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German Pages 226 Year 2015
Dorothee Kimmich, Wolfgang Matzat (Hg.) Der gepflegte Umgang
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Dorothee Kimmich, Wolfgang Matzat (Hg.) Der gepflegte Umgang. Interkulturelle Aspekte der Höflichkeit in Literatur und Sprache (unter Mitarbeit von Alfred Stumm und Andreas Gehrlach)
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© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Karl Blossfeldt, Dryopteris filix mas. Wurmfarn. Junge gerollte Blätter in 4facher Vergrößerung, in: Urformen der Kunst (Berlin 1928, Neuausgabe Köln 2003). © für die Abbildung: Archiv Karl Blossfeldt, Ann und Jürgen Wilde, Zülpich. Lektorat & Satz: Dorothee Kimmich, Wolfgang Matzat Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-820-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Einleitung
DOROTHEE KIMMICH UND WOLFGANG MATZAT 7
I. HÖFLICHKEIT: EIN SCHWIERIGES ERBE Edelstein oder Stachelschwein. Aspekte der Höflichkeit in der Goethezeit
KARL HEINZ GÖTZE 19
Der Hofmann im 18. Jahrhundert: Höflichkeit versus Augensprache
HELGA MEISE 33
»Lenzens Eseley« und ihre Folgen
INGRID HAAG 49
Höflichkeit und Liebe in Stendhals De l’amour
WOLFGANG MATZAT 61
II. KONTINUITÄT UND AKTUALISIERUNG DER HÖFLICHKEITSDISKUSSION Balzac, »science des manières« et identité nationale
JOËLLE GLEIZE 79
»Alles gute Benehmen kann hier nicht über die materialistische Pointierung des Eßzweckes hinweghelfen«: Georg Simmels (K)Antwort auf die ›guten Töne‹
VOLKER MERGENTHALER 93
Verhaltenslehren der Kälte und Höflichkeit – Zivilität und Nonkonformismus der Zwischenkriegszeit in Deutschland und Frankreich
THOMAS KELLER 107
III. LINGUISTIK DER HÖFLICHKEIT Höflichkeit und Metonymie
PETER KOCH 143
(Un)Höflichkeit – (im)politesse im Wörterbuch: eine vergleichende Untersuchung
BARBARA KALTZ 185
Sprachliche Konzepte von ›Höflichkeit‹ in den slavischen Sprachen
TILMAN BERGER 199
Autorinnen und Autoren 219
EINLEITUNG DOROTHEE KIMMICH UND WOLFGANG MATZAT I. Manieren ist der Titel eines viel rezensierten und besprochenen Buches, das 2003 im Eichborn Verlag erschienen ist (Asserate 2003). Der Autor, Asfa-Wossen Asserate, hat seine Ausbildung in den USA und in England absolviert, ist seit Jahren in Frankfurt in der Immobilienbranche tätig und hatte offensichtlich ausreichend Gelegenheit, die Deutschen und ihre Manieren zu studieren. Die Feuilletons reagierten begeistert, das Buch war ein Erfolg (vgl. z. B. Mayer 2003). »Manieren« – oder auch höflicher Umgang – sind ein Thema, das durchaus sein Publikum findet. Man kann von einem wiederkehrenden Interesse an ›gutem Benehmen‹ sprechen. Es stellt sich dann allerdings die Frage, wie dieses Interesse im Einzelnen zu verstehen ist, welche Funktion es hat, wie es sich artikuliert und welche Ideen oder auch Hoffnungen mit einer Wiederkehr der Höflichkeit verbunden werden. Ganz offensichtlich geht es nicht nur um die bekannten Gesten, um einen Gruß, das Siezen und Duzen, oder auch um das, was die Fachleute als »negative Höflichkeit« bezeichnen, also darum, dass wir niemanden behindern. Höflichkeit wird vielmehr diskutiert im Kontext von Werten, die denjenigen der Moral sehr nahe kommen: Es geht um Haltung, Schutz und Selbstschutz, um das soziale und individuelle Management von Distanz und Nähe, um Achtung und Rücksicht, um Toleranz und Anerkennung. Höflichkeit spielt daher besonders in interkulturellen oder transkulturellen Diskursen eine herausragende Rolle (vgl. Macho 2002). Höflichkeit ist einerseits eine anthropologische Grundtatsache, die den menschlichen Umgang wohl schon immer und überall geprägt hat, begegnet uns aber andererseits in kulturspezifischen Ausformungen. Nach einer kürzlich durchgeführten Umfrage des Demoskopischen Instituts in Allensbach halten 87 % der Eltern es für nötig, ihren Kindern Höflichkeit beizubringen, noch 1992 waren es nur 73 %. In Hessen 7
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wurde ein Schulfach UBV (Umgang, Benehmen, Verhalten) eingeführt, das auch der saarländische Bildungsminister in ähnlicher Weise übernommen hat. Haben wir eine Konjunktur der Manieren, des Anstands, der guten Sitten zu beobachten? In jedem Fall gelten sie als notwendig, um Erfolg zu haben. Die Zeichen für eine Renaissance bestimmter Formen und Rituale der Höflichkeit sind nicht zu übersehen. Verantwortlich gemacht für das zeitweise Verschwinden von Höflichkeit und guten Sitten werden häufig die 68er-Generation und ihre Epigonen. Claus Leggewie etwa kritisiert den »formlosen Umgang«, das schnelle Duzen und die spontane Eröffnung auch intimer Lebensumstände als eine Verbindung von plumpem Genossen-Du mit den Illusionen einer Joint-Gemeinschaft, die im »weichgesprochenen Du der Sponti-Zirkel und Männergruppen der 70er Jahre« klägliche Rituale pflegten, über die man heute nur spottet (Leggewie 1991: 12f.). Möglicherweise ist diese Kultur der expliziten und ideologisch untermauerten Anti-Höflichkeit uns heute noch fremder als die Benimmbücher der 50er Jahre es sind. Offenbar scheint es gerade der Blick des Fremden auf die eigene Höflichkeit und Unhöflichkeit zu sein, der als besonders aufschlussreich gilt. So ist auch Asserates Buch keine ›Benimmfibel‹, vielmehr eine Form der Beobachtung, die auf einer fast ›ethnologischen‹ Perspektive beruht, wie sie auch in diesem Band entfaltet wird. Gerade im deutschfranzösischen bzw. im interkulturellen Vergleich repräsentiert das Thema der Höflichkeit Positionen einer theoretischen Debatte, die seit Jahrhunderten das Nachdenken über den gesellschaftlichen Umgang begleiten und strukturieren. Es ist immer nur die Höflichkeit der Anderen oder eben deren Mangel an Höflichkeit, der gesehen und beschrieben werden kann. Nicht selten sind die Anderen eben »die Anderen«, weil sie so ›unhöflich‹ sind, das heißt nach anderen kulturellen Kodes ihre Gemeinschaft und Kommunikation strukturieren. Höflichkeit als eine Art soziales Verkehrszeremoniell ist offenbar überhaupt nur beobachtbar, wenn man in diesem Modell nicht selbst vollkommen sozialisiert ist. Bei der Debatte über höfliches und unhöfliches Verhalten zwischen Franzosen und Deutschen – und das ist hinlänglich bekannt – geht es um die barbarischen, unhöflichen Deutschen und die künstlichen, unehrlichen Franzosen. Was damit gemeint ist, sind nicht die unterschiedlichen, mehr oder weniger appetitlichen Formen, sich zu schnäuzen, die Frage, ob man Kartoffeln mit dem Messer oder der Gabel zu zerteilen hat, die Sitte, der Dame den Vortritt zu lassen oder in den Mantel zu helfen. Vielmehr geht es um Wahrheit und Verstellung, Ehrlichkeit und Lüge, Echt- und Falschheit, um Aufrichtigkeit, Authentizität und Spiel, um Charakter und Maske, also um ethische Grundwerte und fundamentale Konzeptionen der Subjektivität (vgl. Elias 1980, Bd. 2: insbes. 351f.). Es
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EINLEITUNG
geht dabei aber auch um die Lesbarkeit von Zeichen, um die Frage, welche Schlüsse aus Verhalten und performance zu ziehen sind, welche Sprache die jeweiligen Gesten und das Gebaren sprechen, welche Informationen weitergegeben werden. Wer Höflichkeit als Lüge schmäht, legt dem sozialen Verhalten des Menschen ein anderes anthropologisches Modell zugrunde als derjenige, der Höflichkeit als Fundament einer Kultur der Anerkennung und Achtung begreift. Gilt Höflichkeit als Lüge, wird sie verächtlich als Sekundärtugend bezeichnet, als Tugend um der Form willen, schmückende Tugend, Scheintugend, mit der der Ästhetik gegenüber der Ethik, den Äußerlichkeiten gegenüber den inneren Werten der Vorzug gegeben werde. So lauten die Vorwürfe, die meist von deutscher Seite gegen eine Kultur der Höflichkeit französischer Prägung erhoben werden (vgl. Weinrich 1986). ›Der Deutsche‹, der so argumentiert, glaubt an das Natürliche oder an das natürlich Gute, die gute Natur und – folgenreicher noch – an eine ›Natur des Guten‹. Zu dieser Sorte als typisch deutsch wirkender ›Fundamentalisten‹ ist der aus der französischen Schweiz stammende Rousseau übrigens ebenso zu zählen, wie auf der anderen Seite die Einsicht in den unhintergehbaren Charakter des gesellschaftlichen Rollenspiels Helmuth Plessner mit der skeptischen Sicht der französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts verbindet (vgl. Plessner 1966). Die Stereotypen des ›Deutschen‹ und ›Französischen‹ lassen sich bei näherem Hinsehen also nicht aufrecht halten, bleiben aber trotzdem Topoi der Argumentation, die in unterschiedlichen Variationen immer wieder auftauchen. Das »Gespenst des Authentischen« hat Manfred Schneider diesen Verdacht genannt, der die aristokratische Gesellschaft – schon in mittelalterlichen Texten nachweisbar – überkommt, ihre guten Sitten könnten nur Maske und Schein sein (Schneider 1993: 44). Das Bedürfnis, zwischen aufrichtiger und trügerischer Höflichkeit zu unterscheiden, bestimmt die Reflexion über die Funktion von Sitten und courtoisie. La Rochefoucauld kommentiert diese Problematik der sozialen Maske, indem er bemerkt, vollkommene Tapferkeit etwa bestehe darin, »ohne Zeugen das zu vollbringen, was man vor aller Welt zu vollbringen vermöchte.«1 Verhalten darf also nicht abhängig gemacht werden von der 1
La Rochefoucauld 1967: 55, Maxime 216: »La parfaite valeur est de faire sans témoins ce qu´on serait capable de faire devant tout le monde.« Während Karlheinz Stierle in einem langen Artikel über Hartmanns Erec auf die mittelalterlichen Ursprünge eingeht, möchte Manfred Schneider diesen Prozess erst als ein aufklärerisches Phänomen des 18. Jahrhunderts gelten lassen. Dort jedenfalls finden sich die Belegstellen zuhauf (vgl. Stierle 1994; Bastl 1998). 9
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An- oder Abwesenheit anderer. Öffentlichkeit oder Intimität dürfen nicht entscheiden über höfliches Verhalten. Es muss überall und unter allen Umständen gleich ausfallen, der Beobachter ist immer vorhanden in demjenigen, der selbst handelt: Das ist eine radikale und kategorische Position, die La Rochefoucauld eher in die Nähe von Kant rückt, als in die von moralistischen Verhaltenslehren. Der kategorische Imperativ ist eben ein solcher, weil er immer und ohne Bedingungen gilt, während Höflichkeit und gute Sitten im moralistischen Sinne als kulturelle Kodes identifiziert wurden und damit historisch, sozial und kulturell abhängig sein müssen. Die Grauzone zwischen Moral, Sitten, Anstand und Höflichkeit wird hier offensichtlich zum theoretischen und folglich auch zum praktischen Problem. Weit entfernt ist La Rochefoucauld aber trotz allem von einer Argumentation, welche die kategorische Haltung mit dem Postulat einer naturgegebenen Moral zu begründen versucht. Erst diese Wendung gibt der Debatte ihre eigentliche – unangenehme – Richtung. Man findet sie etwa bei Knigge: »Entfernung von der Natur« sei das Verhalten der Hofleute. Gleichgültig seien sie gegen die »ersten und süßesten Bande der Menschheit«; und dort fällt auch das entsprechende Stichwort: »Kälte gegen alles, was gut, edel und groß ist«, kennzeichne ihr Verhalten (Knigge zit. nach Schneider 1993: 47). Damit ist die Dichotomie markiert: Natürliches Sein und künstlicher Schein treten gegeneinander an. Heinrich Heine, einer der wichtigsten deutsch-französischen Kulturbeobachter, ein europäischer Ethnologe, hat immer wieder versucht, dem Streit auf deutscher Seite den Bierernst und den Deutschen ihren Glauben an die Natur zu nehmen: Er betont, dass das »Wahre«, »Echte«, das »Menschliche« nicht in irgendeiner ursprünglichen Natur zu finden sei. »Mensch ist man erst recht auf dem Maskenballe«, und die schönste Freiheit ist für ihn daher die »Maskenfreyheit« (Heine 1973, Bd. 6: 37). »Aber ist es nicht Thorheit, den inneren Sinn einer fremden Erscheinung ergründen zu wollen, während wir nicht einmal das Räthsel unserer eigenen Seele zu lösen vermögen! Wissen wir doch nicht einmal genau, ob die fremden Erscheinungen wirklich existieren! Können wir doch manchmal die Realität nicht von bloßen Traumgesichten unterscheiden!« (Heine 1994, Bd. 5: 248)
Inbegriff der gelungenen Existenz im Zeitalter der Masken ist für Heine die Pariserin. Es ist nicht einmal möglich zu sagen, ob sie »schön« ist, nur die Grazie ihrer Selbstinszenierung besticht: »wer kann entziffern, ob das ächt ist, was der Tüll verräth [...].« (Heine 1994, Bd. 5: 237) »Der männliche Scharfblick«, der die Zeichen der Mode nach den Kriterien echt und falsch, wahr und verkleidet analysieren und entziffern wollte, wird nur verspottet. Die Pariserinnen lassen sich nicht festhalten und in 10
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Ruhe betrachten: »Der angeheftete, ruhige Schmetterling ist kein Schmetterling mehr. Den Schmetterling muß man betrachten, wenn er um die Blumen gaukelt.« (Ebd.) Heines Plädoyer für eine ›Maskengesellschaft‹ ist keine Werbung für die postmoderne Spaßgesellschaft. Vielmehr geht es um die ernsthafte Frage, was der Glaube an eine Person hinter der Maske, an innere Werte, an natürliche Wahrheit und Authentizität an Gewalt verbirgt. Die Forderung, statt der Maske der Höflichkeit, das wahre Gesicht der Gefühle zu zeigen, ist für Heine, dem man blinde Begeisterung für die Aristokratie wahrlich nicht nachsagen kann, eben gerade keine Geste der Befreiung und kein Weg zu humanerem Verhalten. Ganz im Gegenteil benennt er die latente Gewalttätigkeit, die in einer solchen Forderung verborgen ist: Dagegen sind es gerade die Pariser Masken- und Larventrägerinnen, die er mit Schmetterlingen vergleicht und sie an der frischen Luft davonfliegen lässt. Heines Metaphorik vertauscht die gängige Zuordnung von Natürlichkeit und Ehrlichkeit versus Künstlichkeit und Höflichkeit. Vielmehr ist es die Natur selbst, die uns die Notwendigkeit von Verkleidung, Camouflage, Mimikri und Spiel vormacht. Heines Idee der ›Maskengesellschaft‹ verbindet eine Ethik der Distanz und spielerischen Maskenfreiheit mit der Vorstellung von einer Ästhetik, die den Bereich des schönen Scheins als den ihrer eigenen Wahrheit zu erkennen und zu bewahren weiß.
