auch von einem intellektuellen Egozentrismus des Kindes. Dieser sei zu verstehen als ,, die gesamte vorkritische, also vorobjektive Haltung der Erkenntnis, gleich ob es sich um ein Erkennen der Natur, ein Erkennen der anderen oder des eigenen Ich handelt." In seinem Ursprung sei der Egozentrismus „ eine Art systematischer und unbe-
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wußter Illusion, eine Art Perspektive. "23 Diese Denkform ist nach Piaget dadurch charakterisiert, dass in ihr die Dinge so verstanden würden, wie sie unmittelbar erschienen, und dass es kein Bewusstsein davon gebe, dass sie von einem bestimmten Standpunkt aus ins Auge gefasst würden. Wie wenig Kinder in der Phase des egozentrischen Denkens in der Lage sind, sich als eigenständige Subjekte zu begreifen, die die Welt in einer anderen Perspektive wahrnehmen als andere Subjekte, erläutert Piaget mit zwei Beispielen. So habe ein sechsjähriger Junge erklärt, dass er einen Bruder habe, dass dieser Bruder aber seinerseits keinen Bruder habe. Bezeichnend sei weiter, dass ein Kind sich selbst in der Regel nicht mitzähle, wenn es die Personen in einem Zimmer zähle. „In beiden Fällen hält das Kind die eigene Perspektive fiir die einzig mögliche, und zwar deshalb, weil das denkende Subjekt sich als Subjekt nicht kennt. "24 Die Unfähigkeit von Kleinkindern, sich gedanklich auf den Sehepunkt eines anderen zu versetzen und sich vorzustellen, wie die Welt aus dessen Sicht erscheint, hat Piaget durch aufschlussreiche Experimente demonstriert. Diese waren so strukturiert, dass einem Kind ein Gegenstand oder eine Szenerie mit der Aufforderung präsentiert wurde, sich vorzustellen, wie diese Phänomene aus der Perspektive einer Puppe, die sich in einer anderen räumlichen Position befindet, aussehen könnten. Der bekannteste Versuch Piagets ist in diesem Zusammenhang das so genannte Drei-Berge-Experiment,25 Bei diesem Versuch wurde Kindern ein Modell einer Gebirgskonstellation von drei nach Farbe und Struktur unterschiedlichen Bergen gezeigt. Sie wurden dann in eine bestimmte Sehposition zu diesem Modell gebracht und sollten dann klären, wie sich diese Gebirgsszenerie für eine Puppe darbietet, die sie von einem anderen Sehepunkt aus sieht bzw. die um das Modell herumgeht. Dabei konnten die Kinder entweder auf Bilder zurückgreifen, die aus verschiedenen Perspektiven von dem Modell gemacht worden waren, oder sie konnten aus Pappstücken die jeweilige Gebirgskonstellation nachbilden. Die Experimente ergaben, dass die Kleinkinder so in ihren aktuellen Wahrnehmungsperspektiven gefangen waren, dass sie sich nicht vorstellen konnten, wie sich die jeweilige Szenerie von einem anderen Sehepunkt her aspektuell darbieten würde. Immer wieder unterstellten sie, dass die Puppe das gleiche sähe wie sie selbst. Erst im Alter von etwa acht Jahren war es den Kindern möglich, die eigene Wahrnehmungsperspektive gedanklich so zu transzendieren, dass sie eine realistische Vorstellung von dem entwickeln konnten, was eine Puppe von einem anderen Wahrnehmungsort tatsächlich sehen konnte. Erst in diesem Alter sind Kinder nach Piaget dann auch in der
23 24 25
J. Piaget, Sprechen und Denken des Kindes, 19763, S. 81. J. Piaget, a.a.O., S. 86-87. J. Piaget/B. Inhelder, Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde, 1971, S. 251ff.
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Lage, die Relationsbezeichnungen rechts und links bzw. vorn und hinten je nach Sehepunkt sachadäquat einzusetzen. Die Versuche Piagets zeigen sehr eindrucksvoll, dass bei Kindern auf der Entwicklungsstufe des intellektuellen Egozentrismus das relationale Vorstellungsvermögen noch unzureichend ausgebildet ist und dass bei ihnen noch ein unzureichendes Bewusstsein für die Bezogenheit konkreter Wahrnehmungsinhalte auf konkrete Sehepunkte vorliegt. So wie Kleinkinder sich selbst in der Regel als eigenständige Subjekte übersehen, so übersehen sie auch die Abhängigkeit der geistigen Wahrnehmungsinhalte von bestimmten Sehepunkten. Sie können reale oder geistige Räume noch nicht als Systemräume erfassen, die auf einen bestimmten Sehepunkt bezogen sind, sondern verstehen ihre räumlichen und geistigen Vorstellungen weitgehend als subjektfreie objektive Wahrnehmungen von Gegebenheiten an sich. Erst wenn Kinder ihre eigenen Vorstellungsinhalte metareflexiv transzendieren und in der Lage sind, sie auf ihre jeweiligen Konstitutionsbedingungen hin zu reflektieren, werden sie sich der Perspektivität ihrer eigenen Vorstellungen mehr und mehr bewusst und können diese dann auch kontrastiv von der anderer absetzen. Diese Grundstruktur macht es gleichwohl nicht unmöglich, dass auch schon Kleinkinder sich empathisch auf emotionaler Ebene in andere hineinversetzen können. Die Fähigkeit, sich gedanklich aus dem Egozentrismus konkreter Wahrnehmungen und Vorstellungen zu lösen und hypothetisch andere Sehepunkte einzunehmen, nennt Piaget Dezentrierung. Diese Fälligkeit ist eine grundlegende Voraussetzung für das relationale Denken, bei dem das eigene Ich nicht mehr der unreflektierte feste Ausgangspunkt der Weltbegegnung ist. Erst wenn diese Fähigkeit ausgebildet worden ist, können in Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen Subjekte und Objekte als eigenständige Größen hervortreten. Solange Kinder primär daran interessiert sind, die Welt direkt handlungsmäßig zu bewältigen, ist es für sie auch noch gar nicht so attraktiv, sich in die Wahrnehmungsperspektiven anderer hineinzuversetzen, weil dadurch ihre eigenen Denk- und Handlungsperspektiven in gewisser Weise relativiert und geschwächt werden. Eine Wahrnehmungsperspektive muss erst ausgestaltet und souverän gehandhabt werden, bevor ein Bedürfiiis besteht, sich andere zu erschließen. Erst wenn die Handlungsstrukturen der Kinder komplexer werden und die Antizipation von Denkperspektiven anderer Personen den eigenen Handlungserfolg verbessern können, stellt sich von selbst das Bedürfnis ein, das egozentrische Denken zu Gunsten eines perspektivischen zu überwinden. Insbesondere der Psychologe Flavell hat sich im Anschluss an Piaget und Wygotski intensiv mit dem Problem beschäftigt, welche Konsequenzen die wachsende Fähigkeit von Kindern zur Dezentrierung und zur Perspektivenvariation auf die Ausweitung und die Flexibilität von Kommunikationsprozessen hat. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme versteht er dabei zugleich als eine Fähigkeit zur Rollenübernahme. Wichtig ist dabei für ihn die These
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Piagets, dass Kinder in der Phase des egozentrischen Denkens Gefangene ihrer individuellen Perspektiven seien und dass das Verstehen des Denkens anderer bei Kindern nur in dem Maße gegeben sei, wie relativ identische kognitive Muster ausgetauscht würden. Erst nach und nach lernten die Kinder, ihre eigenen Vorstellungen und Wahrnehmungen im Lichte von denen anderer zu überprüfen. Die Fähigkeit, sich in die Standpunkte und Handlungsrollen anderer hineinzudenken, ist für Flavell eine entscheidende Grundvoraussetzung komplexer Kommunikationsprozesse. Wenn ein Sprecher seine Zeichenverwendung und Informationsstrukturierung optimal gestalten wolle, dann müsse er sich in das Denken seiner jeweiligen Hörer hineinversetzen können, um sich ein Bild von deren Informationsbedürfhissen machen zu können.26 Flavells Experimente zur Perspektiven- bzw. Rollenübernahme bei Kindern haben Piagets Thesen grundsätzlich bestätigt. So seien beispielsweise jüngere Kinder ziemlich unfähig gewesen, eine Geschichte, die ihnen in der Perspektive einer bestimmten Person erzählt worden war, aus der Perspektive einer anderen zu rekonstruieren. Ebenfalls große Schwierigkeiten hätten sie gehabt, Bildergeschichten so zu versprachlichen, dass auch diejenigen die Geschichten gut verstehen konnten, die die Bilder nicht vor Augen hatten. Jüngeren Kindern sei es schwergefallen, einer Bildergeschichte einen anderen Sinn zuzuordnen, als man einzelne Bilder aus ihr eliminiert hatte. Wenn sie einmal eine bestimmte Sinnperspektive konkretisiert und stabilisiert hätten, dann seien sie kaum in der Lage, sich selbst zum Ausgangspunkt ihres Verstehens zurückzubewegen und die Bilder versuchsweise in einen anderen Sinnzusammenhang zu bringen. Jüngere Kinder hätten auch große Schwierigkeiten, Geschichten so zu vereinfachen, dass sie dem sprachlichen und geistigen Fassungsvermögen jüngerer Geschwister angemessen wären, oder Reaktionen anderer Personen auf die Geschichten vorauszusagen, die sich von den jeweils eigenen unterschieden.27 In ganz ähnlicher Weise wie Flavell hat auch Mead betont, dass die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme die grundlegende Voraussetzung für die Ausbildung von Kommunikationsgemeinschaften sei. „Die Grenzen sozialer Organisationen sind in der Unfähigkeit von Individuen zu suchen, die Perspektive von anderen zu übernehmen, sich an ihre Stelle zu versetzen. "28
27 28
J.H. Flavell, Rollenübemahme und Kommunikation bei Kindern, 1975. J.H. Flavell, a.a.O., S. 112ff. G.H. Mead, Die objektive Realität von Perspektiven, in: H.-G. Gadamer/G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, 1978, S. 156.
