Sprache als Struktur: eine kritische Einführung in Aspekte und Probleme der generativen Transformationsgrammatik 9783111371085, 9783484102422


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Table of contents :
Vorwort
Kapitel I Anspruch und Aufbau der generativen Transformationsgrammatik Manfred Kohrt, Christoph Küper
1. Chomskys Anspruch
1.1. Die GTG als Sprachtheorie
1.2. Die generativ-transformationelle Universalgrammatik als Spracherwerbstheorie
2. Konstituentenstruktur
2.1. GTG und Strukturalismus
2.2. Zum Vorgehen des Strukturalismus
2.2.1. Die Umstellprobe (Verschiebeprobe)
2.2.2. Die Ersetzungsprobe
2.3. Baumgraphen
2.4. Generative Konstituentenstruktur-Grammatik
2.4.1. Expansionsregeln (Ersetzungsregeln)
2.4.2. Rekursivität
2.5. Zum methodischen Vorgehen der GTG
3. Tiefenstruktur, Oberflächenstruktur und Transformationen
3.1. Inadäquatheiten einer reinen Konstituentenstruktur-Beschreibung
3.1.1. Die Repräsentation ambiger Sätze
3.1.2. Die Repräsentation synonymer Sätze
3.2. Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur
3.3. Die Erzeugung von Tiefenstrukturen und die Ableitung von Oberflächenstrukturen
3.4. Transformationen
3.4.1. Syntaktische Transformationen
3.4.1.1. Adjunktion
3.4.1.2. Tilgung
3.4.2. Lexikalische Transformationen
3.5. Über Tiefenstrukturen und wie man sie findet
4. Der Aufbau der Grammatik
Kapitel II Wissenschaftstheoretische Überlegungen zum linguistischen Strukturalismus als einer Sprachkompetenztheorie Manfred Geier
1. Was liefert wissenschaftstheoretische Reflexion?
2. Noam Chomskys „Logic of Science": Von der sprachlichen Erfahrung zum generativen Kalkül - und wieder zurück
3. Ein Rekurs: Das Strukturalistische Dilemma
4. Wozu man einen kompetenten Sprecher braucht
5. Worüber der kompetente Sprecher mitreden darf
6. Begriffsexplikation rückwärts: Zum Explikandum der „grammatischen Wohlgeformtheit"
7. Warum eine Sprache aus unendlich vielen Sätzen bestehen soll
8. Linguistische Experimente oder: Über die Reglementierung sprachlicher Erfahrung
9. Zur systematischen Mehrdeutigkeit des Kompetenzbegriffs
10. Das linguistische Apriori und der ideale Sprecher
11. Rückblick
Kapitel III Spracherwerb: Mentalistische Linguistik als antithetische Alternative zur behavioristischen Sprachpsychologie Franz Marschallek
1. Der Anstoß zur mentalistischen Wende der generativ-transformationellen Linguistik und die Stellung des Behaviorismus zum Problem der Introspektion
2. Die instrumenteile Konditionierung - experimentell und außerexperimentell
3. Die funktionale Analyse und die Verobjektivierung von Leistungen der Organismen
4. Skinners Analyse sprachlichen Verhaltens
4.1. Der Spracherwerbsprozeß: Sprechen als sozialer instrumenteller Akt
4.2. Die Lösung des Problems der „privaten" Ereignisse: Bewußtsein als sprachliches Verhalten
5. Noam Chomskys Kritik an Skinner
5.1. Die Kritik an der Extrapolation der in Experiment wohldefinierten Begriffe der instrumenteilen Lerntheorie - am Beispiel der Begriffe „Stimuluskontrolle" und „Verstärkung"
5.2. Die Kritik an Skinners Klassifizierung sprachlicher Reaktionen
5.3. Erhärtung der Kritik am Begriff der „Verstärkung" und Chomskys Formulierung des Problems: Was hat der kompetente Sprecher eigentlich gelernt?
6. Die linguistische Theorie als Modell der angeborenen Sprachpotenz
7. Eingeborene Ideen und linguistische Theorie
Kapitel IV Generative Transformationsgrammatik und Wissenschaftsentwicklung: Anmerkungen zu einer internen und externen Geschichte sprachbezogener Forschung Manfred Kohrt
1. Wissenschaftliche Forschung und Forschung über Wissenschaft
2. Zu einer internen Wissenschaftsgeschichte der modernen Linguistik: Generative Transformationsgrammatik im Rahmen von »normaler Wissenschaft' und ,wissenschaftlicher Revolution'
2.1. Paradigma und Paradiigmen Wechsel
2.2. Das Aufkommen der generativen Transformationsgrammatik als wissenschaftliche Revolution
2.3. Anmerkungen zu einer differenzierteren Analyse der wissenschaftlichen Entwicklung in der Linguistik
3. Zu einer externen Wissenschaftsgeschichte der modernen Linguistik: Generative Transformationsgrammatik in den USA und in der BRD
3.1. Probleme einer externen Analyse
3.2. Forschungsfinanzierung: Zum Aufstieg der generativen Transformationsgrammatik in den USA
3.3. Bildungsökonomie: Zum Aufstieg der generativen Transformationsgrammatik in der BRD
Literatmverzeichnis
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Sprache als Struktur: eine kritische Einführung in Aspekte und Probleme der generativen Transformationsgrammatik
 9783111371085, 9783484102422

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Reihe Germanistische Linguistik

4 Kollegbuch

Herausgegeben von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Roland Ris, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand

Manfred Geier/Manfred Kohrt Christoph Küper/Franz Marschallek

Sprache als Struktur Eine kritische Einführung in Aspekte und Probleme der generativen Transformationsgrammatik

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sprache als Struktur : e. krit. Einf. in Aspekte u. Probleme d. generativen Transformationsgrammatik / Manfred Geier . . . - 1. Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1976. (Reihe germanistische Linguistik ; 4 : Kollegbuch) ISBN 3-484-10242-X NE: Geier , Manfred [Mitarb.]

ISBN 3-484-10242-x

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

IX

Kapitel I

Anspruch und Aufbau der generativen Transformationsgrammatik Manfred Kohrt, Christoph Küper 1. Chomskys Anspruch 1.1. Die GTG als Sprachtheorie 1.2. Die generativ-transformationelle Universalgrammatik als Spracherwerbstheorie 2. Konstituentenstruktur 2.1. GTG und Strukturalismus 2.2. Zum Vorgehen des Strukturalismus 2.2.1. Die Umstellprobe (Verschiebeprobe) 2.2.2. Die Ersetzungsprobe 2.3. Baumgraphen 2.4. Generative Konstituentenstruktur-Grammatik 2.4.1. Expansionsregeln (Ersetzungsregeln) 2.4.2. Rekursivität 2.5. Zum methodischen Vorgehen der GTG

l l 7 11 11 11 12 13 14 18 18 21 23

3. Tiefenstruktur, Oberflächenstruktur und Transformationen 24 3.1. Inadäquatheiten einer reinen Konstituentenstruktur-Beschreibung . . . 24 3.1.1. Die Repräsentation ambiger Sätze 24 3.1.2. Die Repräsentation synonymer Sätze 26 3.2. Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur 28 3.3. Die Erzeugung von Tiefenstrukturen und die Ableitung von Oberflächenstrukturen 32 3.4. Transformationen 33 3.4.1. Syntaktische Transformationen 34 3.4.1.1. Adjunktion 34 3.4.1.2. Tilgung 40 3.4.2. Lexikalische Transformationen 45 3.5. Über Tiefenstrukturen und wie man sie findet 54 4. Der Aufbau der Grammatik

58

Kapitel II

Wissenschaftstheoretische Überlegungen zum linguistischen Strukturalismus als einer Sprachkompetenztheorie Manfred Geier 1. Was liefert wissenschaftstheoretische Reflexion?

60

2. Noam Chomskys „Logic of Science": Von der sprachlichen Erfahrung zum generativen Kalkül - und wieder zurück 3. Ein Rekurs: Das strukturalistische Dilemma 4. Wozu man einen kompetenten Sprecher braucht 5. Worüber der kompetente Sprecher mitreden darf 6. Begriffsexplikation rückwärts: Zum Explikandum der „grammatischen Wohlgeformtheit" 7. Warum eine Sprache aus unendlich vielen Sätzen bestehen soll 8. Linguistische Experimente oder: Über die Reglementierung sprachlicher Erfahrung 9. Zur systematischen Mehrdeutigkeit des Kompetenzbegriffs 10. Das linguistische Apriori und der ideale Sprecher 11. Rückbück

63 69 73 75 77 80 83 85 88 90

Kapitel III

Spracherwerb: Mentalistische Linguistik als antithetische Alternative zur behavioristischen Sprachpsychologie Franz Marschallek 1. Der Anstoß zur mentalistischen Wende der generativ-transformationellen Linguistik und die Stellung des Behaviorismus zum Problem der Introspektion . . . . 92 2. Die instrumenteile Konditionierung - experimentell und außerexperimentell . . 94 3. Die funktionale Analyse und die VerObjektivierung von Leistungen der Organismen 101 4. Skinners Analyse sprachlichen Verhaltens 103 4.1. Der Spracherwerbsprozeß: Sprechen als sozialer instrumenteller Akt . . 103 4.2. Die Lösung des Problems der „privaten" Ereignisse: Bewußtsein als sprachliches Verhalten 105 5. Noam Chomskys Kritik an Skinner 108 5.1. Die Kritik an der Extrapolation der in Experiment wohldefinierten Begriffe der instrumenteilen Lerntheorie — am Beispiel der Begriffe „Stimuluskontrolle" und „Verstärkung" 108 5.2. Die Kritik an Skinners Klassifizierung sprachlicher Reaktionen 112 5.3. Erhärtung der Kritik am Begriff der „Verstärkung" und Chomskys Formulierung des Problems: Was hat der kompetente Sprecher eigentlich gelernt? 116 6. Die linguistische Theorie als Modell der angeborenen Sprachpotenz 121 7. Eingeborene Ideen und linguistische Theorie 125 Kapitel IV

Generative Transformationsgrammatik und Wissenschaftsentwicklung: Anmerkungen zu einer internen und externen Geschichte sprachbezogener Forschung Manfred Kohrt 1. Wissenschaftliche Forschung und Forschung über Wissenschaft 2. Zu einer internen Wissenschaftsgeschichte der modernen Linguistik: Generative Transformationsgrammatik im Rahmen von .normaler Wissenschaft' und .wissenschaftlicher Revolution' VI

131

134

2.1. 2.2.

Paradigma und Paradigmenwechsel 135 Das Aufkommen der generativen Transformationsgrammatik als wissenschaftliche Revolution 139 2.3. Anmerkungen zu einer differenzierteren Analyse der wissenschaftlichen Entwicklung in der Linguistik 147 3. Zu einer externen Wissenschaftsgeschichte der modernen Linguistik: Generative Transformationsgrammatik in den USA und in der BRD 153 3.1. Probleme einer externen Analyse .153 3.2. Forschungsfinanzierung: Zum Aufstieg der generativen Transformationsgrammatik in den USA 156 3.3. Bildungsökonomie: Zum Aufstieg der generativen Transformationsgrammatik in der BRD 165

Literaturverzeichnis

173

VII

Vorwort

Die Konzeption dieses Buches ist aus einer Not geboren. Die Verfasser, die am Fachbereich 8 der Philipps-Universität Marburg in den letzten Jahren in Zusammenarbeit mit Tutoren wiederholt Einführungsveranstaltungen zur Generativen Transformationsgrammatik (GTG) durchgeführt haben, sahen sich immer wieder dem Problem konfrontiert, den Studierenden nicht nur die Kategorien und den formalen Aufbau einer GTG vermitteln zu müssen, sondern stets auch über Sinn und Zielsetzung der GTG zu informieren. Dazu aber erwies es sich als notwendig, auf wissenschaftstheoretische, sprachpsychologische, auch gesellschaftstheoretische Voraussetzungen und Implikationen der GTG einzugehen. Die meisten der vorliegenden Darstellungen der GTG lieferten hierzu nur geringe Unterstützung. In der Regel sind in ihnen gerade jene Fragen, an deren Beantwortung die Studierenden ein berechtigtes Interesse haben, kaum behandelt, zumindest nicht in systematischer Form. Die Verfasser haben es sich zum Ziel gesetzt, eine Einführung in die Generative Transformationsgrammatik und ihre Probleme zu schreiben, die schwerpunktmäßig das methodische Vorgehen der GTG einer wissenschaftstheoretischen Reflexion unterzieht und das Selbstverständnis der GTG als einer mentalen Theorie sprachlicher Kompetenz zu erklären versucht. Besonders Noam Chomskys sprachphilosophisch orientierte Schriften lieferten dazu die entscheidenden Bezugspunkte. Das I. Kapitel liefert eine kurze, leicht faßliche Darstellung der GTG, die zum einen den formalen Regelapparat beschreibt und erläutert, zum anderen aber auch die wichtigsten theoretischen Prämissen der GTG expliziert. Im II. Kapitel stehen Probleme der Wissenschaftstheorie im Mittelpunkt, die sich aus dem Anspruch der GTG ergeben, eine formale Theorie menschlicher Sprachkompetenz zu sein und dabei den im Rahmen der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie entwickelten Anforderungen für Theoriebildung, -Struktur und -Überprüfung zu entsprechen. Das III. Kapitel behandelt jene Spracherwe rbskonzeption, die, in Auseinandersetzung mit der verhaltenstheoretischen Sprachpsychologie, von Chomsky als nativistische Konsequenz aus der generativ-transformationellen Theoriekonzeption zu begründen versucht worden ist. Die Auseinandersetzung Noam Chomskys mit der Konditionierungstheorie Burrhus F. Skinners wird dabei wissenschaftsgeschichtlich vor dem Hintergrund der philosophischen Empirismusproblematik interpretiert. Im Mittelpunkt des IV. Kapitels schließlich steht die Frage, inwieweit mit der GTG ein neues sprachwissenschaftliches Paradigma formuliert worden ist und inwiefern die Herausbildung der GTG gesellschaftsbezogen erklärt werden kann. IX

Alle Kapitel wurden von den Verfassern gemeinsam diskutiert. Geschrieben worden sind sie, begründet durch die Arbeitsschwerpunkte der einzelnen Autoren, von: Manfred Kohrt und Christoph Küper (I. Kap.) Manfred Geier (II. Kap.) Franz MarschaUek (III. Kap.) Manfred Kohrt (IV. Kap.) Unser Dank gilt in besonderem Maße den Studierenden, die ihre Fragen nicht durch die bloße Vorgabe einer wissenschaftlichen Position für beantwortet hielten, und den Tutoren, die die Konzeption dieser Einführungsveranstaltung entscheidend mitgestaltet haben.

Marburg, im Winter 1975

Die Verfasser

I. Kapitel

Anspruch und Aufbau der Generativen Transformationsgrammatik Manfred Kohrt Christoph Küper

l.

Chomskys Anspruch

1.1.

Die GTG als Sprachtheorie

Das starke Interesse, das das Modell der generativen Transformationsgrammatik, wie es in Chomskys „Aspects of the Theory of Syntax"1 entwickelt wurde, nicht nur bei Linguisten, sondern auch bei Psychologen, Soziologen, Pädagogen, Lerntheoretikern und Biologen gefunden hat, läßt sich vom Titel des Buches her nur schwerlich rechtfertigen. Chomsky erörtert freilich auch nicht nur syntaktische Fragestellungen, sondern diskutiert die Form einer (in Einzelheiten noch zu entwickelnden) Grammatik und, darüberhinaus, Aspekte einer allgemeinen Sprachtheorie. Allerdings stellt er die Syntax als die zentrale Komponente einer solchen Grammatik dar, und eine Grammatik wiederum kann seiner Meinung nach ,,als eine Theorie einer Sprache angesehen werden"2 . Wie dieser Anspruch, der das starke Interesse auch außerhalb der Linguistik erst erklärt, begründet wird, soll im folgenden näher dargelegt werden. Zunächst einmal geht es Chomsky - und damit steht er voll in der Tradition des amerikanischen linguistischen Strukturalismus — um die Aufdeckung und Beschreibung syntaktischer Strukturen 3 . Im Zusammenhang damit stellen sich ihm nun mehrere Probleme, die für die Formulierung der generativen Transformationsgrammatik (im folgenden GTG) von Bedeutung sind. So stellt sich Chomsky, der herrschenden Wissenschaftstheorie folgend, dem Anspruch, daß eine solche Beschreibung widerspruchsfrei sein und das vorhandene Wissen über den Untersuchungsgegenstand überschaubar organisieren soll. Darüberhinaus soll sie möglichst einfach sein, d. h. möglichst viele signifikante Generalisierungen enthalten. Zumindest der Anspruch der Widerspruchsfreiheit läßt sich nun in einer formalisierten Sprache, in der jedes Symbol genau definiert ist und in der alle möglichen (d. h. erlaubten) Verknüpfun1 Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge, Mass. 1965; deutsch: Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt am Main 1969. Alle Zitate stammen aus der deutschen Ausgabe. 2 Chomsky, Aspekte, S. 39. 3 Vgl. z.B. den Titel seines Buches „Syntactic Structures", The Hague 1957.

l

gen exakt angegeben sind, besser einlösen als in der Umgangssprache, selbst wenn diese durch Fachtermini erweitert ist4. Von daher ist es zu verstehen, daß in der GTG mit formalen Regeln gearbeitet wird. Dies hat, wie wir noch sehen werden, weitreichende Konsequenzen. Das zweite Problem betrifft weniger die Art der Beschreibung als vielmehr den eigentlichen Gegenstand einer Syntax-Theorie. Daß jeder natürlichen (=menschlichen) Sprache bestimmte Regeln zugrundeliegen, die bestimmte Kombinationen zulassen (z. B. das feuerrote Spielmobil), andere hingegen ausschließen (z. B*feuerrote Spielmobil das)5, ist eine altbekannte Tatsache. (Wäre dies nicht so, hätten gar keine Grammatiken geschrieben werden können.) Traditionelle Grammatiken versuchten dies Problem zu lösen, indem sie sich an den literarischen Produkten ,guter Stilisten' orientierten und somit eine gewisse Sprachnorm etablierten bzw. konservierten. Die strukturelle Linguistik dieses Jahrhunderts ging weniger präskhptiv als vielmehr deskriptiv vor; sie versuchte, aus dem zu einem jeweiligen Zeitpunkt in der betreffenden Hochsprache vorherrschenden Sprachgebrauch die zugrundeliegenden Regeln sozusagen zu extrapolieren. Der Anspruch der .Wissenschaftlichkeit' brachte es dabei mit sich, daß man streng operationalisierbare und damit intersubjektiv überprüfbare Verfahren anstrebte, so daß man auf die Sprachkenntnis sowohl der Informanten als auch der Beschreibenden glaubte verzichten zu können. Chomsky dagegen sieht, daß ein mechanisches Ableiten von Regeln aus einem gegebenen Korpus (d. h. einer begrenzten Materialsammlung) nicht sinnvoll sein kann, da sich Phänomene wie z. B. Druckfehler (in geschriebenen Texten) oder Versprecher, Unaufmerksamkeit, Beschränkungen des Gedächtnisses, Zerstreutheit etc. (bei gesprochener Sprache) in diesen Regeln notwendig niederschlagen müßten und sie damit wertlos machen würden. Zwar schalteten realiter auch die Strukturalisten ihre Sprachkenntnis nicht aus6, aber Chomsky erkannte im Gegensatz zu ihnen ausdrücklich an, daß die sprachliche Intuition als Korrektiv nicht aus der linguistischen Untersuchung verbannt werden kann. Chomsky wie den Strukturalisten geht es nicht um die Beschreibung tatsächlichen Sprachverhaltens, sondern um die Beschreibung der zugrundeliegenden grammatischen Regeln; da diese Regeln nun aber offensichtlich nicht ohne die sprachliche Intuition erschlossen werden können, setzt Chomsky die Grammatik einer Sprache gleich mit der Beschreibung der perfekten „Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache"7, der sogenannten 4 Vgl. dazu z.B. Hans Jürgen Heringer, Warum wir formale Theorien machen, in: Dieter Wunderlich (Hrsg.), Probleme und Fortschritte der Transformationsgrammatik. Referate des 4. Linguistischen Kolloquiums Berlin 6.-10. Oktober 1969, München 1971, S. 47-56. 5 Das einem Ausdruck vorgestellte Sternchen kennzeichnet diesen als ungrammatisch (abweichend). 6 Vgl. dazu Kap. II.3. und H.4., wo dieses Problem ausführlich behandelt wird. 7 Chomsky, Aspekte, S. 14.

Sprachkompetenz, die er streng von der Performanz, dem aktuellen Sprachgebrauch in konkreten Situationen, unterscheidet. Allerdings meint Chomsky nicht die Sprach-Kenntnis realer Sprecher, sondern: „Der Gegenstand einer linguistischen Theorie ist in erster Linie ein idealer SprecherHörer, der in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft lebt, seine Sprache ausgezeichnet kennt und bei der Anwendung seiner Sprachkenntnis in der aktuellen Rede von solchen grammatisch irrelevanten Bedingungen [wie den oben genannten] nicht affiziert wird" .

Um den Gegenstand seiner Sprachtheorie herauszupräparieren, idealisiert Chomsky also den realen Sprecher-Hörer. Nun sind Idealisierungen in verschiedenen Wissenschaften üblich. So stellt in der Physik z. B. der freie Fall eine solche Idealisierung dar, da vom Luftwiderstand und im Zusammenhang damit von der Form und dem Gewicht des fallenden Körpers abstrahiert wird. Das hat den Vorteil, daß ein Gesetz über den Fall sämtlicher Körper aufgestellt werden kann. (Selbstverständlich müssen die ausgeschlossenen Faktoren bei einer konkreten ,Fall-Berechnung' mit berücksichtigt werden!) Idealisierungen haben also immer eine ganz bestimmte Funktion. Wie steht es nun mit Chomskys idealem Sprecher-Hörer? Welche Idealisierungen werden vorgenommen und welche Funktionen haben sie? Oder anders gefragt: was kann der ideale Sprecher-Hörer eigentlich (und was kann er nicht)? Die Konstruktion des idealen Sprecher-Hörers wird von Chomsky besonders auf bestimmte Struktureigenschaften von Sätzen bezogen. Diese Eigenschaften werden zusammengefaßt im Begriff der Grammatikalität. (In der grammatischen Theorie erhält dieser Begriff seine klare definitorische Bestimmung.) Der kompetente Sprecher kann, weil er über eine Kenntnis grammatischer Regeln verfügt, begründet über die Grammatikalität von Sätzen derjenigen Sprache urteilen, die er gelernt hat. Er weiß, ob ein Satz „grammatikalisch wohlgeformt", kurz: „grammatisch" ist, d.h., ob er in Übereinstimmung mit den grammatischen Regeln der betreffenden Sprache gebildet ist oder ob er bestimmte dieser Regeln verletzt. Dabei ist bemerkenswert, daß der Begriff „Grammatikalität" sich auf Sätze als linguistische Einheiten bezieht, die als solche von der Situation möglicher umgangssprachlicher Kommunikation abgelöst vorgestellt werden. Er bezeichnet eben nur eine strukturelle Eigenschaft von Sätzen (als Teilen von Sprache) und liefert keine Bestimmungen hinsichtlich des möglichen Gebrauchs von Sätzen als Äußerungen, die Teil der Rede wären. Der Begriff „Grammatikalität" kann dabei auf verschiedenen wissenschaftlichen Abstraktionsebenen verwendet werden: er kann a) als ein klassifikatorisches Prädikat verwendet werden, das die Sätze einer Sprache in die beiden Klassen von grammatikalisch wohlgeformten bzw. abweichenden Sät8 Chomsky, Aspekte, S. 13.

zen einzuordnen gestattet; er kann b) vergleichend-komparativ verwendet werden, indem Sätze als mehr oder weniger grammatisch beurteilt werden9; und er kann c) schließlich quantifizierend-metrisch benutzt werden, indem die festgestellten ,mehr-oder-weniger' -Beziehungen auf einer Zahlenskala aufgetragen werden. Allerdings sind bis zur präzisen Bestimmung eines metrischen Begriffes von „Grammatikalitat", der in einer Theorie des Grammatikalitätsgrades seinen Platz hätte, noch zahlreiche Untersuchungen und methodische Überlegungen erforderlich. Mit diesem Grammatikalitätsbegriff darf nun nicht der Begriff „akzeptabel" verwechselt werden. Denn dieser Begriff bezieht sich nicht auf die Wohlgeformtheit von Sätzen als Strukturgebilden, sondern auf die Eigenschaft von Sätzen, die hinsichtlich ihrer möglichen Verwendung als Äußerungen beurteilt werden. Der „akzeptable" Satz wird danach beurteilt, ob er .gebraucht' werden kann, ohne in einem pragmatischen Kontext der Rede Verwunderung und Unverständnis hervorzurufen: „Für die Zwecke der vorliegenden Diskussion sei der Terminus „akzeptabel" so verwendet, daß er sich auf Äußerungen bezieht, die völlig natürlich und unmittelbar verständlich sind - ohne Zuhilfenahme von Papier und Bleistift, und die in keiner Weise bizarr oder fremdartig klingen" .

Diese gedachte Beziehung des Satzes auf die Rede, in der er als Äußerung verwendet werden kann, meint Chomsky, wenn er den Begriff „akzeptabel" in den Bereich der Performanz verweist. Auch die Akzeptabilität wird als Sache der Gradation verstanden. Es soll möglich sein, mehr oder weniger akzeptable Sätze zu unterscheiden und die gefundenen Unterschiede auf einer Skala festzuhalten. Allerdings erweist es sich dabei (im Unterschied zur Grammatikalitätsskala) als notwendig, einen Bezug auf mögliche Situationen der Rede herzustellen, eine Sisyphusarbeit, deren Schwierigkeiten angesichts der Komplexität von Sprechsituationen kaum zu bewältigen sein dürften, denn es scheint unmöglich zu sein, daß jemals all jene Situationen aufgeführt werden können, die als Maßstab zur Beurteilung der Akzeptabilität dienen müßten. Eine Theorie des Akzeptabilitätsgrades wird wahrscheinlich nur Programm bleiben. Die getroffene Unterscheidung von Grammatikalität und Akzeptabilität verdeutlicht, daß die linguistische Kompetenz sich nicht auf die Fähigkeit bezieht, an Situationen der Rede überhaupt teilzunehmen. Sie bezieht sich allein auf die Urteilsfähigkeit bezüglich sprachlicher Einheiten als Gebilden, für deren strukturelle Wohlgeformtheit bestimmte Regeln — die es zu entdecken 9 So ist Ausdruck (1) eindeutig stärker abweichend als (2): (1) * Peter dem das Otto Gespenst (2) * Peter ein Gespenst sah 10 Chomsky, Aspekte, S. 22

gilt — verantwortlich gemacht werden. Das impliziert einen Begriff von Sprache, der ausschließlich bestimmte Struktureigenschaften gebrauchsenthobener sprachlicher Teileinheiten (in unserem Fall: der Sätze) meint. Wir zitieren eine Definition von Chomsky aus dem Jahre 1957, an der sich bis heute noch nicht: wesentlich geändert hat: „I will consider a language to be a set (finite or infinite) of sentences, each finite in length and constructed out of a finite set of elements" .

Diese mengen theoretische Definition gilt auch noch für die Aspekte. Sie steht im Hintergrund, wenn Chomsky die Sprachkompetenz als eine Fähigkeit begreift, unbegrenzt viele Sätze zu verstehen12. Denn nur unter der Voraussetzung einer nicht-funktionalen Bestimmung von Sprache, die von der Praxis des Miteinanderredens und Verstehens abstrahiert, kann die Kompetenz auf eine unendliche Menge von Sätzen bezogen werden. Die kompetente Verfügung über diese unendliche Menge setzt einen mengentheoretischen Begriff von Sprache voraus. Als Grund dafür, daß diese Menge (bei endlichem, wenn auch sehr großem Vokabular) unendlich ist, wird angeführt, daß es keinen längsten Satz gebe, d. h., daß jeder gegebene Satz erweiterbar sei, z. B. durch einen Nebensatz. Selbstverständlich weiß auch Chomsky, daß derartig lange Sätze von einem gewissen Grad an praktisch nicht mehr vorkommen, aber da Faktoren wie Stil, Funktion von Sprache, Gedächtnisgrenzen oder gar Lebensdauer für ihn sämtlich „grammatisch irrelevant" sind, spielt das für ihn in diesem Zusammenhang keine Rolle. Da es ihm um syntaktische Beschreibungen geht und diese Beschreibungen vollständig sein sollen, kann die Frage nicht offengelassen werden, wie oft beispielsweise Nebensatzeinbettungen in einen Hauptsatz vorgenommen werden dürfen. Weil es nun wenig sinnvoll wäre, irgendeine (wenn auch astronomisch hohe) bestimmte Zahl anzugeben, folgert Chomsky, die Zahl solcher möglichen Einbettungen (und damit selbstverständlich die Zahl aller möglichen Sätze in einer Sprache) sei unendlich. Die Fähigkeit zur Bildung beliebig langer und damit unendlich vieler Sätze schreibt Chomsky nun dem kompetenten Sprecher-Hörer zu, wobei er, wie gesagt, von menschlichen Beschränkungen abstrahiert. Dies wiederum wird durch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz gerechtfertigt. Indem also die durch die Forderung nach Vollständigkeit der Beschreibung nötig gewordene, aber in keinem sinnvollen Zusammenhang zum tatsächlichen Sprachgebrauch mehr stehende Annahme, der Länge von Sätzen seien keine (linguistisch begründbaren) Grenzen gesetzt, sozusagen auf den idealen kompetenten Sprecher-Hörer übertragen wird, glauben die Vertreter der GTG, die „Kreativität" menschlicher Sprache erfaßt zu haben. 11 Chomsky, Syntactic Structures, S. 13. 12 Chomsky, Aspekte, S. 29.

Eine Grammatik, die eine solche Kompetenz des idealen Sprecher-Hörers beschreiben will, ist in dem Sinne generativ, als sie in der Lage ist, mit endlichen Mitteln (einem endlichen Vokabular und einer endlichen Anzahl von Regeln) eine unendliche Menge von Sätzen (eben alle grammatischen Sätze einer Sprache und nur diese) zu erzeugen. Das Problem ist nur, wie die Fähigkeit des Menschen als eines begrenzten (d.h. endlichen) Organismus zur Bildung potentiell unendlich vieler Sätze dargestellt werden kann. Die Lösung bietet sich für Chomsky in der Gestalt von Rekursivregeln an, die, indem sie beliebig oft auf ihr eigenes Ergebnis angewendet werden können, tatsächlich beliebig lange und damit beliebig viele Symbolketten zu generieren (erzeugen) imstande sind. Wie dies im einzelnen aussieht, wird uns in Kap. 1.2.4.2. beschäftigen. In engem Zusammenhang mit der allgemeinen Fähigkeit des idealen Sprecher-Hörers, mittels rekursiver Regeln unendlich viele Sätze seiner Sprache zu bilden,'Steht eine zweite, nämlich die, jedem einzelnen Satz eine Strukturbeschreibung zuzuordnen, aus der hervorgeht, wie er den Satz versteht13. Auch hier wird das Problem, daß linguistische Analysen nicht ohne die sprachliche Intuition auskommen können, daß also gewonnene Strukturbeschreibungen mit der Intuition von native speakers übereinstimmen müssen, wenn sie einen empirischen Gehalt haben sollen, in der Weise gelöst, daß man dem einmal gewählten Gegenstand linguistischer Theorie, dem kompetenten Sprecher, auch die Fähigkeit zur Bildung solcher Strukturbeschreibungen zuschreibt. D. h., daß „sich jeder Sprecher einer Sprache eine generative Grammatik vollständig angeeignet" hat, wobei unter generativer Grammatik „ein Regelsystem, das auf explizite und wohldefinierte Weise Sätzen Struktur-Beschreibungen zuordnet", zu verstehen ist14. Eine generative Grammatik ist also zum einen „die im Sprecher intern repräsentierte ,Theorie seiner Sprache' ", zum anderen der linguistische „Zugang zu diesem Phänomen"K. In diesem Sinne ist die Linguistik für Chomsky denn auch mentalistisch, beschreibt sie doch seiner Meinung nach mentale Strukturen und Prozesse16. Bevor wir uns weiter mit diesem Aspekt beschäftigen, wollen wir jedoch noch einmal kurz zusammenstellen, was im Zusammenhang mit dem idealen Sprecher-Hörer an Idealisierungen und Abstraktionen vorgenommen wird. Daß es dadurch zu einem reduzierten Sprachbegriff kommt, dürfte unmittelbar 13 Vgl. Chomsky, Aspekte, S. 15. 14 Chomsky, Aspekte, S. 19. 15 Chomsky, Aspekte, S. 40. - Chomsky verwendet den Begriff „Grammatik" also bewußt „systematisch mehrdeutig" (ebd.). 16 Diese Annahme führte zu Beginn der 60er Jahre zu Experimenten, die beweisen sollten, daß die von den Linguisten aufgestellten syntaktischen Regeln mit realen mentalen Prozessen korrespondierten. Eine derartig simple Korrespondenz ist freilich von Chomsky nie behauptet worden; er betont mehrfach, daß die GTG Sprecher-Hörer neutral und durch eine Theorie der Sprachverwendung zu ergänzen sei.

einleuchten. So wird erstens nicht beachtet, daß Sprache nicht in Form von isolierten Sätzen, sondern in Form von in einen außersprachlichen Kontext eingebetteten, zusammenhängenden Äußerungen, also Texten, vorkommt. Zweitens wird davon abstrahiert, daß Sprache stets in konkreten Handlungszusammenhängen vorkommt, d.h. von realen Sprechern mit bestimmten Intentionen bewußt verwandt wird. Was übrig bleibt, ist Sprache als ein „abstraktes Objekt"17. Drittens wird von den tatsächlich bestehenden Bedingungen in einer Sprachgemeinschaft wie z. B. dem Nebeneinanderbestehen von verschiedenen Dialekten und Soziolekten abstrahiert. Die Annahme einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft schließt die Erklärung von sprachlichem Wandel von vornherein aus". Weiterhin dürfte auch klar sein, daß damit der Zusammenhang zwischen sozialen Problemen und Sprachproblemen (z. B. Sprachbarrieren) gar nicht erst ins Blickfeld rücken kann.

1.2.

Die generativ-transfonnationelle Universalgrammatik als Spracherwerostheorie

Wir haben gesehen, daß für Chomsky eine linguistische Theorie, welche die Sprachkompetenz zu beschreiben versucht, insofern mentalistisch ist, als durch eine generative Grammatik mit Rekursivregeln die Fähigkeit kompetenter Sprecher-Hörer beschrieben wird, mit endlichen Mitteln unendlich viele Sätze zu generieren und mit einer Strukturbeschreibung zu versehen. Weiterhin ist deutlich geworden, daß Chomsky davon ausgeht, daß sich jeder Sprecher eine solche generative Grammatik angeeignet hat (daher die „systematische Mehrdeutigkeit" im Gebrauch des Begriffes „Grammatik"). An dieser Stelle drängt sich nun die Frage auf, wie ein Sprecher denn überhaupt zu dem Erwerb einer solchen Grammatik kommt. Für Chomsky stellt sich das Problem in der Form, eine Beziehung herzustellen zwischen den Primärdaten, denen ein Kind beim Spracherwerb ausgesetzt ist, und seiner ausgebildeten Kompetenz nach Abschluß des Spracherwerbs. Da die Mechanismen, die beim Kind die Verarbeitung der Primärdaten zur Kompetenz vornehmen, nicht direkt beobachtbar sind, wählt Chomsky 17 So schreibt Postal: „Languages are abstract objects [...]". (Paul M. Postal, Epilogue, in: Roderick A. Jacobs and Peter S. Rosenbaum, English Transformational Grammar, Waltham, Mass./Toronto/London 1968, S. 267-289; hier: S. 273) Weitere .abstrakte Objekte' sind Grammatik und Satz (im Gegensatz etwa zu Sprachverhalten und Äußerung). 18 „Diese Konstruktion [der homogenen Sprachgemeinschaft] macht es unmöglich, die Prozesse der Sprachveränderung, die sich u. a. aus der Existenz verschiedener Ausprägungen und Soziolekte einer Sprache ergeben, in einem vernünftigen Sinne zu beschreiben und zu erklären". (Dieter Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, Reinbek 1974 (rororo Studium 17), S. 141)

als Form seines Spracherwerb-Modells ein Input-Output-System, bei dem Input und Output durch eine sogenannte black box verbunden sind. Die Beschaffenheit der black box soll aus einem Vergleich von Input und Output erschlossen werden. Bei derartigen Fällen geht man üblicherweise so vor, daß man ein Modell konstruiert, das bei gleichem Input auch den gleichen Output wie das Modell-Original produziert. Weicht der Output des Modells von dem Output des Originals ab, muß das Modell revidiert werden, und zwar so lange, bis beide Outputs übereinstimmen. Ist eine solche Übereinstimmung erreicht, kann man sagen, daß das Modell das Modell-Original in angemessener (adäquater) Weise beschreibt. Wir wollen uns im folgenden kurz vergegenwärtigen, worin für Chomsky der Input und der Output des Modell-Originals bestehen. Zum Input, den sprachlichen Primärdaten, gehören: Äußerungen, die das Kind in seiner Umgebung hört; Korrekturen dieser Äußerungen; Informationen, die über Äußerungen (sowohl des Kindes als auch anderer Personen) gegeben werden, z. B. daß eine bestimmte Äußerung abweichend ist, daß eine Äußerung eine Paraphrase von (gleichbedeutend mit) einer anderen Äußerung ist etc. Der Output besteht, wie nach den Erörterungen in Kap. 1.1.1. nicht überraschen dürfte, nicht etwa aus den Äußerungen eines Kindes, das seine Sprache gelernt hat, sondern aus der sprachlichen Kompetenz. Da für Chomsky ein generatives Regelsystem einer Sprache L eine Rekonstruktion der Kompetenz des idealen Sprecher-Hörers der Sprache L ist, kann eine (einzelsprachliche) GTG selbst als Output angesehen werden19. Diese Annahme erfordert die Formulierung einer Spracherwerbstheorie, die erklären kann, wie eine GTG auf der Grundlage des Inputs gelernt werden kann. Sie muß insbesondere erklären, wie das Kind aufgrund einer endlichen Menge sprachlicher Daten zur Konstruktion eines Regelapparates gelangen kann, der in der Lage ist, eine potentiell unendliche Menge von Sätzen samt den zugehörigen Strukturbeschreibungen zu produzieren20. Da die Lösung dieses Problems sich nicht auf die Erklärung des 19 Laut Chomsky „muß man annehmen, daß ein Kind ebensowenig umhin kann, eine bestimmte Art von Transformationsgrammatik zu konstruieren, um mit den Daten, auf die es stößt, fertig zu werden, wie es die Art und Weise dirigieren kann, in der es feste Körper wahrnimmt oder Linien und Winkel erfaßt". (Aspekte, S. 83). 20 Es wird also eine Analogie postuliert zwischen dem Kind, das eine Sprache lernt, und dem Linguisten, der eine Grammatik konstruiert; vgl. Chomsky: „Dieses Modell für die Spracherlernung kann unmittelbar paraphrasiert werden als eine Beschreibung dafür, wie ein Linguist [...] eine Grammatik rechtfertigen würde, die er für eine Sprache auf der Grundlage gegebener primärer sprachlicher Daten konstruiert hat". (Aspekte, S. 50) Bierwisch führt diesen Gedanken weiter aus: „Ein Linguist, der eine Sprache analysiert, um ihre Grammatik zu finden, tut auf theoretisch kontrollierte Weise das gleiche, was ein Kind unbewußt und spontan bei der Erlernung einer Sprache leistet: Aufgrund bestimmter Beobachtungen werden die Regulaiitäten rekonstruiert, die diesen Beobachtungen und Erfahrungen zugrundeliegen". (Manfred Bierwisch, Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden, in: Kursbuch 5 (1966), S. 778

Erwerbs einer bestimmten einzelsprachlichen Grammatik beschränken kann, sondern sich auf die Möglichkeit des Erwerbs jeder möglichen menschlichen Sprache beziehen muß (das neugeborene Kind ist ja in der Lage, jede menschliche Sprache, d. h. jede beliebige GTG zu erwerben), hält Chomsky die Konstruktion einer Universalgrammatik für erforderlich, die das sämtlichen natürlichen Sprachen Gemeinsame zum Gegenstand hat. Diese Universalgrammatik stellt den begrifflichen und formalen Rahmen dar, in dem jede einzelsprachliche Grammatik formuliert und entwickelt werden kann. Für die allen natürlichen Sprachen oder gleichbedeutend: allen generativen Grammatiken gemeinsamen Merkmale, die von der Universalgrammatik beschrieben werden, wählt Chomsky die Bezeichnung linguistische Universalien21. Diese Universalien beziehen sich zum einen auf die mögliche Beschreibungsform von Sprachsystemen, d. h. sie „betreffen [...] den Charakter der Regeln, die in Grammatiken erscheinen, und die Weise, in der sie untereinander verbunden werden können"22 , zum anderen definieren sie ein Beschreibungsinventar, aus dem alle natürlichen Sprachen eine Auswahl treffen, wobei nicht alle Elemente dieses Inventars in jeder Sprache vertreten sein müssen. Als Beispiel ließe sich anführen, daß die GTG jeder menschlichen Sprache u. a. Transformationsregeln enthalten muß23, oder daß jede menschliche Sprache syntaktische Kategorien wie z. B. Nomen, Verb etc. aufweist. Die Existenz solcher Universalien impliziert laut Chomsky, „daß alle Sprachen nach demselben Muster angelegt sind, aber sie impliziert nicht, daß es irgendeine Punkt-für-Punkt-Entsprechung zwischen einzelnen Sprachen gibt"24. Die Universalgrammatik wird als universelle Metatheorie einzelsprachlicher Grammatiken somit zum entscheidenden 152; hier: S. 103f.) Und weiter: „Daß wir für die Analyse, die zum Auffinden der Grammatik führt, sowohl die Forschungsarbeit des Linguisten wie den Lernprozeß des Kindes angeführt haben, hat keinen bloß illustrativen Sinn. Man kann den gleichen logischen Sachverhalt einmal als theoretisches, einmal als psychologisches Problem auffassen. [...] Die formalisierten Regeln der Grammatik stellen demnach zugleich in abstrakter Weise bestimmte psychologische, genauer: aeurophysiologische Zusammenhänge dar, ohne daß deren konkrete Realisierung bis jetzt auch nur andeutungsweise bekannt wäre". (S. 128). 21 Engl.: linguistic universals. In der deutschsprachigen Literatur findet sich auch die Übersetzung „sprachliche Universalien" bzw. „Sprachuniversalien" (z. B. bei Wunderlich, Grundlagen der Linguistik), die Chomskys Intentionen eher gerecht werden dürfte als unsere Übersetzung, da es sich nach Chomskys Auffassung ja um Phänomene handelt, die allen Sprachen gemeinsam sind. Der Begriff „linguistische Univeraalien" ist u. E. jedoch insofern angemessener, als er deutlich macht, daß die Universalien von der zugrundegelegten linguistischen Theorie abhängen und selbst theoretische Konstrukte sind. (So wird eine linguistische Theorie, die nicht generativ-transformationell ist, auch nicht behaupten, daß die GTG jeder Sprache Transformationsregeln enthält.) 22 Chomsky, Aspekte, S. 46. 23 Zur Funktion von Transformationsregeln vgl. Kap. 1.3. 24 Chomsky, Aspekte, S. 47.

Konstituens des Spracherwerbsprozesses erklärt: Sie reflektiert nicht nur die allgemeinen Bedingungen, unter denen der Linguist potentiell die Konstruktion der GTG jeder einzelnen Sprache vornehmen kann, sondern sie reflektiert zugleich die Voraussetzungen, über die ein Kind verfugen muß, bevor es eine Einzelsprache (d. h. die GTG dieser Sprache) erlernt. Weil dem Kind nämlich die unbeobachtbaren sprachlichen Größen25 in den sprachlichen Daten selbst nicht begegnen können, muß Chomsky eine vor jeder sprachlichen Erfahrung vorhandene Fähigkeit zur Ausbildung der GTG (und zwar potentiell jeder GTG) als angeborene Bedingung des Spracherwerbs in der Form der Universalgrammatik annehmen. Nur wenn die Metatheorie einzelsprachlicher Grammatiken als Modell der angeborenen Spracherwerbsfähigkeit angenommen wird, kann Chomsky zufolge erklärt werden, daß jeder kompetente Sprecher die GTG seiner Muttersprache ausgebildet hat. Dieser Annahme hat Chomsky durch den Verweis auf einige empirische „Tatbestände" Plausibilität zu verleihen versucht, etwa, daß alle menschlichen Sprachen im gleichen Zeitraum gelernt werden und daß der Spracherwerbsprozeß trotz ,,schlechte[r] Beschaffenheit der zugänglichen Erfahrungsdaten" und unabhängig „von Intelligenz, Motivation und emotionaler Verfassung in einem sehr breiten Variationsbereich" von ,,überraschende[r] Gleichförmigkeit" ist26. Die Gewißheit der generativ-transformationellen Linguistik über das Resultat des Lernvorgangs steckt auch den Rahmen ab für Untersuchungen, die über Chomsky insofern ,hinausgehen', als sie den Erwerb der GTG als sich zeitlich erstreckenden Prozeß zu erfassen versuchen. Wie der Spracherwerb in dieser Sicht vor sich geht, soll abschließend noch einmal kurz dargestellt werden27. Ein Kind ist einer mehr oder weniger großen, stets aber endlichen Menge sprachlicher Erfahrungen, den Primärdaten, ausgesetzt. Mit Hilfe der angeborenen Universalien konstruiert das Kind nun (unbewußt) Hypothesen über das angebotene Datenmaterial und bildet selbst ,Sätze', die diesen Hypothesen entsprechen. Dabei spielt das Prinzip der Einfachheit eine Rolle: die einfachsten Regeln werden zuerst gelernt und ausprobiert, was zum Teil zu falschen Generalisierungen (ich laufte statt icn lief etc.) führt. Aufgrund von Korrekturen dieser Äußerungen und Belehrungen und dem Hören der richtigen Formen etc. (ü. h. aufgrund neuer Primärdaten) revidiert das Kind nach und nach die Hypothesen, die nicht mehr in Einklang mit den neuen Erfahrungsdaten stehen, und bildet zusätzlich neue Regeln, bis der Spracherwerb abgeschlossen ist, d. h. bis es sich eine generative Grammatik seiner Sprache angeeignet hat.

25 Vor allem Tiefenstrukturen und Transformationen. Vgl. dazu Kap. 1.3. 26 Chomsky, Aspekte, S. 81. 27 Chomskys Darstellung des Spracherwerbs in den „Aspects" wird von ihm selbst als ein idealisiertes „AHes-auf-einmal-Modell" (idealized ,,instantaneous"model) bezeichnet. Wir folgen hier der Darstellung von Bierwisch in seinem Strukturalismus-Aufsatz.

10

2.

Konstituentenstruktur

2.1.

GTG und Strukturalismus

Wissenschaften, und insbesondere Richtungen in einer Wissenschaft, setzen nie bei einer tabula rasa ein und entwickeln total neue Frage- und Problemstellungen bzw. Methoden zu deren Beantwortung und Lösung, sondern knüpfen stets in irgendeiner Weise an bestehende oder voraufgegangene Wissenschaften bzw. wissenschaftliche Richtungen an. Die GTG bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme; sie ist ohne ihren Vorläufer, den Strukturalismus amerikanischer Prägung, nicht angemessen zu verstehen. Wissenschaftsgeschichtlich baut sie auf ihm auf; d. h. sie macht sich die Ergebnisse dieses Strukturalismus zum Teil zunutze, zum Teil kritisiert sie sie und entwickelt eigene Lösungsvorschläge. Letztere werden vor allem in Kap. 1.1.3. dargestellt und diskutiert; mit der Verwertung strukturalistischer Ergebnisse, und zwar in syntaktischer Hinsicht, wollen wir uns in diesem Abschnitt befassen. In Kap. 1.1. wurde ausgeführt, daß der Satzbegriff in der GTG eine entscheidende Rolle spielt, da es explizit darum geht, mit fmiten Mitteln eine infinite Menge von Sätzen samt den dazugehörigen Strukturbeschreibungen zu erzeugen. Dazu ist es zunächst einmal erforderlich, sich Gedanken darüber zu machen, wie man zu solchen Strukturbeschreibungen überhaupt gelangt. Diese Frage ist nun im Strukturalismus ausgiebig behandelt worden. Es ist also zweckmäßig, mit einer Darstellung der wichtigsten Verfahren zur Satzanalyse zu beginnen, wie sie im Strukturalismus entwickelt worden sind, da die GTG an diese Analyse verfahren direkt anknüpft.

2.2.

Zum Vorgehen des Strukturalismus

Hier ist nicht der Ort, das Vorgehen des Strukturalismus in wissenschaftstheoretischer Hinsicht eingehend darzustellen — das soll in Kap. II geschehen —, aber einige Bemerkungen sind notwendig, vor allem im Hinblick auf einen Vergleich mit dem Vorgehen der GTG. Da es dem taxonomischen28 Strukturalismus nicht um eine Beschreibung sprachlichen Wissens ging, sondern vielmehr um eine Beschreibung sprachlicher, d.h. in Sprache manifester, Strukturen, bemühte man sich, diese Strukturen mit Hilfe möglichst objektiver Tests herauszufinden. Man untersuchte also eine (endliche) Menge sprachlicher Äußerungen — ein Korpus — und versuchte, auf induktivem Wege zu den diesen Äußerungen inhärenten Strukturen vorzustoßen. Dabei bediente man sich 28 Richtung des Strukturalismus, wie er sich vor allem in den USA herausgebildet hat. Die wesentlichsten Verfahrensweisen werden im folgenden dargestellt. - Chomsky gebraucht diese Bezeichnung meist in polemisch-abwertender Weise. 11

vor allem der Mittel des Segmentierens (d. h. des Herauslösens von bestimmten Einheiten) und des Klassifizieren* (d. h. des Einteilens dieser Einheiten in bestimmte Klassen). Beide Tätigkeiten erfordern die Berücksichtigung sowohl paradigmatischer als auch syntagmatischer Relationen. Die eben eingeführten Begriffe und die Art der durch sie gekennzeichneten Analyseverfahren sollen an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Wir wollen dabei ausgehen von dem folgenden Satz: (1)

Ein Kunde betritt das Geschäft

Der Einfachheit halber wollen wir annehmen, eine Segmentierung dieses Satzes in Wörter bereite keine Schwierigkeiten29. Es stellt sich dann die Frage nach der Relation der einzelnen Wörter zueinander. Sind alle Wörter sozusagen ,gleich weit voneinander entfernt' oder gibt es bestimmte Gruppen von Wörtern, die besonders eng zusammengehören? Dies ist die Frage nach der syntagmatischen Relation der Wörter zueinander. Um diese Frage möglichst .objektiv', d.h. ohne Rückgriff auf das eigene Sprachwissen bzw. Sprachgefühl beantworten zu können, entwickelten die Strukturalisten verschiedene Tests bzw. Proben, von denen wir zwei der wichtigsten kurz vorstellen wollen. 2.2.1.

Die Umstellprobe (Verschiebeprobe)

Man vertauscht die Wörter um herauszufinden, ob sich durch die Umstellung weitere grammatische Sätze ergeben. Im obigen Beispielsatz ist das tatsächlich der Fall; neben sehr vielen abweichenden Wortketten (wie z. B. (2) und (3)) finden wir die grammatischen Sätze (4—6): (2) (3) (4) (5) (6)

*Ein betritt Geschäft Kunde das *Kunde Geschäft betritt ein das Betritt das Geschäft ein Kunde (? ) Betritt ein Kunde das Geschäft (? ) Das Geschäft betritt ein Kunde30

29 Daß dies nicht immer ohne weiteres angenommen werden kann, zeigen die beiden folgenden Sätze, in denen das Verb eintreten einmal als ein Wort und einmal als zwei Wörter erscheint: ( ) Ein Kunde tritt in das Geschäft ein (l") Wenn ein Kunde in das Geschäft eintritt ... 30 Hält man sich strikt an die obige Formulierung, daß das eigene Sprachwissen bei der Analyse ausgeschlossen sein soll, ist natürlich die Bewertung der Sätze (2) und (3) als abweichend und (4—6) als wohlgeformt nicht zulässig. Eine sorgfältige Analyse eines ausreichend großen Korpus könnte freilich im Prinzip zum gleichen Ergebnis fuhren; die Tests sind also im Grunde Abkürzungen eines sonst sehr langwierigen Verfahrens. Allerdings wird dadurch stillschweigend das Sprachwissen doch in die Analyseverfahren mit einbezogen (vgl. Kap. II).

12

Die Umstellprobe ergibt, daß die Wortfolgen ein Kunde und das Geschäft offenbar jeweils zusammengehören, da sie in den nicht abweichenden Sätzen stets zusammen vorkommen. Anders ausgedrückt: Grammatische Sätze ergeben sich nur, wenn man ein Kunde und das Geschäft jeweils als Einheit verschiebt. Die Zugehörigkeit von betritt ist dagegen nicht eindeutig zu ermitteln; zweimal steht es vor das Geschäft und zweimal vor ein Kunde. Es scheint, daß es keiner der beiden Gruppen näher als der anderen angehört und selbst als eigenständige Einheit aufzufassen ist.

2.2.2.

Die Ersetzungsprobe

Wir wollen nun versuchen, jedes Wort aus (1) durch ein anderes zu ersetzen und diesen Test dann auf die bisher gewonnenen Gruppen auszudehnen. Wir untersuchen damit das paradigmatische Verhalten der einzelnen Wörter bzw. Wortgruppen; d.h. wir stellen die Frage, mit welchen anderen Einheiten sie ein Paradigma bilden. Unter einem Paradigma verstehen wir somit eine Klasse von Elementen, die im gleichen Kontext stehen können, d. h. untereinander austauschbar sind. (7) Der Kunde betritt das Geschäft (8) Ein Mann betritt das Geschäft (9) Ein Kunde verläßt das Geschäft (10) Ein Kunde betritt unser Geschäft (11) Ein Kunde betritt das Warenhaus (12) Peter betritt das Geschäft (13) Ein Kunde betritt es Aufgrund von Ersetzungen, wie wir sie in den Sätzen (7-11) vorgenommen haben, erhalten wir Klassen von Wörtern, die zu den ersetzten Wörtern in einem paradigmatischen Verhältnis stehen. Die Beispiele (12) und (13) zeigen, daß aber auch Gruppen von Wörtern — hier eben die bisher erhaltenen, aus zwei Wörtern bestehenden Gruppen ein Kunde und das Geschäft — ersetzt werden können. Da in diesem Fall jeweils ein einziges Wort an ihre Stelle treten kann, wird das Ergebnis der Umstellprobe bestätigt, daß nämlich die Gruppen ein Kunde und das Geschäft tatsächlich jeweils eine Einheit bilden. Doch wie steht es nun mit der Zugehörigkeit von betritt1? Wenden wir die Ersetzungsprobe auf die beiden in Frage stehenden Gruppen ein Kunde betritt und betritt das Geschäft an, so finden wir nur für die zweite Gruppe einen Ersatz: (14) Ein Kunde kommt31 31 Anzumerken ist, daß wir uns hier auf Aussagesätze beschränken und diesen Satztyp nicht verändern wollen; andernfalls wären natürlich Beispielsätze wie z. B. Stürmt das Geschäft/ durchaus möglich.

13

Offensichtlich nimmt kommt in (14) den Platz von betritt das Geschäft in (1) ein. Damit haben wir ein Argument, betritt das Geschäft als eine Gruppe aufzufassen; diese Lösung wird noch dadurch untermauert, daß diese Wortfolge nicht mehr weiter reduziert werden kann (keins der Wörter weglaßbar ist), ohne daß der Satz dadurch ungrammatisch würde32. 2.3.

Baumgraphen

Die gewonnenen Relationen lassen sich nun ohne Schwierigkeiten in einer hierarchisch aufgebauten, stammbaumartigen Struktur, einem sogenannten Baumgraphen, darstellen:

Ein Kunde betritt das Geschäft

Dementsprechend erhält (14) die folgende Struktur:

(16)

Ein Kunde kommt

Ersetzen wir nun die Gruppe ein Kunde durch Peter, so erl·alten wir einen Satz, der sich offenbar nicht werter verkürzen läßt, weder durch Weglassen eines Wortes noch durch Ersetzen der beiden Wörter durch ein anderes: (17) Peter kommt In (17) bestehen die beiden »Gruppen', die in bisher allen Sätzen vorkamen und die folglich offensichtlich zur Konstitution eines (Aussage-)Satzes notwendig sind", aus je einem Wort. (17) hat also die folgende Struktur:

32 Daß in den Sätzen (5) und (6) betritt nicht vor das Geschäft steht, ist nicht unbedingt ein Gegenargument, denn wie wir gesehen haben, erscheinen Wörter wie eintreten auch nicht immer zusammen (vgl. Anm. 29).

14

(18) Peter kommt

Aufgrund der bislang untersuchten Beispielsätze läßt sich der folgende Schluß ziehen: (Aussage-)Sätze bestehen im Deutschen immer aus zwei Teilen, die sich eventuell wiederum in mehrere Teile untergliedern lassen. Ein solches Vorgehen, das von der Analyse einzelner Objekte zu allgemeineren Aussagen über Klassen von Objekten (in unserem Fall von der Analyse einzelner Sätze zu einer allgemeinen Aussage über die Klasse der deutschen Aussagesätze) führt — ein Vorgehen, das typisch ist für den gesamten Strukturalismus — nennt man induktiv. Wir wollen nun versuchen, die beiden Gruppen, aus denen sich Sätze konstituieren, näher zu bestimmen, indem wir sie mit Hilfe der Ersetzungsprobe erweitern: (19) Ein reicher Kunde betritt das Geschäft (20) Ein Kunde gibt dem Geschäftsinhaber einen Scheck Vergleicht man die Gruppe Peter, ein Kunde, ein reicher Kunde miteinander, so fällt auf, daß das einzige gemeinsame Element dieser Gruppen ein Nomen (N) ist, und infolgedessen bezeichnet man Ausdrücke dieser Art als Nominalphrase (NP). Entsprechend sind die Gruppen kommt, betritt das Geschäft und gibt dem Geschäftsinhaber einen Scheck dadurch charakterisiert, daß sie alle ein Verb (V) enthalten; folglich spricht man von Verbalphrase (VP). Ein Satz konstituiert sich also aus Nominalphrase und Verbalphrase, oder, anders ausgedrückt: NP und VP sind die Konstituenten eines Satzes. Da diese beiden Konstituenten genau diejenigen sind, in die ein Satz unmittelbar zerfällt, werden sie als die unmittelbaren Konstituenten des Satzes bezeichnet. Welches sind nun die unmittelbaren Konstituenten einer NP, beispielsweise der Subjekts-NP von (19) ein reicher Kunde! Die Antwort scheint nahezuliegen, es seien die Wörter ein, reicher und Kunde. Bedenken wir aber, daß es sehr viele ähnliche NPs gibt (z.B. die arme Kundin, der arrogante Verkäufer etc.), dann erweist es sich als zweckmäßiger, nicht die einzelnen Wörter, sondern deren jeweilige Wortklassenbezeichnung (also Artikel, Adjektiv und Nomen) als unmittelbare Konstituenten der betreffenden NP aufzufassen. Wir gewährleisten dadurch, daß die unmittelbaren Konstituenten etwa der NP ein reicher Kunde und der NP die arme Kundin die gleichen sind:

15

(21) Art

ein

NP Adj

reicher

N

Kunde

Art

Adj

N

die

arme

Kundin

Die Einfuhrung der Symbole Art, Adj und N bedeutet also eine Generalisierung; erst dadurch werden allgemeine Strukturbeschreibungen (in diesem Fall von möglichen NPs) ermöglicht, nämlich indem man die jeweils unterste Reihe wegläßt. Wir wollen uns nun der Frage nach den unmittelbaren Konstituenten der W betritt das Geschäft zuwenden. Es sind, wie (15) zeigt, die beiden Wortgruppen betritt und das Geschäft, also ein Verb und eine NP. (15) kann somit zu (23) erweitert werden (wobei das Symbol S für „Satz" steht):

(23)

Geschäft

Daß nicht alle Konstituenten aus zwei unmittelbaren Konstituenten bestehen, zeigt die VP von (20), die aus V (gibt), NP (dem Geschäftsinhaber) und ei16

ner weiteren NP (einen Scheck) besteht. Die Frage, ob die beiden NPs als Einheit aufzufassen sind oder nicht, beantwortet sich durch die Ersetzungsprobe: Es läßt sich kein Wort finden, das beide NPs zusammen ersetzen könnte, hingegen kann jede einzelne NP sehr wohl auf ein Wort reduziert werden, z.B. dem Geschäftsinhaber auf Otto und einen Scheck auf etwas. Folglich wird die VP in die unmittelbaren Konstituenten V, NP und NP gegliedert:

(24)

Ein

Kunde

gibt

dem Geschäftsinhaber einen

Scheck

Jeaer Anfangs- oder Endpunkt einer Linie wird Knoten genannt. Knoten werden durch syntaktische Kategorien (S, NP, VP, V, N etc.) oder lexikalische Elemente bezeichnet. Die durch eine Linie zwischen zwei Knoten ausgedrückte Beziehung wird als Kante bezeichnet, die man als gerichtet ansieht, wenn der eine Knoten Ausgangspunkt der Linie ist und der andere Endpunkt. Die Richtung ist durch die hierarchische Anordnung gegeben: Ein Knoten dominiert den (uie) mit ihm verbundenen, unter ihm befindlichen Knoten. Man unterscheidet zwischen direkter und indirekter Dominanz und somit zwischen unmittelbaren und mittelbaren Konstituenten (in (24) ist V unmittelbare Konstituente von VP, da es direkt davon dominiert wird, während die beiden Ns mittelbare Konstituenten von VP sind, da sie indirekt davon dominiert werden). Der oberste Knoten in einem Baumgraphen ist der einzige, zu dem keine gerichtete Kante führt. Die (untersten) Knoten, von denen keine gerichteten Kanten mehr ausgehen, werden als terminate Knoten bezeichnet; die Gesamtheit der terminalen Knoten nennt man die terminate oder Endkette. Alle Symbole, die syntaktische Kategorien bezeichnen, werden Kategoriahymbole genannt. Einen Knoten, der direkt von einem anderen dominiert wird, bezeichnet man auch als dessen Tochter; zwei Knoten, die beide von einem anderen direkt dominiert werden, bezeichnet man als Schwestern voneinander. 17

2.4.

Generative Konstituentenstruktur-Grammatik

2.4. l.