II. In den europäischen Kulturen der Neuzeit sind die einflussreichsten Entwicklungen im Bereich der guten Umgangsformen, wie der Begriff schon zu erkennen gibt, im Kontext der höfischen Gesellschaften erfolgt, in jenen gesellschaftlichen Formationen also, die sich ab dem Mittelalter ausgebildet und dann mit der Entstehung der absolutistischen Höfe ihren Gipfelpunkt erreicht haben. Hierbei haben zunächst das Italien der Renaissance und dann ab dem 17. Jahrhundert Frankreich eine führende Rolle gespielt. Mit dem sich ab dem 18. Jahrhundert abzeichnenden Geltungsverlust der aristokratisch geprägten Gesellschaftsformen gerät diese Tradition der Höflichkeit jedoch in die Krise und stellt sich als »schwieriges Erbe« dar. Auf diese Epoche in der Geschichte der Höflichkeit beziehen sich die Beiträge des ersten Teils des Bandes. Sie behandeln die Infragestellung der Höflichkeit, wie sie von der Aufklärung bis zur Romantik erfolgt. Im Kontext der in diesem Band gewählten interkulturellen Perspektive ist dieser Prozess von besonderem Interesse, da in ihm nicht nur soziale Differenzen, die Rivalität von Aristokratie und 11
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Bürgertum, sondern auch kulturelle Identitäten verhandelt werden. Letzteres gilt in besonderem Maße für das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland, da zur Zeit des entstehenden Nationalgefühls die Kritik der elaborierten französischen Umgangsformen sich als Abgrenzungsmerkmal besonders anbot. Karlheinz Götze zeichnet am Beispiel von Autoren der Goethezeit – neben Goethe selbst werden Knigge und Sophie von la Roche, Ernst Moritz Arndt und Schopenhauer einbezogen – die Auseinandersetzung mit der französischen Gesellschaftskultur nach. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den einschlägigen Metaphern, wie schon der Titel des Beitrags »Edelstein oder Stachelschwein« illustriert. Während das Bild des Edelsteins den gesellschaftlichen ›Schliff‹ in einem positiven Licht erscheinen lässt, verweist Schopenhauers Vergleich des Bedürfnisses nach Geselligkeit mit einem durch Stacheln behinderten Herdentrieb auf eine skeptische Sicht der menschlichen Soziabilität, welche die Höflichkeit zu einem Notbehelf abwertet. Wie insbesondere das Beispiel Goethes zeigt, sind die deutschen Einschätzungen schwankend, wobei die kritische Sicht – so verdeutlicht ein Blick auf Sophie von La Roches Paris-Journal – immer auch eine kritische Sicht auf den von den französischen Nachbarn zelebrierten mondänen Umgang impliziert. Noch klarer zeigt sich das deutsche Unbehagen in der Höflichkeitskultur im Beitrag von Ingrid Haag. Sie nimmt einen Eintrag in Goethes Tagebuch, in dem von »Lenzens Eseley« die Rede ist und der sich auf einen nicht mehr identifizierbaren Fauxpas des notorischen Außenseiters bezieht, zum Anlass, um die Auseinandersetzung mit der Höflichkeit in einer Reihe von Lenz' Texten nachzuzeichnen. Am deutlichsten zum Ausdruck kommt der menschenverachtende Charakter der höfischen Geselligkeit in der Erzählung Der Waldbruder, die sich pikanterweise als Reprise von Goethes Werther darstellt und somit den Sündenfall des Weimarer Hofmanns bloßstellt. Demgegenüber entwirft die Erzählung vom Landprediger ein Gegenmodell bürgerlicher Souveränität, das jedoch dort seine Grenze findet, wo die ästhetische Dimension des guten Tons ins Spiel kommt, auf die, wie schon Götze in seinem Beitrag darlegt, gerade Goethe einen besonderen Akzent legt. Während sich die ersten beiden Beiträge auf die Problemlage der Goethezeit beziehen, rollt Helga Meise ein Kapitel aus der Vorgeschichte der bürgerlichen Höflichkeitskritik auf. Sie zeigt an zwei Texten der deutschen Aufklärung, einem 1740 erschienenen Roman von Johann Michael von Loen mit dem Titel Der redliche Mann am Hofe, und einem 1775 unter dem Kürzel J. S. veröffentlichten Lustspiel, dessen Titel Valvaise der würdige Hofmann lautet, wie ein im höfischen Kontext topisches Thema, die Liebesrivalität zwischen dem Fürsten und einem engen
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EINLEITUNG
Vertrauten, einer positiven Lösung im Sinne aufklärerischer Humanität zugeführt wird. Sowohl im Roman als auch in der Komödie siegt – in unterschiedlichen Varianten, die wohl vor allem der Gattungsdifferenz geschuldet sind – die authentische Kommunikation über die höfische Etikette, wozu die Augensprache als unmittelbarere Form der Kommunikation das Ihre beiträgt. Der diesen Teil beschließende Beitrag von Wolfgang Matzat bezieht sich auf den immer schon, d. h. seit dem Entstehen des Ideals der höfischen Liebe, spannungsreichen Nexus von Liebe und Höflichkeit am Beispiel von Stendhals De l'amour. Der Traktat lässt erkennen, wie Stendhal nach den sozialen Umwälzungen der Französischen Revolution und des napoleonischen Empire trotz seiner Romantikbegeisterung dem Modell der mit dem Kode der Höflichkeit besonders eng verbundenen Salonliebe verhaftet bleibt und dabei zwischen einer kritischen und einer nostalgischen Sicht der Gesellschaft des Ancien Régime schwankt. Auch bei Stendhal kommt die interkulturelle, deutsch-französische Dimension der Höflichkeitsdiskussion in den Blick, nun aber von der anderen, französischen Seite. Stendhals ambivalente Einstellung gegenüber der französischen Salonliebe prägt auch seine Einschätzung des deutschen Liebesverhaltens, dessen unverstellte Innigkeit er schätzt und dessen Mangel an esprit er gleichwohl beklagt. Die drei Beiträge, die den zweiten, mit »Kontinuität und Aktualisierung der Höflichkeitsdiskussion« überschriebenen Teil des Bandes bilden, beziehen sich auf Entwicklungen des Höflichkeitsdiskurses im bürgerlichen Kontext des 19. Jahrhunderts und postbürgerlicher Tendenzen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Joëlle Gleize legt in ihrem Beitrag dar, wie sich in Texten von Honoré de Balzac der Übergang von der traditionellen, moralistischen zu einer soziologischen Betrachtungsweise – im Sinne des im Titel des Beitrags zitierten Begriffs einer »science des manières« – abzeichnet. Balzac erkennt den Funktionsverlust der Höflichkeit als Distinktionsmerkmal der Oberschicht und versucht zugleich neue Funktionalisierungen zu beschreiben, die sich innerhalb der durch soziale Mobilität gekennzeichneten bürgerlichen Gesellschaft ergeben. Zugleich kann Joëlle Gleize zeigen, dass in diesem Zusammenhang auch die nationalen Klischees vom groben Deutschen und vom feinen Franzosen mehr und mehr ihre Geltung verlieren. Vor diesem Hintergrund wirft der Beitrag von Volker Mergenthaler ein bezeichnendes Licht auf die deutschen Verhältnisse in den Gründerjahren. Am Beispiel von Georg Simmels Überlegungen zur Soziologie der Mahlzeit konstatiert Mergenthaler eine neue Aufwertung der Höflichkeit, die dem Selbstverständnis der bürgerlichen Schicht des neu gegründeten Reichs entspricht und bei der erneut gerade die ästhetische
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Dimension des guten Betragens eine besondere Rolle spielt. Hier geht es aber nun wohl nicht primär um eine humane Versöhnung von Form und Gesinnung. Vielmehr scheint sich mit dieser Inanspruchnahme einer ästhetischen Selbstinszenierung als Statussymbol, der konservativen Ausrichtung des Reichs entsprechend, in bürgerlichem Kontext ein Phänomen zu wiederholen, das schon die adlige Distinktion des 17. und 18. Jahrhunderts kennzeichnete. Ein weiterer Funktionswandel zeichnet sich, wie Thomas Keller unter dem Titel »Verhaltenslehren der Kälte und der Höflichkeit« darstellt, nach dem Ende der bürgerlichen Epoche in der Zeit zwischen den Weltkriegen ab. Nun werden bestimmte Elemente der höfisch-aristokratischen Tradition, der die bürgerliche Behaglichkeit verachtende heroische Gestus des adligen Kriegers und eine Souveränität signalisierende Kälte, zu Distinktionsmerkmalen nonkonformistischer Gruppierungen und Individuen. Dies gilt interessanterweise sowohl für Repräsentanten der politischen Linken wie André Malraux als auch für dem Faschismus nahe stehende Figuren wie Drieu La Rochelle. Auch der sich vor allem im Sexualverhalten manifestierende Nonkonformismus eines Georges Bataille geht einher mit aristokratischer Korrektheit des Verhaltens. Der aufklärerische Traum einer Versöhnung von Höflichkeit und Humanität ist damit endgültig ausgeträumt. Distinguiertes Betragen bildet hier vielmehr die provokative Antwort auf die Entwertung der aufklärerischen Ideale. Höflichkeit wird praktiziert im kommunikativen Verhalten und ist daher nicht ausschließlich, aber doch in hohem Maße an bestimmte Formen des sprachlichen Ausdrucks gebunden. Diese Sprache der Höflichkeit ist in den letzten Jahren ein besonderer Schwerpunkt der linguistischen Forschung gewesen. Daher ist der letzte Teil des Bandes der »Linguistik der Höflichkeit« gewidmet. Ausgehend von der aktuellen Theoriediskussion bezieht sich Peter Koch in seinem Beitrag zu »Höflichkeit und Metonymie« auf einen zentralen Aspekt des höflichen Sprechens, nämlich auf seine Tendenz zum indirekten Ausdruck. Im Zentrum seiner Ausführungen steht die Metonymie, die deshalb eine herausgehobene Rolle innerhalb der Tropen der Höflichkeit spielt, weil sie besonders dazu geeignet ist, direkte Infragestellungen des Selbstgefühls des Interaktionspartners zu vermeiden. Sie bildet daher auch einen Schlüssel für die Analyse der Anredeformen, auf die Koch ein besonderes Gewicht legt. Dabei bezieht er neben dem Deutschen das Französische, das Italienische und weitere romanische Sprachen in seine Argumentation mit ein. Barbara Kaltz geht unter dem Titel »(Un)Höflichkeit – (Im)politesse im Wörterbuch« der Entwicklung der Semantik der Höflichkeit auf der Basis von Wörterbucheinträgen sowohl zu den Begriffen courtoisie,
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EINLEITUNG
politesse, civilité, ›Höflichkeit‹, ›Artigkeit‹, ›Wohlanständigkeit‹ etc. als auch zu den Gegenbegriffen impolitesse und ›Unhöflichkeit‹ nach. Ihr besonderes Interesse gilt der Frage, wie das Spannungsverhältnis von äußerer und innerer bzw. echter und unechter Höflichkeit sich in der lexikalischen Dokumentation niederschlägt. Im Hinblick auf die nationalen Klischeevorstellungen ist es durchaus bedenkenswert, dass der deutschfranzösische Vergleich eher Ähnlichkeiten als Unterschiede hervortreten lässt. Tilman Bergers Beitrag ermöglicht es, einen Blick auf die slavischen Sprachen zu werfen. Dies bildet im Kontext des Bandes vor allem deshalb eine interessante Ergänzung, weil Berger darlegen kann, dass sowohl die Pragmatik der Höflichkeit – insbesondere das System der Anredeformen – als auch die Semantik in je unterschiedlicher Weise vom westeuropäischen Modell, allen voran natürlich dem Modell Frankreichs, geprägt sind. Diese Einflüsse sind besonders im westslavischen Sprachraum, etwa im Tschechischen, deutlich spürbar, während in den weiter östlich angesiedelten Sprachen wie dem Russischen die entlehnten Ausdrucksformen in stärkerem Maß mit dem eigenen System der Höflichkeitssprache interagieren. Die meisten der hier veröffentlichten Beiträge wurden anlässlich einer Tagung zum Thema »Courtoisie – Höflichkeit – Politesse« vorgestellt, die im Frühjahr 2006 in Tübingen stattfand. Sie wurde unterstützt von der Deutsch-Französischen Hochschule/Université franco-allemande, die auch den binationalen Studiengang Études interculturelles francoallemandes an den Universitäten in Aix-en-Provence und Tübingen fördert. Besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Dorothee Kimmich und Wolfgang Matzat, vor allem aber Alfred Stumm und Andreas Gehrlach, die bei der Redaktion der Texte und der Fertigstellung des Bandes in erheblichem Maße mitgewirkt haben. Tübingen, August 2008.
L i t e r at u r Asserate, Asfa-Wossen (2003): Manieren, Frankfurt a. M. Bastl, Beatrix (1998): »Intimität und Höflichkeit. Gesten und Orte der Intimität und deren Ambivalenz in der Zeit«. In: Christa Tuczay u. a. (Hg.), Grenzenlose Mediävistik, Bern/Berlin, S. 361-415. Elias, Norbert (1980): Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt a. M. 15
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Heine, Heinrich (1973): Berliner Briefe.1822. In: ders., Historischkritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr u. a., Bd. 6, Hamburg, S. 9-53. Heine, Heinrich (1994): Florentinische Nächte. In: ders., Historischkritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 5, Hamburg, S. 197-250. La Rochefoucauld (1967): Maximes, hg. v. Jacques Truchet, Paris. Leggewie, Claus (1991): »Regelwerk für einen zivilisierten Umgang. Ein Gespräch mit Ruthard Stäblein«. In: Ruthard Stäblein (Hg.), Höflichkeit. Tugend oder schöner Schein, Darmstadt, S. 12-22. Macho, Thomas (2002): »Höflichkeit als Sprache einer Weltgesellschaft«. In: ders./Brigitte Felderer (Hg.), Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, München, S. 9-25. Mayer, Susanne (2003): »Aber natürlich! Mit Charme und Witz lehrt der äthiopische Aristokrat Asfa-Wossen Asserate die deutschen Manieren«. In: Die Zeit 47 (13.11.). Plessner, Helmuth (1966): »Soziale Rolle und menschliche Natur«. In: ders.: Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie, Düsseldorf, S. 23-35. Schneider, Manfred (1993): »Der Betrug der guten Sitten«. In: Ruthard Stäblein (Hg.), Höflichkeit, Baden-Baden, S. 44-65. Stierle, Karlheinz (1994): »Courtoisie. Die literarische Erfindung eines höfischen Ideals«. In: Poetica 26, Nr. 3/4, S. 256-283. Weinrich, Harald (1986): Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist? Rede anlässlich der Ehrung mit dem Konrad-Duden-Preis der Stadt Mannheim 1986, Mannheim.
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I. H ÖFLICHKEIT : E IN SCHWIERIGES E RBE
E D E L S T E I N O D E R S T A C H E L S C H WE I N . A SPEKTE DER H Ö F L I C H K E I T I N D E R G O E T H E Z E I T KARL HEINZ GÖTZE
Der folgende Beitrag geht den Schicksalen der Höflichkeit in der Goethezeit nach und konzentriert sich dabei auf die deutsch-französische Perspektive. Es wird zu zeigen sein, dass mit der Aufklärung die höfisch codierte Höflichkeit in Zweifel, ja in Verruf gerät, weil sie der Natur des Menschen zuwider laufe und häufig zu üblem Behufe eingesetzt wird, da sie ja allemal auf Verstellung beruht. Das ist die Zeit Rousseaus und die des Werther. Wohl nicht zufällig kommt dann im Umfeld der ja nun dem Hof gegenüber gar nicht höflichen Französischen Revolution auch in Deutschland der Verdacht auf, dass die Menschen der Höflichkeit bedürfen, selbst wenn der Hof seine Stellung verlöre und damit seine Codes die Prägekraft für die Gesellschaft. Wir behandeln Texte des Freiherr von Knigge und der Sophie von La Roche aus dieser Zeit. Beide zeigen sich unentschieden, schwankend vor der ach so deutschen Entscheidung zwischen Natur und Ehrlichkeit einerseits und der Höflichkeit des Adels bzw. der großen Städte andererseits. Anhand eines Höflichkeitsproblems in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten wird dann analysiert, wie die deutsche Klassik das grundlegende Dilemma des Umgangs mit Menschen – entweder höflich und unehrlich, oder natürlich, aber grob – durch das Programm der Erziehung durch die Kunst zu lösen versucht: zur Natur gewordene Höflichkeit ist keine Unaufrichtigkeit mehr. Seine Deutschen haben Goethe nicht folgen wollen: Spätestens mit den Befreiungskriegen kehrt die alte Dichotomie wieder und wird nun national aufgeladen, etwa bei Ernst Moritz Arndt: Die Deutschen sind natürlich und ehrlich, die Franzosen sind höflich, galant und verlogen. Madame de Staël weiß französisch zu replizieren, wenn sie, ihre Erfahrungen in Deutschland zusammenfassend, der Überzeugung Ausdruck gibt, ein bisschen mehr Höflichkeit, Schein, Spiel, Indirektheit könne der deutschen Natur kaum schaden. Schopenhauer schließlich bricht radikal nicht nur mit den nationalen Paradigmen, sondern auch mit allen
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Hoffnungen auf die Veredelungsfähigkeit der menschlichen Natur und kehrt zurück zur Auffassung, Höflichkeit sei eben Verstellung der eigenen Natur, aber in Gesellschaft nötig. Wer auf seiner Natur bestehe, müsse die Gesellschaft meiden. Entscheidend für die Einschätzung der Rolle der Höflichkeit ist also die Antwort auf die Frage nach der menschlichen Natur und ihrer Entwicklungsfähigkeit. Diesem Zusammenhang, gedanklich unendlich reich und differenziert ausgefaltet in der uns interessierenden Periode, soll im Sauseschritt nachgegangen werden anhand von einigen zentralen Metaphern. Ist der Mensch ein Rohedelstein, der durch Geschliffenheit gewinnt? Oder gar ein Stachelschwein, dem Nähe allemal Schmerz bereitet? In diesem Spektrum erst gewinnen andere gängige Metaphern der Höflichkeit ihre Farbe. Ist Höflichkeit eine echte oder eine falsche Münze? Bedarf es der Masken? Was ist dahinter? Gehören sie herunter gerissen? Beginnen wir mit dem Edelstein. Die Metapher des Edelsteins taucht häufig auf im Zusammenhang der Höflichkeitsdiskussion, meist im Verein mit dem Attribut »geschliffen«. Das liegt schon von der Wortbedeutung des französischen Wortes »politesse« her nahe, bedeutet es doch Reibung, Abschleifung, »glänzend machen«. Man kann sich darunter den Vorgang des Schleifens eines Rohdiamanten vorstellen, dessen Potential an Schönheit einstweilen verdeckt (aber vorhanden) ist, der vom Fachmann geschliffen, poliert und eingefaßt wird, bis er sich als glänzendes und funkelndes Schmuckstück präsentiert. So etwas können erfahrene Kunstwerker der Höflichkeitserziehung bewirken, das kann aus dem Gespräch kultivierter Höflinge hervorgehen wie in Castigliones Cortigiano, das kann aber auch quasi natürlich im liberalen Selbstlauf der Vergesellschaftung entstehend gedacht werden, so etwa, wie es sich Shaftesbury vorstellt: »Alle Höflichkeit verdankt sich der Freiheit. Wir polieren einander und reiben uns gegenseitig unsere Ecken und Kanten in freundlicher Reibung ab. Wer diesen Prozeß unterbricht, bringt den menschlichen Verstand zum Rosten. Wer sich anmaßt, hier einzugreifen, der zerstört Zivilität, Anstand und Nächstenliebe unter dem Vorwand, sie zu unterstützen.« (Shaftesbury zit. nach Assmann 2002: 201)
Shaftesbury akzentuiert den Vorgang positiv und macht sich noch keinerlei Gedanken über die Kosten. Ebensowenig übrigens wie über sachgemäße Beseitigung des Abfalls, der beim Schleifen anfällt. Das sollte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts gründlich ändern und der Begriff der politesse zusammen mit dem Hof und der Höflichkeit geradezu in Verruf 20
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geraten. Die Stelle in der europäischen Geistesgeschichte, an der das geschah, pflegt man mit Rousseaus Erstem Discours (Discours sur les sciences et les arts) zu markieren. Heinz Thoma hat gezeigt, dass die von Rousseau gepflegte Mythographie von der epiphanischen Eingebung der Grundideen des Diskurses durchaus nicht der Wirklichkeit entsprach, sondern Rousseau in seiner Zeit durchaus gängige Ideen artikulierte und Gedanken aufnahm, die etwa bei Toussaint und Soubeyran de Scopon schon vorlagen. (Thoma 2002: 391-404). Jedenfalls wertet Rousseau bekanntlich das Fortschrittsmodell der Kulturentwicklung in ein Entartungsmodell um: »…heureux esclaves, vous leurs (Wissenschaft und Künste) devez ce gout délicat et fin dont vous vous piquez, cette douceur de caractère et cette urbanité de mœurs qui rendent parmi vous le commerce si liant et si facile: en un mot, les apparences de toutes les vertus sans en avoir aucune. C’est par cette sorte de politesse […] que notre siècle et notre nation l’emporteront sur tous les temps et tous les peuples.« (Rousseau 1964: 7)
Die politesse wird als korrumpierende Verfälschung von »mœurs rustiques, mais naturelles« (Rousseau 1964: 8) empfunden. Die falsche Welt kommt von der Falschheit der Höflichkeit: »Plus d’amitiés sincères; plus d’estime réelle, plus de confiance fondée. Les soupçons, les ombrages, les craintes, la froideur, la réserve, la haine, la traison se cacheront sans cesse sous ce voile uniforme et perfide de politesse, sous cette urbanité si vantée que nous devons aux lumières de notre siècle.« (Rousseau 1964: 8f.)