3. Assimilation und Akkommodation Die Entfaltung und Differenzierung von Wahrnehmungsperspektiven für physische, soziale und geistige Tatbestände ist auf der individuellen und kulturellen Ebene im Prinzip ein unabschließbarer Prozess. Die einzelnen Realisationsfonnen perspektivischer Wahrnehmung haben zwar immer einen bestimmten geschichtlichen Stellenwert in der Entfaltung des menschlichen Denkens und Wahrnehmens, aber sie haben zugleich auch immer einen bestimmten systematischen Stellenwert im Rahmen der Interaktion menschlicher Lebewesen mit ihrer Umwelt. Piaget hat im Rahmen seines Konzeptes einer genetischen Erkenntnistheorie wohl am konsequentesten kognitive Prozesse aller Art als Prozesse der Anpassung eines Organismus an seine Umwelt gekennzeichnet und damit als Fortsetzung biologischer Adaptionsprozesse interpretiert. Kognitive Strukturen aller Art betrachtet er konsequent als Ergebnisse von Interaktionsprozessen zwischen einem Organismus und seiner Umwelt bzw. als Mittel, mit denen ein Gleichgewicht zwischen der Objekt- und der Subjektwelt hergestellt werden kann. Intelligenz versteht er dementsprechend als die Fähigkeit, Wahrnehmungsformen nach pragmatischen Bedürfnissen zu variieren. Das, was einem Individuum an Wirklichkeit erscheint, ist für ihn das Ergebnis von Interaktionsprozessen. Diese Grundüberzeugung hat zur Folge, dass Piaget weder die Außenwelt als objektive Realität noch das Ich als strukturierendes Subjekt zum Ausgangspunkt seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen machen kann, sondern nur das Zusammenspiel beider Gegebenheiten. Erkenntnistheoretisch interessant sind für Piaget alle Verfahren, mit denen die Subjekte Kontakt mit der Welt der Objekte bekommen können und auf erfolgreiche Weise operativ und kognitiv in die Welt hineingleiten. Dabei ist Piaget der festen Überzeugung, dass Objekte und Subjekte keine fest vorgegebenen Größen von Erkenntnisprozessen sind, sondern vielmehr Größen, die erst im Vollzug von Adaptions- und Interaktionsprozessen Gestalt gewinnen. Für die Aufklärung dieser Prozesse hat Piaget die ursprünglich oft nur biologisch verwendeten Begriffe Assimilation und Akkommodation übernommen. Damit bezeichnet er zwei fundamentale Aktivitätsformen des Denkens, deren antagonistisches Zusammenspiel und deren perspektivierende Kräfte seiner Meinung nach unser ganzes geistiges Leben prägen, das er im Prinzip als eine Fortsetzung des biologischen betrachtet. Mit dem Terminus Assimilation bezeichnet Piaget einen Typus von Wahrnehmungs- und Perspektivierungsprozessen, bei dem Phänomene von einem fest vorgegebenen Sehepunkt bzw. im Rahmen fest vorgegebener Wahrneh-
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mungsschemata hinsichtlich derjenigen Aspekte erfasst werden, die sich problemlos in das schon vorhandene Wissen integrieren lassen. Dabei kommt es gleichsam zu einer Einverleibung von Objekten auf der Basis einer selektiven Wahrnehmung. Alle Assimilationsprozesse haben deshalb eine immanente konservative Grundtendenz, insofern sie bewährte Ordnungsschemata nutzen und vertraute Wahrnehmungsstrategien stabilisieren. In den jeweiligen Wahrnehmungsprozessen werden die Außenweltreize weitgehend an die eigenen Wissensstrukturen angepasst. Was nicht dem eigenen Erwartungs- und Wissenshorizont entspricht, wird weggefiltert. Die Aufmerksamkeit wird auf das konzentriert, was unmittelbar auffällt bzw. pragmatisch wichtig ist. In der Phase des egozentrischen Denkens bestimmen Assimilationsprozesse weitgehend die Weltwahrnehmung von Kindern, insofern diese ihre Umwelt nach elementaren angeborenen oder nach pragmatisch-kulturell entwickelten Mustern objektivieren. Mit dem Terminus Akkommodation bezeichnet Piaget demgegenüber dann einen Typus von Wahrnehmungs- und Perspektivierungsprozessen, der entwicklungsgeschichtlich immer dann einsetzt, wenn die Assimilationsprozesse aus bestimmten Gründen nicht mehr reibungslos funktionieren oder wenn sie aus spielerisch-hypothetischen Motiven in Frage gestellt werden. Unter diesen Bedingungen beginnen die wahrnehmenden Individuen, ihre bisher verwendeten Wahrnehmungsschemata und Wahrnehmungsstrategien zu ändern, um mit Hilfe von neuen Sehepunkten und Perspektiven auf eine andere Weise in die Welt hineinzugleiten und wieder ein befriedigendes Gleichgewicht zwischen der Subjekt- und der Objektsphäre herzustellen. In Akkommodationsprozessen wird tendenziell die Objektwelt nicht der Subjektwelt angepasst, sondern umgekehrt die Subjektwelt der Objektwelt, insofern die Sehepunkte der Subjekte so verändert werden, dass nun auch diejenigen Aspekte der Objektwelt wahrnehmbar werden, die in den Assimilationsprozessen weggefiltert worden waren. Die Subjekte bemühen sich, ihre kognitiven Wahrnehmungsmuster so zu verändern, dass sie den neuen Wahrnehmungsintentionen besser entsprechen. Die Ergänzung der Assimilations- durch Akkommodationsprozesse hat weitreichende Implikationen fur das Denken, weil die eigenen Sehepunkte für die Welt nun nicht mehr als völlig selbstverständlich und natürlich angesehen werden können, sondern vielmehr als bewusst gewählte Gestaltungsfaktoren einer kognitiven Strategie in Erscheinung treten. Das bedeutet, dass sie auf einer Metaebene des Denkens selbst wieder zu Reflexionsgegenständen gemacht werden können. Auf diese Weise strukturiert sich das ganze Wahrnehmungssystem um, insofern sich nicht nur die verwendbaren Wahrnehmungsmuster differenzieren und vervielfältigen, sondern auch die wahrnehmenden Subjekte beginnen, sich bei der Ausbildung von Wahrnehmungsperspektiven ihrer selbst bewusst zu werden. Die Subjekte entdecken sich dabei selbst als strukturierende Kräfte und die Objekte als interpretierbare Größen mit mannig-
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faltigen Aspekten und vielfältigen relationalen Verknüpfungsmöglichkeiten. Da es für die Dinge nun unterschiedliche Objektivierungsmöglichkeiten gibt, kann keine einen absoluten Vorrang beanspruchen. Das bedeutet, dass das egozentrische Denken seine Basis verliert, wenn Akkommodationsprozesse einsetzen. Wichtig ist nun, dass für Piaget Akkommodationsprozesse die Assimilationsprozesse nicht grundsätzlich aufheben, sondern nur ergänzen. Das geistige Leben wird für ihn grundlegend durch die antagonistische Spannung zwischen beiden geprägt. In Assimilationsprozessen wird nämlich versucht, die Welt nach festen Schemata als stabile Gegenstandswelt zu objektivieren und damit auch übersichtlich zu machen. In Akkommodationsprozessen wird dagegen versucht, pragmatisch nicht mehr tragfähige Objektivierungen so zu verändern, dass sie wieder als verlässlich angesehen werden können. Das bedeutet, dass Assimilations- und Akkommodationsprozesse als intentional unterschiedlich ausgerichtete Perspektivierungsprozesse in ein dynamisches Fließgleichgewicht gebracht werden müssen, das seine Stabilität durch seine Flexibilität gewinnt. Assimilation und Akkommodation sind deshalb letztlich dialektisch voneinander abhängig, insofern in einem voll entwickelten geistigen Leben sich beide wechselseitig bedingen. „Jede Eroberung der Akkommodation wird also zum Material för Assimilationen, die sich jedoch unaufhörlich wieder neuen Akkommodationen widersetzen. "29 Der operative Antagonismus, die sachliche Komplementarität und die dialektische Verknüpfung von Assimilations- und Akkommodationsprozessen lassen sich sicherlich als Grundlage für die Entfaltung des geistigen Lebens in Individuen und Kulturen verstehen, weil sie verhindern, dass das Denken perspektivisch erstarrt. Nicht zufällig werden ja oft auch Naturvölker als geschichtslos bezeichnet, weil sie in bestimmten Formen und Traditionen der Weltassimiliation verharren und über Akkommodationsprozesse keine Variationen oder gar Alternativen dazu entwickeln. Im Laufe der Evolution hat sich die Fähigkeit der Menschen zu Akkommodationsprozessen immer mehr gefestigt und sich wohl auch genetisch über bestimmte neuronale Strukturen als ein Überlebensprinzip verankert, das freilich kulturell und sprachlich konkretisiert werden muss. Auch in diesem Sinne lässt sich dann von der Kultur als einer zweiten Natur des Menschen sprechen. Der Vorteil von kulturell verankerten Wahrnehmungsschemata und Wahrnehmungsperspektiven liegt darin, dass sie sehr viel leichter zu variieren sind als biologisch verankerte. Die Bereitschaft zu und das Ausmaß von Akkommodationsprozessen bzw. perspektivischer Flexibilität ist allerdings von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich.
29
J. Piaget, Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, 1974, S. 340.
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Im Hinblick auf den Wissenserwerb muss der Perspektivitätsgedanke mit der Vorstellung von prinzipiell unabschließbaren Assimilations- und Akkommodationsvorgängen verbunden werden, weil jedes perspektivisch konkretisierte Wissen nur mit anderem perspektivisch konkretisierten Wissen verglichen werden kann, aber nie mit einem absoluten Wissen oder gar der Realität selbst. Die Strukturen unserer Wirklichkeitsvorstellungen stehen deshalb in einer unaufhebbaren Korrelation mit den Strukturen unserer Wahrnehmungsprozesse bzw. mit der Art der Verknüpfung von Assimilations- und Akkommodationsprozessen. Es ist nun ganz offensichtlich, dass die Sprache bzw. Zeichensysteme aller Art eine fundamentale Rolle in Assimilations- und Akkommodationsprozessen spielen. Einerseits bieten Zeichen aller Art sozial stabilisierte und bewährte Wahrnehmungsschemata an, die die Subjekte für Assimilationsprozesse nutzen können. Andererseits müssen insbesondere universell nutzbare Zeichensysteme, wie etwa die natürliche Sprache, auch immer eine interne Wandlungsfähigkeit haben, um durch den flexiblen und metaphorischen Gebrauch von Zeichen bzw. durch die Entwicklung von neuen Zeichen auch Akkommodationsprozessen eine Konkretisierungschance zu geben. Die dialektische Spannung zwischen Assimilation und Akkommodation prägt natürlich nicht nur unser Denken, sondern auch unseren Sprachgebrauch. Bestimmte Ausprägungen der Sprache, wie etwa die Fachsprachen, begünstigen Assimilationsprozesse, während andere Ausprägungen, wie etwa die polyfunktionale natürliche Umgangssprache, Akkommodationsprozesse begünstigen, da in ihnen die immanente Perspektivität von Formen nicht so stringent geregelt ist. Nicht zufallig sind deshalb Paradigmenwechsel in den Wissenschaften auch immer mit Umbrüchen in der Fachterminologie verbunden. Innerhalb von Sprachsystemen zeigen grammatische Ordnungsformen wiederum eine größere Nähe zu Assimilationsvorgängen als lexikalische, insofern sie uns weithin als selbstverständlich und natürlich vorkommen, weshalb es uns auch schwer fällt, ihre immanente kognitive Perspektivität metareflexiv zu thematisieren. Das gelingt uns oft nur durch Sprachvergleiche. Eine gewisse Affinität zu Akkommodationsprozessen weisen dagegen ironische und metaphorische Redeweisen auf, die deshalb in Fachsprachen auch ziemlich verpönt sind, weil sie Denkperspektiven dauernd verwirbeln.
4. Schriftgebrauch und Perspektivität Wenn man die Kultur als zweite Natur des Menschen ansieht, dann ist offensichtlich, dass die Denkmöglichkeiten der Menschen sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch sehr eng mit den von ihnen entwickelten und genutzten Zeichensystemen verzahnt sind. Da auf die immanente Perspektivität sprachlicher Zeichen noch eingegangen wird, soll hier exemplarisch näher untersucht
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werden, wie sich die Perspektivitätsproblematik im Zusammenhang mit der Schriftproblematik darstellt, da die Schrift ja als ein besonders sprachnahes kulturelles Zeichensystem anzusehen ist. Die kulturelle Evolution von verschiedenen Schriftsystemen und die historische Entfaltung des Schriftgebrauchs hat sicher erheblichen Einfluss darauf, wie sich das perspektivische Denken sowohl in Kulturen als auch in Individuen konkret ausprägt. Das zeigt ein Vergleich der Denkformen in oralen und literalen Kulturen sehr deutlich. Solange man die Schrift nur als technisches Mittel ansieht, die gesprochene Sprache durch visuelle Zeichen zu fixieren, was von Aristoteles über de Saussure bis zu Bloomfield eine lange Tradition hat, wird man die Perspektivitätsimplikationen des Schriftgebrauchs sehr gering einschätzen. Wenn man allerdings die schriftlich verwendete Sprache als eine eigene Konkretisationsweise von Sprache neben der mündlich verwendeten ansieht, was heute in Fachkreisen üblich geworden ist, dann kommt man nicht umhin, die kognitiven und damit auch die anthropologischen Implikationen des Schriftgebrauchs näher zu untersuchen, obwohl es natürlich große Überschneidungsfelder zwischen dem mündlichen und dem schriftlichen Sprachgebrauch gibt. Dabei ist dann sowohl an diejenigen Perspektivitätsimplikationen zu denken, die aus den verschiedenen Schriftsystemen resultieren, als auch an diejenigen, die durch das Ausmaß des Schriftgebrauchs bedingt sind.