Expansionsregeln (Ersetzungsregeln)

Es dürfte deutlich geworden sein, daß das Verfahren des Strukturalismus vornehmlich darin bestand, aufgrund von möglichst objektiven Tests die Konstituentenstruktur gegebener Sätze zu bestimmen und zwar dergestalt, daß man auf induktivem Wege zu generalisierenden Aussagen über Sätze kam. Die Ergebnisse, die der Strukturalismus dabei erzielte, wurden nun von den Vertretern der GTG zum Teil übernommen; allerdings wählten diese in methodologischer Hinsicht ein genau entgegengesetztes Verfahren33. Ihnen geht es ja nicht darum, die Sätze eines gegebenen Korpus zu segmentieren, die einzelnen Segmente zu klassifizieren und schrittweise die jeweilige Konstituentenstruktur zu ermitteln, sondern vielmehr darum,eine begrenzte Anzahl von Regehi aufzustellen, mit Hilfe derer alle grammatischen Sätze einer Sprache L (d.h. potentiell unendlich viele) samt ihrer Strukturbeschreibung zu generieren sein sollen. Allerdings macht sich die GTG hinsichtlich der Strukturbeschreibungen die Ergebnisse der Strukturalisten zunutze; auch sie verwendet z.B. Strukturbeschreibungen in Form von Baumgraphen, sogenanntenPhraseMarkem (P-Markern). Nur werden solche Baumgraphen jetzt mit Hilfe von formalen Regehi erzeugt. Anstatt zu sagen „S dominiert NP und VP" oder „NP und VP konstituieren S" gibt man jetzt Anweisungen wie „Expandiere S zu NP und VP", die wiederum formalisiert werden, so daß das Resultat generative Regeln sind, mit denen schrittweise Sätze und die zugehörigen Strukturbeschreibungen erzeugt werden können. So würde (1) samt der in (23) dargestellten Strukturbeschreibung mit Hilfe der folgenden Regehi generiert werden:

(25)

(i) (U) (iii) (iv) (v) (vi) (vii) (viii)

S VP NP N N Art Art V

-> -> -»· -» -> -> ->· ->

NP + VP V + NP Art + N Kunde Geschäft ein das betritt

Der Pfeil wird als Anweisung verstanden, das links stehende Symbol in das rechts stehende zu expandieren, bzw. es in der rechten Form neu zu schreiben34. Das Pluszeichen ist ein Verkettungssymbol. Sowohl Pfeil als auch Pluszeichen

33 Vgl. dazu auch Kap. 1.2.5. 34 Im Englischen bzw. Amerikanischen ist die Bezeichnung „rewrite rule" gebräuchlich.

18

gelten als Operatoren. Weiterhin sind folgende Restriktionen zu beachten: Links vom Pfeil darf jeweils nur ein Symbol stehen; dieses Symbol darf nicht leer (d.h. nicht gleich null) sein. Rechts vom Pfeil muß mindestens ein (nicht-leeres) Symbol stehen; es können auch mehr sein. Steht ein Symbol in zwei oder mehr Regeln links vom Pfeil, d. h. gibt es für seine Ersetzung mehrere unterschiedliche Möglichkeiten, wie z. B. die Regeln (25) (iv) und (v) einerseits und (vi) oder (vii) andererseits, so faßt man diese Alternative in einer Regel zusammen. Eine Möglichkeit dafür ist, die jeweils rechts vom Pfeil stehenden Einträge hintereinander zu schreiben und durch Komma voneinander zu trennen. Das Komma besagt also, daß das links vom Pfeil stehende Symbol durch eins der rechts vom Pfeil stehenden Wörter zu ersetzen ist: (25) (ix) (x)

N " -» Art -*·

Kunde, Geschäft ein, das

Was in den Regeln (25) (ix) und (x) rechts vom Pfeil steht, sind Auszüge aus dem Lexikon der deutschen Sprache. Wir können uns natürlich weitere Lexikoneinträge hinzudenken, z.E.Amazone, Schlachtfeld, die. Mit diesen neuen Einheiten und unseren Regeln (25) (i) bis (x) läßt sich nun ein neuer Satz generieren: (26) Die Amazone betritt das Schlachtfeld Da das Lexikon der deutschen Sprache mehrere hunderttausend Wörter enthält, können mit diesen Regeln bereits sehr viele Sätze erzeugt werden (wenn jedes dieser Wörter gewählt werden kann). Um die Zahl der generierbaren Sätze noch zu erhöhen, müssen weitere Satzstrukturen mit berücksichtigt werden. Aufgrund der auf S. 14 f. angestellten Überlegungen kann angenommen werden, daß Regel (25) (i) für alle deutschen Aussagesätze gilt. Unterschiede ergeben sich erst ab Regel (25) (ii). Im folgenden werden die VP-Strukturen der anderen bisher untersuchten Sätze aufgeführt: (25) (xi) VP (xii) VP

-> -*·

V V

+

NP

+ NP

(14) kommt (20) gibt dem Geschäftsinhaber einen Scheck

Die bisher vorgekommenen NP-Strukturen sehen wie folgt aus: (25) (xiii) NP (xiv) NP (xv) NP

-> -» -»

Art N Art

+

N

+

Adj + N

(1) Ein Kunde (12) Peter (19) Ein reicher Kunde

19

Um diese Regeln zu vereinfachen, bedienen wir uns einer Klammernotation. Runde Klammern bedeuten, daß das von ihnen eingeschlossene Symbol fakultativ ist, geschweifte Klammern bedeuten, daß eines der in ihnen (normalerweise untereinander) stehenden Symbole für das links vom Pfeil stehende Symbol einzusetzen ist. Beide Klammerarten können miteinander kombiniert werden. Die Regeln (25) (ii), (xi) und (xii) werden vereinfacht zu (25) (xvi), (25) (iii), (xiii), (xiv) und (xv) werden zu (25) (xvii): (25) (xvi) VP (xvii) NP

-> V(NP)(NP) -»· (Art)(Adj)N

Mit Regel (25) (xvii) lassen sich auch NPs wie z.B. frisches Brot oder schönes Wetter, also NPs olme Artikel, erzeugen. Im folgenden sind die gängigsten Strukturen des Deutschen an Beispielsätzen aufgeführt und in einer ,Gesamtgrammatik' zusammengefaßt. Zur besseren Übersicht geben wir zu jedem Satz die entsprechende VP mit an; dabei lassen wir allerdings Probleme wie Tempus, Modalität etc. bewußt außer acht, um die Darstellung nicht unnötig zu verkomplizieren. Zur Übung mag der Leser zunächst einmal selbst versuchen, aus den Beispielsätzen durch Zusammenfassen der einzelnen Regeln mit Hilfe der oben beschriebenen Klammernotationen die ,Gesamtgrammatik' zu erstellen. (1) Ein Kunde betritt das Geschäft (VP -> V + NP) (17) Peter kommt (VP -> V) (20) Ein Kunde gibt dem Geschäftsinhaber einen Scheck (VP -> V + NP + NP) (27) Der Wind reißt Klaus den Hut vom Kopf (VP ^ V + NP + N P + PP35) (28) Willibald adressiert die Kündigung an den Chef (VP -»· V + NP + PP) (29) Der Bote berichtet von der Niederlage (VP -> V + PP) (30) Asterix ist ein kleiner Gallier (VP -»· V + Präd36) (31) Obelix ist lieb (W -»· V + Präd) Die Zusammenfassung der diesen Sätzen zugrundeliegenden Regeln — deren Formulierung, soweit nicht bereits angegeben, dem Leser überlassen bleiben soll — ergibt die folgende ,Gesamtgrammatik':

(32)

(i) S

^

(ü) VP



(iii) PP



NP + VP ( ( )) V( PP ) l Präd J Präp + NP

35 „PP" steht für „Präpositionalphrase". 36 „Präd" steht für „Prädikativum".

20

(ArtXAdj)N Kunüe, Geschäft, Peter, Geschäftsinhaber, Scheck, Wind, Klaus, Hut, Kopf, Willibald, Kündigung, Chef, Bote, Niederlage, Asterix, Gallier, Obelix ein, das, der, die37 klein, lieb von, an betreten, kommen, geben, reißen, adressieren, berichten, sein

(v) NP (vi) N

(vii) Art (vüi) Adj (ix) Präp

(x) V 2.4.2.

Rekursivität

Mit der hier vorliegenden Konstituentenstruktur-Gramrnatik (PSG)38 lassen sich nun in der Tat sehr viele deutsche Sätze erzeugen. Das in Kap. 1.1.1. angesprochene Ziel, potentiell unendlich viele (deutsche) Sätze zu erzeugen, vermag diese Grammatik hingegen nicht zu erreichen, da die Anzahl der möglichen Strukturen sowie die Anzahl der in diese Strukturen einsetzbaren Wörter begrenzt ist: Die Menge der möglichen Kombinationen ist also ebenfalls endlich. So ist z. B. der folgende Satz nicht im Rahmen dieser PSG generierbar: (33) Der Aufbau der Rede des Präsidenten der USA zeigte die Handschrift seines Ghost-writer Subjekt dieses Satzes ist nicht etwa der Aufbau, sondern der Aufbau der Rede des Präsidenten der USA, also eine NP, die mit unserer Regel (32) (v) gar nicht zu erzeugen ist. Offensichtlich handelt es sich dabei um eine NP, die aus einer NP im Nominativ und mehreren Genitiv-NPs besteht, von denen die erste von der Nominativ-NP abhängt, die zweite von der voraufgehenden Genetiv-NP usf. Der betreffende Teil-P-Marker müßte also etwa wie folgt aussehen: (34) NP

Der

Aufbau

der

Rede

des

Präsidenten

der

USA

37 Wir führen hier die unflektierten Formen auf; selbstverständlich müssen Regeln formuliert werden, die die richtige Form in den jeweiligen Kontext einsetzen. Da dieses Problem hier aber nicht zur Debatte steht, vernachlässigen wir es an dieser Stelle. 38 Nach der englichen Bezeichnung „phrase structure grammar".

21

Wir formulieren versuchsweise eine Regel, die die problematische NP in (33) zu erzeugen in der Lage ist: (32) (xi) NP

-* Art

+ N(Art+N(Art+N(Art+N)))

Diese Regel aber hat den Nachteil, daß sie keine NP erzeugen kann, in der die Zahl der Genitiv-NPs größer als 3 ist. Daß eine solche Beschränkung aber unsinnig ist, zeigt das folgende Beispiel: (35) Die Angestellten des Apparates des höchsten Organs der gesetzgebenden Macht der Republik .. ,39 Da eine zahlenmäßige Beschränkung solcher Genitiv-Konstruktionen also stets willkürlich wäre, nimmt man einfach an, daß sie beliebig, d. h. in unendlicher Weise, fortgesetzt werden können40. Die Erzeugung solcher (potentiell sich in unendlicher Weise fortsetzenden) Strukturen wird ermöglicht durch eine Rekursivregel, d. h. eine Regel, die alle Strukturen rekursiv aufzählt. Formal ist eine Rekursivregel dadurch charakterisiert, daß in ihr rechts vom Pfeil ein Symbol steht, das in einer zuvor angewandten oder in derselben Regel links vom Pfeil vorkommt. Damit der Expansionsprozeß abbrechbar ist, muß das rechts vom Pfeil stehende Symbol (a) fakultativ sein und (b) mindestens ein nicht-fakultatives Symbol in seiner Umgebung haben. Wir ersetzen (32) (xi) also durch die Rekursivregel (32) (xii) NP

-*

(Art)N(NP)

Die links vom Pfeil stehende NP kann u. a. expandiert werden zu a) Art + N b) Art + N + NP Im Falle von (b) muß Regel (32) (xii) erneut angewandt werden, d. h., die nach Art + N stehende NP wird nochmals expandiert, wobei sich wiederum die Alternativen (a) und (b) bieten. Im erneuten Falle von (b) wird abermals Regel (32) (xii) angewandt. Dies kann sich prinzipiell unendlich oft fortsetzen, wodurch die Möglichkeit gegeben ist, beliebig lange Strukturen dieser Art zu erzeugen, und zwar mit Hilfe einer endlichen Regel. Rekursive Regeln sind nicht auf diese Art von Konstruktionen beschränkt, sondern werden beispielsweise auch für die Erzeugung von Relativsätzen benötigt, die sich ja ebenfalls in beliebiger Weise an NPs anschließen lassen, wie (36) zeigt: 39 Das Beispiel stammt aus: Ju. D. Apresjan, Ideen und Methoden der modernen strukturellen Linguistik, München 1971, S. 87. 40 Vgl. in diesem Zusammenhang noch einmal Kap. 1.1.1.

22

(36) Peter heiratete schließlich die Frau, die er in dem Ort traf, in dem er seinen Urlaub verbrachte, den ihm sein Chef, der ihn nicht leiden konnte, zuerst streitig machen wollte. Für die Erzeugung von (36) ist eine Regel notwendig, die eine NP einführt, an die wiederum ein (Relativ-)Satz angehängt ist. Dadurch, daß somit das Symbol S sowohl links (in Regel (32) (i)) als auch rechts vom Pfeil vorkommt, erweist sich auch diese Regel als rekursiv. Wir wollen diesen Fall nicht weiter diskutieren, sondern nur eine mögliche Regelform andeuten, die sowohl für (35) als auch für (36) gilt: (32) (xiii) NP



(Art),N

Erst mit Hilfe von Rekursivregeln dieser Art läßt sich die in Kap. 1.1. erhobene Forderung einlösen, mit endlichen Mitteln eine unendliche Menge von Sätzen und ihren Strukturbeschreibungen zu generieren. 2.5.

Zum methodischen Vorgehen der GTG

Nach der Darstellung der Rekursivität wollen wir uns noch einmal mit dem methodischen Vorgehen der GTG befassen. Die Vertreter der GTG bedienen sich einer Methode, die der induktiven, die die Strukturalisten verwenden, genau entgegengesetzt ist, nämlich der deduktiven. Sie leiten Einzelhypothesen aus einer vorausgesetzten Theorie ab, uie zwar zum Teil auf den Ergebnissen der Strukturalisten aufbaut, deren Herkunft bzw. Entstehungsgeschichte jedoch als prinzipiell irrelevant angesehen wird. Wichtig ist nur, daß alle Hypothesen, die aus der Theorie abgeleitet werden, einer empirischen Überprüfung zugänglich sein müssen. Wenn die Grammatik also einen ,Satz' wie z. B. (2) (*Ein betritt Geschäft Kunde das) ableitet, so müßte(n) die entsprechende(n) Regel(n), die diese Abweichung verursachte(n), revidiert werden. Damit aber handelte es sich nicht mehr um dieselbe Theorie. (In Kap. 1.3.4.2. wird deutlich werden, daß mit Hilfe der bisher diskutierten Regeln neben grammatischen auch abweichende Sätze erzeugt werden; die Theorie muß also in der Tat revidiert werden.) Es wird also gefordert, daß die schrittweise Anwendung der generativen Regeln alle (und nur die) grammatischen Sätze einer Sprache L erzeugt, und zwar durch eine rekursive Aufzählung. Wie dies vor sich geht, soll noch einmal anhand einer Erläuterung von Wunderlich illustriert werden: „Die Elemente einer Klasse K [also alle grammatischen Sätze einer Sprache L; d. Verf.] werden mit Hilfe einer Operation f (manchmal auch mehrerer Operationen f, g, h usw.) aus einem oder mehreren Anfangselementen \Q [also aus S; d. Verf.] sukzessive konstruiert, d. h. die Klasse K wird auf diese Weise aufgezählt" . 41 Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, S. 150.

23

3.

Tiefenstruktur, Oberflächenstruktur und Transformationen

In den vorausgehenden Abschnitten haben wir uns auf den Aspekt der Erzeugung von Sätzen konzentriert. Es ging vor allem um den Terminus generativ', der als erster Teil der Bezeichnung ,generative Transformationsgrammatik' erscheint. Ohne aus den Augen zu verlieren, daß es das grundsätzliche Ziel der Grammatik ist, Sätze mitsamt den dazugehörigen Strukturbeschreibungen zu erzeugen, wollen wir uns nun der Erörterung des Begriffs der Transformation zuwenden, der im zweiten Teil der Benennung des hier darzustellenden Grammatikmodells auftaucht. Es soll zunächst gezeigt werden, daß eine reine Konstituentenstruktur-Beschreibung von Sätzen, wie wir sie auf den vorrigen Seiten kennengelernt haben, wichtige Aspekte außer acht läßt, die nach Meinung der Vertreter der GTG bei der Beschreibung unbedingt berücksichtigt werden müssen. Die Einbeziehung dieser Aspekte macht die Konstruktion eines neuen Grammatikmodells notwendig, das sich vor allem dadurch auszeichnet, daß es neben den in 2.4.1. angeführten Ersetzungsregeln auch sogenannte ,transformationelle' Regeln kennt.

3.1

Iiiadaquatheiten einer reinen Konstituentenstruktur-Beschreibung

3.1.0. Daß eine reine Konstituentenstruktur-Beschreibung von Sätzen unzulänglich ist, haben die Vertreter der GTG mit einer Vielzahl von Argumenten nachzuweisen versucht. Zwei grundsätzliche Einwände gegen eine solche Beschreibung sollen im folgenden dargestellt werden; sie richten sich auf die Repräsentation ambiger (mehrdeutiger) und synonymer (gleichbedeutender) Sätze in einem Konstituentenstrukturmodell, wie es auf den Seiten zuvor skizziert worden ist.

3.1.1.

Die Repräsentation ambiger Sätze

Es gibt im Deutschen eine ganze Reihe von Sätzen, die auf verschiedene Art und Weise verstanden werden können, sogenannte mehrdeutige oder — in anderer Terminologie — ambige Sätze. Als einfaches Beispiel für einen mehrdeutigen Satz kann (37) dienen. (37) Gestern wurde die Wohnungseinrichtung von Herrn Plötenkieker versteigert Dieser Satz kann zum einen so interpretiert werden, daß Herrn Plötenkiekers Wohnungseinrichtung am gestrigen Tag versteigert wurde, aber er kann zum anderen auch besagen, daß Herr Plötenkieker als Auktionator am besagten Tage versucht hat, eine bestimmte Wohnungseinrichtung an den Mann zu brin24

gen. Daß solche Sätze in verschiedener Art und Weise interpretiert werden können, geht uns in einer konkreten Sprechsituation nur selten auf, da ein Satz dieser Art dort zumeist durch den (sprachlichen oder außersprachlichen) Kontext disambiguiert wird, d. h. der Zusammenhang, in dem der Satz geäußert wird, läßt nur die eine oder die andere Interpretation zu. In den meisten Fällen geht uns die Mehrdeutigkeit eines Satzes erst in dem Moment auf, wo wir ihn aus seinem konkreten Verwendungszusammenhang herauslösen und ihn isoliert betrachten; manchmal aber führt der Gebrauch eines ambigen Satzes in der aktuellen Rede auch zu Unklarheiten, die dann sofort mittels Rückfragen beseitigt werden, oder gar zu Mißverständnissen. Wie werden solche ambigen Sätze nun in einer Konstituentenstruktur-Grammatik repräsentiert? Wir wollen hier zur Verdeutlichung von einem anderen, noch einfacheren Beispiel ausgehen, nämlich von dem mehrdeutigen Satz (38). (38) Die Belagerung der Helvetier verzögerte die Angelegenheit Die Konstituentenstruktur-Grammatik, die in den vorherigen Abschnitten entwickelt worden ist, würde diesen Satz — bei einer entsprechenden Erweiterung der lexikalischen Einsetzungsmöglichkeiten — mit seiner Struktur so wie (39) darstellen.

NP

V N Helvetier

l

verzögerte

NP Art

N

die

Angelegenheit

Die Subjekt-NP, auf die wir uns hier konzentrieren wollen, wird durch die Regel (32-i) S -> NP+VP sowie durch die Regel (32-xii) NP -»· (Art)N(NP) erzeugt; die letztere (rekursive) Regel muß dabei zweimal durchlaufen werden: im ersten Fall wird Art + N + NP gewählt, im zweiten (bei der weiteren Expandierung der abhängigen NP) nur noch Art + N. Es ist dabei zu betonen, daß für die Beschreibung von (38) allein die als (39) dargestellte Konstituentenstruktur möglich ist, wenn wir den im vorigen Abschnitt skizzierten Rahmen akzeptieren. Nun macht die ausschließliche Wiedergabe von (38) durch (39) aber nicht deutlich, daß (38) auf zweierlei Art und Weise interpretiert werden kann, und sie vermag noch weniger eine Erklärung für die Ambiguität dieses Satzes liefern. Die Erklärung der Doppeldeutigkeit dieses Satzes ist offensichtlich darin zu suchen, daß die Beziehung 25

zwischen dem Ausdruck die Belagerung und dem Ausdruck der Helvetier nicht eindeutig ist. Zum einen kann es nämlich so sein, daß bei (38) die Helvetier jemanden belagern und daß dies die Angelegenheit verzögert; zum anderen ist es jedoch auch möglich, daß jemand die Helvetier belagerte, was zu einer Verzögerung führte. In diesen Explikationen des jeweiligen Sinngehalts von (38) erscheint die Genitiv-NP des Satzes (38) einmal als Subjekt und einmal als Objekt, und die traditionelle Grammatik spricht so in diesen Fällen von ,Genitivus subiectivus' und ,Genitivus obiectivus'. Die einheitliche Konstituentenstruktur-Beschreibung wie in (39) vermag die unterschiedliche Beziehung der Genitiv-NP zum Rest der Subjekt-NP nicht zu erfassen; die Ambiguität von Sätzen wie (38) bleibt unerklärt. Wenn man nun wie die Vertreter der GTG davon ausgeht, daß eine adäquate Grammatik den Sätzen „eine Struktur-Beschreibung zuordnen [muß], aus der hervorgeht, wie dieser Satz vom idealen Sprecher-Hörer verstanden wird"42, so ist die Konstitutentenstruktur-Grammatik offensichtlich inadäquat, denn der Baumgraph (39) macht keineswegs deutlich, daß (38) auf zweierlei Art und Weise verstanden werden kann. 3.1.2.

Die Repräsentation synonymer Sätze

Ein zweiter grundsätzlicher Vorwurf, den die GTG gegen die Konstituentenstruktur-Grammatik erhebt, betrifft die Beschreibung synonymer, also gleichbedeutender Sätze. In der Terminologie der GTG spricht man von synonymen Sätzen auch als Paraphrasen; wenn zwei Sätze synonym sind, so sind sie Paraphrasen voneinander. Kritisiert wird allerdings nicht die Repräsentation aller möglichen Arten von Paraphrasen durch die Konstituentenstruktur-Grammatik; von den Einwänden ausgenommen bleibt die Darstellung von synonymen Sätzen, die allein deshalb Paraphrasen voneinander sind, weil sie gewisse einzelne gleichbedeutende Ausdrücke enthalten. Als Beispiele für derartige Paraphrasen können die Sätze (40-a) und (40-b) dienen. (40) a. Groschen sind aus Metall b. Zehnpfennigstücke sind aus Metall Angegriffen wird allein die Analyse derjenigen Sätze, die Paraphrasen voneinander sind und sich in der Analyse der Konstituentenstruktur-Grammatik strukturell unterscheiden. Betrachten wir den Satz (41). (41) Peter glaubt, daß er träumt 42 Chomsky, Aspekte, S. 15. 26

Dieser Satz kann mit den Regeln, die wir zuvor in unserer einfachen Konstituentenstruktur-Grammatik formuliert haben, augenscheinlich nicht beschrieben werden. In einer Konstituentenstruktur-Beschreibung würde (41) etwa so wie (42) repräsentiert; das Symbol Komp steht dabei für .Komplementmorphem'. Wir verzichten hier darauf, die in den vorherigen Abschnitten formulierte Erzeugungsgrammatik so umzuformulieren, daß auch die hier angeführte Struktur generiert werden kann; es sollte dem Leser möglich sein, die dazu notwendigen Regelformulierungen selbst zu erarbeiten.

Peter

glaubt

Komp NP

VP

träumt

Anhand des Satzes (41) könnte man nun zunächst die Argumentation von 3.1.1. noch einmal einholen, denn auch dieser Satz ist offensichtlich doppeldeutig, und die Beschreibung als (42) macht nicht klar, daß er auf zweierlei Art und Weise verstanden werden kann. Im Falle von (41) mag Peter nämlich glauben, daß er selbst träumt, oder er kann der Meinung sein, daß jemand anderes träumt. Im ersteren Fall bezöge sich das er und das Peter auf ein und dieselbe Person; man spricht dann von Referenzidentität oder auch Koreferenz. Im zweiten Fall bezöge sich er und Peter auf verschiedene Referenten, d. h. auf verschiedene (Dinge oder) Personen in der Außenwelt. Wenn wir Referenzidentität mit gleichen, ungleiche Referenz hingegen mit verschiedenen Indices ausdrücken, dann kann die Ambiguität von (41) durch (43-a) und (43-b) verdeutlicht werden. (43) a. Peterj glaubt, daß eq träumt b. Peterj glaubt, daß eij träumt Im folgenden wollen wir uns allein auf die Interpretation (43-a) von (41) beziehen, bei der Peter und er miteinander koreferent sind. Betrachten wir nun den folgenden Satz. (44) Peter glaubt zu träumen 27

Dieser Satz könnte in einer Konstituentenstruktur-Grammatik so wie (45) beschrieben werden; das Symbol Inf ist als Abkürzung für ,Infinitivkomplex' zu deuten.

Peter

glaubt

Komp

Das Problem besteht nun darin, daß (42) und (45) durchaus verschieden sind, obwohl (41) [in der Interpretation von (43-a)] und (44) doch als gleich verstanden werden. Wenn von der Grammatik gefordert wird, daß sie zu erklären hat, wie Sätze verstanden werden, so muß sie offensichtlich auch darlegen, daß bestimmte Sätze als .bedeutungsgleich' mit anderen Sätzen verstanden werden. Daß (41) [immer in der Interpretation von (43-a)] und (44) gleich verstanden werden, macht die unterschiedliche Beschreibung als (42) und als (45) aber keinesfalls deutlich. Auch aus diesem Grunde — so die Vertreter der GTG — muß die reine Konstituentenstruktur-Beschreibung von Sätzen als inadäquat zurückgewiesen werden.

3.2.

Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur

Die Konstituentenstruktur-Beschreibung erweist sich offensichtlich als untauglich, der Ambiguität und Synonymität von Sätzen in adäquater Weise Rechnung zu tragen. Die GTG vertritt nun die Ansicht, daß Strukturen wie (39), (42) und (45) nur gewisse oberflächliche' Faktoren widerspiegeln und daß sich hinter diesen Strukturen bestimmte grundlegendere Regularitäten verbergen, die es aufzudecken gilt. In der GTG wird deshalb eine abstraktere Beschreibungsebene für Sätze postuliert, nämlich die Ebene der Tiefenstruktur; auf dieser Ebene können die grundlegenden grammatischen Beziehungen, die die Oberflächenstruktur der Sätze nur unvollkommen und verzerrt wiedergibt, vollständig erfaßt werden. Die Tiefenstrukturen determinieren dabei die semantische Interpretation, d. h. sie machen offenbar, auf welche Art und Weise die betreffenden Sätze verstanden werden können. Die Sätze werden jetzt also auf zwei Ebenen repräsentiert: auf der Ebene der Tiefenstruktur und auf der der Oberflächenstruktur. 28

Wenn die Tiefenstruktur aufweisen soll, wie ein bestimmter Satz bedeutungsmäßig aufgefaßt wird, so reicht die Formulierung nur einer Tiefenstruktur für mehrdeutige Sätze offensichtlich nicht aus. Mehrdeutige Sätze besitzen — wie andere Sätze auch — nur eine Oberflächenstruktur, aber sie haben — im Unterschied zu allen nicht-ambigen Sätzen — mehrere Tiefenstrukturen; die Zahl der Tiefenstrukturen entspricht dabei der Zahl der möglichen Interpretationen dieses Satzes. Im Fall des ambigen Satzes (38) hatten wir zwei mögliche Interpretationen angeführt, und dieser Satz muß also aufgrund seiner Doppeldeutigkeit zwei verschiedene Tiefenstrukturen besitzen. Wenn man sich bei der Darstellung dieser Strukturen auf das Wesentlichste konzentriert43 dann können diese Strukturen als (46) und (47) notiert werden.

(46)

NP

V

verzöger Art d

N Angelegenheit

(47) NP NP

V

S

VP

NP N

V

jemand

belager

verzöger Art NP

d

Art

N

d

Helvetier

l

N Angelegenheit

l

43 Es wird zunächst auffallen, daß die Endsymbole in (46) und (47) - im Gegensatz etwa zu der Oberflächenstruktur (39) - durch endungslose Wortformen bezeichnet werden, z. B. verzöger gegenüber verzögerte oder d gegenüber die. Lautformen wie verzöger oder d sind Teile von Lexikoneintragungen, auf die wir in 3.4.2. noch genauer 29

Es ist direkt einsichtig, daß die hier wiedergegebenen Tiefenstrukturen jeweils die grundlegenden grammatischen Beziehungen widerspiegeln, die bereits in der traditionellen Unterscheidung von .Genitivus subiectivus' und ,Genitivus obiectivus' notiert wurden: in (46) erscheint die Genitiv-NP des Satzes (38) als Subjekt (eines untergeordneten Satzes), in (47) erscheint sie hingegen in Objektposition (ebenfalls in einem untergeordneten Satz). Die oben formulierten Tiefenstrukturen machen zusätzlich deutlich, daß bei der in (38) angesprochenen Belagerung jemand da sein muß, der belagert wird [vgl. (46)] oder der selbst die Helvetier belagert [vgl. (47)] — sie machen also jeweils eine Information explizit, die beim Satz (38) automatisch vom Sprecher-Hörer mitverstanden wird, obwohl sie in der Oberflächenstruktur selbst nicht aufweisbar ist. Wenn die Tiefenstrukturen allgemein angeben sollen, wie bestimmte Sätze vom Sprecher-Hörer verstanden werden, so muß den Sätzen, die synonym sind und somit gleich verstanden werden, offensichtlich ein und dieselbe Tiefenstruktur zugeordnet werden. Die miteinander synonymen Sätze (4l)44

eingehen werden, und sie werden durch bestimmte (transformationeile) Operationen, auf die wir im Rahmen dieser Darstellung nicht weiter eingehen können, mit den verschiedenen notwendigen Endungen versehen, die in den Oberflächenstrukturen erscheinen. (Zur genaueren Information vgl. z. B. Bechert, Johannes, Daniele Clement, Wolf Thümmel und Karl Heinz Wagner, Einführung in die generative Transformationsgrammatik. München 1970, S. 137-160.) - Welche Verbendungen in der Oberflächenstruktur erscheinen, hängt nicht zuletzt auch vom Tempus ab; man vergleiche etwa den Unterschied zwischen den flektierten Formen verzögert und verzögerte. Grundsätzlich muß die Tiefenstruktur auch Informationen in Bezug auf Zeitbestimmungen enthalten; wenn wir diese hier und im folgenden bei der Notierung von Tiefenstrukturen ausklammern, so geschieht das allein deshalb, um die Darstellung übersichtlicher zu machen. 44 (41) besitzt außer (48) natürüch noch eine weitere Tiefenstruktur, da dieser Satz ja ambig ist. Diese zweite Tiefenstruktur, die der Interpretation (43-b) entspricht, kann als (i) wiedergegeben werden.

Peter

30

und (44) besitzen also dieselbe Tiefenstruktur — eine Struktur, die hier als (48) wiedergegeben werden kann45:

Der Unterschied zwischen den Komplementmorphemen in (41) und (44) (einmal daß, einmal zu) kann in der Tiefenstruktur ignoriert werden, da die Komplementmorpheme augenscheinlich keine Auswirkungen darauf haben, wie ein Satz verstanden wird. Dafür macht die Tiefenstruktur (48) wiederum eine Information explizit, die bei (44) vom Sprecher-Hörer automatisch erschlossen wird: daß jemand da ist, von dem angenommen wird, daß er träumt, und daß dieser jemand Peter ist46. Fassen wir noch einmal zusammen: In der GTG werden Sätze nicht nur durch Oberflächenstrukturen beschrieben, sondern es werden zudem Tiefenstrukturen für diese Sätze formuliert. Die Tiefenstruktur eines Satzes (bzw. die Tiefenstrukturen, wenn er ambig ist) gibt (bzw. geben) wieder, wie der betreffende Satz verstanden wird; in mehr fachspezifischer Terminologie können wir sagen, daß sie die semantische Interpretation des Satzes determiniert (bzw. determinieren). Einem jeden Satz ist genau eine Oberflächenstruktur zugeordnet und mindestens eine Tiefenstruktur; wenn der Satz mehrdeutig ist, so 45 Es mag auf den ersten Blick überraschen, daß der eingebettete Satz in (48) von einer NP direkt dominiert wird; die betreffende NP steht dabei in der Objekt-Position, d. h. sie wird von VP direkt dominiert. Diese Darstellung macht jedoch nur eine Einsicht offenbar, die bereits in der traditionellen Grammatik formuliert wurde, nämlich die, daß auch Sätze als Objekte fungieren können: Bei einem Satz wie (41) wird dort die Verbindung daß er kommt allgemein als Objektsatz bezeichnet. 46 Streng genommen ist die Notierung der Tiefenstruktur in (48) immer noch inadäquat, da sie nicht ausdrückt, daß das Subjekt des übergeordneten Satzes referenzidentisch mit dem des untergeordneten Satzes sein muß. Wir wollen hier stillschweigend annehmen, daß (48) diese Information bereits enthält, und nicht weiter auf die Frage eingehen, wie (z. B. durch Referenzindices) dieses Verhältnis formal in der Tiefenstruktur zu kennzeichnen ist.

31

hat er genauso viele Tiefenstrukturen, wie er Interpretationen besitzt. Synonymen, aber strukturell verschiedenen Sätzen wird jeweils ein und dieselbe Tiefenstruktur zugeordnet.

3.3.

Die Erzeugung von Tiefenstrukturen und die Ableitung von Oberflächenstrukturen

Im letzten Absatz haben wir recht allgemein davon gesprochen, daß Sätze Oberflächen- und Tiefenstrukturen „zugeordnet" bekommen. In 2.4. war nun aber deutlich gemacht worden, daß es in der GTG ja gerade nicht darum geht, einfach bestimmten vorliegenden Sätzen Strukturbeschreibungen zuzuordnen, sondern sie will Sätze (mitsamt den dazugehörigen Strukturbeschreibungen) erzeugen. Bisher haben wir nun aber allein von der Generierung von Oberflächenstrukturen gesprochen; diese Oberflächenstrukturen sollten mit Hilfe von Ersetzungsregeln erzeugt werden. Damit stellt sich nun das Problem, wie Tiefenstrukturen zu generieren sind und wie die Verbindung zwischen bestimmten Tiefenstrukturen und bestimmten Oberflächenstrukturen herzustellen ist. Wenn man die Tiefenstrukturen (46), (47) und (48) mit den zuvor notierten Oberflächenstrukturen vergleicht, so fällt bei allen Unterschieden doch eine grundsätzliche Gemeinsamkeit ins Auge: die Tiefenstrukturen sind offensichtlich formale Objekte der gleichen Art wie die in 2.3. angeführten Strukturen zur Repräsentation von Sätzen: es handelt sich um Baumgraphen einer bestimmten Art. Da Baumgraphen nun aber in 2.4. mit Hilfe von Ersetzungsregeln erzeugt wurden, können wir das gleiche Verfahren auch für die Generierung von Tiefenstrukturen in Anspruch nehmen. Die Ersetzungsregeln, die die Erzeugung der Strukturen (46), (47) und (48) gestatten würden, hätten wie (49) auszusehen.

(49)

i. S -» NP + VP ii. VP ^ V (NP) / (Art) N \ üi. NP -»

l s

iv. V -> v. N -* vi. Art -»·

/

belager, verzöger, glaub, träum Helvetier, jemand, Angelegenheit, Peter

Man kann leicht nachprüfen, daß sich mit Hilfe der in (49) formulierten Regeln tatsächlich die genannten Tiefenstrukturen erzeugen lassen. Die Zuhilfenahme von Ersetzungsregeln bei der Generierung von Tiefenstrukturen löst nun jedoch noch nicht das zweite zu Beginn dieses Abschnitts genannte Problem, nämlich das, wie die jetzt erzeugten Tiefenstrukturen auf die dazugehörigen Oberflächenstrukturen zu beziehen sind: es muß ja klargestellt werden, daß z. B. die Tiefenstrukturen (46) und (47) mit der Oberflä32

chenstruktur (39) in Beziehung stehen und nicht etwa mit einer anderen Struktur, wie z.B. (42). Die Frage nach der jeweiligen Beziehung von bestimmten Tiefenstrukturen zu bestimmten Oberflächenstrukturen kann nun dadurch beantwortet werden, daß bestimmte Tiefenstrukturen jeweils bestimmten Oberflächenstrukturen zugrundeliegen und daß eine jede Oberflächenstruktur aus der ihr zugrundeliegenden Tiefenstruktur (oder den ihr zugrundeliegenden Tiefenstrukturen, wenn der in Frage stehende Satz ambig ist) formal hergeleitet wird. Zuvor hatten wir ja gesehen, daß Tiefen- und Oberflächenstrukturen formale Objekte der gleichen Art sind, und so eröffnet sich die Möglichkeit, tiefenstrukturelle Baumgraphen durch bestimmte formale Veränderungen der Baumstruktur in oberflächenstrukturelle zu überführen. Damit kann das Problem, welcher Oberflächenstruktur welche Tiefenstruktur(en) zuzuordnen ist (sind), als gelöst gelten: Tiefenstrukturen liegen Oberflächenstrukturen zugrunde, und eine bestimmte Tiefenstruktur TSj liegt genau dann einer bestimmten Oberflächenstruktur OSj zugrunde, wenn OSj formal aus TSj hergeleitet werden kann. Damit sollte klar sein, daß sich nun ein gesondertes Erzeugungssystem für Oberflächenstrukturen, das sich wie in 2.4. der Ersetzungsregeln bedient, erübrigt. Allein die Tiefenstrukturen werden mit Hilfe von Ersetzungsregeln generiert, während die Oberflächenstrukturen aus den Tiefenstrukturen abgeleitet werden, und zwar durch eine neue Art von Regeln, die sogenannten Transformationen.

3.4.

Transformationen

Wenn wir die Herleitung von Oberflächenstrukturen aus Tiefenstrukturen ins Auge fassen, so ist also der zentrale Begriff der der Transformation. Transformationen sind formale Operationen, durch die Baumstrukturen in andere, abgeleitete Baumstrukturen üöerführt werden. Das Konzept der Transformation ist dabei recht streng bestimmt, d. h. es gibt nur einige genau festgelegte Arten der Baumveränderung, die transformationell durchgeführt werden können. Bevor wir aber diese möglichen Veränderungen genauer kennzeichnen, ist eine begriffliche Präzisierung notwendig. Die Operationen, durch die Tiefenstrukturen in Oberflächenstrukturen überführt werden, sind nicht die ,Transformationen* schlechthin, sondern es handelt sich dabei genau genommen nur um eine Untergruppe von Transformationen, nämlich die »syntaktischen Transformationen'. Daß es daneben auch noch andere, nämlich »lexikalische Transformationen' gibt, wird in 3.4.2. genauer ausgeführt. Im Augenblick wollen wir uns aber auf eine Erörterung der sogenannten syntaktischen Transformationen beschränken.

33

3.4.1.

Syntaktische Transformationen

Baumstrukturen können grundsätzlich durch zwei Grundoperationen verändert werden, durch Adjunktion, d. h. durch Hinzufügung neuer Teile zu einer bereits gegebenen Struktur, und durch Tilgung, d. h. durch die Eliminierung von Teilen einer Struktur. Es gibt nun Transformationen, die nur eine einzige Tilgung oder nur eine einzige Adjunktion durchführen; oft ist es aber so, daß die Transformationen aus einer Tilgung und einer Adjunktion oder gar mehreren Tilgungen und Adjunktionen zusammengesetzt sind. Da aber eine jede solche Transformation ohne weiteres als eine Kombination verschiedener Einzeloperationen begriffen werden kann, haben wir zur Illustration im folgenden Transformationen als Beispiele gewählt, die jeweils nur eine einzige der beiden Grundoperationen von Adjunktion und Tilgung ausführen. 3.4.1.1. Adjunktion Weiter oben hatten wir den Satz (44) erörtert, dessen Tiefenstruktur in 3.2. als (48) formuliert wurde; wir wollen diesen Satz und seine Tiefenstruktur der Anschaulichkeit halber hier noch einmal wiederholen. (44) Peter glaubt zu träumen

Peter

träum

Das Element zu braucht in der Tiefenstruktur nicht zu erscheinen, da es für die semantische Interpretation offensichtlich irrelevant ist. Sicher aber ist, daß dieses zu in der Oberflächenstruktur von (44) auftauchen muß, und dort hat es - aus Gründen, auf die hier leider nicht weiter eingegangen werden kann47 — 47 Daß das zu an den eingebetteten S-Knoten (und nicht etwa an den darüberstehenden NP-Knoten) zu adjungieren ist, ergibt sich aus recht komplexen Überlegungen in Bezug auf Konventionen, die automatisch bestimmte Knoten aus einer Struktur eliminieren; vgl. John R. Ross, A Proposed Rule of Tree-Pruning, in: David Reibel und Sanford S. Schane (Hrsg.), Modern Studies in English. Englewood Cliffs 1969, S. 288-299. 34

unter dem eingebetteten S-Knoten zu erscheinen. Dieses Element zu muß also durch eine Transformation eingeführt werden, und zwar durch Adjunktion; wir wollen die betreffende Transformation hier als zu-Einsetzung bezeichnen. Als Baumveränderung muß die Transformation in ihrer Notierung offensichtlich zweiteilig sein: sie muß angeben, welcher Baum verändert werden soll, und sie muß angeben, welcher Baum das Ergebnis der Veränderung ist. Wenn wir das Zeichen ,=>·' als .verändere zu' interpretieren, so könnten wir demnach die zuvor genannte zu-Einsetzung als (50) formulieren.

(50) zu-Einsetzung (I)

(Der nun entstandene Baum ist natürlich noch nicht die Oberflächenstruktur von (44); wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden, ist zumindest noch eine andere transformationeile Veränderung nötig.) Die Notierung der zu-Einsetzung in der obigen Form ist durch die Darstellung zweier verschiedener Bäume außerordentlich aufwendig, und man versucht deshalb die Formulierung der Transformation zu verkürzen; in einer knapperen Form (die im folgenden noch erläutert werden wird) kann (50) neu als (51) geschrieben werden, (s. S. 36) Das Zeichen SB steht dabei für .strukturelle Beschreibung', d. h. für die Angabe des zu verändernden Baums, das Zeichen SV für .strukturelle Veränderung1, d. h. für die Angabe des neu entstehenden Baums; das Pluszeichen ist als ,adjungiere an' zu interpretieren. Die unter dem Baum gezogenen Striche markieren Teilstrukturen, die nur als Einheiten transformiert werden können, d. h. ihre Internstruktur wird durch die Transformation nicht betroffen. Die Übereinstimmung der sie bezeichnenden Zahlen l und 2 in struktureller Beschreibung und struktureller Veränderung zeigt an, daß die beiden Teilstruk-

35

(51) zu-Einsetzung (II)

SB: SV:

1 1

NP

VP

N

V

Peter

träum 2 zu+2

turen des Baums in (51) unverändert erhalten bleiben. Wichtig ist die Angabe, daß das zu der Teilstruktur 2 (und nicht etwa der Teilstruktur 1) zu adjungieren ist; die Anweisung „zu+2" besagt in genauerer Formulierung, daß das zu als Schwesterkonstituente der höchsten durch 2 zusammengefaßten Konstituenten (nämlich NP und VP) zu adjungieren ist. Die vereinfachte Darstellung der zu-Einsetzung in (51) ist nun zwar korrekt formuliert, aber sie ist dennoch ungenügend. Sie erlaubt es nämlich nur, (mit Hilfe anderer, zusätzlicher Transformationen) einen einzigen Satz abzuleiten, nämlich (44). Das Element zu muß aber in eine ganze Reihe von Baumstrukturen eingefügt werden, wenn wir die Oberflächenstrukturen von anderen Sätzen wie in (52) ebenfalls ableiten wollen. (52) a. Ein jeder glaubte zu träumen b. Der Mann versprach zu gehen Damit auch in solchen Fällen die Einsetzung des zu möglich wird, muß die Regel der zu-Einsetzung generalisiert werden. Aus der Regelnotierung wird man also zunächst einmal all die Elemente herauslassen, die speziell auf unser Beispiel (44) zugeschnitten waren, also zuallererst die Angabe bestimmter lexikalischer Elemente wie Peter, glaub, etc., aber auch das allein stehende N unter den NPs, denn in den Tiefenstrukturen von (52-a) und (52-b) müssen unter NP ja mehrere Elemente erscheinen. Die Regel hat nach einer Generalisierung die Form (53). 36

(53) zu-Einsetzung (III)

SB: SV:

2 zu+2

Ein jeder Baum, der die durch (53) angegebene Struktur besitzt, kann nun durch die zu-Einsetzung verändert werden; was in dem betreffenden Baum dabei unter den in (53) nicht weiter expandierten Knoten NP, V, NP und VP steht, ist ohne Belang. So kann die zu-Einsetzung auf die Struktur (48) angewandt werden, und die Regelnotierung in (53) deckt auch ihre Anwendung auf einen Baum wie (54), der dem Satz (52-b) zugrundeliegt.

Dennoch ist die Regelnotierung in (53) immer noch unzureichend, denn man wird auch Sätze wie in (55) in die Betrachtung mit einschließen müssen. (55) a. Peter verspricht Klaus zu kommen b. Der Junge glaubte zu träumen, aber es war alles real c. Es war wie im Märchen, und Peter glaubte zu träumen Sehen wir uns zunächst (55-a) etwas genauer an. Die Tiefenstruktur dieses Satzes kann hier als (56) wiedergegeben werden.

37

Um von der zugrundeliegenden Struktur (56) zur Oberflächenstruktur von (55-a) zu gelangen, muß offensichtlich ebenfalls das Komplementmorphem zu eingeführt werden. Dies kann jedoch nicht durch die Regel (53) geschehen, denn sie gibt an, daß die Adjunktion des zu dann und nur dann erfolgen kann, wenn die VP des übergeordneten Satzes genau ein V und ein NP direkt dominiert; in (56) hingegen dominiert die betreffende VP ein V und zwei NPs, wobei die zweite Objekt-NP in (56) der in (53) angegebenen Teilstruktur 2 entspricht. — Ähnliche Probleme ergeben sich auch bei der Ableitung der Oberflächenstrukturen von (55-b) und (55-c): die strukturelle Beschreibung von (53) ist ja auf isolierte Sätze zugeschnitten, und die Anwendung dieser Regel ist so dort nicht möglich, wo die uns interessierende Struktur in einen größeren Satzzusammenhang eingebettet ist. Um den hier genannten Schwierigkeiten zu begegnen, ist es notwendig, sogenannte Variablen einzuführen. Diese Variablen stehen im Baumgraphen für gleich welche Teilstruktur — und damit auch für eine ,leere' Teilstruktur, d. h. eine Teilstruktur, die in einem bestimmten zur Veränderung anstehenden Baum überhaupt nicht realisiert ist. Das Ganze wird vielleicht klarer, wenn man sich die Funktion der Variablen am Beispiel unserer Transformation der zu-Einsetzung verdeutlicht. Die folgende Regelnotierung (57) verwendet Variablen, die allgemein durch große Endbuchstaben des Alphabets bezeichnet werden48; wir verwenden hier die Buchstaben W, , und Z. (s. S. 39) In der Formulierung (57) kann die zu-Einsetzung nun auch in den durch (55-a), (55-b) und (55-c) bezeichneten Fällen angewandt werden. Die Variable Z unter VP zeigt an, daß es beliebig ist, was innerhalb der VP links von der NP des Ausdrucks 3 steht; ganz gleich, ob die VP an dieser Stelle allein ein V oder ein V und ein NP dominiert, in jedem Fall kann die zu-Einsetzung erfolgen. Die Regel (57) kann auch auf den Baumgraphen (48) angewandt wer48 Dabei steht das Symbol V natürlich nicht zur Kennzeichnung von Variablen zur Verfugung, denn es hat ja bereits eine festgelegte Interpretation als Kategorialsymbol.

38

(57) zu-Einsetzung (IV) W ^^

SB: SV:

3 ZK+3

l l

den; in dem Fall stehen die Variablen X, W und allesamt für leere, nichtrealisierte Strukturen. Auch die Ableitung der Sätze (55-b) und (55-c) ist durch (57) gesichert; im ersteren Fall stünde allein X, im zweiten allein für eine leere Struktur, während alle anderen Variablen für verschiedene Teile der jeweiligen Baumgraphen stehen49. Anhand der zu-Einsetzung haben wir so eine einfache Transformation kennengelernt, die nur eine einzige Operation, nämlich eine Adjunktion eines einzigen Elements ausführt. Auch die daß-Einsetzung, die für die Ableitung von Oberflächenstrukturen wie (42) aus Tiefenstrukturen wie (48) notwendig ist, führt nur eine einzige Adjunktion aus; wir verzichten darauf, die Formulierung dieser Transformation50 hier noch einmal im einzelnen zu entwikkeln, da die Argumentation dann weitgehendst parallel zu dem verlaufen würde, was wir oben im Zusammenhang mit der zu-Einsetzung ausgeführt haben. 49 Es sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, daß in der Literatur zur GTG Transformationen zumeist nicht mit Hilfe von Baumgraphen notiert werden, wie wir es in dieser Arbeit tun. In den meisten Fällen bedient man sich eines Notationssystems, das dem der Baumgraphen äquivalent ist und als .indizierte' oder .etikettierte Klammerung1 bezeichnet wird. (Vgl. dazu Bechert et al., Einführung S. 29f. und S. 118ff.) In dieser Notierung würde die zu-Einsetzung von (57) so wie (i) aussehen. X

(i) SB: SV:

l l

S[NP

Np[ S [ N P

VPJ]]J

3 zu +3

4 4

50 Diese Transformation könnte annäherungsweise als (i) formuliert werden:

39

3.4.1.2. Tilgung In (50) war bei der ersten Formulierung der zu-Einsetzung die Struktur explizit angeführt worden, die sich nach der Anwendung dieser transformationellen Regel auf den Baumgraphen (48) ergibt; sie soll hier noch einmal gesondert als (58) dargestellt werden.

(i)

SB: SV:

3 daß+3

4 4

Wie die zu-Einsetzung in (57) ermöglicht die daß-Einsetzung in (i) allerdings nur die Einfühlung der betreffenden Komplementmorpheme bei Objektsätzen. Diese Transformationen müßten weiter generalisiert werden, um z. B. auch den Sätzen (ii) und (iii) Rechnung tragen zu können, (ii) Ihn zu treffen war unmöglich (iii) Daß er ihm glaubte, war ein Wunder Auf die notwendigen Generalisierungen kann leider im Rahmen der vorliegenden Einführung nicht weiter eingegangen werden.

40

Im Ableitungsprozeß51 muß nun noch eine zweite Transformation operieren, denn der Struktur (58) würde die ungrammatische Kette (59) entsprechen. (59) Peter glaubt zu Peter träumen Damit wir die korrekte Oberflächenstruktur erhalten, muß offensichtlich die NP Peter im untergeordneten Satz eliminiert bzw. — in der Terminologie der GTG — .getilgt' werden. Die Transformation, die diese Operation durchführt, wird gemeinhin als Equi-NP-Tilgung bezeichnet, und wir können sie in einer sehr spezifischen, direkt auf unser Beispiel bezogenen Form hier zunächst als (60) notieren. (60)

Equi-NP-Tilgung (I)

Peter träum SB: SV:

2 P

Das Zeichen 0 in der strukturellen Veränderung zeigt an, daß die in der strukturellen Beschreibung durch 2 bezeichnete Teilstruktur getilgt wird; dabei wird nicht nur das lexikalische Element Peter aus der Struktur eliminiert, sondern auch die darüberstehenden Kategorialknoten N und NP52. Wir erhalten

51 Die Transformationen, die die Tiefenstrukturen in die betreffenden Oberflächenstrukturen überführen, operieren sequentiell, nämlich so, daß die Ausgabestruktur der ersten Transformation die Eingabestruktur für die zweite bildet, die Ausgabe der zweiten wiederum die Eingabe für die dritte usw. 52 Streng genommen ist die Eliminierung von N und NP allerdings nur mittelbar auf die Wirkung der Equi-NP-Tilgung zurückzuführen. Diese Transformation tilgt allein das Element Peter; die Eliminierung von N und NP geschieht durch eine automatische Tilgungsfconvenf/on (also keine Transformation!) die einen jeden Kategorialknoten aus der Struktur herausschneidet, sobald er nicht mehr dominiert. 41

so die abgeleitete Struktur (61), die sich von der Oberflächenstruktur nur darin unterscheidet, daß in ihr die Verben noch nicht mit den entsprechenden Endungen versehen sind.

Damit unsere Regel aber nicht nur den Satz (44) zu erzeugen gestattet, sondern auch andere Sätze, in denen das Subjekt der Oberflächenstruktur auch als Subjekt eines folgenden Infinitivs mit zu mitverstanden wird, lassen wir aus (60) all die Elemente fort, die speziell auf die Erzeugung von (44) zugeschnitten sind. Schließlich erhalten wir eine generalisierte Form der EquiNP-Tilgung, die als (62) notiert werden kann.

(62)

SB:

l

SV:

l

3

4 4

Diese Formulierung der Equi-NP-Tilgung ist allerdings in einem wichtigen Aspekt inadäquat. Dies wird am ehesten deutlich, wenn man noch einmal auf die in 2.4.1. angeführten Regeln zurückblickt, die lexikalischen Elemente einführen sollten. Wenn wir zur Illustration einmal annehmen, daß die Grammatik 42

u. a. eine Regel wie (63) enthält, dann kann die Kategorie N wahlweise zu einem der folgenden lexikalischen Elemente expandiert werden: Peter, Oskar, Luise oder Karl-Friedrich. (63) N -»·

Peter, Oskar, Luise, Karl-Friedrich

Nehmen wir nun weiter an, die Expansionsregeln hätten einen Baum wie (48) erzeugt, mit dem einzigen Unterschied, daß im eingebetteten Satz das Symbol N nicht zu Peter, sondern zu Oskar expandiert worden wäre; dieser Fall ist durchaus möglich, denn bei jedem neu zu expandierenden N steht ja die Wahl zwischen den verschiedenen lexikalischen Elementen, die die betreffende Ersetzungsregel anbietet, von neuem offen. Wir hätten dann eine Struktur, die die strukturelle Beschreibung der zu-Einsetzung erfüllen würde; der betreffende Baumgraph kann an dieser Stelle als (64) dargestellt werden.

Auch diese Struktur (64) würde die Equi-NP-Tilgung in Form von (62) in die Struktur (61) übertragen. Der Satz Peter glaubt zu träumen hat nun aber keineswegs die Interpretation, daß Peter glaubt, Oskar würde träumen; er kann wie schon zuvor festgestellt — allein besagen, daß Peter von sich selbst glaubt, daß er träumt. Die Struktur (61) darf also auf keinen Fall aus einer Tiefenstruktur hergeleitet werden, die Oskar, der Mann von nebenan, Luise Millerin oder sonst etwas als Subjekt des eingebetteten Satzes enthält, sondern nur aus der Tiefenstruktur, in der das Subjekt des übergeordneten Satzes dem des untergeordneten entspricht. Und wenn wir uns an die Erörterung in 3.1.2. erinnern, so müssen wir sagen, daß es noch nicht einmal ausreicht, wenn diese beiden Subjekte gleich lauten, sondern sie müssen zudem die gleiche Person bezeichnen, d. h. sie müssen referenzidentisch sein; denn Peter glaubt in (44), daß er selbst träumt, und nicht, daß jemand anderes, der zufällig auch Peter heißt, gerade träumt.

43

Wie können wir nun sicherstellen, daß nur (58), nicht aber (64) durch die Equi-NP-Tilgung zu (61) transformiert wird? Ganz einfach dadurch, daß wir in der Notierung der Regel durch eine Bedingung festlegen, daß das Subjekt des eingebetteten Satzes nur dann getilgt werden darf, wenn es mit dem des übergeordneten Satzes identisch ist. Anstelle von (62) wählen wir also (65) als Formulierung der betreffenden Tilgungsoperation53.

Bedingung: 2 = 4 Nur dann also, wenn die in (65) durch 2 bezeichnete NP gleich der durch 4 bezeichneten ist (wobei das Gleichheitszeichen Referenzidentität mit einschliessen soll), kann die Transformation der Equi-NP-Tilgung angewandt werden; da diese Bedingung aber im Fall von (64) nicht erfüllt ist, ist die Anwendung der Regel in diesem Fall wie gewünscht ausgeschlossen54. Nach der zu-Einsetzung, einer Adjunktionstransformation, haben wir nun mit der oben diskutierten Regel eine Tilgungstransformation kennengelernt. Die beiden Transformationen der zu-Einsetzung und der Equi-NP-Tilgung unterscheiden sich aber nicht allein in Hinblick auf die von ihnen durchgeführten Operationen, sondern auch hinsichtlich der Art und Weise, in der sie an53 Hier erweist es sich wiederum als notwendig, Referenzbezeichnungen in die Baumgraphendarstellung zu inkorporieren; vgl. dazu Anm. 46 auf S. 31 oben. 54 Diese Lösung unseres .Problems' darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß Strukturen wie (64) dennoch einige Schwierigkeiten aufwerfen. Denn wenn sie nicht durch die Equi-NP-Tilgung betroffen werden, so wird die Grammatik letztlich ungrammatische Sätze wie (i) erzeugen, obwohl sie doch nur grammatische generieren soll. (i) * Peter glaubt Oskar zu träumen Wie die Ableitung solcher ungrammatischer Strukturen ausgeschlossen werden kann, kann hier leider nicht weiter erörtert werden. (Interessierte seien auf die Möglichkeit hingewiesen, die Chomsky, Aspekte, S. 175f. für die Blockierung von Ableitungen anführt.)

44

gewandt werden. Die Equi-NP-TiJgung ist nämlich eine obligatorische Transformation, während die zu-Einsetzung fakultativ ist. Vergegenwärtigen wir uns zunächst, warum die Equi-NP-Tilgung angewendet werden muß, wenn ein bestimmter Baumgraph ihre strukturelle Beschreibung erfüllt. Nehmen wir die Struktur (58) als Beispiel, die durch die Equi-NP-Tilgung zu verändern ist, und unterstellen wir zunächst, daß die betreffende Regel fakultativ ist, d. h. sie kann auf (58) einwirken, braucht dies aber nicht zu tun. Wenn sie nun nicht auf (58) einwirkt, dann wird der ungrammatische Satz (59) abgeleitet. Da unsere Grammatik ja nur grammatische Sätze ableiten soll, muß die Equi-NPTilgung also auf alle Fälle auf (58) einwirken, mit anderen Worten: sie hat obligatorisch zu sein. — Es bleibt nun noch zu zeigen, daß die zu-Einsetzung angewandt werden kann, wenn ein bestimmter Baumgraph ihre strukturelle Beschreibung erfüllt, daß sie aber nicht unbedingt angewandt werden muß. Nehmen wir die Struktur (48) als Beispiel, die durch die zu-Einsetzung zu verändern ist, und unterstellen wir zunächst, daß die betreffende Regel obligatorisch ist. Der Baumgraph (48) würde also immer zu (58) verändert. Man beachte jedoch, daß dann auf (58) nicht mehr die Transformation der Jaß-Einsetzung angewandt werden kann, da sich zu und daß gegenseitig ausschließen. Es wäre damit nicht mehr möglich, den ebenfalls grammatischen Satz (41) zu erzeugen, und für die Grammatik ist ja gefordert, daß sie alle grammatischen Sätze erzeugt. Die zu-Einsetzung muß demnach fakultativ sein, damit — wenn sie nicht angewandt wird - die daß-Einsetzung auf Baumgraphen wie (48) operieren kann55. 3.4.2.

Lexikalische Transformationen

Die Endknoten der tiefenstrukturellen Baumgraphen sind — wie wir gesehen haben — mit bedeutungstragenden Einheiten aus dem Lexikon bezeichnet, mit sogenannten Lexemen. Bisher sind wir davon ausgegangen, daß auch die Einheiten, die Endknoten in Baumgraphen bezeichnen, durch Ersetzungsregeln eingeführt werden. Diese Annahme bringt aber schwerwiegende Probleme mit sich, wie das folgende einfache Beispiel zeigt. Wir wollen zur Illustration wieder eine Minimalgrammatik heranziehen, die in der Gesamtgrammatik des Deutschen enthalten sein müßte.

(66)

i. ü. üi. iv. v.

S VP NP N V

-» -»· -» -> ->·

NP + VP V (NP) N Peter, Klaus, Holz schlag, splitter

55 Diese Argumentation beruht allerdings auf der Prämisse, daß die zu-Einsetzung grundsätzlich vor der daß-Einsetzung operiert. 45

Die Anwendung der ersten drei Regeln führt — wenn wir VP zu V + NP expandieren — zu dem (noch unvollständigen) Baumgraphen (67).

Wenn man nun das erste N zu Peter, das zweite N zu Klaus und das V zu schlag expandiert, so erhält man eine Tiefenstruktur, aus der letztlich der grammatische Satz (68) abgeleitet werden kann. (68) Peter schlägt Klaus Nun bieten die Regeln (66-iv) und (66-v) aber alternative Möglichkeiten an, um die Kategorien N und V weiter zu expandieren. Nehmen wir an, daß die Ersetzung der Symbole von N Holz für das erste und Klaus für das zweite N von (67) spezifiziert, und wählen wir anstelle von schlag das Lexem splitter als Expansion von V. Dann entsteht ein Baumgraph, aus dem transformationell der Satz (69) abgeleitet würde. (69) *Holz splittert Klaus Dieser Satz ist jedoch zweifellos ungrammatisch, und seine Erzeugung muß deshalb verhindert werden. Was begründet nun die Ungrammatikalität dieses Satzes ? Offenbar doch die Tatsache, daß bei einem Verb wie splitter generell kein Objekt auftauchen darf, denn ohne die NP Klaus erhält man den völlig wohlgeformten Satz (70). (70) Holz splittert Es handelt sich bei splitter also um ein sogenanntes intransitives Verb, das zwar in Strukturen wie (71), nicht aber in solche wie (67) eingesetzt werden darf.

46

Umgekehrt kann aber auch das Verb schlag, das transitiv ist, nur in eine der beiden Strukturen eingesetzt werden, nämlich in (67); wenn es auch in (71) erscheinen könnte, dann würde man ungrammatische Sätze wie (72) ableiten. (72) »Klaus schlägt Die in (66) formulierten Ersetzungsregeln können diesen Einsetzungsbeschränkungen offensichtlich nicht Rechnung tragen. Sie fragen nicht danach, ob die Struktur, in die ein bestimmtes Verb eingesetzt werden soll, ein Objekt (d. h. eine von VP direkt dominierte NP) enthält oder nicht, sondern allein danach, ob ein V vorhanden ist, das ersetzt werden soll. Expansionsregeln wie (66-iv) und (66-v) müssen also durch andere Regeln abgelöst werden, wenn die korrekten Ergebnisse erreicht werden sollen. Außer Ersetzungsregeln haben wir zuvor die Transformationsregeln kennengelernt, und man wird sich nun fragen müssen, ob die letzteren bei der lexikalischen Einsetzung nicht vielleicht die Aufgabe der in diesem Falle augenscheinlich inadäquaten Expansionsregeln übernehmen können. Und das scheint tatsächlich möglich zu sein. In 3.4.0. hatten wir ja die Transformationen allgemein als formale Operationen gekennzeichnet, die Baumgraphen in andere, abgeleitete Baumgraphen überführen. Nehmen wir die Einsetzung des Lexems splitter als Beispiel: Die Einführung dieses Verbs in die Struktur (71) ergibt die Struktur (73).

Man kann nun sagen, daß splitter — wie wir es zuvor formuliert hatten — durch eine Ersetzungsregel in bezug auf V in die Struktur hineinkommt — aber mit gleichem Recht, nur in anderer Sehweise kann man behaupten, daß eine Transformation die Struktur (71) in die neue, abgeleitete Baumstruktur (73) überführt. Diese Veränderung der Betrachtungsweise hat durchaus ihre Vorteile, was schnell offenbar wird, wenn wir die nötige Beschränkung ins Auge fassen, die mit der Einsetzung verbunden ist (daß nämlich splitter nur in eine VP ohne Objekt-NP eingesetzt werden kann). Grundsätzliches Charakteristikum der zuvor betrachteten Transformationen war es ja, daß sie nur auf jeweils ganz bestimmte Baumgraphen angewandt werden konnten, nämlich auf die Baumstrukturen, die die strukturelle Beschreibung der Regel erfüllten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die in 3.4.1.2. angeführte Equi-NP-Tilgung kann nur dann durchgeführt werden, wenn eine Baumstruktur gegeben ist, die mit 47

der strukturellen Beschreibung in (65) vereinbar ist und in der das Subjekt des übergeordneten mit dem des untergeordneten Satzes identisch ist. In gleicher Weise muß ein Strukturbaum bestimmte Bedingungen erfüllen, wenn die Einsetzung eines Verbs wie splitter möglich sein soll: die VP, innerhalb derer dieses Verb eingesetzt wird, darf nämlich keine NP direkt dominieren. Man kann so eine Transformation der ,splitter'-Einsetzung formulieren. (74)

,splitter'-Einsetzung W

T X

W

l

v SB: SV:

l l

2 splitter

3 3

Diese Transformation ist offensichtlich eine Adjunktion, allerdings von einer etwas anderen Form als die Adjunktionen, die wir zuvor kennengelernt haben. Diese enthielten ja das Zeichen „+", das als „adjungiere als Schwester von" zu interpretieren ist. Die Regelformulierung in (74) besagt demgegenüber, daß das Verb splitter als Tochter des untersten Knotens des Terms 2 adjungiert werden soll, also im abgeleiteten Baum direkt von V dominiert wird. Die strukturelle Beschreibung von (74) trifft nun offensichtlich auf die Struktur (71) zu (die Variable X ist in diesem Fall durch die Teilstruktur W spezifiziert, während gleich Null ist), nicht aber auf die Struktur (67), da dort die W ja nicht allein das Verb, sondern noch eine NP dominiert. Die Erzeugung des ungrammatischen Satzes (69) wird so wie gewünscht ausgeschlossen. In ähnlicher Weise wie die Splitter-Einsetzung können wir nun die Einsetzung des Verbs schlag formulieren.

>)

,schlag'-E inset zung W

^-^T^ ^^ l ^\ •—

X

SB: SV:

48

VP

^-•^\ ^^ v NP

1 2 1 schlag

3 3

Es dürfte klar sein, daß (75) wiederum nur auf (67), nicht aber auf (71) anwendbar ist; die Erzeugung des nicht-wohlgeformten Satzes (72) wird also ebenfalls verhindert. Und es dürfte ebenso leicht einzusehen sein, daß nach dem gleichen Muster auch die Einsetzung von Verben gesteuert werden kann, die noch mehr notwendige Ergänzungen fordern, wie z.B. geh oder lehr56. Bisher haben wir nur die Insertion (Einsetzung) von Verben betrachtet; wir werden auf die Einsetzung von Nomina noch zurückkommen. Zunächst aber ist allgemein festzuhalten, daß die Einsetzung von bedeutungstragenden Einheiten, den Lexemen, transformationell geschieht, und zwar durch sogenannte ,lexikalische' Transformationen. Zu einer jeden lexikalischen Einheit gibt es genau eine lexikalische Transformation, die diese Einheit in Baumgraphen einsetzt, für das Verb splitter die als (74) genannte Regel, für schlag die Regel (75), etc. Nun ist es allerdings in der GTG nicht üblich, diese lexikalischen Transformationen jeweils so aufzuführen, wie wir es oben unter (74) und (75) getan haben. Man geht allgemein davon aus, daß die bedeutungstragenden Einheiten jeweils einen bestimmten Komplex bilden; eine jede Einheit stellt einen sogenannten Lexikoneintrag dar. Der Lexikoneintrag spezifiziert dabei u.a. die Lautform der betreffenden Einheit und gibt auch an, unter welchen Bedingungen diese Einheit in eine Struktur eingesetzt werden kann57. Vereinfacht könnte man die Lexikon-Eintragung von schlag zunächst etwa so formulieren:58

Der zweite Teil der Lexikoneintragung kann dann per Konvention in die strukturelle Beschreibung einer lexikalischen Transformation überführt werden; diese Transformation setzt dann — wenn die strukturelle Beschreibung erfüllt ist — die Einheit schlag unter dem entsprechenden Symbol V in den Baumgraphen ein. Doch wenden wir uns nun der Einsetzung von Nomina zu. Bei der Annahme lexikalischer Ersetzungsregeln wie in (66) ist die Insertion der Nomina (genau 56 Chomsky spricht im Zusammenhang mit den Bedingungen, die sich auf den kategorialen Kontext beziehen, in den ein bestimmtes Element eingesetzt werden kann, von strikter Subkategorisierung (vgl. dazu Chomsky, Aspekte, S. 121ff.). 57 Zu einer genaueren Erörterung dessen, was eine Lexikon-Eintragung letztlich alles spezifizieren muß, vgl. Chomsky, Aspekte, S. 118f. 58 Die Notierung in (76) wirft noch einige technische Probleme auf, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. (So muß z.B. sichergestellt werden, daß die Form schlag unter V und nicht etwa unter NP eingehängt wird.) 49

wie die der Verben) generell unrestringiert, d. h. gleich welches Nomen kann unter gleich welchem Symbol N in einer Struktur eingesetzt werden. Die Beliebigkeit der Einsetzung mußte — wie wir gesehen haben — für die Verben eingeschränkt werden; wir wollen hier für die Nomina an ihr festhalten. Die Insertion von Holz kann somit durch die folgende transformationeile Regel beschrieben werden.