Wie gesagt, Rousseau stand mit seiner Kritik des Höflings und seines Verhaltens durchaus nicht allein, nicht in Frankreich und längst nicht in Deutschland. Ruth Florack hat in dem von ihr herausgegebenen Sammelband über deutsch-französische Perzeptionsmuster eine große Menge deutscher Quellen versammelt, die gegen die verlogene französische Höflichkeit zu Felde ziehen, nicht zuletzt in den moralisch-politischen Wochenschriften der deutschen Aufklärung (vgl. Florack 2001). Sie zeigen häufig deutliche Spuren der protestantisch-pietistischen Tradition und richten sich im Namen der Tugend gegen die durch Höflichkeit verschleierte moralische Minderwertigkeit und Lasterhaftigkeit des Adels. Dabei wird schon im 18. Jahrhundert die antiaristokratische Stoßrichtung des Arguments national aufgeladen, so dass dann die frivolen, höflichen Franzosen den geraden und ehrlichen Deutschen gegenüberstehen, die natürlich von der anderen Seite des Rheins gesehen ungehobelte Klötze
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sind – eine Metapher, die übrigens der des Schleifens von Edelsteinen strukturell verwandt ist. Diese Tradition der Höflichkeitskritik verlängern noch die Auslassungspunkte, die für das berühmte Zitat des Götz von Berlichingen stehen, in dieser Tradition wurde der Werther wenn nicht geschrieben, so doch allemal gelesen. Da heißt es zum Beispiel am 24.12.1771: »Das glänzende Elend, die Langeweile unter dem garstigen Volke, das sich hier nebeneinandersieht, die Ranksucht unter ihnen, wie sie nur wachen und aufpassen, einander ein Schrittchen abzugewinnen […].« (Goethe 1981, Bd. 6: 62)
Und am 8. Januar: »Was das für Menschen sind, deren ganze Seele auf dem Zeremoniell ruht, deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht, wie sie um einen Stuhl weiter bei Tisch sich einschicken wollen.« (Goethe 1981, Bd. 6: 64) »Oberflächlichkeit, Zeremoniell, äußerliche Konversation auf der einen Seite, auf der anderen Seite Tiefe des Gefühls, Versenkung ins Buch, Bildung der einzelnen Persönlichkeit…« – so fasst Norbert Elias den Gegensatz zusammen, der hier im Roman präsentiert wird (Elias 1989, Bd.1: 22). Der Vorwurf an die Höflichkeit, sie sei falsch, sie sei eine Maske – ein Vorwurf, der Castiglione höchst erstaunt hätte, geht es doch in seinem Text eben genau darum, solche elegante Künstlichkeit die »sprezzatura«, einzuüben – beruht auf einer Voraussetzung, die anzunehmen uns heute weit fragwürdiger ist als dem ausgehenden 18. Jahrhundert, auf der Voraussetzung, der Mensch habe eine Natur, einen Charakter (vgl. Castiglione 1960). Die Natur sei gut oder doch zumindest zum Guten zu bilden; der Charakter dürfe nicht gebeugt, sondern solle entfaltet werden. Die Höflichkeit gerät so unvermeidlich in Konflikt mit dem Authentizitätsgebot, wo sie nicht schon am Ehrlichkeitsgebot der protestantischpietistischen Tradition gescheitert ist. Noch das berühmteste deutsche Benimm-Buch, dessen Verfasser, der Freiherr von Knigge, Taufpate einer langen Gattungstradition wurde, die bis heute Bestseller hervorbingt, stellt den Charakter und die Natürlichkeit über eingeübte Höflichkeit. Man solle, so Knigge, das Leben in der höfischen Welt möglichst meiden: »Wer nicht, seiner Lage nach, schlechterdings dazu verdammt ist, an Höfen oder sonst in der großen Welt zu leben, der bleibe fern von diesem Schauplatz des glänzenden Elends […].« (Knigge 1977: 314) Das hört sich, man muß es zugeben, eher nach dem Werther denn nach Frau Pappritz an. Wer aber zu den Verdammten gehört, die sich in der höfischen Welt bewegen müssen, der, so Knigge an gleicher Stelle, solle den »Ton derselben studier[en]« und »mit den Wölfen heul[en]«, aber nur »soviel es ohne Verleugnung des Charakters geschehen kann.« (Knigge 1977: 314) 22
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Um es auf die metaphorische Matrix des Edelsteins zurückzubeziehen: Wenn Natur und Charakter des Steines bestimmt und edel sind, dann ist die erste Sorgfalt darauf zu verwenden, den Stein nicht gegen seine Natur zu polieren oder Reibungen auszusetzen, die ihn verschleifen könnten. Vor diesem Hintergrund verdient ein Zitat unsere Aufmerksamkeit, das auf sehr sprechende Weise die ambivalente Haltung der deutschen Intelligenz um 1800, selbst der aus dem niederen Adel, gegenüber der Höflichkeit zum Ausdruck bringt. Es sei hier auch deshalb angeführt, weil es aus der Feder einer Dame stammt und die Damen seit je, wie jedermann weiß, eine zentrale Rolle bei der Ausbildung der feineren Sitten im Umgang von und mit Menschen spielen. Ferner reflektiert es französische Erfahrungen einer deutschen Reisenden – und zudem die Erfahrungen mit etwas, was es damals in Deutschland noch nicht gab: die Erfahrungen mit der Geselligkeit in einer Großstadt. Sophie von La Roche schreibt in ihrem fiktiven Journal aus Paris an ihre Töchter: »Diesen Abend machte man meinen Reiseplan, und ich freute mich herzlich; denn mich verlangt nach Hause, ob mich schon alles Große, Gute, Schöne und Wahre freute, was ich sahe und hörte, und mir unendlich lieb ist, richtige Begriffe von Frankreich und alle dem zu haben, was uns von diesem Lande erzählt und geschrieben wird […].«
Was sind nun die richtigen Begriffe von Frankreich? »Denkt euch, meine Töchter nur z. B., daß man die Ursache untersuchte, warum die Pariser Gassensteine alle schwarz würden? und fand, daß es von dem an den Rädern und Pferdehufen abgeschliffenen Eisen herrühre, welche nach der Berechnung dessen, was aus einer gewissen Menge zermalmter Steine und schwarzem Gassenkoth ausgezogen wurde, in einem Jahr tausend Centner beträgt. Nun gehe man von dieser Bemerkung zu Yoriks Gedanken über das Abschleifen des Gepräges einer Münze, die stark im Umlauf ist, so können wir mit ihm finden: daß der Umgang so vieler Menschen mit einander, an dem Einen das Rauhe wegnimmt, ihn schleift und glänzend macht, aber schwächer an innern Werth und Kraft; im Andern, die schönen Eindrücke der Erziehung und Bildung verlöscht, welche er bey seinem Eintritte in die unruhige, nach Vergnügen jagende Welt hatte.« (La Roche 1787: 561)
Unsere Metapher von der politesse, der »Geschliffenheit«, hat hier vor dem Hintergrund Pariser Erfahrungen eine Einschwärzung erfahren. Man spürt förmlich das Grauen vor jenen bei aller exakten Wägung unvorstellbaren tausend Zentnern an Eisenspänen, die das Großstadtpflaster fordert und im Kot gleichgültig untergehen lässt. Paris war neben London die einzige wirkliche Großstadt der damaligen Welt. Sie hatte in Deutschland kein Pendant. Hier scheint unheimlich, unbegreiflich etwas 23
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auf, was die Moderne bestimmen sollte, aber unbegreiflich blieb. So gesehen, ist das kleine Grauen der Sophie von La Roche ein Vorläufer des Grauens von Rilkes Malte. Der Kontakt von Rad und Pflaster jedenfalls bringt hier nicht edlen Glanz zum Vorschein, sondern den des blanken Eisens. Halt und Orientierung in der verstörenden Erfahrung bietet der Rückgriff auf Gelesenes, auf Sternes A sentimental jouney, ein Kultbuch bekanntlich der empfindsamen Reise. Yorik, die Hauptfigur in Sternes Sentimental Journey (1768) vergleicht in dem Kapitel »Character« Franzosen und Engländer. An Gesellschaft gewöhnt, unterschieden sich die Franzosen sowenig voneinander wie gängige Münzen desselben Werts. Die Engländer hingegen seien wie Medaillen, die kaum jemand in die Hand nehme: deutlich erkennbar in ihrer ganz individuellen Prägung (vgl. Florack 2001: 287). Mit dem Rückgriff auf Münzen, auf echte Münzen (das Bild wird uns noch beschäftigen) ist dem Objekt der politesse jedenfalls wieder einiger Wert gerettet. Gold für Eisen. Dass es in dieser Passage von Anfang an um politesse, um Höflichkeit geht, macht das Ende des Zitats als Moral von der Geschicht’ überaus sinnfällig. Freilich bleibt diese Moral ambivalent und allemal sehr skeptisch gegenüber französisch-großstädtischen Soziabilitätserfahrungen: Der Preis des Verschwindens des Rauen, der Preis für den Glanz ist der Verlust an Kraft (Energie würden wir heute wohl sagen; der Dekadenzvorwurf, den die deutschen Intellektuellen hundert Jahre später so gern gegen Frankreich erheben werden, deutet sich an) und innerem Wert. Im schlimmeren Falle verschwinden im alles abschleifenden, unruhigen, vergnügungssüchtigen Großstadtgetriebe jene Erziehung und Bildung, die Individualität und persönliche Prägung erst zur Entfaltung bringen. Die erste Ausgabe von Knigges Über den Umgang mit Menschen erschien 1788, die maßgebliche dritte Auflage 1790. Das Journal der Sophie von la Roche wurde 1787 zuerst publiziert. Zwei deutsche Adelige, wenn auch aus niederem Adel, formulieren am Vorabend bzw. am Morgen der Französischen Revolution antihöfisches, antiaristokratisches Selbstbewusstsein, haben aber beide doch eine Ahnung, dass sich das Problem der Höflichkeit auch mit der Abschaffung des Hofes oder zumindest mit dem Bedeutungsverlust der Höflinge nicht im Selbstlauf erledigen würde. 1794, in dem Jahr, in dem der Text entstand, dem nun unsere Aufmerksamkeit gelten soll, war die Ahnung eine Gewissheit geworden, nicht nur bei Johann Wolfgang von Goethe, sondern auch bei Friedrich Schiller, dem Ehrenbürger der Französischen Revolution, der seine Horen plante und Goethe mit Rücksicht auf das breite Publikum um einen unterhaltenden, erzählenden Beitrag bat. Goethe arbeitete damals am Wilhelm Meister, an einem entscheidenden Punkt der Farbenlehre, er war Intendant des Weimarer Theaters. Dennoch versprach (und
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lieferte) er Schiller eine kleine Erzählung, die sich zu einem Zyklus mehrerer Erzählungen ausweitete, eingerahmt von einer Rahmenerzählung. Die Rede ist von den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Den Ausgangspunkt der Rahmenerzählung bildet ein postrevolutionäres Höflichkeitsproblem: Eine »edle Familie«, gruppiert um die »Baronesse von C.« flieht vor dem »Heer der Franken« (Goethe 1981a, Bd. 6: 125) – und streitet sich. »Vetter Karl […] hatte sich […] von der blendenden Schönheit verführen lassen, die unter dem Namen Freiheit sich erst heimlich, dann öffentlich so viele Anbieter zu verschaffen wußte […].« (Goethe 1981a, Bd. 6: 127) Vetter Karl war jung und Parteigänger der Revolution, der »Geheimrat von S.« schon älter, dem Idealisieren abgeneigt und der Verführbarkeit aller Art entwachsen. Das trug ihm »einige sehr starke Vorwürfe, welche den Geheimrat persönlich betrafen und in jedem Sinne beleidigend waren« (Goethe 1981a, Bd. 6: 133) ein. Genaueres erfährt man nicht. Jedenfalls reist der beleidigte Geheimrat ab und lässt eine betroffene Gesellschaft zurück, die sich fragt, wie unter solchen Bedingungen Geselligkeit überhaupt noch gestaltet werden könne. Die Baronin, wie gesagt, das Zentrum des Kreises, (abermals eine Frau) weiß, dass die politischen Parteiungen nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind und ihre Äußerung nicht mit Sinn verboten werden kann: »Ich kann die Gesinnungen nicht ändern, die bei einem jeden nach seiner Denkweise entstehen, sich befestigen, streben und wirken, und es wäre ebenso töricht als grausam, zu verlangen, daß er sie nicht mitteilen sollte.« (Goethe 1981a, Bd. 6: 137)
Freilich, zumindest im Kreise privater Geselligkeit sollten sie nur moderiert, nur abgeschliffen zum Vorschein kommen. Geselligkeit ist nun einmal nur möglich unter Verzicht auf die konsequente Verteidigung der eigenen Meinung, ja, unter Zurücknahme der eigenen Natur: »Aber, Kinder, in Gesellschaft laßt uns nicht vergessen, wieviel wir sonst schon, ehe alle diese Sachen zur Sprache kamen, um gesellig zu sein, von unseren Eigenheiten aufopfern mußten, und daß jeder, solange die Welt stehen wird, um gesellig zu sein, wenigstens äußerlich sich wird beherrschen müssen. Ich fordere euch also nicht im Namen der Tugend, sondern im Namen der gemeinsten Höflichkeit auf, mir und anderen in diesen Augenblicken das zu leisten, was ihr von Jugend auf, ich darf fast sagen, gegen einen jeden beobachtet habt, der euch auf der Straße begegnete.« (Goethe 1981a, Bd. 6: 137)
Höflichkeit steht auch hier unter der Tugend. Sie hat allemal zu tun mit Selbstbeherrschung, also mit Beherrschung der eigenen »Natur«. Sie ist »gemein«, aber eben doch unabdingbar. Im konkreten Falle läuft sie 25
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zunächst einmal auf die Mahnung der Baronesse hinaus, sich zu hüten, »in der Gesellschaft irgend etwas zu berühren, was dem einen oder anderen unangenehm sein könnte.« (Goethe 1981a, Bd. 6: 137) Der Rat ist gut, auch heute noch. Freilich hat er – vielleicht nicht nur für ein deutsches Gemüt – auch etwas Enttäuschendes, läuft es doch zunächst einmal nur darauf hinaus, dass man »in Gesellschaft« keine fundamentalen politischen oder z. B. auch religiösen Fragen diskutieren sollte, weil es sonst unvermeidlich zu unversöhnlichem Streit kommt. Das Dilemma der Wahl zwischen dem Bestehen auf der eigenen Meinung, auf der eigenen »Natur«, selbst um den Preis der Verletzung der Gefühle des Anderen einerseits und einer Höflichkeit um den Preis des Selbstverlusts auf der Gegenseite, vor dem schon Sophie von La Roche und Knigge unentschieden standen, wiederholt sich auf den ersten Seiten von Goethes Erzählzyklus. Die Gesellschaft der Ausgewanderten scheint sich schließlich für die Höflichkeit zu entscheiden, indem man beschließt, sich in zwangloser Folge Geschichten zu erzählen, statt sich über politischen Debatten zu entzweien. Freilich haben die Geschichten, die dann erzählt werden, im Zusammenhang von Goethes Textzyklus überhaupt nicht die Funktion, die (Erzähl)kunst zu benutzen, um vom politischen Streit lediglich abzulenken oder gar einen faulen Frieden zu retten bzw. wiederherzustellen. Nein, es geht in dieser bescheidenen »Nebenarbeit« Goethes um nichts weniger als um die Aufhebung des Dilemmas, entweder natürlich, ehrlich und grob oder höflich, fein und unauthentisch zu sein, es geht, anders gesprochen, um die Antwort der deutschen Klassik auf die Französische Revolution und zugleich um das Dilemma der Höflichkeit. Wenn nämlich die Kunst, hier die Erzählkunst in Gesellschaft, die Menschen so verändert, bildet, humanisiert, dass sich ihre Natur nicht etwa nur abschleift, sondern tatsächlich umbildet, wie es die Baronesse und der Geistliche hoffen, dann wird auch der Wunsch nach der Schonung des Anderen zum Teil der Natur – und der Gegensatz von Höflichkeit und Authentizität verschwindet. (Nicht zufällig schreibt Goethe an den Ausgewanderten, als er das Manuskript von Schillers in der Tendenz ganz gleich gerichteten Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen gelesen hatte.) Das Projekt, man muss es zugeben, ist großartig. Es ist umso großartiger, als es ja keineswegs darum geht, die humanisierende Wirkung durch das Erzählen von erbaulichen, aufklärenden, tugendsamen Geschichten erreichen zu wollen. Nicht nur das berühmte Märchen im Zyklus der Ausgewanderten beweist: Hier wird Kunst als Kunst gemeint und nicht als Vehikel von Aufklärung. Es ist hier nicht Platz und Zeit, Goethes Humanisierungsstrategie durch den Text hindurch zu verfolgen.
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Angedeutet sei aber immerhin, dass er deutlich die enormen Kosten der Versöhnung zeigt, um die es Goethe geht. Angedeutet sei es mit dem Verweis auf den schon hier – etwa in der »Prokurator«-Novelle – ausgebildeten Begriff der »Entsagung« und der des »Opfers«. Am Ende des »Märchens« wird das helfende Miteinander aller Figuren nur durch das freiwillige Opfer der Schlange erreicht. Goethe hat das Thema des geselligen wie gesellschaftlichen Lebens und die Rolle der Höflichkeit darin nicht losgelassen. Das wäre etwa zu zeigen an Ottiliens Tagebuch in den Wahlverwandtschaften1, an den Gesprächen mit Eckermann, wo Goethe das Verhältnis seiner Landsleute zur Höflichkeit mit dem Satz kommentiert, die Deutschen hätten es »im Indirekten noch nicht sehr weit gebracht« (Eckermann 1984: 225), und schließlich auch an dem bekannten grobianischen Satz aus dem zweiten Teil des Faust, der gern affirmativ zitiert wird, obgleich er doch kritisch zu lesen ist und da lautet: »Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.«2 (Goethe 1979, Bd. 3: V. 6771) Das klassische Bildungsprojekt hat die tumbe, spätestens nach den Freiheitskriegen auch nationalistisch aufgeladene Opposition zwischen Natürlichkeit/Ehrlichkeit/Deutschheit und der bald als Laster nicht nur des französischen Adels, sondern »des« Franzosen schlechthin denunzierten Höflichkeit nicht überwinden können. Nicht nur Ernst Moritz Arndt, sondern die große Mehrheit der deutschen Intelligenz um 1813 huldigt der Auffassung, »dass wir durch Nachäffung welscher Zierlichkeit, Feinheit und Geschliffenheit zu matten und langweiligen Affen werden, die das Bewusstsein ihrer eignen Tüchtigkeit und Herrlichkeit darüber vergessen.« (Arndt o. J., Teil 9: 138) Die deutsche Herrlichkeit, die sich hier so stolz der französischen Geschliffenheit und Höflichkeit
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»Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hätte. Die rechte Erziehung wäre, welche dieses Zeichen und den Grund zugleich überlieferte. Das Betragen ist ein Spiegel, in welchem jeder sein Bild zeigt. Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens.« (Goethe 1981b, Bd. 6: 397) Die »Herzenshöflichkeit« ist ganz offenbar ein erneuter Versuch, die Dichotomie zwischen »äußerer«, maskenhafter, unehrlicher Höflichkeit und innerer Natur aufzuheben. Die Höflichkeit wird hier gerade nicht zu Distanz, Kälte und List, sondern zur Liebe gesellt. Ehe man diese Textstelle umstandslos als Goethes Position zur Höflichkeit nimmt, will freilich bedacht werden, dass hier Ottilie schreibt, also eine Romanfigur, die an der Liebe scheitert. »MEPHISTOPHELES gemütlich: / Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob Du bist? / BACCALAUREUS: / Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.« Faust II, Zweiter Akt, V. 6770f. Vgl. Weinrich 1986. 27
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entgegensetzt, verrät sich durch niedrige Stirn als nahe Verwandtschaft derer, die man als Affen denunziert. Was ist gewonnen durch den groben Ton, der hier herrscht? Kaum mehr als Kriegsbereitschaft. Arndts Text, dessen Geist sich in der Franzosenfresserei des Vormärz fortsetzt, ist ein gutes Exempel für das, was die Deutschen lesen wollten, als ihre Klassiker schrieben. Madame de Staël hat wohl nicht ganz unrecht, wenn sie den Deutschen höflich, aber bestimmt »quelques-uns des avantages de l’esprit social en France« anempfiehlt: geringere Empfindlichkeit im Kleinen, keine Verwechslung von Halsstarrigkeit und Energie, von Derbheit und Bestimmtheit; Klarheit und Knappheit in der Unterhaltung, wie sie charakteristisch sei für Völker, die sich amüsieren und nicht nur beschäftigen wollen. Dies, so meint sie, müsse die Deutschen mitnichten ihren Charakter kosten, sondern dazu beitragen, recht mit der Einbildungskraft umzugehen.3 Soweit »Edelstein« und soweit »Goethezeit«. Bleibt »Stachelschwein«. Bevor wir allerdings Schopenhauers berühmtes Zitat besichtigen, in dem er den Begriff der Höflichkeit aus dem Verhalten der Stachelschweine ableitet, sei festgestellt, dass Schopenhauer, der GoetheVerehrer, radikal bricht mit dem Konzept der Humanisierung durch Bildung, Kunst – der Humanisierung durch was auch immer. Apodiktisch heißt es: »der Charakter ist schlechthin inkorrigibel« (Schopenhauer 1988, Bd. 1: 446) oder: »Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Thier.« (Schopenhauer 1988, Bd. 1: 192f.) Wohlgemerkt, Schopenhauer gibt nicht das Konzept des Charakters, des Selbst, der menschlichen Natur auf, nur die Hoffnung auf ihre mögliche Veredelung, gar die Veredelung bis hin zum Opfer für andere. So wird die Höflichkeit wieder das, was sie von Castiglione bis Rousseau je schon war, nämlich Verstellung. Interessanterweise drückt Schopenhauer diesen Gedanken unter Rückgriff auf die Metapher der Münze aus, die nun aber, anders als oben bei Sterne und Sophie von La Roche, unechte Münze ist: »Höflichkeit ist Klugheit; folglich ist Unhöflichkeit Dummheit: sich 3
»Les Allemands feraient bien de profiter […] de quelques-uns des avantages de l’esprit social en France: ils devraient apprendre des Français à se montrer moins irritables dans les petites circonstances, afin de réserver toute leur force pour les grandes; ils devraient apprendre des Français à ne pas confondre l’opiniâtreté avec énergie, la rudesse avec la fermeté […]; enfin ils devraient puiser dans l’art même de la conversation l’habitude des répandre dans leurs livres cette clarté qui les mettrait à la portée du plus grand nombre, ce talent d’abréger, inventé par les peuples qui s’amusent, bien plutôt que par ceux qui s’occupent, et le respect pour de certaines convenances qui ne porte pas à sacrifier la nature, mais à ménager l’imagination.« ( Staël 1968: 110) 28
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mittels ihrer in unnöthiger und muthwilliger Weise Feinde zu machen ist Raserei, wie wenn man sein Haus in Brand steckt. Denn Höflichkeit ist, wie die Rechenpfennige, eine offenkundig falsche Münze: mit einer solchen sparsam zu seyn, beweist Unverstand; hingegen Freigiebigkeit mit ihr Verstand. Wer hingegen die Höflichkeit bis zum Opfern realer Interessen treibt, gleicht dem, der ächte Goldstücke statt Rechenpfennige gäbe.« (Schopenhauer 1988, Bd. 1: 453) Es ist klug, höflich zu sein, aber die Höflichkeit selbst ist falsch und maskenhaft, nur zu gebrauchen, damit die Rechnung des Egoismus aufgeht. Dieses Argumentationsmuster weist zurück auf die Hauptlinie einer langen Tradition von Höflichkeitsdiskursen seit dem 16. Jahrhundert, auf Castiglione und de la Casa. Schopenhauer setzt aber an anderer Stelle ein zweites Mal an, um die Rolle der Höflichkeit zu bestimmen. Diese Stelle, die Stachelschwein-Stelle aus den Parerga und Paralipomena weist hingegen auch voraus ins 20. Jahrhundert: »Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertage, recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder nahe zusammen brachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; so daß sie zwischen beiden Leiden hin und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten. – So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zu einander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von einander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bey welcher ein Beisammenseyn bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält, ruft man in England zu: keep your distance! – Vermöge desselben wird zwar das Bedürfnis nach gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden. – Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu haben.« (Schopenhauer 1988, Bd. 1: 459f.)