Die Schriftsysteme Von Schrift im eigentlichen Sinne lässt sich erst dann sprechen, wenn graphische Zeichen benutzt werden, um konkrete sprachliche Formen visuell zu repräsentieren, seien es nun die Begriffsinhalte oder die Lautgestalten bestimmter Wörter. Das Phänomen Schrift geht auf keine einmalige intentionale und konstruktive Erfindung zurück, sondern ist in seinen vielfältigen Ausprägungsformen gleichsam das evolutionäre Nebenprodukt von Verfahren zur Informationsfixierung und Informationsübermittlung. Im Rückblick erscheint es fast zwingend, dass die Schriftentwicklung bei der Buchstabenschrift als einem Schriftsystem von hoher Flexibilität und Effizienz endet, weshalb auch viele in dieser Ausprägungsform von Schrift ihr höchstes Entwicklungsstadium gesehen haben. Dieser Schluss ist aber keineswegs absolut zwingend. Die Buchstabenschrift ist sicher die fortgeschrittenste Form eines bestimmten Schriftprinzips, was aber keineswegs bedeutet, dass sie auch die höchste Form von Schrift überhaupt darstellt. Schriftsysteme lassen sich schwerlich nach einem einzigen Maßstab bewerten, sondern müssen in der Korrelation zu bestimmten kulturellen Funktionen und nach ihrer Angemessenheit für bestimmte Sprachtypen beurteilt werden. Die verschiedenen
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Schriftsysteme haben je unterschiedliche kognitive Implikationen und begünstigen je unterschiedliche Ausprägungsformen von Perspektivität. Die Vorformen der eigentlichen bzw. sprachbezogenen Schrift werden meist unter den Termini Semasiographie oder Inhaltsschrift zusammengefasst. Für diese Vorformen von Schrift ist typisch, dass sie versuchen, mit Hilfe von Gegenständen oder grafischen Konfigurationen einen Inhalt zu fixieren bzw. diesen über die Zeit- und Raumschranke hinweg anderen zu übermitteln, wozu sich bei den Beteiligten bestimmte Lesekonventionen für die jeweils verwendeten Elemente einspielen müssen. Die Informationsfixierung und Informationsvermittlung ist dabei relativ unscharf, weil die verwendeten Elemente keine sprachlichen Sinneinheiten repräsentieren, sondern vielmehr als Hinweiszeichen dazu verwendet werden, kraft Analogie und Konvention schon irgendwie vorhandene Vorstellungen zu aktivieren und zu selektieren. Obwohl diese Vorformen der Schrift noch nicht ganz spezifische Inhaltsvorstellungen zu repräsentieren versuchen und auch nicht ganz bestimmte Denkperspektiven konkretisieren, haben sie gleichwohl schon etwas mit der Perspektivitätsproblematik zu tun. Gerade weil mit dieser Technik Inhalte eher angedeutet als in konkreter Weise objektiviert werden, müssen die Zeichenproduzenten bestimmte 'Verschriftungsverfahren' für ihre Mitteilungsinhalte entwickeln, die für die jeweiligen Zeichenrezipienten 'lesbar' sind. Beide müssen sich in ihren Denkhorizonten wechselseitig aufeinander einstellen können, um die jeweils verwendeten Phänomene als semasiographische Informationsträger nutzbar machen zu können. Dadurch entsteht ein immanenter Zwang zu perspektivierenden Metareflexionen, der im mündlichen Sprachgebrauch nicht in demselben Ausmaß nötig ist, weil hier die Zuordnung bestimmter Informationen zu bestimmten Zeichenträgern sehr viel klarer geregelt ist. Ein sehr apartes Beispiel für eine solche quasi-schriftliche Kommunikationsweise mittels Dingen hat uns Herodot überliefert. Er berichtet uns, dass die Skythen einen Guerillakrieg gegen den in ihr Land eingefallenen Perserkönig Dareios geführt haben. Um Dareios weiter zu verunsichern, übersandten sie ihm eines Tages durch einen Boten einen Vogel, eine Maus, einen Frosch und fiinf Pfeile. Die Perser waren zunächst ratlos, was dieser 'Gegenstandsbrief zu bedeuten habe. Eine Versammlung wurde einberufen, auf der sich zwei Lesarten herauskristallisieren, die zugleich auch sehr unterschiedliche perspektivische Beurteilungen der aktuellen Kriegssituation verdeutlichen. „Die Meinung des Dareios war, die Skythen ergäben sich und brächten sinnbildlich Erde und Wasser; denn die Maus wohne in der Erde und nähre sich von Getreide wie der Mensch, der Frosch lebe im Wasser, der Vogel gleiche dem Ross und mit den Pfeilen übergäben sie ihre Kriegsmacht. " Im Gegensatz zu Dareios, der die Skythen schon vorher aufgefordert hatte, entweder zu kämpfen oder ihm als Zeichen der Unterwerfung Erde und Wasser zu übergeben, löst sich sein Ratgeber Gobryas aus dem Wunschdenken des Perserkönigs und versucht, den 'Gegenstandsbrief in der Denkperspektive der Skythen
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zu lesen, was dann zu folgender Lesart fuhrt: „ Wenn ihr euch nicht als Vögel zum Himmel erhebt, ihr Perser, oder wenn ihr euch nicht als Mäuse in die Erde verkriecht, oder wenn ihr nicht als Frösche in die Sümpfe springt, so treffen euch diese Pfeile, und ihr seht die Heimat nicht wieder. "30 Inhaltsschriften bzw. Semasiographien funktionieren nur, wenn sich die Beteiligten perspektivisch auf die Denkwelten und Mitteilungsintentionen anderer Menschen einstellen können. Je nach dem Situations- und Kulturgefälle zwischen den Beteiligten ist dafür eine mehr oder minder große Fähigkeit notwendig, sich auch von den eigenen Denkperspektiven lösen zu können. Aber selbst wenn das gelingt, bleiben Inhaltsschriften unpräzise bzw. vieldeutig und provozieren den Wunsch nach Zeichen, die möglichst direkt sprachliche Sinneinheiten repräsentieren und nicht nur Vorstellungsrichtungen andeuten. Bezeichnend ist nun allerdings, dass bei der Fortentwicklung der Schriftformen graphische Zeichen zunächst nirgends als Repräsentanten für sprachliche Lauteinheiten (Wörter, Silben, Töne) eingesetzt werden, sondern immer nur als Repräsentanten für sprachliche Sinneinheiten bzw. Begriffe. Deshalb wird im Hinblick auf die nächste Stufe der Schriftentwicklung auch von Begriffsschriften bzw. von Logographien gesprochen (sumerische Keilschrift, ägyptische Hieroglyphen, chinesische Schrift). Sie sind dadurch charakterisiert, dass versucht wird, mit graphischen Zeichen sprachliche Begriffseinheiten bzw. Worteinheiten zu repräsentieren, wobei mehr oder weniger ausgeprägte ikonische Repräsentationsstrategien eingesetzt werden. So wird in der ägyptischen Schrift beispielsweise der Begriff Sonne durch einen Kreis mit einem Punkt repräsentiert, der Begriff gehen durch zwei schreitende Beine und der Begriff kühl durch eine Vase mit herausfließendem Wasser.31 Die ikonische Repräsentationsweise ist im Laufe der Zeit abstraktiv vereinfacht und schematisiert worden, so dass die einzelnen Schriftzeichen später kaum noch kraft Analogie spontan zu verstehen waren, sondern nur noch mit Hilfe von Konventionskenntnissen. Im Hinblick auf die Perspektivitätsproblematik sind die Begriffsschriften in mehreren Hinsichten sehr interessant. Zunächst ist festzuhalten, dass sie nicht das Ziel hatten, Zeichen für Lauteinheiten zu entwickeln, sondern vielmehr bestrebt waren, Zeichen auszubilden, die ganz parallel zu Wörtern ebenfalls bestimmte Sachvorstellungen repräsentieren sollten. Das hat zur Folge, dass in Begriffsschriften der mediale Charakter von Schriftzeichen sehr viel weniger ins Bewusstsein tritt als in Laut- bzw. Buchstabenschriften. Ebenso wie im spontanen mündlichen Sprachgebrauch ist man auch im spontanen Begriffsschriftgebrauch psychisch meist direkt bei den thematisierten Sachen und ist sich kaum bewusst, dass wir uns diese Sachen mit Hilfe von Zeichen in 30 31
Herodot, Historien, 1963, 4. Buch, Kap. 132, S. 300. H. Jensen, Die Schrift in Vergangenheit und Gegenwart. 19693, S. 51ff.
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einer bestimmten Objektivierungsperspektive repräsentieren. Beim Gebrauch von Lautschriften ist eine solche Denkstruktur zwar auch möglich, aber gleichwohl tritt der Zeichencharakter der Schrift hier doch sehr viel klarer hervor. Genau betrachtet sind nun zwar auch Begriffe als vermittelnde Zeichen zu qualifizieren, weil sie als kulturelle Erfassungsschemata für die Welt anzusehen sind, aber ein solches Begriffs Verständnis ist auf frühen Bewusstseinsstufen meist noch nicht gegeben. Begriffe treten bewusstseinsmäßig nicht als pragmatisch motivierte Ordnungsraster mit einer spezifischen kognitiven Perspektivität hervor, sondern werden als natürliche Ordnungsformen empfunden. Erst als die Ikonizität der Schriftzeichen in den Begriffsschriften im Laufe der Zeit immer mehr verblasste und es sich mehr und mehr als notwendig erwies, interpretierende Metazeichen (Determinative) zu den Grundzeichen einzuführen, um die Zahl der Gesamtzeichen überschaubar zu halten, trat auch hier der Zeichencharakter und die Perspektivierungsfunktion der einzelnen Zeichen immer deutlicher hervor. Beispielsweise erwies es sich als nützlich, die Begriffe Pflug und Pflüger nicht durch eigenständige Zeichen zu repräsentieren, sondern durch ein Grundzeichen, das einmal mit dem Zeichen für Holz kombiniert wurde und einmal mit dem Zeichen für Mensch. Außerdem erwies es sich mitunter als vorteilhaft, über das Rebusverfahren den Lautwert eines Wortes zu repräsentieren, wenn der Sachinhalt sich ikonisch schlecht darstellen ließ. Dieses Verfahren wäre beispielsweise gegeben, wenn man das Zeichen für das Tier Gans zur schriftlichen Repräsentation des Wortes ganz einsetzen würde. In diesem Fall träte der mediale Charakter des rebusmäßig gebrauchten Schriftzeichens ganz deutlich hervor. Die Entwicklung von Silben- und Buchstabenschriften ist keine immanente Notwendigkeit des Schriftprinzips, sondern eine bestimmte Option, die sich unter bestimmten sprachtypologischen und historischen Rahmenbedingungen als sehr nützlich erwiesen hat, die aber gleichwohl auch wichtige Auswirkungen auf die Perspektivitätsproblematik zeitigt. Im Chinesischen hat sich beispielsweise die Begriffsschrift trotz aller Reformversuche in Richtung auf eine Buchstabenschrift erhalten, weil sie besonders gut zu der chinesischen Sprache passt, die als isolierende Sprache keine Flexionszeichen kennt, weil sie viele einsilbige Wörter besitzt, die im mündlichen Sprachgebrauch über die Variation des Tonverlaufs unterschiedliche Bedeutungen bekommen kann, und weil sie als überregionales Verständigungsmittel sehr brauchbar ist, insofern sie keine Rücksicht auf regionale Dialektvariationen nehmen muss. Die Tendenz zur Lautorientierung der Schrift hat sich historisch überall dort ergeben, wo ein Volk das Schriftsystem eines anderen übernahm und fiir seine Sprachstruktur partiell umgestalten musste. Das war insbesondere dann der Fall, wenn flektierende Sprachen Begriffsschriften übernahmen und es sich als höchst unpraktisch erwies, fiir jede grammatisch-morphologische Variante eines Wortes ein eigenes Schriftzeichen zu entwickeln. Unter diesen Umstän-
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den war es sehr sinnvoll, Schriftzeichen mehr und mehr an Lautwerten zu orientieren. Gleichsam ungewollt und vor der Schwelle einer bewussten Entscheidung wurde auf diese Weise ein neues Schriftprinzip eingeführt, das sich dann evolutionär bis zur Buchstabenschrift fortentwickelte. Die Umorientierung der Schrift von der Begriffs- zur Lautrepräsentation hat nun nicht nur die technische Handhabbarkeit der Schrift sehr vereinfacht, weil dadurch eine massive Reduzierung der Schriftzeichen möglich wurde, sondern auch das Sprachbewusstsein bzw. die Denkdispositionen der Schriftbenutzer umstrukturiert. Da Schriftzeichen nun Zeichen für Lautzeichen wurden, also Zeichen für Zeichen, wuchs die psychische Distanz zur Sprache und damit auch das Bewusstsein vom medialen Charakter der Schrift. Die Verwendung einer lautorientierten Schrift macht nämlich ständig analytische und synthetische Denkoperationen notwendig. Insbesondere der Gebrauch der Buchstabenschriften provoziert ständig Analyse- und Syntheseprozesse vorbewusster und bewusster Art. Buchstaben bzw. elementare Schriftzeichen (Grapheme) repräsentieren nämlich nicht bestimmte akustische Laute (Phone), sondern versuchen, die bedeutungsunterscheidenden Laute eines Lautsystems zu erfassen (Phoneme). Das hat zur Folge, dass beim Lernen und beim Verwenden einer Buchstabenschrift sehr komplizierte Differenzierungsoperationen zu realisieren sind, was noch dadurch erschwert wird, dass das graphematische und das phonologische System in keiner Schrift ganz deckungsgleich sind. Beim Gebrauch der Buchstabenschrift muss man nicht nur elementare akustische Schallstücke identifizieren und differenzieren, sondern auch den Stellenwert von Lauten und Lautvariationen innerhalb des Lautsystems einer Sprache erfassen und bestimmten Buchstaben und Buchstabenkombinationen zuordnen. Das führt in Schreibprozessen zu ständigen Analyseverfahren und in Leseprozessen zu ständigen Syntheseverfahren, selbst wenn man einräumen muss, dass diese Prozesse bei genügender Schulung weitgehend unterhalb der Schwelle bewusster Denkoperationen ablaufen. Humboldt hat schon sehr früh nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass die Buchstabenschrift das Gefühl für die innere Gliederung von Sprachsystemen insbesondere in den flektierenden Sprachen steigere, für die sie deshalb auch besonders angemessen sei. Für ihn vollendet die Buchstabenschrift im Gegensatz zur Begriffsschrift das generelle Aufgliederungsgeschäft der Sprache. „Die logische Theilung, welche die Gedankenverknüpfung auflöst, geht aber nur bis auf das einfache Wort. Die Spaltung dieses ist das Geschäft der Buchstabenschrift. Eine Sprache, die sich einer andren Schrift bedient, vollendet daher das Theilungsgeschäft der Sprache nicht, sondern macht einen Stillstand, wo die Vervollkommnung der Sprache weiterzugehen gebietet. "32
32
W. v. Humboldt, Werke, Bd. 3, S. 90.
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Auch Hegel hat die Buchstabenschriften im Vergleich zu den Begriffsschriften für die intellektuell anspruchsvolleren gehalten, weil sie in höherem Maße zur Analyse aufforderten bzw. zu metareflexiven Denkprozessen auf das Medium, mit dem die Sprache visuell objektiviert werde. „Es folgt noch aus dem Gesagten, daß Lesen- und Schreibenlernen einer Buchstabenschrift für ein nicht genug geschätztes, unendliches Bildungsmittel zu achten ist, indem es den Geist von dem sinnlich Konkreten zu der Aufmerksamkeit auf das Formellere, das tönende Wort und dessen abstrakte Elemente, bringt und den Boden der Innerlichkeit im Subjekte zu begründen und rein zu machen ein Wesentliches tut. "33 Ob die Buchstabenschrift wegen ihrer immanenten Aufforderung zu analytischen und synthetischen Denkoperationen einen prinzipiell höheren Rang als alle anderen Schriftsysteme hat, was insbesondere dann gerne behauptet wird, wenn man die flektierenden Sprachen als höchstentwickelte Sprachen preisen zu müssen glaubt, das sei dahingestellt. Diese Frage kann erst beantwortet werden, wenn man sich zuvor darauf verständigt hat, welcher Typ von Geist bzw. geistigen Operationen der höherrangige ist und ob bewusste analytische und synthetische Denkoperationen den intuitiven ganzheitlichen und bildlichen absolut oder nur im Hinblick auf bestimmte Zielsetzungen überlegen sind. Gleichwohl wird man sagen können, dass die Buchstabenschrift in Kombination mit anderen Faktoren einen bestimmten Typ geistiger Perspektivierungsanstrengungen besonders anregt und fordert. Gerade weil die Buchstabenschrift ständig analytische und synthetische Denkprozesse aktiviert, gewöhnt sie die Verwender habituell daran, Denkperspektiven schnell zu wechseln und die eigene Beweglichkeit und Akkommodationsfähigkeit zu steigern. Das wird im abendländischen Kulturkreis meist positiv bewertet, aber das muss keineswegs generell so beurteilt werden, wie die Überlegungen des Chinesen Chi Li aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts zeigen. Er unterscheidet zwischen den Alphabetbenutzern und den Hieroglyphenbenutzern und vergleicht auf dieser Grundlage die alphabetische Kultur des Abendlandes mit der chinesischen Kultur, wobei ihm allerdings Schrifttyp und Sprachtyp weitgehend miteinander verschmelzen. Für ihn ist die alphabetische Kultur durch einen Mangel an Beständigkeit und durch den Wankelmut der in ihr lebenden Menschen gekennzeichnet. „Gewiß kann dieses Phänomen zum Teil mit der außerordentlichen Flüssigkeit der alphabetischen Sprache erklärt werden, auf die man sich nicht als ein geeignetes Organ für die Aufbewahrung einer beständigen Idee verlassen kann. Die intellektuellen Inhalte dieser Völker können eher mit Wasserfällen und Katarakten verglichen werden als mit Seen und Ozeanen. Kein anderes Volk ist reicher an Ideen als
33
G.W.F. Hegel, Enzyklopädie, § 459, Werke, Bd. 10, S. 276.