(77)

SB: SV:

l l

2 Holz

3 3

Das Element Holz kann also in gleich welchem Kontext unter einem N eingesetzt werden, denn die Variablen W, X und stehen ja für beliebige Teilstrukturen in Baumgraphen. Da die Insertion von Nomina allgemein (und nicht nur für Holz) beliebig sein soll, können wir sagen, daß alle lexikalischen Transformationen, die Substantive einführen, die strukturelle Beschreibung von (77) haben; nur ihre strukturelle Veränderung ist verschieden, je nachdem welches Nomen jeweils eingesetzt wird. Nehmen wir nun an, daß die Regel (77) angewandt wird, um das Subjekt in der Struktur (67) zu spezifizieren, und nehmen wir weiter an, daß eine entsprechende .Klaus'-Einsetzung das Element Klaus unter das N in der Objekt-NP einsetzt. Man erhält dann die abgeleitete Struktur (78).

Holz

Diese Struktur erfüllt nun aber offensichtlich die strukturelle Beschreibung der Regel (75), so daß das Verb schlag unter dem Symbol V in (78) eingesetzt werden kann. Dadurch entsteht eine Struktur, die letztlich zu dem Satz (79) führen würde59. 59 (79) ist zweifellos grammatisch, wenn Holz als Eigenname verstanden wird; wir haben hier jedoch nur die Interpretation dieses Wortes im Auge, bei der es ein bestimmtes Material bezeichnet.

50

(79) *Holz schlägt Klaus Auf gleiche Art und Weise könnte die Insertion von Klaus in den Baumgraphen (71) und die nachfolgende Anwendung der Regel (74) zu dem ebenfalls abweichenden Satz (80) führen. (80) »Klaus splittert Die Sätze (79) und (80) sind nun aber offenkundig abweichend, und ihre Erzeugung sollte durch eine adäquate Grammatik ausgeschlossen werden. Bevor wir diskutieren können, wie die Generierung von ungrammatischen Sätzen in der Art von (79) oder (80) verhindert werden kann, sind weitere Erörterungen notwendig, die die Lexikon-Eintragungen von Substantiven betreffen. Die Lexikon-Eintragung von Klaus etwa könnte — analog zu der VerbEintragung in (76) — so wie in (81) dargestellt werden.

(81) Klaus,

Wir wollen nun aber annehmen, daß diese Lexikon-Eintragung zusätzlich noch Merkmale enthält, die das Nomen Klaus genauer spezifizieren. (In der Terminologie der GTG spricht man davon, daß die Nomina ,subkategorisiert' werden.) Man kann Klaus z. B. durch die Merkmale [+Belebt] und [+Mensch] genauer bestimmen; sie besagen, daß Klaus ein Lebewesen und — genauer — einen Menschen bezeichnet. Die Lexikon-Eintragung sähe dann nicht wie (81), sondern wie (82) aus. (82) Klaus +Belebt |_+MenschJ

In gleicher Art und Weise kann nun auch Holz genauer bestimmt werden: Holz bezeichnet weder ein Lebewesen noch einen Menschen und besitzt also die Merkmale [-Belebt] und [-Mensch]. Diese Subkategorisierung könnte sicher noch erweitert werden, sie wäre auch weiter zu systematisieren60; wir

60 Man vergleiche dazu z.B. die Erörterungen in Chomsky, Aspekte, S. 107ff.; Bechert et al., Einführung, S. 57ff. sowie Chr. Schwarze, Bemerkungen über Selektionsmerkmale, in: Dieter Wunderlich, ed. Probleme und Fortschritte der generativen Transformationsgrammatik, München 1971, S. 266-277.

51

sparen uns hier diese Einzelheiten und notieren den Lexikon-Eintrag von Holz als (83).

(83) Holz -Belebt L-Menschj

Diese Merkmale werden — so wollen wir bestimmen — bei der lexikalischen Einsetzung mit in den Baumgraphen übertragen. Wir wollen nun die lexikalischen Transformationen, die Verben einsetzen, so verändern, daß sie auf diese Merkmale Bezug nehmen können. (Es ist jedoch zunächst eine Vorbedingung zu erfüllen: es muß festgesetzt werden, daß die lexikalischen Transformationen, die Nomina einsetzen, grundsätzlich vor denen operieren, die Verben in die Struktur einbringen. Nur unter dieser Voraussetzung hat es Sinn, die Insertion von Verben von den Merkmalen der sie umgebenden Nomina abhängig zu machen.) Was macht nun die Grammatikalität des Satzes (68) aus, wenn wir ihm den nichtwohlgeformten Satz (79) gegenüberstellen? (68) Peter schlägt Klaus (79) »Holz schlägt Klaus Das Verb schlag erfordert augenscheinlich ein Subjekt mit dem Merkmal [+Mensch], was in (68) erfüllt ist; in (79) nimmt hingegen Holz die Subjektposition ein, und Holz enthält ja das Merkmal [-Mensch]. Wir müssen also den strukturellen Index der Regel (75) so verändern, daß das Element schlag nur dann eingesetzt werden darf, wenn das Subjekt des betreffenden Satzes einen Menschen bezeichnet (und damit in der Struktur das Merkmal [+Mensch] enthält). Damit aber noch nicht genug: auch in bezug auf das Objekt wird die Insertion von schlag restringiert werden müssen, wie z. B. die folgenden Sätze beweisen. (84) a. Der Mann schlägt das Kind b. Der Mann schlägt den Hund c. *Der Mann schlägt den Tisch Wie (74-b) zeigt, braucht das Objekt allerdings nicht unbedingt einen Menschen zu bezeichnen (wie bei (68) oder (84-a)); es genügt, wenn es das Merkmal· [+Belebt] trägt. Wir können die Regel (75) nun in revidierter Form als (85) notieren. 52

(85)

schlag-Insertion

3 schlag

SB: SV:

4 4

Nehmen wir nun an, daß die Struktur (67) durch die Insertion der Nomina Peter und Klaus so verändert wird, daß sich nach diesen beiden lexikalischen Transformationen der abgeleitete Baumgraph (86) ergibt.

Peter +Belebt l+Mensch l

Klaus +Belebt {_ +Mensch J

In diese Struktur kann nun durch die Regel (85) das Verb schlag unter dem Symbol V eingesetzt werden, da die durch die strukturelle Beschreibung der sc/z/o^-Insertion geforderten Voraussetzungen erfüllt sind61. Anders stünde es 61 Sie sind in Bezug auf die Merkmale deshalb erfüllt, weil in (86) unter der SubjektNP das Merkmal [+Mensch] und unter der Objekt-NP [+Belebt] steht, wie es in der strukturellen Beschreibung von (85) gefordert wird. Daß in (86) unter den in Frage stehenden Nominalphrasen jeweils noch ein anderes Merkmal steht, ist in diesem Zusammenhang irrelevant; wichtig ist allein, daß die durch die strukturelle Beschreibung von (85) angegebenen Merkmale in dem zu verändernden Baum an den entsprechenden Stellen auftauchen und daß die Spezifizierung ihrer Vorzeichen (hier: ±) übereinstimmt. Bedingungen, die sich auf Merkmale des Kontextes beziehen, in den ein bestimmtes Element eingesetzt wird, werden übrigens in der GTG als Selektionsrestriktionen bezeichnet (vgl. Chomsky, Aspekte, S. 127).

53

hingegen, wenn zuvor das Element Holz als Spezifizierung des Subjekts eingetragen worden wäre. Da Höh das Merkmal [-Mensch] trägt, die strukturelle Beschreibung der Regel (85) aber als Merkmal [+Mensch] unter der SubjektNP verlangt, kann der ungrammatische Satz (79) nicht abgeleitet werden; genausowenig kann Höh in Objektposition zu schlag erscheinen, da dort das Merkmal [+Belebt] gefordert ist62. Wir ersparen es uns hier, noch einmal den nun revidierten Lexikon-Eintrag von schlag zu notieren; man kann ihn aus der Regelnotierung von (85) in der gleichen Art und Weise erschließen, wie (76) aus (75) erschlossen wurde. Wir verzichten auch darauf, hier noch gesondert zu diskutieren, wie der ungrammatische Satz (80) auszuschließen wäre, d. h. wie die Einsetzung von splitter restringiert werden muß. Die bisherige Erörterung sollte es dem Leser möglich gemacht haben, die betreffende lexikalische Transformation (unter Zuhilfenahme weiterer Merkmale) selbst zu formulieren. Fassen wir zum Schluß noch einmal zusammen: Die lexikalischen Transformationen setzen Einheiten aus dem Lexikon in Baumgraphen ein. Die Lexikon-Einträge spezifizieren u.a.: die lautliche Form des betreffenden Elements und die Bedingungen seiner Einsetzbarkeit (die als strukturelle Beschreibung einer dazugehörenden lexikalischen Transformation interpretiert werden können). Die Lexikon-Einträge von Nomina enthalten zusätzlich subklassifizierende Merkmale, die mitsamt der phonologischen Form in den Baumgraphen übertragen werden. Grundsätzlich werden alle Nomina in einen Baumgraphen eingesetzt, bevor die erste Insertion eines Verbs vollzogen wird. Die Insertionsbedingungen für Verben (d. h. die strukturellen Beschreibungen der Transformationen, die Verben einsetzen) ziehen auch Merkmale der sie umgebenden Nomina in Betracht.

3.5.

Über Tiefenstrukturen und wie man sie findet

Zum Abschluß wollen wir zunächst versuchen, die Tiefenstrukturen noch einmal zusammenfassend zu charakterisieren. In 3.3. hatten wir anhand eines Zitats von Chomsky notiert, daß die Beschreibung eines Satzes auf der Ebene der Tiefenstruktur klarstellen soll, wie der betreffende Satz vom SprecherHörer verstanden wird; in anderer Sprechweise können wir so sagen, daß die 62 Die letztere Feststellung mag vielleicht überraschend klingen, da wohl alle kompetenten Sprecher des Deutschen (i) als grammatisch ansehen würden. (i) Klaus schlägt Holz Wir sind allerdings der Meinung, daß das Verb schlag, das in (i) erscheint, nicht mit dem identisch ist, das wir z. B. in (84a) und (84b) finden: wir unterscheiden also zwischen schlag^ im Falle von (84-a) und (84-b) und schlag^ im Falle von (i). Der Satz (i) ist grammatisch in Bezug auf schlag^', in Bezug auf schlag^ ist er hingegen genauso ungrammatisch wie (84-c). 54

Tiefenstrukturen die semantische Interpretation der Sätze determinieren. Dabei ist hervorzuheben, daß allein die Tiefenstruktur für die semantische Interpretation relevant ist63. Die Tiefenstrukturen sind dabei eindeutig, d.h. sie besitzen jeweils eine und nur eine semantische Interpretation, im Gegensatz zu Oberflächenstrukturen, die — wenn sie mehrdeutig sind — ja auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden können. Da die Tiefenstruktur eines Satzes dessen semantische Interpretation bestimmen soll und da Tiefenstrukturen grundsätzlich nur eine unwechselbare semantische Interpretation besitzen, liegen mehrdeutigen (ambigen) Oberflächenstrukturen genau so viele Tiefenstrukturen zugrunde, wie sie verschiedene Interpretationen besitzen. Synonymen, aber strukturell unterschiedlichen Oberflächenstrukturen hingegen liegt ein und dieselbe Tiefenstruktur zugrunde.

(87) TSi,

i

TSn

OSn

synonym

ambig

Mit Hilfe der Tiefenstruktur wird also die Ambiguität von Oberflächenstrukturen aufgeschlüsselt; auf der anderen Seite wird der Synonymität strukturell verschiedener Oberflächenstrukturen zusammenfassend Rechnung getragen. Damit die Bedeutung eines Satzes vollständig aus der Tiefenstruktur erschlossen werden kann, muß diese bereits sämtliche bedeutungstragenden Elemente enthalten, die für die semantische Interpretation relevant sind. Die Tiefenstruktur kann also als Ausgabe der Komponente lexikalischer Transformationen bestimmt werden. Die lexikalischen Transformationen operieren sozusagen ,im Block' vor den syntaktischen Transformationen; die Tiefenstruktur ist die Ausgabe der Komponente der lexikalischen Transformationen und die Eingabe für die Komponente der syntaktischen Transformationen64. 63 In einer neueren Version der GTG, die in den letzten Jahren von Chomsky, Jackendoff, Dougherty u. a. erarbeitet worden ist, gilt diese Bestimmung des Aspects-Modells, das wir hier zugrundegelegt haben, nicht mehr; dieser Konzeption zufolge, die gemeinhin als .erweiterte' oder .revidierte Standardtheorie' bezeichnet wird, soll neben der Tiefenstruktur (zumindest) auch noch die Oberflächenstruktur semantisch interpretiert werden. (Vgl. dazu: Noam Chomsky, Studies on Semantics in Generative Grammar, The Hague 1972 und Ray S. Jackendoff, Semantic Interpretation in Generative Grammar, Cambridge, Mass. 1972) 64 Diese Bedingung ist inzwischen von einer Gruppe der Vertreter der GTG aufgegeben worden, die davon ausgehen, daß die lexikalischen und syntaktischen Transformationen nicht im Block, sondern untereinander verstreut operieren. Die Vertreter dieser Gruppe, unter denen vor allem Lakoff, McCawley, Postal und Ross zu nennen sind, wen55

Eine letzte Bestimmung bleibt nachzutragen. Es genügt ja für die semantische Interpretation offensichtlich nicht, eine ungeordnete Menge von lexikalischen Einheiten versammelt zu haben; wichtig sind vor allem auch die Beziehungen zwischen den Einheiten, ihr struktureller Zusammenhang. In der Tiefenstruktur werden also die grundlegenden Beziehungen zwischen den Einheiten des Satzes, seinen Konstituenten, dargestellt. Diese grundlegenden Relationen erscheinen in der Oberflächenstruktur bisweilen nur noch in verzerrter Form; man denke etwa an die Erörterung von Genitivus subiectivus und Genitivus obiectivus in 3.2. Wenn man weiß, was Tiefenstrukturen sind, welchen Platz sie im System der Grammatik einnehmen und welche Informationen sie bereitstellen, so weiß man damit noch lange nicht, wie die Tiefenstruktur für einen bestimmten Satz ermittelt werden kann. Anfängern geht es meist so, daß sie die Ableitung einer bestimmten Oberflächenstruktur aus einer vorformulierten Tiefenstruktur in Beispielen durchaus plausibel finden, daß sie dagegen aber kaum in der Lage sind, zu einer anderen gegebenen Oberflächenstruktur eine Tiefenstruktur zu konstruieren und einen transformationellen Ableitungsweg zu postulieren, der dann wiederum zu dieser Oberflächenstruktur führt. Wir wollen deshalb hier noch einige Anmerkungen zur Heuristik machen, die die Ermittlung von Tiefenstrukturen steuern helfen können; diese Hinweise können allerdings keine systematische Übung in transformationellen Analysen ersetzen, die — unter sachkundiger Anleitung — unerläßlich bleibt, um mit dem hier dargestellten Modell der Sprachbeschreibung wirklich arbeiten zu können. Wichtigstes Hilfsmittel bei der Ermittlung von Tiefenstrukturen ist die Methode der Paraphrasierung. Wird zu einem bestimmten Satz eine Tiefenstruktur und die Ableitung, die zu der betreffenden Oberflächenstruktur führt, gesucht, so beginnt man am besten damit, solche Sätze zu suchen, die mit dem vorgegebenen Satz synonym sind, und zwar synonym nicht allein deshalb, weil synonyme Ausdrücke in dem vorgegebenen und dem neu zu bildenden Satz vorliegen. (Wenn etwa im einen Satz das Wort Streichholz vorkommt und der andere genau gleich konstruiert ist, nur anstelle von Streichholz den synonymen Ausdruck Zündholz enthält, so hilft uns das bei der Ermittlung der Tiefenstruktur überhaupt nicht.) Nehmen wir z. B. an, daß für den Satz (88) die Tiefenstruktur gesucht wird, aus der dieser Satz herzuleiten ist. (88) Klaus trinkt Bier und Peter Wein den sich sowohl gegen das hier vorgestellte Aspects-Modell als auch gegen die Konzeption einer .revidierten Standardtheorie'; ihre eigene Konzeption bezeichnen sie als .generative Semantik'. (Vgl. zur Einführung in diesen Themenkomplex: Robert I. Binnick, Zur Entwicklung der generativen Semantik, in: W. Abraham und R.I. Binnick, eds. Generative Semantik, Frankfurt 1972, S. 1-48). 56

Die Suche nach synonymen Sätzen fuhrt schnell zum Satz (89). (89) Klaus trinkt Bier, und Peter trinkt Wein Als zusätzliches Beispiel wollen wir (55-a) heranziehen. (55) a. Peter verspricht Klaus zu kommen Dieser Satz kann durch (90) paraphrasiert werden: (90) Peter verspricht Klaus, daß er kommt Bei der Konstruktion der Tiefenstruktur orientiert man sich zunächst an den Sätzen, die möglichst explizit sind, d. h. an den Sätzen, in denen Informationen offen genannt werden, die in der (oder den) Paraphrase(n) nur implizit enthalten sind. Da synonyme Sätze ja aus ein und derselben Tiefenstruktur herzuleiten sind, muß für (88) und (89) ein und dieselbe Ausgangsstruktur formuliert werden; bei der Konstruktion dieser Ausgangsstruktur orientiert man sich zunächst an (89), da dieser Satz ein Element (trinkt) enthält, das in (88) zwar automatisch mitverstanden wird, aber nicht explizit erscheint. In gleicher Weise wird man sich im Falle von (55-a) und (90) zunächst an (90) orientieren, da dort im Gegensatz zu (55-a) noch ein Subjekt zu dem Verb gehen angegeben wird. Die letzteren Beispiele zeigen jedoch, daß eine einfache Paraphrasierung des öfteren nicht ausreicht; es muß eine weitere Explizierung der Bedeutung nachfolgen, denn (90) ist ja nur dann mit (55-a) synonym, wenn das er des Nebensatzes als Wiederaufnahme von Peter interpretiert wird. All diese Informationen müssen in der Tiefenstruktur ausgedrückt werden. Man notiert also zunächst die Oberflächenstruktur der explizitesten Paraphrase. Aus dieser Oberflächenstruktur werden nun all die Elemente fortgelassen, die offensichtlich keinerlei Bedeutung tragen. (Das betrifft z. B. das Lement daß des Satzes (90).) Zudem werden die flektierten Formen (z. B. trinkt) durch die entsprechenden Lexeme (also trink) ersetzt. Elemente, die eventuell auch in der Oberflächenstruktur der explizitesten Paraphrase nicht erscheinen, aber implizit jeweils mitverstanden werden, müssen zusätzlich in die Struktur eingesetzt werden. Man gewinnt so eine abstraktere Struktur, aus der es nun die Oberflächenstrukturen der betreffenden Sätze transformationell herzuleiten gilt. Es sind also die weggelassenen bedeutungslosen Elemente durch Adjunktion wieder einzuführen (das daß bei (90), das zu bei (55-a)), die Verbformen müssen so verändert werden, daß sie mit dem Subjekt des betreffenden Satzes oder Teilsatzes kongruieren, bestimmte Elemente sind zu tilgen (das trinkt des zweiten Teilsatzes bei (88), das Peter im eingebetteten Satz bei (55-a)), etc.

57

Es sei jedoch nochmals betont, daß diese Hinweise nur eine erste Orientierung für die Ermittlung von Tiefenstrukturen bilden können. Wie eine Tiefenstruktur im einzelnen aufgebaut werden muß, hängt nämlich zumeist von äusserst komplexen Überlegungen ab, die nicht nur einzelne Paraphrasenpaare betreffen, sondern Ähnlichkeiten zwischen Klassen von Sätzen, bei denen in der Komponente der syntaktischen Transformationen ein partiell gemeinsamer Ableitungsweg konstruiert werden muß. Auf all die Probleme, die damit zusammenhärigen, kann leider in einer sehr knappen Einführung wie der vorliegenden nicht eingegangen werden.

4.

Der Aufbau der Grammatik

Wir haben uns bei der Darstellung bisher darauf beschränkt zu erläutern, wie Sätze mitsamt ihren Strukturbeschreibungen erzeugt werden. Im Rahmen des Modells der GTG, das wir hier zugrundegelegt haben, wurden verschiedene Komponenten der Grammatik vorgestellt, deren gemeinsames Kennzeichen es ist, das sie jeweils generativ sind. Mit Hilfe von Ersetzungsregeln und lexikalischen Tranformationen werden Tiefenstrukturen erzeugt, und diese Tiefenstrukturen werden dann im weiteren Generierungsprozeß durch die Komponente syntaktischer Transformationen in Oberflächenstrukturen überführt. Damit aber ist das Beschreibungssystem der Grammatik noch nicht erschöpfend charakterisiert worden, denn es enthält zusätzlich noch zwei weitere Komponenten, die nicht generativ, sondern interpretativ sind. Da gibt es zunächst einmal eine Komponente semantischer Interpretationsregeln, die Tiefenstrukturen interpretieren und ihnen semantische Lesarten zuordnen 65 . Ebenfalls interpretativ ist die Komponente phonologischer Interpretationsregeln, die auf den Oberflächenstrukturen arbeiten und ihnen phonetische Repräsentationen zuweisen66 . Wenn wir diese Teilkomplexe ebenfalls berücksichtigen, dann kann der Gesamtaufbau der Grammatik durch ein Schema wie (78) wiedergegeben werden. Dabei bezeichnen die geschlossenen Linien Komplexe von Regeln, während durchbrochene Linien Satzrepräsentationen auf verschiedenen Ebenen kennzeichnen.

65 Vgl. dazu vor allem: Jerrold J. Katz und Jerry A. Fodor, Die Struktur einer semantischen Theorie, in: Hugo Steger, ed., Vorschläge für eine strukturale Grammatik des Deutschen, Darmstadt 1970, S. 202-268 sowie Uriel Weinreich, Erkundungen zur Theorie der Semantik, Tübingen 1970. 66 Vgl. dazu vor allem: Noam Chomsky und Morris Halle, The Sound Pattern of English, New York 1968; zur Einführung: W. Mayerthaler, Einfuhrung in die generative Phonologie, Tübingen 1974. 58

(78)

GRAMMATIK Ersetzungsregeln

lexikalische Transformationen

l Tiefenstrukturen

L

semantische Interpretationsregeln

semantische Repräsentat.

phono logische Interpretationsregeln

phonetische " Repräsentat.

1r

syntaktische Transformationen 1r

Oberflächenstrukturen

Ersetzungsregeln und lexikalische Transformationen, zusammen auch oft als Basis der Grammatik bezeichnet, ergeben also Tiefenstrukturen, die durch die semantische Komponente der Grammatik interpretiert werden. Die Tiefenstrukturen werden durch die syntaktischen Transformationen in Oberflächenstrukturen überführt, die dann wiederum phonologisch interpretiert werden.

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II. Kapitel

Wissenschaftstheoretische Überlegungen zum linguistischen Strukturalismus als einer Sprachkompetenztheorie Manfred Geier

1.

Was liefert wissenschaftstheoretische Reflexion?

Eine Einführung in die Generative Transformationsgrammatik könnte jetzt bereits zu Ende sein. Das Verfahren transformationeller Forschung ist in seinen Grundzügen vorgestellt worden; man hat lernen können, wie Sätze auf ihre Strukturen untersucht werden, wie die Ergebnisse der Analyse symbolisch (in Form grammatischer Regeln) dargestellt werden müssen, welche Anforderungen hinsichtlich begrifflicher Klarheit und empirischer Überprüfbarkeit zu befolgen sind, wenn man auf der Grundlage der GTG wissenschaftlich arbeiten will. Man hat zugleich einige wichtige inhaltliche Einsichten nachvollziehen können, die im Rahmen generativ-transformationeller Sprachanalyse gemacht worden sind. Sicher gibt es dabei noch Probleme. Noch sind nicht genügend Sätze analysiert worden, um eine Grammatik konstruieren zu können, die allen grammatischen Sätzen der untersuchten Sprache (und nur ihnen) ihre richtige Struktur zuschreiben kann; auch sind einige Satzanalysen selbst sicherlich noch präzisierbar, noch zu ungenau angesichts syntaktischer oder semantischer Feinheiten. Aber das sind forschungstechnische Probleme, die im weiteren Verlauf einer eigenständigen Arbeit gelöst werden können. Das begriffliche Werkzeug und die Regeln seiner Verwendung liegen vor, um diese Arbeit selbst vornehmen zu können. Die „Einführung" hätte eine Basis geliefert, auf der man nun beruhigt sprachwissenschaftlich zu arbeiten anfangen könnte. Sie hätte ihren Zweck erfüllt. Die so gewonnene Sicherheit wäre allerdings mit einer Naivität hinsichtlich der gelernten Arbeitsweise erkauft, welche dem Selbstverständnis (wenn auch nicht unbedingt der Praxis) von Wissenschaftlern widerspricht, die über die Besonderheit ihrer Arbeit als wissenschaftlicher Erkenntnistätigkeit sich bewußt sein wollen. Ohne ein solches Bewußtsein geschähe die Arbeit, auf welch hohem Niveau der Beherrschung des wissenschaftlichen Instrumentariums auch immer, gleich einem blinden Herumtappen: Zwar würden sich Ergebnisse einstellen; aber unklar müßte bleiben, warum sie sich einstellen konnten. Zu beantworten bleibt also noch jene Frage, die seit der kritischen Philosophie Kants als erkenntnistheoretische Konstitutionsfrage an die Wissenschaft gestellt worden ist: Wie es möglich ist, daß sie überhaupt betrieben werden kann und zu bestimmten Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten ihres Ge-

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genstandsbereichs gelangt. Das begriffliche Instrumentarium und die Regeln seines Gebrauchs stehen also noch zur Diskussion. Erst die Beantwortung dieser Frage könnte auch demjenigen, der in die Arbeit der GTG „eingeführt" wird, jene Sicherheit geben, die sein weiteres linguistisches Studium wirklich tragen könnte. Die herrschende logisch-empiristische Wissenschaftstheorie versucht, diese nötige Klarheit über das Verfahren der Einzelwissenschaften zu verschaffen. Als „Logic of Science"1 trachtet sie die erkenntnistheoretische Fragestellung im Sinne einer Methodologie zu beantworten, durch welche die wissenschaftliche Tätigkeit in ihrer methodischen Besonderheit von anderen menschlichen Tätigkeiten abgegrenzt und in ihren wesentlichen Merkmalen bestimmt wird. Sie hat die Anforderungen an logische Folgerichtigkeit expliziert, denen eine wissenschaftliche Theorie genügen muß, bevorzugt jene formal-logischen Werkzeuge geschärft, die den inneren Zusammenhang unseres theoretischen Wissens als einen Zusammenhang auseinander logisch ableitbarer Sätze systematisieren helfen; sie hat andererseits die Kriterien für erfahrungswissenschaftlich zulassige Aussagen zu fixieren versucht, deren Wissenschaftlichkeit an die grundsätzliche Überprüfbarkeit anhand allgemein nachprüfbarer Erfahrungsurteile gebunden. Sie hat damit jenen Typus von Erfahrungswissenschaft in seinen Grundlagen klargelegt, den man als empirisch-analytisch kennzeichnen kann, einen Typus, der sich allgemein durch Formalisierungsversuche auf Theorieebene und intersubjektiv nachprüfbare Bestätigungsbestrebungen auf Erfahrungsebene auszeichnet. —Damit hat die logisch-empiristische Wissenschaftstheorie die alte erkenntnistheoretische Frage nach der Möglichkeit von Wissenschaft an eine bestimmte Wissenschaftspraxis selbst zurückverwiesen: die Möglichkeit von Wissenschaft soll in deren Einsichten und Verfahrensweisen selbst begründet und damit bereits gerechtfertigt sein. Die wissenschaftstheoretische Reflexion hat sich (als Methodologie) einer wissenschaftlichen Praxis unterworfen, die sie als „gegeben" hinnimmt. Sie ist so positivistisch wie die von ihr favorisierte Wissenschaftskonzeption. Sie hat damit ihre Funktion als Kritik aufgegeben. Sie ist kritisch allenfalls noch gegen diejenigen, die die gezogene Grenze wissenschaftlicher Tätigkeit überschreiten. Die von der „Logic of Science" gelieferte Sicherheit der wissenschaftlichen Arbeit ist exklusiv. Sie sieht nur jenen zur Verfügung, die sich auf das von ihr geklärte wissenschaftliche Realitätsprinzip verpflichtet haben 2 . Damit soll weder behauptet werden, daß mittels empirisch-analytisch verfahrender Einzelwissenschaft keine wesentlichen Einsichten möglich sind, noch daß wissenschaftstheoretische Klärungen im Sinne einer „Logic of 1 Eine gute Einfuhrung bietet: Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 4. erw. Auflage Stuttgart 1969, Kap. IX und X. 2 Vgl. zu dieser Art von Kritik: Albrecht Wellmer, Methodologie als Erkenntnistheorie. Zur Wissenschaftslehre Karl R. Poppers, Frankfurt/Main 1967. 61

Science" überflüssig wären. In Frage steht, ob mit dem Verweis auf die logische Klarheit und Präzision einer wissenschaftlichen Theorie im Sinne eines formalisierten Systems oder mit dem Hinweis auf die Überprüfbarkeit anhand gegebener Tatsachen schon jene Fragen beantwortet sind, die sich auf die Möglichkeit und Gültigkeit von Wissenschaft selbst beziehen. So liefert die Kenntnis des formalen Aufbaus eines grammatischen Regelsystems im Sinne der GTG und der empirischen Verfahren einer Satzanalyse zwar eine weitgehend eindeutige methodische Hilfestellung. Man weiß, wie man zu verfahren hat. Aber die Sicherheit des methodischen Gerüsts ist noch nicht jenes Fundament, auf dem dieses Gerüst steht. Um dieses Fundament aber muß es einer Wissenschaftstheorie gehen, die den Anspruch einer Begründung noch ernst nimmt und diese nicht zirkulär aus einer eingespielten Praxis selbst extrapoliert. — Dabei kann es nicht darum gehen, den Begriff objektiver wissenschaftlicher Gültigkeit durch eine immerwährende Skepsis aufzuweichen. Es kann uns nur darum gehen, die Unmittelbarkeit des wissenschaftlichen Verfahrens (die auch durch eine „Logic of Science" nicht gebrochen wird) aufzuheben, indem die unabdingbaren Voraussetzungen und Zusammenhänge aufgewiesen werden, unter deren Vorgabe wissenschaftliche Tätigkeit stattfindet: die eingeübten und erfolgreich praktizierten Methoden der Fachwissenschaft erweisen sich nämlich als Abstraktionen von einem umgreifenden (Wissens)Zusammenhang, auf den das wissenschaftliche Arbeiten zurückgreift, ohne dies in ihrem Vollzug selbst zu erkennen. Diesen vorausgesetzten Zusammenhang als Fundament von Wissenschaft, der in der unmittelbar befolgten wissenschaftlichen Methodik ausgeblendet bleibt, gilt es uns bewußt zu machen. Eine solche wissenschaftstheoretische Reflexion verletzt die Autonomie uer einzelwissenschaftlichen Disziplinen. Denn sie versucht Ausblendungen rückgangig zu machen, die ja gerade für die autarke Reinheit und Klarheit der Einzelwissenschaft wesentlich sind. An die Linguistik wird sie z.B. die Frage stellen müssen, auf welches vorgängige Wissen von Sprache sie zurückgreift, um überhaupt praktiziert werden zu können, und welche Erfahrungen sie systematisch unberücksichtigt lassen muß, ohne dies zu erkennen. Vertretern einer „Logic of Science", denen es allein um die Schärfung des begrifflichen Instrumentariums der GTG geht, wird eine Bewußtmachung vorgegebener Bedingungen und Abstraktionen als Arbeit im Vorfeld der Wissenschaft erscheinen. Denn die „eigentliche" Wissenschaft ist ja gerade durch ihre eigenen objektivierten Regelsysteme und Versuchsanordnungen bestimmt. Gängig ist die strikte Unterscheidung von Wissenschaftlichem und Vorwissenschaftlichem. Daß sie nicht standhält, erweist paradoxerweise nicht zuletzt die als vorwissenschaftlich begriffene wissenschaftstheoretische Überlegung, welche die reale Wirksamkeit einer „vorwissenschaftlichen" Wissensvorgabe im inneren Gefüge der Wissenschaft selbst nachweist und als solche bewußt macht.

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Die folgenden Überlegungen zur GTG spielen keinen Typ von Methode gegen einen anderen aus. Sie setzen auch keine andere Wissenschaft gegen die GTG; eine solche Kritik, von einem äußerlich entgegengesetzten Standpunkt aus durchgeführt, erscheint uns fruchtlos, zumal eine „Einfuhrung in die GTG" auch nicht ihr Ort wäre. Sie verfahren immanent-reflexiv, kritisch im Sinne einer möglichst „vorbehaltlosen Diskussion von Annahmen"3, die sich nicht aus der wissenschaftlichen Praxis von selbst legitimieren. In Anspruch genommen werden muß zu diesen Überlegungen jedoch eine umfassendere Erfahrung gerade jenes Gegenstands, mit dem es die GTG zu tun hat: der Sprache, eine Erfahrung, welche die Grenze des im Rahmen der GTG Objektivierbaren prinzipiell überschreiten muß (denn sie bezieht sich ja auf die der Wissenschaft vorgegebenen Bedingungen), ohne doch über ein dogmatisches Prinzip höherer und zweifelsfreier Erkenntnis zu verfügen oder vorweg als irrationale Erfahrung ausgewiesen werden zu können. Wenn wir über die Vorgabe der GTG reden wollen ,müssen wir schon über sie hinaus sein.

2.

Noam Chomskys „Logic of Science": Von der sprachlichen Erfahrung zum generativen Kalkül — und wieder zurück

Bevor wir uns der unbewußten Voraussetzungen der linguistischen Arbeit vergewissern und dabei ;die Methode der GTG selbst kritisch diskutieren, müssen wir zuerst diese Methode rekonstruieren. (Wir beschränken uns dabei zunächst auf die Forschungsstrategie, den Aufbau und die Überprüfungsmethode einer GTG als Theorie einer Hnzelsprache. Die Annahme einer linguistischen Theorie als Metatheorie einzelsprachlicher Grammatiken diskutieren wir im folgenden Kapitel.) Diese Rekonstruktion orientieren wir an den methodologischen Annahmen der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie. Wenn wir für einen Augenblick außer acht lassen, daß zu Beginn von Chomskys Arbeiten bereits eine Fülle von Informationen, die besonders aus traditionellen Grammatiken entnommen worden sind, und eine bestimmte Erwartung hinsichtlich des anzustrebenden Ergebnisses linguistischer Forschung vorlagen (Chomsky begann seine Arbeit als wissenschaftlich gebildeter Kopf), dann fängt die linguistische Erkenntnis mit einer Erfalirung an, die sich auf eine bestimmte Eigenschaft sprachlicher Äußerungen bezieht. Es ist die Erfahrung der mehr oder weniger engen Zusammengehörigkeit sprachlicher Einheiten im Rahmen wohlgeformter Elementketten (meist Sätzen), welche die 3 Jürgen Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Rationalismus, in: Theodor W. Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt und Neuwied 1972, S. 249; vgl. dazu auch die anderen Aufsätze von Jürgen Habermas und Hans Albert, die in dem gleichen Band abgedruckt sind.

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empirische Ausgangsposition der linguistischen Erkenntnis bildet. Obwohl einzelne identifizierte Einheiten (z. B. Wörter) innerhalb der linearen Verbindung gewissermaßen ,gleich nah' beieinander stehen, variiert doch der Grad ihrer erfahrbaren Zusammengehörigkeit. Die besonders für den amerikanischen Strukturalismus kennzeichnende Konstituentenstmkturanalyse (Vgl. Kap. I) hat deshalb Verfahren zu standardisieren versucht, die eine geregelte Organisierung der sprachlichen Äußerung nach solchen Zusammengehörigkeiten von Konstruktionseinheiten gestatten4. - In einem nächsten Schritt können die Konstruktionseinheiten (deren strukturellen Zusammenhänge auf den verschiedenen Ebenen bildlich etwa in Form eines Baumgraphen dargestellt werden können) kategorisiert werden: die — anhand zahlreicher Satzanalysen als wiederkehrend — festgestellten Einheiten werden als S, NP, VP, V, N ... identifiziert. Die Erfahrung, mit der die Erkenntnis angefangen hat, ist jetzt durch bestimmte theoretische Begriffe vermittelt. Sie wird artikuliert mittels eines Vokabulars, in dem wiedederkehrende (strukturelle) Zusammenhänge fixiert sind. — Der Versuch, die gewonnenen Begriffe selbst in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, führt zur Theorie: zwischen den Kategorien S, NP, VP ... werden Beziehungen hergestellt, durch welche das aufgedeckte System von sprachlichen Regelmäßigkeiten organisiert und übersichtlich dargestellt wird. Die GTG als Theorie der strukturellen Zusammenhänge von sprachlichen Einheiten (besonders auf der Ebene des Satzes) bevorzugt für diesen Fall das Mittel von Ersetzungsregeln (wie: „S->-NP+VP"), in denen das erlangte Gesetzeswissen hinsichtlich sprachlicher Struktur repräsentiert wird. — In einem letzten Schritt kann nun versucht werden, die Theorie noch hinsichtlich ihrer Struktur einer genauen formal-logischen Analyse zu unterziehen. Dazu erweist sich eine Formalisierung der Theorie als zweckmäßig: die Kategorien der Grammatik werden ihres inhaltlichen Sinns entledigt (statt S, NP, VP ... könnte z. B. auch a, b, c ... stehen); von Interesse ist jetzt nur noch die äußere Struktur, in der die bedeutungsentleerten Zeichen der Theorie zueinander stehen, und der für diese Struktur kennzeichnende formal-logische Zusammenhang. Er wird in Form eines Kalküls rekonstruiert, eines künstlichen sprachlichen Formalsystems, in dem es ausschließlich um die formalen Beziehungen zwischen den zugelassenen (bedeutungslosen) Zeichen und Zeichenverbindungen geht: dazu wird 1. eine Tabelle der vorkommenden Zeichen aufgestellt; es werden 2. Formregeln festgesetzt, aus denen eindeutig hervorgeht, welche Zeichenverbindungen als Sätze im Kalkül zugelassen sind; es werden 3. Umformungsregeln genannt, durch welche das Verfahren der deduktiven Ableitung zwischen den einzelnen Sätzen formalisiert ist; und es werden 4. bestimmte Sätze als gültige Grundzeichenkombinationen (Axiome) herausgestellt, aus denen mit Hilfe der Umformungsregeln die Theoreme des Kalküls sich 4 Am ausführlichsten ist dieses Programm, auch unter methodologischen Fragestellungen, enwickelt bei: Rulon Wells, Immediate Constituents, in: Language 23 (1947), S. 81-117.

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ableiten lassen5. Die Kalkülisierung der grammatischen Theorie hat somit zu einem System geführt, für das nur noch die Form streng geregelter Ableitbarkeitsbeziehungen zwischen inhaltsleeren sprachlichen Gebilden relevant ist. Von Interesse ist ausschließlich die Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit der in der wissenschaftlichen Theorie möglichen Deduktionen, dargestellt in Gestalt reiner Umformungsregem. Der Bezug auf die bestimmte Erfahrung des analysierten Gegenstandsbereichs ist ausgeblendet worden. — Aus diesem Grund kann auch die Konstruktion von logisch eindeutigen Kunstsprachen ohne erfahrungshaltigen Realitätsbezug interessieren: an solchen Kunstsprachen lassen sich präzise Einsichten in widerspruchsfreie formale Ableitungsbeziehungen gewinnen, die ,ungestört* von inhaltlichen Kenntnissen und Erfahrungen (apriori) bestimmt sind6. Es ist nun möglich, von diesem (hier idealtypisch rekonstruierten) Forschungsweg selbst abzusehen. An die Stelle des Prozesses ( von der linguistischen Erfahrung über die grammatische Theorie bis zum formalen Kalkül) tritt das systematische Verhältnis zwischen Kalkül, Theorie und Erfahrung. Bevorzugt der Klärung dieses Verhältnisses gilt die Arbeit von Vertretern einer „Logic of Science". Dabei beginnen sie mit dem konstruktiven Entwerfen rein formaler Folgeordnungen. (Diese Priorität der logistischen Sprachkonstruktion, des Kernstücks einer logisch-empiristischen Wissenschafts the orie, verdankt sich zum einen dem Anspruch nach formal-logischer Widerspruchsfreiheit als der unabdingbaren Forderung an wissenschaftliche Theorien; sie garantiert zum ändern jenen nötigen Allgemeinheitsgrad wissenschaftstheoretischer Überlegungen, die sich auf die Struktur aller wissenschaftlichen Theorien beziehen sollen, ohne durch die inhaltliche Besonderheit der jeweiligen Theorien belastet zu werden.) — Das apriori entworfene Präzisionsinstrument muß nun, soll es auf einen bestimmten Gegenstandsbereich angewendet werden, inhaltlich interpretiert werden: den nicht-logischen Zeichen des Kalküls 5 Die ersten Kalküle in diesem Sinne sind in der Mathematik entwickelt worden. Als erster hat David Hubert versucht, die Mathematik als Kalkül im strengen Sinne aufzubauen. Als Ziel dieser Kalkülisierung der Mathematik wurde von ihm der Nachweis der Widerspruchsfreiheit der klassischen Mathematik angesehen. Innerhalb des logischen Empirismus wurde dieses Programm verallgemeinert. In den Arbeiten von Rudolf Carnap wird der Kalkül zum wissenschaftstheoretischen Paradigma: die formale Struktur jeder wissenschaftlichen Theorie soll nun mittels eines Kalküls rekonstruiert werden. Vgl. bes. Rudolf Carnap, Einführung in die symbolische Logik, 2. erw. Aufl. Wien 1960; Rudolf Carnap. Logische Syntax der Sprache, 2. unveränderte Aufl. Wien und New York 1968. 6 Allerdings bleibt auch eine fornjale Kunstsprache letztendlich noch auf inhaltliche Erfahrungen bezogen: in einem weiteren Sinne, weil die Kalkülisierung stets auf die Existenz eines weitgehend systematisierten Wissens bezogen bleibt und die Kunstsprache nur dadurch einen „Sinn" besitzt; in einem engeren Sinne, weil zum Aufbau der Kunstsprachen selbst eine inhaltlich verstehbare (natürliche) Sprache vorausgesetzt werden muß, durch die die Elemente und Regem der Kunstsprache in ihrer Bedeutung gekennzeichnet werden.

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werden Ausdrücke mit einer festliegenden inhaltlichen Bedeutung zugeordnet. Die im Kalkül erlaubten Satz-Formen werden dadurch zu Aussagen, die wahr oder falsch sein können. Das formale System erhält ein Modell, es wird „realisiert"7. So ließe sich ein Kalkül z.B. linguistisch interpretieren, indem den nicht-logischen Zeichen des Kalküls Zeichen von Begriffen zugeordnet werden, die bereits innerhalb der grammatischen Forschung inhaltlich bedeutsam sind und verstanden werden. Der Kalkül wäre als grammatische Theorie realisiert worden; die grammatische Theorie wäre das Modell eines apriori entworfenen Formalsystems. (Ein Kalkül kann durchaus verschiedene Modelle haben, deren Verhältnis zueinander, als Modelle des gleichen Kalküls, isomorph wäre.) — Hinsichtlich dieses Modells kommt nun (neben der apriori erfüllten Forderung nach Widerspruchsfreiheit) eine zweite Forderung ins Spiel, die sich auf den empirischen Gehalt des Modells (Theorie) bezieht: das Modell muß schließlich anhand von (intersubjektiv möglichen) Erfahrungen bestätigungsfähig sein. Die Basis der Theorie ist die Erfahrung von Tatsachen, die in Erfahrungsurteilen sprachlich artikuliert wird. Die linguistische Interpretation eines formalen Kalküls bezieht sich dabei wesentlich auf die Erfahrung struktureller Zusammengehörigkeit oder Differenziertheit zwischen sprachlichen Einheiten. — Damit hat der Kalkül also wiederum eine Interpretation durch das Ausgangsmaterial (d. h. durch die innerhalb der strukturalistischen Forschung gewonnenen Einsichten in relationale Zusammenhänge sprachlichen Materials) erfahren. Dieses Ausgangsmaterial ist dabei, modellhaft aufbereitet, entsprechend formal präzisiert und definitorisch gereinigt worden. Die grammatische Theorie als linguistisches Modell eines abstrakten Kalküls ist in strengem Sinne mathematisiert. Wozu dieses ganze Unternehmen, das der Sprache, um die es in sprachwissenschaftlicher Erkenntnis doch geht, recht „äußerlich" zu sein scheint? 8 Ge7 „Modell" darf hier also nicht in einem ikonischen Sinn verstanden werden. Es ist kein darstellendes Modell der Realität (etwa nach Art einer Modelleisenbahn), sondern ein interpretierter Kalkül. Vgl. zu dieser Modellkonzeption bes. Alfred Tarski, Einführung in die mathematische Logik, 2. neubearb. Auf. Göttingen 1966, Kap. IV. 8 Wir denken hier an Hegel, der eine solche „Äußerlichkeit" als grundsätzlichen Mangel mathematischer Verfahrensweise kritisiert hat. Man könnte seine Kritik auch als Kritik linguistischer Theoriebildung lesen: „Die eigentliche Mangelhaftigkeit dieses Erkennens aber betrifft sowohl das Erkennen selbst, als seinen Stoff überhaupt. - Was das Erkennen betrifft, so wird fürs erste die Notwendigkeit der Konstruktion nicht eingesehen. Sie geht nicht aus dem Begriffe des Theorems hervor, sondern wird geboten, und man hat dieser Vorschrift... blindlings zu gehorchen, ohne etwas weiter zu wissen, als den guten Glauben zu haben, daß dies zur Führung des Beweises zweckmäßig sein werde. Hintennach zeigt sich denn auch diese Zweckmäßigkeit, die deswegen nur eine äußerliche ist, weil sie sich erst hintennach beim Beweise zeigt. - Ebenso geht dieser einen Weg, der irgendwo anfängt, man weiß noch nicht in welcher Beziehung auf das Resultat, das herauskommen soll. Sein Fortgang nimmt diese Bestimmungen und Beziehungen auf und läßt andere liegen, ohne daß man unmittelbar einsähe, nach welcher Notwendigkeit; ein äußerer Zweck regiert diese Bewegung". G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede, in: G.W.F. Hegel, Werke 3, Frankfurt/Main 1970, S. 43f.

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messen an den Prinzipien der Logic of Science, an denen sich die GTG hinsichtlich ihrer Methodik bewußt ausrichtet, geht es bei der Konstruktion grammatischer Theorien um die Erklärung der strukturellen Organisation einzelner Sätze mittels allgemeiner Strukturgesetze9. Diese Strukturgesetze sind im Rahmen der Theorie systematisiert. Festgelegt auf die eine Fragestellung: ,Warum hat der Satz p die Struktur y? ' zielt die Arbeit des Linguisten auf ein Gesetzeswissen ab, das hinsichtlich der Strukturen aller Sätze der jeweils untersuchten Sprache gültig ist und folglich auch die „Generierung" des besonderen Satzes p mitsamt seiner Struktur ermöglicht. Chomsky sagt: „Unter einer generativen Grammatik verstehe ich einfach ein Regelsystem, das auf explizite und wohldefinierte Weise Sätzen Struktur-Beschreibungen zuordnet"10. Damit gilt die auf Erklärung zielende Frage nach dem Warum der Satzstruktur als beantwortet: der Satz p hat seine Struktur, weil jeder Satz eine ähnliche Struktur besitzt und das Allgemeine aller möglichen Strukturen durch die Grammatik regelhaft festgehalten ist. Die Kalkülisierung der Theorie (oder umgekehrt: die Betrachtung der Theorie als Modell eines Kal9 Der hier verwendete Begriff der „Erklärung" ist wesentlich von Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim entwickelt worden. Ihnen zufolge ist die Erklärung eines einzelnen Vorgangs ein deduktives Argument der allgemeinen Form: L I , L 2 , L 3 ,..., Lr C i , C 2 , Cs,..., Cfc E Dabei sind L j . . . Lf empirische Gesetzesaussagen, Ci... C^ Aussagen über die besonderen Randbedingungen, unter denen das singuläre Ereignis E stattfindet. Dieses Ereignis gilt dann als erklärt, wenn es logisch aus den allgemeinen Gesetzesaussagen unter Berücksichtigung der Randbedingungen abgeleitet werden kann. Ein besonders einfacher Spezialfall dieses Schemas wäre: (x) (Fx>Gx) Fa

Ga In Worten: für jeden Gegenstand gilt, daß ihm die Eigenschaft G dann zukommt, wenn ihm die Eigenschaft F zukommt (allgemeine Gesetzesaussage). Nun kommt dem Gegenstand a die Eigenschaft F zu (Randbedingung). Also kommt ihm auch die Eigenschaft G zu (das zu erklärende Ereignis). Vgl. Carl G. Hempel und Paul Oppenheim, Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science 15 (1948), S. 135-175; Carl G. Hempel, Philosophie der Naturwissenschaften, München 1974, Kap. 4 und 5; sehr umfassend informiert: Wolfgang Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie I, Berlin/Heidelberg/New York 1969. Zu den Schwierigkeiten einer Verallgemeinerung dieser Erklärungskonzeption vgl. Albrecht Wellmer, Zur Logik der Erklärung, in: L. Landgrebe (Hrsg.), 9. Deutscher Kongreß für Philosophie 1969, S. 592-618. 10 Chomsky, Aspekte, S. .19. Vgl. auch Dieter Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, Reinbek bei Hamburg 1974, Kap. 3.8. und 3.9.

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küls) dient dazu, die Form der grammatischen Theorie übersichtlich klarzulegen, um die in der Theorie möglichen Ableitungen in ihrer Widerspruchsfreiheit und Eindeutigkeit durchsichtig zu machen. Diese Beantwortung der Frage nach dem Ziel der grammatischen Theoriebildung und ihrer Formalisierung, welche die Grammatik als eine ,erklärende' Theorie ganz im Sinne der empirisch-analytischen Wissenschaftstheorie bestimmt, verfehlt nun gerade die Pointe des von Vertretern der GTG selbst erhobenen wissenschaftlichen Anspruchs, daß es der Theorie nämlich um die Regeln geht, die für die sprachlichen Kenntnisse eines kompetenten Sprecher-Hörers konstitutiv sind, auch wenn sie diesem selbst weitgehend unbewußt sind. Im direkten Anschluß an die bereits zitierte Aussage Chomskys fährt dieser fort: „Offenbar hat sich jeder Sprecher einer Sprache eine generative Grammatik vollständig angeeignet, die seine Sprachkenntnis ausdrückt. Das will nicht heißen, daß er sich der Regeln der Grammatik bewußt ist"11. Chomskys Selbstverständnis zufolge rekonstruiert die GTG eine verborgene Sprachkompetenz als Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Verständigung. Und wie die (kalkülisierbare) Form der GTG den sprachlichen Strukturen nicht äußerlich sein soll, so wird auch hier der Anspruch erhoben, daß auch die Form der im Sinne der Modelltheorie mathematisierten Grammatik für die abgebildete Sprachkompetenz konstitutiv ist: sie bildet die Struktur dieser Kompetenz selbst ab. Es geht Chomsky nicht mehr nur um die kalkülorientierte Klarlegung der Theoriestruktur, sondern um die formalen Eigenschaften der von kompetenten Sprechern beherrschten Regeln. Anders hätte die Annahme, ein kompetenter Sprecher-Hörer habe sich eine GTG ,vollständig' angeeignet, keinen klaren Sinn. Es ist nun gerade dieser Anspruch, der die GTG berühmt gemacht hat und ihr das Interesse all derjenigen sichert, denen es um eine Erkenntnis der Strukturen, Grenzen und Möglichkeiten menschlicher Fähigkeiten geht. Wir wollen im Folgenden demgegenüber zeigen, daß dieser Anspruch zu Unrecht besteht. Die GTG ist keine Theorie menschlicher Sprachkompetenz. Gleichwohl hat die Einführung der Sprachkompetenz in den Forschungsbetrieb der strukturalistischen Linguistik ihren Sinn. Sie verweist nämlich auf jene von der GTG als empirisch-analytischer Wissenschaft uneinholbare Wissensvorgabe, auf die sie zurückgreifen muß, ohne jedoch diesen Rückgriff in seiner Bedeutung erkennen zu können. — Wir vergewissern uns zunächst des grundsätzlichen Problems, das in der Geschichte des taxonomischen Strukturalismus dazu geführt hat, die sprachlichen Kenntnisse kompetenter Sprecher überhaupt zu berücksichtigen.

11 Chomsky, Aspekte, S. 19 68

3.

Ein Rekurs: Das strukturalistische Dilemma

Eine Geschichte der innerhalb des amerikanischen Strukturalismus angestellten methodologischen Überlegungen wäre die Geschichte eines beständigen Dilemmas: keine Vermittlung herstellen zu können zwischen dem empiristischen und asm formal-logischen Flügel der linguistischen Forschung. Einerseits blieb ungeklärt, wie sprachwissenschaftliche Tatsachenbeschreibung ihre Zuverlässigkeit gewinnen konnte, wenn sie voraussetzungslos auf „unmittelbar gegebene" sprachliche Daten bezogen sein sollte. Andererseits blieb uneinsichtig, woher der Geltungsanspruch des Strukturalismus stammen konnte, wenn er als formale Disziplin praktiziert werden sollte. In Leonard Bloomfield und Zellig S. Harris haben empiristischer und formalistischer Flügel des amerikanischen Strukturalismus ihre Protagonisten12. Leonard Bloomfield, allgemein anerkannter Stammvater des amerikanischen Strukturalismus, hat wohl am entschiedensten (besonders in seinem großen Werk „Language" von 1933) versucht, die Linguistik als empirische Wissenschaft zu institutionalisieren und gegen die Willkür privater Erfahrung abzusichern. Die Rationalität des linguistischen Wissens bestimmte sich für ihn an der für jeden nachvollziehbaren Überprüfbarkeit dieses Wissens, die durch den Bezug auf sinnlich erfahrbare Tatsachen begründet sein sollte. „Reporting the facts"1?, und verallgemeinernde Erfassung wiederkehrender Tatsachenmerkmale galten als die allein zulässigen Aufgaben eines wissenschaftlich arbeitenden Linguisten. Wie jeder Wissenschaftler sollte auch der Linguist sich an ein begrifflich unbearbeitetes, sensorisch wahrnehmbares Erkenntnisrohmaterial halten. Das allein sollte die intersubjektive Nachprüfbarkeit seiner Aussagen garantieren. Der sprachwissenschaftliche Gegenstand wurde als „beobachtbarer" konstituiert. — Dieses Programm schloß folglich mentalistische Erklärungen aus; diese hätten sich auf „innere" Ereignisse (wie: sprachliches Wissen, Meinen oder Verstehen) beziehen müssen, die apriori nicht durch intersubjektiv nachvollziehbare Beobachtung als Tatsachen erkannt werden können. Auf der Ebene der Beschreibung war damit über die in der Linguistik zulässigen Daten entschieden. Bloomfields Ansatz ließ nur solche Daten zu, die sich auf einen der Beobachtung zugänglichen Bereich physikalistisch erfaßbarer Dinge und Sachverhalte beziehen. Sprache wurde folglich konsequent als Geräusch (noise) zum wissenschaftlichen Gegenstand. Sprache und Sprecher mußten zu Gegenständen objektiviert werden, die der Linguist „von außen" als physikalische Tatsachen zu behandeln hatte. Der Linguist sollte

12 Dieses Dilemma und seine Geschichte ist das Thema der Dissertation von Manfred Geier, Linguistischer Strukturalismus als Sprachkompetenztheorie. Zu Noam Chomskys „Revolutionierung" der Linguistik, Marburg/Lahn 1973, an der weite Teile der vorliegenden Überlegungen orientiert sind. 13 Leonard Bloomfield, Language, Great Britain 1935, S. 38.

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als Wissenschaftler auf einem archimedischen Punkt außerhalb der zu untersuchenden Sprache stehen: Menschen erschienen ihm als Organismen mit habituellem Reaktionsverhalten, Sprache als Menge physikalisch faßbarer Geräusche. Die Beziehung zwischen wissenschaftlichem Subjekt und Objekt war also eine rein äußerliche: dem wissenschaftlichen Subjekt präsentierte sich die Wirklichkeit nur unter der Form eines Objekts, das „anschauend"14 erfahren wurde. Vorentschieden war damit auch über die Art und Weise, wie sprachliche Bedeutungen erfaßt werden konnten. Um wissenschaftlich begriffen zu werden, mußte die Bedeutung eines Wortes ihres mentalistischen Sinns (ihres Bezugs auf „geistige" Vorstellungsgehalte des Sprechers oder Hörers) entledigt werden; sie bestand für Bloomfield nicht in der Vorstellung oder dem Begriff, den ein Sprecher mit dem entsprechenden Wort verbindet, sondern wurde mit der Situation identifiziert, die den Sprecher zur Äußerung des Wortes stimuliert, und der Reaktion, die diese Äußerung beim Hörer hervorruft15 Angesichts der Besonderheit des sprachwissenschaftlichen Gegenstands war dieses radikal-empiristische Programm zum Scheitern verurteilt. Es versagte bereits an der einfachen Schwierigkeit, daß der Linguist zur Bestimmung seines Materials über Kriterien verfügen muß, die dieses Material als sprachliche Daten erkennen lassen. Die Registrierung von Geräuschen und beobachtbarem Verhalten begründet nämlich noch nicht die Annahme, daß es der Linguist überhaupt mit sprachlichen Äußerungen und menschlichen Handlungen zu tun hat. Um diese Annahme aber konnte (und wollte) auch Bloomfield nicht herumkommen. Als Sprachwissenschaftler, arbeitend mit Termini wie „Sprache", „Wörter", „Satz", Bedeutung" usw., mußte ihm die „unmittelbare Erfahrungsbasis" bereits als vermittelte erscheinen: sie wurde als sprachliche erkannt. Das zeigt besonders deutlich die Erfassung sprachlicher Bedeutungen, an deren Existenz Bloomfield nicht gezweifelt hat16. Denn unter der Voraussetzung, daß sich die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens nicht 14 Karl Marx hat diese „anschauende" Haltung des Erkenntnissubjekts gegenüber der Wirklichkeit als Kennzeichen des mechanischen Materialismus kritisiert. Vgl K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx-Engels-Werke Bd. 3. Einem Linguisten, der diesen Standpunkt des mechanischen Materialismus einnimmt, muß die Sprache zum bloßen Ding werden, zum Corpus, mit dem er nichts zu tun hat, außer daß er ihn in seine Bestandteile zu zerlegen (segmentieren) und das zerlegte Material wieder neu zu arrangieren (klassifizieren) trachtet. 15 Die Identifikation von Zeichenbedeutung mit beobachtbaren Verhaltens-Reiz-Reaktionen hat Bloomfield anhand seines berühmt gewordenen Jack-und-Jill-Beispiels verdeutlicht, das in seiner Struktur so vorgestellt wird: S"-»·r ... s - > R . Jill ist verschiedenen Reizen (S) ausgesetzt, unter anderem einem Apfel. Sie äußert das Wort „apple" (r), das als Stimulus (s) für Jack gilt, ihr den Apfel zu holen (R). Als Bedeutung des sprachlichen Zeichens (r.. .s) gelten S und R. 16 Vgl. Leonard Bloomfield, Meaning, in: Monatshefte für Deutschen Unterricht 35 (1943), S. 101-106.

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ständig ändert (ansonsten könnte sprachliche Verständigung die ihr von Bloomfield zugemessene Funktion hinsichtlich gesellschaftlicher Arbeitsteilung nicht erfüllen), muß auch hier der Linguist über ein Kriterium verfügen, das die Identität der Bedeutung bestimmter Zeichen zu bestimmen erlaubt. Dieses Kriterium kann nicht durch die externe Beobachtung von stimulierenden Reizen, sprachlichen Äußerungen und erfolgten Reaktionen gewonnen werden; denn dieser Zusammenhang variiert erfahrungsgemäß in einem so hohen Maße, daß für einen physikalistisch orientierten Linguisten die Bestimmung der Identität einer Zeichenbedeutung völlig unmöglich wäre17. Hier rettete Bloomfield allein der Rückgriff auf ein „everyday knowledge"18, das sich aus einer eingespielten kommunikativen Praxis speist. Nur weil Bloomfield über die konstitutiven Merkmale sprachlicher Verständigungsmittel bereits etwas wußte, konnte er überhaupt eine Beschreibung sprachlicher Tatsachen beginnen. Auch die distanzierteste Analyse des Sprachgebrauchs basiert auf einer Vorgabe von Wissen, das die unvermittelte Reinheit eines rein physikalistisch konzipierten Ausgangspunktes grundsätzlich in Frage stellt. Die Identifizierung der einzelnen sprachlichen Zeichen und ihrer spezifischen Bedeutung bildete für eine physikalistisch orientierte Linguistik die Achillesferse, an der ihre „Objektivität" gefährdet war. Denn es schien unmöglich zu sein, daß der Linguist bei seiner Arbeit (bereits auf der Ebene der Erfassung von sprachlichen Daten als relevanter linguistischer Tatbestände) auf einem Standpunkt gänzlich außerhalb dieser Daten stehen und auf ein vorausgesetztes Wissen bezüglich sprachlicher Phänomene verzichten könne. Die Geschichte der amerikanischen Linguistik in den zwei Jahrzehnten nach Bloomfields „Language" konzentriert sich (methodologisch) auf den Versuch, jenes von Bloomfield dem Linguisten noch zugeschriebene Wissen aus der Linguistik zu verbannen. Der methodische Ansatz zur Lösung dieser Aufgabe bestand darin, nicht mehr von einer Kenntnis der syntaktischen oder semantischen Bestimmtheit sprachlicher Einheiten auszugehen, sondern allein ihre Distribution festzustellen: Es galt die Beschränkungen festzustellen, denen sprachliche Elemente hinsichtlich des sprachlichen Kontexts, in dem sie erscheinen können, unterliegen. Es war besonders das Verdienst von Noam Chomskys Lehrer Zellig S. Harris, dieses Programm entwickelt und ansatzweise auch praktisch verwirklicht zu haben. Es ging jetzt nur noch um relationale Verteilungszusammenhänge zwischen sprachlichen Elementen, ohne daß deren Bedeutungen noch eine Rolle spielen sollten. Der sprachwissenschaftliche Objektbereich wurde als rein strukturell bestimmt angesehen. Die distributioneile Analyse sollte schließlich die Struktur der Sprache 17 Vgl. zu einer umfassenden Darstellung dieser Problematik einer physikalistisch orientierten Bedeutungskonzeption bes. die Arbeit von Arno Müller, Probleme der behavioristischen Semiotik, Diss. phil. Frankfurt/Main 1970. 18 Bloomfield, Language, S. 77. 71

aufdecken, die als formales Relationsgefüge in der Theorie abgebildet werden sollte, unabhängig vom inhaltlichen Sinn der Beziehungen und ihrer Einheiten. So schien die Distributionsanalyse zu ermöglichen, sich auf rein relationeile Kennzeichnungen und Strukturaussagen beschränken zu können: postuliert wurde, daß die angenommenen distributioneilen Sprachstrukturen durch eine formale Theorie repräsentierbar seien, deren Begriffe auf reine Strukturbeschreibungen reduzierbar sind. Damit war die amerikanische Linguistik aus ihrer physikalistischen Phase in eine formalistische übergegangen. Das „gegebene" sprachliche Rohmaterial, das weiterhin die Erfahrungsbasis linguistischer Aussagen bildete, sollte mit Hilfe bloßer Strukturaussagen abgebildet werden, ohne Einmischung eines inhaltlichen Vorverständnisses sprachlicher Realität. Das von Bloomfield noch vorausgesetzte „Wissen" des Linguisten galt durch die formale Auffassung wissenschaftlichen Sprechens, durch die Reduktion aller wissenschaftlichen Aussagen auf Strukturaussagen, als eliminiert. Indem das „Gegebene" als strukturelle Ordnung begriffen wurde, schien die alte empiristische Wunschvorstellung eines voraussetzungslosen Anfangs bei einem begrifflich uninterpretierten Gegebenen erfüllt zu sein19. Auch diese formalistische Wendung erwies sich jedoch in ihrer Radikalität als prinzipiell undurchführbar. Das zeigt sich bereits an der Methode der distributioneilen Analyse: Das entscheidende Mittel der Analyse, die systematische Ersetzung von sprachlichen Einheiten innerhalb von Kontexten als kontrolliertes Verfahren zur Bestimmung von Substitutionsklassen, funktionierte nämlich nur, wenn seitens des Linguisten ein über den jeweils vorliegenden Materialcorpus hinausgehendes Wissen des in der Sprache Möglichen vorlag. Anders nämlich ließe sich nicht bestimmen, ob zum einen die hinzugezogenen Kontexte zur Bestimmung der Substitutionsklassen ausreichen, ob zum ändern nicht bestimmte Kontexte als illegitim zurückgewiesen werden müßten, die als Maßstab zur Bildung von Substitutionsklassen zu völlig irrelevanten Ergebnissen fuhren würden (z.B. würde die Zulassung eines Kontexts wie: „Es ist ..." die Einordnung der unterschiedlichsten sprachlichen Einheiten in eine einzige Klasse ermöglichen). Neben diesen methodischen Schwierigkeiten war die Formalismuskonzeption mit einem grundsätzlichen metaphysischen Problem konfrontiert: mit einer Beschränkung der wissenschaftlichen Aussagen auf reine Strukturaussagen (ohne Einmischung einer begrifflich-inhaltlichen Einsicht) wäre zugleich das „Gegebene" als eine Struktur konzipiert, bei der alle Elemente ausschließlich relational gegenseitig bestimmt wären. Diese metaphysische Annahme eines rein strukturell Gegebenen basiert indes auf einer Fehleinschätzung der Leistung formaler Ausdrucksformen. Denn diese Leistung bezieht sich allein auf die Strukturierung unseres Wissens über eine Wirklichkeit, die 19 Vgl. Zellig S. Harris, Methods in Structural Linguistics. Chicago 1951; Z. S. Harris, Distributional Structure, in: Jerry A. Fodor and Jerrold J. Katz (eds.), The Structure of Language, Englewood Cliffs, N.J. 1964, S. 33-49. 72

wir bereits inhaltlich-kategorial begriffen haben20. Sie bezieht sich nicht auf eine formale Struktur als empirisches Gebilde. Formalisierungen setzen inhaltliche Kenntnisse voraus, die sie nachträglich hinsichtlich ihres immanenten, sprachlichen Zusammenhang systematisieren helfen. Eine formalisierte Grammatik z. B. dient dazu, den formalen Aufbau sprachwissenschaftlicher Begründungszusammenhänge möglichst anschaulich und übersichtlich zu repräsentieren. Sie formalisiert unser spezialisiertes linguistisches Wissen, ist keine unmittelbare Abbildung der Sprache als eines gegebenen Strukturgebildes. Wir verstehen eine Regel wie: „S-»-NP+VP" als sprachliche Form einer gewonnenen linguistischen Einsicht, die unter Bezug auf analysierte Satzbeispiele in ihrer Richtigkeit ,inhaltlich' mitgeteilt, begründet und verstanden werden muß. Diese vorausgesetzte Intentionalität unseres sprachbezogenen Wissens kann durch keine formale Abbildung „struktureller Gegebenheit" ausgeschaltet werden. Die Schwierigkeiten einer empiristischen oder formalistischen Konzeptualisierung der linguistischen Forschung erwiesen sich als komplementär: Weil in beiden Fällen ein vorgängiges reflexives Wissen von Sprache auszuschalten versucht wurde (ohne doch ausgeschaltet werden zu können), konnte weder geklärt werden, wieso registrierte Geräusche als sprachliche Tatsachen erkannt werden können, noch wieso eine formale Ordnung als linguistische Theorie gedeutet (und verstanden) werden kann.