Man muss zugeben, dass diese Genealogie menschlicher Höflichkeit aus den Nähebedürfnissen von Schweinen mit »widerwärtigen Eigenschaften« nicht ohne Witz ist, denn wie schon Elias und jüngst wieder Hans Dieter Bahr (Bahr 2002) gezeigt haben, war ja, seit es die höfische Gesellschaft gab, zivilisierende Höflichkeitserziehung in erster Linie darauf gerichtet, die Tiernatur des Menschen zu verschleiern: »In der höfischen Gesellschaft des Absolutismus wurde das Tierische nicht nur zum Gegenpol der ›feinen Sitten‹, es wurde schlechthin zu einem Synonym 29
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jener Bedürfnisse, Getriebenheit und Sterblichkeit, welche das unhintergehbare Schicksal des menschlichen, leibhaften Lebens sind. Und die ästhetische Erziehung zielt darauf ab, diese Mangelhaftigkeit des animalischen Organismus schlechthin aus dem öffentlichen Erscheinungsbild zu tilgen.« (Bahr 2002: 112)
Schopenhauer holt es wieder hervor, freilich nur in der sublimierten Form eines Textes. Schopenhauer war nicht zufällig die wichtigste philosophische Referenz von Freud. Witz ist Schopenhauers Text nicht zu bestreiten und seiner Metapher kaum die Wahrheit. Dennoch soll er hier nicht das letzte Wort behalten. Zu fragwürdig ist uns heute die Annahme eines festen, unwandelbaren Charakters hinter den Masken der Höflichkeit. Und auf sehr deutsche Art fragwürdig ist auch die Reduzierung des Geselligen wie Gesellschaftlichen auf die Funktion, dem Individuum den freien Ausdruck seines Selbst einzuschränken, auf die Nötigung »des Einklangs mit den Anderen wegen, einzuschrumpfen oder gar uns selbst zu verunstalten.« (Schopenhauer 1988, Bd. 1: 417) Das Eremitendasein, auch das des Philosophen, ist zudem in unserer Welt als Daseinsform nur wenigen vorbehalten. So lassen Sie mich dann doch lieber meinen Streifzug durch die Höflichkeitskonzeptionen und -metaphern der Goethezeit mit einem Zitat aus Knigges Feder schließen, das auf eine philosophisch wenig anspruchsvolle, aber doch auf heute noch überzeugende Weise die Vorzüge der Höflichkeit jenseits von Metaphysik darlegt: »Vorschriften, welche uns auf die erlaubten Sitten der feineren Sozietät verweisen, sind freilich keine Grundsätze der Moral, sondern nur der Übereinkunft; allein eben diese Übereinkunft beruht doch darauf, dass man suche, sich und andern in einer zwangvollen Lage, deren Ungemächlichkeit wir nun einmal nicht ganz aus dem Wege räumen können, seinen Zustand so leidlich als möglich zu machen, ohne dazu solche Mittel zu ergreifen, die unsern inneren Wert aufs Spiel setzen. […] Also wünschte ich, man eiferte nicht so heftig gegen den wahren feinen Weltton. Er lehrt uns, die kleinen Gefälligkeiten nicht außer acht zu lassen, die das Leben süß und leicht machen. Er erweckt in uns Aufmerksamkeit auf den Gang des menschlichen Herzens, schärft unseren Beobachtungsgeist, gewöhnt uns daran, ohne zu kränken und ohne gekränkt zu werden, mit Menschen aller Art leben zu können.« (Knigge 1977: 328)
Das wär’ doch was. Und nicht wenig.
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Thoma, Heinz (2002): »Politesse und Kulturkritik: Rousseaus ›Erster Discours‹ im Kontext«. In: Anne Amend-Söchting u. a. (Hg.), Das Schöne im Wirklichen – Das Wirkliche im Schönen, Heidelberg, S. 391-404. Weinrich, Harald (1986): Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist? Mannheim u. a.
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D E R H O F M A N N I M 18. J A H R H U N D E R T : HÖFLICHKEIT VERSUS AUGENSPRACHE HELGA MEISE
»Höflichkeit hat ohne Zweifel von Hofe, Hof=Leben seine Benennung. Grosser Herren Höfe sind ein Schau=Platz, wo ieder sein Glück machen will. Dieses lässet sich nicht anders tun, als wenn man des Fürstens und derer Vornehmsten am Hofe Zuneigung gewinnet. Man giebt sich also alle ersinnliche Mühe, denenselben sich beliebt zu machen. Hierinnen vermag nichts mehr, als wenn man den andern glaubend machet, daß wir bey aller Gelegenheit nach äussersten Kräften ihm zu dienen bereit seyn. Gleichwohl sind wir dazu nicht allezeit vermögend, wollen auch wohl nicht, und dieses vielmahls aus gerechten Ursachen. Dieses alles ersetzet die Höflichkeit.« (Zedler 1961: 353)
Zedlers Eintrag ›Höflichkeit‹ aus dem Jahre 1739 beginnt mit Herleitung und erster Umschreibung. Fragt man auf dieser Folie sowie im Anschluss an Beetz’ Untersuchung der Transformationen des Höflichkeitsdiskurses in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts nach dem Fortleben und den Funktionen des Höflichkeitsdiskurses in der zeitgenössischen Literatur,1 liegt es nahe, sich einem Werk zuzuwenden, das 1740 in Frankfurt am Main erschien. Sein Titel lautet: »Der Redliche Mann am Hofe; Oder die Begebenheiten des Grafens von Rivera. In einer auf den Zustand der heutigen Welt gerichteten Lehr= und Staatsgeschichte.« (Loen 1966)
Es handelt sich um den einzigen Roman des ebenfalls in Frankfurt ansässigen, aus einer Kaufmannsfamilie reformierten Bekenntnisses 1
Vgl. Beetz: 1990: 323: »Sowohl die eminent politische Funktion der herangezogenen Literatur wie die Einbettung der literarischen Zweckformen in zivilisatorische Prozesse weist den Literaturhistoriker auf die reizvolle Aufgabe hin, die Funktion sprachlicher und nichtsprachlicher Höflichkeitsrituale in den literarischen Gattungen des Dramas, Romans und oder der Lyrik zu untersuchen.« 33
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stammenden Patriziers Johann Michael von Loen (1694-1776), eines Großonkels von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832).2 Loens Biographie und Schriften (vgl. Reichert 1966: 18-25) bezeugen seine Teilhabe an den Diskursen der Frühaufklärung. Sein Roman, als »erster deutscher Aufklärungsroman von europäischem Format« erst 1966 der Vergessenheit entrissen (Reichert 1966: 12), schreibt sich, wie schon der Titel signalisiert, direkt in den Höflichkeitsdiskurs ein. Schauplatz der Geschichte, die dem Grafen von Rivera widerfährt, ist der Hof. Sie spielt in der »heutigen Welt« und kreist um ein Thema, die Bewahrung der Tugenden angesichts der am Hof herrschenden »Unordnung« (Loen 1966: 22). Das Adjektiv »redlich«, das dem Helden beigegeben ist, ruft überdies gerade die Tugend auf, die im Höflichkeitsdiskurs durchweg als obsolet, wenn nicht als Kontraindikation erscheint. Denn Redlichkeit verweist auf das seit Castigliones Hofmann von 1528 immer wieder diskutierte Verhältnis von decorum, justum und honestum, von Gesellschaftsethik und Moral (Beetz 1990: 285ff.), von Innen und Außen, von echtem und gespieltem Verhalten, sei es nichtsprachlich oder sprachlich (Chartier 1966: 20f., 23, 35 u. ö.). Auch Zedlers Eintrag bringt das heikle Verhältnis gleich eingangs zur Sprache. »Höflichkeit«, so heißt es, bestehe darin, den anderen »glauben« zu machen, dass man ihm in jeder Hinsicht zu dienen bereit stehe. Verspricht Loens Roman also Einsichten in das Verständnis und den Einsatz von Höflichkeit bei Hofe, so hält die breite Rezeption weitere Aufschlüsse bereit. Loens Roman erlebte bis 1771 fünf Auflagen (vgl. Reichert 1966: 18f.), er wurde 1760 parodiert und 1771 ins Französische übersetzt (vgl. Reichert 1966: 20). Darüber hinaus stiftete er das »politische Wunschbild« vom »patriotischen Minister«, das als literarisches Thema unzähliger Dramen für einen aufgeklärten Absolutismus plädierte (Martens 1987: 33-49; Martens 1996).
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Loen hatte sich nach dem Studium von Jura und Schönen Wissenschaften in Marburg (1711) und Halle (1712/13), unter anderen bei Christian Thomasius (1655-1728) und Nikolaus Hieronymus Gundling (1671-1729), einer kurzen Tätigkeit als Jurist am Reichskammergericht in Wetzlar (1715/16) sowie ausgedehnten Reisen durch Europa (1716/24) 1729 in Frankfurt verheiratet. Finanziell unabhängig, widmete er sich den Wissenschaften und Künsten und betätigte sich, vor allem im Feld von Jura, Theologie und Staatswissenschaften, als Historiker, Essayist, Reiseschriftsteller und Übersetzer. Erst oder noch 1752, im Alter von 58 Jahren, ließ Loen sich als Regierungspräsident der Grafschaften von Tecklenburg und Lingen im preußischen Staatsdienst bestallen. Er starb 1776 in Lingen, wohin er aus französischer Gefangenschaft 1761 zurückgekehrt war und wo er 1765 seinen Abschied von Friedrich II. von Preußen erhalten hatte (vgl. Biesterfeld 1990: 321-323). 34
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Ich gehe im Folgenden dem Fortleben und der Funktion des Höflichkeitsdiskurses exemplarisch nach. Beispiel sind Loens Roman und ein bislang nicht in den Blick der Forschung getretenes Lustspiel, das 1775, 35 Jahre nach dem Roman, in Frankfurt und Leipzig erschien: Valvaise der würdige Hofmann oder die seltsame Redlichkeit am Hofe,3 verfaßt von »J. S. K[aiserlich] K[öniglicher] Schloßh[hauptmann]«. Meine Ausführungen gliedern sich in drei Abschnitte: Der erste und zweite Teil fragen nach der Rolle des Höflichkeitsdiskurses in den Texten. Höflichkeit erscheint im Roman nicht als Eigenschaft der Protagonisten, sondern begegnet als nichtsprachliches und sprachliches Verhalten in face-toface-Situationen, nicht ohne als Täuschung entlarvt zu werden. Auch im Drama erscheint Höflichkeit nicht als Eigenschaft. Sie ist aber nicht mehr Mittel zur Bewältigung der Begegnung mit dem anderen, sondern erscheint nur mehr als Problem des Umgangs und der Etikette, das der Verkehr zwischen Höher- und Niedergestellten aufwirft und in dem die Höhergestellten ihre Untergebenen unterweisen. Der dritte Abschnitt zeichnet den Aufstieg der Augensprache nach, die den Höflichkeitsdiskurs verdrängt. Während im Roman direkte Inszenierungen dieser neuen face-to-face-Kommunikation hinter der bloßen Schilderung entsprechender Situationen zurücktreten, nutzt das Drama systematisch die Bühnenwirksamkeit der Augensprache und sprengt in demselben Maße das überkommene Dispositiv des Höflichkeitsdiskurses.
I. Der Redliche Mann am Hofe erzählt die Geschichte des Grafen von Rivera, der als »Cammer=Herr« (Loen 1966: 4) in den Dienst des Königs von Aquitanien berufen wird. Der Hof, Schauplatz, von dem alle Begebenheiten ihren Ausgang nehmen, erscheint von allem Anfang an in antihöfischer Perspektive. Als fern gelegener Herrschaftssitz steht er dem Wesen des Helden entgegen, der sich nach Studium und Reisen gerade auf seiner Herrschaft auf dem Lande »in süssester Ruhe« (Loen 1966: 4) eingerichtet hat: »Bey Hofe muß man sich zu verstellen wissen. Ich kan solches nicht; ich mag mir auch die gröste Gewalt von der Welt anthun, meine wahren Empfindungen 3
Der Titel lautet Valvaise der würdige Hofmann oder die seltsame Redlichkeit am Hofe. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen. Von J. S. K. K. Schloßh. Frankfurt und Leipzig, bey Heinrich Hofinger 1775. – Nachweise im Folgenden unter J. S. 1775. 35
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zu verbergen; sie brechen aus meinen Augen, und ich kan mir nicht so viel Herz geben, eine Unwahrheit standhaftig vorzubringen.« (Loen 1966: 10)
Einmal vor Ort, enthüllt sich der Hof umgehend als Inbild der »Unordnung« (Loen 1966: 22), die auf das schlechte Regiment des Königs und seiner Beamten zurückgeht: »Der König war von Natur nicht ganz bösartig; Er war zu keinem Tyrannen gebohren: Er hatte viel gute Eigenschaften; sie waren aber durch eine üble Erziehung verdorben worden: er war der Unordnung, der Schwelgerey und den Wohllüsten ergeben; Er meynte nur deswegen König zu seyn, um seinen Begierden desto freyer nachzuleben. Die Regierungs=Last schien ihm zu beschwehrlich: Wenn er in einem Morgen zehen bis zwanzigmal seinen Namen unterzeichnen solte, so waren dieses allzugrosse Bemühungen für einen König, der in den Gedanken stunde, die Lust der Crone sey für ihn, und die Last der Regierung für seine Räthe.« (Loen 1966: 19)
Was den Helden – und den Roman – an diesem Ort reizt, ist allein die Frage der Unterwanderung der hier herrschenden Verhältnisse: »Allein, wenn alle tugendhafte und geschickte Leute nur bloß auf ihre eigene Vergnügung denken und auf dem Lande leben wolten, wer würde in der Welt durch seine Beyspiele andere erbauen? Wer würde den Ausbrüchen der wildesten Laster Einhalt thun? Wer würde den Hof, das Land und den Staat regieren helfen?« (Loen 1966: 8f.)
Der Graf tritt gegen diese Fragen an: Er »fand sich in seiner gefaßten Entschliessung ungemein stark, sowohl einen redlichen Hofmann, als guten Christen abzugeben.« (Loen 1966: 54) Gleichwohl gehen die am Hofe schon bald gegen ihn angezettelten Intrigen nicht auf seinen unaufhaltsam steigenden Einfluss beim König zurück, sondern auf die Tatsache, dass beide dieselbe Frau lieben, die Gräfin von Monteras. Als diese sich dem König entzieht, weil sie den Grafen liebt, sucht der König Rivera aus dem Weg zu räumen: Der Graf wird auf eine Festung verbracht, dann in einen Krieg entsandt, in dem er nicht den Tod findet, sondern den Sieg für den König erstreitet. Ob der erwiesenen Treue gewinnt er die Gunst des Königs zurück und streicht einen ersten Teilsieg ein: Infolge der Kur, mit der er die Melancholie des Königs heilt, entdeckt dieser Schlaf, »Mäßigkeit« (Loen 1966: 261) und Bewegung. Rivera, als königlicher Abgesandter in den Nachbarstaaten unterwegs, vermittelt die Ehe mit der Prinzessin von Argilien. Der König verliebt sich. Er beginnt, sich für das Wohl seines Landes zu
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interessieren. Erst jetzt steht auch Rivera zu seiner Liebe. Er heiratet die Gräfin und wird zum obersten Staats=Minister befördert: »Aquitanien wurde durch die weise Rathschläge und durch die Aufrichtigkeit des Grafens in einen blühenden Wohlstand gesetzt. Die Laster, welche bisher den Hof vergiftet hatten, verlohren ihre Macht unter einem Monarchen, der sich selbst zum Muster der Gerechtigkeit, der Güte und der Ordnung ausstellte. Die Glückseligkeit seiner Unterthanen machte, daß die benachbarte Staaten sich gleiche Vortheile und gleiche Regenten wünschten.« (Loen 1966: 535f.)