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sie; aber auch kein anderes Volk ist so schnell bereit, seine wertvollen Ideen aufzugeben. Die chinesische Sprache ist in jeder Hinsicht das Gegenstück zu dem alphabetischen Sprachschatz. Ihr fehlen die meisten Vorzüge, die sich in alphabetischen Sprachen finden; aber als Verkörperung einfacher und endgültiger Wahrheiten trotzt sie jedem Sturm und Druck. Schon mehr als vier Jahrtausende schützt sie die chinesische Kultur. Sie ist beständig, ausgeglichen und schön, ebenso wie der Geist, den sie repräsentiert. Ob es der Geist ist, der diese Sprache geschaffen hat oder aber diese Sprache ihrerseits den Geist gebildet hat, ist eine Frage, deren Beantwortung noch aussteht."34
Es ist sicher überzogen, einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Schriftstruktur und Denkstruktur zu postulieren, da der Schrifttypus immer nur einer von vielen Bedingungsfaktoren ist, der auf die Struktur einer geistigen Welt einwirkt. Außerdem wäre auch zu klären, ob der Schrifttypus Ursache oder Folge einer bestimmten Denkstruktur ist bzw. ob es nicht vorteilhafter ist, interdependente Zusammenhänge anzunehmen, die dann eher am Evolutionsais am Kausalbegriff zu orientieren sind. Man wird aber sicher sagen können, dass die Struktur des in einer Kultur verwendeten Schriftsystems nicht ohne Einfluss auf den Typus von geistigen Prozessen ist, der für diese Kultur charakteristisch ist. Monokausale Erklärungen haben zwar ihren theoretischen Charme, sind aber in kulturellen Zusammenhängen meistens nicht sehr sachadäquat. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass die Gehirnforschung uns immer wieder deutlich gemacht hat, dass bestimmte kognitive Operationen, wie etwa das Wechselspiel von Analyse und Synthese, umso leichter fallen bzw. als umso selbstverständlicher angesehen werden, je mehr sie ständig praktiziert werden. Durch die frühzeitige und ständige Aktivierung bestimmter Denkmöglichkeiten bzw. neuronaler Erregungsmuster kommt es zur Ausbildung und Leistungssteigerung von bestimmten Kontaktstellen zwischen den einzelnen Neuronen (Synapsen). Dadurch entstehen bevorzugte Bahnungen für die Ausbreitung neuronaler Impulse, die wie Trampelpfade im Wald eine immanente Sogwirkung auf den Ablauf von kognitiven Aktivitäten ausüben. Das hat dann zur Folge, dass man bevorzugt so denkt, wie man schon vorher gedacht hat, und dass man im Alter strukturkonservativer denkt als in der Jugend, weil es zunehmend schwieriger wird, sich aus dem Sog der habituellen Vorbahnungen des Denkens zu lösen.35
34 35
Chi Li, 1922, zit. nach F. Coulmas, Alternativen zum Alphabet, in: Schrift, Schreiben, Schriftlichkeit, in: K.B. Günther und H. Günther, 1983, S. 171-172. Vgl. C. Bresch, Zwischenstufe Leben, 1977, S. 165ff.
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Die Implikationen des Schriftgebrauchs Die Fähigkeit zu Ausbildung, Fixierung und Variation von Denkperspektiven ist sicherlich allen Menschen gegeben. Die Menge und Spezifik der Kulturformen, in denen sich das Phänomen Perspektivität Ausdruck verschafft hat, und das Ausmaß, in dem von diesen Formen Gebrauch gemacht wird, ist aber von Kultur zu Kultur recht unterschiedlich. Eine nicht geringe Rolle spielt in diesem Zusammenhang sicher, ob es sich um eine oral oder literal verfasste Kultur handelt, denn in beiden spielt die Perspektivitätsproblematik eine je unterschiedliche Rolle. Diesbezüglich braucht man sich nur zu vergegenwärtigen, dass mit Hilfe der Schrift Sprachformen und Denkinhalte konserviert werden, die späteren Generationen nicht mehr spontan verständlich sind und für die sie dementsprechend neue Verstehensperspektiven entwickeln müssen. In literalen Kulturen gibt es in der Regel auch einen sehr viel größeren Wortschatz. Das bedeutet, dass im Prinzip sehr viel mehr kognitive Muster zur Verfügung stehen, was das Denken einerseits erleichtert, aber andererseits auch wieder stärker reguliert. Durch den massenhaften Druck von Büchern wird weiterhin das Problem des geistigen Eigentums aktuell, da nun Gedanken sehr eindeutig bestimmten Personen zugeordnet werden können, die auch das Recht beanspruchen, zitiert zu werden. In literalen Kulturen gibt es zudem sehr viel mehr Textsorten, für die je eigene Wahrnehmungsverfahren entwickelt werden müssen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass in literalen Kulturen Texte in sehr viel höherem Maße auf andere Texte antworten als in oralen, was beim Sinnverstehen dieser Texte natürlich ständig zu beachten ist.36 Goody und Watt37 haben in sehr erhellender Weise das Traditionsproblem in oralen Kulturen mit dem Begriff der Homöostase bzw. des Gleichgewichts beschrieben. In oralen Kulturen werde das kulturelle Erbe in sprachlichen Formen weitergegeben, die ständig dem aktuellen Sprachgebrauch und Verständnishorizont angepasst würden, so dass eine wirkliche sprachliche Fremdheit, abgesehen von rituellen Formeln, gar nicht entstehen könne. Auch die tradierten Inhalte und Denkformen würden im Tradierungsprozess ständig so umgestaltet und ausgesiebt, dass sie immer gut verständlich blieben. Das bedeutet, dass in oralen Kulturen sich bei der Überlieferung von Texten eigentlich nie das Phänomen der Fremdheit und Unverständlichkeit einstellt, das die Ausarbeitung anderer Wahrnehmungsperspektiven erforderlich macht. Alle Verstehensprozesse lassen sich weitgehend im Sinne der Assimilationsprozesse von Piaget verstehen, da jeder immer schon über diejenigen Wahrneh36 37
Vgl. W.J. Ong, Orality and literacy, 1982, S. 130ff. D.R. Olsen, The world on paper, 1994. J. Goody u.a., Entstehung und Folgen der Schriftkultur, 1986, S. 63ff.
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mungsperspektiven verfügt, die zum Verständnis der ihm begegnenden Phänomene notwendig sind. In literalen Kulturen ist dagegen diese Homöostase bei der Rezeption von Texten nicht mehr gegeben. Der Einzelne wird mit Sprech- und Denkformen konfrontiert, die ihm fremd bis unverständlich sein können. Er muss in Akkommodationsprozessen neue Wahrnehmungsperspektiven entwickeln, um die Sinnstrukturen von Texten erschließen zu können. Der Rezipient muss sich auf Fremdes und Vergangenes einstellen, ob er nun will oder nicht, weil die schriftliche Fixierung von Texten verhindert, dass der Segen des Vergessens einsetzt, der orale Kulturen so homogen macht. Oswald Spengler hat deshalb die Schrift als „ das große Symbol der Ferne " qualifiziert.38 Literale Kulturen verlieren auf ganz immanente Weise an innerer Homogenität und gewinnen dafür an Vielfältigkeit, weil jeder Einzelne sich mit Hilfe spezifischer Lektüren Wissensinhalte aneignen kann, die die anderen nicht besitzen. In oralen Kulturen verfügen dagegen alle Mitglieder über ein relativ ähnliches Wissen, weil sie als Hörer in höherem Maße denn als Leser soziale Wesen sind, die alle die gleichen Mythen hören, ob sie das nun wollen oder nicht. In literalen Kulturen verfügen die einzelnen Mitglieder über ein sehr unterschiedliches Wissen, da sie in der Regel auch Unterschiedliches gelesen haben. Deshalb sind hier die Menschen auch grundsätzlich anders disponiert, um mit Fremdheitserlebnissen perspektivisch fertig zu werden. Kritik, Skepsis und Metareflexionen sind daher in literalen Kulturen im Gegensatz zu oralen auch habitualisierte Denkformen. Grundsätzlich muss nun aber auch bedacht werden, dass es in literalen Kulturen hinsichtlich der Schrift auch eine gewisse Ambivalenz gibt. Einerseits fixiert man etwas schriftlich, weil man es für beständig hält oder weil man Spuren hinterlassen will, andererseits ist alles schriftlich Fixierte aber auch wiederum potenzielles Ziel der Kritik und der Negation. Beide Tendenzen stärken aber gleichwohl das perspektivische Denken in literalen Kulturen. Die sehr generellen Überlegungen von Goody und Watt sind durch Patricia Greenfield in Felduntersuchungen bei senegalesischen Wolofkindern mit und ohne Schreibfähigkeit bzw. Schulbildung präzisiert worden. Sie hat festgestellt, dass Wolofkinder ohne Schulbildung im Gegensatz zu denen mit Schulbildung und Schriftbeherrschung größere Schwierigkeiten haben, zwischen ihren Gedanken zu den Dingen und den Dingen selbst zu unterscheiden, und dass ihnen die Vorstellung von einem persönlichen Blickpunkt ganz fremd ist. Erst mit zunehmender Schulbildung wachse ihre Fähigkeit, dieselben Gegenstände nach unterschiedlichen Kriterien bzw. in unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.39
38 39
O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1963, S. 738. P. Greenfield, Oral or written language, Language and Speech, 1972, S. 173.
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Nun ist sicher zu beachten, dass die Fähigkeit zum flexiblen perspektivischen Wahrnehmen keine direkte Konsequenz des Schriftgebrauchs ist, sondern eher dadurch bedingt ist, dass in der Schule auf situationsabstrakte Weise mit Hilfe schriftlicher Texte vielfaltiges Wissen vermittelt wird. In diesem Zusammenhang sind Überlegungen wichtig, die die Psychologen Bruner und Olson im Hinblick auf die Herkunft und die Manifestationsweise von Wissen angestellt haben.40 Sie unterscheiden grundsätzlich zwischen dem Wissen, das unmittelbar aus der eigenen Handlungserfahrung der Menschen entspringt, und dem Wissen, das aus einer zweiten Praxis, der sogenannten Deuteropraxis, hervorgeht, die sich im Umgang mit den Zeichensystemen der jeweiligen Kulturen konstituiert, wobei natürlich der Umgang mit schriftlich fixierten Texten eine zentrale Rolle spielt. Über die Deuteropraxis fließt den Individuen ein Wissen zu, dass sie in ihrer ersten Praxis quantitativ und qualitativ gar nicht erwerben können, weil es das Produkt vieler Generationen und langwieriger Anstrengungen ist. Das in Zeichen manifestierte Wissen, das in der Deuteropraxis erworben wird, muss nicht nur kategorial und perspektivisch klarer geordnet sein als das aus der ersten Praxis, sondern auf dieses Wissen muss man sich auch sehr viel bewusster perspektivisch einstellen, wenn man es für das eigene Leben nutzbar machen will. Sein Stellenwert muss immer wieder metareflexiv thematisiert und präzisiert werden, wenn es den Zugang zur Welt erleichtern und nicht verstellen soll. Während beispielsweise Sancho Pansa durch sein Wissen aus der ersten Praxis mit konkreten lebenspraktischen Problemen recht gut fertig wird, hat Don Quichotte mit seinem Wissen aus der Deuteropraxis seiner Buchlektüre große Schwierigkeiten, in die reale Welt hineinzugleiten, weil er den Stellenwert seines Lektürewissens perspektivisch nicht richtig einschätzen kann. Das Wissen, das für die Deuteropraxis der Menschen in kulturellen Zeichensystemen konkretisiert wird und das in Form von schriftlichen Texten archiviert wird, muss stringent durchstrukturiert sein. Texte müssen sich weitgehend vom Textproduzenten und vom Situationskontext emanzipieren, um ohne Rückfragen aus sich selbst heraus verständlich zu sein. Das bedingt nicht nur eine sehr stringente Abfolge von Informationen, sondern auch eine besonders hohe grammatische Durchformung von Texten, um mögliche Missverständnisse schon im Keim zu ersticken. Hypotaktische Ordnungsstrukturen sind deshalb für schriftlich fixierte Texte ganz natürlich. Während in mündlichen Kommunikationssituationen die Auswahl und der Einsatz von Sprachmitteln weitgehend durch die Struktur der jeweiligen Situation bedingt ist und nur das gesagt werden muss, was sich nicht von selbst ergibt, muss beim Gebrauch schriftlich fixierter Texte die jeweilige Kommunikationssituation 40
J Bruner/D.R. Olson, Symbole und Texte als Werkzeuge des Denkens, in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 7,1974, S. 306-321.