4.

Wozu man einen kompetenten Sprecher braucht

Der Rückgriff auf das strukturalistische Dilemma verwies auf eine grundsätzliche Schwierigkeit, die sich für eine Linguistik ergeben mußte, wenn sie den sprachwissenschaftlichen Gegenstand als ein natürliches' Objekt strukturell zu analysieren versuchte, ohne sich dabei auf eine vorgängige Kenntnis der Sprecher (zu denen auch der Linguist virtuell gehört) von der Sprache zu beziehen. Es kann als Verdienst Noam Chomskys angesehen werden, die Notwendigkeit einer solchen Bezugnahme klargelegt zu haben: der Objektbereich der Linguistik besteht für ihn aus sprachlichen Einheiten, die nicht unabhängig vom Sprachbewußtsein der „kompetenten Sprecher" als relevante sprachliche Daten erfaßt und in ihrem Aufbau mittels generativer Regeln rekonstruiert werden können. Chomskys Einführung der „Sprachkompetenz" sollte (ganz in der Tradition des linguistischen Strukturalismus) die methodologischen Probleme der Datengewinnung und der Regelbestätigung lösen. Bereits in seinen ersten Arbeiten hatte Chomsky, wenn auch zunächst sehr widerstrebend21, erkennen müssen, daß der Erkenntnisgewinn einer objekti20 Vgl. bes. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt/Main 1968, Kap. 4. 21 Vgl. Noam Chomskys frühe Arbeit: The Logical Structure of Linguistic Theory,

73

ven strukturalistischen (distributioneilen) Sprachanalyse nur möglich ist, wenn der Linguist sich auf die jedem kompetenten Sprecher zugesprochene „Intuition of linguistic form"22 stützt: diese „Intuition" garantiert allererst den Zugang zu relevanten linguistischen Daten. Sie allein ermöglicht die Beantwortung der Fragen, die sich im Rahmen distributioneller Analyse ergeben und nicht durch die Beobachtung .natürlicher' Sprechereignisse gelöst werden können. Z.B.: Ist diese Geräuschfolge eine sprachliche Äußerung? Ist jene durch Substitution veränderte sprachliche Form noch ein Satz der betreffenden Sprache? Existiert neben den Sätzen ax, bx des Materialcorpus auch der Satz ex in der Sprache? Die sprachwissenschaftlich relevante Erfahrung bezieht sich („intuitiv" im Sinne von vorwissenschaftlich) auf vorinterpretierte Sachverhalte: nur als solche sind sie Daten der Linguistik23. Daran scheiterte das methodologische Postulat einer physikalistisch orientierten Linguistik (im Sinne Bloomfields), den Gegenstand der Linguistik als ein rein sensorisch erfaßbares Feld von „raw data" zu begreifen. - Auch die objektivistischsten Testverfahren können diese Inanspruchnahme der „linguistischen Intuition" nicht ausschalten. Denn sowohl die Wahl bestimmter experimenteller Verfahren als auch die Interpretation der gewonnenen Ergebnisse hängen davon ab, inwieweit sie mit jenen sprachlichen Erfahrungen vermittelt werden können, die sich im eingespielten Sprachgebrauch herausgebildet haben24. Deshalb stehen linguistische Testverfahren auch grundsätzlich zur Revision: ihre Relevanz bemißt sich letztlich an jenem reflexiven Sprachverständnis, das sich unabhängig von der experimentellen Praxis entwickelt und durch die linguistische Forschung allenfalls vertieft werden kann 25 . Neben der Datengewinnung war es das Problem der empirischen Bestätigung von Strukturaussagen, das zur Entdeckung der Sprachkompetenz geführt hat.

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mimeo, M.I.T. Library, Cambridge, Mass. 1955. Diese Arbeit stellt den ausführlichsten Versuch dar, Probleme der Datengewinnung in der Perspektive eines physikalistisch-formalistisch ausgerichteten Distributionalismus zu lösen. N. Chomsky, Syntactic Structures, S. 94. Jürgen Habermas hat in diesem Zusammenhang systematisch zwischen verschiedenen Modi der Erfahrung unterschieden: während eine „sensorische Erfahrung" zu Wahrnehmungen von Dingen oder Ereignissen, die wir Dingen zuschreiben, führt, erfordert die Erfassung von Äußerungen oder Zuständen, die wir menschlichen Subjekten zuschreiben, eine „kommunikative Erfahrung", der sich die Realität als vorinterpretierter Objektbereich von sprechend und handelnd sich äußernden Subjekten erschließt. Vgl. Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Sonderheft 5 der Philosophischen Rundschau, Tübingen 1967, S. 98. Gerade unter der Voraussetzung, daß die sprachlichen Tatsachen als Tatsachen einer sozialen Wirklichkeit nicht bloße Körper sind, sondern einen „Eigensinn" besitzen, bleibt dem Forscher zur Erfassung dieses Sinns nur der Weg über die Kenntnisse der handelnden (sprechenden) Subjekte. Er muß sich zum Teilnehmer ihrer Kommunikation machen. Vgl. Chomsky, Aspekte, S. 32ff. Grundsätzlich zu diesem Problem des „Messens sozialer Tatsachen" vgl. Aaron V. Cicourel, Methode und Messung in der Soziologie, Frankfurt/Main 1970.

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Auch die Richtigkeit von strukturellen Einsichten, die innerhalb der GTG in Form von Ersetzungsregeln formalisiert sind, bemißt sich nämlich nicht an der unmittelbaren Beobachtung vorliegenden Sprachmaterials. Der Sprecher, der seine Sprache beherrscht, muß prinzipiell bei der Bestätigung der wissenschaftlichen Aussagen mitsprechen können. Die Fähigkeit des Sprechers, metasprachliche Aussagen über seine Sprache machen zu können, ist die „letztendliche Norm für die Bestimmung der Genauigkeit der angesetzten Grammatik"26 . Wer Strukturbeschreibungen überprüfen will, etwa durch die Angabe von Satzbeispielen und der an ihnen vornehmbaren Operationen, muß an die Erfahrung von Sprechern appellieren, welche die angeordneten Sprachbeispiele (prinzipiell) so sehen können müssen, wie sie vom Linguisten gemeint und strukturell analysiert werden: Sätze wären keine Sätze, eine strukturelle Mehrdeutigkeit wäre nicht nachweisbar, eine Abweichung könnte nicht erkannt werden usw., wenn diese Sätze, Mehrdeutigkeiten und Abweichungen nicht als solche vom kompetenten Sprecher beurteilt werden könnten. Für die Applikation generativer Regeln erweist sich der Bezug auf ein „vorwissenschaftliches" metasprachliches Urteilsvermögen als unentbehrlich. Daran scheiterte das methodologische Postulat einer formalistisch orientierten Linguistik (im Sinne von Harris), den Gegenstand der LinguistiK als eine Struktur zu begreifen, die im formalen linguistischen System rein (d. h. ohne Vermittlung durch die Erfahrungen der „native speaker") abgebildet werden sollte.

5.

Worüber der kompetente Sprecher mitreden darf

Der Rekurs auf das strukturalistische Dilemma kann zugleich verdeutlichen, daß auch die GTG ganz auf jenes Programm festgelegt bleibt, das kennzeichnend für den amerikanischen Strukturalismus ist: Es geht weiterhin um die Formulierung von (grammatischen) Ordnungsschemata, die den relationalen Zusammenhang zwischen sprachlichen Elementen abbilden und die mittels formaler Kunstsprachen modellhaft präzisiert werden können. Die generativen Ersetzungsregeln sind ja nichts anderes als Formalisierungen des linguistischen Wissens über strukturelle Regelmäßigkeiten. Das impliziert, daß die metasprachliche Urteilsfähigkeit, auf die kein Strukturalist verzichten kann, auf jene Fragestellungen fixiert bleibt, die für ihn interessant sind. Der kompetente Sprecher, der prinzipiell mitsprechen können muß, darf nur sagen, was der strukturalistischen Fragestellung eingegliedert werden kann: Er gibt in der Regel Urteile über die Wohlgeformtheit von Sätzen ab, die als Beispiele für eine strukturelle Satzanalyse verwendet werden. Zwar hat es der Linguist mit einem Objektbereich zu tun, der durch das Bewußtsein sprachfähiger Subjekte vorinterpretiert ist; zwecks Datengewin26 Chomsky, Aspekte, S. 36. 75

nung und Regelbestätigung befragt der Linguist ein Bewußtsein, das schon vielerlei mitbringt, Vormeinungen über bestimmte Möglichkeiten normalen Sprechens besitzt, weil es in der konkreten Lebenswelt des alltäglichen Sprechens Erfahrungen gemacht hat. — Aber er befragt es auf eine gezielte Weise, die dem natürlichen Sprachbewußtsein an sich fremd ist: Denn seine Fragen zielen nicht auf die Erfahrungen, die mit bedeutsamen Äußerungen als individualisierten Momenten einer spezifischen Situation gemacht worden sind oder gemacht werden können; sie zielen auf die Existenz sprachlicher Strukturen, die anhand eines Satzes beispielhaft festgestellt und erläutert werden können. Das befragte Bewußtsein lernt erst allmählich einzusehen, daß es immer nur mit Beispielen zu tun hat, die als Beispiele zur Verdeutlichung einer allgemeinen Struktur dienen. Der Satz, an dem exemplarisch die Struktur der Sprache studiert werden soll, ist deshalb kein Moment wirklichen Sprechens, über das metakommunikativ reflektiert werden könnte. Er ist „Paradigma"27 Muster einer Struktur, die auch an ihm als einem situationsenthobenen und folglich auch beliebig oft zitier- und analysierbaren Gebilde aufweisbar ist. Als besonderer Satz hat er nichts zu sagen. (Selbst wenn er wörtlich mit geläufigen Sätzen der Sprache übereinstimmt, macht er deshalb den Eindruck des Künstlichen.) Wer in den linguistischen Strukturalismus eingeführt wird, oder wer als Informant vom Linguisten in Anspruch genommen wird, hat sich zuerst dieser Intention des Paradigmas zu fügen. Er muß das Beispiel als Beispiel sehen lernen. Denn er wird nicht gefragt werden, was er aufgrund seiner Erfahrungen und seines Wissens über den Satz in seiner spezifischen Bedeutung zu sagen weiß, sondern er wird gefragt werden, ob auch er den zitierten Satz so sehen kann, wie er vom Linguisten als Strukturbeispiel gezeigt worden ist. Nur wenn er sich diese Perspektive der Sprachbetrachtung zu eigen gemacht hat, wird er als kompetenter Sprecher mitreden dürfen. (In diesem Zusammenhang scheint u. E. auch Chomskys Annahme, der strukturelle Linguist bringe dem Sprecher eine „intuitive unreflektierte Kenntnis" zu Bewußtsein, die ihm „nicht unmittelbar zugänglich zu sein braucht"28, ihren eigentlichen Stellenwert zu haben: Sie kennzeichnet den Bruch zwischen einer auf alltägliches Sprechen bezogenen Reflexionsfähigkeit und einer metasprachlichen Urteilskompetenz, die sich auf situationsenthobene sprachliche Gebilde als Paradigmen struktureller Analyse bezieht, ohne jedoch diesen Bruch als solchen zu reflektieren.) Neben dieser grundsätzlichen Verpflichtung auf die paradigmatische Sprachbetrachtung sind es die zulässigen Prädikate, welche die Urteilskompetenz des Sprechers bestimmen. Für ihn ist der zu beurteilende Satz — isoliert aus den realen Sprechsituationen und ohne Bezug auf die Subjektivität des Urteilen27 Vgl. Josef Simon, Philosophie und linguistische Theorie, Berlin/New York 1971, S. 2Iff. 28 Chomsky, Aspekte, S. 36. 76

den — entweder grammatisch wohlgeformt oder abweichend. Nur dann nämlich ist sein Urteil als Bestätigungs- oder Widerlegungsinstanz für solche strukturelle Einsichten nützlich, die mittels generativer Regeln systematisiert werden. Auch jetzt hat der kompetente Sprecher also etwas zu lernen: er muß von seinen Erfahrungen der bestimmten Gebrauchsmöglichkeiten von Äußerungen absehen und so zu urteilen lernen, wie es für die strukturalistische Analyse kennzeichnend ist. Der Bruch zwischen dem alltäglichen Sprachbewußtsein und der paradigmatischen Sehweise konkretisiert sich im Bruch zwischen Urteilen über „Akzeptabilität" (gewonnen aus sozial vermittelten subjektiven Spracherfahrungen) und „grammatische Wohlgeformtheit". Wir müssen klären, was die Grundlage dieses Wohlgeformtheits-Prädikats ist, das für die GTG von so zentraler Bedeutung ist.

6.

Begriffsexplikation rückwärts: Zum Explikandum der „grammatischen Wohlgeformtheit1'

Die linguistische Begriffsbildung muß, das hat Chomsky deutlich gemacht, an sprachbezogenen Erfahrungen anknüpfen. Für die GTG ist dabei die vorwissenschaftlich fundierte Unterscheidung von „Sätzen" und „Nicht-Sätzen" conditio sine qua non. Denn die GTG will ja allen Sätzen (und keinem NichtSatz) auf wohldefinierte Weise Struktur-Beschreibungen zuordnen. Die Annahme, daß alle kompetenten Sprecher weitgehend in der Beurteilung von Sätzen als Sätzen übereinstimmen, ist eine der unumgänglichen Prämissen linguistischer Arbeit. Wenn nun der Linguist auch an diesem umgangssprachlich vermittelten Wissen vom Satz ansetzen muß, so kann er bei diesem Wissen doch nicht stehenbleiben. Denn er muß versuchen, die Ungenauigkeiten und Vagheiten, mit denen der Alltagsbegriff „Satz" noch behaftet ist, zu beseitigen. Es ist Aufgabe einer Begriffsexplikation19, den Alltagsbegriff in jene Richtung zu präzisieren, die für die Zielsetzungen der strukturalistischen Linguistik interessant ist. Der zu präzisierende Ausdruck wird Explikandum genannt; der exakte Ausdruck heißt Explikat. Explikationen können als nützliche Präzisierungsvorschläge verstanden werden, durch die die Fachsprache von der natürlichen Alltagssprache abgetrennt wird, ohne daß doch die Basis der natürlichen Sprache völlig verlassen werden kann. (Sonst hätte es keinen Sinn, von einer Explikation zu sprechen30.) Ein Verständnis dieses Explika29 Grundsätzliches zur Begriffsexplikation bei: Rudolf Carnap, Logical Foundations of Probability, New York 1950, S. 3ff.; Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen, S. 373ff.; zum Verfahren der linguistischen Begriffsexplikation vgl. Helmut Schnelle, Sprachphilosophie und Linguistik, Reinbek bei Hamburg 1973, Kap. II; Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, Kap. 7 und 8. 30 Vgl. Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, 2., verbesserte Auflage Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 87.

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tionsprozesses setzt folglich eine Kenntnis des Explikandums voraus. Wir können an Chomsky die Frage stellen, von welchem vorwissenschaftlichen Satzbegriff er ausgeht, um die Grundlage des Wohlgeformtheits-Prädikats klarzulegen. Dazu erweist es sich als zweckmäßig, den von Chomsky veranstalteten Explikationsprozeß nach rückwärts zu verfolgen. Chomsky setzt an beim Begriff des .grammatischen Satzes". Der Satz der GTG ist der grammatisch wohlgeformte Satz. Das Prädikat „grammatisch" ist integraler Bestandteil des Explikandums „Satz". Es ist zugleich sein zentraler. Denn die Grammatik als Theorie der Struktur aller Sätze soll diejenigen Eigenschaften von Sätzen abbilden, die für deren „Grammatikalität" konstitutiv sind. Das setzt voraus, daß Mitglieder der Sprachgemeinschaft, deren Sprache Gegenstand der Untersuchung ist, zwischen grammatischen und ungrammatischen Sätzen unterscheiden können. Dem kompetenten Sprecher wird ein „intuitive knowledge of grammatical sentences"31 zugeschrieben. Auch hier meint die Bezeichnung „intuitiv" offensichtlich jenen vorwissenschaftlichen Gebrauch des vorgegebenen Begriffs „Grammatikalität", zu dessen Explikation Chomsky eine Reihe von Unterscheidungsmerkmalen aufgeführt hat: 1. In seinen frühen Arbeiten glaubte Chomsky den Begriff „Grammatikalität" noch ohne semantische Überlegungen sinnvoll verwenden zu können. Für die Feststellung der Grammatikalität ist es z. B. gleichgültig, ob die entsprechenden Sätze sinnvoll oder sinnlos sind. Grammatische Wohlgeformtheit wurde als syntaktischer Begriff verstanden, der sich auf formale Struktureigenschaften bezog. 2. Der Begriff „Grammatikalität" wird von pragmatischen Bestimmungen freizuhalten versucht, die sich auf mögliche Sprechhandlungen beziehen. Der grammatische Satz ist aus jeder Sprechsituation herausgelöst und wird in Isolation (eben als Paradigma struktureller Analyse) betrachtet. 3. Der „grammatische Satz" ist vom sprachlichen Kontext isoliert, in dem er stehen könnte. Um über die Grammatikalität eines Satzes urteilen zu können, soll eine Kenntnis des verbalen Kon texts überflüssig sein. 4. „Grammatikalität" kann nicht wahrscheinlichkeitstheoretisch verstanden werden. Weder basiert sie auf Beobachtungen über die Häufigkeit von Satzverwendungen, noch auf Annahmen über die Wahrscheinlichkeit der Verwendung eines Satzes unter bestimmten Bedingungen, noch auf Hypothesen über die Folgewahrscheinlichkeit von Einheiten innerhalb der Satzgrenze. Letzteres ist besonders durch die Konzeption rekursiver Mechanismen deutlich zu machen versucht worden; sie liefern keine Prognosen über die Wörter, die in einem Satz („wahrscheinlich") aufeinander folgen können, sondern generieren den Satz mitsamt seiner Struktur gleichsam auf einen Schlag (auch wenn sie für die Generierung des je einzelnen Satzes eine bestimmte Zeit brauchen). 31 Chomsky, Syntactic Structures, S. 13. 78

5. „Grammatikalität" ist kein Alltagsbegriff, der sich mehr oder weniger präzis auf Äußerungen (als zeitlich sich erstreckender Lautgebilde oder räumlich sich erstreckender Schriftgebilde) bezöge, sondern ist ein wissenschaftlicher Begriff, aer sich auf strukturierte Möglichkeitsgebilue bezieht, die nicht notwendig realisiert werden müssen. Darauf verweist die Annahme, daß jeuer Satz beliebig erweiterbar ist, eine Annahme, die sich nur im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie legitimieren läßt. 6. „Grammatikalität" setzt rekursive Ordnungen voraus. Das ergibt sich aus der Problematik, die Eigenschaft der Grammatikalität nicht mit der möglichen Länge von Sätzen sinnvoll korrelieren zu können. Da es unmöglich erscheint, eine bestimmte Menge N von Wörtern zu fixieren, die darüber bestimmen würde, ob eine Wörterreihe grammatisch wohlgeformt ist oder nicht, andererseits aber eine endliche Anzahl strukturkonstituierender Satzeigenschaften plausibel ist, verweist die Grammatikalität auf rekursive Mechanismen, die von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch machen können. 7. Grammatische Wohlgeformtheit darf deshalb nicht mit Akzeptabilität verwechselt werden. Da das Prädikat „akzeptabel" sich auf Äußerungen bezieht, die Chomsky zitierend „völlig natürlich und unmittelbar verständlich sind — ohne Zuhilfenahme von Papier und Bleistift, und die in keiner Weise bizarr oder fremdartig klingen"32, muß es vom Prädikat „grammatisch" unterschieden werden. Denn grammatisch wohlgeformte Sätze können durchaus nicht-akzeptabel sein, wie umgekehrt akzeptable Sätze in bestimmten Grenzen den Bedingungen grammatischer Wohlgeformtheit widersprechen können. Mit diesen Unterscheidungen hat Chomsky jene Bedeutung des Begriffs „Grammatikalität" erläutert, der dann die Explikation des Satzbegriffs innerhalb der GTG gilt. Zugleich helfen uns seine Erläuterungen, auf das Explikandum selbst zurückzuschließen. Die genannten sieben Abgrenzungen zur Stabilisierung des vorwissenschaftlichen Satzbegriffs machen nämlich deutlich, daß die strukturelle Analyse paradigmatische r Sätze nicht an den realen Erfahrungen umgangssprachlicher Kommunikation ansetzt, die sprachbegabten Subjekten ein Verständnis sprachlich kommunizierbaren Sinns ermöglicht. Denn der semantische Gehalt der Rede oder die „Bedeutung" des außersprachlichen Kontexts bleiben so unberücksichtigt wie verbalkontextuelle Faktoren und reale Einschränkungen, denen sinnvolles Sprechen unterliegt. Vielmehr knüpft Chomsky offensichtlich an jener nicht-alltäglichen strukturalistischen Konzeption sprachlicher Teileinheiten an, die besonders im Rahmen distributioneller Analysen (etwa seines Lehrers Z. S. Harris) vertreten worden war und deren Kennzeichen in der versuchten Trennung des formalen vom inhaltlichen Aspekt der sprachlichen Erfahrung bestand. Besonders in Chomskys frühen Arbeiten wird das Bewußtsein dieser Tradition noch offen formuliert. Die „sen32 Chomsky, Aspekte, S. 22. 79

tence-grammar" steht ganz „within the framework of distributional analysis"33 Der Versuch, eine generative Theorie des Satzes zu formulieren, die „completely formal and non-semantic"34 ist, steht zum einen in der Tradition des Distributionalismus. Zum ändern basiert er auf einem Begriff des wohlgeformten Satzes, der sich am Modell formaler Kunstsprachen orientiert. Der generierbare Satz besitzt alle (und nur jene) Eigenschaften, die für die Sätze formalisierter Zeichenkalküle kennzeichnend sind. Er läßt sich als Zeichenkombination verstehen, unter weitgehender Vernachlässigung seines Sinns; er ist verselbständigt von jeglichen Handlungszusammenhängen, die als pragmatische Bedingungen seiner Interpretation wirken; er ist von jedem anderen Satz isoliert, weil er als einzelner mittels formaler Regeln jederzeit erzeugt werden kann; er ist abstraktes Möglichkeitsgebilde, rekursiv ableitbar und gilt als unbegrenzt erweiterbar; er ist freigesetzt von jeglichem Faktor, der seine Realisierung mehr oder weniger wahrscheinlich machen würde. Das Prädikat „grammatisch wohlgeformt" basiert auf den kennzeichnenden Eigenschaften formaler Sprachen, mit denen formale Folgeordnungen anschaulich repräsentiert werden. Der sprachwissenschaftliche Gegenstand ist nach dem Vorbild jener künstlichen Präzisionssprachen modelliert (vorinterpretiert), denen das von der Umgangssprache freigesetzte Deduzieren anvertraut worden ist: Er erscheint als Menge formal geregelter Zeichenkombinationen. Die Form möglicher Ableitungszusammenhänge auf Theorieebene hat die „natürliche" Erfahrung der Umgangssprache in ihren Bann geschlagen. 7.

Warum eine Sprache aus unendlich vielen Sätzen bestehen soll

Daß der linguistische Gegenstandsbereich durch die Kenntnis formaler Kunstsprachen vorinterpretiert ist, läßt sich an der attraktiven Annahme der GTG nachweisen, mittels rekursiver generativer Regeln die „kreativen" Prozesse der Sprache zu erfassen: „Der fundamentale Grund fur die Inadäquatheit traditioneller Grammatiken ist aber mehr technischer Art. Obwohl es im allgemeinen wohl verstanden wurde, daß sprachliche Prozesse in irgendeinem Sinne .kreativ' sind, waren die technischen Mechanismen zum Ausdruck eines Systems rekursiver Prozesse bis in allerjüngste Zeit einfach nicht verfügbar. Tatsächlich hat sich ein wirkliches Verständnis dafür, wie eine Sprache (in Humboldts Worten) .unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln machen' kann, erst in den letzten dreißig Jahren entwickelt, im Fortgang der Studien über die Grundlagen der Mathematik. Nun, da diese Einsichten zur Verfügung stehen, kann man sich wieder den Fragen zuwenden, die in der traditionellen Sprach-Theorie gestellt, aber nicht gelöst wurden, und eine explizite Formulierung der .kreativen' Prozesse der Sprache versuchen. Kurzum, es gibt keine technische Barriere mehr gegen das Studium generativer Grammatiken in voller Breite" 5. 33 Chomsky, The Logical Structure of Linguistic Theory, S. 114. 34 Chomsky, Syntactic Structures, S. 93. 35 Chomsky, Aspekte, S. 19 80

Für das ^Studium generativer Grammatiken', das heißt: für die mathematisierte Rekonstruktion der logischen Form der strukturellen Theorie, erweist sich die Konstruktion von künstlichen Sprachen als nützlich, in denen rekursive Ersetzungsregeln36 vorkommen. Solche Regeln sind auf ihr eigenes Resultat wiederholt anwendbar, da das ersetzte Zeichen in diesem Resultat selbst wieder vorkommt. (Ein Beispiel: Mittels der rekursiven Regel „S-^-a+S+b" läßt sich durch dreimalige Anwendung die Elementverkettung „a+a+a+S+b+b+b" herstellen, indem wiederholt die Verkettung „a+S+b" an die Stelle von „S" gesetzt wird. Erzeugbar wären folglich alle Ketten, die rechts wie links von „S" eine jeweils gleiche Anzahl der Zeichen „a" bzw. „b" besitzen. Vgl. auch die Regel 25 (vii) in Kap. I). Diese Möglichkeit einer wiederholten Selbstapplikation garantiert eine potentiell unendlich große Menge generierbarer Formalobjekte der regel-bestimmten Struktur. Denn es gibt keine Regel, durch die die Anzahl der Regelanwendungen beschränkt wird: so kann unendlicher Gebrauch von endlichen Mitteln gemacht werden. Rekursiv bestimmte Unendlichkeit soll aber auch Kennzeichen natürlicher Sprachen sein. Begründet wird diese Annahme durch den Hinweis, daß es keinen längsten Satz gibt31. Obwohl nämlich jeder Satz eine bestimmte, endliche Länge besitzt (sonst könnte nicht festgestellt werden, ob er ein Satz ist), gibt es keine obere Grenze der erlaubten Länge grammatisch wohlgeformter Sätze. Denn es soll immer möglich sein, dem Satz ein neues Wort hinzuzufügen, oder einen Nebensatz einzugliedern oder anzuhängen, ohne daß dadurch die Eigenschaft, ein Satz zu sein, verlorenginge. Die Annahme der prinzipiell stets möglichen Erweiterung jedes Satzes impliziert folglich, daß die Anzahl der Sätze einer Sprache unendlich groß ist (es kann stets noch ein neuer Satz gebildet werden), auch wenn die meisten dieser möglichen Sätze tatsächlich nicht geäußert werden können. (Jerrold J. Katz führt in diesem Zusammenhang die begrenzte menschliche Lebensdauer als „grammatisch irrelevante" Beschränkung der möglichen Satzverlängerung an38) — In der Kritik an de Saussures Begriff der „langue" verweist Chomsky auf diesen rekursiv abbildbaren Unendlichkeitscharakter natürlicher Sprachen. De Saussure nämlich mußte den Satz noch als Einheit der „parole" begreifen, weil er keine Möglichkeiten fand, die unbegrenzte Freiheit der Zusammenstellungen39, d.h. die Bildung von Sätzen, mittels einer endlichen Folge von Zeichenanreihungen anzugeben. Chomky zufolge scheiterte de Saussure an jener „rule-governed 36 Zur allgemeinen Struktur von Rekursivregeln vgl. besonders S.C. Kleene, Introduction to Metamathematics, Princeton, N.J. 1952; zur Anwendung in der Linguistik vgl. Robert Wall, Einfuhrung in die Logik und Mathematik für Linguisten 2, Algebraische Grundlagen, Kronberg Ts. 1973, S. 9-36. 37 Vgl. Jerrold J. Katz, Philosophie der Sprache, Frankfurt/Main 1969, S. 11 Iff. 38 ebda., S. 113, Anm. 2. 39 Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2. Aufl. Berlin 1967, S. 148f. 81

creativity"40 der Sprache, die von Chomsky als unendliche Regelapplikation begriffen wird und allein mittels rekursiver Regeln formal abgebildet werden kann. Jedoch: die Annahme einer regelgeleiteten Kreativität im Sinne unbegrenzter Satzerweiterung ergibt sich nur, wenn man von den realen Bedingungen des Sprachgebrauchs absieht und aus der Perspektive einer mechanisch gedachten Anwendung formalisierter (rekursiver) Regeln argumentiert. Denn nur im Rahmen einer formalisierten Grammatik kann es keine Begründung geben, die Länge eines möglichen Satzes zu begrenzen. Wenn z. B. durch eine Rekursivregel die Möglichkeit attributiver Adjektive durch die Selbsteinbettung des S-Symbols eröffnet wird, indem diese Adjektive aus Relativsätzen abgeleitet werden, so ließe sich in der Tat nicht rechtfertigen, wieso diese Regel41 nur begrenzt angewendet werden dürfte. Es muß dann vielmehr davon ausgegangen werden, daß die Anzahl möglicher Adjektive im Satzzusammenhang unendlich groß ist. Denn da die formalisierte Grammatik ja alle möglichen Sätze generieren soll, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Rekursivregel unbegrenzt arbeiten zu lassen. (Wäre nämlich ihre Anwendung z. B. nur zwanzig Mal geregelt, so könnte die Grammatik einer NP mit einundzwanzig Adjektiven keine Struktur mehr zuordnen.) Hinsichtlich des realen Sprachgebrauchs erweist sich die Annahme „kreativer" Unendlichkeit dagegen als sinnlos. Die „natürliche" Sprache als Medium der Verständigung und Selbstverständigung besteht aus keinen Formalobjekten, wie sie in der formalen Theorie rekursiv aufzählbar sind. Sie besteht aus Handlungsmöglichkeiten, die auf Verständnis hin angelegt und realisiert werden können. Dieses Verständnis, das sich allein im realen Vollzug dialogisch kontrollierter Sprechhandlungen manifestiert, ist zwar offen für „neue" Sätze, die noch nie geäußert worden sind. Aber diese Offenheit legitimiert nicht die Annahme, daß jeder Satz unendlich erweitbar ist. Nur weil man in formalen 40 Noam Chomsky, Current Issues in Linguistic Theory, in: Fodor and Katz (eds.), The Structure of Language, S. 60; vgl. auch Chomsky, Aspekte, S. 14f.. Dieses Verhältnis von rekursiv konstituierter Unendlichkeit und sprachlicher Kreativität ist treffend kritisiert bei Ulrich Knoop, Die Begriffe „Unendlichkeit" und „Kreativität" in der Theorie der generativen Transformationsgrammatik - eine kritische Analyse, in: Deutsche Sprache l (1974), S. 11-31. 41 Man könnte die „theoretische Möglichkeit", unendlich viele Adjektive in derselben NP auftreten zu lassen, z. B. mittels einer rekursiven Regel etwa folgender Gestalt repräsentieren: Adj -*· Adj' (Adj). Das fakultative Adjektiv auf der rechten Seite könnte ja beliebig oft wieder ersetzt werden. — Da man aber versucht, die Anzahl der Quellen von Rekursivität möglichst gering zu halten, wurde der Vorschlag gemacht, die attributiven Adjektive aus Relativsätzen abzuleiten (z. B. „Das Gespenst, das hungrig ist" -> „Das hungrige Gespenst"). Damit wird die Einbettung von S zur Quelle der Rekursivität. Zur genauen Form dieser Regel und der damit notwendig gewordenen Transformation vgl. Johannes Bechert, u. a., Einführung in die generative Transformationsgrammatik, München 1970, S. 90ff. 82

Kalkülen keine Ende finden kann, muß man umgangssprachlich noch nicht unendlich weitergehen können42. In natürlichen Sprachen kommt es nicht auf die „Unendlichkeit" von Möglichkeiten an, sondern auf eine Art von „Unbestimmtheit", die sowohl das Nennen einer bestimmten (endlichen) Zahl von Sätzen verhindert, als auch die Antwort: „Es gibt unendlich viele" sinnlos werden läßt. Mit Ludwig Wittgenstein läßt sich sagen: „Kein Ende, zu dem wir kommen, ist wesentlich das Ende. Das heißt, ich könnte immer sagen: ich seh' nicht ein, warum das alle Möglichkeiten sein sollen. - Und das heißt doch wohl, daß es sinnlos ist, von .allen Möglichkeiten' zu sprechen" .

8.

Linguistische Experimente oder: Über die Reglementierung sprachlicher Erfahrung

Daß das Verständnis natürlicher Sprachen durch die Konstruktionsinteressen an formalisierten Theoriesprachen gelenkt und eingegrenzt wird, zeigt sich deutlicher noch an jenen Veranstaltungen mit Versuchspersonen, die der Linguist zur experimentellen Bestätigung seiner Struktureinsichten durchführt. Besonders Grammatikalitätsexperimente, welche die Wohlgeformtheitskonzeptionen des Linguisten unterstützen sollen44, machen deutlich, daß diese Experimente nur dann eine bestätigende oder unterstützende Funktion besitzen, wenn die zum Urteil aufgerufenen Versuchspersonen sich die Perspektive des Linguisten zu eigen machen und ihre eigenen kommunikativen Erfahrungen weitgehend verdrängen. Nur eine reglementierte Erfahrung, die sich auf formale Konstruktionsmöglichkeiten konzentriert, ist als Erfahrungsbasis der GTG zugelassen. Zwei Beispiele: In mehreren Experimenten ist festgestellt worden, daß der Grad rekursiver S-Einbettung die Urteile kompetenter Sprecher beeinflußt. Je größer der Einbettungsgrad, desto geringer die Akzeptabilität des Satzes. In der Regel werden durchschnittlich Sätze bis zu 1,5 Einbettungen als akzeptabel beurteilt, auch wenn die Versuchspersonen explizit zu einem Urteil über Grammatikalität aufgefordert worden sind45. Der Linguist jedoch, dessen Grammatik die Generierung von Sätzen mit einer Einbettung gestatten 42 Vgl. Paul Ziff, The Number of English Sentences, in: Foundations of Language 11/4 (1974), S. 519-532. 43 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Oxford 1969, S. 276. 44 Vgl. die zusammenfassende Darstellung und Kritik bei: Helen Leuninger, Max H. Miller und Frank Müller, Psycholinguistik. Ein Forschungsbericht, Frankfurt/Main 1972, S. 34-39. 45 Vgl. A. Lehrer, Competence, Grammaticality, and Sentence Complexity, in: The Philosophical Forum l (1968), S. 85-89. A. L. Blumenthal, Observations with selfembedded sentences, in: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 6 (1967), S. 203-206. 83

soll, ist gezwungen, Sätze mit beliebig vielen Einbettungen als grammatisch wohlgeformt zu beurteilen. Denn das „Wie oft" der rekursiven Regelanwendung bleibt von der Regel her unbestimmt. — Das Gleiche gilt hinsichtlich diskontinuierlicher Konstituenten, z. B. einer Verb-Partikel-Trennung. Akzeptabilitätsurteile sind offensichtlich durch die Länge der Objektnominalphrase beeinflußt, die zwischen Verb und Partikel erscheint46. Auch hier aber muß der Linguist nach dem Gesetz verfahren, nach dem er angetreten ist; es gibt keine „technische Barriere", die Länge der eingeschalteten Objektnominalphrase zu begrenzen. Diese und andere „Diskrepanzen" zwischen Informantenurteilen und postulierter grammatischer Wohlgeformtheit der beurteilten Sätze werden meist auf bestimmte Wahrnehmungsmechanismen und deren spezifische Beschränkungen zurückgeführt47. Als Diskrepanzen ergeben sie sich jedoch nur, wenn die Kategorie „Grammatikalität" nicht an die realen Erfahrungen umgangssprachlicher Kommunikation gebunden ist, sondern an die Generierungskapazitat formaler Kunstsprachen, die von jeder kontextuellen Kontingenz befreit sind. Innerhalb der veranstalteten Experimente schlägt sich der Abstand der Theoriesprache gegenüber den Erfahrungen funktionierender sprachlicher Kommunikation nieder in der Notwendigkeit einer vorgängigen Instruktion der Versuchspersonen über das von ihnen erwartete linguistische Wissen: Sie werden auf jene Merkmale gelenkt, die für eine Operationale Legitimierung der formalsprachlich orientierten Annahmen über Wohlgeformtheit relevant sind. Die Erfahrungen der Versuchspersonen sind damit auf die Erfordernisse der experimentellen Versuchsanordnung zugeschnitten und können nur in diesem Rahmen zu Wort kommen. Damit wird den Versuchspersonen zugleich die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen, entzogen: Denn das Machen von Erfahrungen bedeutet, auch die Bedingungen, unter denen Erfahrungen bisher möglich waren, selbst der Prüfung zu unterziehen. Für „produktive" Erfahrungen sind folglich auch die begrifflichen Voraussetzungen der Erfahrungen (der Begriff, den man sich bisher vom Gegenstand des Wissens gemacht hat) kein Letztes; im Prozeß der Erfahrung können sie qualitativ revidiert werden48. Gerade diese Möglichkeit aber wird einer sprachbezogenen Erfah46 Vgl. Thomas G. Bever, Associations to stimulus-response theories of language, in: T. R. Dixon and D. L. Horton (Hrsg.), Verbal Behavior and General Behavior Theory, Englewood Cliffs, N. J., 1968, S. 478-494, hier: S. 481. 47 Vgl. ebda. 48 Zu diesem produktiven Erfahrungsbegriff vgL nochmals Hegel: „... und die Prüfung ist nicht nur eine Prüfung des Wissens, sondern auch ihres Maßstabs. Diese dialektische Bewegung welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstand ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird". Hegel, Phänomenologie, S. 78 Gerade ein solches „Entspringen" des neuen Gegenstands mittels einer umfassenderen Erfahrung ist es, das durch die Verfahrensweise der paradigmatischen Satzanalyse ausgeschlossen wird.

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rung geraubt, die sich in der Beurteilung von Sätzen als Paradigmen möglicher Strukturen erschöpfen muß, ohne die vorgesetzten Fragestellungen und Prüfungsbedingungen transzendieren zu können. Die begriffliche Voraussetzung der Grammatikalitätsexperimente, daß jede Sprache aus der Menge aller wohlgeformten, isoliert beurteilbaren Sätze besteht, kann von keiner Versuchsperson grundsätzlich in Zweifel gezogen werden; sie wäre sonst keine akzeptable Versuchsperson mehr. Blockiert worden ist damit die Fähigkeit, Erfahrung in der Herstellung von Erfahrung zu machen. (Von dieser Blockierung bleibt auch der Linguist selbst nicht frei, dessen spezialisierte Phantasie in die mit dem Strukturbegriff gezogene Grenze eingefangen bleibt; vielleicht einer der Gründe, weshalb er mit seinen „Erfahrungen" praktisch so wenig anzufangen weiß.) So gesehen gewinnt Chomskys Annahme, durch das instruktive Hinweisen auf Bedingungen struktureller Wohlgeformtheit verändere sich das Bewußtsein des Sprecher-Hörers nicht, einen neuen Sinn: Wir (Linguisten) „liefern dem Hörer keine neue Information und lehren ihn nichts Neues über seine Sprache, sondern wir ordnen die Dinge einfach nur in einer Weise, daß ihm seine linguistische Intuition, die vorher verdeckt war, nun augenscheinlich wird"49. Denn mit der Weise der Anordnung selbst ist der Verzicht auf die Möglichkeit produktiver, unreglementierter Erfahrung gesetzt. Daß die Grammatik „nichts Neues lehrt", koinzidiert mit der Unfähigkeit der Versuchspersonen, etwas Neues lernen zu können. „Erkenntnis" wird zur Subsumtion unter das Bekannte, das als Strukturgesetz gefaßt wird. Damit ist tendenziell die Versuchsperson als erfahrendes Subjekt ausgeschaltet. Gerade deshalb ist sie ja auch beliebig austauschbar, solange sie den formal-linguistischen Begriff von Sprache nicht in Frage stellt.

9.

Zur systematischen Mehrdeutigkeit des Kompetenzbegriffs

Hier wollen wir unsere Überlegungen zum Verhältnis von formalisierter Theorie und zulässiger (notwendiger) Erfahrungsbasis unterbrechen. Stattdessen wollen wir jenen Anspruch näher erörtern, den die GTG erhebt: ein Theorie menschlicher Sprachkompetenz zu sein, die nicht nur theoretische Begriffe und systematisierte Strukturregeln „äußerlich" an Sprache heranträgt, sondern jenes Wissen mittels generativer Regeln rekonstruiert, „über das der SprecherHörer verfügt und das er in der aktuellen Sprachverwendung in Gebrauch nimmt"50. Mit anderen Worten: Wenn wir bisher die methodologischen Neuerungen Chomskys gegenüber den radikal physikalistischen und formalistischen Positionen innerhalb des amerikanischen Strukturalismus wesentlich darin gesehen haben, daß durch Chomsky eine Voraussetzung strukturalistischer 49 Chomsky, Aspekte, S. 37. 50 Ebda., S. 14. 85

Verfahrensweise bewußt gemacht worden ist (die „Sprachintuition" als Datenlieferant und Prüfungsinstanz), so ging dies insofern an Chomskys eigenen Folgerungen vorbei, als er gegenüber seinen strukturalistischen Vorgängern einen grundsätzlich neuen Gegenstand ins Auge zu fassen glaubt. Ihm geht es nicht mehr nur darum, daß die Grammatik als Theorie der Struktur von grammatisch wohlgeformten Sätzen nur unter Bezug auf die metasprachliche Urteilskompetenz sprachfähiger Sprecher konstruiert und überprüft werden kann. Sondern es geht ihm darum, daß die Grammatik die sprachlichen Kenntnisse (als mentale Realität) der Sprecher selbst zum Gegenstand hat. „Mentalistische Linguistik heißt nichts weiter als theoretische Linguistik, die Daten aus der Sprachverwendung (neben anderen Daten, z. B. solchen aus der Intro-. spektion) benutzt, um die Sprach-Kompetenz zu bestimmen, wobei letztere als der primäre Untersuchungsgegenstand zu verstehen ist"a .

Was kann diese Wende im Selbstverständnis des linguistischen Strukturalismus bedeuten? Wenn wir diese Frage beantworten würden, indem wir uns auf die tatsächliche wissenschaftliche Praxis der GTG-Theoretiker beziehen, so würde sich diese Wende des Strukturalismus als eine Veränderung in der Bezeichnung sprachwissenschaftlicher Tätigkeit darstellen, ohne daß diese selbst davon unmittelbar betroffen wäre. Denn tatsächlich geht es weiterhin um die Erklärung des formalen Aufbaus einzelner Sätze mittels allgemeiner Strukturgesetze, die allerdings ( und hier liegt u. E. das Neue der GTG) mit Hilfe generativer Ersetzungsregeln auf eine sehr übersichtliche und anschauliche Art modellhaft formuliert (formalisiert) werden können. Daß man sich nicht mehr als Strukturtheoretiker, sondern als Kompetenztheoretiker bezeichnen will, ändert daran noch nichts. Der Begriff der Kompetenz wäre also nur eine neue facon de parier. Diese bringt zwar zu Bewußtsein, daß die Theoriebildung auf paradigmatische Argumentationen anhand von Beispielen und Gegenbeispielen angewiesen ist, die einen Bezug auf metasprachliche Urteilsfähigkeit erfordern, — eine Einsicht, die von den Vorgängern Chomskys zwar verleugnet, jedoch in ihrer Arbeit nicht außer kraft gesetzt werden konnte. Indem Chomsky daraus allerdings gefolgert hat, daß der Regelapparat der GTG das Modell eines irgendwie internalisierten Bewußtseins- oder Gehirnmechanismus ist (oder gar mit einem solchen identisch ist), hat er jedoch nicht nur seine Tätigkeit neu benennen wollen: Er hat vielmehr deklamatorisch eine methodische Voraussetzung der strukturellen Linguistik zu ihrem Inhalt erklärt, eine idealistische Projektion vollzogen. Diese Identifikation

51 Ebda., S. 241. Zu diesem neuen Selbstverständnis vgl. Elisabeth Bense, Mentalismus in der Sprachtheorie Noam Chomskys, Kronberg Ts. 1973; vgl. Geier, Linguistischer Strukturalismus. 86

zieht konsequent eine ganze Reihe von Mehrdeutigkeiten nach sich, von denen kein wesentlicher Begriff der GTG frei bleibt. — Zuerst wird die Fähigkeit kompetenter Sprecher, isoliert Sätze als Paradigmen sehen und als wohlgeformt beurteilen zu können, mit einem intuitiven Wissen der strukturellen Regeln identifiziert, durch die das spezielle linguistische Wissen von möglichen strukturellen Regelmäßigkeiten systematisiert und formal repräsentiert wird. Chomskys Kompetenz begriff ist folglich systematisch mehrdeutig: er bezeichnet einerseits eine metasprachliche Urteilsfähigkeit über die von der Grammatik strukturell beschreibbaren Sätze; er bezeichnet andererseits die Sprachkenntnis selbst, die der Sprachverwendung zugrundeliegt und den Sprecher zur Kommunikation befähigt. - Die formalen Ersetzungsregeln, die der Linguist aus der Mathematik übernimmt und zur Klärung seines Wissens anwendet, gelten identisch mit den Regeln, die jeder kompetente Sprecher als Handlungsmuster in der Kommunikation planmäßig verfolgt. Die Regeln der Grammatik als Theorie sind im Kopf des Sprechers selbst repräsentiert. — Folglich ist auch der Begriff „Grammatik" mehrdeutig: „Einmal meint er die im Sprecher intern repräsentierte .Theorie seiner Sprache', zum ändern bezeichnet er den linguistischen Zugang zu diesem Phänomen"52. Das mathematisierte Modell sprachlicher Strukturen ist dem kompetenten Sprecher als „interne Repräsentation" zugeschrieben worden, die Modellkonstruktion wird zur internalisierten Realität. - Mehrdeutig müssen folglich auch die generativen Begriffe „Sprache" und „Satz" sein. Eine natürliche Sprache, als objektivierte Menge von Sätzen Untersuchungsgegenstand der GTG, ist zugleich ihr generierbares Produkt: die durch die Grammatik aus dem Anfangssymbol „S" ableitbare Menge von Endketten ist identisch mit der Menge von Sätzen der analysierten Sprache; der strukturierte Gegenstandsbereich ist selbst Teil der Theorie. — Auch der einzelne Satz bleibt von dieser Mehrdeutigkeit nicht verschont: er ist zugleich Satz einer natürlichen Sprache und (als Endkette) Endprodukt einer formalen Deduktion; das anschauliche generative Modell als Formalisierung unseres Wissens von Satzstrukturen ist identifiziert mit dem als Struktur gegebenen Satz (der infolge dieser Identifizierung nicht nur eine Struktur hat, sondern eine Struktur ist). Wenn diese idealistischen Identifikationen auch für die linguistische Arbeit unmittelbar bedeutungslos sind, so besitzen sie doch u. E. eine wichtige wissenschaftspolitische Funktion: Sie lassen nämlich alle kritischen Fragen nach dem Recht der Anwendung strukturell-formaler Verfahren auf die natürliche Sprache sinnlos werden. Denn sie erklären ja gerade diese Verfahren selbst zum Gegenstand, der folgerichtig dann natürlich gerade sie zu seiner adäqua52 Ebda., S. 40. 87

ten Darstellung erfordert. Welchen Sinn hätte jetzt z. B. noch die erkenntniskritische Frage, ob die Generierung von Sätzen mitsamt ihren Strukturen der Sprache selbst angemessen ist und unserem Interesse an ihr als einem Medium der Verständigung entspricht, wenn Sprache vorweg gerade als die Menge der generierbaren Sätze identifiziert worden ist? Und wie soll sich unsere Fähigkeit, mehr an sprachlichen Äußerungen erkennen zu können als ihre strukturelle Wohlgeformtheit, noch artikulieren können, wenn gerade die Urteilsfähigkeit über Wohlgeformtheit zum Konstituens unserer Kompetenz erklärt worden ist? Das spezialisierte theoretische Wissen kann sich sicher fühlen, — es hat es mit seinen Objektivationen als Gegenstandsbereich zu tun. Mit diesen Projektionen hat Chomskys Idealismus seine immunisierende Funktion entfaltet. Mit der Struktur paradigmatischer Sätze gilt nun bereits alles Wesentliche als beschrieben: Sprache ist ja jene strukturelle Gegebenheit, die in die Reichweite der formalen Operationen der GTG fällt; und unsere Sprachkompetenz ist jene Fähigkeit, über die Regeln einer generativen Grammatik zur Generierung von Sätzen und ihren Strukturen zu verfugen. Damit ist die linguistische Tätigkeit der Kritik entzogen. Wenn überhaupt, dann kann „Kritik" sich nur noch in ihrem Rahmen (als bessere Strukturanalyse) bewegen. Zugleich ist damit der blockierten Erfahrung die Möglichkeit geraubt, sich überhaupt noch als blockierte zu erfahren. Denn nicht mehr die methodische Abstraktion des strukturalistischen Sprachbegriffs erscheint als „Block", sondern der Gegenstand selbst in seiner Bestimmtheit.

10.

Das linguistische Apriori und der ideale Sprecher

Trotzdem haben diese verwirrenden Mehrdeutigkeiten einen rationalen Kern. Sie verweisen nämlich auf den erkenntnistheoretisch bedeutsamen Sachverhalt, daß auch für eine empirische Wissenschaft die Entsprechung zwischen begrifflichem Rahmen und konzipierter Erfahrungsbasis „problematisch" ist und nicht selbst empirisch begründet werden kann: Vielmehr setzt diese Entsprechung grundlegende idealisierende Abstraktionen voraus, denen eine apriorische Funktion zukommt. Wir können diese Abstraktionen „apriori" nennen, weil ihre Ablehnung oder Annahme nie durch eine bestimmte Erfahrung der Wirklichkeit unmittelbar erzwungen werden kann. Denn diese Abstraktionen legen vorweg fest, was überhaupt als wissenschaftlich relevante Erfahrung zu gelten hat und was nicht. Sie dienen als Bezugssystem für die Beschreibung und Interpretation der (sprachlichen) Realität, ohne durch diese Realität eindeutig empirisch bestimmt zu sein. Eine solche für die GTG (unumgängliche) entscheidende Apriori-Abstraktion ist zum Beispiel die Annahme, daß eine Sprache aus einer unendlichen Menge von wohlgeformten Sätzen besteht, deren strukturelle Erkenntnis mittels generativer Ersetzungsregeln formalisiert werden kann. (Andere apriorische Annahmen in diesem Sinne wären etwa: Jeder 88

Satz ist unbegrenzt erweiterbar; syntaktische Strukturen sind das entscheidende Konstituens sprachlicher Kreativität; die Struktur einer Sprache ist die Struktur paradigmatisch analysierbarer Sätze.) Diese Annahme ist ganz sicher nicht ohne empirischen Gehalt. In sie sind zahlreiche Erfahrungen motivational eingegangen, z. B. die Erfahrung, daß Äußerungen in der Regel vollständig sind oder genauer: daß wir in der Regel vollständige und abgebrochene Äusserungen voneinander begründet unterscheiden können. Aber sie kann doch nicht — etwa mittels induktiver Verallgemeinerung — ganz aus der Erfahrung selbst entspringen oder durch sie begründet werden. Als apriorische Annahme liefert sie ein ideales Bezugssystem, das linguistische Strukturaussagen formulieren läßt, die sich auf bestimmte Eigenschaften des sprachlichen Materials beziehen. Das erklärt auch, wieso innerhalb der GTG selbst keine Erfahrun-, gen gemacht und artikuliert werden können, durch welche die Annahme („Sprache besteht aus einer Menge von Sätzen") widerlegt werden könnte. Denn sie ist ja eine der vorausgesetzten Bedingungen der Möglichkeit relevanter Erfahrungen im Rahmen einer strukturalistischen Linguistik. — Als solche Bedingung hat Chomsky sie allerdings nicht thematisiert. Er hat sie, indem er das linguistische Apriori in Form einer empirisch-beschreibenden Aussage formulierte, zur empirisch faßbaren Eigenschaft des Gegenstandsbereichs erklärt. Mit dieser systematischen Mehrdeutigkeit hat er sich in die Tradition des erkenntnistheoretischen Idealismus eingegliedert: Die apriorischen Bedingungen möglicher Erfahrung werden zugleich als Bedingungen der möglichen Erfahrungsgegenstände selbst verstanden. Daß wir Sätze im idealisierten Bezugssystem der strukturalistischen Linguistik als Menge von Sätzen erfahren können, wird zur konstitutiven Eigenschaft des Gegenstands. Er soll eine Menge von wohlgeformten, unbegrenzt erweiterbaren Sätzen sein. Man könnte das „soll" dieses letzten Satzes in dem Sinne verstehen, daß für jede besondere sprachliche Erscheinung eine abstrakte imperative Instanz vorausgesetzt werden muß, die diese Erscheinung zum Objekt werden läßt. Diese Instanz würde die Bedingungen festlegen, unter denen dann die strukturellen Analysen der je einzelnen Sätze durchgeführt werden könnten. Zugleich wäre damit die Grenze festgelegt, innerhalb der das Mannigfaltige sprachbezogener Anschauungen sich zur wissenschaftlich relevanten Vorstellung des Objekts entfalten könnte: die imperative Instanz würde ja bestimmen, was Objekt sein kann. - Wenn wir uns jedoch an dieser Stelle des oben (besonders in den Punkten 5 bis 8) Gesagten vergewissern, brauchen wir diese Instanz nicht als Prinzip, Idee, Apriori-Bezugssystem o. ä. vorzustellen. Wir können sie vielmehr als Norm verstehen, der sich strukturell arbeitende Linguisten verpflichtet haben, um in den von ihnen gesetzten Grenzen gesichert ihrer Arbeit nachgehen zu können. Mit anderen Worten: Eine Apriori-Annahme wie „Sprache besteht aus einer Menge von wohlgeformten Sätzen" steckt normativ den Rahmen ab, in dem man als Linguist tätig sein kann. Sie ist Abgrenzungs- und Ausgrenzungskriterium. Sie legt nicht (idealistisch) die Grenze 89

der sprachlichen Erscheinungen fest, sondern bestimmt, wer als Linguist zu gelten hat und wer nicht. In diesem Sinne dient der imperative Gehalt des linguistischen Apriori zur Identifizierung einer konkreten gesellschaftlichen Gruppe, die, indem sie feststellt, was sein soll, zugleich bestimmt, wer zu ihr gehört. Indem wir das linguistische Apriori an die Besonderheit eines bestimmten Berufs gebunden haben, bekommt auch Chomskys Konzept eines „idealen Sprecher-Hörers" einen neuen Sinn. Es verweist auf den normativen Anspruch einer linguistischen Forschergemeinschaft, die sich auf eine strukturelle Betrachtungsweise von Sprache verpflichtet hat. Der ideale Sprecher kann als idealer Linguist dechiffriert werden. Die von ihm geforderten Fähigkeiten sind es, die Chomsky dem idealen Sprecher zuschreibt: Er soll in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft leben (= dialektale und schichtenspezifische Unterschiede unberücksichtigt lassen), seine Sprache ausgezeichnet kennen (= die Hochsprache in all ihren Feinheiten und Möglichkeiten beherrschen) und bei der Anwendung seiner Sprachkenntnis in der aktuellen Rede (= bei der linguistischen Arbeit) von solchen grammatisch irrelevanten Bedingungen wie begrenztes Gedächtnis, Zerstreuung und Verworrenheit, Verschiebung in der Aufmerksamkeit und im Interesse, Fehler, zufällige oder typische, nicht affiziert werden53. Dieser Katalog von Forderungen zeigt noch einmal, worum es der GTG wirklich geht: um die Erfassung einer sprachlichen Ordnungsbeschaffenheit, die in der grammatischen (speziell syntaktischen) Wohlgeformtheit des kontextisolierten und gebrauchsenthobenen Satzes fundiert sein soll. Daß Chomsky auch diese Forderungen als Eigenschaften eines idealen Sprechers thematisiert hat, zeigt zugleich noch einmal, daß die idealistischen Verschiebungen einen versteckten wissenschaftspolitischen Anspruch artikulieren, auch wenn sie ihn nicht als solchen zu erheben bereit sind: Wer als Sprachwissenschaftler argumentieren will, muß sich jenen spezifischen Begriff von Sprache zu eigen machen, den der linguistische Strukturalismus zum Wesensmerkmal von Sprache überhaupt erklärt hat. Jedenfalls wird er in seiner Arbeit an jenem ,4deal" gemessen werden, das idealistisch zum „Gegenstand" der linguistischen Theorie bestimmt worden ist und nun von sich aus gerade jene Abstraktionen zu erfordern scheint, durch die sich der linguistische Strukturalismus in seiner Besonderheit auszeichnet.

11.

Rückbück

Im Verlauf unserer wissenschaftstheoretischen Überlegungen hat sich die deklamatorische Wende des linguistischen Strukturalismus zu einer Sprachkompetenztheorie als wissenschaftspolitisches Programm entschlüsselt, ohne als solches aufzutreten. Es geht der GTG (in ihrem mentalistischen Selbstverständnis) um 53 Vgl. ebda., S. 13. 90

die Macht, um das Monopol für die Bestimmung des Begriffs „Sprache" und die damit verbundene Immunisierung strukturalistischer Arbeitsweise. Wir wollen abschließend noch einmal vergegenwärtigen, wie wir zu diesem Ergebnis gelangt sind. Die Rekonstruktion der Methode strukturalistischer Arbeit hatte gezeigt, daß die Bewegung von der Erfahrung zum linguistisch interpretierbaren Kalkül und zurück durch ein bestimmtes Interesse an Sprache kanalisiert ist: Es geht um die Struktur wohlgeformter Sätze, deren Erkenntnis mittels formaler Kunstsprachen systematisch repräsentiert wird. Die mit dieser Thematisierung vollzogene methodische Abstraktion steht ganz in der Tradition der wesentlich von L. Bloomfield und Z. S. Harris formulierten Prinzipien sprachwissenschaftlicher Analyse. Durch Chomsky wurde dabei eine unabdingbare Voraussetzung zu Bewußtsein gebracht, an deren Leugnung die physikalistischen bzw. formalistischen Begründungsversuche des linguistischen Strukturalismus gescheitert waren: die metasprachliche Urteilskompetenz des „native Speakers" als Datenlieferant und Regelüberprüfungsinstanz. Zugleich ließ jedoch auch Chomsky diese Kompetenz auf die Beurteilung der strukturellen Wohlgeformtheit von Sätzen, die in den Sätzen einer formalen Kunstsprache ihr Vorbild besitzen, eingeschränkt und verwehrte ihr die Möglichkeit, jene Erfahrungen zu artikulieren oder zu verändern, die sich auf den Gebrauch von sprachlichen Äußerungen als Mittel menschlicher Erkenntnis, Verständigung und Selbstverständigung beziehen. Diese Restriktion der Erfahrung erwies sich als das notwendige Komplement einer formalisierten Theoriebildung, die als solche nur Erfahrungen berücksichtigen kann, welche sich in ihrer Grenze halten. Indem Chomsky nun gerade diese Erfahrungen (die, wie Überlegungen zur Rekursivität und Unendlichkeit gezeigt haben, unter der Vorgabe systematischer Kunstsprachenkonstruktion stehen) als „Kompetenz" zum neuen Gegenstand der Forschung erklärt hat, hat er die vorausgesetzten Abstraktionen des Strukturalismus idealistisch zum Wesen von Sprache verdinglicht und damit der Kritik entzogen. Denn dank des widerstandslosen Verlaufs seiner Identifikationen kann sich keine Reflexion mehr entfalten, die sich auf die Angemessenheit der Methoden hinsichtlich der Eigenschaften des erkannten Gegenstands beziehen könnte. Die Methode hat es ja mit ihren eigenen Objektivationen zu tun und ist als solche apriori adäquat. In der Erklärung des struktural-linguistischen Apriori zur Kompetenz eines idealen Sprechers erhielt die restriktive methodische Handlungsanweisung des Strukturalismus („Betrachte Sprache so, als ob sie aus einer Menge wohlgeformter, unendlich erweiterbarer Sätze bestünde!") schließlich ihre letzte dogmatische Rechtfertigung als eine Norm, an der sich jeder Sprachwissenschaftler orientieren muß, ohne doch als Norm formuliert durchschaut werden zu können.

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III. Kapitel

Spracherwerb: Mentalistische Linguistik als antithetische Alternative zur behavioristischen Sprachpsychologie Franz Marschallek

1.