Die angestrebte Verwandlung des Hofes durch den vermeintlichen Hofmann ist das eigentliche Thema des Romans. Die Welt, die Rivera im Dienste seines Königs durchläuft, wird immer aufs Neue mit der Welt des Hofes konfrontiert. Als Häftling, als Heerführer sowie als Unterhändler lernt Rivera alle politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit kennen: Er begegnet Vertretern aller Konfessionen und Stände, er sieht bürgerliche Haushalte und Einsiedeleien, ähnlich zerrüttete Königreiche wie Aquitanien, aber auch »Christianopolis«, den idealen Ort, den der König von Argilien »neuerbaut« (Loen 1966: 291) hat. Wie schon der heimatliche Hof, erscheint auch die Welt zweigeteilt: Da sind auf der einen Seite die Rivera in Einstellung und Verhalten Verwandten, auf der anderen die, die sich ihnen in den Weg stellen. Wie Rivera von Natur »redlich und offen« (Loen 1966: 11 u. ö.), gelingt es jenen, die Höfe, an denen sie tätig sind, zu bessern. Ihre Widersacher hingegen sind Gefangene ihrer Laster. Der »oberste Staats=Minister« Aquitaniens ist abhängig von »Ehrfurcht, Hochachtung, Ungezwungenheit, Pracht« (Loen 1966: 19), die Intrigantin Corinna von »Gefälligkeit, Klugheit, List« (Loen 1966: 65, 81). Festzuhalten ist, dass Höflichkeit als Eigenschaft der Protagonisten keine besondere Rolle spielt. Wenn sie vorkommt, dann als Merkmal sozialer Zusammenhänge sowie als nichtsprachliches und sprachliches Verhalten bei Begegnungen, vor allem mit Fremden. Immer wird die Qualität der Höflichkeit sowie ihre jeweilige Funktion notiert. So kennzeichnet ›echte‹ Höflichkeit etwa die Bewohner Christianopolis’: »In ihrer äusserlichen Aufführung hatten sie nichts besonders: sie lebten und kleideten sich wie andere Menschen, ein jeder nach seinem Stand und Vermögen. Nur waren sie mässiger, bescheidener und demüthiger: Sie beachteten so wohl die gemeine Gebräuche, als die Höflichkeit in Sitten und Gebehrden: der Wohlstand war bei ihnen eine Tugend, weil er die Ordnung unterstützte. Sie hielten dafür, daß die Auszeichnung in solchen nichts bedeutenden Dingen, einen gewissen Eigensinn und Hochmuth entdecke, der mit der Einfalt und Aufrichtigkeit eines guten Herzens nicht übereinkomme.« (Loen 1966: 305)
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Werden hingegen in der wirklichen, nicht-utopischen Welt Höflichkeiten ausgetauscht, werden diese umgehend als ›falsche‹ Höflichkeit entlarvt. So im Damenstift, wie eine Hofdame berichtet: »Der Liebhaber erschien; er machte meiner Gespielin ein Compliment, das nicht in den Regeln ihres Ordens war. Er fiel ihr um den Hals und küßte sie. […] Diese Freyheit mißfiel mir; noch mehr aber, da der junge Ritter auch an mich kam, und mir gleiche Höflichkeiten erweisen wolte: was ist das denn für ein Engel? sagte er, indem er mit ausgestreckten Armen auf mich zueilte, und seine Bekanntschaft mit mir auf eine so vertrauliche Art anfangen wolte.« (Loen 1966: 371)
Ähnlich ergeht es dem Kaufmann Güldenblech: »So viel Weibs=Leute ich im Hause hatte, so viel Liebhaber muste ich auch mit unterhalten. […] Nur die Französin hatte ihr Alter züchtig, aber auch eigennützig gemacht: Sie sah die Unordnungen in meinem Hause; schwieg darzu still und fischte im Trüben: ich muste ihr solches als eine Höflichkeit bezahlen; dann sie sagte, sie schonte der Ruhe der Madame, […]« (Loen 1966: 344).4
Auch Graf und Gräfin verfügen über das gesamte Register an Höflichkeiten und die Kunst, sich ihrer ad hoc zu bedienen. Rivera entzieht sich der Verführung durch die Herzogin von Salona »kaltsinnig« (Loen 1966: 77), wie diese sogleich erkennt: »Er sagte ihr alles, was die Höflichkeit einen artigen Hofmann kan sagen machen.« (Loen 1966: 77) Dem »Groß=Cantzler […] ein[em] falschen und boshafftigen Mann« (Loen 1966: 509) gegenüber wahrt er Distanz: »Es war ihm unmöglich sich vor solchen Leuten zu schmiegen: selbst die Höflichkeit, die ihm sonst natürlich war, hatte hier etwas zurückhaltendes und fiel ihm schwer: so wenig konte der Graf heuchlen, und ein so schlechter Hofmann war derselbe, wann er sich ein wenig verstellen solte.« (Loen 1966: 509) Umgekehrt, so lernt die Gräfin, lässt sich die Höflichkeit gegen »schwatzhafte und gefährliche Weibs=Bilder« in Anschlag bringen, »um sich dadurch gegen ihre giftigen Zungen=Bisse einigermassen in Sicherheit zu setzen.« (Loen 1966: 66)
II. Die Höflichkeit, die im Roman greifbar wird, erscheint als ein Mittel, um in der von der Natur in Gute und Böse, Tugend- und Lasterhafte geteilten
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Vgl. auch die Szene in der Universität, S. 334. 38
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Welt zu bestehen. Zieht sich dieser Vermerk wie ein roter Faden durch den Roman, kommt dem Höflichkeitsdiskurs im genannten Drama so gut wie keine Bedeutung zu. Dies liegt weniger am Gattungswechsel als daran, dass das Lustspiel Loens Vorgabe auf mehreren Ebenen umschreibt, und zwar wiederum im direkten Bezug auf die »heutige Welt« (Loen 1966: Titel), insbesondere auf den Wandel der face-to-faceKommunikation. Auffällig ist schon, dass der Hof nicht alleiniger Schauplatz des Geschehens ist. Die Aufzüge wechseln vielmehr zwischen den Privatwohnungen der Protagonisten und der königlichen Burg. Überdies herrscht hier anders als bei Loen »allgemeine Wohlfahrt« (J. S. 1775: 2). Weiter sticht hervor, dass die Freundschaft von König und Hofmann an die Stelle des Dienstverhältnisses zwischen ihnen tritt. Während jener im Personenverzeichnis als »Gustav Adolph, König von Schweden« historisch verbürgte Züge gewinnt, figuriert Valvaise nurmehr als »Freund des Königs« (J. S. 1775: unpag.). Ihr Verhältnis ist öffentlich bekannt, wie zwei von Valvaise gerade bestallte Beamte bezeugen: »[…] ganz freymüthig ihm seine Fehler vorzuhalten, war auch die einzige Bedingniß, unter welcher der seltsame Vertrag zwischen gleich großdenkenden Fürsten und Unterthan geschlossen worden.« (J. S. 1775: 4) Gustav Adolph fordert von Valvaise, der »nicht von hoher Geburt« (J. S. 1775: 39) ist, ausdrücklich Gleichheit ein: »Und daß es dir nicht schwer ankomme, so vergieß zwischen vier Augen den König, (ihn umarmend)« (J. S. 1775: 7). Er deklariert »Vertraulichkeit, Liebe, Wahrheit und Freymüthigkeit« (J. S. 1775: 8) zu Grundlagen ihres Verhältnisses: jeder Höflichkeitsdiskurs erübrigt sich. Mit der Dienstverpflichtung entfallen auch eigene Fähigkeiten und außerhöfische Erfahrungen des Protagonisten: Gustav Adolphs Schlachten sind geschlagen, Valvaise muss weder in den Krieg ziehen noch diplomatisch tätig werden. Er wie auch der König sind auf ihre Tugenden reduziert, durchaus zum Befremden ihrer Umgebung.5 Zum Sprengstoff wird aber nicht diese Verkürzung der Vorlage, sondern die radikale Umbesetzung der Liebesgeschichte, die der Frau nicht nur die Entdeckung ihres Begehrens zugesteht, sondern diese auch mit Willens- und Handlungsfreiheit zusammenführt. Hatte der Roman das Begehren aller Beteiligten glücklich bis ans Ende aufgeschoben, nimmt im Drama die junge, gerade erst bei Hof eingeführte Adlaide aus einem der königlichen Familie ergebenen Grafengeschlecht die Dinge in die 5
Vgl. J. S. 1775: 3f.: »Kristiern. Wahrlich, ein sonderbarer Mann! [Valvaise, H. M.] – was hat er eigentlich für eine Charge bey Hofe? Duplaise. Er nimmt keinen Titel an; dafür beehrt ihn der König mit dem Titel eines Freundes, und thut nichts, ohne ihn um Rath zu fragen.« 39
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Hand. Sie weiß von der Liebe des Königs zu ihr, entscheidet sich aber mit »Vernunft« (J. S. 1775: 33) und »freyem Willen« (J. S. 1775: 35) gegen »Gepränge, Macht, Rang, Hoheit« (J. S. 1775: 35). Als Valvaise bei ihr für den König wirbt, trifft sie der coup de foudre:6 »Was drückt mich? (aufs Herz weisend). Ach es ist eine sonderbare Empfindung, die ich noch nicht nennen kann. – Ist es Mitleiden – es ist wahr, in diesem Zustande sehe ich ihn nicht gerne. (Zu Valvaisen) Valvaise! – wie – was – machen Sie – Ihr Zustand stecket beinahe auch mich an.« (J. S. 1775: 37)
Während dieser noch für seinen Freund spricht, wird Adlaide sich ihrer Liebe bewusst und bringt dies zur Sprache – ohne Rücksicht auf das decorum: »Der Eifer, die Treue und die Zärtlichkeit, die Sie für Ihren Durchlauchtigsten Freund bezeugen, geben mir einen Begrif, was Sie für eine Freundin zu thun fähig sind. Diese Wahrnehmung verscheuchet das Vorurtheil des Wohlstandes, und entbindet mich von der Zurückhaltung, Ihnen frey zu sagen, daß Sie für sich mit mehrerem Erfolge reden würden.« (J. S. 1775: 39)
Aber Valvaise, wiewohl seinerseits von der Liebe getroffen, hält seinem Freund und seinen eigenen Tugenden Redlichkeit, Ehre, Dankbarkeit (J. S. 1775: 40) die Treue. Als dem König hinterbracht wird, er habe sich Adlaides Liebe erschlichen, ergreift Adlaide trotz ihres bereits erklärten Verzichtes auf ihr Glück noch einmal die Initiative, um den Geliebten zu retten. Sie bezeugt vor dem König: »Ja gnädigster Herr, dieß ist die unglückliche Adlaide, die Ihnen Ihren Freund geraubet hat. Strafen Sie diese, wenn Ihr Unwille ein Opfer fordert, schonen Sie Valvaisen, ehren Sie seine Rechtschaffenheit, wenn Sie kein zweytes Königreich haben, seine Treue zu belohnen.« (J. S. 1775: 78)
Der Konflikt um Valvaises vermeintlichen Verrat erschüttert alle bei Hof bestehenden Beziehungen, die Freundschaft der Männer, die Liebe von Adlaide und Valvaise, die Herrschaft des Königs. Stellt der Roman die allmähliche Wandlung des Königs und seines Staates durch den sich stets zurücknehmenden, aber unablässig tätigen Diener dar und führt die Liebenden dann zusammen, so muß das Lustspiel die aufbrechenden Konflikte gleichzeitig lösen. Da jeder zum Verzicht bereit ist, um durch die eigene Glückseligkeit den anderen nicht zu betrüben, bleibt nur der deus ex machina. Allein die de facto unverändert bestehende maiestas des Königs eröffnet einen Ausweg. Von allen Parteien zum »Richter« über
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Vgl. dazu weiter unten, Teil III. 40
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Valvaises Verhalten angerufen (J. S. 1775: 5-8), erklärt Gustav Adolph ihn für unschuldig. Er gibt die Liebenden frei und gelobt: »Meine einzige Beschäftigung soll seyn, so viele glücklich zu machen, als meine Kräfte hinreichen; […]. Doch auch der Liebe entsage ich nicht, so ich je eine zwote Adlaide finde; sonst aber soll mich nichts als frohe und muntere Blicke meines Volkes erfreuen. Gräfin. Eine Adlaide zu finden, ist Königen nicht schwer; aber das Glück, einen solchen Freund zu finden, (auf Valvaisen weisend,) ist seltsam und nur einem Gustav, und seinem Ebenbilde vorbehalten.« (J. S. 1775: 87f.)
Die Eingriffe in die Vorlage fokussieren ein Ereignis, den Verrat des Hofmannes; dass nicht er, sondern die Frau auf ihrem Liebesanspruch besteht, tritt im Schlussbild hinter der von neuem ausgestellten Herrschaft des Monarchen zurück – wie schon der Roman, stellt auch das Lustspiel dessen potestas nicht in Frage. Die Protagonisten besinnen sich der Tugenden, die ihnen schon zu Beginn zur Verfügung stehen. Die Freundschaft der Männer ist erneuert; Valvaise ist fortan nicht nur Privat-, sondern auch Ehemann. Der Bruder Adlaides und ein Beamter, die das Gerücht über seine Untreue in Umlauf gesetzt hatten, werden wegen Verrates und Eigennutzes eingekerkert (vgl. J. S. 1775: 82f.). Der Höflichkeitsdiskurs kommt nur zweimal ins Spiel. Zum einen, wenn sich Höher- und Niedergestellte begegnen. Während Gustav Adolph im Verkehr mit Valvaise jedes Zeremoniell fallen lässt, belehren Valvaise und die verwitwete Gräfin Torstenschield, Adlaides Mutter, ihre Untergebenen über die richtigen Umgangsformen gegenüber Höhergestellten, beschränken sich aber dabei auf die äußere Höflichkeit. Wie die Gräfin verweist Valvaise seinen Bedienten seines längst überholten Sprachgebrauches im Bezug auf bestehende Rangunterschiede. Einmal geht es um den zwischen ihm und dem König: »Ein Bedienter. Eine Botschaft vom Könige an Eure Herrlichkeit ist da. Ich habe sie in das blaue Zimmer gewiesen, weil ich weis, daß sie mit Hofbedienten ein besonders Geziere haben wollen. Valvaise. Hochachtung, mein Sohn, willst du sagen, dadurch bezeiget man Ehrfurcht gegen den Monarchen.« (J. S. 1775: 2)
Dann kommt der Rangunterschied zwischen ihm selbst und seinem Diener zur Sprache: »Bedienter. Was befehlen Eure Herrlichkeit?
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Valvaise, (mit Sanftmuth parodierend.) Herrlichkeit, Herrlichkeit, ich habe dir schon gesagt, ich will keinen weitläuftigen Titel; Herr, ist die Benamsung, die ich von dir fordere, so lange ich dir Brodt gebe. Bedienter. Das schickt sich ja einmal nicht. Gestreng will wohl niemand mehr seyn, aber gnädig ist mir in kleinsten Diensten, wo ich war, schon geläufig geworden. Sie erlauben mir wenigstens = = Valvaise. Genug, ich verbiete dirs. Bedienter. Nun, nun, ich werde sehen, daß ich mirs angewöhne; auf einmal wirds wohl nicht gehen, platterdings mein Herr – wie oft habe ich müssen auch den gnädig nennen, der mich strenger behandelt hat, als der Gerber eine Ochsenhaut. Valvaise. Höre itzt auf mit deiner possierlichen Moral, […]« (J. S. 1775: 6).
Die hier aufgerufenen Elemente des Höflichkeitsdiskurses sind nur mehr lächerlich; vermerkt sei, dass die Szenen die einzig komischen Szenen des Lustspiels sind.
III. Parallel zur Zurückdrängung des Höflichkeitsdiskurses vollzieht sich in Roman und Drama der Aufstieg der Augensprache, das heisst der Kommunikation via Blicken und daraus entstehenden Blickgefechten. Sie ist am virulentesten in der face-to-face-Kommunikation der Liebenden. Festzuhalten ist zunächst, dass auch Loen Augensprache und Blickgefechte mehrfach einsetzt. Etablieren sich zwischen zwei Protagonisten Blickkontakte, zielen sie aber, im Unterschied zur Höflichkeit, nicht auf die »Schaffung von Voraussetzungen für soziale Harmonie« (Beetz 2002: 73), sondern auf den Austausch mit dem anderen unter Ausschluss der anderen. Über ihre erste Begegnung mit dem Grafen bei einer Gesellschaft berichtet die Gräfin: »[…] man spielte: ich kam an einen Tisch zu sitzen, der einem mit Lichtern erhellten Spiegel=Glas gegenüber stund. Der Fremde war an einer andern Spiel=Tafel und kehrte seitwärts das Gesicht ebenfalls nach diesem Glase: er sah mich, und ich sah ihn; doch keines von beyden sah sich darinnen selbst: so offt wir die Augen aufschlugen, so offt trafen auch unsere Blicke auf einander: ich erröthete darüber, und wuste endlich nicht vor Verwirrung, wo ich meine Augen hinwenden solte.« (Loen 1966: 67)
Aber schon ihre nächste Begegnung auf dem Geburtstagsfest des Königs durchkreuzen die Blicke des Königs: »Er hatte schon vorher […] in Gesellschaft mir etlichmal scharf unter die Augen gesehen und mich allein zu sprechen gesucht.« (Loen 1966: 70) Als der Graf ihm tatsächlich den 42
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Vorrang beim Tanzen läßt, vermerkt die Gräfin: »[…] meine Augen suchen nur den Grafen, aber die Seinigen verweisen mich an den König.« (Loen 1966: 70) Auch der Graf schildert die Situation: »So bald hatte ich nicht die Liebe des Königes für die Gräfin von Monteras wahrgenommen, so that ich meinem Herzen alle nur ersinnliche Gewalt, [diese] zu ersticken. Ich vermiede […] sie alleine zu sprechen: ich sah, daß mir ihre Augen, wann ich sie in Gesellschaft fand, einen verborgenen Kummer entdeckten, […] sie seufzete, wenn ihr ungefär meine Blicke begegneten: ich entschuldigte damit gleichsam bey ihr meine Aufführung, indem ich sie auf den König wiese, sie that, als ob sie mich verstünde, und als ob sie deswegen betrübt wäre.« (Loen 1966: 120)
Während die Liebenden nicht zueinander kommen können, macht die Entdeckung ihrer Liebe durch die Herzogin von Salona, die ihren ersten Blickkontakt im Spiegel beobachtet hatte, die Runde und löst so die Verfolgung des Grafen durch den König aus. Die Augensprache, jedem geläufig, lässt sich in der höfischen Öffentlichkeit weder verbergen noch geheim halten. Erst das Lustspiel macht sie darüber hinaus als Kommunikationsmittel kenntlich, das im Gegensatz zur Höflichkeit nicht auf ›glauben machen‹ zielt, sondern auf die Wahrheit und den rückhaltlosen Austausch darüber mit dem anderen. Das Drama setzt dazu Augensprache und Blickgefechte auf der Bühne direkt in Szene: Hatte der Roman über diese nur im Nachhinein aus je wechselnden Perspektiven berichtet, so wird auch im Drama die ›Macht der Augen‹ Adlaides, der der König und Valvaise, aber auch der spähende Bruder erliegen, mehrfach erwähnt, aber nur einmal, und zwar bei der entscheidenden ersten direkten Begegnung mit Valvaise, in actu vorgeführt. Es handelt sich um eine vollkommen neue face-to-face-Situation und gleichzeitig das Arrangement des coup de foudre: Beide werden allein gelassen, »damit ihre Antworten keinem Zwange unterworfen scheinen.« (J. S. 1775: 30) Der Spiegel, den Loen gleichsam als Vergrößerungsglas eingesetzt hatte, fehlt, beide kommunizieren direkt: Adlaide, Valvaise »mit gerührten Augen betrachtend«, erliegt dem »sanften Feuer seiner Augen« (J. S. 1775: 37). Valvaise bekennt kurz darauf dem König gegenüber:
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»Warum habe ich nicht wenigstens meine Blicke mit mehrerer Zucht verwahret, von welchen vielleicht ein unseliger Ausreisser mich, da ich für Sie aufrichtig arbeitete, bey Adlaiden verrathen haben mag […]« (J. S. 1775: 54).7
Es sind die Blicke, die den anderen ansprechen; kommt es zu einem Austausch der Blicke, ist es Liebe oder nicht; erst jetzt stellt sich auch die Sprache ein (vgl. Neumann 2003). Beide nehmen dabei Rekurs auf »Herz« und »Seele« als den Sitz der Gefühle. Nachdem Adlaide auf ihr Herz gezeigt hat, erklärt sie: »Mich klagen Sie deswegen [, dass sie den König nicht liebt, H. M.] nicht an, sondern den Eigensinn der Natur, der die Herzen an einem unbezwinglichen Leitfaden unerbittlich lenket. […] Ach, vielleicht empfinde ich schon mehr, als ich soll! aber ich habe nur ein Herz.« (J. S. 1775: 37f.)
Valvaise, zerrissen zwischen Freundschaft und Liebe, gesteht ihr nun seine Niederlage: »Wahr ist es, daß ich zum Vortheile meines Freundes ein heldenmüthiges Herz so lange bestritten habe, […] du [Gustav, H. M.] verlierst nur ein halb gekanntes Gut; ich aber ein solches, dessen Werth meine Seele so erkennet hat, daß sie ihn über alle Glückseligkeiten schätzet.« (J. S. 1775: 40)
Blickgefecht und Geständnis münden in Selbstentblößung und Auslieferung an den anderen; am Ende steht der heroische Verzicht beider auf die Liebe. Zeigt der Roman das Gesicht als Schnittfläche, auf dem sich beide, Höflichkeitsdiskurs und Augensprache, überlagern, so wird es im Drama zum Schauplatz, auf dem der Umbruch vom Höflichkeitsdiskurs zur Augensprache direkt greifbar wird. Der Roman schenkt zwar der Augensprache und den Blickgefechten seiner Protagonisten immer wieder Aufmerksamkeit, beschreibt aber weder Gesichter noch stellt er die »anthropologische Ebene« dar, den Umstand, dass alle Höflichkeit dem Einzelnen erlaubt, sein »Gesicht zu wahren« (Raible 1987: 146f.). Auch Riveras bereits erwähnte Selbstbeschreibung, derzufolge ihm seine »wahren Empfindungen« gegen seinen Willen »aus den Augen brechen« 7
In diesem Sinne äußert sich Valvaise auch gegenüber Duplaise: »Freund! ich bin nicht gar ohne Schuld, ich muß meine Augen zu wenig in der Zucht gehalten haben, sie haben meine mir vielleicht selbst unbewußte Regungen verrathen, und Adlaidens Unerfahrenheit gemisbrauchet. Es ist billig, daß ich leide. Komm, thue deine Pflicht, übergieb mich den Gesetzen des Landes, sey ein getreuer Unterthan.« (J. S. 1775: 67) 44
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(Loen 1966: 10), wird im Roman nicht weiter verfolgt, sondern lediglich als Ist-Zustand dargestellt, der bezeichnenderweise bei allen anderen Redlichen wiederkehrt. Dagegen stellt das Drama nicht nur das entscheidende Blickgefecht von Anfang bis Ende dar, sondern setzt überdies das Gesicht als solches gleich mehrfach in Szene. Das Geschehen nimmt von dem Unfall seinen Ausgang, der Adlaide bei ihrem ersten höfischen Auftritt, einem Ball, widerfährt. Infolge eines Streiches, den ihr der Bruder spielt, verliert sie ihre Larve. Erstmals dem »öffentlichen Auge« ausgesetzt (J. S. 1775: 18), verfällt ihr Gustav Adolph sogleich. Valvaise, der sie gleichfalls zum ersten Mal sieht, ist dagegen ungerührt: »in ihren sanften und noch, wie es scheint, unerfahrnen Augen, konnte, wenigstens ich, keinen Eigensinn lesen.« (J. S. 1775: 11) Adlaide selbst konstatiert trocken: »Je nun, ich dachte, es kenne mich ohnehin kein Mensch: so gilt es gleichviel, mein eigenes oder das geborgte Gesicht zu sehen.« (J. S. 1775: 18) Ihr Gesicht, fortan Schauplatz des Gefechtes zwischen den Freunden, ruft Duplaises Entsetzen hervor, als er sie auf dem Weg zur Verteidigung Valvaises »in nachläßigem Anzug, mit zerstreuten Haaren« (J. S. 1775: 73) trifft: »Was machen Sie hier, und wie sehen Sie aus, um des Himmels willen?« (J. S. 1775: 74) Diesee Frage hatte das »musterbildende Anstandsbuch« von Courtin/Melander von 1705 noch eindeutig verworfen: »Man muß sich auch enthalten / nicht das geringste zu sagen / was dem Herzen Wehe thut […] also ungehobelt zu einer Person zu sagen: Mein Gott / wie sehen sie uebel im Gesichte aus!« (Zit. nach Zakharine 2005: 57f.) Hier aber bezeugt die Frage nicht nur das Mitgefühl Duplaises, sondern auch den Zusammenhang zwischen der äußeren und der inneren Verfassung. Bleibt dieser Zusammenhang bei Loen noch unbenannt, so stellt ihn das Drama explizit aus: Bei Adlaide konvergieren Anblick, Augensprache und Ausdruck in jeder Situation, deswegen kennt sie weder einen Unterschied zwischen »eigenem« und »geborgtem Gesicht« noch zwischen ihrem ›Innen‹ und ›Außen‹. Sie sieht sich immer als eins, genau so, wie sie den Geliebten bei ihrer ersten Begegnung wahrnimmt: »Sie, Valvaise, sind nicht von hoher Geburt, Ihre Sitten sind lieblich und sanft, Ihre Person stimmt mit ihnen überein; Sie, sage ich, sehen dem Gefährten ähnlich, den sich Adlaide wünscht.« (J. S. 1775: 39) An die Stelle der Höflichkeit, die laut Zedler »ersetzet«, wozu man »nicht allezeit vermögend ist« oder was man »auch wohl nicht« will, ist die Augensprache getreten, in der Inneres nach außen gestülpt, Äußeres
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HELGA MEISE
in Inneres übersetzt wird. Sie behält nichts zurück; vorbehaltlos, wird sie zum literarischen Leitmodell aller direkten Kommunikation, die nicht nur auf Wahrheit aus ist, sondern auch den wahren Einsatz des Individuums verlangt, seine Identität.