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durch eine spezifische Verwendungsweise der Sprache erst selbst erzeugt werden. Wygotski hat die innere Struktur der Schriftsprache deshalb auf sehr erhellende Weise folgendermaßen charakterisiert. „Es ist eine auf die maximale Verständlichkeit fiir andere Personen gerichtete Sprache. Alles muß darin bis zu Ende gesagt werden. "4I Bühler hat betont, dass beim Übergang zum schriftlichen Sprachgebrauch die situationsverschränkte Nutzung der Sprache aufgegeben werden müsse; „es ist der Übergang vom wesentlich empraktischen Sprechen zu weitgehend synsemantisch selbständigen (selbstversorgten) Sprachprodukten. 'A1 In ganz ähnlicher Weise hat auch Ricoeur von der „semantischen Autonomie" schriftlich fixierter Texte gesprochen, die eine Sinnwelt für sich verkörperten und bei denen sich das „ Gesagte " weitgehend vom Prozess des ,£agens" löse.43 Die tendenzielle Loslösung des Gesagten von den Rahmenbedingungen des Sagens zwingt die Rezipienten dazu, eigene Wahrnehmungsperspektiven für Texte zu entwickeln, weil diese situativ nicht mehr so klar vorgegeben sind. Die Forderung nach der semantischen Autonomie eines Textes macht es dann auch sinnvoll, zwischen dem zu unterscheiden, was der Text uns prinzipiell sagen kann, wenn wir geeignete Wahrnehmungsperspektiven für ihn entwickeln, und dem, was ein Autor möglicherweise mit ihm sagen wollte. Wenn auf diese Weise schriftliche Texte als eigene Sinnwelten angesehen werden, an denen Interpretationsexperimente durchgeführt werden können, dann hat das natürlich weitreichende anthropologische und kulturgeschichtliche Konsequenzen. Die Textrezipienten werden gezwungen, ihre eigenen Wahrnehmungsperspektiven metareflexiv zu qualifizieren und sich dabei Rechenschaft über die Prämissen und Ziele des eigenen Denkens abzulegen. Die Idee eines semantisch autonomen Textes exemplifizieren vielleicht am besten fiktionale Texte, da bei ihnen am offensichtlichsten ist, dass sie trotz ihrer historischen Genese und Einbettung eigene Sinnwelten ohne direkten referenziellen Bezug zur real gegebenen Welt entwerfen wollen. Rosier hat auf überzeugende Weise darauf verwiesen, dass der Schriftgebrauch eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung der fiktionalen Literatur gewesen sei.44 Die mündlich überlieferte Literatur und insbesondere die großen Epen seien im Prinzip als Enzyklopädien anzusehen, in denen sich das ganze geschichtliche, religiöse, ethische, geografische und naturkundliche Wissen der Zeit manifestiert habe. Deshalb seien Dichtung und Wahrheit auch nicht als Gegensätze empfunden worden. Erst durch die Textsortendifferenzierungen im Gefolge des Schriftgebrauchs hätten sich dann Dichtungsformen
41 42 43 44
L.S. Wygotski, Denken und Sprechen, 1971, S. 227-228. K. Bühler, Sprachtheorie, 19652, S. 367. P. Ricoeur, Die Schrift als Problem der Literaturkritik und der philosophischen Hermeneutik, in: J. Zimmermann (Hrsg.), Sprache und Welterfahrung, 1978, S. 69 u. 67. W. Rosier, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, Poetica 12, 1980, S. 283ff.
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ausgebildet, die von vornherein keinen Anspruch auf eine Referenz zur empirischen Realität gestellt hätten, sondern nur eigene Sinnwelten entwerfen wollten, was den Dichtern dann auch schnell den Vorwurf eingebracht hätte, Lügen in die Welt zu setzen. Die Entstehung fiktionaler Texte, die eine bestimmte Wahrnehmungsweise erforderlich machen, ist für die Perspektivitätsproblematik mindestens aus zwei Gründen sehr wichtig. Zum einen wird bei der Rezeption fiktionaler Texte die Fähigkeit geschult, sich perspektivisch ganz auf die im Text vermittelten Informationen zu konzentrieren und andere Informationen methodisch auszuklammern bzw. auf sehr kontrollierte Weise in den Verstehensprozess einzuführen. Zum anderen erweist es sich als notwendig, den Wahrheitsbegriff im Hinblick auf die verschiedenen Textsorten zu differenzieren und fiktive Texte nicht nach denselben Maßstäben zu beurteilen wie historische oder naturkundliche Texte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Aristoteles in seiner Poetik nicht nur die Dichter vom Vorwurf der Lüge freispricht, sondern auch betont, dass die Dichtung etwas Philosophischeres sei als beispielsweise die Geschichtsschreibung, weil sie ebenso wie die Philosophie nicht auf das Besondere, sondern auf das Allgemeine Bezug nehme.45 Da schriftlich fixierte Sprache die situative Einbettung des Sprachgebrauchs und die sinnliche Qualität der Sprache reduziert, konzentriert sie den Blick auf den semantischen Gehalt von Texten. Gerade weil die Schriftzeichen sinnlich relativ karg sind, provozieren sie die Vorstellungskraft und stärken deshalb möglicherweise auch das Ich-Bewusstsein der Menschen. Havelock ist sogar der Auffassung, dass die Vorstellung einer individuellen Seele und die Entdeckung des denkenden Ich aus dem Verschwinden der oralen Kultur resultiere. Die schriftliche Fixierung von Gedanken habe es entscheidend erleichtert, zwischen der Person zu unterscheiden, die denke und etwas wisse, und dem Wissen, das gewusst werde.46 Prinzipiell gesehen sind natürlich alle Denkakte perspektivisch strukturiert. Aber solange die jeweiligen Denkperspektiven einen hohen Grad an Kollektivität haben, was in oralen Kulturen sicherlich der Fall ist, fällt das nicht weiter auf. Das dialektische bzw. perspektivische Denken des Sokrates ist deshalb sicherlich erst im Rahmen einer schon gegebenen Schriftkultur denkbar, obwohl Piaton dieses Denken sprachlich in Form von Dialogen, die die Illusion von Mündlichkeit nahelegen, objektiviert hat. Der Leseprozess ist in einem sehr viel höheren Maße als der Hörprozess als ein bewusstes Verfolgen von Spuren zu werten, nicht nur von Schriftspuren, sondern auch von Problemspuren oder individuellen Denkspuren. Das Hören und insbesondere das Hören epischer Gesänge ist im Gegensatz zum individuellen Lesen immer ein Sozialereignis, das in hohem Maße dazu be45 46
Aristoteles, Poetik, Kap. 9, 1451b, Ausg. von M. Fuhrmann, 1999, S. 29. E.A. Havelock, Preface to Plato, 1963, S. 197ff.
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stimmt ist, gemeinsame Denkhorizonte zu festigen. Das Verfolgen von Spuren (investigatio) ist dagegen ein analytischer Untersuchungsakt, bei dem man metareflexiv auch seinen Ausgangspunkt und seine Zielsetzung mit zu bedenken hat bzw. Haupt- und Nebenspuren zu unterscheiden hat. Schriftspuren sind in sehr hohem Ausmaß bewusst gesetzte Spuren, die dementsprechend auch auf sehr bewusste Weise verfolgt werden können. Je umfassender sich eine Schriftkultur entwickelt, desto differenzierter werden die Wissens- und Vorstellungswelten der einzelnen Menschen und desto individueller wiederum die einzelnen Denkprozesse. Das impliziert, dass auch das Lesen sich perspektivisch immer flexibler gestalten muss, um individuelle Denkspuren zu verfolgen und unterschiedliche Sinndimensionen von Texten zu erschließen. Die perspektivische Flexibilität des Wahrnehmens und Denkens in späten Kulturepochen ist anthropologisch nun allerdings nicht ohne Gefahr, insofern die Fülle der möglichen Sehepunkte es unmöglich macht, sich einem Sehepunkt ganz anzuvertrauen. Die mit der Schriftkultur verbundene Entwicklung zur Ausbildung des individuellen Denkens und der individuellen Identitäten kann in einen psychisch belastenden Polyperspektivismus umschlagen, der sich keiner Denkperspektive mehr anvertrauen kann. Die spätromantische Denkfigur von der Angst als dem Schwindel der Freiheit thematisiert sehr deutlich die Nähe des perspektivisch flexiblen Denkens zum Problem des Nihilismus. Übersehen darf man allerdings nun auch nicht, dass mit der Schrift auch eine Tendenz zur Systembildung und damit zu Formen der Erstarrung verbunden sein kann. Bürokratische, zentralperspektivisch organisierte Systeme sind ohne schriftlich verwendete Sprache nicht denkbar. Das zeigt sich insbesondere im Zusammenhang mit der schriftlichen Fixierung des Rechts in Gesetzen, die einerseits eine größere Rechtssicherheit gebracht hat, weil das Recht auf diese Weise immer schärfer durchsystematisiert worden ist und weil willkürlichen Rechtsentscheidungen vorgebeugt werden konnte, aber die andererseits auch die Gefahr gebracht hat, dass dem Buchstaben des Gesetzes gefolgt wurde und nicht dem Geist des Rechts. Schriftlich fixierte Gesetze können schnell anachronistisch werden, wenn sie Strukturordnungen konservieren, die der historischen Realität nicht mehr entsprechen. Das Präzedenzrecht oraler Kulturen ist so gesehen sehr viel flexibler als das fixierte Systemrecht literaler Kulturen.
III Perspektivität als erkenntnistheoretisches Problem Wenn man Perspektiven als Denkformen ansieht, durch die Subjekte konkreten Kontakt zu der Objektwelt bekommen, dann ist offensichtlich, dass die Kategorie der Perspektivität eine genuin erkenntnistheoretische Kategorie ist. Sowohl die Erkenntniskritik als auch die Methodenlehre müssen sich mit dem Perspektivitätsproblem auseinander setzen, weil geklärt werden muss, wie Wahrnehmungsperspektiven die Konstitution von Wahrnehmungsinhalten beeinflussen. Alle methodischen Verfahren der Erkenntnisgewinnung (Deduktion, Induktion, Abduktion, Analogiebildung, Phänomenologie, Hermeneutik usw.) können unter diesen Umständen als perspektivisch akzentuierte Erschließungsverfahren für die natürliche und kulturelle Welt betrachtet werden. Obwohl im Rahmen der Wissenschaft gern von einer voraussetzungslosen Forschung gesprochen wird, so kann das nicht heißen, dass die Forschung gar keine Voraussetzungen hat, sondern allenfalls, dass von keinen dogmatischen Voraussetzungen ausgegangen wird, dass alle Voraussetzungen soweit wie möglich thematisiert und hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit geprüft werden und dass die Ergebnisse der Forschung in Relation zu ihren Prämissen gebracht werden. Kurz gesagt: die Wissenschaft muss ständig in Wenn-DannRelationen denken. Es ist offensichtlich, dass eine solche Denkstruktur aufs Engste mit der Perspektivitätsproblematik verflochten ist. Hier kann es natürlich nicht darum gehen, die Erkenntnistheorie auf grundsätzliche Weise unter dem Leitbegriff der Perspektivität zu diskutieren. Gleichwohl kann aber dieser Problemhorizont nicht ausgeklammert werden, wenn es darum geht, die kognitive und kommunikative Perspektivität sprachlicher Formen herauszuarbeiten. Es wird deshalb versucht, die allgemeinen erkenntnistheoretischen Implikationen der Perspektivitätsproblematik für sprachtheoretische Überlegungen mit Hilfe von zwei unterschiedlichen Strategien exemplarisch zu untersuchen. In historischen Denkansätzen soll herausgearbeitet werden, wie sich das Bewusstsein von der Perspektivität unserer Erkenntnis immer klarer herausgebildet hat und wie dieses Problem schon vor der Einführung des Perspektivebegriffs in einer anderen Begrifflichkeit thematisiert und reflektiert worden ist. In systematisch orientierten Denkansätzen soll geklärt werden, welche Probleme sich ergeben, wenn man von der Perspektivität unserer Erkenntnis spricht bzw. von der immanenten Perspektivität sprachlicher Formen. Dabei wird von der Hoffnung ausgegangen, dass die historischen Analysen zugleich den Blick für die systematischen schärfen.
Piatons Höhlengleichnis als Perspektivitätsgleichnis
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1. Piatons Höhlengleichnis als Perspektivitätsgleichnis Das Höhlengleichnis, das Piaton Sokrates im Gespräch mit Partnern entwickeln lässt, wird üblicherweise als eine Verbildlichung des platonischen Erziehungsgedankens oder der platonischen Ideenlehre angesehen.1 Es lässt sich aber sehr wohl auch als eine parabolische Thematisierung der Perspektivitätsproblematik verstehen. Für diese Fragestellung ist es insbesondere deshalb so aufschlussreich, weil es das Perspektivitätsproblem nicht nur statisch über die Analyse der Strukturbedingungen des Wahrnehmens thematisiert, sondern auch dynamisch über die Verknüpfung der Wahrnehmungsproblematik mit der Handlungsproblematik im Rahmen eines umfassenden Erziehungsgedankens (Paideia). Außerdem ist es sehr interessant, weil es auf die Differenz zwischen visuellen und kognitiven Wahrnehmungen aufmerksam macht, wobei uns heute diese Differenz sicher nicht mehr so groß erscheint wie Piaton. Das Höhlengleichnis entfaltet sein Thema in drei großen Schritten. Zunächst wird eine spezifische Wahrnehmungssituation von Gefangenen in einer Höhle dargestellt. Dann wird die Entfesselung eines Gefangenen und sein Aufstieg aus der Höhle in die von der Sonne erhellte Außenwelt geschildert und die damit verbundenen neuen Wahrnehmungsmöglichkeiten. Schließlich wird über die Rückkehr des Gefangenen zu seinen ehemaligen Mitgefangenen in der Höhle spekuliert und über deren Reaktionen auf dessen Bericht von der Außenwelt. Die Situation in der Höhle stellt sich zunächst so dar, dass mehrere Menschen seit frühester Kindheit an einer halbhohen Mauer derart gefesselt sind, dass sie nur den Blick auf eine vor ihnen befindliche Wand frei haben. Diese beschränkte Wahrnehmungsperspektive können die Gefangenen aber nicht als solche erkennen, weil sie keine relativierende Alternative dazu haben. Hinter der halbhohen Mauer, an die die Gefangenen gefesselt sind, brennt ein Feuer; zwischen Feuer und Mauer werden Artefakte (Geräte, steinerne und hölzerne Abbilder von Gegenständen) so vorbeigetragen, dass sie über die Mauer herausragen und ihre Schattenbilder auf die gegenüberliegende Wand im Sehfeld der Gefangenen werfen. Die so erscheinende Schattenwelt halten die Gefangenen für die wirkliche Welt, weil sie durch ihre eingeschränkte Perspektive
1
Piaton, Politeia, 7. Buch, 514aff., Bd. 3, S. 224ff. Zum Höhlengleichnis vgl. Th. Ballauff, Die Idee der Paideia, 1952. W. Bröcker, Das Höhlenfeuer und die Erscheinung von der Erscheinung, in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Festschrift für H.-G. Gadamer zum 60. Geburtstag, 1960, S. 3142. W. Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, 1982, S. 219ff.