Der Anstoß zur mentalistischen Wende der generativ-transformationellen Linguistik und die Stellung des Behaviorismus zum Problem der Introspektion

Die Auseinandersetzung Chomskys mit den Taxonomen war ursprünglich im rein linguistischen Rahmen um das Problem der Konstruktion einer Grammatik als Theorie sprachlicher Strukturen verlaufen.Zwar hatte Chomsky die Notwendigkeit erkannt, sich auf ein metasprachliches Urteilsvermögen kompetenter Sprecher zu beziehen.sprachliche Intuitionen galten jedoch lediglich als Instanz für die Gewinnung von Daten und für die Bestätigung von Regeln. Der Nachweis aber, daß die strukturelle Regelhaftigkeit einer Einzelsprache vom Linguisten nicht durch bloße Verallgemeinerung der im empirischen Sprachmaterial beobachtbaren Regelmäßigkeiten ermittelt werden kann, führte Chomsky nur zur Konstruktion von „underlying structures" und Transformationen. Diese Einführung eines Verfahrens, das mit .abstrakten' Strukturen und Transformationen als theoretischen Größen (hypothetischen Konstrukten) arbeitet, die in der sprachlichen Erfahrung niemal direkt aufgewiesen werden können, verband Chomsky noch nicht mit der Annahme, daß jenen Größen auch psychologische Realität zukomme. Seinem Selbstverständnis zufolge war beides voneinander logisch unabhängig. Erst in der Auseinandersetzung mit Burrhus F. Skinners behavioristischer Analyse sprachlichen Verhaltens postulierte Chomsky die psychologische Realität der GTG. Diesem Postulat zufolge beschreibt die GTG nicht nur Satzstrukturen, sie wird nun wesentlich als Modell sprachlicher Fähigkeiten verstanden. Die mentalistische Wende des linguistischen Strukturalismus rückte die primär auf dem Wege der Introspektion erfahrbare sprachliche Kompetenz als eine dem Sprachverhalten zugrundeliegende geistige Realität in den Mittelpunkt der generativ-transformationellen Linguistik. Ihr gilt sprachliches Verhalten nur dann als erklärbar, wenn mentale sprachliche Fähigkeiten angenommen werden — eine vom kompetenten Sprecher irgendwie internalisierte Grammatik seiner Sprache — die die Struktur der GTG dieser Sprache besitzen. War die Kontroverse Chomsky — Skinner um das Problem einer adäquaten Erklärung sprachlichen Verhaltens zentriert und von Chomsky durch die These von der Existenz der Grammatik im „Geist" des kompetenten Sprechers zu lösen versucht worden, so erforderte diese

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These nun selbst eine Spracherwerbskonzeption, mit der die Aneignung einer solchen Grammatik erwiesen werden konnte. Wir wollen die Spracherwerbskonzeption der mentalistischen Linguistik untersuchen, indem wir Skinners Analyse des sprachlichen Verhaltens verfolgen und anschließend Chomskys Kritik daran diskutieren. In der Auseinandersetzung mit Skinner, deren wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund wir uns zuvor vergewissern, greift Chomsky auf eine Bewußtseinskonzeption zurück, die lange Zeit das Ärgernis des Behaviorismus war. Chomsky reklamiert sprachliche Fähigkeiten als einen Gegenstand, dem ein genuin geistiges Sein zukommt. — Der ältere Behaviorismus, wie er vor allem von John B. Watson entwickelt wurde, verstand sich als Gegenkonzeption gegen die Introspektionspsychologie, deren Datenbasis die introspektiven Urteile von Versuchspersonen über ihre privaten Erlebnisse (Vorstellungen, Empfindungen, Gefühle etc.) waren. Watson griff die Introspektionspsychologie unter der auch von ihm nicht in Frage gestellten Voraussetzung an, daß man sich der Phänomene des (privaten) Bewußtseins nur introspektiv vergewissern könne. Da jedoch introspektiv gewonnene Urteile als nur für das einzelne Subjekt mit seinem in sich abgeschlossenen Bewußtsein gültig aufgefaßt wurden, sah Watson die Intersubjektivität wissenschaftlicher Aussagen nicht mehr gewährleistet. Er zog daraus die Konsequenz, Bewußtsein nicht als wissenschaftlichen Gegenstand anzuerkennen1. Folglich war die Methode der Introspektion für den Behaviorismus gegenstandslos. Die Forderung nach Intersubjektivität schien von der Psychologie nur dann einlösbar, wenn sie sich auf die Untersuchung beobachtbaren Verhaltens - abgetrennt vom Bewußtsein — beschränkte. Nun konnte allerdings der Behaviorismus nicht daran vorbeigehen, daß in der Sprache Aussagen über innerseelische Ereignisse vorkommen. Es ließ sich nicht bestreiten, daß Individuen introspektive Aussagen formulieren, und mittels dieser Aussagen Auskunft über innere Vorgänge und Zustände geben können. Wollte sich also eine behavioristische Position nicht nur ex negative von der privaten Bewußtseinswelt abgrenzen, sondern sich einen intersubjektiven Zugang auch zu inneren Vorgängen sichern, so mußte sie diese Ereignisse aus dem beobachtbaren Verbalverhalten, in dem sie sich manifestieren, zu l Zu dem Nachweis, daß Watson bei seinem Angriff auf die Introspektionspsychologie an der beiden Konzeptionen gemeinsamen Auffassung von Bewußtsein festhielt, vgl. Sergej L. Rubinstein, Grundlagen der Allgemeinen Psychologie, Berlin 1971. bes. S. 86-88. Watson kann als Vertreter eines methodologischen Behaviorismus angesehen werden, insofern er nicht die Existenz von Bewußtseinsvorgängen leugnete, sondern sie allein als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung bestritt. Eine verschärfte Form der Ablehnung von Bewußtseinsphänomenen liegt bei Vertretern eines ontologischen Behaviorismus vor, die — wie etwa Leonard Bloomfield — die Existenz von Bewußtsein überhaupt bestreiten. Für sie sind introspektive Urteile sprachliche Reaktionen, die etwas über bloß körperliche, neurophysiologische Vorgänge aussagen. Alles Existierende gilt diesen Behavioristen als bloße Materie. 93

erklären versuchen. Hierfür war eine Theorie des sprachlichen Verhaltens erforderlich, in die sich introspektive Aussagen integrieren ließen. Die besonders von Charles Morris und Burrhus F. Skinner entwickelten behavioristischen Sprachkonzeptionen eröffneten die Möglichkeit, introspektive Aussagen als unter bestimmten Bedingungen beobachtbares Verbalverhalten zu behandeln. Dies konnte jedoch nur unter der Voraussetzung geschehen, daß sich solche Aussagen nicht wie im Rahmen der Introspektionspsychologie auf eine private Innenwelt bezogen. Innere Vorgänge wie denken, fühlen, wollen etc. wurden vom neueren Behaviorismus als beobachtbares sprachliches Verhalten objektiviert. Auf diese Weise sollte zu ihnen ein öffentlicher Zugang prinzipiell derselben Art möglich sein wie zu allen anderen Verhaltensweisen. Indem jene Vorgänge und Zustände als ein Gegenstand von öffentlicher Natur konzipiert wurden, konnte „Introspektion" nicht mehr einen Zugang zu privaten, grundsätzlich nur dem jeweiligen Subjekt gewissen Bewußtseinsinhalten bedeuten. Die Begründung ihrer „Öffentlichkeit" versuchte Skinner mit dem Nachweis zu liefern, daß die sie beschreibenden sprachlichen Reaktionen in einem kausalen, beobachtbaren Zusammenhang aufeinander einwirkender Individuen gelernt werden und durch die Beschreibung der Gesetzmäßigkeiten dieses Entstehungszusammenhangs vollständig erfaßt seien. — Für Chomsky jedoch, dem Mentalismus als einzig sinnvolle Alternative zur behavioristischen Position gilt, ist beobachtbares sprachliches Verhalten auf sprachliche Fähigkeiten gegründet, die ein Gegenstand eigener, rein mentaler Natur sind. Chomsky restituierte damit wieder den Bereich jener Innerlichkeit, den der Behaviorismus erfolgreich operationalisiert zu haben glaubte.

2.

Die instrumenteile Konditionierung — experimentell und außerexperimentell

Auch der neubehavioristische Umgang mit „introspektiven" Aussagen als Verhaltensdaten bedeutet, wie wir gesehen haben, die Ablehnung der Introspektion im traditionellen Sinn. Der Verzicht auf Introspektion hat zur Konsequenz, daß sich der Datenbereich der Wissenschaft in beobachtbaren Reizen und beobachtbaren Reaktionen erschöpft. Allgemeines Ziel der behavioristischen Reiz-Reaktions- oder Stimulus-Response-Theorien (S-R-Theorien) ist, auf der Grundlage dieser Daten die Regelmäßigkeiten des Verhaltens durch die Formulierung gesetzmäßiger Beziehungen zwischen Reiz und Reaktion zu erfassen. Traditionelle Reiz-Reaktions-Theorien gingen von der Annahme aus, daß jede Reaktion durch vorhandene Reize ausgelöst wird. Die wissenschaftliche Aufgabe des Behavioristen mußte zum einen folglich darin bestehen, genau die Stimuli zu identifizieren, die zu einer bestimmten Verhaltensreaktion führen. Zum ändern galt es, die Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen, die sich auf das Verhältnis zwischen beobachtbaren Reizen und Reaktionen zu einem be94

stimmten Zeitpunkt bezogen. Eine Aussage über die Einheitlichkeit dieses Verhältnisses war nur als Durchschnittsergebnis häufig durchgeführter Experimente in Form einer statistischen Aussage formulierbar. Es sollte also, um ein bestimmtes Verhalten zu erklären, die Aussage genügen, daß es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als Reaktion auf einen identifizierten Stimulus folge. Unbeantwortet mußte die Frage bleiben, warum diese gesetzmäßigen Beziehungen zwischen Reiz und Reaktion bestehen. Eine Beantwortung dieser Frage erfordert den Rückgriff auf die Vergangenheit des jeweiligen Organismus. Es mußte versucht werden, die besondere Reaktion eines Organismus auf einen Reiz als den Endpunkt einer Entwicklung zu verstehen, die für das Reaktionsverhalten bestimmend ist. Mit anderen Worten: es erwies sich als notwendig, den Lernprozeß zum Gegenstand der Verhaltenstheorien zu machen. Denn nur der Rückgriff auf diesen Lernprozeß kann verständlich machen, warum ein Organismus unter bestimmten Stimuli so reagiert, wie er es tut. Es ist das Verdienst von Burrhus F. Skinner, diesen behavioristisch orientierten Zugriff auf das Lernen unternommen zu haben 2 . Dabei bot es sich an, mit Tierversuchen zu beginnen, weil sie am besten eine genaue, experimentelle Kontrolle des Lernprozesses selbst gestatten. Zum Zwecke dieser Kontrolle des Lernens hat Skinner jene Verfahren entwickelt, die zum entscheidenden Kennzeichen seiner Konzeption des „instrumentellen Konditionierens" geworden sind. Für die Versuchsanordnung wurde ein lärmisolierter, verdunkelter Kasten, die sog. „Skinnerbox" konstruiert, in dem ein Hebel an einer Wand befestigt war. Eine in diesen Kasten gesetzte hungrige Ratte sollte lernen, den Hebel zu drücken. Ziel dieses Versuchs war, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen die Ratte dazu gebracht wurde, die Verhaltensweise des Hebeldrückens zu erwerben. Hatte die Ratte den Hebel betätigt, dann gelangte als Folge dieser Reaktion eine Futterpille in den Kasten. Die Anzahl der Hebeldruckreaktionen pro Zeiteinheit wurde von einem Registriersystem aufgezeichnet. Trotz Ausschaltung vieler Reizsituationen (durch Verdunkelung, Stille, eingeschränkte Bewegungsmöglichkeit) kann die Ratte etliche andere Reaktionen zeigen, z. B. gar nichts tun, umherlaufen, den Hebel beschnuppern etc. Alle diese Reaktionen bleiben jedoch ohne die vom Experimentator geplante Folge: das Futter gelangt einzig aufgrund des Hebeldrückens in den Kasten. Die Versuchsanordnung erlaubt also, eine eindeutige Beziehung zwischen der fraglichen Reaktion und ihren Konsequenzen herzustellen. Weil der Experimentator warten muß, bis die Ratte den Hebel ,selbständig', d. h. zufällig betätigt hat, wird durch die Anordnung des Experiments die Menge möglicher Reaktionen weitgehend einzuschränken versucht. Es ist jedoch kein spezifischer Reiz erkennbar, der 2 Vgl. Burrhus F. Skinner, Die Wissenschaft vom Lernen und die Kunst des Lehrens (1954), in: Werner Correll (Hrsg), Programmiertes Lernen und Lehrmaschinen, Braunschweig 1970. S. 66-84, hier bes. S. 66.

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die Ratte gerade zum Hebeldrücken veranlaßt hätte. (In Bezug auf das erste Auftreten dieser Reaktion könnte man zwar sagen, daß der Zustand des Hungers, insofern er eine Ursache für die Aktivität der Ratte ist, die Hebeldruckreaktion indirekt ausgelöst hat. So gesehen kann dieser Zustand aber nicht nur als Ursache für die Hebeldruckreaktion gelten, sondern müßte auch als Ursache aller anderen beobachteten Reaktionen angenommen werden.) Dieser Versuch, der die kontrollierte Hervorbringung einer noch relativ einfachen Verhaltensweise zeigt, enthält in nuce das grundlegende Prinzip der „instrumentellen" oder „operativen Konditionierung" (operant conditioning), nach welchem auch die Ausformung komplexer Verhaltensreaktionen verläuft: die Verstärkung. Wichtig ist hierbei, daß Skinner mit dem Terminus „operant" zum einen eine allgemeine Eigenschaft von Verhalten bezeichnet, insofern es auf die Umwelt einwirkt und dadurch bestimmte Konsequenzen hervorruft (der Hebeldruck der Ratte hatte zur Folge, daß eine Futterpille gegeben wurde). Zum ändern bezieht sich „operant" jeweils auf eine spezifische Klasse einzelner Reaktionen (in unserem Fall auf die Reaktionsklasse, den Operant ,.Hebeldrücken"). Das im Experiment gegebene Futter wirkte auf den Organismus zurück, und zwar auf eine spezielle Reaktion: schon nach einer einmaligen Verabreichung der 3elohnung' war ein häufigeres Auftreten der Hebeldruckreaktion zu beobachten. Das Futter fungierte als Verstärker (reinforcer) der Reaktion. Wann gilt nun eine Folgeerscheinung einer Reaktion als Verstärkung (reinforcement)? Skinner hat die Bestimmung des Verstärkungsbegriffs vorgenommen, indem er sich nicht auf bewußte oder affektive Vorgänge seitens der reagierenden Organismen, sondern nur auf das tatsächlich Beobachtbare' bezog. Allein die Auftretenswahrscheinlichkeit der zu konditionierenden bzw. konditionierten Reaktion ist das Kriterium für das Vorliegen einer Verstärkung. Der Verstärkungsbegriff ist rein quantitativ konzipiert; er bezeichnet die Konsequenzen, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Reaktion oder Reaktionsabfolge erhöhen. Den Zusammenhang zwischen einer Reaktion und der auf die Reaktion folgenden Verstärkung hat Skinner zur Grundlage seines verhaltenspsychologischen Ansatzes gemacht. Für den Aufbau eines gewünschten Verhaltens gilt es, diesen Zusammenhang herzustellen und aufrechtzuerhalten. Durch den planmäßigen Einsatz eines Verstärkers ist es gelungen, ein bestimmtes instrumenteile s Verhalten experimentell hervorzubringen. Die Ratte hat „gelernt", auf den Hebel zu drücken, wenn sie hungrig ist. Dieses Verhalten ist instrumenteil, weil die Reaktion des Organismus das Instrument ist, das die Verstärkung herbeiführt. Skinner konnte in zahlreichen Experimenten die Ausformung instrumentellen Verhaltens demonstrieren. Die experimentelle Situation ermöglicht ein Verständnis der Vergangenheit von Verhaltensreaktionen, indem sie die kontrollierte Hervorbringung ihrer »Geschichte1 gestattet. Durch den Vorgang der kontrollierten operativen Konditionierung konnte Skinner zeigen, daß die Gesetzmäßigkeit von Verhaltensweisen nicht in aus96

lösenden Stimuli begründet liegt, sondern in den Verstärkungen, die ein Organismus in seiner Vergangenheit erfahren hat. Die Versuchsanordnung erlaubt also die Feststellung allgemeiner Prinzipien von Lernprozessen — jener Lernprozesse, die sich unter die Bedingungen der experimentellen Situation bringen lassen. Wenn für Skinner diejenigen Reize im Vordergrund stehen, die eine verstärkende Funktion besitzen oder erlangen können, so heißt dies nicht, daß er die Bedeutung auslösender Reize übersehen hätte. Ihre Wirkung sieht Skinner auf den Bereich der angeborenen und erworbenen Reflexreaktionen eingeschränkt3 . Der größte Teil von Verhaltensweisen der Organismen ist Skinner zufolge jedoch nicht reflektorisch-reaktiv, sondern operativ oder instrumentell. „Die operative Konditionierung kann beschrieben werden, ohne einen einzigen Stimulus, der vor einer auftretenden Reaktion wirksam ist, anzuführen. Als wir das Halsrecken der Taube verstärkten, mußten wir solange warten, bis das Recken aufgetreten war; wir lösten es nicht aus. Wenn ein Säugling seine Hand zum Mund führt, kann die Bewegung durch den Kontakt von Hand und Mund verstärkt werden, wir können jedoch keinen Stimulus finden, der die Bewegung auslöst und jedesmal vorhanden ist, wenn die Bewegung auftritt. Stimuli wirken ständig auf den Organismus ein, ihre funktionale Beziehung zum operativen Verhalten ist jedoch nicht wie jene zum Reflexverhalten. Kurz, operatives Verhalten wird geäußert (emitted) und nicht ausgelöst (elicited). Es muß diese Eigenschaft haben, wenn der Begriff der Wahrscheinlichkeit einer Reaktion sinnvoll sein soll" .

Da sich der Terminus „operativ" nicht auf ein Verhalten bezieht, das durch einen anwesenden Stimulus ausgelöst wird, muß die instrumentelle Lerntheorie von der grundlegenden Annahme ausgehen, daß jeder menschliche oder tierische Organismus von sich aus „aktiv" ist. „Er entläßt .immer schon' Verhaltensteile in die Welt und erfährt nachträglich die Reaktion der Welt in Form einer Verstärkung oder in der des Ausbleibens der Verstärkung"5 . 3 Eine angeborene Reflexreaktion wäre etwa die Absonderung von Speichel bei Futterdarbietung (weitere Beispiele sind Lidreflex und Kniesehnenreflex). Ist mit dem Futter zusammen mehrmals ein ursprünglich neutraler Reiz, etwa ein Glockenton dargeboten worden, so löst dieser Reiz auch dann Speichelfluß aus, wenn er ohne Futter dargeboten wird. Auf diesen Konditionierungstyp, das sog. „klassische Konditionieren", können wir hier nicht näher eingehen. 4 Skinner, Science and Human Behavior, New York 1953. S. 107. Das Zitat wurde von uns übersetzt, die Angabe der Termini in englischer Sprache ist ein Zusatz von uns. Eine Übersetzung der Arbeit ist erschienen unter dem Titel: Wissenschaft und menschliches Verhalten, München 1973. 5 Correll, Lernen und Verhalten. Grundlagen der Optimierung von Lernen und Lehren, Frankfurt am Main 1971. S. 19f. Vgl. auch Skinner, Verbal Behavior, New York 1957. S. 1; eine Übersetzung von Kap. l „Eine funktionale Analyse sprachlichen Verhaltens" findet man in Horst Holzer, Karl Steinbacher (Hrsg), Sprache und Gesellschaft, Hamburg 1972. S. 46-59; sowie in: Correll (Hrsg), Programmiertes Lernen und Lehrmaschinen, S. 144-157. 97

Nun würde sicherlich die bisher beschriebene Verstärkungsart nicht ausreichen, weder um komplexes Verhalten experimentell aufzubauen, noch um das generelle Zustandekommen der Regelmäßigkeiten von Verhalten zu erklären. Alles Verhalten soll ja grundsätzlich, d. h. auch außerexperimentell, Verstärkungszusammenhängen unterliegen. Dieses Problem hat Skinner durch den Ausbau des verhaltenspsychologischen Instrumentariums zu lösen versucht. Es handelt sich hierbei im wesentlichen um folgende Differenzierungen des Verstärkungsprinzips: a) die selektive Verstärkung (und graduelle Annäherung) — sie regelt was verstärkt wird, b) die intermittierende Verstärkung - sie klärt wann verstärkt wird, c) die sekundäre Verstärkung — sie erweitert womit verstärkt wird. a) Die selektive Verstärkung Skinner konnte Tauben dazu konditionieren, einen Kreis (im oder gegen den Uhrzeigersinn) oder die Figur einer Acht zu laufen; in anderen Experimenten wurden zwei Tauben dazu gebracht, einen Wettkampf, vergleichbar einem Tischtennisspiel, durchzuführen. Generell muß für den Prozeß der Konditionierung einer komplexen Verhaltensweise diese in bestimmte „Einheiten" zerlegt werden, aus denen das gewünschte Endverhalten sukzessiv aufgebaut werden kann. Stellen wir uns vor, daß eine Taube lernen soll, die Figur einer Acht zu laufen. Wenn sie zu Beginn des Experiments noch bewegungslos verharrt, so wird sie bereits verstärkt, sobald sie irgendeine Bewegung äußert, da sich dadurch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Drehbewegung erhöht. Danach wird die Taube für eine Bewegung verstärkt, die als Anfang einer Kreisbewegung angesehen werden kann, etc. Für den Aufbau dieses Verhaltens werden die Verstärkungen nach dem Prinzip der „graduellen Annäherung"6 gegeben: aus dem Verhaltensrepertoire des Versuchsobjekts werden diejenigen Reaktionen durch Verstärkung ausgewählt, die in den gleichen Reaktionsklassen liegen wie die Einheiten des gewünschten Endverhaltens. Als Folge dieser selektiven Verstärkung erhöht sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Reaktionen aus solchen Klassen, während nicht dazugehörende Reaktionen der Löschung unterliegen. Im Bereich der Erziehung erhält dieser Differenzierungsprozeß besondere Bedeutung für die gezielte Ausformung von Verhalten, d. h. für die kontrollierte, fortschreitende Veränderung von Verhaltensweisen in Richtung auf das gewünschte Endverhalten. Diese Veränderung von Verhaltensweisen wird als Lernen im eigentlichen Sinn bezeichnet. Die Ausschaltung von fehlerhaften Reaktionen kann der Verhaltenspsychologie zufolge dadurch vermieden werden, daß, je komplizierter die Endverhaltensweise, umso elementarere Reaktionen bereits verstärkt werden sollen. Dies setzt vo6 Vgl. Correll, Lernen und Verhalten, S. 52-55. 98

raus, daß der Experimentator, der allein über die Mittel der Verstärkung verfügt, weiß, aus welchen „Einheiten" komplexes Verhalten jeweils aufgebaut werden kann. b) Die intermittierende Verstärkung Schon eine einmalige Verstärkung einer Reaktion kann zur Folge haben, daß diese konditionierte Reaktion bis zu ihrem Erlöschen (extinction) noch häufig auftritt, ohne daß der verstärkende Stimulus nochmals dargeboten werden müßte. Desweiteren können bereits ausgeformte Verhaltensweisen auch dann aufrechterhalten werden, wenn ihr Auftreten nicht jedesmal verstärkt wird. Im Anschluß an diese Beobachtung führte Skinner systematisch Experimente durch, um die Wirksamkeit kontinuierlicher und intermittierender Verstärkung zu ermitteln. Es stellte sich heraus, daß die intermittierende Verstärkung wesentlich wirkungsvoller - speziell für die Aufrechterhaltung von Verhalten ist, als die kontinuierliche Verstärkung. Die intermittierende Verstärkung kann in verschiedenen Formen von Zeitintervallverstärkung (interval reinforcement), von Reaktionsquotenverstärkung (ratio reinforcement) oder als Kombination dieser Typen durchgeführt werden 7 . Die intermittierende Verstärkung gilt als besonders wichtig, da mit ihr Arbeitshaltungen wie Ausdauer oder Frustrationstoleranz „erfolgreich" aufgebaut werden können 8 . c) Die sekundäre Verstärkung Bei einer Verstärkung ausschließlich mit primären, nicht gelernten Verstärkern (vor allem Nahrung und Sexualkontakt) muß nach einem gewissen Zeitraum notwendig ein Sättigungsgrad eintreten. Um einen weitergehenden Lernv erfolg zu gewährleisten, kombinierte Skinner primäre Verstärker mit sekundären Verstärkern (conditioned reinforcer), die ihre Funktion aufgrund eines Lernprozesses erhalten: für die Herausbildung eines sekundären Verstärkers muß ein ursprünglich nicht verstärkender Reiz mehrmals mit einem primären Verstärker gekoppelt werden. Im Experiment wird z. B. einer Taube wiederholt Licht zusammen mit Futter dargeboten. Anschließend kann das Licht 7 Diese Untersuchungen sind in einer umfangreichen Studie über Verstärkungspläne veröffentlicht: C.B. Ferster and B.F. Skinner, Schedules of Reinforcement, New York 1957. Ein Versuchsobjekt, das immer nach Ablauf von beispielsweise drei Minuten für die nächstfolgende richtige Reaktion verstärkt wird, bekommt die Verstärkungen nach einem festgesetzten Zeitintervall. Dabei ist es gleichgültig, wieviele richtige Reaktionen innerhalb des Zeitintervalls, in dem keine Verstärkungen erfolgen, abgegeben werden. Eine variierende Reaktionsquotenverstärkung läge vor, wenn beispielsweise die 10., darauf die 30., anschließend die 100. geäußerte richtige Reaktion verstärkt wird. 8 Für die Bedeutung, die der intermittierenden Verstärkung im Erziehungsprozeß gegeben wird, siehe Correll, Lernen und Verhalten, S. 39-47.

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allein für die Konditionierung von Verhalten eingesetzt werden. Tritt der sekundäre Verstärker im weiteren Verlauf überhaupt nicht mehr in Verbindung mit dem Primärverstärker auf, verliert er seine verstärkende Funktion. Die sogenannten generalisierten Verstärker entstehen nach dem gleichen Prinzip: hier wird der sekundäre Verstärker mit mehr als einem Primärverstärker gekoppelt. Ein generalisierter Verstärker par excellence ist das Geld; es kann in viele primäre Verstärker eingetauscht werden und ist von jeweils aktuellen Bedürfnissen relativ unabhängig9. Mit der Wirkung sekundärer Verstärker erklärte Skinner die Tatsache, daß .Organismen' viele Verhaltensreaktionen kontinuierlich äußern, obwohl doch gar keine unmittelbare Verbindung zu primären Verstärkern vorhanden ist. Die Verbindung sekundärer und intermittierender Verstärkung erlaubte Skinner die Erklärung der Tatsache, daß solche Reaktionen konstant auftreten, auch wenn sie erst in großen Zeitabständen verstärkt werden. Das Streben nach Anerkennung, Lob, Aufmerksamkeit, Bildungsgraden und Geld ist Skinner zufolge nichts anderes als Verhalten, das unter der Kontrolle von Stimuli steht, die als sekundäre und generalisierte Verstärker fungieren. Gestützt auf dieses Instrumentarium sieht die Verhaltenspsychologie die Möglichkeiten planmäßiger Verhaltensformung als nahezu unbegrenzt an10. Die planmäßige Verhaltensformung erlangt besondere Bedeutung für den Ausbildungsbereich, der das wichtigste Anwendungsgebiet der Theorie des instrumenteilen Lernens darstellt. Der Verhaltenspsychologie gilt ihr Anspruch, die Effektivität des Lernens zu steigern, als wesentlicher Grund für die umfangreiche Forschung zur Entwicklung von Lehrprogrammen und ihrer technischen Realisierung in der Form der Lehrmaschine. Vor allem im Bereich der schulischen, aber auch im Bereich der industriellen und militärischen Ausbildung gelte es, durch gezielten Einsatz von Verstärkungsplänen Verhalten unter Kontrolle (Reizsteuerung) zu bringen, d. h. das gewünschte Endverhalten planmäßig aufzubauen, seine Intensität aufrechtzuerhalten und nicht erwünschtes Verhalten unter Vermeidung von Bestrafung zu extinguieren bzw. gar nicht erst auftreten zu lassen11. Die traditionellen Formen des Lernens im Schulunterricht hat Skinner wegen ihrer Ineffektivität vehement kritisiert: Schüler lernen bei weitem nicht so schnell und „erfolgreich" wie es ihnen möglich wäre, da der Unterricht nicht auf optimalen Verstärkungszusammen9 Skinner hat die Funktion der Geldware, allgemeines Äquivalent zu sein, durchaus gesehen. Vgl. Skinner, Science and Human Behavior, S. 79 und S. 384ff. 10 „Wenn wir erst einmal die besondere Art einer Folgeerscheinung, die wir Verstärkung nennen, hergestellt haben, erlauben es unsere Methoden, das Verhalten eines Organismus fast beliebig zu formen." Skinner, Die Wissenschaft vom Lernen und die Kunst desLehrens, S. 67. 11 Zur Anwendung der instrumenteilen Lerntheorie im Unterricht vgl. die für diesen Zusammenhang besonders instruktiven Arbeiten: Skinner, Die Wissenschaft vom Lernen und die Kunst des Lehrens; sowie Skinner, Lehrmaschinen (1958), in: Correll (Hrsg), Programmiertes Lernen und Lehrmaschinen, S. 37-65,

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hängen basiere. Die Verhaltenspsychologie intendiert, durch gezielten Einsatz von Verstärkungen .positive' Verhaltensformen wie Lernmotivation, Ausdauer, Frustrationstoleranz, Erfolgsstreben, Tüchtigkeit etc. universell werden zu lassen. Hierbei gibt sich die Verhaltenspsychologie gleichgültig gegenüber der bestimmten gesellschaftlichen Form der Tätigkeit, durch die sich die Bedeutung jener Verhaltensformen erst konstituiert. „Man sieht bereits hieraus, daß eines der Hauptanliegen der Erziehung, nämlich das Lernen um der sachlichen Bewältigung der Probleme willen und die Freude an der Arbeit als solcher, dadurch verwirklicht werden kann, daß die Erkenntnisse um die Verhaltensverstärkung planmäßig in die Schulpraxis eingeführt werden"12.

3.

Die funktionale Analyse und die Verobjektivierung von Leistungen der Organismen

Bei der Verfolgung des lern the ore tische n Ansatzes der Verhaltenspsychologie haben wir auch Begriffe verwendet, die sich auf die Intentionalität menschlichen Verhaltens, in unserem bisherigen Zusammenhang besonders auf volitionale und affektive Vorgänge und Zustände, beziehen (Belohnung, Anerkennung, Lob, Aufmerksamkeit, Wille). Eine Beschreibung von Verhalten mittels solcher Begriffe würde jedoch der Objektivitätsforderung der behavioristischen Lerntheorie nicht genügen. Für sie kann wissenschaftlicher Gegenstand nur sein, was beobachtbar ist. Alle Vorgänge und Zustände müssen im raum-zeitlichen Bezugssystem als körperhafte beschrieben, und ihre qualitativen Eigenschaften naturwissenschaftlich erfaßt werden. Die deskriptive Verhaltenstheorie versucht, die regelmäßigen Zusammenhänge von beobachtbaren Verhaltensweisen und kontrollierenden Stimulusbedingungen im Rahmen einer .funktionalen Analyse" zu beschreiben. Die funktionale Analyse rekurriert nicht auf neurophysiologische Vorgänge oder introspektiv erfahrbare Bewußtseinsphänomene als notwendige Instanzen für eine Beschreibung des Verhaltens, sondern sie versucht einen kausalen, direkten Zusammenhang herzustellen zwischen den beobachtbaren Reaktionen (den abhängigen Variablen) von Organismen und den kontrollierenden Stimuli (den unabhängigen Variablen). Verhalten wird also erfaßt als direkte Funktion kontrollierender Stimuli. Die Verwendung neurophysiologischer oder mentalistischer Termini sieht Skinner als einen Rückzug auf eine Fiktion an; denn hierbei werde etwas als Ursache von Verhalten ausgegeben, das jedoch seinerseits noch erklärt werden müsse. „Es trägt nichts zur Erklärung der Frage bei, wie ein Organismus auf einen Reiz reagiert, wenn man das Reizschema in den Körper verlegt. Es ist sowohl für den Orga12 Correll, Lernen und Verhalten, S. 28 101

nismus als auch für den Psychophysiologen am einfachsten, wenn die äußere Welt überhaupt nicht abgebildet wird - wenn die Welt, die wir kennen, einfach die Welt um uns herum ist" .

Funktionale Analyse im geforderten Sinn zu betreiben bedeutet nun aber, unabhängige und abhängige Variablen in ein begriffsloses, rein quantitatives Verhältnis folgender Form zu setzen: wenn ein spezifisches Verhalten von einem bestimmten, verstärkenden Stimulus gefolgt wird, dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieses Verhaltens (dies ist das „Gesetz des Konditionierens") · Überlegen wir kurz am Beispiel der verhaltenspsychologischen Begriffe der Generalisierung, Diskriminierung und Abstraktion die Konsequenzen, die die geforderte direkte Verknüpfung für die Erfassung von Verallgemeinerungsund Differenzierungsleistungen haben kann, mittels derer sich Subjekte die Realität praktisch-geistig und theoretisch aneignen. Der Rahmen, in dem die instrumenteile Lerntheorie dieses Problem beantworten muß, determiniert auch ihre Bestimmung sprachlichen Verhaltens, die wir anschließend untersuchen wollen. Unter Generalisierung versteht Skinner die Ausdehnung der Wirkung eines Stimulus auf andere Stimuli. Eine Verhaltensform, die im Zusammenhang mit einem spezifischen Stimulus geäußert wurde, tritt auch bei Darbietung eines ähnlichen Stimulus auf. Wenn beispielsweise eine Taube dazu konditioniert wurde, auf einen roten Fleck zu picken, so wird sie, wenn auch nicht so häufig, auf einen organgefarbenen Fleck ebenso reagieren. Identische Reaktionen auf ähnliche Stimuli können experimentell konditioniert werden, indem solche Stimuli mehrmals zusammen mit einem verstärkenden Stimulus dargeboten werden. Wenn das Versuchsobjekt gelernt hat, zwischen bestimmten Stimuli zu unterscheiden, so liegt eine Diskriminierung vor. Aber auch hier geht es nicht um die Frage, welche Fähigkeiten beim ,Subjekt' vorausgesetzt werden müssen bzw. sich bilden, sondern „Diskriminierung" wird bestimmt als Eingrenzung der Wirkung von Stimuli. In unserem Beispiel würde eine Diskriminierung dadurch erreicht, daß die Taube nur noch dann eine Verstärkung erhält, wenn sie auf einen roten Fleck pickt, wobei zusätzlich andersfarbige Flecken von gleicher Größe und Gestalt vorhanden sind. Die Taube hat jedoch noch nicht gelernt, auf rote Gegenstände schlechthin zu reagieren. Dies setzt einen weiteren Diskriminierungsprozeß voraus, bei dem unterschiedliche Stimuli geboten werden, die nur eine Eigenschaft gemeinsam haben: rot zu sein. Diese Art der Diskriminierung nennt Skinner „Abstraktion". Weder Generalisierung, noch Diskriminierung, noch Abstraktion beziehen sich auf Fähigkeiten auf der Seite des ,0rganismus'. Nach Skinner könnte

13 Skinner, Fünfzig Jahre Behaviorismus (1963), in: Correll (Hrsg), Programmiertes Lernen und Lehrmaschinen, S. 85-111, hier: S. 96; vgl. auch den Abschnitt „Pseudoerklärungen in der geisteswissenschaftlichen Psychologie", ebda. S. 100-105. 102

zwar durchaus von Abstraktionsfähigkeit etc. gesprochen werden, aber bestimmt werden kann diese nur, indem operational die jeweils beobachteten Stimulusdarbietungen, die erfolgten Verstärkungen und die beobachteten Reaktionen beschrieben werden — nicht aber, indem Abstraktion als „innerer" Vorgang erfaßt wird, welcher Leistungen des Subjekts impliziert, die gerade nicht auf das beobachtbare, bloß Einzelne und seinen direkten, funktionalen Zusammenhang reduziert werden können. (Die Charakterisierung von Skinners Konzeption als Psychologie des „leeren Organismus" trifft genau diesen Sachverhalt.) Im Rahmen der funktionalen Analyse sind Generalisierungen und Abstraktionsleistungen objektivistisch erfaßt: es sind allein die empirischen Regelmässigkeiten gemeint, die im experimentell hergestellten Zusammenhang von Stimulusbedingungen und Reaktionsäußerungen der Organismen — ob Mensch ob Tier — beobachtbar sind.

4.

Skinners Analyse sprachlichen Verhaltens

Skinners „Verbal Behavior" ist der Versuch, den dargestellten Ansatz der instrumenteilen Lerntheorie auf den sprachlichen Bereich auszudehnen. Eine funktionale Analyse sprachlichen Verhaltens hat die unabhängigen Variablen festzustellen, von denen sprachliche Reaktionen eine Funktion sind — ohne daß der neue Gegenstand eine prinzipiell veränderte Begrifflichkeit oder veränderte Analyseprozeduren erfordern würde. „Die grundlegenden Prozesse und Beziehungen, die das Besondere des sprachlichen Verhaltens ausmachen, sind nun ziemlich gut bekannt. Viele der Experimente, die diesen Fortschritt ermöglicht haben, sind mit anderen Spezies durchgeführt worden, die Ergebnisse haben sich jedoch als erstaunlich unabhängig von Beschränkungen der Art erwiesen. . . . Was geschieht, wenn jemand spricht oder auf Sprache antwortet, ist zweifellos eine Frage nach menschlichem Verhalten und daher eine Frage, die mit den Begriffen und Methoden der Psychologie als experimenteller Verhaltenswissenschaft beantwortet werden muß" .

4.1.

Der Spracherwerbsprozeß: Sprechen als sozialer instrumenteller Akt

Sprechen ist der Verhaltenspsychologie zufolge das Ergebnis eines Konditionierungsprozesses, in dem spezifische sprachliche Reaktionen verstärkt oder durch Ausbleiben der Verstärkung gelöscht werden. Den Spracherwerbsprozeß sieht die Verhaltenspsychologie folgendermaßen: nach einem Stadium undifferenzierten Schreiens äußert das Kind im Lallstadium Laute, von denen 14 Skinner, Verbal Behavior, S. 3 und S. 5; die hier und im folgenden aus „Verbal Behavior" herangezogenen Stellen wurden von uns ins Deutsche übersetzt.

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einige den in der Erwachsenensprache verwendeten bereits relativ ähnlich sind. Durch die selektive Verstärkung dieser Laute, die anfangs noch undifferenziert zum Ausdruck der verschiedensten Bedürfnisse verwendet werden, wird das Kind dazu gebracht, Sprachlaute zu differenzieren und in einem Prozeß progressiver Annäherung die Laute, die in seiner sprachlichen Umgebung vorkommen, nachzuahmen. Die Artikulation dieser Laute stellt bereits ein Instrument dar, um bestimmte Befriedigungen herbeizufuhren. Das hierbei auftretende Imitationsverhalten hat das Kind operativ gelernt. Mittels dieser Fähigkeit können nun einfache Lautkombinationen und wortähnliche Gebilde erworben werden, aus denen dann das erste Wort ausdifferenziert wird. Nach und nach erweitert das Kind seinen Wortschatz, es lernt Wortverbindungen und schließlich kompliziertere Sätze zu äußern. In diesem Prozeß differentieller Verstärkung wird erreicht, daß spezifische sprachliche Reaktionen stets in Abhängigkeit von spezifischen Situationen verwendet werden. Das Kind lernt sprachliche Reaktionen „passend" zu gebrauchen, da nur diejenigen sprachlichen Verhaltensweisen verstärkt werden, die als situationsadäquat akzeptiert worden sind. Sprachliches Verhalten ist — ebenso wie nichtsprachliches Verhalten — unter die Kontrolle von Reizen gebracht durch einen Prozeß selektiver sozialer Verstärkung. Sprechen ist ein gesellschaftlich verstärkter Operant; „gesellschaftlich" bezieht sich jedoch nicht auf etwas, dem ,neben' den beobachtbaren einzelnen Verhaltensweisen der Individuen Realität zukäme, sondern allein auf die Summe der jeweiligen beobachtbaren Verhaltensweisen. Eine Sprechsituation soll schon dann zureichend beschrieben sein, wenn die einzelnen Reaktionen der Beteiligten funktional erfaßt sind. „Die Verhaltensweisen von Sprecher und Hörer zusammengenommen machen das aus, was man eine vollständige Sprechsituation nennen kann. In einer solchen Situation gibt es nichts, was mehr als das kombinierte Verhalten zweier oder mehrerer Individuen wäre. Nichts „entsteht zusätzlich" in dieser sozialen Einheit" .

Die begriffliche Reduktion der Realität auf das sinnliche, bloße Einzelne, das unmittelbar gegeben sein soll16, kann als ein generelles Kennzeichen des 15 Skinner, Verbal Behavior, S. 2 16 Wir folgen hier Hegels Kritik der „sinnlichen Gewißheit", d. h. der Kritik an einem unmittelbaren Bewußtsein, das seinen Gegenstand als Einzelnen, Unmittelbaren zu wissen meint. Diese Kritik wurde von Hegel v. a. in der „Phänomenologie des Geistes" im Rahmen einer logischen Rekonstruktion der Folge von Bewußtseinsgestalten formuliert. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, ediert von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970. S. 82-92. Interessierte seien verwiesen auf den Beitrag von Wolfgang Wieland, Hegels Dialektik der sinnlichen Gewißheit, in: Hans Friedrich Fulda und Dieter Henrich (Hrsg), Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes", Frankfurt am Main 1973. S. 67-82;

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Skinnerschen Behaviorismus angesehen werden. Auch die Begriffe „soziale Gesetze", „soziale Kräfte" etc. beziehen sich Skinner zufolge nicht auf reale Allgemeinheiten, sondern sind lediglich Namen für bestimmte Klassen von Einzeldingen: die jeweils beobachtbaren Verhaltensweisen von Individuen. Es existiert auch nicht der Gegenstand „die Sprache", sondern nur dieser Name als Bezeichnung der Klasse aller einzelnen sprachlichen Reaktionen. Das Lernen von Allgemeinbegriffen stellt sich folglich der instrumenteilen Lerntheorie als unproblematisch dar. Das objektivistische Herangehen an Verallgemeinerungsleistungen und der Standpunkt, daß nur Einzelnes real existent und unmittelbar gegeben sei — wir haben darauf bereits im Zusammenhang mit dem Begriff der funktionalen Analyse verwiesen — legen fest, daß sich Organismen nur beobachtbare Einzeltatsachen „anzueignen" hätten, wenn sie beispielsweise lernen,was „Sprache", „Löffel" oder „Arbeit" bedeuten17. Burrhus F. Skinner ist in der Illusion der „sinnlichen Gewißheit" verblieben.

4.2.

Die Lösung des Problems der „privaten" Ereignisse: Bewußtsein als sprachliches Verhalten

Wie wir bereits bei der Darstellung des wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrunds der Kontroverse Chomsky — Skinner ausgeführt haben, beansprucht Skinner, sprachliche Reaktionen beschreiben zu können, die sich auf „innere", gleichsam private Ereignisse beziehen, die „introspektiv" nur dem Sprechenden zugänglich sind. Wenn sprachliche Entwicklung ein Prozeß sozialer Verstärkung sein soll, wie kann dann das Entstehen dieser sogenannten „selbstbeschreibenden" Reaktionen erklärt werden? Es darf keine Privatheit an sich geben, sondern es muß ein allgemein zugänglicher Zusammenhang zwischen öffentlichen und privaten Ereignissen bestehen, damit die Sprachgemeinschaft jene sprachlichen Reaktionen als adäquat akzeptieren und verstärken kann. sowie auf die Darstellung bei Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution, dritte Auflage Neuwied und Berlin 1970 (Soziologische Texte Bd. 13). Teil I, Kap. IV, bes. S. 89-101. 17 Ludwig Feuerbach hat im Zusammenhang seiner Darstellung der Leibniz'schen Kritik des Empirismus die begriffliche Vermitteltheit des in der Anschauung „Gegebenen" betont - anders könnte die Entstehung von Begriffen nicht erklärt werden: „Aus einer sinnlichen Anschauung, die nicht schon ursprünglich zugleich eine geistige, denkende Anschauung ist, werden nun und nimmermehr Begriffe entstehen, man müßte denn ihren Ursprung ex nihilo ableiten. Der Mensch beginnt in der Einheit des Schauens und Denkens; sein Gegenstand sind keineswegs die einzelnen, besondern sinnlichen Objekte als einzelne, besondere; der Unterschied von Einzelheit, Besonderheit, Allgemeinheit ist ein späterer. Der Mensch beginnt mit der unterschiedslosen Totalität - das Einzelne ist ihm selbst das Allgemeine -; er beginnt ... mit der unbestimmten Allgemeinheit". Ludwig Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie. Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie, Berlin 1969. S. 144. 105

Nur dann kann Skinner sagen, daß solche Reaktionen instrumentell gelernt werden. Das Erlernen einer Reaktion wie etwa „ich habe Zahnschmerzen" stellt ein vergleichsweise geringes Problem dar, da eine Reihe von Anhaltspunkten möglich ist, die auf das Vorhandensein von Zahnschmerzen schließen lassen18: eine geschwollene Backe, ein schmerzliches Stöhnen, ein tiefes Loch im Zahn sind recht zuverlässige Anzeichen für Zahnschmerzen. Weil die Sprachgemeinschaft die sprachliche Reaktion „ich habe Zahnschmerzen" beim Auftreten dieser Anhaltspunkte verstärkt, bewirkt sie, daß der Zusammenhang dieser Schmerzgefühle mit der passenden sprachlichen Reaktion instrumentell gelernt wird. Auch sprachliches Verhalten, das sich auf emotionale und bewußte Vorgänge bezieht, wird nach Skinner prinzipiell in der gleichen Weise gelernt. Das Zutreffen einer Reaktion wie „ich bin traurig" ist zwar schwieriger zu ermitteln, die Anhaltspunkte und Verstärkungszusammenhänge haben jedoch den gleichen Status wie beispielsweise im Fall des Erlernens des Namens „Auto". Ein trauriges Kind kann etwa den Kopf hängen lassen, sich weniger lebendig als sonst verhalten oder weinen; zusätzlich könnte der Sprachgemeinschaft bekannt sein, daß ein Ereignis eingetreten ist, auf welches ein Kind normalerweise mit Traurigkeit reagiert wie: das Kind hat sein liebstes Spielzeug verloren oder seine Mutter ist fortgegangen19. „Bei dem Versuch, ein solches Repertoire aufzustellen, arbeitet die Sprachgemeinschaft jedoch unter einer großen Schwierigkeit. Sie kann nicht immer die Verstärkungen für feine Unterscheidungen vorbereiten. Sie kann einem Kind nicht so leicht beibringen, eine Art des subjektiven Reizes „Schüchternheit" und eine andere „Verlegenheit" zu nennen, wie sie es etwa lehren kann, einen Reiz „rot" und einen anderen „orange" zu nennen, da sie nicht wissen kann, ob die zu verstärkenden bzw. nicht zu verstärkenden subjektiven Reize jeweils gegeben sind". Daraus zieht Skinner folgende Konsequenz: „So verursacht die Subjektivität zuerst Schwierigkeiten für die Verbalgemeinschaft und das Individuum erleidet die Folgen. Weil die Gemeinschaft selbstbeschreibende Reaktionen nicht dauernd verstärken kann, kann der Mensch die Vorgänge, die innerhalb seiner Persönlichkeit vorgehen, nicht so fein und genau beschreiben oder „erkennen", wie er Vorgänge in seiner Umwelt erkennt" . iOt

Betrachten wir abschließend das Zustandekommen sprachlicher Reaktionen des Wissens. Skinner zufolge kann jemand nur deshalb sagen, er wisse etwas, 18 Vgl. Roger W. Brown und Don E. Dulaney, Eine Analyse von Sprache und Bedeutung im Rahmen von Reiz und Reaktion, in: Paul Henle (Hrsg), Sprache, Denken, Kultur, Frankfurt am Main 1969. S. 72-135; für diesen Zusammenhang besonders S. 97-102; zum Problem der privaten Ereignisse vgl. auch Skinner, Science and Human Behavior, S. 257-282. 19 Vgl. Brown/Dulaney, Eine Analyse von Sprache und Bedeutung, S. 98. 20 Skinner, Fünfzig Jahre Behaviorismus, S. 94.

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weil er die Verwendung dieses Wortes instrumentell gelernt hat. Auch hier müssen öffentliche Kriterien vorhanden sein, mittels derer beurteilt werden kann, ob jemand etwas weiß. Die passende Verwendung von „ich weiß" kann sich nur am passenden Verhalten der Individuen zeigen und muß in diesem Zusammenhang gelernt werden. Hierzu ein Beispiel: jemand, der sagt, er wisse, wieviel drei zu zwei addiert ergebe, muß gezeigt haben oder zeigen können, daß er auf den Stimulus „addiere zwei und drei" passend reagieren kann etwa mit „zwei plus drei ist fünf. Er wird den Zusammenhang von richtigem Additionsverhalten und „ich weiß ..." gelernt haben etwa durch die Frage „weißt du, wieviel zwei plus drei ergibt? " oder durch „du weißt also jetzt, wieviel ...". Auf diese Weise wird die Verbindung von sprachlichen Reaktionen des Wissens mit „richtigem" Verhalten gelernt. Wissen ist nichts anderes als ein aus einzelnen Reaktionen bestehendes und als „passend" akzeptiertes Verhaltensrepertoire und die Redeweise „ich weiß" nichts anderes als der instrumentell gelernte Kommentar zu diesem Verhalten21. Skinner muß nicht - wie noch der ältere Behaviorismus - Bewußtsein als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung bestreiten. Die „inneren" Vorgänge und Zustände, die die Introspektionspsychologie im Anschluß an die cartesianische radikale Trennung der Wirklichkeit in eine bloß ausgedehnte Substanz (res extensa) und eine ausdehnungslose, denkende Substanz (res cogitans) als geistig-private Phänomene ansah, von denen Gewißheit introspektiv nur das jeweilige einzelne Subjekt mit seinem in sich abgeschlossenen Bewußtsein erlangen konnte, werden durch den objektivistischen Ansatz Skinners auf den Status reiner Verhaltensphänomene reduziert. Nachdem subjektive Vorgänge als instrumenteil gelerntes Verbalverhalten objektiviert worden sind, gibt es keinen Bereich mehr, der sich einer verhaltenspsychologischen Analyse entzöge. „Behavioristen haben von Zeit zu Zeit das Problem der Subjektivität geprüft, und einige haben sogenannte Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedankenvorgänge usw. von ihren Überlegungen ausgeschlossen. Dies geschah nicht, weil diese Dinge nicht existieren, sondern weil sie außerhalb der Reichweite ihrer Methoden liegen. In diesem Sinne ist der Vorwurf berechtigt, daß sie das Bewußtsein geleugnet haben. Die Wissenschaft vom Verhalten blickt jedoch dem Problem der Subjektivität ins Auge, ohne die Position des Behaviorismus aufzugeben.... Eine angemessene Wissenschaft vom Verhalten muß Vorgänge, die innerhalb des Organismus ablaufen, nicht als physiologische Mittler des Verhaltens, sondern als Teil des Verhaltens selbst betrachten. Sie kann mit diesen Vorgängen arbeiten, ohne anzunehmen, daß sie besonderer Natur seien oder in jeder Hinsicht bekannt sein müßten. Die Haut hat hier nicht die Funktion einer Grenze: Allgemeine und subjektive Vorgänge haben die gleichen physikalischen Dimensionen" .

21 Vgl. Skinner, Fünfzig Jahre Behaviorismus, S. 92-94 22 Skinner, Fünfzig Jahre Behaviorismus, S. 91f. 107

S.

Noam Chomskys Kritik an Skinner

War für Skinner das als sprachliches Verhalten objektivierte Bewußtsein zu einem reinen Verhaltensteil geronnen, so versuchte Chomsky in seiner Kritik an Skinners „Verbal Behavior"23 die prinzipielle Inadäquatheit einer behavioristischen Sprachverhaltensanalyse zu zeigen, indem er sich auf ein notwendiges Sprachbewußtsein bezog, wovon sprachliches Verhalten zwar Ausdruck ist, welches jedoch nicht auf sprachliches Verhalten reduziert oder als dieses objektiviert werden kann, sondern als mentale Fähigkeit sprachliches Verhalten wesentlich erst ermöglicht. Wir stellen im folgenden drei Hauptaspekte der Kritik Chomskys an Skinner dar und versuchen uns gleichzeitig die Vorbereitung der mentalistischen Alternative zu vergegenwärtigen.

5. 1.

Die Kritik an der Extrapolation der im Experiment 'wohldefinierten Begriffe der instrumenteilen Lerntheorie - am Beispiel der Begriffe „Stimuluskontrolle" und „ Verstärkung"

„Ein typisches Beispiel von Stimuluskontrolle wäre für Skinner, wenn als Reaktion auf ein Musikstück „Mozart" geäußert würde oder auf ein Gemälde „Ein Niederländer". Von diesen Reaktionen wird behauptet, sie stünden „unter der Kontrolle von äußerst differenzierten Eigenschaften" des physikalischen Objektes oder Ereignisses (108). Nehmen wir an, statt „Ein Niederländer" hätten wir gesagt „beißt sich mit der Tapete", „ich dachte, sie mögen abstrakte Kunst", „habe ich nie zuvor gesehen", „hängt schier', „hängt zu tier1, „schön", „scheußlich", „erinnerst du dich an unsere Campingreise letzten Sommer? ", oder was uns sonst noch einfallen könnte, wenn wir ein Gemälde betrachten (in Skinner'scher Übersetzung: was sonst noch für Reaktionen in ausreichender Stärke existieren). Skinner könnte nur sagen, daß jede dieser Reaktionen unter der Kontrolle eines anderen Stimulusmerkmals des physikalischen Objekts stehe. Wenn wir einen roten Stuhl ansehen und „rot" sagen, dann ist die Reaktion vom Stimulus der Röte abhängig; sagen wir „Stuhl", steht sie unter Kontrolle der Merkmalssammlung (für Skinner: des Objekts) Stuhlheit (110); entsprechendes gilt für jede andere Reaktion. Dieser Kunstgriff ist ebenso einfach wie er nichtssagend ist. Da die Merkmale beliebig erfragt werden können (wir haben so viele wie es nicht-synonyme beschreibende Ausdrücke in unserer Sprache gibt, was immer das genau bedeuten mag), können wir eine umfassende Klasse von Reaktionen in Begriffen von Skinner's funktionaler Analyse erklären, indem wir die kontrollierenden Stimuli identifizieren.

23 Chomsky, A Review of B. F. Skinner's „Verbal Behavior" (1959), zitiert nach dem Wiederabdruck in: Jerry A. Fodor/Jerrold J. Katz (eds), The Structure of Language. Readings in the Philosophy of Language, Englewood Cliffs, New Jersey 1964. S. 547-578 (im folgenden zitiert als „Skinner Review"); eine Übersetzung der Hauptpartien dieser Kritik findet man in Holzer/Steinbacher (Hrsg), Sprache und Gesellschaft, S. 60-85.

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Aber das Wort „Stimulus" hat in dieser Verwendung alle Objektivität verloren. Stimuli sind nicht mehr Teil der äußeren physikalischen Welt; sie werden in den Organismus zurückverlegt. Wir identifizieren den Stimulus, wenn wir die Reaktion vernehmen. Aus diesen zahlreich dargebotenen Beispielen geht eindeutig hervor, daß die Rede von „Stimuluskontrolle" einfach einen vollständigen Rückzug auf die mentalistische Psychologie verschleiert. Wir können sprachliches Verhalten nicht in Begriffen der Stimuli aus der Umgebung des Sprechers voraussagen, da wir die jeweiligen Stimuli erst dann erkennen, wenn der Sprecher reagiert hat. Da wir desweiteren das Merkmal eines physikalischen Objektes, auf das ein Individuum reagieren wird, abgesehen von äußerst künstlichen Fällen, nicht kontrollieren können, ist Skinner's Behauptung, sein System erlaube im Gegensatz zu dem traditionellen die praktische Kontrolle verbalen Verhaltens, gänzlich falsch" .

Diese Argumente bringt Chomsky ebenso gegen die Extrapolation der Begriffe „response", „operant", „response strength" und „probability" vor. Für eine Einschätzung der Kritik Chomskys ist es u. E. wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß Skinner in „Verbal Behavior" außerexperimentelle Verhältnisse zu beschreiben versucht. Unter den Bedingungen der experimentellen Situation sind die Stimuli etc. vom Experimentator exakt definiert und in diesem Sinne auch objektiv. Der Gegenstand „sprachliches Verhalten" aber steht insgesamt gesehen nicht unter experimenteller Kontrolle. Skinner muß also — im Gegensatz zum Experiment — von der sprachlichen Reaktion ausgehen,und verstärkende Stimuli rückerschließen. Daher kann er nur Möglichkeiten darüber angeben, wovon bestimmte sprachliche Reaktionen eine Funktion sein könnten. Der Experimentator, der sich in die außerexperimentelle Situation begibt, kann nicht wissen, welche Konditionierungsvorgänge dort im einzelnen stattgefunden haben. Dennoch kann er über sprachliches Verhalten nach den Bedingungen der experimentellen Situation (etwa beim Einsatz von Lehrmaschinen) verfügen. Chomsky geht davon aus, daß die mit Bezug auf die experimentelle Situation definierten Begriffe für eine Analyse sprachlichen Verhaltens im übertragenen Sinn genommen werden müssen; denn verstünde man sie wörtlich, würde sich mit diesen Termini nahezu kein Aspekt sprachlichen Verhaltens erfassen lassen. Nimmt man nun aber die Begriffe der Verhaltenspsychologie im übertragenen Sinn, dann, so folgert Chomsky, muß auch Skinner die Vorgänge im Sprecher berücksichtigen. Pointiert könnte man Chomskys Einschätzung so formulieren: Skinner hat die Analyse sprachlichen Verhaltens in mentalistischer Einstellung vorgenommen. Chomsky leugnet bislang nicht, daß sprachliche Reaktionen gesetzmäßig von bestimmten Stimuli abhängig sind; der Zusammenhang zwischen Stimuli und den davon abhängigen sprachlichen Reaktionen ist aber offenbar nicht so direkt, wie Skinner angenommen hatte. 24 Chomsky, Skinner Review, S. 552 ; diese und die folgenden Stellen aus Chomsky, Skinner Review, wurden von uns ins Deutsche übersetzt. Die Seitenangaben im Text des Zitats beziehen sich auf „Verbal Behavior".

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Diesen Einwand macht Chomsky auch gegen den Verstärkungsbegriff geltend und greift damit die Spracherwerbskonzeption der Verhaltenspsychologie an, die das Erlernen einer Sprache im wesentlichen als Prozeß der differentiellen Verstärkung begriffen hat. Chomsky anerkennt die Angemessenheit dieses Begriffs in Bezug auf die experimentelle Situation, da durch den Aufbau des Experiments festgelegt sei, was jeweils als Verstärker fungieren könne. Für die extrapolierende Beschreibung sprachlichen Verhaltens bestehe jedoch das Problem zu erkennen, was jeweils unter welchen Bedingungen verstärkend sei. Ob Verstärkung überhaupt als notwendige Bedingung für den Aufbau und die Aufrechterhaltung sprachlicher Reaktionen angesehen werden könne, dies hänge davon ab, wie die Klasse der Verstärker definiert werde. Anhand vieler Beispiele von „automatischer Selbst-Verstärkung" zeigt Chomsky zunächst, daß der Verstärkungsbegriff in „Verbal Behavior" überaus allgemein verwendet wird (man spricht mit sich selbst, weil dies verstärkend ist; ein Kind wird automatisch verstärkt, wenn es Geräusche von Flugzeugen oder sprachliche Laute imitiert etc.). Versuchen wir nun anhand von Chomskys Diskussion des Verstärkungsbegriffs weiter zu verfolgen, wie sich für Chomsky der Zusammenhang zwischen sprachlichen Reaktionen und den Situationen, in denen diese geäußert werden, darstellt. „In den meisten dieser Fälle ist der Sprecher natürlich nicht anwesend, wenn die Verstärkung erfolgt, so z. B. wenn „der Künstler ... durch die Wirkungen verstärkt wird, die seine Arbeiten auf andere ausüben" (224), oder wenn der Schriftsteller durch die Tatsache verstärkt wird, daß sein „sprachliches Verhalten über Jahrhunderte hinweg reicht oder Tausende von Hörern oder Lesern zur gleichen Zeit erreicht. Der Schriftsteller wird vielleicht nicht oft oder nicht unmittelbar verstärkt werden, die sich bei ihm einstellende Verstärkung kann jedoch sehr groß sein" (206; dadurch wird die anhaltende „Stärke" seines Verhaltens erklärt). Ebenso kann es ein Individuum verstärkend finden, jemanden durch Kritik oder schlechte Nachrichten zu verletzen, oder ein experimentelles Resultat zu veröffentlichen, welches die Theorie eines Rivalen erschüttert (154), Umstände zu beschreiben, die verstärkend wären, wenn sie einträten (165), Wiederholungen zu vermeiden (222), sehen eigenen Namen zu „hören", obwohl er nicht erwähnt wurde, oder nicht existierende Wörter im Geplapper seines Kindes zu hören (259), ... Aus dieser Auswahl läßt sich ersehen, daß der Begriff der Verstärkung alle objektive Bedeutung, die er einmal gehabt haben mag, gänzlich verloren hat. Gehen wir diese Beispiele durch, so sehen wir, daß jemand verstärkt werden kann, obwohl er keinerlei Reaktion äußert, und daß der verstärkende Stimulus nicht auf die verstärkte Person einwirken oder nicht einmal existieren muß (es reicht aus, daß er vorgestellt oder erhofft wird). Wenn wir lesen, daß eine Person die Musik spielt, die sie spielen möchte (165), das sagt, was sie möchte (165), das denkt, was sie möchte (438-39), die Bücher liest, die sie lesen möchte (163), etc., WEIL sie es verstärkend findet, dies zu tun, oder daß wir Bücher schreiben oder andere über Tatsachen informieren, WEIL wir durch das verstärkt werden, was wir uns als resultierendes Verhalten des Lesers oder Zuhörers erhoffen, dann können wir daraus nur schließen, daß der Begriff „Verstärkung" eine rein rituale Funktion hat. Der Ausdruck „X wird verstärkt durch (Stimulus, Sachlage, Ereignis, etc.)" wird als Deckformel verwendet für „X möchte Y",

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„X mag ", „ wünscht, daß der Fall wäre" etc. Der Bezug auf den Begriff „Verstärkung" hat keine erklärende Kraft, und jede Vorstellung, diese Paraphrase führe neue Klarheit oder Objektivität in die Beschreibung des Wünschens, Mögens, etc. ein, ist eine schwerwiegende Täuschung" s .

Die von Skinner postulierte Objektivität sei nur Schein, die Beschreibung sprachlichen Verhaltens im Grunde mentalistisch, aufgrund der dünnen Begrifflichkeit allerdings weitaus ärmer an Aussagegehalt als vorliegende explizit-mentalistische Distinktionen und Erklärungen. Betrachtet man die von Chomsky zu den Begriffen der Stimuluskontrolle und der Verstärkung angeführten Beispiele genauer, so zeigt sich, daß Chomsky die von Skinner postulierte gesetzmäßige und direkte Verknüpfung von unabhängigen und abhängigen Variablen seinerseits völlig aufzulösen versucht, sodaß zwischen Situationen und sprachlichen Reaktionen überhaupt kein wesentlicher Zusammenhang mehr besteht. Diese Argumentationsführung verweist daher eher auf die mentalistische Alternative, die Chomsky anbieten wird, als sie Skinners Intention trifft. Sicher kritisiert Chomsky zu Recht, daß in vielen, willkürlich gewählten Situationen nicht vorausgesagt werden kann, was die Beteiligten äußern werden; ebenso, daß Verstärkungen meist nicht nachweisbar sind, und Skinner eine Erklärung „innerer" Vorgänge liefern müßte. Insbesondere aber hat Chomsky zu Recht darauf insistiert, daß der von der Verhaltenstheorie postulierte direkte funktionale Zusammenhang unabhängiger und abhängiger Variablen nicht besteht. Auf dem Weg der Destruktion verhaltenstheoretischer Termini durch Gegenbeispiele konnte Chomsky zu Bewußtsein bringen, daß der objektivistische Anspruch der instrumentellen Lerntheorie für die Analyse sprachlichen Verhaltens nicht einlösbar ist. Sprachliches Verhalten entzieht sich dem behaupteten unmittelbaren S-R-Zusammenhang. Chomsky bringt jedoch nicht nur die falsche Unmittelbarkeit zu Bewußtsein, sondern löst diesen Zusammenhang gänzlich auf. Gemessen an Chomskys Altemativkonzeption liegt darin allerdings eine gewisse Notwendigkeit, denn nur so kann Chomsky in die entstandene Lücke geistige Fähigkeiten treten lassen, die ihrerseits überhaupt nicht mehr in konstitutiver Einheit mit Situationen stehen. Jene Auflösung hat überdies zur Konsequenz, daß Chomsky das Telos der Verhaltenspsychologie: Verhalten unter Kontrolle zu bringen, unberücksichtigt lassen muß. Das Problem der Voraussage von Verhalten, wie Chomsky es formuliert hat, ist auch von Skinner gesehen worden. Skinner hat nie behauptet, es ließe sich — irgendeine beliebige außerexperimentelle Situation genommen — voraussagen, was jemand tun oder äußern Wird. Denn dies würde entweder die Identifizierung der die Reaktion .auslösenden' Stimuli erfordern (was Skinner als nicht möglich erkannt hat), oder eine lückenlose Rekonstruktion der „Verstärkungsgeschichte" der jeweiligen Individuen, wo25 Chomsky, Skinner Review, S. 558.

Ill

rin die Verhaltenspsychologie jedoch nicht ihr Ziel sieht. Voraussage ist in dem Maße möglich, als es gelungen ist, das Ziel der Verhaltenspsychologie zu realisieren: (sprachliches) Verhalten unter experimentelle Kontrolle zu bringen. „Sprachliches Verhalten zu '„verstehen" impliziert mehr, als den Gebrauch eines feststehenden Vokabulars, mit dem man jeweilige Vorgänge beschreiben kann. ... Der Rahmen, in dem wir sprachliches Verhalten in einer „kausalen" Analyse verstehen, ist durch das Ausmaß gegeben, in dem wir das Eintreten spezifischer Vorgänge voraussagen können und schließlich durch das Ausmaß, in dem wir solches Verhalten durch Veränderung der Bedingungen seines Auftretens hervorbringen oder kontrollieren können''16.

Der ,.Erfolg" der auf die instrumentelle Lerntheorie gegründeten Lehr- und Lernprogramme, die größtenteils auf die Hervorbringung spezifischen sprachlichen Verhaltens zielen, ist durch Chomskys Kritik nicht tangiert und bleibt erklärungsbedürftig. Gerade in diesem wesentlichen Punkt geht Chomsky an Skinner vorbei. Es gälte, die Bedingungen zu spezifizieren, die es gestatten, in einem bestimmten Ausmaß über Realität nach dem Muster der experimentellen Situation zu verfügen. Man kann Skinners Analyse sprachlichen Verhaltens zwar „tautologisch" oder „inhaltslos" nennen, insofern sich sprachliches Verhalten als Ganzes dem Ansatz der instrumenteilen Lerntheorie entzieht — denn diese Verhaltenstheorie kann nur das »objektiv' beschreiben, worüber sie experimentell verfügt — die instrumenteile Lerntheorie ist deshalb aber nicht bloß und nicht primär tautologisch, sondern sie ist Ausdruck einer spezifischen Verfügung über Individuen, auch wenn die Bedingungen, die die Produktion und Reproduktion dieses Zwangszusammenhangs ermöglichen, im Rahmen der instrumentellen Lerntheorie selbst nicht begriffen werden können.