L i t e r at u r Beetz, Manfred (1990): Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum, Stuttgart. Beetz, Manfred (2002): »Die höfliche Anwort in der vormodernen Konversationskultur«. In: Brigitte Felderer/Thomas Macho (Hg.), Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, München, S. 70-92. Biesterfeld, Wolfgang (1990): »Johann Michael von Loen«. In: Walter Killy (Hg.), Literaturlexikon, Bd. 7, Gütersloh, S. 321-323. Chartier, Roger (1986): »Civilité«. In: Rolf Reichardt u. a. (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, München, S. 7-51. J. S. (1775): Valvaise der würdige Hofmann oder die seltsame Redlichkeit am Hofe. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen, Frankfurt a. M./ Leipzig. Loen, Johann Michael von (1966): Der Redliche Mann am Hofe; Oder die Begebenheiten des Grafens von Rivera. In einer auf den Zustand der heutigen Welt gerichteten Lehr- und Staatsgeschichte. Vorgestellet von dem Herrn von ***, Mit einem Nachwort von Karl Reichert, Stuttgart [urspr. Frankfurt a. M. 1742]. Martens, Wolfgang (1987): Der Redliche Mann am Hof. Politisches Wunschbild und literarisches Thema im 18. Jahrhundert, Oldenburg. Martens, Wolfgang (1996): Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärungszeit, Weimar u. a. Neumann, Gerhard (2003): »Jetzt hat’s mich erwischt. Über den Coup de foudre als Wahrnehmungsschema«. In: Texte zur Kunst 52, S. 43-48. Raible, Wolfgang (1987): »Sprachliche Höflichkeit. Realisierungsformen im Deutschen und Französischen«. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 97, S. 145-168. Reichert, Karl (1966): »Nachwort«. In: Der Redliche Mann am Hofe; Oder die Begebenheiten des Grafens von Rivera. In einer auf den Zustand der heutigen Welt gerichteten Lehr- und Staatsgeschichte. Vorgestellet von dem Herrn von ***, Stuttgart, S. 1-25.
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DER HOFMANN IM 18. JAHRHUNDERT
Zakharine, Dmitri (2005): Von Angesicht zu Angesicht. Der Wandel direkter Kommunikation in der ost- und westeuropäischen Neuzeit, Konstanz. Zedler, Johann Heinrich (1961ff): Grosses Vollständiges UniversalLexicon Aller Wissenschaften und Künste […], Graz [urspr. Halle/ Leipzig 1732ff.].
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»L E N Z E N S E S E L E Y «
UND IHRE
FOLGEN
INGRID HAAG
Viel ist spekuliert worden darüber, was sich hinter Goethes Tagebucheintragung vom 26. November 1776 verbergen könnte, in der von »Lenzens Eseley« die Rede ist. Eine andere Notiz von Goethe, vom 25. November diesmal, rückt besagte Eseley in den Zusammenhang des traditionellen Novemberballs am Weimarer Hof (vgl. Damm 1992: 260). Was sich wirklich in jenem Herbst 1776 in Weimar zwischen Goethe und Lenz zugetragen hat, wird nicht rekonstruiert werden können. Eins ist sicher: Lenz wird des Hofes und der Stadt verwiesen, auf Goethes Veranlassung hin, und dies trotz der Fürsprachen der Frau von Stein, der Herzogin Anna Amalia, Herders u. a. Lenzens Biographin Sigrid Damm hat vermutlich Recht, wenn sie annimmt, dass die harte Unerbittlichkeit, mit der Goethe vorgegangen ist, darauf schließen lässt, dass es sich um eine tief persönliche Angelegenheit gehandelt hat, vermutlich zu lokalisieren in dem Dreieck Goethe/Frau von Stein/Lenz (vgl. Damm 1992: 261), worüber wir uns aber nicht weiter in Spekulationen verlieren möchten. Was uns interessiert, ist die Art und Weise, wie die Affaire in der Öffentlichkeit präsentiert und diskutiert wurde, nämlich als gesellschaftlicher Fauxpas; eine glaubhafte Strategie, war Lenz doch allenthalben bekannt für sein ungeschicktes, unhöfisches Benehmen, seine Missachtung und Verachtung der höfischen Umgangsformen. Besagte Formel war schon einige Monate vorher in Goethes Tagebuch aufgetaucht, in einer Notiz vom 25. April: »Lenzens Eseley von gestern Nacht hat ein Lachfieber gegeben.« (Damm 1992: 260) Auf die Bühne der Hofetikette verschoben und hinter der Fassade eines gesellschaftlichen Regelverstoßes kann die persönliche Verletzung Satisfaktion erhalten, nicht zuletzt dank der Position der Souveränität, die Goethe am Hof innehatte. Unter der Oberfläche dieses fait divers enthüllt sich Grundsätzliches über das Funktionieren von Höflichkeit, bzw. Hofetikette: Ihr Regelsystem funktioniert wie eine Fassade; Fassade verstanden als ein Dispositiv, 49
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welches das Spiel von Zeigen und Verbergen regelt, genauer < und das macht die Sache erst interessant < ein Spiel, das darin besteht, zu zeigen, um zu verbergen, enthüllt doch der besonders demonstrative, spektakuläre Modus des Zeigens, wie es das Hofzeremoniell darstellt, gerade die Bedeutung des zu Verbergenden. Das aber, was es auf dieser Bühne vornehmlich zu verbergen gilt, sind die Affekte und unter ihnen der wohl mächtigste und am schwersten zu kontrollierende: Liebe und Leidenschaft. Die Situation des Balls mit der gesellschaftlichen Manifestation des Tanzes ist in diesem Zusammenhang besonders interessant: Ort der Körperdisziplinierung, wo Choreographie und Erotik in eine explosive Mischung treten und deshalb auch ein Ort, wo sich < in besonders bedeutsamer Weise gerade im 18. Jahrhundert < die Mutationen und die Ablösung bestimmter kultureller Modelle im Wandel der Tanzformen im wahrsten Sinne des Wortes ›verkörpern‹ (vgl. Mourey 2005: 113-138). Es hieße, Lenzens ›Eseley‹ zu bagatellisieren, reduzierte man sie auf einen bloßen Fauxpas. Wenn Sigrid Damm von ihm in jenen Herbstmonaten zu berichten weiß: »Lenzens Linkischkeit nimmt wieder zu. Das Hochziehen der Schultern, kaum kann er es mehr verbergen. Manchmal verrät ihn seine Zerstreutheit« (Damm 1992: 252); wenn also verbale Sprache und Körpersprache, die zwei wesentlichen Medien des höflich/höfischen Umgangs, sich weigern, auch nur zum Schein in den höfischen Redeton einzustimmen, »faire des ronds de jambe«, wie es das Französische so anschaulich zu formulieren weiß, dann steckt dahinter vermutlich eine wesentliche Unfähigkeit, der vom höfischen Zeremoniell auferlegten Körper- und Sprachdisziplinierung zu genügen. Auf der Bühne der gesellschaftlichen Repräsentation bewirkt das Schauspiel derartiger Ungeschicklichkeit Gelächter und Spott; »Lachfieber«, wie Goethe notierte. Lenz fühlte sich tief getroffen. In einem Brief an Herder vom 30. November 1776 schreibt er: »Es freut mich bester Herder!, daß ich eine Gelegenheit finde, Abschied von Dir zu nehmen. Freilich traurig genug, kaum gesehen und gesprochen, ausgestoßen aus dem Himmel als ein Landläufer, Rebell, Pasquillant.« (Lenz 1987, Bd. 3: 517) Als Landläufer < das heißt als Vagabund, als Bettler < fühlt er sich verspottet, wie übrigens die Dramenfigur des Hofmeisters Läufferin der zwei Jahre vorher entstandenen Tragikomödie. Aber im Gegensatz zu Läuffer lässt sich der Dichter Lenz nicht ›kastrieren‹, er ist auch Rebell. Sigrid Damm nennt dies »seine plebejische Haltung« (Damm 1992: 271). Er läßt sich nicht ohne Gegenwehr als »Narr« am Hofe verlachen; als Pasquillant antwortet er mit seinem Lachen, mit spitzer spottender Feder, seiner einzigen Waffe der Verteidigung. Es kann übrigens sein, dass der äußere Anlass seiner Ausweisung ein Pasquill war, ein Spottgedicht des sich wegen seiner mangelnden Höfischkeit verspottet gefühlten Dichters,
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»LENZENS ESELEY«
zumindest ist in dem eben zitierten Brief an Herder von einem solchen die Rede: »Und doch waren zwei Stellen in diesem Pasquill die Goethe sehr gefallen haben würden, darum schick ichs dir.« War es ein Spottgedicht, war es ein Fauxpas anlässlich eines Balls oder beides zusammen? Es ist mit Sicherheit nicht zu eruieren, aber interessant ist schon, wie sich gerade diese Motive in dem bereits im Sommer 1776, also einige Monate vor der Ausweisung entstandenen Prosatext Der Waldbruder spiegeln, eine Art Briefroman, wo sich hinter den eher durchsichtigen Masken der beiden gegensätzlichen Protagonisten, der des Waldbruders Herz und des Hofmannes Rothe < allein schon durch das Spiel der Assonanzen der Namen signalisiert < Lenz und Goethe zu erkennen geben. Sie spiegeln die Dichotomie zwischen den Imperativen des Herzens und den Normen der Gesellschaft, womit sich der Waldbruder als ein Bruder Werthers zu erkennen gibt, explizit bestätigt durch den Untertitel: »Der Waldbruder. Ein Pendant zu Werthers Leiden.« So beleuchtet erscheint die Relation Goethe/Lenz hier in einer besonders ambivalent aufgeladenen Perspektive: Als Lenzens bzw. Herzens brüderlicher Leidensgenosse figuriert also ein literarisches Geschöpf Goethes, dasselbe, über dessen Leiche (wenn man so sagen darf) der Dichter seinen gesellschaftlichen Aufstieg am Weimarer Hof angetreten hat. Lenz hatte Goethe das Manuskript seines Waldbruders geschenkt. Die Tatsache, dass es ungedruckt in Goethes Besitz blieb, bis es auf Veranlassung Schillers 1797 in den Horen veröffentlicht wurde, deutet doch wohl weniger auf Desinteresse als vielmehr auf etwas, was tief sitzt und an das nicht erinnert werden soll. * Der empfindsame Herz, tief unglücklich und absolut hoffnungslos verliebt, wie es sich für einen neuen Werther geziehmt, hat sich aus der Gesellschaft in eine ländliche Einsiedelei zurückgezogen; aus seiner Hütte, »zwar nur mit Moos und Baumblättern bedeckt, aber doch für Wind und Regen gesichert« (Lenz 1987, Bd. 2: 380), korrespondiert er mit seinem Freund Rothe, der versucht, den Einsiedler wieder in die Gesellschaft zurückzuholen. Eingeschaltet sind einige andere Briefschreiber (v. a. Briefschreiberinnen), die ihre Sicht und Ansicht der Situation mitteilen. Was uns hier als erstes interessiert, ist die in der dialogischen Form des Briefromans präsentierte kontrastive Gegenüberstellung von anscheinend geglückter höfisch-höflicher Lebensform vertreten durch Rothe einerseits, Unfähigkeit, Scheitern und Leiden im und am geselligen Umgang andererseits, wie sie Herz verkörpert. Wie sich diese Dichotomie in der
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jeweiligen Liebes- und Glücksauffassung spiegelt, ist ein fraglos interessanter Aspekt, der hier erschöpfend nicht behandelt werden kann. Rothe ist das Musterbeispiel des höflichen Weltmannes. Wir erfahren von einer der Briefschreiberinnen, dass seine Gaben, »seine Gesellschaft zu der angenehmsten von der Welt [zu] machen« (Lenz 1987, Bd. 2: 404), ihm den Zugang zu den besten Häusern eröffnet haben. Er selbst analysiert diese seine Gaben keineswegs als so etwas wie eine natürliche Anlage, sondern ausdrücklich als savoir faire ganz besonderer Art: »Man nötigt mich überall hin und ich bin überall willkommen, weil ich mich überall hinzupassen und aus allem Vorteil zu ziehen weiß« (Lenz 1987, Bd. 2: 386). Der gesellige Umgang ist für Rothe ausdrücklich eine Kunst, ein kunstvolles und künstliches Spiel, bei dem zwar in allseitigem Einvernehmen falsch gespielt wird, bei dem aber alle, eben weil das Falschspielen als Regel anerkannt wird, auf ihre Kosten kommen. Nicht nur pragmatischen Wert hat dieses so geartete Gesellschaftsspiel, sondern es verspricht auch eine Lustprämie: Das meisterhaft beherrschte Spiel künstlicher Rollen, ergötzt den Hofmann unendlich, wie er sagt, »besonders weil ich im voraus weiß, daß sich die Leute alle an mir betrügen, und mir hernach doch nicht einmal ein böses Wort darum geben dürfen.« (Lenz 1987, Bd. 2: 387) Im allgemeinen Einverständnis tritt der Schein an die Stelle universeller Werte wie Authentizität und Wahrhaftigkeit. Es ist nur folgerichtig, wenn Rothe die Natur nebst Mooshütte, in die sich der Einsiedler-Freund mit seiner wollüstigen Liebespein unter begeisterter Berufung auf Rousseau und der Vorstellung wahrhaftig-authentischen Lebens zurückgezogen hat, als »das furchtbare Schlaraffenland verwilderter Ideen« (Lenz 1987, Bd. 2: 387) abwertet. Zur Illustration der beiden gegensätzlichen Freunde scheinen zwei Szenen besonders geeignet: Die erste zeigt Rothe in einem der besten Häuser auf einem kleinen Familienkonzert, das besonders elend war, wo die kreischende Stimme der Tochter des Hauses den Gästen die Ohren zerschnitt: »Da in laute Aufwallungen des Entzückens auszubrechen und bravo, bravissimo zu rufen, das war die Kunst.« (Lenz 1987, Bd. 2: 386) Diese Kunst ist keineswegs eine brotlose, wie er den Freund belehrt: »[…] und weißt Du, womit ich mich entschädigte? Die Tochter war ein freundlich rosenwangigtes Mädchen, das mich für jede Schmeichelei, für jede herzlich -falsche Lobeserhebung mit einem feurigen Blick bezahlte, mir auch oft dafür die Hand und wohl gar gegen ihr Herz drückte, das hieß doch wahrlich gut gekauft. Ich weiß, Du knirschest die Zähne zusammen« (Lenz 1987, Bd. 2: 386).
Das vermutete Zähneknirschen des Freundes mußte sich zumindest gegen zwei Aspekte von Rothes Lebensform richten, beide unabdingbar für das Gelingen des gesellschaftlichen Spiels, abscheulich aber für den ganz 52
»LENZENS ESELEY«
nach seiner wahren Natur, seinen wahren, reinen Gefühlen leben wollenden Wertherbruder. Der erste Aspekt besteht, wie es die kleine zitierte gesellschaftliche Szene vorführt, in einer gewissen Flexibilität und Geschicklichkeit im Umgang mit Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, und vor allem auch in Sachen Authentizität: Es gilt, die jeweils geforderte Rolle zu spielen, Identität als Rollenspiel zu akzeptieren und zu genießen. Der zweite betrifft die Kontrolle der Affekte. Die Liebesform der amour galant erweist sich hier als die geeignete, um den Affekt in den Rahmen der politesse zu überführen, ihn dort zum Ausdruck zu bringen, dank des Zusammenspiels von gelungener verbaler und körperlicher Sprache. Rothe kennt die Regeln der Galanterie, beherrscht sie, kommt auf seine Kosten und < dies soll nicht übersehen werden < weiß sie in gefälliger Rede auszudrücken: »Nichts lieblicher als die Eheknoten, die für mich geschlungen werden, und an denen ich mit solcher Artigkeit unten weg zu schleichen weiß.« (Lenz 1987, Bd. 2: 387) Hören wir uns nun an, wie unser guter Herz sein Erlebnis einer Ballszene evoziert. Zum Verständnis muss folgendes vorausgeschickt werden: Herz ist nicht mit Leib und Seele, sondern exklusiv mit seiner ganzen Seele, in eine Gräfin verliebt, die er noch nie < weder leibhaftig noch auf einem Bild < gesehen hat, die er nur aus ihren Briefen kennt; aus Briefen, die nicht etwa an ihn gerichtet waren, sondern an die Witwe Hohl, bei der Herz logiert, und von denen sie ihm eine Selektion zur Lektüre überlassen hat. Auf einem Ball wird er der göttlich Verehrten zum ersten mal ansichtig < zumindest glaubt er es: »Wenn ich mir noch den Augenblick denke, als ich sie das erstemal auf der Maskarade sah, als ich ihr gegenüber am Pfeiler eingewurzelt stand und mir’s war, als ob die Hölle sich zwischen uns beiden öffnete und eine ewige Kluft unter uns befestigte […]. Wie sie so stand und alles sich um sie bedrängte und in ihrem Glanz badete, und ihr überall gegenwärtiges Auge keinen ihrer Bewunderer unbelohnt ließ. Sieh Rothe, diese Maskarade war der glücklichste und der unglücklichste Tag meines Lebens. Einmal kam sie nach dem Tanz im Gedränge vor mir zu stehen, als ich eben auf der Bank saß, und als ob ich bestimmt gewesen wäre, in ihren Zauberzirkel zu verfallen, so dicht vor mir, daß ich von meinem Sitz nicht aufstehen konnte, ihr meinen Platz anzutragen, denn die Ehrfurcht hielt mich zurück, sie anzureden. Diese Attitüde hättest Du sehen und zeichnen sollen, das Entzücken, so nahe bei ihr zu sein, die Verlegenheit, ihr einen Platz genommen zu haben, o es war eine süße Folter, auf der ich diese wenige glückliche Minuten lag.« (Lenz 1987, Bd. 2: 383)
Der »Zauberzirkel« der Leidenschaft beraubt Herz all seiner Sinne, verschlägt ihm das Wort, setzt ihn außerstande, den elementarsten Regeln
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der Höflichkeit zu genügen. In der Beschreibung seines Zustandes verstrickt er sich in Widersprüche: Seine Unfähigkeit aufzustehen, um der Höflichkeit zu genügen und der Dame seines Herzens seinen Platz anzubieten, wird einmal darauf zurückgeführt, dass sie zu dicht vor ihm stand und dann auf das Gefühl der Ehrfurcht. Unkontrollierte Gefühlsverwirrung hält unseren Herz in der Rolle des gelähmten und stummen Zuschauers gefangen, am Rande des gesellschaftlichen Zeremoniells und von diesem ausgeschlossen. »Was das für Menschen sind, deren ganze Seele auf dem Zeremoniell ruht«, seufzt Werther (Goethe 1981: 64), und es ist bezeichnenderweise eine Ballszene, die den Widerstreit zwischen Herzensangelegenheit und gesellschaftlichem Ritual paradigmatisch in Szene setzt. Die erste und einzige Leidenschaft, die Lotte Werther gegenüber offen eingesteht < weil es die einzige ist, die sich eingestehen lässt niir = Plural von T (a) > höfliches V (als Plural von T heute aufgegeben zugunsten von (d)) (d) Tamil niim + kaL > niinkaL = redundante Pluralbildung zu (b) > höfliches V
Für Europa sind in dieser Hinsicht lat. tu (T) und vos (V) geradezu emblematisch. Während in der Epoche des klassischen Lateins noch alle einander mit tu anredeten, verbreitete sich die höfliche Pluralisierung – rein diskurstraditionell – in der Spätantike. Sie ging dann im Mittelalter über die einschlägigen Diskurstraditionen (z. B. offizielles Schreiben, Urkunde)13 auch in romanische und weitere moderne europäische Sprachen ein, wo sie sich sogar auf einzelsprachlicher Ebene habitualisierte, so wie etwa im heutigen Französisch mit tu vs. vous (vgl. z. B. (3) vs. (4)).14 13 Vgl. Koch 1987: Kap. 8.; 2008: 43-48. 14 Vgl. etwa Châtelain 1880; Ehrismann 1901; Svennung 1958: 373-393; Niculescu 1974; Primorac 1996: 23-69; Coffen 2002: 36-89, 230-242. Wie 161
PETER KOCH
Nun handelt es sich bei V nicht, wie Brown/Gilman (1960: 254) vermeinen, um eine »[…] metaphor for power«, sondern um eine Metonymie. (vgl. Listen 1999: 47-49) Der Hörer H wird hier als Teil einer Gruppe angeredet (totum pro parte: Figur-Grund-Effekt vom frame → Element). Darauf beruht auch die pragmatische Wirkung dieses Verfahrens: H muss sich nicht unbedingt direkt angesprochen fühlen; bei der ad hoc-Innovation ergibt sich für den Sprecher S die Möglichkeit der avoidance (off record gemäß Abb. 1, (δ)), was gegenüber einem sozial höherstehenden H in besonderem Maße wünschenswert ist. Dieses Verfahren ist offenbar so attraktiv, dass es allenthalben gern habitualisiert wird (und dann im Rahmen der negativen Höflichkeit on record entsprechend Abb. 1, (γ) fungiert). Im Falle der römischen Spätantike entstand allerdings die V-Anrede spiegelbildlich zu einer schon etwas früher habitualisierten pluralischen Selbstbezeichnung nos (= pluralis maiestatis), zunächst beim Kaiser, später dann auch bei anderen Würdenträgern (vgl. Svennung 1958: 376). Auch bei dieser Selbstbezeichnung liegt eine totum pro parte-Metonymie vor, die allerdings nicht im Dienste der Höflichkeit steht, sondern das positive Gesicht von S (im Sinne von 1.1.) unterstützt, was selbstverständlich nur in stark hierarchisch organisierten Gesellschaften aus der Warte des Höherstehenden möglich ist (indirekt wird damit, gemäß (1b), das positive Gesicht von H bedroht).15 Durch die spiegelbildliche Pluralisierung der Anrede zu V mündet dann aber auch dieser Vorgang, so wie er sich in der römisch-abendländischen Welt abgespielt hat, in den weltweiten, breiten Strom der metonymischen Pluralisierung der Anreden als eines synchronischen, habitualisierten on record-Verfahrens negativer Höflichkeit.