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Perspektivität als erkenntnistheoretisches Problem
nicht erkennen können, dass ihre Wahrnehmungswelt im Vergleich zur eigentlichen Welt nur eine dreifach gebrochene Erscheinungswelt ist. Was die Gefangenen faktisch sehen, ist nämlich weder die natürlich gegebene Welt noch die Schattenwelt von Originalen der natürlichen Welt, sondern nur die Schattenwelt von künstlich hergestellten Produkten mit Hilfe eines künstlichen Lichts, also die Abbildung einer Abbildung mit Hilfe eines artifiziellen Lichts. Die faktische Desorientierung der Gefangenen wird außerdem noch dadurch gesteigert, dass die Träger der Artefakte zum Teil sprechen und zum Teil schweigen und dass die Gefangenen das Echo dieser Reden fälschlicherweise als Reden von einzelnen Schattenbildern verstehen. Die Struktur der Höhlensituation exemplifiziert, dass die räumliche Fixierung eines Sehepunktes und die damit verbundene Fixierung einer bestimmten Wahrnehmungsperspektive zum Aufbau von Vorstellungen führt, die die tatsächlichen Verhältnisse inadäquat repräsentieren. Die Gefangenen gleiten zwar über ihre Wahrnehmungen in eine gegebene Welt hinein, aber sie können wegen ihrer eingeschränkten Wahrnehmungsperspektive nicht erkennen, dass sie es mit einer abgeleiteten Sekundär- bzw. Tertiärwelt zu tun haben und nicht mit der eigentlichen Primärwelt. Ihre unmittelbaren Sinneserfahrungen vermitteln ihnen kein zutreffendes Bild von der eigentlichen Wirklichkeit, weil sie nur Erscheinungen bzw. nur Erscheinungen von Erscheinungen registrieren können, aber nicht das, was diesen Erscheinungen zu Grunde liegt, nämlich die Originalobjekte. Es stellt sich unter diesen Rahmenbedingungen heraus, dass den einzelnen Sinneswahrnehmungen erst dann ein adäquater Stellenwert zugeordnet werden kann, wenn sie von einem anderen Sehepunkt her qualifiziert und ergänzt werden können. Offen bleibt zunächst allerdings noch, ob diese zusätzlichen Erfahrungen sich auf Sinneserfahrungen beschränken dürfen oder ob hier nicht auch Wahrnehmungsformen eines anderen Typs, etwa Be-griffe, Hilfestellung leisten müssen. Der bisher entwickelten Problemlage wird nun eine neue Dimension gegeben, als zur Debatte gestellt wird, was passiert, wenn man einen einzelnen Gefangenen entfesselt und ihn zwingt, aufzustehen und seinen Blick auch auf das zu richten, was bisher in seinem Rücken lag. In dieser neuen Wahrnehmungssituation, die logisch gesehen eine Metasituation zu der bisher gegebenen Grundsituation darstellt, ist der ehemalige Gefangene natürlich zunächst völlig desorientiert, weil ihm die Wahrnehmungssicherheit seines vertrauten Blickwinkels fehlt und damit die Grundlage seiner verfestigten Wirklichkeitsvorstellungen. Seine bisherige Welt gerät ihm ganz durcheinander, weil er nun alle Wahrnehmungselemente in neue Relationen einbetten muss und damit faktisch als neue Elemente wahrzunehmen hat. Das schon vorhandene Desorientierungsproblem wird dann noch durch die zusätzliche Annahme gesteigert, dass der ehemalige Gefangene zwangsweise aus der Höhle herausgeführt wird und nun die eigentliche Welt im Lichte der
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Sonne wahrnehmen muss. Erst jetzt kann er den Stellenwert bzw. die Defizite seiner bisherigen Wahrnehmungsinhalte richtig einschätzen bzw. die perspektivische Beschränkung seiner bisherigen Wahrnehmungen. Erst jetzt kann er zwischen der eigentlichen Welt und der Höhlenwelt, zwischen Originalen und Abbildern sowie zwischen den genuinen Phänomenen und den davon abgeleiteten Erscheinungen unterscheiden. Wenn man nun, wie oft üblich, das Höhlengleichnis als ein Gleichnis versteht, das uns darauf aufmerksam machen soll, dass die Ideenerkenntnis der Sinneserkenntnis weit überlegen ist bzw. dass wir im Lichte der Idee des Guten (Sonne) die eigentliche Welt erst richtig erfassen können, dann stellt sich dem aufmerksamen Leser in der Konsequenz des Gleichnisses gleichwohl schon die Frage, ob die Ideenwelt nicht auch eine Höhlenwelt ist, hinter der eine höherrangige Welt stehen könnte. Wenn man nun weiter in Betracht zieht, dass der Gefangene aus der Tageswelt wieder in die Höhlenwelt zu seinen ehemaligen Mitgefangenen zurückkehrt, dann offenbart sich eine weitere Dimension der Perspektivitätsproblematik. Einerseits wird deutlich, dass der Rückkehrer nicht mehr einfach zu seinen alten Wahrnehmungsperspektiven zurückkehren kann, weil ihm seine neuen Erfahrungen gedächtnismäßig präsent bleiben und ihm gestatten, seine Wahrnehmungsmöglichkeiten in der Höhle metareflexiv zu qualifizieren und hierarchisch zu stufen. Andererseits stellt sich heraus, dass seine ehemaligen Mitgefangenen nicht verstehen können, was ihnen ihr früherer Schicksalsgenosse von der eigentlichen Welt außerhalb der Höhle erzählt. Sie reagieren nicht neugierig, sondern aggressiv auf dessen Erzählungen und halten ihn in einem ganz wörtlichen Sinne für verrückt. Demjenigen, der unter großen Mühen gelernt hat, richtig zu sehen, wird paradoxerweise vorgeworfen, dass er mit verdorbenen Augen von oben zurückgekehrt sei und dass es sich nicht lohne, den Weg nach oben zu gehen. Man solle vielmehr alle umbringen, die auf diese Weise die vertraute Welt desavouieren. Es stellt sich heraus, dass der Wissende unter den Bornierten in eine soziale Isolation gerät, weil er allein schon durch seine bloße Existenz und seine bloßen Erfahrungen die Selbstsicherheit der anderen Gefangenen stört bzw. die traditionell stabilisierten Wahrnehmungsperspektiven, die dieser Gruppe Zusammenhang verleihen. Faktisch werden nur diejenigen Erkenntnisse als wahr akzeptiert, die intersubjektiv Anerkennung finden. Sokrates deutet den Entfesselungsvorgang im Höhlengleichnis im Prinzip als ein philosophisches Bildungsgeschehen, das den Aufstieg von der vorläufigen Sinneserfahrung zu der Welt der Begriffe und Ideen zeige, welche erst im Lichte der Idee des Guten (Sonne) voll erschlossen werden könne. Das Bildungsgeschehen ist faktisch gleichbedeutend mit dem Erwerb höherrangiger Wahrnehmungsperspektiven für die Welt. Im Höhlengleichnis wird dieser Perspektivenwechsel räumlich verbildlicht, der Sache nach wird er aber als ein Wechsel von sinnlichen zu geistigen Wahrnehmungsperspektiven verstanden. Die sinnliche Wahrnehmung muss in eine geistige übergehen, wenn man in die
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eigentliche Welt hineingleiten will. Diese ist nicht die Welt der empirisch fassbaren Erscheinungen, sondern die Welt der Ideen, die die sinnlich fassbare Welt erst so ermöglicht, wie ein Siegel Siegelbilder ermöglicht. Der Vorstoß aus der Welt der sinnlichen Wahrnehmungen in die Welt der geistigen Wahrnehmungen bzw. aus der Welt der Empirie in die Welt der Ideen ist für Piaton ein qualitativer Sprung, der sich nicht von selbst ergibt und der von den Menschen auch nicht immer selbst angestrebt wird, sondern der im Bildungsgeschehen mitunter auch durch einen äußeren Zwang provoziert werden muss (Entfesselung). Vielfach ist dieser Sprung so interpretiert worden, dass die sinnliche Erfahrung von Natur aus perspektivisch gebunden und damit einseitig und fragmentarisch sei, während die philosophische Erkenntnis perspektivisch nicht eingeschränkt sei, da es ja der Sinn von Begriffen sei, nicht die zufälligen Außenaspekte der Phänomene zu erfassen, sondern ihr substanzielles Wesen. Die Hoffnung, dass Begriffe bzw. Ideen die Perspektivität unserer Erkenntnis grundsätzlich aufheben könnten, ist aber spätestens seit dem Nominalismus irreal geworden. Heute werden wir einräumen müssen, dass Begriffe das Perspektivitätsproblem nicht aufheben, sondern nur verschieben, insofern auch Begriffe nur als spezifische kognitive Denkformen gelten können, die uns helfen, auf eine ganz bestimmte Weise Kontakt mit der Welt zu bekommen. Für Piaton scheinen dagegen richtig konzipierte Begriffe bzw. Ideen Endstufen der Erkenntnis repräsentiert zu haben, die nicht relativ auf bestimmte Sehepunkte sind und die deshalb Erkenntnisanstrengungen auch abschließen können. Es spricht nun allerdings für die ikonische Qualität des Höhlengleichnisses, dass es zwar so verstanden werden kann, dass Erkenntnisprozesse unter dem Licht der Sonne bzw. mit Hilfe der Idee des Guten abgeschlossen werden können, dass es aber strukturell gleichwohl so konzipiert ist, dass auch dieses Verständnis noch transzendiert werden kann. Wenn nun schon der Erkenntnisweg von der Wahrnehmung der Schattenbilder über die der Artefakte bis zu denen der realen Welt führt, warum sollte er nicht zu weiteren Erkenntnisstufen führen, die wir uns allerdings vorerst ebenso wenig imaginieren können wie die Gefangenen die Welten hinter ihren unmittelbaren sinnlichen Eindrücken. Der Bildungsvorgang bzw. der Erkenntnisweg, den Piaton im Höhlengleichnis thematisiert, hat drei charakteristische Merkmale. Diese werfen ein bezeichnendes Licht auf die anthropologischen, sozialen und genetischen Probleme, die mit der Veränderung von Wahrnehmungsperspektiven bzw. mit der Perspektivitätsproblematik verbunden sind. Erstens wird der Erkenntnisprozess als ein Vorgang der Entfesselung von erstarrten Wahrnehmungstraditionen und verfestigten Wahrnehmungsbedingungen verstanden, für die der entscheidende Anstoß nicht aus dem eigenen Antrieb der Wahrnehmungssubjekte erfolgt, sondern durch äußere Einflüsse bzw. durch die Konfrontation mit neuen Wahrnehmungsbedingungen. Die
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Entfesselung wird von den Beteiligten subjektiv zunächst eher als lebensfeindlich denn als befreiend und lebenssteigernd empfunden, weil dadurch ihre vertraute Welt wenn nicht negiert, so doch entscheidend relativiert wird. Was bisher als seiend angesehen wurde, erscheint nun als nicht-seiend bzw. als seiend in einem abgeleiteten Sinne. Je mehr sich die einzelne Wahrnehmungsperspektiven gegenseitig stützen und sich zu einem Wahrnehmungssystem ausbauen, als desto bedrohlicher wird es empfunden, einzelne Wahrnehmungsperspektiven aufzuheben und zu verändern. Die Beharrungskraft von Ideologien aller Art legt dafür ein beredtes Zeugnis ab. Zweitens wird der Aufbau neuer Wahrnehmungsperspektiven nicht nur als eine verbesserte Möglichkeit zur Interpretation von Einzelerfahrungen verstanden, sondern zugleich auch als ein sozialer Prozess der Individualisierung bzw. der Isolation. Der Einzelne kann redlicherweise nicht mehr einfach in seine alten Denkperspektiven zurückkehren, wenn er umfassendere kennen gelernt hat, und er entfremdet sich deshalb notwendigerweise von denen, die diesen Weg nicht mitgegangen sind. Drittens zeigt sich, dass der Aufbau von adäquaten Wahrnehmungsperspektiven nicht an einem absoluten Nullpunkt beginnt, sondern sich so gestaltet, dass ein inadäquates Vorwissen überwunden und korrigiert wird. Der Erkenntnisweg wird zu einem Weg der Desillusionierung, bei dem auf jeder neuen Stufe die Konstitutionsbedingungen des Wissens auf der vorhergehenden Stufe durchschaut werden. Die einzelnen Wissensinhalte werden also nicht nur additiv vermehrt, sondern auch in immer umfassendere Formen eingebettet. Wichtig ist dabei, dass die Erkenntnissubjekte nicht in einer rein kontemplativen Grundhaltung verharren dürfen, die im Prinzip mit fixierten Sehepunkten verbunden ist, sondern dass sie eine räumliche und geistige Beweglichkeit entwickeln müssen, durch die sie sich neue Aspekte der Welt erschließen können. Aus heutiger Sicht lässt sich das platonische Höhlengleichnis durchaus so verstehen, dass der Prozess der Erkenntnisgewinnung bzw. der Prozess der Entwicklung neuer Wahrnehmungsperspektiven keinen natürlichen Abschluss findet, insofern er im Prinzip unendliche Transformations- und Steigerungsmöglichkeiten impliziert. Er kann nur methodisch, aber nicht sachlich beendet werden, weil es prinzipiell möglich ist, zu jeder konkret gesetzten Wahrnehmungssituation eine interpretierende Metasituation zu entwickeln, in der die Bedingungen der Wahrnehmung und Sinnkonstitution auf den vorangegangenen Stufen qualifiziert werden können. Das bedeutet, dass mit dem Perspektivitätsgedanken erkenntnistheoretisch im Prinzip eine unendliche Dynamik verbunden ist, deren Ende auf keiner Stufe dieses Prozesses selbst festgestellt werden kann. Diese Überlegungen sind nun allerdings nicht mehr als platonisch anzusehen, sondern müssen als neuzeitlich verstanden werden. Am konsequentesten sind sie wohl in der Semiotik von Peirce auch zeichentheoretisch