5.2.

Die Kritik an Skinners Klassifizierung sprachlicher Reaktionen

Wir wollen Chomskys Diskussion der von Skinner entwickelten klassifikatorischen Beschreibung sprachlicher Reaktionen nicht im einzelnen verfolgen. Da die Reaktionsklassen im Rahmen der funktionalen Analyse erfaßt werden sollen, macht Chomsky auch hier die von uns dargestellte Kritik geltend. Ob eine spezifische sprachliche Reaktion in diese oder jene Klasse einzuordnen ist, läßt sich vom Standpunkt Skinners aus nicht in Ansehung ihrer sprachlichen Form entscheiden, sondern letztlich nur durch die Spezifizierung der kontrollierenden Variablen. Skinner muß sich nicht notwendig auf Einsichten beziehen, die innerhalb „der" Linguistik gewonnen wurden, sondern greift mit seiner Beschreibung sprachlichen Verhaltens die Autonomie der Sprachwissen26 Skinner, Verbal Behavior, S. 3; Hervorheb. F. M. 112

Schaft an. Skinner argumentiert nicht — im Gegensatz zu Chomsky — aus der Perspektive einer Linguistik, die die formalen Strukturen gebrauchsenthobener Sätze als ihren Gegenstand betrachtet. Für eine funktionale Analyse sprachlichen Verhaltens hat es keinen Sinn, von Sprachstrukturen so zu reden, als ob diesen Realität an sich selbst zukäme. Erst im Zusammenhang mit den kontrollierenden Variablen, von denen die sprachlichen Reaktionen eine Funktion sind, sind diese analysierbar; erst dann lassen sich ihre Einheiten und ihre Klassenzugehörigkeit bestimmen. Gleichzeitig ist damit schon alles Wesentliche über sprachliche Strukturen gesagt. Es gibt keine Struktur, keine sprachliche Einheit, die existent, aber unbeobachtbar wäre. Vom wissenschaftlichen Selbstverständnis der Verhaltenstheorie aus und unter dem Anspruch der Verfügung über sprachliches Verhalten sind die wesentlichen Einheiten sprachlichen Verhaltens nicht grammatisch bestimmte Formen, sondern stimuluskontrollierte Redeteile. Da Chomsky nachgewiesen zu haben glaubte, daß kein wesentlicher Zusammenhang zwischen sprachlichem Verhalten und Situation der Äußerung besteht, zieht er die Konsequenz, daß Skinner die Klassifizierung sprachlicher Reaktionen allein aufgrund der sprachlichen Form vornehmen müsse, wobei Skinner in Wahrheit nur traditionellen Unterscheidungen folge und überdies hinter bereits erreichte wichtige Einsichten zurückfalle. Beziehen wir uns nach dieser Darstellung des allgemeinen Rahmens, in dem Skinner sprachliche Reaktionen zu beschreiben versuchte, und in dem Chomsky diese Klassifizierung kritisiert hat, nur auf das Problem näher, das einen Angelpunkt der Auseinandersetzung Chomskys mit Skinner darstellt: die Beschreibung und das Erlernen syntaktischer Strukturen. In „Verbal Behavior" hat Skinner eine Erklärung von Grammatik und Syntax als „autoklitischer Prozesse"27 gegeben. Die Reaktionsklasse der „autoclitics" enthält diejenigen sprachlichen Reaktionen, die zur Konstruktion von Sätzen dienen (zur linearen Anordnung sprachlicher Einheiten und zum relationalen Arrangement, welches abhängig ist von der Anordnung der jeweils relevanten Stimuli), zur Beschreibung des eigenen sprachlichen Verhaltens („mir fällt ein, daß ...", .,ich sagte ...", „z. B. ...") sowie zur Negation und Assertion verwendet werden; weiterhin sind in dieser Klasse Konjunktionen, Artikel etc. enthalten — in sprachwissenschaftlicher Formulierung: alle Morpheme bis auf die Stämme der Nomen, Verben und Adjektive. Diese werden mit dem Terminus sprachliche „Schlüsselreaktionen" (key responses) bezeichnet. Beim Satzbildungsprozeß werden Skinner zufolge sprachliche Schlüsselreaktionen in einen syntaktischen Rahmen eingesetzt. So stehen beispielsweise die sprachlichen Reaktionen „man" und „hungry" in Abhängigkeit einer Situation, deren Hauptmerkmale eben ein hungriger Mann sind. Aus diesen Schlüsselreaktionen, die ge27 Die Bedeutung des Terminus „autoclitic" wird von Skinner im wesentlichen durch Aufzählung der Reaktionsklassen bestimmt, die unter diesen Terminus fallen sollen. Wir stellen diese Aufzählung zusammengefaßt dar.

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wohnlich nicht isoliert geäußert werden, wird dann mittels autoklitischer Reaktionen die sprachliche Reaktion „the man is hungry" gebildet28. Wir haben im Verlauf unseres Spracherwerbsprozesses ganze Sätze zu bilden gelernt, da ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Verstärkung beim Äußern unvollständiger Sätze im allgemeinen ausblieb. „Die Idee, daß Sätze aus lexikalischen Einheiten bestehen, die in einen grammatischen Rahmen eingesetzt werden, ist natürlich eine traditionelle, sowohl in der Philosophie als in der Linguistik. Skinner fügt dem lediglich die äußerst unwahrscheinliche Überlegung hinzu, daß beim inneren Prozeß der Komposition zuerst die Nomina, Verben und Adjektive gewählt und anschließend durch autoklitische Reaktionen auf diese inneren Aktivitäten angeordnet, näher bestimmt werden etc. Diese Auffassung von Satzstruktur, sei sie in Begriffen der „autoclitics", in synkategorematischen Ausdrücken oder grammatikalischen und lexikalischen Morphemen formuliert, ist inadäquat. „Sheep provide wool" hat keinerlei (physikalischen) Rahmen, aber keine andere Anordnung dieser Wörter ist ein englischer Satz ... „Struggling artists can be a nuisance" hat denselben Rahmen wie „marking papers can be a nuisance", ist in der Satzstruktur jedoch gänzlich verschieden, wie man sehen kann, wenn in beiden Fällen „can be" durch „is" oder „are" ersetzt wird. Es ist offensichtlich, daß die Satzstruktur mehr einschließt, als das Einsetzen lexikalischer Einheiten in grammatische Rahmen; keine Behandlung der Sprache, die es unterläßt, diese tieferen Prozesse zu berücksichtigen, kann irgendwie erfolgreich aktuelles sprachliches Verhalten erklären" .

Die instrumenteile Lerntheorie erklärt das Erlernen syntaktischer Strukturen als einen Generalisierungsvorgang: das Kind lernt nicht nur, auf identische Stimuli identisch zu reagieren, es lernt auch, auf ähnliche Stimuli ähnlich zu reagieren. „Nachdem ein Sprecher auf viele Paare von Objekten mit sprachlichem Verhalten wie „der Hut und der Schuh" und „das Gewehr und der Hut" reagiert hat, kann er in einer neuen Situation die Reaktion „der Junge und das Fahrrad" äußern"30.

Das Kind hat gelernt, spezifische neue Sätze zu bilden. Es ist in der Lage, in ähnlichen Situationen (in Anwesenheit von zwei Objekten, die auf das Kind einwirken) mit Hilfe eines identischen syntaktischen Rahmens („the .. and the ..") ähnliche Äußerungen zu produzieren. Dies bedeutet jedoch nicht, daß ein Kind strukturelle Muster an sich generalisiert; es kann nicht auf der Grundlage gelernter, einfacher Strukturen zu komplizierten gelangen — etwa aus „der Junge und das Fahrrad" „der konditionierte Junge und das neue, braune Fahrrad" bilden

28 Vgl. Skinner, Verbal Behavior, S. 345f. 29 Chomsky, Skinner Review, S. 574. 30 Skinner, Verbal Behavior, S. 366. 114

und daraus nicht „der konditionierte Junge, der Multiplikationen schon zur Zufriedenheit des Experimentators durchfuhrt .." und daraus nicht „der konditionierte Junge, der, weil er Multiplikationen schon zur Zufriedenheit des Experimentators durchführt, diesen verstärkt und das neue, braune Fahrrad" Diese strukturellen Muster, die alle „nur" eine Erweiterung der Konstruktion „the .. and the .." darstellen, sind nicht ähnlich im Sinne Skinners; sie alle müssen daher eigens instrumentell gelernt werden. Chomsky zufolge ist Skinners vager Begriff von Generalisierung und der damit zusammenhängende Begriff der Ähnlichkeit so ziemlich auf alles bezogen, was beim Spracherwerb irgendwie eine Rolle spiele - außer auf das Wesentliche: den Beitrag des Kindes. (Bei der Beschreibung des Satzbildungsprozesses habe Skinner den Beitrag des Sprechers ebenso eliminiert, obwohl die Wahl der Schlüsselreaktionen und der „autoclitics" innere Aktivitäten des Sprechers seien.) Das von Chomsky geltend gemachte Phänomen, daß Kinder Sätze verstehen und äußern können, die den von ihnen bisher beobachteten nicht im physikalischen Sinn ähnlich sind, läßt sich mit Skinners Spracherwerbsmodell nicht zureichend erklären. Dem faktisch rapiden Erwerb der Muttersprache gegenüber muß die instrumentelle Lerntheorie einen mühsamen und langwierigen Generalisierungsprozeß annehmen. Skinners Vorstellung von Generalisierung wirft zudem folgendes Problem auf: Ähnlichkeit ist der Aspekt, unter dem generalisiert wird. Die Generalisierung darf strenggenommen nur auf der Grundlage beobachtbarer Momente erfolgen. Die Ähnlichkeit der neuen Situation ist jedoch grundsätzlich nicht beobachtbar im Sinn der Verhaltenstheorie, auch wenn man die identischen und verschiedenen Momente als gesichert annehmen könnte. An Skinners Beispiel orientiert sind identisch: die Tatsache, daß zwei Objekte anwesend sind, auf die der Sprecher reagiert und der syntaktische Rahmen. Verschieden sind: die Objekte und ihre ,Namen'. Die Ähnlichkeit ist nicht unmittelbar .gegeben', sie muß als Ähnlichkeit konstituiert werden. Sie ist als spezifische Einheit der identischen und verschiedenen Momente begrifflich vermittelt. Ebensowenig sind die identischen und verschiedenen Momente beobachtbar im Sinne der Verhaltenstheorie. Die einzelnen Gegenstände existieren als bloße Einzelheiten nur in der sich über sich selbst (und den Gegenstand) täuschenden Vorstellung des Verhaltenstheoretikers. Sein Einzelnes ist schon ein Allgemeines31.

31 Wir haben damit nochmals auf Skinners Illusion der „sinnlichen Gewißheit" Bezug genommen.

115

5.3.

Erhärtung der Kritik am Begriff der „ Verstärkung" und Chomskys Formulierung des Problems: Wa s hat der kompetente Sprecher eigentlich gelernt?

In einem weiteren Argumentationsgang stellt Chomsky die Plausibilität des Verstärkungsbegriffs erneut in Frage. Hierbei bezieht sich Chomsky auf kritische Einwände, die aus dem Lager der Behavioristen gegen den Verstärkungsbegriff der instrumenteilen Lerntheorie und gegen die Auffassung: Lernen nur durch Verstärkung, vorgetragen wurden. Bei der Erforschung vor allem tierischer Organismen erwiesen sich latentes Lernen, die Bestimmung des Triebbegriffs, das Problem der Triebreduktion, besonders aber das Phänomen der Prägung (imprinting) als Probleme, die einen Angriff auf Skinners Verstärkungskonzeption auch dort zuließen, wo diese auf die ,0bjektivität' der experimentellen Situation beschränkt blieb. Konrad Lorenz beispielsweise hatte in Experimenten mit Vögeln nachzuweisen versucht, daß bestimmte Reizkonstellationen, die meist bald nach der Geburt dargeboten werden, instinkthafte Verhaltensweisen auslösen. Die Entwicklung der untersuchten Verhaltensformen wurde als ein Prozeß bestimmt, in dem angeborene Dispositionen, Reifungs- und Lernvorgänge zusammenwirken. Die Lernvorgänge können stattfinden, ohne daß eine Belohnung gegeben werden müßte. Manche Verhaltensformen treten auch häufig erst längere Zeit nach dem sogenannten „Originallernen" auf. „Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, daß Einsichten, die sich aus der Erforschung tierischen Verhaltens in diesem erweiterten Rahmen ergeben, für solch komplexe Aktivitäten wie sprachliches Verhalten jene Art von Relevanz besitzen, die die Theorie der Verstärkung bislang nicht aufweisen konnte" .

Chomsky nimmt seinerseits eine Extrapolation vor, wenn er behauptet, Phänomene dieses Typus der Determination tierischen Verhaltens seien auch uns aus unserer Alltagserfahrung ziemlich vertraut (so erkennen wir beispielsweise Leute und örtliche Gegebenheiten wieder, denen wir zuvor keine spezielle Aufmerksamkeit entgegengebracht haben), insbesondere im Zusammenhang mit sprachlichem Verhalten und dem Spracherwerb. Kinder würden einen beachtlichen Teil ihres sprachlichen und nichtsprachlichen Verhaltens durch zufällige, unsystematische Beobachtung und bloße Imitation von Erwachsenen und anderen Kindern erwerben, nicht aber durch jenes sorgfältige Training, wie die Verhaltenspsychologie annehme. Einen großen Teil seines Vokabulars könne ein Kind durch Fernsehen, Lesen und aus Gesprächen Erwachsener einfach auflesen.

32 Chomsky, Skinner Review, S. 562; wir können im Rahmen unserer Thematik nur Chomskys Rezeption dieser Untersuchungen in aller Kürze darstellen.

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„Es ist ganz offensichtlich, daß ein Kind zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage ist, Äußerungen zu produzieren und zu verstehen, die gänzlich neu und gleichzeitig akzeptable Sätze seiner Sprache sind. Immer wenn ein Erwachsener eine Zeitung liest, begegnen ihm zweifellos unzählige neue Sätze, die keinesfalls in einem einfachen physikalischen Sinn jenen ähnlich sind, die er bis dahin gehört hat und er wird sie als Sätze erkennen und verstehen; ebenso ist er in der Lage, kleine Entstellungen oder Druckfehler zu entdecken. In einem solchen Fall von Stimulus-Generalisierung zu sprechen heißt nur, die Rätselhaftigkeit unter einem neuen Titel fortbestehen zu lassen. Diese Fähigkeiten weisen darauf hin, daß hier fundamentale Prozesse ganz unabhängig von der Rückwirkung aus der Umwelt wirksam sein müssen"33.

Skinners Verstärkungstheorie gelte nicht einmal für die Erklärung tierischen Verhaltens, denn sie lasse den „Beitrag der Organismen" unberücksichtigt und aufgrund dieses Mangels müsse die instrumentelle Lerntheorie umso mehr bei der Beschreibung sprachlichen Verhaltens und der Erklärung des Spracherwerbs scheitern. Kann schon die Erklärung der Entwicklung tierischer Verhaltensweisen nicht ohne die Annahme angeborener Mechanismen, die Verhaltensmöglichkeiten restriktiv bestimmen, auskommen, umso mehr ist die Erklärung des Spracherwerbs — ganz analog — auf die Annahme einer reichhaltigen angeborenen Ausstattung angewiesen. Eine Bestimmung des Spracherwerbsprozesses in diesem von ihm gesetzten Rahmen sieht Chomsky als gegenwärtig jedoch noch nicht möglich an — und zwar aus zwei Gründen: „Was den Spracherwerb betrifft, scheint klar zu sein, daß Verstärkung, zufällige Beobachtung und natürliche Wißbegierde (verbunden mit einer starken Nachahmungstendenz) wichtige Faktoren sind, wie auch die bemerkenswerte Fähigkeit des Kindes, zu generalisieren, Hypothesen zu bilden und „Informationen zu verarbeiten" und zwar auf eine Vielzahl sehr spezieller und offenbar äußerst komplexer Weisen, die wir noch nicht beschreiben können oder erst zu verstehen beginnen und die vielleicht zu einem großen Teil angeboren sind oder sich vielleicht durch eine Art von Lernen oder durch Reifung des Nervensystems entwickeln. Die Art und Weise, in der solche Faktoren beim Spracherwerb operieren und zusammenwirken, ist gänzlich unbekannt"

Die Wissenschaften der Psychologie, Neurophysiologie etc. haben Chomsky zufolge bislang noch keine relevanten Erkenntnisse über den Spracherwerbsprozeß vorlegen können. Zum ändern — und dies treffe insbesondere auf die instrumenteile Lerntheorie zu — seien solche Arbeiten über die Ursachen sprachlichen Verhaltens und das Erlernen einer Sprache hoffnungslos verfrüht, da der Charakter dieses Verhaltens und das, was gelernt werde, viel zu wenig bekannt sei. Priorität müsse also zunächst der Erklärung sprachlichen Verhaltens zukommen (wobei wir nochmals an Chomskys Vorentscheidung erinnern wollen, daß sprachlichem Verhalten wesentlich Fähigkeiten zugrundeliegen, die, wie 33 Chomsky, Skinner Review, S. 563 34 Chomsky, Skinner Review, S. 563; Chomsky versteht ,.generalisieren" hier nicht im behavioristischen bzw. empiristischen Sinn.

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Chomsky formuliert, „unabhängig von der Rückwirkung aus der Umwelt wirksam sein müssen"). Da auch diese Erklärung nicht durch die oben genannten Wissenschaften gegeben werden kann, solle wenigstens der Versuch unternommen werden, die in Frage stehenden Prozesse vollständig zu charakterisieren35. Diese Charakterisierung nimmt Chomsky nun vor, indem er sich auf rein sprachwissenschaftliche Einsichten bezieht, die innerhalb der generativ-transformationellen strukturalistischen Linguistik gewonnen wurden: die linguistische Beschreibung von Satzstrukturen wird als gesichert angenommen für eine Charakterisierung dessen, was ein Sprecher gelernt hat. Die Spracherwerbskonzeption der generativ-transformationellen Linguistik ist unseres Erachtens notwendiges Resultat dieser Annahme, wie wir im folgenden entwickeln wollen. „Es ist angemessen, die Grammatik einer Sprache L idealisiert als einen Mechanismus anzusehen, der eine Aufzählung der Sätze von L angenähert in der Weise liefert, in der eine deduktive Theorie eine Menge von Theoremen aufzählt („Grammatik" schließt in diesem Sinn des Wortes die Phonologic ein). Darüber hinaus kann die linguistische Theorie als eine Untersuchung der formalen Eigenschaften solcher Grammatiken betrachtet werden, und bei ausreichend präziser Formulierung kann diese allgemeine Theorie eine einheitliche Methode liefern, um, ausgehend vom Prozeß der Generierung eines gegebenen Satzes, eine strukturelle Beschreibung zu bestimmen, die beträchtliche Einsichten darüber vermitteln kann, wie dieser Satz verwendet und verstanden wird. Kurz, es sollte möglich sein, aus einer korrekt formulierten Grammatik eine Aussage über die integrativen Prozesse und generalisierten Muster abzuleiten, die den spezifischen Akten auferlegt sind, welche eine Äußerung konstituieren" .

Das beobachtbare sprachliche Verhalten (die Äußerungen) geht dabei in den Datenkomplex für die Analyse sprachlicher Strukturen (die sprachlichen „facts") ein. Die GTG, das Ergebnis dieser Analyse, soll Einsichten in die dem sprachlichen Verhalten wesentlich zugrundeliegenden Fähigkeiten vermitteln. Chomsky denkt insbesondere an die Fähigkeiten, die ein Sprecher besitzen muß, um Sätze von Nicht-Sätzen zu unterscheiden, neue Sätze zu produzieren und zu verstehen, sowie Ambiguitäten und Paraphrasen zu erkennen. So kann beispielsweise das Phänomen der neuen Sätze grundsätzlich nicht mehr (wie Skinner annahm) unter Bezug auf empirisch beobachtbare Regelmäßigkeiten erklärt werden: „In diesem Fall von Generalisierung zu sprechen, ist-gänzlich sinnlos und leer. Es scheint, daß wir eine neue Äußerung als Satz erkennen, nicht weil sie einer bekann-

35 Vgl. Chomsky, Skinner Review, S. 575f. Obwohl Chomsky in Anlehnung an Arbeiten aus dem Bereich der Verhaltensforschung auf die Notwendigkeit verweist, Prozesse des Zentralnervensystems in die Erklärung des Spracherwerbs miteinzubeziehen, bleibt diese Absichtserklärung für die folgende Argumentation ohne Konsequenzen. 36 Chomsky, Skinner Review, S. 576 118

ten Äußerung in irgendeiner einfachen Weise gleichkäme, sondern weil sie von der Grammatik generiert wird, die jeder Einzelne irgendwie und in irgendeiner Form internalisiert hat"31.

Sprachliche Fähigkeiten zu besitzen, bedeutet also für den kompetenten Sprachteilhaber, eine bestimmte Art von Grammatik internalisiert zu haben. Sprachliche Fähigkeiten zu beschreiben, bedeutet von der Perspektive des Linguisten aus, die GTG dieser Sprache zu konstruieren. Die Grammatik des Linguisten beschreibt die Grammatik des Sprechers, sie soll eine Theorie der internalisierten Grammatik sein; und zwar, wie Chomsky formuliert, charakterisiert sie auf abstrakte Weise die sprachlichen Fähigkeiten. Nach Chomsky ist mit „abstrakte Charakterisierung" impliziert, daß die GTG nicht tatsächliches sprachliches Verhalten beschreibt, sondern das „Wissen", das diesem zugrunde liegt; „abstrakte Charakterisierung" heißt, daß der Bezug von GTG und sprachlichen Fähigkeiten keine direkte Entsprechung bedeutet: der Sprecher produziert Sätze nicht so, wie die GTG sie erzeugt. Denn jemand, der etwas sagen will, wählt nicht die linguistische Kategorie „S", kommt dann zu „NP + VP" usf. schließlich zu den lexikalischen Einheiten, um anschließend zu verstehen, was er sagen will und dies, vermittelt über Transformationen, auch zu tun. Chomsky hat also nicht behauptet, der Sprecher habe in diesem Sinn die GTG, das hieße, die linguistischen Kategorien und Regeln im Zusammenhang ihrer Abfolge beim grammatischen Generierungsprozeß von Satzstrukturen, internalisiert (das gleiche gilt umgekehrt auch für den Hörer). So weit könnte die Analogie ohnehin nicht gedehnt werden, da man dadurch bereits im Bereich des sprachlichen Verhaltens wäre. Wie ein empirischer Sprecher bei der Produktion oder dem Verstehen von Äußerungen verfährt, ist nicht Gegenstand der GTG, sondern die allem Sprachverhalten zugrundeliegenden sprachlichen Fähigkeiten. Dieses unbeobachtbare „Wissen" mittels der GTG zu beschreiben heißt, eine Strukturanalogie zu postulieren zwischen der Grammatik, die jeder Sprecher internalisiert hat, und der GTG. In diesem Sinn ist die GTG die Form der sprachlichen Fähigkeiten und internalisiert. Sie ist das strukturisomorphe Modell sprachlichen „Wissens". Wir haben damit die entscheidende Wende für das Selbstverständnis der generativ-transformationellen Linguistik beschrieben. (Ihre Charakterisierung als „Cartesianische Linguistik" verdankt sich erst einer nachträglichen Interpretation, durch die die Chomskysche Linguistik in einen geistesgeschichtlichen Rahmen eingegliedert wurde.) Mit diesem Gegenstands-„Wechsel" von sprachlichen Strukturen zu sprachlichen Fähigkeiten wird die Theorie der GTG zu einer lerntheoretischen Konzeption. Denn Chomsky mußte nun die Frage beantworten: wie kann die internalisierte Grammatik vom Kind gelernt werden?

37 Chomsky, Skinner Review, S. 576; Hervorheb. F. M.

119

„Das Kind, das eine Sprache, erlernt, hat in einem gewissen Sinn für sich die Grammatik konstruiert auf der Basis seiner Beobachtung von Sätzen und Nicht-Sätzen (d. h. Korrekturen durch die Sprachgemeinschaft). Die Untersuchung der tatsächlichen, beobachteten Fähigkeit eines Sprechers, Sätze von Nicht-Sätzen zu unterscheiden, Ambiguitäten zu entdecken, etc., zwingt uns zu dem Schluß, daß diese Grammatik von äußerst komplexem und abstraktem Charakter ist, und daß das Kind etwas zustandegebracht hat, was, zumindest vom formalen Standpunkt aus, ein bemerkenswerter Typ von Theoriekonstruktion zu sein scheint. Desweiteren wird diese Aufgabe von allen Kindern in einer erstaunlich kurzen Zeit, in großem Umfang unabhängig von der Intelligenz und auf vergleichbare Weise ausgeführt. Jede Lerntheorie muß diesen Tatsachen Rechnung tragen. Es ist nicht leicht, die Ansicht zu akzeptieren, daß ein Kind in der Lage ist, einen äußerst komplexen Mechanismus zur Generierung einer Menge von Sätzen, von denen es erst einen Teil wirklich gehört hat, zu konstruieren; oder daß ein Erwachsener sofort bestimmen kann, ob (und wenn, wie) eine einzelne Lautfolge von diesem Mechanismus generiert wurde, der viele Eigenschaften einer abstrakten, deduktiven Theorie besitzt. Dennoch scheint dies die Performanz (d. h. das beobachtbare sprachliche Verhalten, F. M.) des Sprechers, Hörers und Sprachlerners angemessen zu beschreiben. Wenn dies korrekt ist, dann können wir schon jetzt sagen, daß ein direkter Versuch, das tatsächliche Verhalten von Sprecher, Hörer und Sprachlernendem zu erklären, der nicht auf einem vorgängigen Verständnis der Struktur von Grammatiken beruht, nur sehr begrenzten Erfolg haben wird. Die Grammatik muß als eine Komponente im Verhalten von Sprecher und Hörer betrachtet werden, auf die man nur, wie es Lashley formuliert hat, von den resultierenden physikalischen Akten schließen kann. Die Tatsache, daß alle normalen Kinder im wesentlichen vergleichbare Grammatiken von großer Kompliziertheit mit bemerkenswerter Schnelligkeit erwerben, weist darauf hin, daß die Menschen hierfür irgendwie mit einer datenverarbeitenden oder „hypothesenbildenden" Fähigkeit von unbekanntem Charakter und Kompliziertheit ausgestattet sind"38.

Die detaillierte Bestimmung dieser Fähigkeit scheint noch relativ offen gelassen. Überlegen wir, in welcher Richtung sie erfolgen kann, indem wir den zentralen Punkt von Chomskys Argumentation rekapitulieren. Für Chomsky hat jemand, der eine Sprache gelernt hat, die Grammatik dieser Sprache internalisiert. Diese Grammatik wird strukturell beschrieben als GTG. Chomsky nimmt als gesichert an, daß der kompetente Sprecher die GTG seiner Sprache gelernt hat. Wie aber kann das Kind durch die Beobachtung von Äußerungen — grammatischen und ungrammatischen — die tieferliegenden sprachlichen Strukturen erkennen? Wie kann es Tiefenstrukturen, Transformationen und rekursive Regeln in den sprachlichen Daten erkennen und selbst ausbilden, wenn diese Strukturen und Regeln grundsätzlich unbeobachtbar sind, weil sie eine nur mentale Realität besitzen? Die Fähigkeit, die unbeobachtbaren sprachlichen Größen im sprachlichen Material zu erkennen und die Regeln der Muttersprache zu erwerben, kann nicht durch eine (behavioristisch verstandene) Verallgemeinerung erfahrener sprachlicher Ähnlichkeiten und Regelmäßigkeiten 38 Chomsky, Skinner Review, S. 577; Hervorheb. F. M. 120

gelernt werden; also muß sie — so ist Chomskys Schlußfolgerung beschaffen — als der sprachlichen Erfahrung vorausliegend angenommen werden. Chomskys Konzeption der „angeborenen Ideen"39 ist eine notwendige Konsequenz der Annahme, daß jeder Sprecher die GTG seiner Sprache gelernt hat. Die nähere Bestimmung der angeborenen Sprachpotenz wird sich daraus ergeben, daß, von der Perspektive des Kindes aus gesehen, dieses potentiell in der Lage sein muß, die GTG jeder Sprache zu entwickeln und daher in einem bestimmten Umfang mit dem allen generativen Transformationsgrammatiken (im folgenden: GTGen) Gemeinsamen versehen sein muß. Chomsky beschließt die Kritik an Skinner mit dem Ausblick auf eine Lösung des Problems durch die Herstellung einer linguistischen Relation von sprachlichen Daten und GTG einer Sprache: „Die Untersuchung der Sprachstruktur mag schließlich zu einigen bedeutsamen Einsichten in diesen Gegenstand (die angeborene Ausstattung für den Spracherwerb, F. M.) führen. Im Augenblick kann diese Frage nicht ernsthaft gestellt werden, aber im Prinzip mag es möglich sein, zu bestimmen, wie die innere Struktur eines informationsverarbeitenden (hypothesenbildenden) Systems beschaffen sein muß, damit es von den verfügbaren Daten in der verfügbaren Zeit zur Grammatik einer Sprache gelangen kann"40.

6.

Die linguistische Theorie als Modell der angeborenen Sprachpotenz

In seinen folgenden Arbeiten versuchte Chomsky die Idee dieser Relation zu präzisieren. Die angeborene Sprachfähigkeit des Kindes soll bestimmt werden durch die Spezifizierung einer Funktion, die aus dem beobachtbaren empirischen Sprachmaterial (den sprachlichen Daten) die GTG dieser Sprache herstellt. Diese Relation hat Chomsky in die Form eines Input-Output-Modells gebracht und schematisch folgendermaßen dagestellt: utterances of L ->· |

| -» formalized grammar of L"

So gesehen ist die GTG einer Sprache das Ergebnis der Konfrontation des durch den Kasten symbolisierten Spracherwerbsmechanismus (LAD = language 39 Wir haben hier einen von Chomsky erst später eingeführten Terminus verwendet, mit dem sich Chomsky in die Tradition des Rationalismus stellt. Die Genesis der generativ-transformationellen Spracherwerbskonzeption ist u.E. jedoch zunächst ohne expliziten Bezug auf Chomskys ideengeschichtliches Selbstverständnis zu entwickeln. Chomskys Rückgriff auf die rationalistische Philosophie wird in III. 7 thematisiert. 40 Chomsky, Skinner Review, S. 577f. 41 Chomsky, Explanatory Models in Linguistics, in: E. Nagel, P. Suppes, A. Tarski (eds), Logic, Methodology and Philosophy of Science, Stanford, California 1962. S. 528550; hier: S. 530. 121

acquisition device) mit einzelsprachlichen Daten. Die Daten bestehen für das Kind etwa aus korrekten und abweichenden Sätzen, aus Informationen darüber (durch Korrekturen) und aus Wiederholungen. Ihre Bestimmung wird relativ lapidar vorgenommen — sind doch die relevanten sprachstrukturellen Merkmale in ihnen ohnehin nicht beobachtbar. Was auch immer eine Untersuchung dieser Daten enthüllen werde, „das Problem, einen universellen Spracherwerbsmechanismus zu konstruieren, kann erst dann klar formuliert werden, wenn wir die Eigenschaften der formalisierten Grammatik bestimmt haben, die sein Output sein muß"42.

Erinnern wir uns daran, daß Chomsky die linguistische Theorie als Beschreibung der allen natürlichen Sprachen gemeinsamen Merkmale versteht. Ihre einzelsprachliche Realisierung wird durch die jeweilige einzelsprachliche GTG beschrieben. Die linguistische Theorie wiederum ist Metatheorie der GTG, sie legt als „GTG überhaupt" die Form der einzelnen GTGen fest43. Die Eigenschaften einer GTG, z.B. der des Englischen, zu bestimmen, heißt also, die Art und Weise, in der diese GTG alle und nur die Sätze des Englischen rekursiv definiert und ihnen eine strukturelle Beschreibung44 gibt, aus der allgemeinen Bestimmung von GTG so abzuleiten, daß die GTG des Englischen als spezifische Realisierung der „GTG überhaupt" gilt. Die im Rahmen der linguistischen Theorie metatheoretisch reflektierten Konstruktionsprinzipien einer GTG betreffen vor allem die Form der Regeln, bestimmte Kategorialsymbole, generelle Transformationen sowie semantische und phonetische Universalien. Die linguistische Theorie soll insbesondere enthalten: ,,(i) eine universelle phonetische Theorie, die den Begriff „möglicher Satz" definiert (ii) eine Definition von „Struktur-Beschreibung" (iii) eine Definition von „generative Grammatik" (iv) eine Methode für die Bestimmung der Strukturbeschreibung eines Satzes bei gegebener Grammatik (v) ein Mittel zur Bewertung alternativer vorgeschlagener Grammatiken"45 42 Chomsky, Explanatory Models, S. 531 43 „In constructing particular grammars, the linguist leans heavily on a preconception of linguistic structure, and any general characterization of linguistic structure must show itself adequate to the description of each particular language". Chomsky, The Logical Structure of Linguistic Theory, MIT Library, Cambridge, Mass. 1955. S. 8. ' Eine vollständige strukturelle Beschreibung eines Satzes bzw. einer Kette umfaßt seine phonetische und semantische Repräsentation ebenso wie die Menge syntaktischer Strukturen, die jene Repräsentationen miteinander verbinden. Die Elemente der semantischen und phonetischen Repräsentationen sind in entsprechenden universellen Systemen zu definieren. Zur Rekursivität der GTG vgl. Kap. I. 2.4.2 45 Chomsky, Aspekte, S. 48; ebenso Chomsky, Explanatory Models, S. 534-37. 122

Diese ursprünglich rein sprachstrukturell verstandenen Einsichten erhalten nun eine sprachpsychologische Interpretation: Chomsky fuhrt die Annahme ein, daß der Spracherwerbsmechanismus wesentlich die linguistische Theorie „enthält". Dieses Verhältnis wird folgendermaßen bestimmt: „Eine solche allgemeine Theorie der Sprachstruktur würde auf diese Weise eine Erklärung eines hypothetischen Spracherwerbsmechanismus liefern und könnte daher als ein theoretisches Modell der geistigen Fähigkeiten betrachtet werden, die ein Kind zum Spracherwerb mitbringt"

Die linguistische Theorie soll also das Modell der angeborenen Sprachfähigkeit sein. Überlegen wir, welche immanente Notwendigkeit diese Argumentation Chomskys hat. Muß Chomsky — nachdem er behauptet hat, eine Sprache zu lernen bedeute wesentlich, die GTG dieser Sprache zu entwickeln — die linguistische Theorie als Form der angeborenen Sprachpotenz ausgeben oder ist diese Konsequenz willkürlich? Hätte Chomsky nicht auch die allen Menschen angeborene Sprachfähigkeit (was in dieser abstrakten Allgemeinheit formuliert sicher richtig ist) auf andere Weise bestimmen können? Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß Chomsky erklären muß, daß ein Kind die GTG jeder Sprache lernen kann und die GTG (zumindest) einer Sprache ausbildet, also wie das Kind dazu kommt, die GTG gerade der Sprache zu entwickeln, in der es aufwächst, und wie diese Entwicklung vor sich geht. Das Kind kann nichts mitbringen, was für die GTG nur einer bestimmten Sprache spezifisch wäre, es muß jedoch a priori schon ein „Vorwissen" von der GTG jeder Sprache besitzen, denn nur auf der Grundlage eines solchen „Wissens" kann es die unbeobachtbaren sprachlichen Größen im empirischen Sprachmaterial erkennen. Die Struktur dieses „Vorwissens" muß »reichhaltig* sein, dergestalt, daß die vom Kind entwickelte GTG als spezifische, einzelsprachliche Realisierung der „GTG überhaupt" oder Universalgrammatik gelten kann. Eben diese Voraussetzung des Spracherwerbs wurde ja als für den generativ-transformationell arbeitenden Linguisten verbindliche Konstruktionsbedingung aller GTGen metatheoretisch in der linguistischen Theorie reflektiert. Chomsky war also nur konsequent, insofern er die Struktur der angeborenen Ausstattung mit der linguistischen Theorie identifizierte. Nachdem einmal das Verfahren der Aufzählung und strukturellen Beschreibung aller und nur der Sätze einer natürlichen Sprache psychologisiert worden war, mußte Chomsky auch die Metatheorie dieses Verfahrens als psychologische Realität ausgeben, und nur auf diese Weise konnte die Lücke zwischen einzelsprachlichen Daten und GTG geschlossen werden. Die Anweisungen für 46 Chomsky, Explanatory Models, S. 535; vgl. nun auch die Reformulierung der fünf vorhin genannten Forderungen an die Sprachtheorie als Merkmale des Spracherwerbsmechanismus: Aspekte, S. 47; der Beginn ist sinngemäß zu lesen: „ein Kind, das fähig ist, die GTG seiner Muttersprache zu lernen, muß folgendes besitzen" 123

den Linguisten zur Konstruktion von Grammatiken werden nun auch interpretiert als „eingeborene" Anweisungen, denen das Kind bei der Konstruktion der GTG seiner Muttersprache folgt. Zwar ist das angeborene Schema erst in Grundzügen bekannt, seine Details sind noch nicht genügend spezifiziert worden - denn es liegt noch keine Metatheorie der GTGen vor, die man als abgeschlossen ansehen könnte — zwischen der Aufgabe, die allgemeinen Bedingungen für die Konstruktion (und Bewertung) der GTGen aller natürlichen Sprachen anzugeben und die angeborene Ausstattung des Kindes für den Spracherwerb zu spezifizieren, besteht jedoch kein grundsätzlicher Unterschied mehr. (Dies gilt auch für eine Fülle experimenteller Arbeiten, die auf der Basis der Konzeption der GTG versuchen, den Spracherwerbsvorgang in seiner zeitlichen Erstreckung zu erfassen.) Linguist und Kind müssen die gleiche Entdeckungsleistung vollbringen. Das Kind hat hierfür schon eine „Sprache" zur Verfügung: den kategorialen und formalen Apparat des Linguisten, der beiden gestatten soll, die GTG der jeweiligen Sprache zu ermitteln. Die von Vertretern der generativ-transformationellen Linguistik postulierte Analogie zwischen Linguist und Kind ist Resultat der Psychologisierung der linguistischen Theorie, die ihrerseits notwendig wurde durch die Behauptung, eine Sprache zu lernen bedeute wesentlich, die GTG dieser Sprache zu entwickeln. Daß die in der Form der linguistischen Theorie begriffene Voraussetzung des Spracherwerbs dem Kind vor jeder sprachlichen Erfahrung zur Verfügung stehen muß, verdankt sich, wie schon erwähnt, dem Status der unbeobachtbaren sprachlichen Strukturen und Regeln, ihrer nur mentalen Realität. Sie können vom Kind nicht im sprachlichen Material beobachtet und nicht durch (induktive) Generalisierung empirischer Regelmäßigkeiten entwickelt werden. Mit seiner Lösung der Spracherwerbsproblematik aber bleibt Chomsky trotz seiner Ablehnung des Empirismus (und Behaviorismus) dem empiristischen Erfahrungsbegriff ex negative verpflichtet. Die Frage des Spracherwerbs stellt sich für Chomsky alternativ: was ein Kind im sprachlichen Material entdecken oder aus ihm abstrahierend gewinnen kann, ist entweder Ergebnis induktiver Generalisierung beobachteter Einzelheiten und ihres regelmäßigen Zusammenhangs (eine Position, die Chomsky ablehnt, da eine solche Generalisierungsfähigkeit grundsätzlich nicht ausreicht, um das bei jedem kompetenten Sprecher vorhandene „Wissen" von Sprache und seine Herausbildung zu« erklären) oder aber es ist Ergebnis des Tätigwerdens von Fähigkeiten, die, da sie nicht auf empiristischem oder behavioristischem Weg sich bilden, sich überhaupt nicht in und durch Erfahrung bilden, sondern als a priori vorliegende, rein geistige Potenz begriffen werden müssen47. Die geistigen Potenzen bedürfen lediglich des Anstoßes aus der Umwelt, um selbsttätig die Grammatik der jeweiligen Sprache zu entfalten. 47 Die Frage nach dem Status des Trägeis der Vorbedingungen des Spracherwerbs hat Chomsky von einer nativistischen Position aus zu beantworten versucht: die Spracher124

Der Gedanke der selbsttätigen Entfaltung — die unvermittelte Alternative zur Konditionierungstheorie des Spracherwerbs — läßt es nicht mehr zu, die produktive Aneignung der Realität als das konstitutive Moment bei der Aneignung sprachlicher Fähigkeiten zu sehen. Für eine Spracherwerbskonzeption, die sich auf einen autonomen Selbstentfaltungsprozeß rein geistiger Potenzen festgelegt hat, kann kein konstitutiver Zusammenhang zwischen sprachlicher und gesellschaftlich gültiger Regelhaftigkeit bestehen; letztere kann allenfalls ein Epiphänomen der reinen geistigen Strukturen sein. Wir wollen uns nun, Chomskys Anlehnung an die Geistesgeschichte folgend, nochmals der Frage nach der Notwendigkeit für die Annahme rein geistiger Fähigkeiten zuwenden. 7.

Eingeborene Ideen und linguistische Theorie

Die Plausibilität der generativ-transformationellen Spracherwerbskonzeption hat Chomsky im Zuge seines Rückgriffs auf die rationalistische Philosophie, insbesondere auf erkenntnistheoretische Ansätze innerhalb des Cartesianismus48 zu legitimieren versucht. Ebenso wie die Erkenntnis notwendiger Wahrheiten ihren logischen Ursprung nicht in der sinnlichen Wahrnehmung haben soll (ein Statement des Rationalismus gegen die empiristische Position), so soll das Erlernen der Muttersprache nicht auf der Grundlage empiristischer oder behavioris tische r Lernprinzipien möglich sein49. Hierfür stützt sich Chomsky häufig auf folgende Aussage von Rene Descartes: werbspotenz ist als genetisches Programm konzipiert. Inwieweit die geistigen Fähigkeiten durch physiologische Gegebenheiten erklärt werden können oder sollen, ist für Chomsky noch nicht abschließend festzustellen. Zuweilen scheint ihm jedoch ein reduktionistischer Ansatz dieser Art vorzuschweben. Vgl. etwa Chomsky, Sprache und Geist, Frankfurt am Main 1970. S. 158-161. 48 Um einer partiellen Äquivokation vorzubeugen sei hier erwähnt, daß Chomsky in seiner Arbeit „Cartesianische Linguistik" mit diesem Begriff nicht nur auf die rationalistische Philosophie und Sprachtheorie im Umkreis von Descartes zielt, sondern auch auf sprachtheoretische Positionen bis hin zur Romantik und insbesondere auf Wilhelm von Humboldt. 49 Chomsky weist des öfteren darauf hin, daß sich Behaviorismus und traditioneller Empirismus in einem wichtigen Punkt unterscheiden: „Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum die meisten behavioristischen Strömungen als Spielarten des Empirismus angesehen werden sollten, da ihnen - im Unterschied zum klassischen Empirismus - jegliches Interesse an mentalen Prozessen oder Fähigkeiten ... abgeht". Chomsky, Aspekte, S. 256. Versuchte der traditionelle Empirismus nach dem Prius der sinnlichen Wahrnehmung die Verstandesbildung, die Bildung der Bewußtseinsinhalte zu erklären, so werden besonders in der behavioristischen Konzeption Skinners Momente des Verstandes überhaupt nicht mehr eigens reflektiert. „Nihil ist in intellectu, quod non fuerit in sensu", dieser Satz charakterisiert die empiristische Position. In Bezug auf Skinner läßt sich sagen: über die als beobachtbares Verhalten operationalisierbaren Momente hinaus ist „nihil in intellectu". Vgl. auch Kap. III. 3 und III. 4.2; wir werden im folgenden etwas vereinfachend verfahren und nicht detailliert zwischen Behaviorismus und Empirismus unterscheiden. 125

„Und ebenso, als wir einst zum ersten Male in der Jugend die Darstellung einer dreieckigen Figur auf einem Blatt erblickten, konnte jene Figur uns nicht belehren, wie ein wirkliches Dreieck, wie es von den Geometern betrachtet wird, aufzufassen sei, weil es nicht anders in ihm enthalten war, als wie eine Merkurgestalt in grobem Holzschnitt. Aber weil schon vorher in uns die Idee eines wahren Dreiecks vorhanden war und sie von unserem Geiste leichter als die stärker zusammengesetzte Figur des gezeichneten Dreiecks erfaßt werden konnte, daher begriffen wir beim Anblick jener Zusammengesetzen Figur nicht sie selbst, sondern vielmehr das wahre Dreieck"... „So könnten wir sicher auch das geometrische Dreieck aus dem, das auf dem Blatte gezeichnet ist, nicht erkennen, wenn unser Geist nicht seine Idee aus anderer Quelle besäße"80.

Die Idee eines Dreiecks oder die Idee einer Geraden kann ihre Quelle nicht in der sinnlichen Wahrnehmung haben („aber auch nicht ein einziges Mal ist der geringste Teil einer Linie, die wirklich gerade wäre, für unsere Sinne wahrnehmbar"51), und die Wahrheit eines geometrischen Lehrsatzes — z.B. daß die Winkelsumme im Dreieck gleich zwei rechten Winkeln ist — wird nicht auf der Grundlage einer besonderen Figur bewiesen. Ihre Gültigkeit läßt sich also weder empirisch begründen noch ihre Allgemeinheit durch induktive Verallgemeinerung gewinnen; und das gilt ebenso für die Wahrheit der ersten Prinzipien. Geometrische Lehrsätze beanspruchen eine Realität, die in der sinnlichen Erfahrung nie vollkommen eingeholt werden kann — es sind ideale Gesetzmäßigkeiten von idealen Figuren; und zwar gelten diese Lehrsätze von idealen Figuren mit Notwendigkeit. Die notwendigen Wahrheiten (und dies ist nicht nur auf die Geometrie oder Mathematik beschränkt) sind für den Rationalismus im Prinzip des Denkens, in der Vernunft begründet. Der Vernunft allein kommt Gewißheit vor der sinnlichen Erfahrung zu — beide Erkenntnisquellen sind jedoch im Rationalismus sowohl wie im Empirismus nicht in sich selbst vermittelt52 . Zwar können die Sinne das Deutlichwerden bestimmter Ideen und notwendiger Wahrheiten zu einem bestimmten Zeitpunkt veranlassen, sie sind jedoch nicht der „Ursprung" (d. h. der Rechtsgrund) dieser Ideen und der von ihnen abhängenden notwendigen Wahrheiten. Auf diesen Sachverhalt zielt der zu jener Zeit ganz gebräuchliche Terminus der „eingeborenen Ideen", der keineswegs im physiologischen Sinn und auch nicht im Sinn eines aktuellen 50 Rene Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übersetzt und herausgegeben von Artur Buchenau, Hamburg 1972. S. 349f. 51 Descartes, Meditationen mit den Einwänden und Erwiderungen, S. 349. 52 Auf Differenzierungen, die innerhalb des Rationalismus, insbesondere auch von Leibniz entwickelt worden sind, können wir hier nicht eingehen - Interessierte seien auf die instruktive Monographie von Hans Heinz Holz, Leibniz, Stuttgart 1958 verwiesen - ebensowenig wie wir im folgenden den Stellenwert der „eingeborenen Ideen" für die jeweiligen rationalistischen Ansätze entwickeln werden. Wir sind uns auch bewußt, daß wir ziemlich .summarisch von „dem" Empirismus sprechen. Ein detaillierterer Einstieg in die Kontroverse Empirismus - Rationalismus kann u. E. jedoch nicht der Sinn dieser Einführung sein.

126

Vorhandenseins bestimmter Gedanken verstanden werden darf, so als ob er auf biologisch vorgegebene Strukturen bzw. Qualitäten oder auf empirisch aufweisbare Bewußtseinsinhalte zielte, die an aktuelle Denkakte gebunden wären. „Eingeborene Ideen" bedeutet dem Rationalismus zufolge, daß die Vernunft oder der Geist gleichsam sich selbst eingeboren ist; d. h. der Geist ist sich selbst immanent, er besitzt seine Prinzipien in und durch sich selbst: er allein ist der Rechtsgrund seiner Bestimmungen und nicht die sinnliche Wahrnehmung. Die Kontroverse mit dem Empirismus ist von der Seite des Rationalismus daher auch nicht um das Problem zentriert, in welcher Abfolge, sei es im onto- oder phylogenetischen Sinn, die Menschen veranlaßt wurden, bestimmte Ideen und Wahrheiten eher als andere zu bilden. Mit Leibniz gesprochen handelt es sich nicht um eine „Geschichte unserer Entdeckungen", also nicht um faktische Erfahrungen und den Verlauf empirischer Aneignungsprozesse, sondern um die davon unabhängigen Prinzipien der Ideen und notwendigen Wahrheiten. Diese Prinzipien sollen als logisches Erstes im Sinn eines archimedischen Punktes dem empirischen, historisch zufälligen Verlauf der Bildung der Erkenntnisse zugrundeliegen. Noam Chomsky hat in seinem Rückgriff auf die rationalistische Philosophie den erkenntnistheoretischen und den lernpsychologischen Gesichtspunkt im wesentlichen identisch gesetzt. In Anlehnung an diese philosophischen Konzeptionen konnte Chomsky nochmals das Problem thematisieren, das insbesondere die behavioristische Sprachpsychologie nicht gelöst hatte, nämlich den Charakter der Sprachkenntnis und ihren Erwerb zu erklären. (Chomskys Angriff trifft gleichzeitig auch den taxonomischen Strukturalismus, der ja, obwohl er nicht primär auf eine Erklärung sprachlicher Fähigkeiten abzielte, den Sprechern nur das Verfahren unterstellen konnte, das er selbst bei der Ermittlung von Sprachstrukturen anzuwenden glaubte: die Beobachtung des empirischen Miteinandervorkommens von klassifizierbaren sprachlichen Elementen und die darauf angewendete induktive Verallgemeinerung sollte schon zur Beschreibung der Strukturen einer Sprache hinreichen.) Vor allem der behavioristischen Sprachpsychologie gegenüber hat Chomsky das geistige Moment aller sprachlichen Prozesse in den Vordergrund gerückt: die bloße Wahrnehmung der empirisch vorhandenen Äußerungen (im Zusammenhang mit induktiven Verallgemeinerungsprinzipien) wäre nie hinreichend, um die Strukturen einer Sprache ganz erfassen zu können (abgesehen davon, daß der von Chomsky kritisierte Behaviorismus ohnehin im objektivistischen Rahmen verfährt und Wahrnehmungen, Generalisierungsleistungen, generell alle Bewußtseinsprozesse als beobachtbares Verhalten operationalisiert und an sich nur bedingt unter die Kontroverse zwischen klassischem Empirismus und Rationalismus zu subsumieren ist). Die sinnliche Wahrnehmung empirisch vorkommender sprachlicher Regelmäßigkeiten wäre nur der Anlaß, das Wissen von den notwendigen strukturellen Wahrheiten einer Einzelsprache zu bilden, nicht jedoch die Ursache. Die notwendigen Wahrheiten einer Sprache müssen Chomsky zufolge 127

auf rein geistige Prinzipien gegründet sein, da die Sinne stets nur Beispiele liefern können. Wenn wir einmal davon absehen, daß auch von Chomsky Geistiges und sinnliche Wahrnehmung bzw. Verhalten antithetisch gedacht bleiben — was sich besonders in der Dichotomie von Sprachkompetenz und Sprachperformanz zeigt — so konnte Chomsky in seiner Anlehnung an die geistesgeschichtliche Tradition nochmals zu Bewußtsein bringen, daß mit der Sprache der Bereich der Unmittelbarkeit immer schon verlassen ist. Der Allgemeinheit der Sprache und des Denkens kann weder eine empiristische noch eine behavioristische Sprachkonzeption gerecht werden, da sich die Allgemeinheit nicht auf der Basis des bloßen Einzelnen, das unmittelbar gegeben sein soll, erfassen läßt. Chomsky hat zu Recht ein geistiges Prinzip für die Sprache geltend gemacht — wenn auch dieses Prinzip als autonomes gedacht wird. Nun würde die von Chomsky vorgenommene Identifizierung von Lerntheorie und der Theorie einzelsprachlicher Fähigkeiten im Hinblick darauf, was als denknotwendige, a priorische Bedingung sprachlicher Kenntnisse angesehen werden muß, im Sinne des Rationalismus berechtigt sein. Wenn wir uns dies wieder am Beispiel der Geometrie — deren Verfahren in Einheit mit der Mathematik für den Rationalismus das bevorzugte Modell wahrer Erkenntnis darstellt — verdeutlichen, dann können wir festhalten, daß es in dieser Hinsicht sicherlich gleichgültig ist, ob wir zum ersten Mal ein gezeichnetes Dreieck wahrnehmen und die Idee des wahren Dreiecks bilden, oder ob wir, wenn wir bereits im Besitz dieser Idee sind, zum hundertsten Mal ein gezeichnetes Dreieck wahrnehmen und diese Idee bilden. Es geht nicht um psychologische Prozesse, wie sie in beiden Fällen unterschiedlich stattfinden mögen, sondern um einen denknotwendigen Bezugspunkt im Rahmen der Begründung der Gültigkeit von Wahrheiten. Dieser Bezugspunkt muß im Sinn a priorischer Bedingungen gedacht werden, ohne selbst empirisch bestätigt oder widerlegt werden zu können. Zwar besitzt dieser Bezugspunkt Gültigkeit auch in Hinsicht auf empirisch-psychologische Prozesse, seine Denknotwendigkeit kann jedoch nicht durch Bezug auf Gesetzmäßigkeiten psychologischer oder neurophysiologischer Abläufe begründet werden — dies hieße, auf der Grundlage eines „psychologistischen Vorurteils" zu argumentieren. Chomsky dagegen konzipiert die a priorischen Bedingungen linguistischer Erkenntnis (und die Bedingungen des Spracherwerbs) als Inhalt empirisch überprüfbarer Hypothesen. (Wir müssen uns hier wieder der Mehrdeutigkeit linguistischer Begriffe bewußt sein, in diesem Zusammenhang besonders des Begriffs „linguistische Theorie", der die Theorie des Spracherwerbs und die für den Linguisten verbindlichen allgemeinen Konstruktionsbedingungen generativer Transformationsgrammatiken bezeichnet.) Die Spracherwerbstheorie wird unter Abstraktion von linguistisch »irrelevanten4 Faktoren als ein Modell der sich faktisch vollziehenden Spracherwerbsprozesse verstanden, das empirischer Überprüfung zugänglich sein soll. Die a priorischen Voraussetzungen linguistischer Erkenntnis werden von Chomsky dergestalt thematisiert, daß ihre Wahrheit 128

nicht durch Argumente a priori, sondern durch empirische Evidenz zu sichern ist53; und zwar werden diese Voraussetzungen über den Weg ihrer Psychologisierung als faktisch empirischer Gegenstand (der angeborene Spracherwerbsmechanismus) gewonnen. Damit hat sich auch der Sinn des Konzepts der „eingeborenen Ideen" verändert. Sie sind in der Konzeption der generativtransformationellen Linguistik in ein empirisches Faktum transformiert worden. Sie gelten als (genetisch determinierte) anthrophologische Vorbedingung des Spracherwerbs, ohne daß im Rahmen des linguistischen Strukturalismus noch die kritische Reflexion auf die Konstitutionsbedingungen der linguistischen Erkenntnis möglich wäre54. Wir können an dieser Stelle anknüpfen an den im Kap. II dargestellten „erkenntnistheoretischen Idealismus" und seine wissenschaftspolitische Funktion. Nachdem Sprachfähigkeit als ein Vermögen von der Struktur der jeweiligen einzelsprachlichen GTG bestimmt wurde, konnte unter Sprachlernfähigkeit nur die Potenz verstanden werden, die zur Aneignung dieser »internalisierten' Grammatik angenommen werden muß. Die linguistische Theorie, in der der Linguist die Konstruktionsbedingungen jeder GTG metatheoretisch reflektiert, wurde zur genetischen Ausstattung des Menschen für den Spracherwerb erklärt. Die Sprachlernfähigkeit ist nun die Fähigkeit, über die linguistische Theorie, als Bedingung für den Erwerb der Grammatik der Muttersprache zu verfügen. Folglich muß die linguistische Theorie die adäquate Repräsentation dieser Fähigkeit sein. Der kategoriale und formale Apparat der Linguistik, d. h. das Wissen des Linguisten darüber, wie die GTG jeder Sprache aussehen soll, ist sich selbst zum Gegenstand geworden in Gestalt eines genetisch determinierten autonomen Selbstenfaltungsprozesses. Das mentalistisch gewendete Selbst-

53 Es soll hier zumindest erwähnt werden, daß Chomsky in dieser Hinsicht nicht die Position des klassischen Rationalismus (und zwar nicht nur wegen der Forderung nach empirischer Evidenz) vertritt, sondern sich an den durch Karl R. Popper inaugurierten sogenannten „kritischen Rationalismus" anzuschließen versucht: nicht die (absolute) Wahrheit von Vernunftsätzen soll bewiesen werden, sondern eine hypothetische (relative) Wahrheit gilt solange als bestätigt, bis sie durch eines der auf Falsifikation abzielenden sogenannten „entscheidenen Experimente" .endlich' falsifiziert worden ist. 54 Wir wollen hier die Probleme, die sich aus Chomskys Anspruch ergeben, a priorische Bedingungen der linguistischen Erkenntnis als empirisch überprüfbar in die Theorie der GTG selbst einzubringen, nicht weiter in Hinsicht auf ihre erkenntnistheoretische und gegenstandskonstitutive Bedeutung diskutieren. Vgl. etwa Karl-Otto Apel, Noam Chomskys Sprachtheorie und die Philosophie der Gegenwart. Eine wissenschaftstheoretische Fallstudie, in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt am Main 1973. S. 264-310; bes. S. 271-77. Diese Arbeit Apels ist abgedruckt auch in: Marlis Gerhardt (Hrsg), Linguistik und Sprachphilosophie, München 1974. S. 87-140. Arbeiten zu Chomskys Anlehnung an die rationalistische Philosophie finden sich in: Sidney Hook (ed), Language and Philosophy, New York 1969. S. 51-220. 129

Verständnis der generativ-transformationellen Linguistik zu einer Spracherwerbskonzeption hat die Funktion, die im vorigen Kapitel aufgezeigte Immunisierung strukturalistischer Arbeitsweise durch eine zweite Dogmatisierung zu vollenden.

130

IV. Kapitel

Generative Transformationsgrammatik und Wissenschaftsentwicklung: Anmerkungen zu einer internen und externen Geschichte sprachbezogener Forschung Manfred Kohrt

l.

Wissenschaftliche Forschung und Forschung über Wissenschaft

Nicht zuletzt auch in den Augen derer, die selbst Wissenschaft betreiben, vollzieht sich der Wissenschaftsprozeß, d.h. Gewinnung und Verbreitung, Aneignung und Revision wissenschaftlicher Erkenntnis im allgemeinen völlig unproblematisch, gleichsam als naturhaftes Ereignis. Diese Einschätzung wird u. a. auch in der Begriffswahl deutlich, wo man sich zur Kennzeichnung wissenschaftlicher Entwicklung gern des Wortes von den wissenschaftlichen Strömungen' bedient. Daß die Reflexion in der Wissenschaft selbst reflexiv sich richtet, daß sie die Voraussetzungen und Bedingungen, denen sie als organisierter und institutionalisierter Erkenntniserwerb unterliegt, zu ihrem eigenen Thema macht, ist für den Fachwissenschaftler, dessen Fragestellungen eingebunden bleiben in den speziellen Problemkreis seiner Disziplin, durchaus nicht selbstverständlich. Akzeptiert wird die Reflexion auf Wissenschaft am ehesten dort, wo sie geeignet scheint, künftige Forschungspraxis methodologisch zu leiten — wenn es hingegen um Wissenschaft als gesellschaftlich organisierte Erkenntnistätigkeit geht, wenn Inhalt und institutioneller Rahmen einer bestimmten Disziplin auf dem Hintergrund der jeweiligen Gesellschaftsformation analysiert werden sollen, so ist der Fachwissenschaftler zumindest geneigt, derartige Problemstellungen aus seiner eigenen Disziplin zu verbannen. Entweder wird die eigene Zuständigkeit (oder gar die Zuständigkeit der Wissenschaft überhaupt) für solche Fragen geleugnet oder man beeilt sich, diese Probleme einer gesonderten, außerhalb der Fachwissenschaft liegenden Disziplin zuzuschieben, einer Wissenschaftswissenschaft' als institutionalisierter Wissenschaftsforschung. Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, daß der Verzicht auf die Reflexion der die eigene Tätigkeit bestimmenden Bedingungen tendenziell zu einer sinnentleerten wissenschaftlichen Praxis führt; die Forderung, Forschung über Wissenschaft (auch) im Rahmen der Einzeldisziplinen zu betreiben, ist somit unverzichtbar. Der Gedanke einer umfassenden wissenschaftlichen Untersuchung der Wissenschaft selbst ist relativ neueren Datums. Als Ausgangspunkt einer übergreifenden Reflexion auf Wissenschaft sieht man im allgemeinen den zuerst 1936 erschienenen programmatischen Entwurf von Ossowska und Ossowski über

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„Die Wissenschaft von der Wissenschaft" an 1 , in dem die Autoren zunächst zwei Hauptgesichtspunkte unterscheiden, „denen sich alle Untersuchungen auf dem Gebiet der Wissenschaft von der Wissenschaft unterordnen lassen: Der Forscher interessiert sich für die Wissenschaft entweder als Weg zur Erkenntnis der Welt oder als Bereich der menschlichen Kultur"2. Der erste dieser Gesichtspunkte ist dabei alles andere als neu, denn das Interesse an der Wissenschaft als Weg zur Erkenntnis der Welt ist so alt wie die Wissenschaft selbst. Neu hingegen ist das Interesse an der Wissenschaft als einem Bereich der menschlichen Kultur: „Es leitet sich teilweise aus der Geschichtsforschung ab, teilweise wurde es durch die Entwicklung der modernen Soziologie hervorgerufen und teilweise ist es auf praktische Bedürfnisse (das Problem der Förderung und Organisation der Wissenschaft) zurückzuführen"3. Auf diesen zweiten Gesichtspunkt wollen wir im folgenden genauer eingehen; was den wissenschaftsoder erkenntnistheoretischen Aspekt anbelangt, so ist er bereits in den beiden vorausgehenden Kapiteln ausführlich berücksichtigt worden. Die Wissenschaftswissenschaft', die der oben angeführte klassische Aufsatz zur Wissenschaftsforschung begründen half, hat man im folgenden noch genauer zu bestimmen versucht. Dabei hat man sie immer wieder als multidisziplinäre Bindestrich-Wissenschaft fassen wollen, zum einen anhand von Teildisziplinen wie Wissenschafts-Soziologie, Wissenschafts-Psychologie, etc., zum anderen anhand der von ihr vornehmlich zu untersuchenden Teilbereiche wie Wissenschafts-Organisation, Wissenschafts-Geschichte, etc. In der letzten Zeit ist aber auch versucht worden, die Wissenschaftswissenschaft von den sie leitenden Fragestellungen her zu bestimmen: Wenn man Spiegel-Rösing folgt, so sind die zentralen Fragen der Wissenschaftsforschung diejenigen, die „die Bedingungen der Wissenschaftsentwicklung und die Bedingungen ihrer Steuerbarkeit auf verschiedene Ziele"4 betreffen. Das erkenntnisleitende Interesse wäre hier also das an der Verfügbarmachung des Wissenschaftsprozesses; der Maßstab dafür, in welchem Maße die Wissenschaftsforschung ihren Gegenstand beherrscht, wäre durch die effektive Steuerung des Wissenschaftsprozesses auf Verschiedene' Ziele hin gegeben. Die Forschung über Wissenschaft gerät hier nurmehr als Datenlieferant für die Wissenschaftsplanung ins Blickfeld, und die gesetzte Beliebigkeit der Zielvorstellung impliziert eine Gleichgültigkeit gegenüber der inhaltlichen Bestimmung wissenschaftlicher Arbeit, der wir uns hier keinesfalls anschließen können. Zwar sehen auch wir die Frage nach den 1 Maria Ossowska und Stanislaw Ossowski, The Science of Science, in: Organen l (1936), 1-12, im folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung „Die Wissenschaft von der Wissenschaft" in: Helmut Krauch, Werner Kunz und Horst Kittel (Hrsg), Forschungsplanung, München und Wien 1966, S. 11—21. 2 ebd., S. 11 3 ebd., S. 12 4 I. Spiegel-Rösing, Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftssteuerung, Frankfurt 1973, S. 12.