4.2. Verschiebung der Anrede in die 3. Person Ein weiteres Verfahren besteht darin, das Anredepronomen (und/oder ggf. die entsprechende Personalendung des Verbs) von der 2. in die 3. Brown/Gilman (1960) zeigen, ist das höfliche V zunächst auf die Anrede sozial Höherstehender (power) bzw. auf gleicher Ebene zwischen sozial Hochstehenden zugeschnitten, während die Verwendung von V als distanzierter Anrede zwischen Personen von beliebigem sozialem Status (vs. T = solidarity) eine geschichtlich jüngere Entwicklung darstellt. 15 Zur Pluralisierung der Selbstbezeichnung (mit unterschiedlichen, teilweise geradezu widersprüchlichen Funktionen: man denke an pluralis maiestatis vs. pluralis modestiae) vgl. auch Brown/Levinson 1987: 202f.; KerbratOrecchioni 1992: II, 209-211; 231f. 162
HÖFLICHKEIT UND METONYMIE
Person zu verschieben. Dies war beispielsweise in früheren Sprachzuständen des Deutschen (Er), des Schwedischen (han) oder des Polnischen (on) üblich (iloiement nach Kerbrat-Orecchioni 1992, Bd. 2: 46-47, 208f.; vgl. auch Coffen 2002: 89-156). Die Trias der Personen der Rede (Sprecher S, Hörer H, anwesender Dritter AD) gehört zu einem fundamentalen frame des Kommunikationsaktes. Ein Figur-Grund-Effekt AD → H stellt selbstverständlich, gemäß Abb. 3a, eine Metonymie Element → Element innerhalb dieses frames dar.16 Es handelt sich um eine Art »Beiseite-Sprechen« (Svennung 1958: 420), bei dem H sich nicht unbedingt direkt angesprochen fühlen muss; also liegt auch hier wieder – auf der Stufe der ad hoc-Innovation im Diskurs – eine off record-Technik der avoidance gemäß Abb. 1, (δ) vor (vgl. auch Joly 1973: 23; Kerbrat-Orecchioni 1992, Bd. 2: 46f.; zu it. Lei und dt. Sie vgl. 4.4.2.).17
4.3. Anrede mit relationalem Substantiv Deutlich hinausgehend über die bloße Verschiebung der referenziellen Anrede in die 3. Person (4.2.), die – je nach Sprachsystem – nur den Bereich der Personalpronomina und/oder der Personalmorpheme des Verbs betrifft, kommt auch die referenzielle Anrede mit Hilfe eines Substantivs vor, wie wir sie etwa in (10) mit fr. Madame oder in (12) mit pg. a senhora finden (vgl. Svennung 1958: 32-58; Coffen 2002: 257-259; Simon 2003: 107f.). (12) pg. Como está a senhora? ›Wie geht es Ihnen?‹ (an eine Frau gerichtet)
Die potenzielle Vielfalt der pragmatischen Effekte des »BeiseiteSprechens« (vgl. Anm. 17) wird hier klar auf Höflichkeit hin dimensioniert, indem die Anrede nicht pronominal erfolgt, sondern durch ein 16 Kerbrat-Orecchioni (1992, Bd. 2: 46, 211) weist darauf hin, dass solche Verschiebungen in der Rhetorik unter dem Stichwort ›Enallagé der Person‹ verhandelt werden. Simon (2003: 108-110) leitet die 3. Person jedoch aus einer Anapher (vgl. 4.2.2.) im Verhältnis zu dem in 4.3. behandelten Typ ab. 17 Bemerkenswert ist allerdings insgesamt die Vielfalt der pragmatischen Effekte der Verschiebung in die 3. Person (vgl. Joly 1973: 28; KerbratOrecchioni 1992, Bd. 2: 46f.): avoidance (hier relevant); Herablassung (= FTA!); neckende Klage; Sprechen mit Kindern, Alten, Patienten, Kunden; mittlerer Höflichkeitsgrad (z. B. im pikardischen Dialekt als Zwischenstufe zwischen tu und vous habitualisiert). 163
PETER KOCH
relationales Substantiv, das die Beziehung zwischen S und H selbst schon in höflicher Weise charakterisiert. Zur Erklärung kann man zwei unterschiedliche Pfade in Betracht ziehen. 4.3.1. Metonymische Reanalyse Zum einen reicht, wie Svennung (1958: 7-32) gezeigt hat, bis in altbabylonische Zeit der Usus zurück, in Briefen auf den Adressaten mit Formeln des Typs mein Herr Bezug zu nehmen: (13) Mein Herr möge sich erheben, und Bescheid möge er schicken (Übersetzung aus dem Altbabylonischen: Svennung 1958: 9)
Ursprünglich ist diese Erscheinung darauf zurückzuführen, dass in Botennachrichten (aus denen Briefe ja letztlich durch Verschriftung entstanden sind) der Bote angewiesen wurde, eine Nachricht an den Adressaten zu übermitteln, der dabei selbstverständlich in der 3. Person genannt wurde (Typ: Zu meinem Herrn sprich…).18 Nicht zufällig häufen sich diese Formeln mit relationalem Substantiv19 in den Rahmenteilen der Briefe (Anfang/salutatio und Schluss), während der übrige Text mit dem üblichen du fortfährt (vgl. Svennung 1958: 12, 14, 25). Dies ist ein Indikator für die zunächst sehr enge (weil nur auf periphere Textteile begrenzte) diskurstraditionelle Habitualisierung. Die betreffende Filiation setzt sich in der – zunehmend von der Botennachricht unabhängigen – orientalischen und dann auch abendländischen (griechischen, lateinischen) Brieftradition fort. In dem Maße, wie sich die Verwendung solcher relationalen Substantive von bestimmten Briefteilen löst und auf den ganzen Brieftext ausdehnt (vgl. z. B. Svennung 1958: 27), kann man davon ausgehen, dass die relationalen Substantive als referenzielle Anrede habitualisiert waren. Für den Prozess, der hier erfolgt ist, trifft all das zu, was typisch für ›Reanalyse‹ ist (vgl. Waltereit 1999; Detges/Waltereit 2002):
•
Reanalyse wird hörerseitig in Gang gesetzt. Wie oben bereits teilweise angedeutet, meint der Autor (S) der Nachricht bzw. des Briefes mit einem Ausdruck des Typs [mein] Herr zunächst – ganz nach der Tradition – ein Sprechen über einen Dritten, nämlich den Adressaten. Aus der Sicht des Adressaten ist aber pragmatisch völlig klar, dass
18 Spiegelbildlich verwendet der Autor der Botschaft bzw. dann des Briefes auch die höfliche Selbstbezeichnung des Typs dein Diener. 19 Auf Grund der allgemeinen Tendenz zur Entwertung höflicher Anredeformen (vgl. auch Anm. 24) weitet sich der zunächst für den König reservierte Gebrauch dieser Formeln nach und nach auf andere Adressaten aus. 164
HÖFLICHKEIT UND METONYMIE
•
•
hier zu ihm als H gesprochen wird, so dass er [mein] Herr als höfliche Anrede an sich selbst verstehen kann, bei der zwecks avoidance eine Verschiebung zur 3. Person hin erfolgt (entsprechend 4.2.) und zusätzlich mit dem Substantiv Herr noch ein Element positiver Höflichkeit (im Sinne von Abb. 1, (β)) eingebracht wird. Sobald einmal einer oder mehrere Adressaten (H) eine solche Reanalyse vorgenommen haben, werden sie als Autoren (S) den Typ [mein] Herr möglicherweise ihrerseits im Sinne der neuen Interpretation als höfliche Anrede verwenden und dabei das Verfahren folgerichtig in beliebigen Textteilen einsetzen (und nicht mehr nur in den Rahmenteilen, wo allein es in seiner ursprünglichen Funktion sinnvoll war). Reanalyse beinhaltet einen Unterschied zwischen der grammatikalischen oder lexikalischen Analyse eines sprachlichen Ausdrucks einerseits durch S und andererseits durch H. Zu einer Reanalyse kann es aber nur kommen, wenn dieser Unterschied den pragmatischen Sinn der Äußerung im Kern nicht tangiert. Im vorliegenden Fall ist das Referenzobjekt von [mein] Herr eindeutig als der Adressat der Nachricht bzw. des Briefes zu identifizieren, unabhängig davon, ob über oder zu ihm gesprochen wird. Reanalyse ist sehr häufig metonymisch basiert, und so in der Tat auch hier: es findet ein ähnlicher Figur-Grund-Effekt zwischen zwei Personen der Rede innerhalb des frame des Kommunikationsaktes statt, wie er bereits in 4.2. beschrieben wurde: AD → H.20
4.3.2. Delokutive Metonymie Nun begegnet uns die Verwendung des Typs [mein] Herr jedoch auch schon relativ früh außerhalb von Briefen in »mündlicher« Kommunikation (vgl. Svennung 1958: 14-18). Man könnte dies damit erklären, dass einfach eine diskurstraditionelle Ausweitung der Verwendung stattgefunden hat. Offensichtlich sind die betreffenden Briefe offizieller Natur, und auch die »mündliche« Kommunikation, um die es hier geht, hat ausgesprochen formellen Charakter, so dass ein solcher diskurstraditioneller »Übersprung« durchaus plausibel ist.21 Allerdings entstehen referenzielle 20 Angesichts der Genese des Verfahrens ist wohl realistischerweise vom anwesenden Dritten (AD) auszugehen: Die Reanalyse erfolgt ja, während sich der Adressat einer Botennachricht (bzw. später: eines vorgelesenen Briefes) in Anwesenheit des Boten (bzw. Überbringers) befindet. 21 In einer präziseren Terminologie könnte man sagen, dass, was das Medium betrifft, Briefe natürlich ›schriftlich‹ im Sinne von ›graphisch realisiert‹ sind und dass mit ›mündlicher‹ hier ›phonisch realisierte‹ Kommunikation 165
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Anreden des Typs [mein] Herr immer wieder neu, auch in Epochen, wo die oben geschilderte Genese aus Botennachricht und Brief keine Rolle mehr spielt. Hier ist ein anderer Entstehungspfad in Betracht zu ziehen. Um dies zu verstehen, ist daran zu erinnern, dass wir uns in diesem Abschnitt 4. bisher ausschließlich mit den in 1.2. als ›referenzielle Anrede‹ definierten Akten befasst haben, in denen der Sprecher S den Hörer H in einer bestimmten sprachlichen Form nennt, um auf der propositionalen Ebene einen Sachverhalt darzustellen, in den H involviert ist (so (3) tu, (4) vous usw.). Wir wollen dies terminologisch klar von einem völlig anderen Typ von Akt unterscheiden, bei dem der S den H in einer bestimmten sprachlichen Form nennt, um auf kommunikativer Ebene eine Beziehung zu ihm herzustellen, wie es z. B. in (4) bzw. (5) mit Monsieur bzw. Madame geschieht.22 In solchen Fällen möchte ich von ›vokativischer23 Anrede‹ sprechen. So steht die referenzielle Anrede-Verwendung von Madame in (10) der vokativischen AnredeVerwendung desselben Substantivs in (5) gegenüber. Offensichtlich ist die vokativische Anrede-Funktion bei derartigen Substantiven die ursprüngliche. Sie entspricht wohl einer universalen Ausdrucksmöglichkeit, während die referenzielle Anrede-Verwendung des Typs Madame eine Sonderentwicklung in bestimmten Sprachen oder sogar nur in bestimmten Diskurstraditionen darzustellen scheint. Auf die Vorgängigkeit der vokativischen Verwendung deuten auch die mit solchen Substantiven in einigen Sprachen verschmolzenen Possessiva hin, die ursprünglich dazu dienen, die zwischen S und H herzustellende Beziehung zu unterstreichen (fr. Mon-sieur, Ma-dame, engl. My-lord, My-lady; vgl. sogar fr. mon général). Wie gelangt nun aber ein und dasselbe Substantiv von der vokativischen (4, 5) zur referenziellen Anrede (10, 12)?
gemeint ist, dass aber in beiden Fällen eine deutliche Tendenz zu ›kommunikativer Distanz‹ besteht (vgl. zur Begrifflichkeit: Koch/Oesterreicher 1990: 5-12). Immer wieder zeigt sich, dass zwischen distanzorientierten Diskurstraditionen, auch quer zu unterschiedlichen medialen Realisierungstypen, »Vererbungsprozesse« ablaufen (vgl. zu sp. vuestra merced > usted 4.4.1.). 22 Zur bloßen Kontaktherstellung können dabei weitere pragmatische Funktionen treten: Erwecken von Aufmerksamkeit, Nachdruck beim Vollzug eines illokutionären Aktes usw. 23 Es geht hier nicht um den ›Vokativ‹ als einen morphologischen Kasus, sondern gerade um die beschriebene pragmatisch-kommunikative Funktion, die natürlich nur in Sprachen mit einem morphologischen Vokativ (wie dem Lateinischen) durch genau diese Form erfüllt wird. 166
HÖFLICHKEIT UND METONYMIE
Hier müssen wir auf den Begriff des ›delokutiven‹ Wandels zurückgreifen, der von Anscombre (1979) im Anschluss an Benveniste 1966 entwickelt wurde. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass delokutive Prozesse eine – allerdings ganz besondere – Form des metonymischen Wandels bilden. Sie setzen eine spezielle frame-Konstellation voraus, die sich von der in Abb. 3 dargestellten Grundkonstellation dadurch unterscheidet, dass sie mindestens drei Elemente umfasst: (1) einen Sprechakt SpA; (2) ein (oder mehrere) Konzepte K, die bestimmten, für SpA wichtigen < z. B. kontextuellen – Aspekten entsprechen; (3) eine sprachliche Formel F, in der ein oder mehrere Wörter vorkommen, die K ausdrücken und insofern häufiger und prototypischer Bestandteil des Vollzugs von SpA sind. Wir können nun, am Beispiel von Madame den Vorgang folgendermaßen beschreiben, indem wir Anscombres Konzeptualisierung des delokutiven Wandels mit der frame-basierten Theorie der Metonymie zusammenführen (vgl. Koch 1993: 269-271; 2001a: 209f., 2008a: 178-180; Blank 1997: 256f.): Es existieren ein Possessivum mon/ma (mit Bezug auf S) und ein Lexem dame ›Herrin‹, deren Kombination K ausdrückt. Ma (Poss.) + dame ›Herrin‹24 werden häufig, wie in (5), in einem Sprechakt {vokativische Anrede = Herstellung einer Beziehung von S zu H} verwendet, weil K (die Charakterisierung einer Beziehung, in die der Sprecher involviert ist) als Element positiver Höflichkeit (im Sinne von Abb. 1, (β)) zentraler Bestandteil von SpA ist. Die Verbindung ma dame verfestigt sich (> Madame) mit einer neuen, eigenen Bedeutung ›Beziehung von S zu H‹, die dem in vollzogenen Sprechakt {vokativische Anrede = Herstellung einer Beziehung von S zu H} entspricht. Reanalyse der Verwendung von ma dame entsprechend der neuen Bedeutung ›Beziehung von S zu H‹, die sich aus ergibt (zur Theorie der Reanalyse vgl. 4.3.1.).
Es findet hier also bei dem Ausdruck Madame ein metonymischer FigurGrund-Effekt von der Bedeutung K zu einer dem Sprechakt SpA entsprechenden Bedeutung statt. Wenn dies einmal vollzogen ist, kann Madame (und analog Monsieur) mit seiner neuen Bedeutung ›Beziehung von S zu H‹ selbstverständlich auch als referenzielle Anrede verwendet werden, nämlich dort, wo auf der propositionalen Ebene ein Sachverhalt dargestellt wird, in den H involviert ist. Es kann dann sozusagen auf das
24 Auch hier wäre gesondert das Problem der langfristig unvermeidlichen Entwertung höflicher Anreden zu diskutieren (vgl. Anm. 19 und 4.4.1.). 167
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höfliche Verfahren der Verschiebung zur 3. Person zwecks avoidance (entsprechend 4.2.) »aufmontiert« werden, wie es z. B. in (10) der Fall ist. Ähnlich – allerdings ohne Possessivum – wäre die Genese von pg. a senhora (und analog o senhor) zu denken, wobei in der referenziellen Anrede hier der definite Artikel hinzutritt. Es ist nicht auszuschließen, dass die beiden in 4.3.1. und 4.3.2. beschriebenen Filiationen ineinander geflossen sind oder dass sie die Herausbildung einer bestimmten höflichen substantivischen Anrede in unterschiedlichem Ausmaße geprägt haben. Zu beachten ist die Tatsache, dass die Habitualisierung solcher Ausdrücke als referenzieller Anreden, je nach Sprache, unterschiedlich weit fortgeschritten sein kann. Bei fr. Madame/Monsieur (10), wie auch in vielen anderen Sprachen, bestehen bis heute – und wohl sogar wieder stärker als früher – klare diskurstraditionelle Beschränkungen, jetzt vor allem auf die Anrede von Dienstboten an Herrschaften (eventuell noch von Personal in der Gastronomie an Gäste). Bei pg. a senhora/o senhor hingegen hat – ganz anders als beim nah verwandten sp. la señora/el señor – eine klare Habitualisierung auf einzelsprachlicher Ebene und ein Motivationsverlust stattgefunden.25
4.4. Anrede mit Abstrakta 4.4.1. Abstraktum-Anreden Ein weiteres interessantes (referenzielles) Anredeverfahren besteht darin, ein auf H bezogenes Possessivum mit einem Substantiv zu verbinden, das ein Abstraktum bezeichnet, und zwar eine Eigenschaft oder soziale Position, die H zugeschriebenen wird (dazu lateinische Beispiele, teilweise mit ihren modernsprachlichen Nachfolgern, in (14a-e), ferner ein Verwendungsbeispiel zu (14a) in (15)). Wie ersichtlich, kann das Verfahren der Abstraktum-Anrede unter Umständen noch zusätzlich mit der Pluralisierung entsprechend 4.1. gekoppelt sein. (14) (a) lat. maiestas tua/vestra → fr. Votre Majesté, engl. Your Majesty, dt. Eure Majestät, usw. (b) lat. pietas tua/vestra (c) lat. clementia tua/vestra (d) lat. gratia vestra → sp. vuestra merced, dt. Euer Gnaden, usw.