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untermauert worden. Es spricht aber für den ikonischen Wert des Höhlengleichnisses, dass es diese antiplatonische Interpretation ermöglicht. Das Problem der Erkenntnis bzw. der Perspektivität wird im Höhlengleichnis im Kontext des Sehvermögens exemplifiziert, das bei Piaton neben der optischen auch eine kognitive Dimension hat. Keine direkte Aufmerksamkeit wird in diesem Gleichnis der Sprache geschenkt, obwohl die einzelnen Sprachsysteme und Sprachmittel als Medien intersubjektiver Objektivierung von Wahrnehmungen und Vorstellungen ähnlich wie räumliche Positionen eine vorstrukturierende Funktion für die Formierung und Akzentuierung von Denkinhalten haben. Die Fesselung oder zumindest die mediale Gebundenheit des Denkens an die Sprache war für Piaton und die klassische griechische Antike allerdings noch kein Thema, weil dafür die nötige Distanz zur griechischen Muttersprache noch fehlte. Diese stellte sich erst ein, als im Zeitalter des Hellenismus und der Stoa Denker semitischer Muttersprachen die Traditionen des griechischen Denkens fortführten. Da sie gleichsam von außen in die Höhle der griechischen Sprache und des griechischen Denkens eindrangen oder sich zumindest konkrete Alternativen zu dieser Höhle leichter vorstellen konnten, gelang es ihnen eher, die immanente kognitive Perspektivität der griechischen Sprache und Denkformen zumindest ansatzweise zum Problem zu machen. Der Gedanke, dass sich in sprachlichen Formen eine spezifische kognitive Perspektivität manifestiert, hat sich von der Spätantike über das Mittelalter mehr und mehr entfaltet. Piatons Höhlengleichnis hat dabei durchaus als Katalysator gewirkt, wie die offensichtlich durch Piaton inspirierte Idolenlehre von Francis Bacon aus dem 17. Jahrhundert zeigt.2 In ihr versucht Bacon, die verschiedenen Typen von Vorurteilen kategorial zu ordnen, wobei er im Prinzip schon das Perspektivitätsproblem als erkenntnistheoretisches Problem thematisiert hat, wenn auch nur im Hinblick auf seine negativen Implikationen. Neben den Vorurteilen, die ihre Grundlage in der unvollkommenen Erkenntnisfähigkeit der menschlichen Natur haben (Idole der Gattung), den Vorurteilen, die aus inadäquaten Theorien resultieren (Idole des Theaters), nimmt er einerseits auch noch Vorurteile an, die ihre Grundlage in den spezifischen räumlichen und geistigen Standpunkten der einzelnen Menschen haben (Idole der Höhle), und andererseits Vorurteile, die aus den spezifischen gesellschaftlichen Konventionen und insbesondere den Sprachkonventionen resultieren (Idole des Marktes). Es ist nun ganz offensichtlich, dass alle die von Bacon thematisierten Vorurteile auf genuine Weise mit dem Perspektivitätsproblem in seinen verschiedenen Ausprägungsformen verknüpft sind, insofern alle Wahrnehmungsprozesse einem Leibapriori, einem Theorieapriori, einem Situationsapriori und einem Zeichenapriori unterliegen.
2
F. Bacon, Neues Organon, 1830/1981, S. 32ff., § 38 ff.
Das analogische Denken
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Im Rahmen der hier thematisierten Problemstrukturen sind natürlich insbesondere die Idole des Marktes bzw. der Zeichen interessant. Es wäre zu fragen, ob wir in unserer Muttersprache bzw. in unseren lexikalischen und grammatischen Ordnungsformen sowie in unseren Sprachverwendungsstilen und Jargons nicht auch wie in einer Höhle eingeschlossen sind. Diese Höhle garantiert uns einerseits gemeinsame Grunderfahrungen und damit auch einen gewissen Gruppenschutz mit sozialer Wärme, sie ermöglicht uns andererseits aber auch nur eine reduzierte Wirklichkeitserfahrung. Außerdem stellt sich die Frage, ob und wie wir diese Höhle verlassen können. Muss dafür der Anstoß von außen kommen oder kann er in Form von Neugier, Spieltrieb und metaphorischem Sprachgebrauch auch von innen herkommen? Erweitern wir unsere Höhlen, wenn wir andere Sprachen lernen oder tauschen wir sie nur aus?
2. Das analogische Denken Als eine wichtige Manifestationsform der Kategorie Perspektivität lässt sich das analogische Denken ansehen, das auch als allegorisches, bildliches oder symbolisches Denken bezeichnet wird bzw. im semiotischen Sprachgebrauch als ikonisches Denken. Es hat im Mittelalter eine ganz besondere Wirksamkeit entfaltet, weil es hier mit sehr bedeutsamen ontologischen und religiösen Implikationen verbunden war, die sich im Rahmen der Lehre von der Analogie des Seins (analogia entis) konkretisieren lassen. Diese Implikationen sind uns heute sicherlich etwas fremd geworden, aber das schließt keineswegs aus, dass das Analogieprinzip als Perspektivierungsprinzip auch heute noch einen prägenden Einfluss auf unsere Denkprozesse hat.
Das Analogieprinzip Das Analogieprinzip ist ein unverzichtbares Grundprinzip aller kognitiven Operationen bzw. eine kognitive Universalie, die auch die ärgsten Empiristen nicht aus der Welt schaffen können. Das dokumentiert sich schon auf einer sehr elementaren Stufe des Denkens, nämlich bei der Bildung von Begriffen, worauf im Zusammenhang mit der Sprachproblematik noch näher eingegangen werden soll. Die Welt lässt sich von uns kognitiv nur dann bewältigen, wenn wir ihre Komplexität in Abstraktionsprozessen so vereinfachen, dass wir für bestimmte Denk- und Handlungsprozesse Ungleichartiges für gleichartig ansehen. Aus pragmatischen Gründen müssen wir Sehepunkte festlegen, die es uns gestatten, an den empirischen Phänomenen bestimmte Aspekte als relevant und konstitutiv hervorzuheben und andere auszublenden, um diese Phänomene nach Klassen ordnen zu können. Dabei laufen wir allerdings Gefahr, Un-
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gleichartiges nicht nur hinsichtlich bestimmter Aspekte für gleichartig zu erklären, sondern Ungleichartiges sogar für identisch anzusehen. Erkenntnistheoretisch können wir die Analogie als eine Ahnlichkeitsrelation zwischen zwei Größen qualifizieren, die in Wahrnehmungs- und Denkprozessen eine heuristische Funktion hat, da sie es gestattet, Unbekanntes strukturell über Bekanntes zu erschließen. Bereits bewährte Wahrnehmungsperspektiven werden auf neue Wahrnehmungsobjekte angewandt, um an ihnen vertraute Aspekte zu entdecken, die sie für schon vorhandene Denkinhalte und Denkstile assimilierbar machen. Das Analogieprinzip ist kein Königsweg zur nackten Wahrheit, aber ein Mittel, um im Neuen Bekanntes wiederzufinden bzw. um in einen hermeneutischen Zirkel hineinzukommen. Goethe hat die kognitive Fruchtbarkeit des Analogiedenkens ausdrücklich hervorgehoben, da sie das Denken in Fluss halte. In ihm stößt man nämlich nicht nur auf positive Analogien, sondern auch auf negative bzw. auf Unähnlichkeiten, die zu Akkommodationsprozessen zwingen. „Nach Analogien denken ist nicht zu schelten: die Analogie hat den Vorteil, daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will; dagegen die Induktion verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Falsches und Wahres mit sich fortreißt. " 3 Die heuristischen Funktionen des analogischen Denkens haben für Goethe eine verlässliche integrative Wirkung, da es dafür seiner Meinung nach eine ontische Basis gibt. „Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet. 'A Mit dieser Argumentation bewegt sich Goethe in einer ontologischen Denkbahn, die sich über das Mittelalter bis in die Antike zurückverfolgen lässt. Als erster soll Empedokles das Prinzip formuliert haben, dass Gleiches nur durch Gleiches erfasst werden könne.5 Piaton und Plotin haben dieses Prinzip thematisiert und Goethe hat es in seiner Farbenlehre folgendermaßen formuliert:
3
4 5
J.W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen, Hamburger Ausg., Bd. 12, S. 368-369. Vgl. auch Bd. 8, S. 296. J.W. v. Goethe, a.a.O., S. 368. Vgl. W. Capelle (Hrsg.), Die Vorsokratiker, 1968, S. 236. A. Schneider, Der Gedanke der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches in antiker und patristischer Zeit, in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 1923, Supplement II, S. 65-76.
Das analogische Denken
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„War nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken? Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken?"6
Erkenntnistheoretisch lassen sich zwei Dimensionen des Analogieprinzips unterscheiden. Einerseits kann es so verstanden werden, dass Wahrnehmungsobjekte und Wahrnehmungssubjekte bzw. Wahrnehmungsorgane in der Weise analog zueinander sein müssen wie das Schloss und der Schlüssel. Andererseits kann es so verstanden werden, dass verschiedene Erkenntnisobjekte in gewissen Hinsichten eine analoge Grundstruktur bzw. analoge Aspekte haben können, so dass die Erkenntnis des einen Objekts auch die Erkenntnis eines anderen Objekts fördern kann. Im neuzeitlichen Denken möchte man die Analogie von Objekten kaum noch im Wesen der Objekte selbst bzw. auf einer ontischen Ebene verankern. Diesem Denken liegt es näher, die Analogie auf der Ebene der konventionalisierten Wahrnehmungsweisen bzw. auf einer ontologischen Ebene zu fundieren. Das Analogieprinzip bekommt dadurch heuristisch gesehen einen ausgeprägt hypothetischen Charakter, weil es weniger dazu dient, die innere Ähnlichkeit von Objekten festzustellen, sondern eher dazu bestimmt ist, auf operative Weise pragmatisch nützliche Ähnlichkeiten aufzudecken. Wie weit sich die postulierten Analogisierungen rechtfertigen lassen, bildet dann ein Problem, das erst nachträglich diskutiert werden muss. Metaphorische, parabolische und allegorische Redeweisen bezeugen, dass wir uns komplexe, unsinnliche oder neuartige Sachverhalte ganz selbstverständlich mit Hilfe von Vorstellungsbildern für Bekanntes bzw. SinnlichÜberschaubares erschließen, also mit Hilfe von Analogisierungen. Dabei greifen wir nicht nur auf offensichtliche Analogien zurück, sondern postulieren zuweilen auch Analogien, um zu prüfen, ob solche Interpretationshypothesen heuristisch fruchtbar sind. Während wir heute Analogisierungen weitgehend als heuristisches Verfahren der Erkenntnisgewinnung verstehen, gab es im mittelalterlichen Denken eine starke Tendenz, die Analogie als ontisches Strukturprinzip zu verstehen, was die scholastische Lehre von der analogia entis klar bezeugt.
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J.W. v. Goethe, Zur Farbenlehre, Hamburger Ausg., Bd. 13, S. 324.