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Bedingungen der wissenschaftlichen Entwicklung als zentral an, aber die Erörterung dieser Bedingungen soll vor allem ein reflektierteres Verhältnis zur eigenen wissenschaftlichen Praxis fördern, einer Praxis, die es als gewordene und als in gesellschaftlicher Abhängigkeit stehende zu begreifen gilt. Bei der Analyse wissenschaftlicher Entwicklung ist es weitgehend üblich, zwischen einer internen und einer externen Betrachtungsweise zu unterscheiden5. Die interne Geschichte einer wissenschaftlichen Disziplin kümmert sich nicht um mögliche gesellschaftliche Einflüsse auf die Entwicklung dieses Fachs; es geht allein um eine Nachzeichnung des fortschreitenden Erkenntniserwerbs, der Problemverschiebungen in diesem Gebiet. Man versucht, eine immanente Entwicklungslogik der wissenschaftlichen Anschauungen in dieser Disziplin aufzudecken und berücksichtigt dabei bestenfalls noch die besonderen Interaktionsformen, die zwischen den betreffenden Fachwissenschaftlern als Mitgliedern ein und derselben Wissenschaftler-Gemeinschaft (scientific community) zu beobachten sind. Die externe Geschichte einer Wissenschaft.legt hingegen besonderes Gewicht auf die Einflüsse, denen die betreffende Disziplin von ,außen' her ausgesetzt ist, sei es etwa durch bestimmte zur Lösung anstehende Probleme, für deren Bewältigung die in Frage stehende Wissenschaft mehr oder minder direkt eingesetzt wird, sei es durch gewisse herrschende Weltanschauungen, die die Fachleute dazu bringen, den Problemhorizont ihrer Disziplin auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu definieren. Die externe Geschichte der Wissenschaft versucht also, die gesamte Vielfalt der Beziehungen von Wissenschaft und Gesellschaft in die Analyse der wissenschaftlichen Entwicklung einzubringen. „Im normalen Gebrauch der Historiker ist die interne Geschichte diejenige, die sich in erster Linie oder ausschließlich mit den berufsmäßigen Tätigkeiten der Mitglieder einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft befaßt: Was für Theorien behaupten sie? Was für Experimente stellen sie an? Wie wirken diese beiden aufeinander ein, so daß Neues entsteht? Die externe Geschichte dagegen betrachtet die Beziehungen zwischen solchen wissenschaftlichen Gemeinschaften und der weiteren Kultur. Die Bedeutung sich wandernder religiöser oder wirtschaftlicher Traditionen für die Entwicklung der Wissenschaft, ebenso wie das Umgekehrte, gehören somit zur externen Geschichte"6. Im folgenden wollen wir genauer auf den Stellenwert eingehen, der der generativen Transformationsgrammatik im Rahmen einer Entwicklungsgeschichte derjenigen Disziplinen zukommt, die .Sprache' als ihren Forschungsgegenstand betrachten. Dabei soll zunächst auf Probleme bei der Rekonstruktion einer internen Entwicklungsgeschichte eingegangen werden; danach soll versucht 5 Die folgenden Ausführungen schließen in etwa an das an, was Thomas S. Kühn über den Unterschied zwischen „interner" und „externer" Wissenschaftsgeschichte geschrieben hat [vgl. Thomas S. Kühn, Science: The History of Science, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, London 1968, Bd. 14, S. 74-83]. 6 Thomas S. Kühn, Anmerkungen zu Lakatos, in: Werner Diederich (Hrsg), Theorien der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt 1974, S. 120-134, hier: S. 124f.

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werden, einige Punkte zu notieren, die für die Einschätzung der generativen Transformationsgrammatik vom externen Standpunkt aus von Bedeutung sind. Dieses Vorhaben bringt allerdings eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich. Diese Schwierigkeiten betreffen zum einen das Verhältnis dieses Kapitels zu den vorausgehenden, in denen nicht versucht wurde, systematisch und detailliert Informationen zum Verlauf der Wissenschaftsgeschichte bereitzustellen, auf die hier Bezug genommen werden könnte. Dies ist ein Manko, das jedoch auch nur unzureichend durch den Rekurs auf andere, mehr wissenschaftshistorisch ausgerichtete Arbeiten7 auszugleichen wäre, da auch die bislang vorliegenden Werke dieser Richtung zumeist mehr Lehrbuchcharakter8 besitzen und zu einer internen und externen Geschichte sprachwissenschaftlicher Forschung selten mehr als sporadische und oberflächliche Andeutungen zu bieten haben. Und dies ist auch nicht allzu verwunderlich, denn die Diskussion in der allgemeinen Wissenschaftsforschung ist bisher noch nicht soweit fortgeschritten, daß klare Muster für die Notierung und Gewichtung der Faktoren bereitgestellt worden wären, auf die sich eine Rekonstruktion der wissenschaftlichen Entwicklung in einem bestimmten Fachgebiet beziehen könnte. Wir sind uns so des fragmentarischen Charakters der folgenden Ausführungen durchaus bewußt, die nicht zuletzt dazu anregen sollen, sich mit den bis heute sträflich vernachlässigten Fragen einer Entwicklungsgeschichte sprachwissenschaftlicher Forschung genauer zu beschäftigen.

2.

Zu einer internen Wissenschaftsgeschichte der modernen Linguistik: Generative Transformationsgrammatik im Rahmen von »normaler Wissenschaft' und .wissenschaftlicher Revolution'

In seiner grundlegenden Arbeit „The Structure of Scientific Revolutions"9 hat sich Thomas S. Kühn entschieden gegen die allgemein verbreitete Vorstellung gewandt, daß die wissenschaftliche Entwicklung generell durch ein fortwährendes Anwachsen von Wissen gekennzeichnet sei10. Gegen die Kontinuität, die diese Interpretation der Wissenschaftsgeschichte als eines kumulativen Prozesses beschwört, setzt Kühn in seiner Analyse die Diskontinuität: In seinen 7 Vgl. z.B. Gerhard Heibig, Geschichte der neueren Sprachwissenschaft, München 1971. 8 Vgl. dazu Thomas S. Kühn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967, S. 17ff. 9 Thomas S. Kühn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962 (wir zitieren in dieser Arbeit nach der in der vorigen Anmerkung genannten deutschen Übersetzung) 10 Die Idee des Fortschritts aufgrund kumulativen Wissenserwerbs ist seit der Aufklärung immer wieder vertreten worden; sehr ausführlich dargelegt wird dieser Gedanke in der Spätaufklärung vom Marquis de Condorcet (Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain, 1794 [deutsch-französische Neuausgabe: Frankfurt 1963]).

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Augen ist die Entwicklung der Wissenschaft maßgeblich durch ,Brüche' bestimmt, nämlich durch sogenannte „wissenschaftliche Revolutionen", die jeweils Perioden „normaler Wissenschaft" ablösen und qualitativ verwandeln. Wenn wir nun im folgenden genauer auf das von Kühn gezeichnete Bild einer ungleichmäßigen wissenschaftlichen Entwicklung eingehen, so geschieht das vornehmlich aus zwei Gründen. Zum einen hat das oben genannte Buch seit seinem erstmaligen Erscheinen im Jahre 1962 die Diskussion im Bereich von Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie maßgeblich beeinflußt11; zum anderen aber wird Kuhns Analyse der Wissenschaftsentwicklung in der letzten Zeit auch immer häufiger angeführt, wenn es speziell um die Geschichte der (modernen) Sprachwissenschaft geht. Vor allem von Anhängern und Interpreten der generativen Transformationsgrammatik werden die Kuhnschen Thesen übernommen, wenn es darum geht, die Stellung dieses Grammatikmodells in der Geschichte der neueren Linguistik genauer zu kennzeichenen. Das Aufkommen der generativen Transformationsgrammatik wird als revolutionäre Wende innerhalb der Sprachwissenschaft verstanden, die sogar ihren eigenen Namen trägt: Das Wort von der „Chomskyschen Revolution"12 in der Linguistik ist mittlerweile zum Schlagwort geworden. Eines der Paradebeispiele Kuhns für wissenschaftliche Revolutionen ist der Wechsel von der ptolomäischen zur kopernikianischen Astronomie, und analog dazu wird von einer „kopernikianischen Wende" in der neueren Sprachwissenschaft gesprochen, die die generative Transformationsgrammatik mit sich gebracht haben soll13.

2.1.

Paradigma und Paradigmenwechsel

Wir wollen unsere Darstellung der Kuhnschen Analyse mit der Frage beginnen, was denn eigentlich die sogenannte „normale" Wissenschaft ausmacht; nur auf diesem Hintergrund kann deutlich werden, was der komplementäre Begriff der „wissenschaftlichen Revolution" zum Inhalt hat. Perioden normaler Wissenschaft sind laut Kühn dadurch gekennzeichnet, daß die Angehörigen einer bestimmten Wissenschaftler-Gemeinschaft — oder, wie wir hier zunächst vereinfacht sagen können, die Vertreter einer bestimmten Fachwissenschaft14 — ein gemeinsames Vorverständnis teilen, was ihre wissenschaftliche Praxis anbelangt. Ihre Forschung ist durch ein bei jedem aufweisbares Raster von Ein11 So nennt z. B. Wolfgang Stegmüller die Arbeit Kuhns „die größte existierende Herausforderung an die gegenwärtige Wissenschaftstheorie" (Wolfgang Stegmüller, Theoriendynamik und logisches Verständnis, in: Werner Diederichs (Hrsg), Theorien der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt 1974, S. 167-209, hier: S. 167). 12 Vgl. z.B. John Lyons, Noam Chomsky, München 1971, S. 9. 13 So etwa bei Emmon Bach, Linguistique structurelle et philosophic des sciences, in: Emile Beneviste et al., Problemes du langage, Paris 1966, S. 117-136, hier: S. 130. 14 Vgl. dazu die Erörterungen in Abschnitt 2.3. unten. 135

Stellungen und Überzeugungen geprägt, die die spezifische Struktur des zu bearbeitenden Forschungsgegenstandes betreffen. Dieses Raster determiniert, was überhaupt als legitimes Problem im Bereich dieser Wissenschaft zu gelten hat, wie bei Problemlösungsversuchen methodisch vorzugehen ist, was als annehmbare Lösung für ein bestimmtes Problem angesehen werden kann und was nicht, etc. Die Gesamtheit dieser Vorstellungen, die die wissenschaftliche Praxis der betreffenden Gemeinschaft von Wissenschaftlern bestimmen, faßt Kühn unter dem Begriff des „Paradigmas". Die normale Wissenschaft ist also eine ,Paradigma-geleitete' Wissenschaft. Das Ziel der normalen Wissenschaft besteht nun keinesfalls darin, das vorgegebene Paradigma zu überprüfen und es möglicherweise in Frage zu stellen; in der Paradigma-geleiteten Wissenschaft bleibt das Problem der Gültigkeit des Paradigmas selbst außerhalb des Rahmens möglicher Fragestellungen. Die Routine wissenschaftlichen Arbeitens erschöpft sich vielmehr in der Auseinandersetzung mit „Rätseln", wie Kühn es nennt; dabei gilt es, bestimmte festumrissene Probleme mit Hilfe der durch das Paradigma gesetzten Regeln für mögliche Lösungsstrategien und mögliche Lösungen erfolgreich zu bearbeiten. Bestenfalls führt die Forschung in Perioden normaler Wissenschaft zu Präzisierungen des Paradigmas (und nicht allein zu einer Demonstration seiner Nützlichkeit für die Bearbeitung bestimmter Phänomene); auf keinen Fall aber tastet sie die grundsätzliche Geltung des Paradigmas an, innerhalb dessen sie sich bewegt. Kühn zufolge kann man die Praxis der normalen Wissenschaft auch „als Versuch [betrachten], die Natur in die vorgeformte und relativ starre Schublade, welche das Paradigma darstellt, hineinzuzwängen"15. Der ,Rätsellöser' der Paradigma-geleiteten Wissenschaft konzentriert dabei seine Bemühungen vor allem auf die Bereiche, wo bereits abzusehen ist, daß die Dinge in die ,Schublade' des Paradigmas hineinpassen werden, auf Fälle also, wo nicht das ,ob', sondern allein das ,wie' sich als Problem stellt. Durch diese Vorgehensweise bleiben all die Phänomene, die — um im Bild zu bleiben — zu ,sperrig' sind, um ohne weiteres in die Schublade zu passen, weitestgehend außer Betracht. Dennoch kommt es immer wieder vor, daß sich der Forscher bei seiner Paradigma-geleiteten Praxis mit einem bestimmten ,etwas' konfrontiert sieht, das nicht in den die normale Wissenschaft kennzeichnenden Erwartungshorizont eingeht; in diesem Fall wird er zunächst versuchen, das Paradigma zu präzisieren, d. h. es so umzugestalten, daß die mehr grundsätzlichen Vorstellungen des Paradigmas möglichst unangetastet bleiben. Häufen sich nun aber die Anomalien, denen nur durch eine fortschreitende Umgestaltung des Paradigmas Rechnung getragen werden kann, und/oder wird die Absorption einer oder mehrerer Anomalien für unbefriedigend gehalten, so kann es innerhalb der Wissenschaftler-Gemeinschaft zu einer „Krise" kommen. Gekennzeichnet 15 Kühn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 45. 136

ist die Krise vor allem durch eine Wucherung von Erklärungsansätzen, die sich allesamt bemühen, die nun ins allgemeine Bewußtsein gerückten Anomalien in das Paradigma zu integrieren. Der zu beobachtende Wildwuchs unterschiedlichster Paradigmapräzisierungen aber bringt eine Aufweichung der Regeln der normalen Wissenschaft mit sich, und das „Unvermögen [...], für die Rätsel der normalen Wissenschaft die erwartete Auflösung zu finden"16, führt zu allgemeiner Unsicherheit. In diesem Stadium der Desorientiertheit tendiert die Wissenschaftler-Gemeinschaft im besonderen auch dazu, die Grundlagen ihrer Wissenschaft selbst zu thematisieren: Wissenschafts-theoretische Grundsatzdebatten sollen das gebrochene Selbstverständnis wiederherstellen. Das Bewußtsein der Krise, die einer relativ unproblematischen Periode normaler Wissenschaft ein Ende setzt, ist die notwendige Voraussetzung für das Auftauchen neuer Theorien, für einen ,Paradigmenwechser, für eine wissenschaftliche Revolution. Nach Kühn ist der „fortlaufende Übergang von einem Paradigma zu einem anderen auf dem Wege der Revolution [...] das übliche Entwicklungsschema einer reifen Wissenschaft"17. Alle Krisen enden damit, daß ein neuer Paradigma-Anwärter erscheint, der im folgenden um seine Anerkennung kämpft, nämlich um seine Anerkennung als forschungsleitendes Raster für eine neue Periode normaler Wissenschaft. Das neue Paradigma ist dabei grundsätzlich von seinem Vorgänger, den es ablösen will, geschieden: „Der Übergang von einem krisenhaften Paradigma zu einem neuen, aus dem eine neue Tradition der normalen Wissenschaft hervorgehen kann, ist weit von einem kumulativen Prozeß entfernt, wie ihn eine Präzisierung oder eine Ausdehnung des alten Paradigmas darstellen würde. Es ist vielmehr der Neuaufbau des Gebietes auf neuen Grundlagen, ein Neuaufbau, der einige der elementarsten theoretischen Verallgemeinerungen des Gebiets wie auch viele seiner Paradigmamethoden und -anwendungen verändert"18. Wahrend Kühn an dieser Stelle nur davon spricht, daß „einige" der grundlegendsten theoretischen Sätze und „viele" der Methoden und Anwendungen durch den Wechsel verändert würden (was doch eine partielle Identität von altem und neuem Paradigma zu implizieren scheint), so nimmt er im folgenden einen sehr viel radikaleren Standpunkt ein: Die Gegensätze zwischen aufeinanderfolgenden Paradigmata seien „ebenso notwendig wie unversöhnbar"19, und die Wahl zwischen konkurrierenden Paradigmata sei „eine Wahl zwischen unvereinbaren Lebensweisen der Gemeinschaft"20.

16 ebd., S. 98 17 ebd., S. 31. Unter einer „reifen" Wissenschaft versteht Kühn ein Fachgebiet, daß zumindest sein erstes Paradigma erworben hat (ebd., S. 30); auf die mit dem Konzept der „Reife" einer Wissenschaft verbundenen Probleme werden wir weiter unten noch genauer einzugehen haben. 18 ebd., S. 119 19 ebd. S. 142. 20 ebd., S. 130

137

Für Kühn sind die unterschiedlichen Paradigmata oft sogar unvergleichbar21, da sie die Wissenschaftler dazu bringen, ihr Forschungsgebiet vollkommen anders zu betrachten. Mit dem Übergang von einem Paradigma zum anderen verschiebt sich das gesamte Beziehungsgeflecht von Faktum und Theorie. Nicht allein das theoretische Konstrukt, das zur Erklärung der relevanten Tatsachen dienen soll, ist jeweils verschieden, sondern auch die Tatsachen selbst verändern sich: Da das Begriffssystem des neuen Paradigmas auch die Wahrnehmung auf neue Art und Weise steuert, taucht der Wissenschaftler gleichsam in eine neue Welt ein22. Wie vollzieht sich nun der Übergang von einem Paradigma zum anderen? Welches sind die Mechanismen, die die Debatte bestimmen, wenn zwischen zwei miteinander konkurrierenden Paradigmata entschieden werden soll? Ein Paradigma hat sich durchgesetzt, wenn es von der betreffenden Wissenschaftler-Gemeinschaft allgemein akzeptiert ist. Wie aber kommt die Gemeinschaft (oder zumindest der Großteil ihrer Mitglieder) dazu, das alte, in Mißkredit geratene Paradigma aufzugeben und in ihrer künftigen Praxis dem neuen zu folgen? Das Problem liegt dabei vor allem darin begründet, daß die beiden Paradigmata — wie wir oben gesehen haben — in vielen Fällen unvergleichbar sind; die durch das eine Paradigma konstituierte Welt unterscheidet sich vollkommen von der, die durch das andere gebildet wird. Da die Wahrnehmung selbst Paradigma-geleitet ist, können die zur Wahl stehenden Paradigmata nicht insoweit verglichen werden, als sie vielleicht einen größeren oder kleineren Teil von Fakten, die in einer Paradigma-neutralen Beobachtungssprache formuliert wären, erklären würden. Der Vorzug des einen Paradigmas über das andere kann somit nicht bewiesen, sondern nur durch Argumente (denen im günstigen Fall Überzeugungskraft innewohnt) plausibel gemacht werden. Der Übertritt zu einem neuen Paradigma kann sich auf keinerlei Gewißheit gründen, daß es in künftiger Forschungspraxis erfolgreicher sein wird als das alte; es trägt zunächst nicht mehr als eine Erfolgsverheißung in sich, und die Mitglieder der Wissenschaftler-Gemeinschaft konvertieren mehr aus dem Glauben heraus, daß das neue Paradigma ,besser' sei. Konzentrieren nun die ersten Konvertiten ihre Arbeit vollständig auf das neue Paradigma, das sich in der Forschungspraxis zuvor ja noch kaum bewähren konnte, so erweisen ihre Arbeiten zunehmend die Fähigkeit des Paradigmas, die Forschungstätigkeit sinnvoll zu lenken. Daraufhin schließen sich weitere Angehörige der Wissen21 „Die normalwissenschaftliche Tradition, die aus einer wissenschaftlichen Revolution hervorgeht, ist mit dem Vorangegangenen nicht nur unvereinbar, sondern oft auch tatsächlich nicht vergleichbar", (ebd., S. 142) In der Diskussion der Thesen Kuhns ist inzwischen immer wieder darauf hingewiesen worden, daß in dieser Aussage ein Widerspruch verborgen ist: denn wie kann etwas mit einem anderen unvereinbar sein, wenn sich beide nicht einmal vergleichen lassen? Wir können hier auf dieses Problem nicht weiter eingehen. 22 Vgl. dazu ebd., S. 151-180.

138

schaftler-Gemeinschaft dem neuen Paradigma an, bis schließlich die gesamte Gemeinschaft diesem neuen Forschungsraster folgt23. Die revolutionäre Phase geht so in eine neue Periode normaler Wissenschaft über. Dies wäre also in groben Umrissen das Bild, das Kühn in seiner Arbeit über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen vom Gange der Wissenschaftsgeschichte zeichnet. Mit dem Erwerb des ersten forschungsleitenden Rasters tritt die in Frage stehende Fachwissenschaft aus der vorparadigmatischen in ihre paradigmatische Phase über — sie wird zu einer ,reifen' Wissenschaft. Die paradigmatische Phase ist durch aufeinander folgende, verschiedene Perioden normaler Wissenschaft gekennzeichnet, und der Wechsel von einer dieser Perioden zur anderen kommt durch wissenschaftliche Revolutionen zustande. Wir werden uns nun zu fragen haben, inwieweit die Entwicklung der neueren Linguistik mit diesem Schema in Einklang zu bringen ist - inwieweit insbesondere das Aufkommen der generativen Transformationsgrammatik als wissenschaftliche Revolution gefaßt werden kann.

2.2.

Das Aufkommen der generativen Transformationsgrammatik als wissenschaftliche Revolution

Weiter oben hatten wir bereits darauf hingewiesen, daß bei den Wissenschaftlern, die sich in der letzten Zeit mit der Entwicklungsgeschichte der modernen Linguistik beschäftigt haben, eine starke Tendenz dazu besteht, den Aufstieg der generativen Transformationsgrammatik als wissenschaftliche Revolution im Kuhnschen Sinne zu deuten. Der bekannte Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Stegmüller empfiehlt sogar, die „ .Revolution Chomskys' als Modellbeispiel für das [von Kühn ausgearbeitete] Schema revolutionärer wissenschaftlicher Veränderungen heranzuziehen"24. In diesem Zusammenhang bezieht er sich u. a. auf einen Aufsatz von John R. Searle, der den bezeichnenden Titel „Chomskys Revolution in der Linguistik" trägt 25 . Wir wollen hier einen kurzen Passus aus dieser letzteren Arbeit zitieren, der u. E. recht gut demonstriert, wie das Schema Kuhns in den meisten einschlägigen Veröffentlichungen auf die Entwicklung in der neueren Linguistik übertragen wird. „Seine (Chomskys) Revolution entsprach ziemlich genau dem allgemeinen Muster, das in Thomas Kuhns Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen beschrieben wird: das akzeptierte Modell oder .Paradigma' der Linguistik wurde, zum großen Teil 23 Die Schwierigkeiten mit den letzten .Unbekehrbaren' lösen sich einfach auf biologische Weise: die alte Forschergeneration stirbt aus. 24 Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. II, Stuttgart 1975, S. 34. 25 John R. Searle, Chomskys Revolution in der Linguistik, in: Günther Grewendorf und Georg Meggle (Hrsg), Linguistik und Philosophie, Frankfurt 1974, S. 404-438.

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durch Chomskys Arbeiten, mit einer zunehmenden Anzahl unterminierender Gegenbeispiele und widerspenstigen Daten konfrontiert, mit denen das Paradigma nicht fertigwerden konnte. Die Gegenbeispiele führten Chomsky schließlich dazu, das alte Modell ganz und gar zu verwerfen und ein völlig neues zu schaffen"2 .

Was Searle zufolge die Interpretation stützen soll, daß der Aufstieg der generativen Transformationsgrammatik als wissenschaftliche Revolution zu verstehen ist, schließt jedoch gerade die Möglichkeit aus, überhaupt von einer Revolution im Sinne Kuhns zu sprechen; ein genaueres Hinsehen zeigt, daß die Schilderung Searles nicht im geringsten mit dem von Kühn gesetzten Rahmen in Einklang zu bringen ist. Zunächst einmal ist ein Paradigma nicht allein ein ,Modeir im Sinne einer wissenschaftlich idealisierenden Konstruktion, die Momente einer Bezugswirklichkeit (des Modelloriginals) abbildet, sondern das Paradigma umfaßt — und darauf legt Kühn in seiner Darstellung besonderen Wert — gleichermaßen eine Menge von Meinungen, Sichtweisen und Überzeugungen einer bestimmten Wissenschaftler-Gemeinschaft in einer Periode normaler Wissenschaft27. Wichtiger als dieser Punkt ist jedoch der folgende; der zentrale Begriff ist dabei der des .unterminierenden Gegenbeispiels'. Searles Darstellung entspricht nämlich nicht der Analyse, die Kühn vom Verlauf der wissenschaftlichen Entwicklung bietet, sondern vielmehr einer anderen Konzeption, gegen die sich Kühn immer wieder vehement ausgesprochen hat: der des wissenschaftlichen Fortschritts durch die fortschreitende Eliminierung falsifizierter Theorien. Diese Konzeption wurde von Karl Popper begründet; sie kann grob wie folgt dargestellt werden: ,Als Grundprinzip der empirischen Wissenschaften gilt, daß sie Theorien aufstellen, die an der Erfahrung scheitern können. Wichtigste Aufgabe des Wissenschaftlers (genauer gesagt: erst dies macht sein Tun im strengen Maße wissenschaftlich) ist es nun, eine einmal aufgestellte Theorie, die einen gewissen Bereich an Fakten erklärt, zu falsifizieren, d. h. sie mit Sätzen über empirische Tatbestände zu konfrontieren, die aus der Theorie nicht ableitbar sind. Gibt es somit ein Faktum, das die Theorie nicht zu erklären vermag (also ein .Gegenbeispiel'), so ist die Theorie als falsifiziert anzusehen und muß durch ein neues theoretisches Konstrukt abge- . löst werden, das u. a. auch eben dieses Faktum zu erklären vermag. Über die fortschreitende Ausschaltung falsifizierter Theorien nähert sich der Wissenschaftler so immer mehr der Wahrheit.' Gegen diese Interpretation der wissenschaft26 ebd., S. 405. 27 Vgl. dazu Abschnitt 2.1. Sicher gibt es bei Kühn Stellen, die ein Ineinssetzen von .Modell' und .Paradigma' verständlich machen (vgl. dazu Kühn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 71); ebenfalls sicher aber ist, daß der Paradigma-Begriff demgegenüber noch mehr umfaßt. (Zu einer z. T. vielleicht überspitzten, zweifellos aber in vielem durchaus nicht unberechtigten Kritik der Vieldeutigkeit dieses Begriffs vgl. Margaret Masterman, The Nature of a Paradigm, in: Imre Lakatos und Alan Musgrave (Hrsg), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970, S. 59-89.)

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liehen Entwicklung hat Kühn ganz entschieden Stellung genommen: „Kein bisher durch das historische Studium der wissenschaftlichen Entwicklung aufgedeckter Prozeß hat irgendeine Ähnlichkeit mit der methodologischen Schablone der Falsifikation durch unmittelbaren Vergleich mit der Natur"28. Für ihn ist die „Entscheidung, ein Paradigma abzulehnen, [...] immer gleichzeitig auch die Entscheidung ein anderes anzunehmen"29. Es gibt also keine .Gegenbeispiele' in dem von Kühn skizzierten Rahmen, sondern nur Anomalien in Bezug auf ein bestimmtes Paradigma. Daß Chomsky das alte Paradigma (nämlich das des taxonomischen Strukturalismus) zunächst durch Gegenbeispiele falsifizierte, um im Anschluß daran ein neues zu schaffen (so die Darstellung Searles), läßt sich keinesfalls mit dem Kuhnschen Konzept vereinbaren, in dem die Verwerfung eines Paradigmas zur selben Zeit das Akzeptieren eines anderen einschließt. Das obige Beispiel ist u. E. typisch für die Art und Weise, in der die Begriffe Kuhns verwandt werden, wenn es um die Entwicklungsgeschichte der Linguistik geht. So selten, wie die Versuche sind, das Kuhnsche Schema wirklich konsequent auf die Geschichte der modernen Linguistik zu beziehen30, so häufig sind die Arbeiten, in denen die grundsätzlichen Termini wie Paradigma' oder .Revolution' in sehr oberflächlicher Weise verwendet werden. Der Verweis auf Kühn hat dabei zumeist nurmehr Alibifunktion, und man ist genauso leicht bereit, andere wichtige Begriffe der Kuhnschen Analyse als den gerade zu eigenen Zwecken passenden zu ignorieren, wie man sich nicht scheut, die Metaphorik des Revolutionsbegriffes in einer Art und Weise auszubeuten, die mit der Verwendung dieses Terminus im Original nicht mehr das geringste zu tun hat31. Diese unzulässige Ausweitung findet ihr Pendant in einer restriktiven Interpretation der zentralen Begriffe Kuhns in vielen Arbeiten, wo in der Verkürzung das Wesentliche verlorengeht32. Im folgenden soll versucht werden zu zeigen, wie der Aufstieg der generativen Transformationsgrammatik u. E. sinnvoll als Paradigmenwechsel im 28 Kühn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 110. 29 ebd., S. 11 Of. 30 Die bislang wohl sorgfältigste Interpretation des Aufstiegs der generativen Transformationsgrammatik als Paradigma-Wechsel findet sich bei Manfred Geier, Linguistischer Strukturalismus als Sprachkompetenztheorie, Diss. Marburg 1973, S. 281-318. 31 Dies betrifft z. B. die Konstruktion einer Konterrevolution', die mit dem System Kuhns überhaupt nicht zu vereinbaren ist. (Vgl. etwa Ray C. Dougherty, Generative Semantics Methods: A Bloomfieldian Counterrevolution, mimeo, 1972 [Indiana University Linguistics Club] sowie Jerrold J. Katz und Thomas G. Bever, The Fall and Rise of Empiricism, mimeo 1974 [Indiana University Linguistics Club], S. 3f. 32 So erklärt z. B. Figge, daß ein bestimmtes Paradigma in der Geschichte der Linguistik ,in zwei Hypothesen besteht' (Udo Figge, Geschichte der Linguistik, in: Walter A. Koch (Hrsg), Perspektiven der Linguistik, Bd. II, Stuttgart 1974, S. 178-189, hier: S. 182f.). Figge verwendet .Hypothese' offensichtlich synonym mit .unüberprüfbare Grundannahme', so daß hier noch ein anderes Mißverständnis vorliegt als bei Searles Identifikation von .Paradigma' und .Modell'.

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Kuhnschen Sinne interpretiert werden kann; wir werden uns dabei auf einige Beispiele beschränken müssen. Gleichzeitig aber geht es uns darum zu verdeutlichen, welche Probleme die Anwendung der Analyse Kuhns auf die Geschichte der neueren Linguistik aufwirft. Folgerungen, die daraus gezogen werden müssen, werden uns dann im Abschnitt 2.3. noch weiter beschäftigen. Im Abschnitt 2.1. ist ausgeführt worden, daß es solange zu keinem Paradigmenwechsel, d. h. zu einer wissenschaftlichen Revolution kommen kann, wie das Paradigma, das die zunächst betriebene normale Wissenschaft bestimmt, die auftretenden problematischen Phänomene in befriedigender Weise zu erklären vermag. Grundvoraussetzung für eine mögliche Revolution ist also zunächst einmal das Auftreten von Anomalien, die sich gegen eine Erklärung im Rahmen des betreffenden forschungsleitenden Rasters sperren. Das in unserem Fall wichtige Paradigma ist das des ,taxonomischen Strukturalismus', das die sprachwissenschaftliche Forschung in den Vereinigten Staaten zumindest bis zum Ende der 50er Jahre bestimmte und das dann durch das transformationsgrammatische Paradigma ,abgelöst' wurde. Bevor wir genauer auf die Anomalien eingehen, die das Paradigma des taxonomischen Strukturalismus diskreditierten, wollen wir uns kurz an einem Beispiel verdeutlichen, daß es sich bei den beiden hier zur Diskussion stehenden Forschungsrichtungen tatsächlich um unterschiedliche Paradigmata handelt. Ein Paradigma bestimmt — so wurde in 2.1. u.a. gesagt —, was denn überhaupt als legitimes wissenschaftliches Problem gelten kann, wie bei Problemlösungsversuchen vorzugehen ist und was als annehmbare Lösung für ein bestimmtes Problem angesehen werden kann. In bezug auf all diese Punkte kann man den taxonomischen Strukturalismus mit der generativen Transformationsgrammatik in Kontrast stellen. Die Existenz bestimmter syntaktischer Ambiguitäten wie etwa beim Genitivus subiectivus und Genitivus obiectivus gilt im Bereich der Transformationsgrammatik als linguistisches Problem33, nicht jedoch im Rahmen des taxonomischen Strukturalismus. Die Vertreter der generativen Transformationsgrammatik folgen bei ihren Problemlösungsversuchen einem bestimmten heuristischen Verfahren, das vor allem durch Paraphrasenbildung ausgezeichnet ist34— ein Verfahren, das für den Taxonomen keinerlei Geltung besitzt. Und letztlich unterscheiden sich die beiden Richtungen auch in bezug auf die von ihnen akzeptierten Rätsellösungen. Sowohl für den taxonomischen Strukturalismus als auch für die generative Transformationsgrammatik gilt die Ambiguität eines Satzes wie (1) als ,Rätsel'. (1)

Alte Männer und Frauen schwatzen.

33 Vgl. dazu Kap. I, 3.1.1. 34 Vgl. dazu Kap. I, 3.5. 142

Die strukturalistische Lösung dieses Rätsels sieht so aus, daß für die Kette in (1) zwei verschiedene Konstituentenstrukturen aufgestellt werden 35 .

__^^

(2) .^^^^ alte

schwatzen ^^"X\ Männer und Frauen

(3)

^. ^^i\ -^""^

schwatzen

und Frauen

alte Männer

Diese Rätsellösung wird in der GTG nicht akzeptiert, denn — so argumentiert man dort — sie läßt völlig außer acht, daß (1) in der einen Interpretation mit (4), in der anderen mit (5) synonym ist. (4) (5)

Alte Männer schwatzen, und alte Frauen schwatzen. Alte Männer schwatzen, und Frauen schwatzen.

Das Rätsel der Ambiguität von (1) ist hier gebunden an das Rätsel der Synonymität von (1) und (4) einerseits und von (1) und (5) andererseits, und eine annehmbare Lösung muß diese Rätsel gemeinsam klären: durch das Aufstellen zweier unterschiedlicher Tiefenstrukturen, aus denen zum einen (1) und (4), zum anderen (1) und (5) transformationeil hergeleitet werden. Welches aber waren nun die Anomalien, die das taxonomische Paradigma diskreditierten? Der allgemeinen Auffassung nach 36 waren es vor allem37 35 Vgl. dazu z.B. Rulon S. Wells, Immediate Constituents, in: Language 23 (1947), S. 81-117. 36 Bisweilen werden in der wissenschaftlichen Literatur allerdings auch recht krause Deutungen angeboten, was die hier relevanten Anomalien anbelangt - z. B. wenn Imhasly meint, eine der Anomalien sei die „Loslösung der Sprachwissenschaft von jeder psychologischen Relevanz ihres Objekts" gewesen (Bernd Imhasly, Der Begriff der sprachlichen Kreativität in der neueren Linguistik, Tübingen 1974, S. 6 Iff., hier insbesondere S. 64). 37 „This paradigm failed to provide an adequate framework for explaining such phenomena as syntactic ambiguity, grammatical relations, ellipsis, agreement, stress, con-

143

Fälle von struktureller Mehrdeutigkeit, bei deren Behandlung dieses Paradigma versagte, also Fälle, wie sie durch die Sätze in (6) exemplifiziert werden38. (6)

a. The shooting of the hunters was terrible, b. Flying planes can be dangerous.

In solchen Fällen war die Mehrdeutigkeit nicht durch die Zuweisung verschiedener Konstituentenstrukturen (wie bei (1)) aufzulösen, wenn man im Rahmen des taxonomischen Strukturalismus verblieb; in diesem Paradigma konnte den Sätzen (6-a) und (6-b) nur jeweils eine Konstituentenstruktur beigegeben werden. Die Unfähigkeit des Paradigmas, bei diesen Problemen für eine befriedigende Erklärung zu sorgen, führte nun (nach Meinung der Interpreten der Wissenschaftsgeschichte) zu einer Krise: „Die Anomalie mehrdeutiger Sätze mit identischer Struktur war mehr als lediglich ein weiteres Rätsel innerhalb der normalen Wissenschaft. Das taxonomische Paradigma war selbst in eine Krise geraten. [...] Die Krise ließ sich nicht (wenn sie nicht chronisch werden sollte) durch eine bloße Erweiterung des wissenschaftlichen Spielraums oder eine Präzisierung des Paradigmas lösen. Sie erforderte eine grundsätzliche, nicht-kumulative Paradigmaveränderung"39. Das Bewußtsein der Krise, hervorgerufen durch die Entdeckung anomaler Mehrdeutigkeiten, führte also schließlich zu einem Paradigmenwechsel, zu einer wissenschaftlichen Revolution, bei der das taxonomische Paradigma durch das generativ-transformationelle abgelöst wurde. Es scheint somit, als ließe sich das Aufkommen der GTG ohne Schwierigkeiten als wissenschaftliche Revolution fassen, als folge die Linguistik genau dem Entwicklungsschema, das Kühn für ,reife' Wissenschaften als charakteristisch ansah. Dennoch gibt es einige Punkte, die gewisse Zweifel an der Richtigkeit dieser Analyse aufkommen lassen. Da ist zunächst einmal die ,Krise', in die das taxonomische Paradigma nach Meinung der Interpreten geraten sein soll. Von einem „Bewußtsein der Krise, das für die Neuerung überhaupt verantwortlich"40 war, kann in bezug auf die Anhänger des taxonomischen Paradigmas wohl kaum gesprochen werden; es gab auch keinerlei „Wucherung von Versionen einer Theorie [,die] ein typisches Symptom einer Krise"41 ist. Für die Behandlung von Mehrdeutigkeiten galt das, was Kühn allgemein als

38 39 40 41

stituent equivalences, etc." (Katz und Bever, Empiricism, S. 1) Man beachte, daß das Problem mehrdeutiger Sätze hier an erster Stelle genannt wird; bei Geier werden anomale strukturelle Mehrdeutigkeiten als die Ursachen für die Krise des taxonomischen Paradigmas gedeutet (vgl. Geier, Linguistischer Strukturalismus, S. 293f.). Dies sind zwei der bekanntesten Beispiele Chomskys (vgl. Noam Chomsky, Syntactic Structures, The Hague 1957, S. 88 etc.) Geier, Linguistischer Strukturalismus, S. 294. Kühn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 108. ebd., S. lOlf. 144

charakteristisch für die Arbeit der normalen Wissenschaft beschrieben hat: daß man sich nämlich auf die Bearbeitung der tatsächlich lösbaren Probleme (der .Rätsel') konzentrierte und daß man Probleme, die das Paradigma in Frage stellen könnten, mehr oder minder unwillkürlich außer acht ließ42. Daß strukturelle Mehrdeutigkeiten wie in (6) für die Anhänger des taxonomischen Strukturalismus tatsächlich kein Problem darstellten (geschweige denn zu einer Krise führen konnten), illustriert vielleicht am besten die Antwort von Strukturalisten auf Chomskys Vorschlag, solche Ambiguitäten transformationell zu erklären. Sie stellten durchaus nicht in Frage, daß Sätze wie in (6) wirklich ambig sind - was sie hingegen in Abrede stellten, war die Zuständigkeit der Linguistik für die Erklärung solcher Mehrdeutigkeiten43. Daß bestimmte Sätze mit nur einer Struktur verschieden interpretiert werden können, wird als rein kognitives Faktum angesehen; als .kognitives' (und eben nicht als .sprachliches') erheischt dieses Faktum keine linguistische Erklärung, sondern eine Erklärung im Rahmen einer außerlinguistischen Wissenschaft, die sich mit menschlicher Realitätsaneignung und menschlichem Wissen beschäftigt. Wenn also das Bewußtsein einer Krise Vorausbedingung für eine wissenschaftliche Revolution ist, dann wird man wohl kaum von einer .Chomskyschen Revolution' sprechen können. Es gibt aber noch weitere Punkte, die den Zweifel nähren, ob in dem hier zu diskutierenden Fall tatsächlich eine wissenschaftliche Revolution stattgefunden hat. Kühn unterscheidet nämlich zwischen der .reifen' Wissenschaft, in der der Paradigmenwechsel die wissenschaftliche Entwicklung bestimmt, und einer ,vor-paradigmatischen' Phase der Wissenschaft. Den Weg zur Paradigmageleiteten Wissenschaft exemplifiziert Kühn vor allem anhand der physikalischen Optik, die seiner Meinung nach erst durch Newton zu einer reifen Wissenschaft geworden sei: „[...] der fortlaufende Übergang von einem Paradigma zu einem anderen auf dem Wege der Revolution ist das übliche Entwicklungsschema einer reifen Wissenschaft. Es ist aber nicht das charakteristische Schema der Zeit vor Newton, und dieser Gegensatz beschäftigt uns hier. Keine Zeit von der Antike bis zum Ausgang des siebzehnten Jahrhunderts besaß eine einheitliche, allgemein anerkannte Anschauung über das Wesen des Lichts. Es gab vielmehr eine Anzahl miteinander streitender Schulen und Zweigschulen, von denen die meisten sich für die eine oder andere Variante der Epikureischen, Aristotelischen oder Platonischen Theorie einsetzten. [...] Jede der 42 So wird in strukturalistischen Arbeiten des öfteren darauf hingewiesen, wie schön Ambiguitäten wie in (1) durch unterschiedliche Konstituentenstruktur-Zuweisung aufzulösen seien; mehrdeutige Sätze, bei denen eine solche Auflösung nicht möglich ist, werden erst gar nicht in Betracht gezogen. 43 Vgl. dazu etwa: Anton Reichling, Principles and Method of Syntax: Cryptanalytical Formalism, in: Lingua 10 (1961), S. 1-17; E. M. Uhlenbeck, An Appraisal of Transformation Theory, in: Lingua 12 (1963), S. 1-18 und E. M. Uhlenbeck, Some further Remarks on Transformational Theory, in: Lingua 17 (1967), S. 263-316. 145

entsprechenden Schulen leitete ihre Stärke von ihrer Beziehung zu einer bestimmten Metaphysik her, und jede hob nachdrücklich als paradigmatische Beobachtungen die besonderen optischen Phänomene hervor, die ihre eigene Theorie am besten zu erklären vermochten. Andere Beobachtungen wurden ad hoc zurechtgelegt, oder sie blieben als unerledigte Probleme weiterer Forschung überlassen. Zu verschiedenen Zeiten leisteten alle diese Schulen bedeutende Beiträge zu dem Bestand an Konzeptionen, Phänomenen und Techniken, von dem Newton das erste, fast einheitlich anerkannte Paradigma für physikalische Optik ableitete"44.

Nach dem, was wir dieser Schilderung entnehmen können, ist die vorparadigmatische Phase einer Wissenschaft dadurch gekennzeichnet, daß es keine allgemeinverbindliche, keine von allen geteilte Vorstellung vom Wesen ihres Gegenstands gibt; es bestehen verschiedene Schulen, deren Vorstellungen keine grundsätzliche Durchsetzungsfahigkeit besitzen. Erst dann, wenn ein ganz oder fast „einheitlich anerkannte[s] Paradigma" besteht, geht die betreffende Wissenschaft aus der vor-paradigmatischen in ihre reife Phase über. Ist nun die Linguistik eine reife Wissenschaft im Sinne Kuhns, für die der Übergang von einem Paradigma zum anderen charakteristisch ist? Oder befindet sie sich nicht vielmehr noch in einem vor-paradigmatischen Stadium, so daß es sich von vornherein verbietet, in bezug auf das Aufkommen der GTG von einer wissenschaftlichen Revolution zu sprechen? Es scheint gute Gründe zu geben, die zweite dieser Fragen positiv zu beantworten. Schon für Kühn, der seine Überlegungen am Beispiel der Naturwissenschaften entwickelte, blieb „die Frage offen, welche Teilgebiete der Sozialwissenschaft überhaupt schon solche Paradigmata erworben haben"45. Und kein Anhänger der GTG wird sich wohl der Illusion hingeben, daß die von ihm vertretene Forschungsrichtung ein zumindest ,fast' einheitlich anerkanntes Paradigma für die Linguistik abgibt; alle werden sicher mit John Lyons dahingehend übereinstimmen, daß es „heute noch mindestens so viele verschiedenartige ,Schulen' jn der Welt [gibt] wie vor der .Chomskyschen Revolution' 't46. Wenn aber so viele unterschiedliche linguistische Schulen existieren: wie kann dann noch von einer ,Chomskyschen Revolution' gesprochen werden? Es ist ohne weiteres festzustellen, daß es in der Linguistik bislang keine „einheitliche, allgemein anerkannte Anschauung" über das Wesen der Sprache gibt, genauso wenig wie es in der vor-paradigmatischen Phase der physikalischen Optik eine allgemein geteilte Vorstellung vom Wesen des Lichts gab. Der Aufstieg der GTG — so mag man deshalb argumentieren — war keine Revolution, sondern nur das Entstehen einer neuen Schule auf dem Gebiet der Linguistik, die in ihrer vorparadigmatischen Phase von widersprüchlichen Ansichten verschiedener Schulen über die Natur des Untersuchungsgegenstandes geprägt ist47. 44 Kühn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 31; die erste, zweite und vierte Hervorhebung stammt von uns. 45 ebd., S. 34 46 Lyons, Noam Chomsky, S. 9 47 Vielleicht am prononciertesten ist diese Meinung vor kurzem von Theodore Lightner

146

2.3.

Anmerkungen zu einer differenzierteren Analyse der wissenschaftlichen Entwicklung in der Linguistik

Die Erörterungen des vorherigen Abschnitts haben gezeigt, daß die Anwendung des Kuhnschen Schemas in dem hier zu diskutierenden Fall Probleme aufwirft. Die Anwendbarkeit seiner Analyse auf die Entwicklung der Linguistik (oder gar der Sozialwissenschaften insgesamt) deshalb zu bestreiten, wäre sicher töricht, denn dazu hat die Interpretation von taxonomischem Strukturalismus und generativer Transformationsgrammatik als Paradigmata u.E. doch zu viel Plausibilität. Woran liegt es aber, daß man die ,Chomskysche Revolution' nur unvollständig zu fassen bekommt, daß der angenommene Paradigmawechsel keine rechte Überzeugungskraft erhält? Liegt es daran, daß sich die Wissenschaftsgeschichte der Linguistik partiell der Kuhnschen Charakterisierung des wissenschaftlichen Entwicklungsprozesses entzieht? Oder waren die Argumente in 2.2. fehlerhaft? Oder liegt es vielleicht gar daran, daß Kuhns Ausführungen über den Gang der Wissenschaftsgeschichte selbst problematisch sind? Wir wollen im folgenden versuchen, einer Antwort auf diese Fragen näher zu kommen. Beginnen wir mit dem Problem der Bedeutung der Krise für das Entstehen wissenschaftlicher Revolutionen. In seinem 1962 erschienenen Buch erklärt Kühn kategorisch, „daß Krisen eine notwendige Voraussetzung für das Auftauchen neuer Theorie sind"48; ohne voraufgehende Krise ist also keine wissenschaftliche Revolution denkbar. Inzwischen hat Kühn jedoch von dieser Vorstellung einer unbedingten Gebundenheit von Revolution und Krise Abstand genommen; in dem 1969 zur zweiten Auflage seines Buches geschriebenen Nachwort erklärt er: „Für meine Argumentation ist [...] die Frage nicht wichtig, ob Krisen die unabdingbare Voraussetzung der Revolutionen sind. Sie brauchen nur das gewöhnliche Vorspiel zu sein, das einen Mechanismus der Selbstkorrektur bereitstellt, der die Rigidität der .normalen' Wissenschaft nicht für alle Zukunft unangefochten läßt. Revolutionen können auch auf andere Weise herbeigeführt werden, obwohl das meines Erachtens selten geschieht"49. Unter diesen Umständen kann die Chomskysche Revolution als Ausnahme von der Regel gesehen werden, daß Krisen gemeinhin den Revolutionen vorausgevertreten worden: „ [ . . . ] we are still at the stage of data-gathering, and there seem never to have been any really well-established paradigms in linguistics". (Theodore M. Lightner, The Role of Derivational Morphology in Generative Grammar, in: Language 51 (1975), S. 617-638, hier: S. 635). 48 Kühn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 110. 49 Thomas S. Kühn, Postscript - 1969, in: Thomas S. Kühn, The Structure of Scientific Revolutions, Second, enlarged edition, Chicago 1970, S. 174-210; hier und im folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Peter Weingart (Hrsg), Wissenschaftssoziologie I, Wissenschaftsentwicklung als sozialer Prozeß, Frankfurt 1972, S. 287-319, hier: S. 293 147

hen50. Das obige Zitat von Kühn verlangt jedoch noch nach einem Kommen-. tar. Kühn geht — so meinen wir — zu weit, wenn er den Begriff der Krise nun plötzlich als seiner vorherigen Argumentation äußerlich, als „nicht wichtig" abtut. Daß die Krise als „Mechanismus der Selbstkorrektur" die Perpetuierung einer bestimmten ^ormalen' Wissenschaft verhindert, ist nämlich nur die eine Seite der Medaille. Die Bedeutung der Krise für den Wechsel von einer formalen' Wissenschaft zur anderen liegt vor allem darin, daß sie den Wechsel selbst erst legitimiert. Der Wechsel von einem Paradigma zum anderen wäre sonst eine bloße Sache des Beliebens, eine irrationale Entscheidung, die von einzelnen Wissenschaftlern getroffen würde, und das unbegründete Ausarbeiten immer neuer Paradigma-Kandidaten würde zur Auflösung Paradigma-geleiteter Wissenschaft überhaupt führen. Da Kühn in seinen Arbeiten immer wieder betont, daß Wissenschaft rational vorgehe und daß auch der Wechsel von Paradigmata eine rationale Entscheidung der betreffenden Wissenschaftler beinhalte51 (auch wenn sie nicht durch Experiment oder Logik erzwungen werden kann), so muß die Krise für seine Argumentation eben doch äußerst „wichtig" sein52. Was an Kuhns ursprünglichen Thesen zu kritisieren ist, ist die Tatsache, daß er es versäumt, zwischen zwei Funktionen der Krise, oder genauer: des Bewußtseins der Krise zu differenzieren: einer Funktion für das Erstellen eines neuen Paradigma-Kandidaten und einer Funktion für das Akzeptieren dieses neuen Kandidaten durch die Wissenschaftler-Gemeinschaft, also für den Vollzug der Revolution selbst53. Was die erste Funktion anbelangt, so wird man sagen müssen, daß ein allgemeines Bewußtsein der Krise innerhalb der betreffenden Wissenschaftler-Gemeinschaft keine unabding-

50 Schon in der ersten Auflage der Kuhnschen Arbeit finden sich Stellen (vgl. z. B. S. 121), die Ausnahmen von der Regel zumindest als möglich erscheinen lassen. 51 „[. ·.] glaube ich nicht für einen Augenblick, daß Wissenschaft ihrer Natur nach ein irrationales Unternehmen ist. [...] Im ganzen genommen ist wissenschaftliches Verhalten das beste Beispiel von Rationalität, das wir haben". (Kühn, Anmerkungen zu Lakatos, S. 130). 52 Und daß sie für ihn tatsächlich keinesfalls „nicht wichtig" ist, zeigt u. a. sein Bemühen, überall dort, wo seine Kritiker die Existenz einer Krise im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte leugnen, das Vorhandensein eben dieser Krise und ihre Bedeutung für die betreffende wissenschaftliche Revolution nachzuweisen. (Vgl. dazu etwa seine Auseinandersetzung mit Watkins und Lakatos in Thomas S. Kühn, Reflections on my Critics, in: Imre Lakatos und Alan Musgrave (Hrsg), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970, S. 231-278, hier: S. 255ff.) 53 Man vergleiche etwa die folgende Textstelle, wo beide Funktionen der Krise in einem Satz ineinander übergehen: „Sogar die besser ausgearbeitete These des Kopernikus war weder einfacher noch genauer als das System des Ptolomäus. Verfügbare Beobachtungsverfahren [...] boten keine Basis für die Wahl zwischen ihnen. Unter diesen Umständen war einer der Faktoren, der die Astronomen zu Kopernikus führte [.. .\ das Bewußtsein der Krise, das für die Neuerung überhaupt verantwortlich war". (Kühn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 108; Hervorhebung von uns.)

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bare Voraussetzung für das Entstehen eines neuen Paradigma-Kandidaten istsa. Damit die Gemeinschaft diesen neuen Kandidaten aber als forschungsleitendes Raster akzeptiert, muß in ihr die Überzeugung herrschen, daß das vorherige Paradigma in eine Krise geraten ist. Um es an unserem Beispiel zu demonstrieren: Daß das taxonomische Paradigma in eine Krise geraten war, wurde erst durch Chomskys Plädoyer für einen neuen Paradigma-Kandidaten, nämlich die GTG, ins allgemeine Bewußtsein gerückt, und dieses Bewußtsein der Krise stellte die notwendige Voraussetzung für die Annahme des neuen Paradigmas dar. Zu erörtern bleibt nun noch die Frage, ob für die moderne Linguistik überhaupt ein Wechsel von Paradigmen angenommen werden kann oder ob diese sich nicht vielmehr noch in einer vor-paradigmatischen Phase befindet. Dazu wird es nötig sein, einmal genauer auf die Beziehungen einzugehen, die zwischen den Begriffen Paradigma', .Wissenschaftler-Gemeinschaft' und Jrachwissenschaft' bestehen. Ein grundsätzliches Problem in bezug auf diese Begriffe besteht darin, daß sie immer wieder wechselseitig aufeinander verweisen, und dies zudem in einer außerordentlich unklaren Art und Weise. Zunächst ist festzustellen, daß die Begriffe Paradigma' und ,Wissenschaftler-Gemeinschaft' zirkulär bestimmt werden: „Ein Paradigma ist, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gemein ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftliche Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen"54. Die Gemeinschaft der Wissenschaftler ist also dadurch gekennzeichnet, daß ihre Mitglieder allesamt ein und demselben forschungsleitenden Raster verpflichtet sind. Doch diesem Sprachgebrauch steht ein anderer, sehr viel umfassenderer gegenüber. Der Begriff der »wissenschaftlichen Gemeinschaft' wird nämlich zudem verwandt, um eine Gruppe von Forschern über die Paradigmagrenzen hinweg als zusammengehörig zu kennzeichnen. Ein Paradigmawechsel würde ja die vorherige, durch ein gemeinsames Paradigma geleitete (und durch dieses Paradigma definierte) wissenschaftliche Gemeinschaft auseinanderreißen, sie in zwei getrennte neue Wissenschaftler-Gemeinschaften überführen. Es braucht so einen Begriff, um festzulegen, daß die personelle Identität zwischen den Mitgliedern der ,alten' wissenschaftlichen Gemeinschaft und den Mitgliedern der beiden ,neuen' Gemeinschaften unverändert besteht — und dazu dient Kühn wiederum der Begriff der wissenschaftlichen Gemeinschaft. So bezeichnet er z.B. die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern verschiedener Paradigmata als einen „revolutionären Wettstreit zwischen den Verfechtern der alten und den Anhängern der neuen normal-wissenschaftlichen Tra53aDas ergibt sich bereits aus dem Material, das Kühn in seinem Buch selbst diskutiert; man vergleiche z. B. die Erörterung der Vorwegnahme des Kopernikus durch Aristarchos im 3. Jhd. vor Christus bei Kühn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 107f. 54 Diese (nachträgliche) Explikation der Zirkularität findet sich bei Kühn, Postskript 1969, S. 288.

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dition. [...] Ein Wettstreit zwischen Teilgruppen der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist der einzige historische Prozeß, der jemals wirklich zur Ablehnung einer früher einmal anerkannten oder zur Annahme einer neuen Theorie führte"55. Diesem Zitat zufolge kann es also keine „Gemeinschafts-Paradigmata"56 geben, sondern bestenfalls .Gruppen-Paradigmata'. Wenn nun aber die wissenschaftliche Gemeinschaft nicht mehr durch ein gemeinsames forschungsleitendes Raster ausgezeichnet ist — wie sollen wir sie dann noch identifizieren? Einen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten scheint der Begriff der »Fachwissenschaft' zu bieten. In den meisten Fällen setzt Kühn die »wissenschaftliche Gemeinschaft' offensichtlich gleich mit »Vertreter eines bestimmten wissenschaftlichen Fachgebiets'57, und man wird sich fragen müssen, was denn nun eigentlich ein solches Fachgebiet konstituiert. Kühn gibt darauf keine klare Antwort, aber den von ihm angeführten Beispielen ist zu entnehmen, daß sich die Fachwissenschaft jeweils anhand eines bestimmten wissenschaftlichen Gegenstands bestimmt: Die Fachwissenschaft der »physikalischen Optik' beschäftigt sich mit dem ,Licht'58, die der »pneumatischen Chemie' mit dem ,Gas'59 etc. Die Linguistik wäre also durch ihre Beschäftigung mit dem Gegenstand »Sprache' charakterisiert. Diese Bindung der »wissenschaftlichen Gemeinschaft' an den ,Fachgegenstand' (über den Begriff der »Fachwissenschaft') wirft aber außerordentlich schwere Probleme auf. Kühn betont in seiner Arbeit ja immer wieder, daß wissenschaftliches Faktum und wissenschaftliche Theorie nicht ohne weiteres trennbar sind und daß die Erfahrung selbst schon Paradigma-geleitet ist. Wie können wir dann aber in einer quasi-neutralen Sprache von gewissen Dingen behaupten, daß sie ,der Fall sind' und unabhängig vom Paradigma-Status einer bestimmten Wissenschaft diese Wissenschaft selbst definieren? Machen wir uns dieses Problem an einem Beispiel klar. Die Forschungsarbeit bereichert die Welt der Wissenschaft beständig mit neuen Gegenständen, die dann die Ausbildung einer neuen Disziplin bestimmen. Welcher Gegenstand konstituiert nun eine neue Wissenschaft ? Und wann kann man behaupten, ein Gegenstand sei gleich geblieben? Zur Illustration wollen wir ein berühmtes Beispiel aus der Geschichte der Linguistik nehmen: die Konstituierung der .Phonologic' durch Trubetzkoy. Bekanntlich unterscheidet Trubetzkoy zwischen der Phonologie, die sich mit Phonemen, d.h. Lauten mit bedeutungsdifferenzierender Funktion beschäftigt, und der Phonetik, i. e. der „physika55 Kühn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 26; Hervorhebung von uns. 56 ebd., S. 71. 57 So spricht Kühn in seinem Buch auf S. 39 z.B. von der „Struktur der auf [einem] Fachgebiet arbeitenden Gruppe", auf S. 24 verwendet er den Begriff .Fachwissenschaft' abkürzend für .Vertreter einer Fachwissenschaft' etc. 58 ebd., S. 30ff. 59 ebd., S. 80ff.

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Iische[n] und physiologische[n] Untersuchung der materiellen Seite der Sprachlaute ohne Beziehung zu ihrer sprachlichen Funktion"60. Ist nun. der ,Laut', den die Phonetik untersucht, derselbe .Gegenstand' wie das .Phonem'? Wie steht dieser .Gegenstand' bzw. wie stehen diese .Gegenstände' zürn '.Gegenstand' der Lautforschung, die noch nicht in Phonetik und Phonologie geschieden war? War diese Lautforschung selbst eine Wissenschaft oder war sie nur Teil einer Wissenschaft, nämlich der Linguistik? Wenn das Phonem tatsächlich ein neuer .Gegenstand' ist, konstituiert er damit die Phonologie als neue, eigenständige Wissenschaft? Auf all diese Fragen ist wohl kaum eine einzige gültige Antwort zu geben, aber es mag ganz aufschlußreich sein, wie Trubetzkoy selbst Phonetik und Phonologie in das Wissenschaftsgefüge einordnet. Die Phonetik sieht er als selbständige Wissenschaft, die „an ihren richtigen Platz im System der Wissenschaften — nämlich in den Bereich der Naturwissenschaften, fern von der Sprachwissenschaft — versetzt" werden müsse61. Die Phonologie hingegen rechnet er als Teildisziplin der Sprachwissenschaft: „Die so aufgefaßte Lautlehre ist fortan in der Gestalt der .Phonologie' ein Teil der Sprachlehre, in welchem dieselben Methoden der sprachwissenschaftlichen Untersuchung wie in den anderen Teilen der Sprachlehre angewandt werden sollen"62. Die Subsumierung der »Phonologic' unter die »Linguistik* wird also durch einen übergreifenden paradigmatischen Rahmen begründet, durch die Überbrückung der ,,methodologische[n] Kluft zwischen der Lautlehre und den übrigen Teilen der Sprachwissenschaft"63. Nicht der Paradigma-unabhängige .Gegenstand an sich' bestimmt für Trubetzkoy die Fachwissenschaft (bzw. fachwissenschaftliche Teildisziplin), sondern die Forschungsobjekte (.Phonem* bzw. .materieller Sprachlaut') konstituieren sich erst durch eine paradigmatische Sehweise. Die obige Erörterung dürfte wohl gezeigt haben, daß der begriffliche Rahmen von .Paradigma', .Wissenschaftler-Gemeinschaft' und .Fachwissenschaft' zu unklar bleibt. Die Vagheit und die Zirkularität in der Bestimmung dieser Termini machen ihre Verwendung als analytische Kategorien eigentlich unmöglich. Dieses Faktum hat natürlich bedeutsame Auswirkungen auf das Problem, das uns hier primär interessiert: ob nämlich die Existenz verschiedenartiger linguistischer Schulen es unmöglich macht, von der Linguistik als einer .reifen' Wissenschaft zu sprechen, für die der Paradigmenwechsel charakteristisch ist. Wenn die Bestimmung der Fachwissenschaft letztlich nur durch den Bezug auf das zugrundeliegende forschungsleitende Raster möglich ist, dann geht das Problem der Trennung von ,vor-paradigmatischer' und .reifer' Phase einer

60 Nikolaj S. Trubetzkoy, Anleitung zu phonologischen Beschreibungen, 2. Auflage, Göttingen 1958, S. 5 61 ebd. (Anm. 1) 62 ebd. 63 ebd.

151

Wissenschaft in dem Problem der Bestimmung dieser Wissenschaft selbst auf. Die Rede von der ,vor-paradigmatischen' Phase einer Fachwissenschaft ist offensichtlich sinnlos, wenn erst ihr Paradigma-Status ihre Identifikation erlaubt. Auf der anderen Seite können wir unter diesen Umständen sagen, daß eine jede linguistische Schule, die durch ein besonderes Paradigma gekennzeichnet ist, eine eigene wissenschaftliche Disziplin konstituiert — eine Vorstellung, die dann allerdings ein ganzes Hornissennest weiterer Probleme in sich birgt. Die Schwierigkeiten, die sich aus dem wechselseitigen Verweisen der grundlegenden Begriffe aufeinander für die Analyse ergeben, sind von Kühn inzwischen auch klar erkannt worden. Er hat sich in einer Revision seiner früheren Ausführungen dafür entschieden, die Bestimmung der Wissenschaftler-Gemeinschaften an die erste Stelle zu setzen: „Wissenschaftliche Gemeinschaften können und sollten ohne vorherigen Rekurs auf Paradigmata isoliert werden. Letztere können dann durch die Untersuchung des Verhaltens der Mitglieder einer gegebenen Gemeinschaft entdeckt werden"64. Die soziologische Klärung des Begriffs der wissenschaftlichen Gemeinschaft' gewinnt so den Vorrang vor der Bestimmung des »Paradigmas4; erst von der Analyse der Gruppenbindungen unter den Forschern her kann das Paradigma, das die wissenschaftliche Praxis leitet, bestimmt werden. Der Frage nach dem ,Gegenstand' der Forschung kommt bei der Paradigma-Bestimmung keine primäre Bedeutung zu, genausowenig wie die Wissenschaftler-Gemeinschaft jeweils schlüssig über einen bestimmten Fachgegenstand zu identifizieren wäre. „Ein Paradigma regiert zunächst nicht einen Gegenstand, sondern eine Gruppe von Fachleuten. Jede Untersuchung paradigma-gelenkter oder paradigma-zerstörender Forschung muß mit der Lokalisierung der verantwortlichen Gruppe oder Gruppen beginnen"65 . Wissenschaftliche Gemeinschaften können nun auf ganz verschiedenen Ebenen bestehen; die Skala reicht dabei etwa von der Gemeinschaft aller Naturwissenschaftler bis hin zu kleineren Spezialistengruppen, die vielleicht aus kaum mehr als zwanzig Mitgliedern bestehen. Die jetzt von Kühn gesetzte Priorität der Bestimmung der wissenschaftlichen Gemeinschaften hat für seine Analyse eine ganze Reihe von Konsequenzen; wir wollen hier nur auf einen Punkt genauer eingehen, der im Zusammenhang unserer Erörterungen einigermaßen wichtig ist. Es ist nämlich festzustellen, daß die Kuhnsche Reinterpretation der wissenschaftlichen Gemeinschaft' zu einer Aufweichung des Begriffs der wissenschaftlichen Revolution' führt. Um zu bestimmen, was eine wissenschaftliche Revolution ist und was nicht, muß man nach Kühn jetzt erst einmal präzise bestimmen, für wen die betreffende Veränderung eine Revolution darstellt66. Wenn aber schon das, was eine Umorientierung in der Forschungspraxis einer Gruppe von zwanzig Spezialisten 64 Kühn, Postskript - 1969, S. 288. 65 ebd., S. 291f. 66 Vgl. Kühn, Reflections on my Critics, S. 252. 152

bewirkt, als Revolution gilt, dann wird es schwierig (wenn nicht gar unmöglich), eine klare Grenzlinie zwischen einer .evolutionären' und einer ^evolutionären' Entwicklung der Wissenschaft zu ziehen. (Denn was z. B. innerhalb einer kleineren Wissenschaftlergruppe als Revolution gewertet wird, mag sich in einer anderen umfassenderen wissenschaftlichen Gemeinschaft nurmehr als bloße Paradigma-Präzisierung ausnehmen.) Die Frage, ob eine bestimmte Forschungsperiode revolutionär ist oder ob man sie unter die ,normale' Wissenschaft zu rechnen hat, verlangt Kühn zufolge jeweils ein genaues historisches Studium67; dieses Insistieren auf der Notwendigkeit exakter historischer Forschung im einzelnen vermag jedoch keinesfalls die Angabe von Entscheidungskriterien zu ersetzen, was denn nun legitimerweise Revolution' genannt werden kann.

3.

Zu einer externen Wissenschaftsgeschichte der modernen Linguistik: Generative Transformationsgrammatik in den USA und in der BRD

3.1.

Probleme einer externen Analyse

Wie wir gerade sahen, führt die Bindung der Begriffe von »normaler Wissenschaft' und wissenschaftlicher Revolution' an unabhängig von diesen Konzepten auszusondernde Wissenschaftler-Gemeinschaften tendenziell zu einer Auflösung dieser Konzepte selbst, so daß es nicht schwer fällt, die von Kühn vorgenommene ,Revision' als eine nahezu umfassende Aufgabe seiner früheren Vorstellungen zu interpretieren68. Wenn damit aber auch das, was die besondere Originalität des Kuhnschen Ansatzes ausmachte, weitgehend verloren ist, so ermöglicht seine revidierte Analyse doch eine differenziertere Einschätzung der wissenschaftlichen Entwicklung. In bezug auf die in unserem Zusammenhang anstehenden Probleme ist nun die Existenz verschiedener Schulen der Linguistik, die nebeneinander bestehen, keine Ausnahmeerscheinung mehr, sondern etwas durchaus Normales: daß sich nämlich größere WissenschaftlerGemeinschaften in kleinere unterteilen. Die Entwicklung der Wissenschaft vollzieht sich nicht mehr anhand eines klaren Entweder-Oder (entweder ,alte' oder ,neue' normalwissenschaftliche Praxis) in einer weitestgehend homogenen Forschergemeinschaft, sondern eher in relativ komplexen Verschiebungen innerhalb des Gesamtgefüges der am Forschungsprozeß beteiligten Gruppen. Dabei steht zu bestimmten Zeiten — um mit Dell Hymes zu sprechen69— eine bestimmte Teilgruppe im Zentrum des Interesses, während andere an die Peri67 ebd., S. 251. 68 Vgl. z. B. Alan Musgrave, Kuhn's Second Thoughts, in: British Journal for the Philosophy of Science 22 (1971), S. 287-297. 69 Vgl. dazu Dell Hymes, Introduction: Traditions and Paradigms, in: Dell Hymes (Hrsg), Studies in the History of Linguistics, Traditions and Paradigms, Bloomington und London 1974, S. 1-38.

153

pherie rücken; diese Gruppe hat dann einen besonderen Zulauf zu verzeichnen, zum einen durch den Übertritt von Mitgliedern anderer Gruppen, zum anderen aber (und das ist besonders wichtig) durch den unverhältnismäßig großen Zustrom von Neulingen, die erst jetzt in den Forschungsprozeß eintreten. Es kommt so gewissermaßen zu einer Konkurrenz verschiedener Forschungsprogramme10 , von denen keines jemals das gesamte Feld beherrscht. Bei all diesem müssen wir uns ständig vor Augen halten, daß die Begriffe .Wissenschaftler-Gemeinschaft' oder .Gruppe von Wissenschaftlern' nichts Absolutes meinen, sondern daß sie immer nur eine relativ große Anzahl von in einem bislang recht unklaren Sinne gemeinsam Forschenden' bezeichnen. Was jeweils .übergreifende Gemeinschaft' ist, was .Teilgruppe' etc., muß im einzelnen durch genauere Untersuchungen geklärt werden. Es dürfte klar sein, daß eine solche Bestimmung die verschiedensten Aspekte zu berücksichtigen hat. Ein relevanter Gesichtspunkt bei der Analyse des Gesamtgefüges von Forschergemeinschaften ist dabei wohl der, welche Rolle geographischen und vor allem71 territorialen Faktoren bei der Aufgliederung in relevante Gruppierungen zukommt und inwieweit solche Faktoren Ungleichmäßigkeiten in der .wissenschaftlichen Entwicklung' bedingen (wenn man in diesem Fall sich eines derart abstrakten Terminus überhaupt noch bedienen kann). So attraktiv es auch scheinen mag, die Analyse der Wissenschaftsgeschichte der sprachbezogenen Disziplinen von einer Untersuchung der betreffenden wissenschaftlichen Gemeinschaften her anzugehen — es muß doch festgehalten werden, daß die Durchführung eines solchen Programms auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen dürfte. Bisher ist nämlich keineswegs klar, aufgrund welcher Kriterien man eine Zahl von Forschenden als zu einer bestimmten Wissenschaftler-Gemeinschaft gehörig rechnen soll. Was zählt hier? Der Besuch gewisser Kongresse und Fachtagungen? Die Lektüre bestimmter Fachzeitschriften? Die Regelmäßigkeit dieser Lektüre? Die Lektüre welcher Fachzeitschriften? Die wechselseitige Zitierung in wissenschaftlichen Arbeiten? Das Austauschen von Manuskripten? Der briefliche Kontakt untereinander? Und wieviel zählt jeweils das, was zählt? Kuhns Optimismus, daß die Isolierung der einzelnen Gemeinschaften von Wissenschaftlern relativ unproblematisch vonstatten gehen könnte72, scheint - gelinde gesagt - übertrieben zu sein. Wie die Zugehörigkeit eines Forschers zu einer Wissenschaftler-Gemeinschaft empi70 Vgl. dazu Imre Lakatos, Falsification and the Methodology of Scientific Research Programs, in: Imre Lakatos und Alan Musgrave (Hrsg), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970, S. 91-196; wir können hier leider auf die Analyse der wissenschaftlichen Entwicklung von Lakatos nicht weiter eingehen, die zweifellos interessant, u. E. jedoch inadäquat ist. 71 Die geographischen Faktoren scheinen demgegenüber weniger bedeutsam zu sein; vgl. dazu Yakov Malkiel und Margaret Langdon, History and Histories of Linguistics, in: Romance Philology 22 (1969), S. 531-574, hier: 540. 72 Vgl. Kühn, Postskript - 1969, S. 289f.

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risch festzumachen ist, ist ein offenes Problem, und unter der Fülle der möglichen Kriterien (deren Signifikanz übrigens allemal zweifelhaft ist) ist kaum zu entscheiden. Aufgrund all dieser Schwierigkeiten ist es wohl nicht weiter verwunderlich, daß bislang kein einziger Versuch unternommen wurde, die uns hier interessierenden wissenschaftlichen Gemeinschaften genauer zu bestimmen73. Es liegen so auch keinerlei verläßliche Informationen darüber vor, inwieweit das Auftauchen einer neuen Theorie wie der GTG das Gefüge der bereits bestehenden Wissenschaftler-Gemeinschaften verändert hat, inwieweit es zu neuen Konstellationen gekommen ist und welche Fluktuation zwischen den neu entstandenen Gruppierungen herrscht. Der Interpret ist hier vor allem auf subjektive Eindrücke zurückgeworfen, die empirisch meist nur mangelhaft belegbar sind74. Daß das Erscheinen der GTG zu gewissen Veränderungen in verschiedenen wissenschaftlichen Gemeinschaften geführt hat, steht außer Frage — aber es ist gegenwärtig unmöglich, die Art und das Ausmaß dieser Veränderungen genauer anzugeben, ohne sich in mehr oder minder weitgehenden Spekulationen zu verlieren. Dieser Mangel an empirischen Daten in bezug auf die jeweils relevanten scientific communities und die Veränderungen, die sich in ihnen vollzogen haben, stellt natürlich ein arges Handikap für eine jede Untersuchung vom externen Standpunkt aus dar. Wenn man versucht, die gesellschaftlichen Voraussetzungen (und vielleicht sogar Gründe) für etwas anzugeben, dann sollte es eigentlich möglich sein, dieses ,etwas' genauer zu bestimmen, als wir es hier tun können. Hinzu kommt, daß die Beziehungen zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und wissenschaftlicher Entwicklung im allgemeinen bislang weitgehend ungeklärt sind. Der externe Einfluß auf die Entwicklung von Wissenschaft scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt eigentlich nur dort exakt zu fixie73 Ein erster Versuch, überhaupt einmal die institutionelle Vertretung und die Forschungsaktivitäten innerhalb der Linguistik in der BRD zu sichten, wurde Anfang der 70er Jahr unternommen (s. Peter Hartmann, Zur Lage der Linguistik in der BRD, Frankfurt 1972); die Zielrichtung dieser Untersuchung kann mit dem, was Kühn für die Identifizierung wissenschaftlicher Gemeinschaften fordert, allerdings kaum in Einklang gebracht werden. 74 Daß sich seit 1957 eine recht große Gemeinschaft von Transformationsgrammatikern gebildet hat, läßt sich u. a. aus dem Anschwellen der Publikationsflut auf diesem Gebiet ermessen. (Man vgl. etwa die Bibliographie von Dingwall aus dem Jahre 1965, die ca. 1000 Titel umfaßt (William Orr Dingwall, Generative Transformational Grammar, A Bibliography, Washington 1965), mit der von Krenn und Müllner aus dem Jahre 1968, die bereits an die 2500 Titel nennt (Herwig Krenn und Klaus Müllner, Bibliographie zur Transformationsgrammatik, Heidelberg 1968). Ablesbar ist dieses Faktum auch an der Gründung von wissenschaftlichen Zeitschriften, die sich als Plattform der neuen Theorie verstehen, also etwa an der Gründung der Zeitschrift „Linguistic Inquiry" in den USA im Jahre 1970 oder an der Herausgabe der „[Münchener] Papiere zur Linguistik" 197Iff. Wie groß diese Gemeinschaft jedoch insgesamt ist, wie Teile von ihr auf nationaler Ebene in den Rahmen der dort bereits existierenden Gemeinschaften passen etc. - all das läßt sich nur vermuten. 155

ren zu sein, wo gezielte staatliche und privatwirtschaftliche Finanzierung die Forschung in bestimmte Richtung zu lenken sucht — aber selbst in diesen Fällen entziehen sich die Auswirkungen weitgehend der genaueren Kalkulation75. Inwieweit sich die wissenschaftliche Entwicklung einer gewissen Eigendynamik verdankt, wie sehr sie durch gezielte Forschungssteuerung beeinflußt werden kann und beeinflußt wird, wie ökonomische und politische Veränderungen sich vermittelt über Jdeen* in den Köpfen der Forschenden niederschlagen und die Richtung ihrer Bemühungen (wenigstens partiell) determinieren - all dies ist heute noch mehr als unklar. Es mag unter diesen Umständen vermessen erscheinen, zu versuchen, etwas über die (im weitesten Sinne) gesellschaftspolitischen Bedingungen der Veränderungen zu sagen, die das Auftauchen der GTG für bestimmte Wissenschaftler-Gemeinschaften in den USA und der BRD mit sich gebracht hat. Die Tatsache, daß die Forschung speziell über externe Bedingungen der Wissenschaftsentwicklung noch in den Anfängen steckt, darf jedoch nicht als Denkverbot gelten, wenn wir die eigene wissenschaftliche Tätigkeit nicht gründlich mißverstehen wollen: indem wir sie als »freies Gedankenspiel' begreifen würden und nicht als das, was sie ist, nämlich konkrete gesellschaftliche Praxis. Auf der anderen Seite aber wird man sich ständig vor Augen halten müssen, daß das, was wir im folgenden zu den .externen' Bedingungen dieser Praxis ausführen werden, mehr oder minder begründbare Vermutungen sind, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestenfalls Plausibilität, keinesfalls aber beweisbare Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen können.

3.2.

Forschungsfinanzierung: Zum Aufstieg der generativen Transformationsgrammatik in den USA

Im ersten Kapitel des vorliegenden Buches, in dem der Leser mit den theoretischen Prämissen und dem Beschreibungsapparat der GTG vertraut gemacht werden sollte, sind wir von der wohl einflußreichsten Arbeit zur GTG ausgegangen: Noam Chomskys „Aspects of the Theory of Syntax". Wer die Originalausgabe dieses Buches aufschlägt, findet dort auf der (unpaginierten) Seite iv die folgende Dankesadresse: „The research reported in this document was made possible in part by support extended the Massachusetts Institute of Technology, Research Laboratory of Electronics, by the JOINT SERVICES ELECTRONICS PROGRAMS (U. S. Army, U. S. Navy, and U. S. Air Force) under Contract No. DA36-039-AMC-03200(E); additional support was received from the U. S. Air Force (Electronic Systems Division under Contract AF19(628)-2487), the

75 Dies zeigen schon die Probleme bei der Ertragmessung versuchter Forschungssteue156

National Science Foundation (Grant GP-2495), the National Institutes of Health (Grant MH-04737-04), and The National Aeronautics and Space Administration (Grant NsG-469)"76 .

Damit aber ist die Reihe der finanzierenden Organisationen noch nicht beendet; am Schluß des Vorwortes schreibt Chomsky: „The writing of this book was completed while I was at Havard University, Center for Cognitive Studies, supported in part by Grant No. MH 05120-04 and -05 from the National Institutes of Health to Havard University, and in part by a fellowship of the American Council of Learned Societies" .

Die Reihe der geldgebenden Institutionen reicht also von der US Luftwaffe über die NASA (National Aeronautics and Space Administration) bis hin zum National Institute of Health der USA; hinzu kommen noch übergreifende Verteilerorganisationen für private und staatliche Forschungsaufwendungen wie die National Science Foundation und der American Council of Learned Societies. Ein großer, wenn nicht gar der überwiegende Teil der Arbeiten zur GTG in den USA zumindest bis 1970 trägt solche Hinweise auf Finanzierungsquellen, die man sicher nicht schlankweg mit einer Disziplin wie der Linguistik in Verbindung bringen würde. Diese besondere Art der Finanzierung und ihre relative Stärke aber — so lautet unsere These - hat vor allen Dingen dazu beigetragen, daß die GTG sich so schnell etablieren konnte. Sie verdankt ihren Aufschwung vor allem der Tatsache, daß ihr finanzieller Rückhalt sehr viel stärker war als der irgendeiner vergleichbaren sprachwissenschaftlichen Forschungsrichtung zuvor, sei es innerhalb oder außerhalb der USA78. Im folgenden wollen wir versuchen, einige der Bedingungen zu erhellen, die dazu führten, daß der GTG in außergewöhnlichem Maße Forschungsgelder zuflössen. Wie in der BRD wird die linguistische Forschung in den USA nahezu ausnahmslos79 an den Universitäten betrieben. Diese Übereinstimmung in der institutionellen Organisation täuscht aber über tiefgreifende Unterschiede hinweg, die u. a. dann offenbar werden, wenn man sich die geschichtliche Entwicklung der Forschungsorganisation in den USA ansieht. Die großen Universitäten in den USA finanzierten sich bis in die 30er Jahre ausschließlich durch Mittel, die direkt aus privater Hand stammten oder die über den Umweg von Stiftun-

76 77 78

79

rung (vgl. dazu z. B. Spiegel-Rösing, Wissenschaftsentwicklung und Wissenschaftssteuerung, S. 114ff.). Chomsky, Aspects, S. iv; in der deutschen Übersetzung fehlt dieser Text. ebd., S. vi. Vergleichbar wäre dies bestenfalls mit der institutionellen Sicherung der indogermanischen Sprachwissenschaft, die von Humboldt im 19. Jhd. in Preußen einleitete (vgl. dazu Hymes, Introduction, S. 30). Ausnahmen bilden dabei Forschungsgruppen bei Privatunternehmen (so z. B. am IBM Research Center in Yorktown Heights) und staatlichen Wissenschaftszentren (z. B. bei der RAND Corporation).

157

gen den Universitäten zugute kamen. Erst im Zuge der Rüstungsanstrengungen, die die Vereinigten Staaten während des Zweiten Weltkriegs unternahmen, wurde wissenschaftliche Arbeit in größerem Maße staatlich finanziert. „Die Universitäten waren plötzlich aller finanziellen Sorgen ledig, soweit die von ihnen vorgeschlagenen Forschungsprogramme nur mit irgendeinem möglichen militärischen Verwendungszweck zusammenhingen"80. Der Zufluß staatlicher Gelder für projektorientierte Forschung setzte auch nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs nicht aus: ,,Das neu eingerichtete Office of Naval Research und andere Behörden ermöglichten es den Universitäten, im Krieg begonnene Forschungen fortzusetzen, indem sie ihnen Beihilfen (grants) gewährten oder Aufträge an sie vergaben, die Vorhaben auf dem Gebiet der Grundlagenforschung fördern sollten. [...] Seit dem Ende der vierziger Jahre profitierte die Forschung an den Universitäten von dem permanenten öffentlichen Bedarf an modernen verwissenschaftlichten Rüstungstechnologien. Die Universitäten waren in gewisser Weise gezwungen, staatliche Forschungsaufträge zu übernehmen, denn sie vermochten ihre Ausbildungsfunktionen kaum noch aus eigenen Mitteln zu finanzieren"81. Neben den Koordinierungsstellen wie dem Office of Naval Research, die das Militär für die Organisation rüstungstechnologischer Forschung schuf, wurde 1950 per Gesetz eine Einrichtung geschaffen, die als unabhängige Behörde Forschung im umfassenden Rahmen finanzieren und steuern sollte: die National Science Foundation (NSF)82. Durch Vergabe entsprechender Mittel fördert die NSF vor allem die Grundlagenforschung83 und beteiligt sich auch an dei Finanzierung kostspieliger Forschungsanlagen; über die Geldvergabe entscheiden der NSF direkt oder indirekt assoziierte Wissenschaftler-Gremien. Die NSF befaßt sich zudem aber auch mit der Forschung über Forschung; ihr obliegt es, dafür zu sorgen, daß die wissenschaftliche Entwicklung umfassend analysiert wird und daß Daten für eine möglichst effektive Forschungsplanung bereitgestellt werden. Der relativ weitgespannte Rahmen von Zielen und Aufgabenbereichen der NSF darf nun allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihr tatsächlicher Anteil an den gesamten staatlichen Forschungsaufwendungen vergleichsweise gering ist. Die von der NSF bewilligten Mittel betrugen z.B. 1968 ganze 2% der Gesamtaufwendungen staatlicher Stellen für Forschung und Entwicklung; demgegenüber hatte das Verteidigungsministerium einen Anteil von 47%, die 80 Ulrich Rodel, Forschungsprioritäten und technologische Entwicklung, Frankfurt 1972, S. 63. 81 ebd., S. 64. Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Dieter Senghaas, Rüstung und Militarismus, Frankfurt 1972, S. 194ff. 82 Zu Aufgaben und Organisation dieser Einrichtung vgl. Krauch, Kunz und Rittel (Hrsg), Forschungsplanung, S. 177-196. 83 Die Grundlagenforschung wird im Gegensatz zur angewandten Forschung und Entwicklung ohne Ansehen einer spezifischen Anwendbarkeit der Ergebnisse betrieben; zu einer genaueren Bestimmung s. z. B. Rodel, Forschungsprioritäten, S. 10. 158

NASA 27% und die Atom-Energie-Behörde immer noch 9% der Gelder zu vergeben84. Konzentriert man sich allein auf die Grundlagenforschung, so schneidet die NSF allerdings besser ab, denn hier betrug ihr Anteil 12%, denen allerdings in eben diesem Jahr insgesamt 59% der anderen genannten Institutionen gegenüberstehen85. Diesen Ungleichmäßigkeiten in bezug auf die mittelverteilenden Institutionen entsprechen Ungleichmäßigkeiten in der Mittelzuweisung für bestimmte Fachdisziplinen: während z.B. im Zeitraum 1964—1970 über die Hälfte der für die Grundlagenforschung bereitgestellten Gelder an die physikalischen Naturwissenschaften gingen, mußten sich „Little-Science"-Disziplinen wie die Sozialwissenschaften sowie die psychologischen Wissenschaften mit je 3% der Aufwendungen begnügen86. Auch die Linguistik ist zweifellos den „Little-Science"-Disziplinen zuzurechnen, die ihr Dasein im Schatten der „Big Sciences" fristen. Gerade in den Jahren 1957-1970, in die der Aufstieg der GTG in den USA fällt, sind dieser Fachwissenschaft — und dabei insbesondere der Forschung zur GTG — jedoch aufgrund verschiedener Umstände außerordentliche Mittel zugeflossen. Auch wenn diese Gelder im Vergleich zu den Gesamtausgaben verschwindend gering sind87, so darf man doch nicht vergessen, daß sie im Maßstab der „Little Sciences" gesehen eine ganz andere Dimension gewinnen. Wir wollen im folgenden versuchen, einige allgemeine Faktoren zu beleuchten, die für diese außergewöhnliche FinaiLzierung mit verantwortlich waren. An erster Stelle sind dabei wohl die Auswirkungen zu nennen, die der sogenannte ^Sputnik-Schock' auf das Wissenschaftssystem der USA hatte. Der Start des ersten sowjetischen Erdsatelliten demonstrierte 1957 den technologischen Vorsprung der UdSSR, den es nun aufzuholen galt. Dieser Vorsprung wurde allgemein auf eine verfehlte Forschungspolitik der USA zurückgeführt, nämlich darauf, daß Verteidigungsministerium und Atom-Energie-Behörde, die zusammen über ca. 80% des gesamten Forschungsaufkommens verfügten, bei der Mittelvergabe die Grundlagenforschung zu stark vernachlässigt hatten; die von ihnen finanzierte Forschung war insgesamt gesehen weitestgehend von den Zufälligkeiten des Rüstungswettlaufs abhängig. In der Folgezeit waren die betreffenden Bewilligungsstellen angehalten, die Ausgaben für die Grundlagenforschung allgemein zu erhöhen und auch breiter zu streuen, d.h. sie nicht nur gezielt in solchen Bereichen einzusetzen, wo man sich eine Unterstützung anwendungsnaher Untersuchungen erhoffte. Diese Tendenzen waren sicher eine wichtige Vorbedingung dafür, daß staatliche Stellen, insbesondere Verteidigungsministerium und NASA, linguistische Forschung (z. B. zur GTG) auch 84 In den Jahren zuvor wai die Verteilung noch extremer; vgl. die Tabelle bei Rodel, Forschungsprioritäten, S. 57. 85 Vgl. dazu die Tabelle bei Rodel, Forschungsprioritäten, S. 62. 86 ebd., S. 69. 87 Was die genauen Zahlen angeht, so ist man hier natürlich auf bloße Vermutungen angewiesen.

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dort unterstützten, wo keine für ihre Belange direkt nutzbaren Ergebnisse zu erwarten waren88. Mehr ins Auge fallend war vielleicht jedoch gegenüber dieser längerfristigen Perspektive, daß der Gedanke an eine mechanische Übersetzung, d.h. an eine Übersetzung von einer natürlichen Sprache in eine andere mittels Computer durch das Trauma eines technologischen Vorsprungs der UdSSR weiter gestärkt wurde. Bereits im Jahre 1949, nachdem die rüstungstechnologischen Anstrengungen der USA bereits außerordentlich leistungsfähige Rechenanlagen hervorgebracht hatte, hatte Warren Weaver in einem Memorandum vorgeschlagen, die in diesen Computern steckenden Kapazitäten für die Sprachübersetzung zu nutzen89. Nur drei Jahre nach diesem ersten programmatischen Entwurf fand schon die erste Tagung zur automatischen Übersetzung am MIT statt, wo die einzelnen inzwischen gebildeten Forschergruppen über weiteres Vorgehen diskutierten. Wenig später gelang es durch eine äußerst werbewirksame Vorführung, das öffentliche Interesse für ihre Arbeit zu gewinnen: im sogenannten GeorgetownExperiment (das sehr viel mehr Show war denn wirkliches Experiment) zeigte Leo Dosiert im Jahre 1954, daß russisch-englische Übersetzungen mittels Computer durchaus realisierbar waren90. Die Bestrebungen, den Übersetzungsprozeß durch Rechenanlagen zu effektivieren, erhielten nun in den Jahren nach 1957 weiteren Auftrieb: war es der UdSSR tatsächlich gelungen, einen techno88 Wie bei der Grundlagenforschung insgesamt, stellen sich hier natürlich erhebliche Rechtfertigungsprobleme ein. Es gilt ja, unter der Fülle möglicher Grundlagenforschung einzelne durchzuführende Projekte auszusondern, die dann tatsächlich gefördert werden, und dabei sollen natürlich vor allem die Forschungen unterstützt werden, deren Ergebnisse sich dann als .nützlich' erweisen. Diese letztlich angestrebte Nützlichkeit (denn sonst wäre die Finanzierung hinausgeworfenes Geld) widerspricht aber der eigentlichen Begriffsbestimmung von Grundlagenforschung. Angesichts dieses Dilemmas haben sich nun im Wissenschaftsprozeß bestimmte Rechtfertigungsstrategien ausgebildet, die die Förderung bestimmter Studien begründen sollen. (Vgl. dazu Rodel, Forschungsprioritäten, S. 99ff.) Eines der Kriterien, die für die Förderung relevant sein sollen, bezieht sich dabei auf die Relevanz, die die unterstützte Forschung nicht nur für das eigene Fachgebiet, sondern auch für benachbarte Disziplinen haben könnte (vgl. dazu A. M. Weinberg, Probleme der Großforschung, Frankfurt 1970, S. 157). Unter diesem Aspekt gewinnt natürlich die .mentalistische' Wende der GTG, die in den vorherigen Kapiteln dieses Buches allein unter dem Aspekt der Immunisierung der eigenen Theorie gegenüber möglicher Kritik interpretiert wurde, zusätzliches Gewicht. Wenn man sagen kann, daß die Forschung zur GTG Relevanz für die psychologische Disziplin hat, so wird damit ein ausgezeichneter Rechtfertigungsgrund für die Förderung transformationsgrammatischer Untersuchungen geliefert; durch die Hinwendung zur Psychologie erschließen sich für die GTG so neue Finanzierungsquellen. 89 Vgl. Warren Weaver, Translation, in: W. N. Locke und A. D. Booth, Machine Translation of Languages, New York 1955, S. 15-23. 90 Vgl. L. E. Dosiert, The Georgetown-IBM Experiment, in: Locke und Booth, Machine Translation, S. 124-135. Das von Dosiert ausgewählte Material war übrigens stark restringiert: nur 6 grammatische Regeln und 250 Wörter wurden einprogrammiert.

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logischen Vorsprung herauszuholen, dann mußte man versuchen, sich möglichst umfassend die Erkenntnisse der sowjetischen Forschung anzueignen. Dem stand jedoch nicht zuletzt die mangelnde Sprachbeherrschung der amerikanischen Fachwissenschaftler entgegen, die nur zu einem äußerst geringen Teil über eine Lesekompetenz im Russischen verfügten, so daß es auch von daher nahe lag, die Bemühungen um eine mechanische Übersetzung zu verstärken. Während so die Wahl der zu übersetzenden Sprache beim Georgetown-Experiment sicher nicht zufällig geschah, konzentrierte man sich im folgenden besonders stark auf die Forschung zur russisch-englischen Übersetzung91. Diese Forschung konnte auf ergiebige Finanzierungsquellen zurückgreifen, sowohl von selten des Staates als auch von Seiten interessierter Privatunternehmen, die sich von der automatischen Übersetzung einen quasi-garantierten Profit versprachen. Gegen den hier implizierten Zusammenhang - daß nämlich der Boom in Forschung zur automatischen Übersetzung die GTG gefördert hätte — wird nicht selten ins Feld geführt, daß Chomsky und andere hervorragende Vertreter der GTG an Fragen der Computer-Übersetzung gänzlich desinteressiert gewesen seien92. So berechtigt dieser Hinweis auch ist: es steht fest, daß die Finanzierungswelle für maschinelle Übersetzung auch in die frühe Forschung zur GTG hineingeschwappt ist93. Chomsky selbst arbeitete (und arbeitet noch) am MIT, wo bereits seit 1951 eine Forschergruppe unter Bar-Hillel sich mit Problemen der automatischen Übersetzung befaßte; diese Gruppe wurde später von Victor H. Yngve geleitet, und zu dieser Zeit war Chomsky augenscheinlich eines ihrer Mitglieder94. Wichtiger noch als eine solche tatsächliche personelle Bindung war aber wohl die Tatsache, daß Chomskys eigene Arbeit, die sich nicht zuletzt auch auf die Theorie formaler Sprachen richtet, grundsätzlich so geartet war, daß sie in die Grundlagenforschung zur Computer-Linguistik paßte. Dadurch kam der GTG nämlich insbesondere eine Umorientierung in der Forschungsrichtung zugute, die sich zum großen Teil bereits in der ersten Hälfte der 60er Jahre vollzog. Es zeigte sich nämlich bald, daß der frühere Optimismus in bezug auf die automatische Übersetzung stark übertrieben gewesen war. Damals war man der Meinung gewesen, daß eine leistungsfähige 91 Von den 13 in den USA um 1960 arbeitenden Gruppen zur maschinellen Übersetzung befaßten sich nur drei nicht mit der russischen Sprache. (Vgl. Heinz Zemanek, Methoden der automatischen Sprachübersetzung, in: Sprache im technischen Zeitalter 2 (1962), S. 87-109, hier: S. 102ff.) 92 Vgl. z. B. Yeoshua Bai-Hillel, On a Misapprehension of the Status of Theories in Linguistics, in: Foundations of Language 2 (1966), S. 394-399, hier: S. 396f. 93 „The earliest money from the armed services filtered into transformational research indirectly - for the most part via the M.I.T. Research Laboratory of Electronics and various mechanical translation projects". (Joseph Emonds und Frederick J. Newmeyer. The Linguist in American Society, in: Papers from the Seventh Regional Meeting of the Chicago Linguistic Society, Chicago 1971, S. 285-303, hier: S. 288. 94 Vgl. Bar-Hillel, Misapprehension, S. 397.

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Übersetzungsautomation innerhalb weniger Jahre erreichbar sei. Nun stellte sich aber heraus, daß die entwickelten Verfahren zu beschränkt waren, um eine einwandfreie Übersetzung zu garantieren95; die vom Computer ausgegebene Übersetzung war grundsätzlich so, daß sie noch einmal ,per Hand* aufbereitet werden mußte — wobei diese Aufbereitung gemeinhin zeitraubender war, als wenn ein geschulter Übersetzer den gesamten Text ohne Maschinenhilfe übersetzt hätte. Bei den Wissenschaftlern setzte sich so allmählich die Überzeugung durch, daß noch weiteres Grundlagenwissen über Sprache erarbeitet werden müßte, bevor man an eine maschinelle Übersetzung denken könne. So führte Victor Yngve, der Leiter der MIT-Gruppe, Mitte der 60er Jahre aus: „Was die vollautomatische Übersetzung angeht, so bin ich überzeugt, daß wir einmal einen Punkt erreichen werden, wo sie durchführbar und wirtschaftlich ist. Dazu sind jedoch wesentliche grundlegende Kenntnisse erforderlich, die wir zur Zeit einfach nicht haben, und es steht gänzlich dahin, wann wir sie haben werden. Dennoch versuche ich mit aller Kraft, diese Kenntnisse zu gewinnen"96. Yngve erklärte dies vor dem Automatic Language Processing Advisory Comittee (ALPAC), einer Gruppe von Fachleuten, die im Auftrage der NSF und des National Research Council den Stand der Forschung zur automatischen Übersetzung sichten sollte. Ihr Bericht, der sogenannte ALPAC-Report97, zog im Jahre 1966 ein ernüchterndes Fazit aus den bisherigen Anstrengungen. Alle zu dieser Zeit vorliegenden Übersetzungsprogramme arbeiteten zu ungenau und zu kostspielig; eine effektive Computer-Übersetzung, die eine ernsthafte Konkurrenz für die herkömmliche Übersetzungstätigkeit bilden könnte, war noch nicht einmal in Ansätzen in Sicht. Der Ausschuß stellte zudem fest, daß der tatsächliche Bedarf an Übersetzungen weitaus geringer war, als man ihn Ende der 50er Jahre prognostiziert hatte, und dieser Bedarf war ohne Schwierigkeiten durch die vorhandenen Übersetzer-Büros gedeckt. Während sich der Ausschuß deshalb gegen eine weitere Unterstützung der Forschung zur maschinellen Übersetzung aussprach, so plädierte er doch für eine weitere Förderung der linguistischen Grundlagenforschung: „Die Linguistik sollte als Wissenschaft unterstützt werden, also nicht im Hinblick auf sofortige oder absehbare Beiträge zur Praxis der Übersetzung"98. Daß die staatlichen Stellen dieser Anregung folgten, scheint keineswegs verwunderlich. Die Bereitschaft, Grundlagenforschung verstärkt zu fördern, war seit der Erfahrung des Sputnik-Schocks gestiegen; vor allem aber war die Unterstützung lingui95 Vgl. dazu die Schilderung der Entwicklungsgeschichte bei: Helmut Schnelle, Neue Aspekte in der Theorie des Übersetzens, in: Sprache im technischen Zeitalter 7 (1967), S. 239-248. 96 Sprache und Maschinen, Computer in der Übersetzung und in der Linguistik, in: Sprache im technischen Zeitalter 7 (1967), S. 218-238, hier: S. 228. 97 Languages and Machines, Computers in Translation and Linguistics, Washington 1966 [auszugsweise dt. Übersetzung: s. Anm. 96] 98 Sprache und Maschinen, S. 233. 162

stischer Grundlagenforschung sehr viel weniger kostenintensiv als die Finanzierung von Untersuchungen zur automatischen Übersetzung, da nun die beachtlichen Gerätekosten weitgehend entfielen. Daß diese Umorientierung vor allen Dingen der GTG zugute kam, war klar"; sie hatte sich als Grundlagenforschung in den betreffenden Forschungszentren bereits etabliert, und ihre Relevanz war nicht zuletzt auch dadurch erwiesen, daß inzwischen erste Versuche gemacht worden waren, auch bei Übersetzungsprogrammen von diesem Sprachmodell auszugehen. Bei all der Bedeutung, die der Forschung zur Computer-Übersetzung von einer natürlichen Sprache in eine andere zukam, darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß dieser Bereich nur einen Ausschnitt aus dem Aufgabenfeld darstellt, das sich für die Linguistik durch die Entwicklung informationsverarbeitender Systeme eröffnete. Aufgabe der Linguistik wurde auch, „einerseits mit Hilfe der Logik die formalen Sprachen zu entwickeln, die einfach genug sind, um mit der Arbeitsweise der Rechenautomaten verträglich zu sein, aber doch auch reich genug, um die gestellten Probleme ausdrücken zu können; andererseits hat sie die Grammatik der Umgangssprache so weit zu formalisieren, daß die zunächst ja umgangssprachlich formulierten Aufgaben in die formalen Sprachen der Rechenautomaten übersetzbar werden"100. Nicht zuletzt auch unter diesem Aspekt flössen der Forschung zur GTG beträchtliche Beträge zu 1 ™. Es scheint zudem einigermaßen zweifelhaft, ob die Argumente für die GTG, die sich ja besonders auf die Ambiguität und Synonymität von Sätzen bezogen102, ohne die gestellten Aufgaben einer Textaufbereitung für maschinelle Systeme eine derartige Durchschlagskraft erhalten hätten. Im Kapitel I wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Doppeldeutigkeit von Sätzen für die umgangssprachliche Kommunikation kaum ein Problem darstellt; ganz 99 An einem Beispiel läßt sich dieser Umschwung verdeutlichen: Seit etwa 1957 laufen am Computation Laboratory der Havard University Untersuchungen zur automatischen Übersetzung, deren Ergebnisse unter dem Titel „Mathematical Linguistics and Automatic Translation" als Berichte an die National Science Foundation veröffentlicht werden. Wenn man sich diese Berichte ansieht, so wird deutlich, daß die Beiträge zur maschinellen Sprachverarbeitung mit den Jahren immer mehr abnehmen, während die zur GTG kontinuierlich zunehmen. Seit dem Ende der 60er Jahre werden nur noch Arbeiten zur GTG dokumentiert (und konsequenterweise wurde der Titel 1974 in „Formal Linguistics" umgeändert). 100 Utz Maas, Sprechen und Handeln - zum Stand der gegenwärtigen Sprachtheorie, in: Sprache im technischen Zeitalter 12 (1972), S. 1-20, hier: S. 2 101 Vgl. dazu Emonds und Newmeyer, The Linguist, S. 288f. 102 Diese Argumente wurden von Chomsky übrigens erst in den 60er Jahren umfassend ausgearbeitet; in seinen ersten Arbeiten zur GTG finden sie sich bestenfalls in rudimentärer Form. Wenn man sich die Entwicklung der Chomskyschen Argumentation genauer anschaut, so wird die gängige Interpretation ambiger Sätze als Paradigmasprengende Anomalien immer fragwürdiger; bei der Ausarbeitung der GTG war sehr viel mehr Kontinuität im Spiel, als es die Apologeten einer .Chomskyschen Revolution' wahrhaben wollen.

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anders steht es hingegen, wenn Texte, die mehrdeutige Sätze enthalten, maschinell aufbereitet werden sollen: der Automat verfügt eben nicht über das Kontextwissen des natürlichen Sprechers. Kehren wir noch einmal zum Ende der 50er Jahre zurück. Insgesamt erlebte die Linguistik in den USA nach dieser Zeit nicht allein nur deshalb einen Aufschwung, weil die Entwicklung informationsverarbeitender Systeme ihr neue Aufgabenbereiche schuf. Vielleicht nicht weniger wichtig — wenngleich auch in den Auswirkungen speziell auf die Forschung zur GTG kaum abzuschätzen — war der 1958 erlassene „National Defense Education Act". Die NSF wurde im Titel IX dieses Gesetzes aufgefordert, „Maßnahmen vorzubereiten und durchzuführen, die für eine Katalogisierung, Exzerpierung, Übersetzung usw. erforderlich sind, soweit dies im Rahmen einer wirksamen Verbreitung wissenschaftlicher Information notwendig ist"103 — insofern stärkte dieses Gesetz (zusammen mit ähnlichen staatlichen Weisungen104— u.a. auch die Förderung der maschinellen Übersetzung. Für die Linguistik insgesamt aber waren vor allem die Titel IV und VI von Interesse, die eine breite finanzielle Unterstützung für linguistische Forschung und die Entwicklung von neuen Sprachlehrprogrammen vorsahen. Im Zuge des „Language Development Program" (Titel VI) wurden schon in den ersten beiden Jahren nach Gesetzerlaß 6,4 Millionen Dollar für linguistische Untersuchungen bereitgestellt105. Schwerpunktmäßig wurden dabei solche Forschungen gefördert, die sich auf die bislang vernachlässigten Sprachen des Fernen Ostens, Süd- und Südost-Asiens, des Nahen Ostens und auf die des sowjetischen Einflußbereichs richteten. Durch den National Defense Education Act sollten die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, das in der Nachfolge des 2. Weltkriegs in den verschiedensten Sprachgebieten tätige amerikanische Personal effektiv zu schulen. Dieses Gesetz sollte also in gewisser Hinsicht für eine bessere Fundierung und Weiterentwicklung der „Intensive Language Programs" sorgen, mit Hilfe derer das Militär (mit Unterstützung namhafter Linguisten) seit Beginn der 40er Jahre Soldaten in die Sprachen ihrer künftigen Einsatzgebiete einführte106. All diese Punkte machen deutlich, unter welch günstigen Bedingungen die Entwicklung der GTG stand - daß sie in der Zeit von 1957-1970 durch gewisse externe Faktoren außerordentlich gefördert wurde. Welche Rolle diese externen Faktoren jeweils gespielt haben, wird sicher erst eine detaillierte Analyse erweisen können, eine Analyse, die allerdings schon bei der Beschaffung des empirischen Materials mit außerordentlichen Schwierigkeiten zu kämpfen 103 Zitiert nach: Krauch, Kunz und Kittel (Hrsg), Forschungsplanung, S. 178. 104 Vgl. dazu die Direktive des Präsidenten der USA aus demselben Jahre bei: Krauch Kunz und Kittel (Hrsg), Forschungsplanung, S. 178f. 105 Kenneth W. Mildenberger, The National Defense Education Act and Linguistics, in: Monograph Series on Languages and Linguistics 13 (1962), S. 157-164, hier S. 160. 106 Vgl. dazu Paul F. Angiolillo, Armed Forces' Language Teaching, New York 1947.

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haben dürfte. Bei einer derartigen Untersuchung mußten natürlich eine ganze Reihe von zusätzlichen Dingen berücksichtigt werden, die wir hier ausklammern mußten; etwa die Auswirkungen gezielter projektorientierter Forschung auf die anderwärts betriebene Wissenschaft ohne Projektgebundenheit; es wären Fragen nach dem Einfluß der Wissenschaftler-Gemeinschaften auf das Aussehen der Forschungsplanung selbst (durch Beratergremien etc.) zu beantworten usw. All diese Probleme können leider in dem hier gesetzen Rahmen nicht behandelt werden.

3.3.

Bildungsökonomie: Zum Aufstieg der generativen Transformationsgrammatik in der BRD

Was den Aufschwung der GTG in den USA begünstigte, kann für die Entwicklung in der BRD nicht in Anspruch genommen werden: weder ist die Forschung an den Universitäten in dem Maße durch staatliche Projektaufträge gebunden noch haben etwa Fragen der maschinellen Übersetzung hier eine derart wichtige Position eingenommen107. Die Rezeption der GTG erfolgte in der BRD auch mit ca. zehn Jahren ,Verspätung'; während man den Beginn des Aufstiegs der GTG in den USA etwa mit dem Jahre 1957, d.h. mit dem Erscheinen von Chomskys „Syntactic Structures" ansetzen kann, so wurde die GTG in der Bundesrepublik erst in den Jahren nach 1967 in nennenswertem Umfang rezipiert. Vor allem aber muß man sehen, daß der Aufstieg der GTG in der BRD im Rahmen einer allgemeineren linguistischen' Umorientierung stattfand, innerhalb derer die GTG nurmehr eine gewisse Vorreiterposition zukam, und daß die Aufnahme transformationsgrammatischer Forschung hier im Selbstverständnis der betroffenen Wissenschaftler-Gemeinschaften einen noch weitaus stärkeren Bruch darstellte als in den Vereinigten Staaten. Während Chomsky seine Theorie weitgehend aus der Tradition des taxonomischen Strukturalismus heraus entwickelte108, gab es in Deutschland keine sprachwissenschaftliche Tradition, auf die die GTG in gewissem Sinne hätte aufbauen können. Wenn man in bezug auf die Rezeption der GTG in der Bundesrepublik von einer .Revolution' sprechen will, so wird man sie sicherlich als ,importierte Revolution' bezeichnen müssen. 107 Das soll allerdings nicht heißen, daß nicht in der BRD die linguistische Datenverarbeitung auch recht wichtig für die Durchsetzung der Linguistik gewesen wäre (wenn auch in einem Maße, das sich kaum abschätzen läßt), und auch hier unterstützten militärische Stellen linguistische Untersuchungen. (So wurde z. B. die Forschungsgruppe LIMAS in Bonn allein vom Bundesministerium für Verteidigung finanziert (vgl. Hartmann, Zur Lage der Linguistik, S. 72ff.). Bisher liegen noch keine genaueren Untersuchungen über diese Zusammenhänge vor. 108 Vgl. dazu z. B. Manfred Immler, Generative Syntax - Generative Semantik, München 1974, S. 14-32, S. 42ff.

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Aufgrund fehlenden empirischen Materials über die Struktur der von dieser Umorientierung betroffenen Wissenschaftlergruppen werden wir im folgenden eine verklausulierende Sprechweise wählen müssen und recht unscharf von Fachwissenschaften bzw. Fächergruppen sprechen, in denen sich der Wandel vollzogen hat. Besondere Bedeutung kommt dabei der Germanistik zu; diese Disziplin wurde zuerst und wohl auch am stärksten von der genannten Umorientierung betroffen, während andere sprachbezogene Fächer wie z. B. Anglistik, Romanistik etc. erst in zweiter Linie involviert waren. Wir wollen uns deshalb im folgenden allein auf die erstgenannte Fachwissenschaft beschränken. Um den Wandel innerhalb der Germanistik überhaupt verstehen zu können, wird es nötig sein, zunächst einige Bemerkungen über Tendenzen vorauszuschicken, die diese Disziplin bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts hinein maßgeblich bestimmten (und sie z. T. auch heute noch bestimmen); besonders geht es dabei um den sprachwissenschaftlichen Teil der Germanistik. Seine Stellung im Gesamtgefüge dieses Faches wird wohl nur im Rückgriff auf die Leistungen deutlich, die die historisch ausgerichtete Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert vollbrachte. Mit den Forschungen von Bopp Anfang des betreffenden Jahrhunderts, die meist als erste im engeren Sinne .wissenschaftliche' Beschäftigung mit Sprache gedeutet werden109, und den Untersuchungen Jakob Grimms, die sich speziell auf das Deutsche richteten, etablierte sich die Sprachwissenschaft als eine Rekonstruktionswissenschaft, deren vornehmstes Ziel in der Ermittlung älterer Sprachstufen und historischer Abhängigkeiten zwischen einzelnen Sprachstufen bestand. Dabei war es von besonderer Bedeutung, daß es im wesentlichen immer wieder deutsche Wissenschaftler waren, die die historisch gerichtete Sprachforschung vorantrieben; die Sprachwissenschaft war zu dieser Zeit — um mit Benfey zu sprechen — eine „wesentlich deutsche Wissenschaft"110. Diese übermächtige Stellung der deutschen Sprachwissenschaft im vorigen Jahrhundert wirkte sich im folgenden Jahrhundert so aus, daß es zu keiner nennenswerten Rezeption von Vorstellungen kam, die im Ausland entwickelt wurden. Der Blick blieb fest auf die Sprachgeschichte geheftet, und neue Forschungsrichtungen, die nicht dem im 19. Jahr109 „Es war nicht nur der Beginn der vergleichenden Sprachwissenschaft, sondern überhaupt der Beginn der Linguistik als organisierter, wissenschaftlicher Disziplin". (Milka Ivic, Wege der Sprachwissenschaft, München 1971, S. 34) Sehr verbreitet ist die Ansicht, daß mit Bopp die vorparadigmatische Phase der Linguistik ihr Ende fand. Dies ist allerdings recht problematisch, da die Trennung zwischen vorparadigmatischer und paradigmatischer Phase einer Wissenschaft - wie wir bereits gesehen haben - recht zweifelhaft ist. (Vgl. zur Interpretation der Entwicklung der indogermanischen Sprachwissenschaft vor allem auch die Beiträge in Hymes (Hrsg), Studies in the History of Linguistics, S. 233-358.) 110 Theodor Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft und orientalischen Philologie in Deutschland seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts mit einem Blick auf frühere Zeiten, München 1869. Skandinavische Wissenschaftler wie den Dänen Rask rechnete Benfey dabei der Einfachheit halber den deutschen zu.

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hundert vorgezeichneten Wege folgten, wurden so gut wie vollkommen ignoriert111. Was für die Sprachwissenschaft im institutionellen Rahmen der Germanistik besonders bedeutsam war, war die Tatsache, daß sich die Beschäftigung mit Sprache willig der Textdeutung beugte; sprachliche Untersuchungen standen wesentlich im Dienste der Literaturgeschichte112, und das eigentliche Studium der Germanistik war ein literaturwissenschaftliches Studium. Diese knappen - und notwendigerweise unzulässig verkürzenden — Bemerkungen müssen an dieser Stelle genügen. Nachdem die Germanistik als JDeutschwissenschaft' weitestgehend unbeschadet Wilhelminisches Zeitalter, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und bundesdeutsche Restauration überstanden hatte, war plötzlich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die „Krise der Germanistik" in aller Munde. In einem verspäteten Akt der Vergangenheitsbewältigung unternahm man Anstrengungen, die Rolle der Germanistik während der Herrschaft des Nationalsozialismus zu analysieren, und war schockiert über das bruchlose Selbstverständnis dieses Fachs. Man besann sich darauf, daß das Germanistik-Studium ja vor allem von zukünftigen Lehrern absolviert wird und geriet bei der Sichtung der in den Schulen verwendeten Lesebücher von einer Bestürzung in die andere. Das schon seit langem zu konstatierende Mißbehagen der Studenten am altgermanistischen Teil ihrer Ausbildung, der in der Berufspraxis so wenig nutzbar war, geriet jetzt zum Problem. Zudem entdeckte man bei der Rezeption der Arbeiten des englischen Soziologen Basil Bernstein die sogenannten Sprachbarrieren: daß nämlich Unterschichtenkindern nicht zuletzt aufgrund der ihnen eigentümlichen Sprachverwendung ein gesellschaftlicher Aufstieg weitgehend verwehrt bleibt. Das Fazit, das aus der Erkenntnis der Dysfunktionalität der Altgermanistik und der .Entdeckung' der Sprachbarrieren zu ziehen war, lag auf der Hand: die Beschäftigung mit Sprache und Literatur des Mittelalters hatte zurückzutreten gegenüber einer stärkeren Berücksichtigung von Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Gegenwartssprache, die man bislang völlig vernachlässigt hatte. Da für Untersuchungen zum Neuhochdeutschen keine stark entwickelte Forschungstradition vorlag, an die man hätte anknüpfen können, war es natürlich sehr wirksam, auf die große Reputation zu verweisen, die die Theorie der 111 So wurden z.B. die Ideen des .Begründers' der strukturalistischen Sprachwissenschaft, Ferdinand de Saussures, in Deutschland in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts kaum beachtet. Daß sein 1916 erschienener „Cours de linguistique generale" jedoch im Ausland derart einflußreich wurde, mag ebenfalls mit der Vorherrschaft der deutschen Sprachwissenschaft zusammenhängen - hier war nämlich eine Möglichkeit gegeben, sich von eben dieser Vorherrschaft zu lösen und eigenständige Forschungsrichtungen zu begründen. (Vgl. dazu Malkiel und Langdon, History and Histories, S. 537). 112 Die aus all dem folgenden Beschränkungen für die Sprachwissenschaft im Rahmen der Germanistik finden sich recht instruktiv zusammengefaßt bei Peter von Polenz, Gibt es eine germanistische Linguistik? , in: Jürgen Kolbe (Hrsg), Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1969, S. 153-171, hier: S. 154-160. 167

GTG inzwischen in den Wissenschaftler-Gemeinschaften der USA gewonnen hatte. (Aus Gründen der ,Systemkonkurrenz' war es zudem bedeutsam, daß in der DDR die Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik'113 bereits seit geraumer Zeit mit der Erarbeitung einer GTG des Deutschen beschäftigt war.) Wichtig aber vor allem war die Tatsache, daß die Proponenten der GTG einen klaren Ausweg aus der Krise der Germanistik wiesen, indem sie auf die ,Wissenschaftlichkeit' der GTG pochten, auf die Nähe ihrer Verfahren zu naturwissenschaftlicher Hypothesenbildung und Überprüfung. Gerade dieses Ausweises der Wissenschaftliclikeit bedurfte die Germanistik als ,Fach in der Krise' dringendst: die erkannte lüeologiehaftigkeit früherer Forschung und Lehre sollte durch den Bezug auf exakte, wissenschaftlich ausgewiesene Forschungsmethoden unterlaufen werden. Dieser alleinige Rekurs auf eine sogenannte ,Krise der Germanistik' für die Erklärung des Aufstiegs der GTG in der BRD muß allerdings einigermaßen unbefriedigend bleiben, da hier etwas zur Erklärung herangezogen wird, was im Grunde genommen unbegriffen ist und selbst noch der Erklärung bedarf. Bislang ist nämlich völlig unklar, wie es denn überhaupt zu einem tiefgreifenden Bewußtsein der Krise kam, wieso man gerade in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die bisherige Praxis dieser Disziplin als unbefriedigend empfand. Das Unbehagen an einer solchermaßen reduzierten Erklärung führte eine Reihe von Autoren dazu, die sich vollziehende Umorientierung im Bereich der Germanistik in einem übergreifenden gesellschaftlichen Rahmen zu analysieren1*4. Wenn man sich bisweilen auch noch auf die Krise der Germanistik als einer zulässigen (und offenbar auch durchaus notwendigen) Erklärungsinstanz berief115, so war man doch bemüht, Grundsätzlicheres heranzuführen, um die Hinwendung zu neuen Verfahren der Sprachbeschreibung begreiflich zu machen. Trotz 113 Vgl. dazu Daniele Clement, Strukturelle Grammatik, München 1974 (Beih. zu ,Linguistik und Didaktik', 1) 114 Vgl. z.B. Susanne Glauber et al., Kritik des linguistisierten Sprachunterrichts, in: betrifft: erziehung 6 (1973), H. 10, S. 35-40; Utz Maas, Grundkurs, Sprachwissenschaft, I. Die herrschende Lehre, München 1973, insbesondere S. 19-37; Utz Maas, Ansätze zu einer Ideologiekritik des linguistisierten Sprachunterrichts, in: Utz Maas, Argumente für die Emanzipation von Sprachstudium und Sprachunterricht, Frankfurt 1974, S. 22-113; Hartmut Haberland und Rainer Paris, Reform als Bluff? , in: betrifft: erziehung 7 (1974), H. 5, S. 38-40; Utz Maas, Linguistisierung und politische Strategie, in: betrifft: erziehung 7 (1974), H. 9, S. 11—21; Gerd Simon, Zur Politökonomie der Soziolinguistik, in: Gerd Simon (Hrsg), Bibliographie zur Soziolinguistik, Tübingen 1974, S. VII-XIX; Hamburger Autorenkollektiv, Sprachunterricht gleich Linguistik? , Stuttgart 1975. 115 „Die Einführung der Linguistik ist also sicher auch ein Reflex auf die Krise der Philologien, speziell der Germanistik". (Peter Eisenberg und Hartmut Haberland, Das gegenwärtige Interesse an der Linguistik, in: Das Argument 14 (1972), S. 326-349, hier: S. 327) „[Die] rasche Durchsetzung [der Linguistik ist] auch auf die spezifische Situation der Germanistik an den westdeutschen Hochschulen zurückzufuhren". (Glauber et al., Kritik, S. 37)

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erheblicher Divergenzen im einzelnen lassen sich bei all diesen Arbeiten doch gewisse Übereinstimmungen feststellen: Ihre Analyse setzt nicht so sehr bei der Forschung an als vielmehr bei der Lehre. Eine Analyse des Ausbildungssektors soll das Verständnis für die schnelle Durchsetzung der Linguistik schaffen, und der wichtigste Begriff in diesen Erörterungen ist der der ,Qualifikation' als der „zentrale Gegenstand bilciungsökonomischer Fragestellungen"116. Nicht Ausbildung an sich bildet das Thema der Analyse, sondern Ausbildung in ihrer spezifischen Formbestimmtheit, d. h. es geht wesentlich um eine Kritik der Ausbildung unter kapitalistischen Voraussetzungen. Im Mittelpunkt der Erörterungen steht dabei nicht so sehr die Einführung linguistischer (und damit auch generativ-transformationeller) Forschung und Lehre, sondern vor allem die Tatsache, daß die Linguistik Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre so schnell Eingang in die Sprachlehrbücher für allgemeine und weiterführende Schulen (bzw. für verschiedene Schulstufen) gefunden hat. Daß die angesprochene Krise der Germanistik nur einen äußerst geringen Erklärungswert besitzt, hat vielleicht am deutlichsten Dieter Richter in einem 1972 erschienen Aufsatz herausgestellt117. Ursache für die Krise des Selbstverständnisses seien ökonomische Veränderungen, die notwendigerweise auf den Ausbildungssektor durchschlügen: „Gerade die seit Jahren beredete sogenannte .Krise der Germanistik' ist eben primär nicht eine Krise des internen Selbstverständnisses, der Methodenlehre, des Gegenstandsbereichs oder der organisierten Departmentierung des Fachs (und also primär von daher nicht zu kurieren), sondern eine Krise seiner gesellschaftlichen Funktionsbestimmung. [...] Die sogenannte Krise der Germanistik hat ihre Ursache darin, daß die Germanistik gegenüber der ökonomischen Entwicklung in der BRD, wie sie sich vor allem seit den Sechziger Jahren vollzieht, mehr und mehr dysfunktional geworden war. Diese Entwicklung ist gekennzeichnet vor allem durch den Versuch, die relative technologische Rückständigkeit der BRD, die während der Sechziger Jahre deutlich geworden war und die sich als Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt auszuwirken drohte, durch .Höherqualifizierung' eines Teils der Ware Arbeitskraft aufzuholen - wobei den Bereichen Wissenschaft und Ausbildung erhöhte Bedeutung zukommt. Die neue Qualifikationsstruktur der Arbeitskraft beinhaltet vor allem einen hohen Grad an fachlicher Mobilität, operational-instrumentalen Fähigkeiten und technisch-funktionaler Intelligenz — bei gleichzeitiger Hintansetzung inhaltlichen Wissens und der Verkümmerung der Fähigkeit, über die spezialisierte Funktion hinaus das Ganze des Produktionsprozesses und der Gesellschaft durchschauen und verändern zu können. Sie zielt auf den technischen Spezialisten, wie er sich vor allem in den .gehobenen' Rängen der Industriearbeiterschaft (Steuerfunktion, Kontrollarbeit etc.), in den verschiedenen Gruppen der white-collarworkers und des administrativen und industriellen Managements findet. Diese Reform 116 Elmar Altvater, Der historische Hintergrund des Qualifikationsbegriffs, in: Elmar Altvater und Freerk Huisken (Hrsg), Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, Erlangen 1971, S. 77-90, hier: S. 77. 117 Dieter Richter, Ansichten einer marktgerechten Germanistik, in: Das Argument 14 (1972), S. 314-325.

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der Ausbildung hat zugleich selektive Funktion: Sie soll das bis dato weitgehend vernachlässigte .Reservoir' der in diesem Sinne Bildbaren .ausschöpfen'. Es geht zu Lasten der großen Masse der Arbeiter, die als unqualifizierte, billige Arbeitskräfte benötigt werden und dem kleineren Kreis der technischen Spezialisten gegenüberstehen (Dequalifikation)" .

Auch das Aufkommen der strukturellen Linguistik (und damit vor allem der GTG) steht nach Richter im Zusammenhang mit einer ,,neue[n] Subsumption der Kulturwissenschaften unter den ökonomischen Verwertungsprozeß"119: „Es genügt also z. B. nicht der bekannte Hinweis der Sprachwissenschaftler, mit der derzeitigen Hinwendung der Linguistik zur strukturalen Methode vollziehe die Sprachwissenschaft in der BRD eben ihre längst überfällige Angleichung an den internationalen wissenschaftlichen Standard. Zu fragen wäre darüber hinaus nach dem Verwertungsinteresse an der strukturalen Linguistik. Es scheint vor allem der hohe Grad der Operationali tat und Instrumentalität zu sein, den eine formalisierte Technik der Sprachbetrachtung zu vermitteln verspricht; die Fähigkeit, sich funktionaler Zeichensysteme zu bedienen - Fähigkeiten, die auf die Qualifikationsstruktur einer spezialisierten technischen Elite zielen. Dabei besteht die Gefahr, daß dort, wo Kommunikation nur im System eines geschlossenen Reglerkreises beschrieben wird, die Inhalte der Kommunikation irrelevant, daß Handlungsimpulse durch ihre Formalisierung neutralisiert werden"

Der Aufstieg der Linguistik erweist sich hier als notwendiger: durch Veränderungen im Produktionssektor sind neue Qualifikationsanforderungen an die Arbeitskraft gestellt, denen nur durch eine Einbeziehung linguistischer Inhalte und Methoden in die Ausbildung adäquat Rechnung getragen werden kann. So plausibel dieser Erklärungszusammenhang auf den ersten Blick auch scheinen mag: er bringt doch eine ganze Reihe von Schwierigkeiten mit sich. Wir wollen hier nur eine Anmerkung zu einem ganz zentralen Punkt dieser Analyse machen. Richter zufolge zielt die Fähigkeit, sich funktionaler Zeichensysteme zu bedienen, „auf die Qualifikationsstruktur einer spezialisierten technischen Elite", während die große Masse der Arbeitenden weiterhin „als unqualifizierte, billige Arbeitskräfte" benötigt würden. Wenn das richtig ist — und empirische Untersuchungen deuten in eine solche Richtung121 —, dann 118 119 120 121

ebd., S. 315f. ebd., S. 322 ebd., S. 318 Vgl. Horst Kern und Michael Schumann, Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein, Frankfurt 1970. Leichter zugänglich ist die Zusammenfassung dieser umfangreichen Studie in: Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft (Hrsg), Wirtschaftliche und soziale Aspekte des technischen Wandels in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. l, Sieben Berichte, Kurzfassung der Ergebnisse, Frankfurt 1970, S. 277-352, sowie Hans Paul Bahrdt, Horst Kern, Martin Osterland und Michael Schumann, Zwischen Drehbank und Computer, Industriearbeit im Wandel der Technik, Reinbek 1970.

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vermag all dies wohl kaum die Einbeziehung der formalen Linguistik in das Germanistikstudium zu begründen. Diese Ausbildung ist ja keine Schulung einer Gruppe technischer Spezialisten, sondern, dient — von in diesem Zusammenhang irrelevanten Ausnahmen abgesehen — der Qualifikation von Lehramtsanwärtern, die dann später wiederum als Qualifikationsagenten in der allgemeinen Ausbildung tätig werden. Gehören Inhalte und Verfahren der formalen Linguistik nun sowohl zu ihrem Studienpensum als auch zu dem nachher von ihnen vermittelten Lehrstoff, so werden Fähigkeiten in der Hantierung mit formalen Zeichensystemen in einem Maße vermittelt, das weit über die Qualifikation einer bestimmten ,Elite' hinausreicht122. Für den Großteil der Schüler käme es so zu einer ,Überqualifikation', d.h. zum Erwerb von Fähigkeiten, die in der späteren Berufspraxis überhaupt nicht genutzt werden können. Solche Schwierigkeiten sind von anderen Autoren durchaus gesehen worden; sie gehen davon aus, daß in der Ausbildung unter kapitalistischen Bedingungen „eine Überproduktion von Qualifikation' verhindert werden [muß]"123. Besonders wichtig sind damit die Selektionsinstanzen der Ausbildung, die den Zugang zu ,höherer' Qualifikation systematisch verengen. Im Ansatz dieser Autoren nun „erfüllt das Fach [Deutsch an den Schulen] in erster Linie Selektionsfunktionen"m: „Die wichtigste Funktion der Schule in Fächern wie dem Sprachunterricht kann darin gesehen werden, die soziale Selektion zu legitimieren, indem ca. 95% der Schüler (das sind fast alles Kinder der unterprivilegierten Schichten, da die Selektion nicht in allen Schichten proportional gleich ist) klar werden soll, daß sie zu unbegabt fiir ein Universitätsstudium sind (und ein entsprechendes Gefalle der späteren Einkommen zu akzeptieren haben). Durch das Obsoletwerden der herkömmlichen Selektionskriterien wie Schön- und Rechtschreibung ergibt sich die Notwendigkeit eines Substituts für diese. Schon seine ästhetische Konkretisierung (Pfeile-, Bäumchen-, Satzbögen- und Kommunikationsmodellemalen) läßt im neukonzipierten Sprachunterricht ein solches Substitut vermuten"125.

Aber auch dieser Ansatz macht weder die Notwendigkeit der Linguistik für den Schulunterricht noch die Unverzichtbarkeit auf linguistische Verfahrensweisen im Germanistikstudium deutlich. Die gesellschaftliche Funktion des Deutschunterrichts bleibt bei diesem Ansatz ja unverändert bestehen, und um 122 Für eine solche Elite sind zudem bestenfalls Teile der gesamten Linguistik wesentlich; für sie gilt ähnliches, wie es Kunz und Rittel von den Informationswissenschaftlern behaupten, daß deren „wünschenswerte linguistische Kenntnisse [...] sich schon auf dem Niveau von Einführungskursen von denen des Hauptfach-Linguisten" unterscheiden müßten. (Werner Kunz und Horst Rittel, Die Informationswissenschaftten, Ihre Analyse, Probleme, Methoden und ihr Ausbau in der Bundesrepublik Deutschland, München 1972, S. 108) 123 Hamburger Autorenkollektiv, Sprachunterricht gleich Linguistik? , S. 50. 124 Maas, Ansätze zu einer Ideologiekritik, S. 23 125 Glauber et al., Kritik, S. 36 171

die Hinwendung zur Linguistik zu erklären, wird ein äußerst problematisches Hilfskonstrukt eingeführt, das selbst wiederum der Erklärung bedarf: das „Obsoletwerden" herkömmlicher Selektionskriterien126. Eine Analyse, die allein von der Selektion her argumentiert und dabei auf Beharrungstendenzen im Ausbildungssektor pocht, bleibt letztlich genauso unbefriedigend wie eine, die Veränderungen der Qualifikationsstruktur im Produktionsbereich direkt für die Umorientierungen im Ausbildungsbereich verantwortlich macht. Damit soll allerdings den oben zitierten Überlegungen keineswegs ihre Berechtigung abgesprochen werden — allein ihr Anspruch als übergreifende Erklärung ist zu kritisieren. Daß die bisherigen Versuche, die Umorientierung auf Linguistik in Schule und Hochschule auf bildungsökonomischer Grundlage zu begreifen, noch nicht recht zu überzeugen vermögen, ist vor allem auch darin begründet, daß z. Zt. noch kein verläßlicher kategorialer Rahmen für solche Untersuchungen zur Verfügung steht; die Fülle des Beobachteten ist so kaum auf den Begriff zu bringen. Erst wenn der doch recht globale Begriff der Qualifikation genauer analysiert ist127, erst wenn herausgearbeitet ist, wie sich sprachliche Qualifikation in das System verschiedenster anderer Qualifikationen fügt, wenn deutlich gezeigt wird, wo und wozu sprachliche Qualifikation im einzelnen vonnöten ist, wenn das Verhältnis von allgemeiner und spezieller Ausbildung noch genauer untersucht worden ist etc. - erst dann werden verläßliche Angaben über die bildungsökonomischen Hintergründe der angesprochenen Veränderungen in Schule und Hochschule möglich werden.

126 Vgl. dazu die ausführliche Kritik bei Haberland und Paris, Reform als Bluff? , S. 40 127 Ansätze dazu finden sich z. B. bei Michael Masuch, Politische Ökonomie der Ausbildung, Lernarbeit und Lohnarbeit im Kapitalismus, Reinbek 1972, S. 4 Iff. 172

Literaturverzeichnis

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