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Perspektivität als erkenntnistheoretisches Problem
Das analogisierende Denken im Mittelalter Die Lehre von der Analogie des Seins repräsentiert ein Wahrnehmungskonzept von Welt, das uns heute recht fremd geworden ist, das aber die religiösen, philosophischen und ästhetischen Denkformen des Mittelalters tief geprägt hat und das deshalb auch als eine besondere Form der Kontaktaufnahme mit der Welt gewürdigt werden muss. In vielen Hinsichten kann diese Wahrnehmungsweise von Welt als ein Gegenmodell zur zentralperspektivischen angesehen werden, insofern sie ähnlich wie das aspektivische Denken nicht den Sehepunkt und die Wahrnehmungsinteressen des Subjekts zur Grundlage der Wahrnehmungstheorie macht, sondern die Eigenschaften der Wahrnehmungsobjekte, die das Wahrnehmungssubjekt nötigen, bestimmte Sehepunkte einzunehmen, um die jeweiligen Objekte richtig erfassen zu können. Der Grundgedanke der Lehre von der Analogie des Seins, die ihre Wurzeln in der aristotelischen Metaphysik, dem christlichen Schöpfungsglauben und der Emanationslehre Plotins hat und die von Thomas von Aquin und seinem Kommentator Cajetan systematisiert worden ist, besteht in der Grundauffassung, dass das Sein ein steigerungsfähiges Phänomen sei und dass alles Seiende in unterschiedlicher Intensität an einer Grundsubstanz bzw. an einem absoluten Sein teilhabe. Religiös gesprochen heißt das, dass alles Geschaffene auf seinen Schöpfer verweist, weil es aus dessen Sein hervorgegangen ist, wobei die Stufen des Mineralischen, Animalischen, Humanen und Geistigen Steigerungsstufen zu Gott als dem Sein schlechthin darstellen. Gott teilt sich so gesehen allem Geschaffenen in unterschiedlicher Intensität mit (communicatio) und alles Geschaffene hat in unterschiedlicher Intensität an seinem Sein teil (participatio). Das bedeutet, dass alles Existierende prinzipiell vertikal und horizontal aufeinander verweisen kann bzw. Bild oder ikonisches Zeichen füreinander sein kann. Physisches kann auf Physisches und Geistiges verweisen und Geistiges auf Geistiges oder Physisches.7 Das ontologische Konzept von der Analogie des Seins ist für die Perspektivitätsproblematik vor allem aus zwei Gründen interessant. Einerseits hierarchisiert es die in der Welt vorkommenden Phänomene nach ihrem Anteil am absoluten Sein und legt somit die Ziele von Erkenntnisprozessen fest bzw. die Perspektive, in der Phänomene hinsichtlich ihres Wesens am besten zu erfassen sind. Bestimmte Aspekte bzw. Eigenschaften von Dingen (proprietates)
7
Vgl. H. Rombach, Substanz, System, Struktur, Bd. 1, 1965, S. 57. E. Heintel, Transzendenz und Analogie, in: H. Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion, W. Schulz zum 60. Geburtstag, 1963, S. 267-290. W. Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie, 1971, S. 18Iff. Ε. Pizywara, Analogia entis, Schriften, Bd. 3, 1962.
Das analogische Denken
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werden als besonders relevant hervorgehoben, weil sie Analogien in anderen Seinsbereichen haben. Andererseits gestattet es dieses Konzept, Sinneserfahrungen bzw. physische Phänomene ganz selbstverständlich zum Ausgangspunkt von geistigen Wahrnehmungsprozessen zu machen, weil sie ja kraft Analogie auch auf geistige und spirituelle Phänomene verweisen können. Empirische Gegebenheiten können auf ganz selbstverständliche Weise als Bilder, Symbole bzw. ikonische Zeichen für die geistige Welt fungieren, ohne allerdings mit dem zu verschmelzen, auf das sie verweisen. Der Partizipations- und Kommunikationsgedanke lässt immer zugleich Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zu bzw. Analogie und Differenz und verhindert dadurch pantheistische Vorstellungsbildungen. Im Denkrahmen des Konzepts von der Analogie des Seins können alle Dinge eine Verweisfunktion auf etwas anderes bekommen. Das ist nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch sprachtheoretisch sehr bedeutsam, weil es nun neben der Sprache der Worte (voces) auch die Sprache der Dinge (res) gibt, die beide ineinander verwoben sind. Deshalb wollen beispielsweise auch semantische Überlegungen im Mittelalter keineswegs nur die Bedeutung von Wörtern aufklären, sondern zugleich auch die Bedeutung der Dinge, die durch diese Wörter bezeichnet werden. Die Philologie der Wörter geht in die Philologie der Dinge über. Da die Dinge einen Zeichencharakter haben, entsteht eine natürlich Tendenz, diese gar nicht als eigenständige Faktizitäten wahrzunehmen, sondern als Repräsentanten einer hinter ihnen liegenden geistigen Welt. „Das vermeintlich perspektivlose Mittelalter hat die eigene, ihm gemäße Art der Perspektive in der spirituellen Transparenz des Seienden. Sie ergibt sich in dem vom Irdischen sich lösenden Aufblick und Durchblick zur spirituellen Bedeutungswirklichkeit des im Kreatürlichen vorhandenen Zeichens. Sie ist P e r s p e k t i v e im wahrsten Sinne, indem sie durch das Sichtbare auf das Unsichtbare, durch das Significans auf das Significatum hindurchschaut."8
Das Konzept von der Analogie des Seins hat sich besonders klar in der Vorstellung von dem Buch der Natur und dem Interpretationsverfahren der Allegorese manifestiert. Beides sind Erscheinungsformen von Perspektivität, die uns heute etwas exotisch vorkommen, weil wir die dahinter liegenden ontologischen Grundüberzeugungen nicht mehr teilen und andere Stile der Weltobjektivierung ausgebildet haben. Die Idee, dass Gott sich neben der Bibel (liber scripturae) auch im Buch der Natur (liber naturae) offenbart habe, hat das religiöse Denken von der Spätantike bis in die beginnende Neuzeit geprägt.9 Wenn die materiellen Phänomene Zeichen sind, dann muss man lernen, im Buch der Natur ebenso zu
8 9
F. Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, 1977, S. 15ff. E. Rothacker, Das „Buch der Natur", 1979; H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 1981.
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lesen wie im Buch der Schrift. Dabei werden die Dinge als natürliche Zeichen vielfach als noch verlässlicher angesehen als die Wörter, deren Sinngehalt sich möglicherweise nur durch Konventionen legitimieren lässt. Die mittelalterlichen Bücher über Tiere (Bestiarien), Edelsteine (Lapidarien) und Pflanzen (Herbarien) wollten keine Sachbeschreibungen im Sinne der heutigen Naturwissenschaften sein, sondern wollten helfen, den geistigen Sinngehalt der Dinge zu erfassen.10 Der aus der Spätantike überlieferte Physiologus, in dem die Eigenschaften und Verhaltensweisen von Tieren heilsgeschichtlich gedeutet werden, ist ein typisches Beispiel dafür, dass die Natur nicht in ihrer eigenständigen Faktizität wahrgenommen wird, sondern nur in ihrer Zeichenfunktion für einen spezifischen spirituellen Sinn, der sich erst dann offenbart, wenn man sich perspektivisch nicht von der Oberfläche der Dinge gefangen nehmen lässt.11 Als Allegorese wird die konkrete spirituelle Auslegung von Dingen, Zahlen, Farben, Gesten und Verhaltensweisen bezeichnet. Die spirituelle Interpretation von empirischen Phänomenen, die über die spezifischen Merkmale von Dingen (proprietates) zu den mit ihnen verbundenen geistigen Bedeutungen (significationes) vorzustoßen versucht, richtet sich natürlich nach den jeweiligen ontologischen und religiösen Grundüberzeugungen. Dabei können dann leicht sich selbst stabilisierende Wahrnehmungssysteme entstehen, in denen das gefunden wird, was man gesucht hat. Allerdings ist in diesem Zusammenhang nun auch zu beachten, dass solche Allegoresen ein spezifisches immanentes Spannungspotenzial haben können, weil dasselbe Ding je nach den ins Auge gefassten Aspekten (proprietates) auf ganz unterschiedliche Sinninhalte verweisen kann. So kann der Löwe beispielsweise auf Christus verweisen, insofern ihm zugeschrieben wird, mit offenen Augen zu schlafen. Damit ähnelt der Löwe dann Christus, der als Mensch zwar gestorben sei, aber als Gott noch lebe. Der Löwe kann aber auch auf den Teufel verweisen, insofern er brüllend herumgeht und jemanden sucht, den er verschlingen kann. Er kann weiter auch auf einen Häretiker verweisen, insofern er aus dem Maule stinkt.12 Die geistige bzw. spirituelle Interpretation natürlicher Phänomene erscheint uns heute sehr fremdartig oder gar als eine ideologisch verzerrte Realitätswahrnehmung. Im Mittelalter galt sie jedoch als Form realistischen Denkens. In einer Denkwelt, in der Existenz und Essenz noch nicht auseinander gefallen waren und in der das Materielle als eine Erscheinungsform des Geistigen verstanden wurde, konnte die allegorische Weltwahrnehmung als zutiefst
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H. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, 1980, S. 74ff. Der Physiologus, übertragen und erläutert von Otto Seel, 1960. F. Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, 1977, S. 9ff. Vgl. auch Ch. Meier, Das Problem der Qualitätenallegorese, Frühmittelalterliche Studien, 8, 1974, S. 384435.
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realistische Form der Welterfassung gelten. Insbesondere Huizinga hat darauf verwiesen, wie natürlich dem mittelalterlichen Denken das allegorische bzw. symbolische Denken war. „Im symbolischen Denken ist Raum für eine unermeßliche Vielfältigkeit von Beziehungen der Dinge zueinander. Denn jedes Ding kann mit seinen verschiedenen Eigenschaften gleichzeitig Symbol für vielerlei sein, es kann auch mit ein und derselben Eigenschaft verschiedenes bezeichnen; die höchsten Dinge haben tausenderlei Symbole. Kein Ding ist zu niedrig, als daß es nicht das Höchste bedeuten und zu seiner Verherrlichung dienen könnte. Die Walnuß bedeutet Christus: der süße Kern ist die göttliche Natur, die fleischige äußere Schale die menschliche und die holzige Schale dazwischen ist das Kreuz. Alle Dinge bieten dem Emporsteigen des Gedankens zum Ewigen Stütze und Halt; alle heben einander von Stufe zu Stufe empor."13
Das analogische Denken des Mittelalters trägt noch viele Züge des aspektivischen Denkens, weil es alle möglichen Einzelaspekte, die spirituell ikonisch ausgedeutet werden können, herausarbeitet. Dabei versucht es, den Atomismus des aspektivischen Denkens dadurch zu überwinden, dass es alle Aspekte in einen religiösen Systemraum einordnet. Allerdings wird dieser Systemraum nicht vom Sehepunkt eines individuellen Wahrnehmungssubjekts aus konstituiert, sondern durch einen überindividuellen religiösen Denkzusammenhang. Daraus ergibt sich eine Form von Perspektivität bzw. eine Form des Hineingleitens in die Welt, die uns heute spontan nicht mehr nachvollziehbar ist, da wir eine ganz andere Vorstellung von realistischen Wahrnehmungsprozessen haben. Das analogische Denken des Mittelalters ist für unser heutiges Verständnis paradoxerweise dadurch gekennzeichnet, dass das realistische Erfassen der Dinge notwendigerweise die Transzendierung ihrer empirischen Wahrnehmung bedingt.
3. Die Suppositionslehre und der Universalienstreit Die Termini Suppositionslehre und Universalienstreit benennen zwei eng miteinander verknüpfte Problembereiche, die die sprachlichen und ontologischen Implikationen der Perspektivitätsproblematik betreffen. Obwohl bei der Diskussion dieser Probleme im Mittelalter der Terminus Perspektive noch nicht verwendet wurde, geht es der Sache nach um die Perspektivierungsfunktionen, die mit dem Gebrauch von Wörtern verbunden sein können. Da Wörter eine Verweisfunktion haben, insofern sie die Sicht auf etwas eröffnen sollen, was sie selbst nicht sind, stellt sich die Frage, wie sich diese Verweisfunktio-
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J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, 197511, S. 291.
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nen typologisch differenzieren lassen bzw. auf welche unterschiedlichen Sachverhaltsebenen mit Wörtern Bezug genommen werden kann. Die Suppositionslehre befasst sich dabei mit dem Problem, auf welche unterschiedlichen Referenzebenen sich Wörter und insbesondere Substantive im konkreten Satz intentional beziehen können. Im Universalienstreit geht es dagegen darum, welcher Status den Begriffen ontologisch zugeschrieben werden soll, die durch Wörter benannt werden. So gesehen ist die Suppositionslehre sprachtheoretisch eher auf der Ebene der parole anzusiedeln und der Universalienstreit eher auf der Ebene der langue.
Die Suppositionslehre Motivationshintergrund für die Entwicklung der Suppositionslehre waren Fragen der Logik. Diese sah sich mit dem Problem konfrontiert, dass das gleiche Wort in unterschiedlichen Sätzen ganz unterschiedliche Denkperspektiven zu eröffnen vermag, weil es auf ganz unterschiedliche Referenzebenen Bezug nehmen kann (Blume klingt schön. Blume ist ein Substantiv. Blumen sind Pflanzen. Vier Blumen blühen). Normalerweise erfassen wir die richtige Verweisfunktion von Wörtern intuitiv mit Hilfe der jeweiligen Kontexte. Auf Intuitionen konnte sich die Logik aber verständlicherweise nicht einlassen. Auch die Markierung der unüblichen Verwendungsweise von Wörtern mit Hilfe von Intonation oder von Anführungszeichen befriedigte die Logiker nicht. Für sie stellten sich eine Reihe von Fragen. Wann liegt ein üblicher und wann ein unüblicher Gebrauch eines Wortes vor? Ist es möglich, die potenziellen Verweisfunktionen von Wörtern typologisch zu ordnen? Welche Regeln kann man aufstellen, um unzulässige Schlussfolgerungen zu vermeiden {Mensch ist ein Substantiv. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates ein Substantiv.)? In vielen Hinsichten haben die mittelalterlichen Suppositionstheoretiker Fragestellungen der modernen sprachanalytischen Philosophie vorweggenommen, die ja auch über die Kritik des Sprachgebrauchs bestimmte logische und philosophische Probleme zu lösen versucht. Auch sie fragt beispielsweise danach, worauf sich unser Blick eigentlich richtet, wenn wir Wörter wie Einhorn, Teufel oder Nichts benutzen, und welche Referenzebenen im Sprachgebrauch zu unterscheiden sind. Nicht ohne Grund ist schon im Mittelalter der Begriff der Supposition mit dem der Intention in Verbindung gebracht worden. Die Unterscheidung von erster und zweiter Intention im Sprachgebrauch (intentio recta, intentio obliqua) korrespondiert deshalb auch nicht zufällig mit der modernen Unterscheidung von objektsprachlichem und metasprachlichem Sprachgebrauch.
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Die Beurteilung der Suppositionslehre zeigt eine große Spannweite. Während der Logiker Bochenski sie als „eine der originellsten Schöpfungen der Scholastik