25 Eine völlige Grammatikalisierung liegt lediglich insofern noch nicht vor, als, je nach dem Status oder Beruf von H, Varianten wie o doutor, o director usw. zur Verfügung stehen. 168
HÖFLICHKEIT UND METONYMIE
(e) lat. dominatio vestra → it. Vostra signoria, usw. usw. (15) lat. 〈venientes〉 in tam gravi pro modulo me〈diocritat〉is nostrae […] 〈iniuria im〉ploratum maiestatem tuam […] ›[…] und kommen angesichts einer für die Verhältnisse unserer Mittelmäßigkeit so schweren […] Ungerechtigkeit, um Deine Hoheit anzuflehen […]‹ (Inschrift von 180-183 = CIL VIII 10570, Abt. II 19, cit. Svennung 1958: 73)
Offensichtlich handelt es sich auch bei den Abstraktum-Anreden um Metonymien (vgl. Listen 1999: 51-59): Eine EIGENSCHAFT und ihr TRÄGER gehören einem gemeinsamen frame an. Im vorliegenden Fall tritt nun einfach die (unterstellte) EIGENSCHAFT von H in einem Figur-GrundEffekt für ihren TRÄGER H ein (Metonymie Element → frame im Sinne von Abb. 3b). Auch hier liegt auf der Stufe der ad hoc-Innovation im Diskurs wieder eine höfliche off record-Technik der avoidance gemäß Abb. 1, (δ) vor, die allerdings wesentlich subtiler funktioniert als die in 4.2. und 4.3. skizzierten Verfahren des »Beiseite-Sprechens«: bei der Abstraktum-Anrede werden nicht Personen der Rede ausgetauscht, sondern auf H wird über die mit ihm kontige EIGENSCHAFT indirekt Bezug genommen (H ist sogar in Form des dem Substantiv beigegebenen Possessivums der 2. Person andeutungsweise präsent). Zugleich stellt die Erwähnung dieser (positiven) EIGENSCHAFT selbstverständlich ein Element der positiven Höflichkeit im Sinne von Abb. 1, (β) dar.26 Die Abstraktum-Anrede hat im Abendland eine lange Geschichte.27 Sie ist als Verfahrenstyp bereits bei den Griechen greifbar, taucht in den uns überlieferten lateinischen Texten erstmals bei Horaz und Ovid auf (maiestas tua, gerichtet an den Kaiser) und habitualisiert sich ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. (vgl. maiestatem tuam in (15)). Auch wenn sich der Gebrauch sukzessive auf die Anrede weiterer Würdenträger ausdehnt, erfolgt die Habitualisierung als on record-Verfahren negativer Höflichkeit (Abb. 1, (γ)) für über 1000 Jahre allein auf diskurstraditioneller Ebene (vgl. Koch 2004: 15f., 27f., 32), was auch daran abzulesen ist, dass sich das Inventar der Anrede-Abstrakta eher erweitert und differenziert als
26 Auch hier gibt es ein spiegelbildliches Phänomen in Form der Selbstbezeichnung mit Abstrakta (Typ lat. mea parvitas ~ dt. meine Wenigkeit; vgl. Koch 1987: Kap. 8.; vgl. oben Anm. 3, 15 und 18). Wie auch das Beispiel mediocritatis nostrae in (15) zeigt, erfolgt die Selbstbezeichnung in diesem Fall durch die Wahl eines Abstraktums, durch das der Sprecher S sein eigenes positives Gesicht bedroht, indem er sich selbst erniedrigt (vgl. (2b)). 27 Vgl. etwa Schoener 1881; Engelbrecht 1893; Hirschfeld 1901; Koch 1903; O’Brien 1930; Zilliacus 1949; Svennung 1958: 59-88; Niculescu 1974: 9095; Primorac 1996: 23-69. 169
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reduziert. Der diskurstraditionelle Bereich, in dem diese Form der Anrede typischerweise auftritt, umfasst – neben der christlichen Epistolographie mit teilweise eigenen Abstrakta – den offiziellen Brief und die Urkunde von der Spätantike bis hin zur mittelalterlichen ars dictaminis (vgl. Koch 1987: Kap. 8.; 2008: 45-48). Innerhalb der betreffenden Brief- und Urkundentraditionen wird der Typ der Abstraktum-Anrede (oft in Form von Lehnbildungen oder -übersetzungen) in die modernen europäischen Sprachen übernommen. Hier ist nun zum einen ein Hinauswachsen dieses Anredetyps aus der offiziellen Brief- und Urkundentradition hinein in andere Bereiche des formellen Sprechens zu verzeichnen (vgl. Koch 2008: 51f.; zum kommunikativen Hintergrund s.o. Anm. 21), zum anderen aber, vor allem in der Neuzeit, eine allmähliche Reduktion des Inventars abstrakter Anredeausdrücke auf wenige ausgezeichnete Typen. Letztere sind dann nicht mehr an bestimmte Diskurstraditionen gebunden, wobei sie sich entweder auf Hörer mit einem ganz bestimmten Status in der Gesellschaft spezialisieren (Prototyp: (14a)) oder zu einer unspezifischen höflichen Anredeform werden, die dann auch oft völlig grammatikalisiert und demotiviert ist:28 so beim Typ (14e) vostra signoria > siz. vossia und beim Typ (14d) sp. vuestra merced > usted sowie pg. vossa mercê > você.29 Nichtsdestoweniger gehen auch letztere, inzwischen völlig unmotivierte höfliche Anreden, wie wir gesehen haben, letztlich auf eine metonymische ad hoc-Innovation zurück.
4.4.2. Anaphorische Wiederaufnahmen Die höflichen referenziellen Anreden des heutigen Italienisch (Lei für den Singular)30 und des heutigen Deutsch (Sie für beide Numeri) scheinen auf den ersten Blick in die Sparte der Anrede in der 3. Person (4.2.) zu gehören. Es stellt sich allerdings sofort die Frage, wieso in beiden Fällen das feminine Genus auf Hörer sowohl weiblichen als auch männlichen Geschlechts referiert und wie im Deutschen die zusätzliche Pluralisierung zu rechtfertigen ist. Die notwendigerweise diachronische 28 Vgl. etwa: Lapesa 2000; Niculescu 1974: 55-58; Primorac 1996: 70-327; Eberenz 2000: 85-115; Coffen 2002: 66-70, 126-138; Koch 2008: 49-59. 29 Você entspricht im europäischen Portugiesisch inzwischen einem mittleren Höflichkeitsgrad zwischen tu und dem Typ a senhora/o senhor (s. 4.3.), während es im brasilianischen Portugiesisch sogar tu ersetzt hat. 30 Asymmetrisch dazu ist im Plural die höfliche Anrede identisch mit dem Plural von T (voi). Die V-Anrede für den Singular gehört älteren Sprachstufen an (vgl. etwa (18)) – mit vergeblicher Wiederbelebung zur Zeit des Faschismus – und überlebte andererseits regional. 170
HÖFLICHKEIT UND METONYMIE
Erklärung hat bei den Abstraktum-Anreden anzusetzen. Man muss sich klarmachen, dass Letztere zunächst nur auf eine (schlichtere) Anredeform »aufmontiert« sind, die den gesamten übrigen Text dominiert. So ist eine Anrede wie lat. maiestas tua (14a, 15) in einen Text eingelagert, in dem ansonsten eine T-Anrede, nämlich lat. tu vorherrscht (16). Entsprechend ist lat. maiestas vostra (14a) ursprünglich von (pluralisierten) V-Anreden des Typs vos umgeben (17), und ganz analog it. Vostra Signoria von V-Anreden des Typs voi ((18); vgl. 4.1.; s. auch Anm. 30). (16) lat. … … tu … … maiestas tua … … tu …… tu … … (17) lat. … … vos … … maiestas vostra … … vos … … vos … … (18) it. … … voi … … Vostra Signoria … … voi … … voi … …
Bei referenziellen Ausdrücken der (echten) 3. Person, die weder auf S noch auf H Bezug nehmen, kann und muss man – und dies reicht für unsere Zwecke – mindestens unterscheiden zwischen exophorischem Gebrauch (Bezugnahme aus dem Text hinaus auf Referenten in der Welt) und endophorisch-anaphorischem Gebrauch (Bezugnahme innerhalb des Textes auf einen zuvor genannten Referenten).31 Bei referenziellen Ausdrücken, die auf eine der Redepersonen (S oder H) Bezug nehmen, löst sich diese Unterscheidung zugunsten durchgehender Exophorik auf: Pronomina wie tu/vos/voi (16-18) nehmen bei jeder ihrer Verwendungen aus dem Text heraus direkt Bezug auf H (auch wenn man hier in der Iteration des Pronomens eine Art von »Anaphorik« erblicken könnte). Etwas komplizierter liegen die Dinge, wenn wir es mit abstrakten Anrede-Substantiven zu tun haben, die zumindest von der Form her der 3. Person entsprechen. Hier scheint eine endophorisch-anaphorische Wiederaufnahme durchaus sinnvoll. In der Tat verbreitet sich im 15.-16. Jahrhundert speziell im Italienischen eine anaphorische Pronominalisierung des abstrakten Anrede-Substantivs signoria, und zwar im ersten Schritt durch die – aus Kongruenzgründen selbstverständlich feminine – Form ella (auch quella, essa; vgl. Niculescu 1974: 109-112; ähnlich zu frnhd. Sie Listen 1999: 69-81): (19) it. … … Vostra Signoria … … ella … … lei … …
Hier entsteht nun wieder eine klassische Reanalyse-Situation: Selbst wenn der Sprecher S ella usw. von der Intention her anaphorisch verwendet (Bezugnahme auf eine zuvor genannte Person) liegt es für den Hörer H nahe, diese Pronomina exophorisch als referenzielle Anrede an H selbst zu interpretieren, ohne dass dieser Unterschied den pragmatischen 31 Vgl. Bühler 1965: 121-140; Heger 1963: 19f.; Brown/Yule 1983: 192f. 171
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Sinn der Äußerung im Kern tangiert (vgl. 4.3.1.). Diese Reanalyse ist – wieder einmal – metonymischer Natur, weil ZUVOR GENANNT und HÖRER kontige Aspekte ein und derselben Person darstellen, zwischen denen leicht ein Figur-Grund-Effekt stattfinden kann. Dass das Ergebnis dieser Reanalyse auf einzelsprachlicher Ebene völlig habitualisiert wurde, zeigt das – nach dem Untergang von Vostra Signoria – definitiv selbstständige Anredepronomen Ella, das im heutigen Italienisch allerdings nur noch als diaphasisch sehr hohe Variante überlebt. Ähnlich wäre die höfliche deutsche Anredeform Sie aus einer anaphorischen Wiederaufnahme von Euer Gnaden abzuleiten, womit sich hier auch der Plural erklärte (vgl. jedoch im Detail genauer Listen 1999: 110-146; Simon 2003: 110-114). Wie Niculescu (1974: 112-114) herausarbeitet, erlebt das ursprünglich anaphorische it. Ella seinerseits, wie in (19) ebenfalls dargestellt, eine anaphorische Wiederaufnahme durch lei, das dann abermals durch metonymische Reanalyse zum Anredepronomen wird und, nach zunehmender Verbreitung seit dem 16. Jahrhundert, auf einzelsprachlicher Ebene habitualisiert wird zu der heute gängigen höflichen Anredeform lei. So stellen die höflichen Anredeformen it. Lei und dt. Sie in diachronischer Hinsicht ferne Reflexe einer metonymischen AbstraktumAnrede, vermittelt über eine metonymische Reanalyse, dar. In synchronischer Hinsicht – längst habitualisiert und on record eingesetzt – dürften sie allerdings eher als Realisierungen des metonymischen Verfahrens der höflichen Verschiebung in die 3. Person (4.2.) empfunden werden (mit zusätzlicher höflicher Pluralisierung bei dt. Sie gemäß 4.1.).
4.5. Impersonalisierung Ein probates Verfahren der Höflichkeit besteht darin, S und/oder H einfach nicht zu nennen, um den FTA der referenziellen Anrede zu umgehen, zumal innerhalb direktiver Sprechakte, die ihrerseits einen FTA darstellen (vgl. (1a)(i)). So bietet es sich an, statt eines performativen (20a) oder eines modalen Verbs (20b), bei denen S und H unvermeidlich genannt werden, einen unpersönlichen Ausdruck wie in (20c) oder (20d) zu wählen: (20) (a) fr. Je vous prie de chercher des informations plus précises. (b) fr. Je souhaiterais que vous cherchiez des informations plus précises. (c) fr. Il est souhaitable que vous cherchiez des informations plus précises. (d) fr. Il est souhaitable de chercher des informations plus précises. 172
HÖFLICHKEIT UND METONYMIE
Es ist klar, dass gegenüber einer äußerst expliziten Ausdrucksweise wie in (20a) der Anreiz besteht, durch off record-Verfahren für avoidance zu sorgen. Dabei sind nun wieder unterschiedliche Formen der Metonymie im Spiel. Schon der Schritt von (20a) zu (20b) impliziert eine – allerdings längst habitualisierte – Sprechakt-Metonymie, wie wir sie in 4.6. besprechen werden. Im vorliegenden Abschnitt interessiert uns zunächst nur das Problem der Anrede. Wenn in (20d) im Verhältnis zu (20b) die Anrede an H (und die Selbstbezeichnung von S) zum Verschwinden gebracht wird, so geschieht dies im Rahmen eines frame WUNSCH, der in konzeptueller Hinsicht unter anderem einen EXPERIENCER (denjenigen, der den WUNSCH empfindet), eine GEWÜNSCHTE HANDLUNG und einen ADRESSATEN (denjenigen, auf dessen Handeln sich der WUNSCH bezieht) einschließt. Souhaiter ist von seiner semantisch-syntaktischen Umgebung her so angelegt (vgl. (20b)), dass der frame WUNSCH als solcher, der EXPERIENCER (je), die GEWÜNSCHTE HANDLUNG (chercher) und – im abhängigen Satz – der ADRESSAT (vous) ausgedrückt werden können. In der syntaktischen Umgebung von souhaitable (vgl. (20c und d) kann hingegen nur der WUNSCH als solcher, die GEWÜNSCHTE HANDLUNG (chercher) und fakultativ der ADRESSAT (nur in (20c), nicht in (20d)) versprachlicht werden. Die in (20d) gewählte Ausdrucksweise stellt also eine minimale Schrumpfform ohne expliziten S- und H-Bezug dar. Wenn mit einer solchen Formulierung in einer gegebenen Situation in Wahrheit ein EXPERIENCER (= S) und ein ADRESSAT (= H) mitgemeint sind, handelt es sich um einen metonymischen Effekt, denn hier liegt ein Figur-GrundEffekt zwischen einem Teil des frame (WUNSCH + GEWÜNSCHTE HANDLUNG) und dem gesamten frame bzw. einem größeren Ausschnitt aus dem frame vor (EXPERIENCER und ADRESSAT kommen hinzu). Da die letzteren beiden Elemente nicht explizit genannt werden und mitverstanden werden können – oder auch nicht –, stellt dies ein typisches avoidance-Verfahren dar. Insofern überrascht es nicht, dass Brown/Levinson (1987) die Impersonalisierung als Verfahren der Höflichkeit aufführen. In diesen Zusammenhang gehört, neben den in (20c und d) illustrierten eigentlichen Impersonalia (vgl. op.cit.: 191-194, 275f.), selbstverständlich auch der strategische Einsatz verbaler Diathesen (vgl. op.cit: 194-197, 273-275).32 Wie schon aus den Beispielen in (20) ersichtlich, bildet die Wortart Verb dank ihrer Valenz ein ideales Mittel zur Versprachlichung von frames (vgl. Waltereit 1998: 53f.; Koch 2001a: 210). Eine wichtige Aufgabe von 32 Wenn allerdings Brown/Levinson (1987: 198-204) auch pluralisierte Anreden (im Sinne von 4.1.) und substantivische Anreden (im Sinne von 4.3. und 4.4.1.) zur ›Impersonalisierung‹ rechnen, nivellieren sie damit wichtige Unterschiede. 173
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Diathesen besteht nun genau darin, innerhalb verbal ausgedrückter frames bestimmte Perspektivierungen vorzunehmen (durch Ausblendung von Aktanten, insbesondere des AGENS: vgl. etwa Oesterreicher 1991: 363-367; Schwarze 1995: 178-190). Dies betrifft sowohl die passivische Diathese als auch – in den romanischen Sprachen (mit Einschränkungen im Französischen) – die »reflexivische« Diathese. Wie das italienische Beispiel (21) zeigt, konnte die unpersönlich-»reflexivische« Verwendung eines performativen Verbs als ad hoc-Innovation ohne Zweifel einen höflichen avoidance-Effekt erzielen, bei dem der SPRECHAGENS (= S) und der ADRESSAT (= H) als weitere Elemente des frame von BITTEN (ausgedrückt durch pregare) nur metonymisch erschließbar waren. (21) it. Si prega di non fumare.REFL. bitten.3.SG.PRÄS. von nicht rauchen ›Bitte nicht rauchen.‹
Die Habitualisierung von ursprünglich als off record-Lösungen entstandenen impersonalisierten Formulierungen kann unterschiedlich weit fortgeschritten sein. Während sich bei einer Ausdrucksweise wie fr. il est souhaitable de… (20d) der avoidance-Charakter noch relativ gut erhalten hat, ist it. si prega di… (21) längst auf diskurstraditioneller Ebene als on record-Verfahren negativer Höflichkeit habitualisiert.
4.6. Indirekte Sprechakte (Typ 1) Die in 4.5. angesprochenen Phänomene betrafen einerseits noch Probleme des referenziellen Aktes der Anrede, andererseits aber auch schon Aspekte illokutionärer Akte, also der Herstellung interaktioneller Sachverhalte (vgl. 1.2.), ein Bereich, dem wir uns nun zum Schluss ganz zuwenden wollen. Wie wir in 1.1. gesehen haben, gibt es bestimmte illokutionäre Akte, die per se FTAs darstellen ((1a)(i), (ii) und (iii)). Die wichtigste Strategie, um mit solchen FTAs umzugehen, besteht zweifellos in der Indirektheit (vgl. Brown/Levinson 1987: 132-144). Letztere Thematik hat die Sprechakttheorie – auch aus theoretischen Gründen, unabhängig von der Frage der Höflichkeit – schon immer intensiv beschäftigt (vgl. Searle 1975; Levinson 1983: 263-276; Sperber/ Wilson 1995: 243ff.). Ein interessanter Ansatz hierzu wurde erstmals von dem gerade genannten Searle vorgelegt, der erkannte, dass wichtige Verfahren der Indirektheit darin bestehen, den expliziten Vollzug des illokutionären Aktes – etwa vermittels eines performativen Verbs – durch eine Formulierung zu ersetzen, die eine der (»flankierenden«) pragmatischen Bedingungen des betreffenden Sprechaktes versprachlicht: eine
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HÖFLICHKEIT UND METONYMIE
Einleitungsbedingung, eine Aufrichtigkeitsbedingung usw. So wird in (20a) ein direktiver Sprechakt der BITTE in direkter Form ausgedrückt. In (22a) ist die ›wesentliche Bedingung‹ eines solchen direktiven Sprechakts expliziert, in (22b) die (flankierende) Einleitungsbedingung, in (22c) die (flankierende) Aufrichtigkeitsbedingung. Ganz offensichtlich wird in (22d), als höflicherer Formulierung für (20a), in interrogativer Form genau die Einleitungsbedingung (22b) von (20a) angesprochen, also die Tatsache, dass H in der Lage ist, die verlangte Handlung auszuführen. (22) (a) Wesentliche Bedingung eines direktiven Sprechakts: Der Sprechakt gilt als Versuch von S, H dazu zu bringen, die im propositionalen Gehalt ausgedrückte Handlung auszuführen. (b) Einleitungsbedingung eines direktiven Sprechakts: H ist in der Lage, die verlangte Handlung auszuführen. (c) Aufrichtigkeitsbedingung eines direktiven Sprechakts: S wünscht, dass H die verlangte Handlung ausführt. (d) fr. Pouvez-vous chercher des informations plus précises?
Ganz ähnlich wird in (20b), als höflicherer Formulierung für (20a), in der modal abgeschwächten Form des Konditionals gerade die Aufrichtigkeitsbedingung (22c) von (20a) angesprochen, also die Tatsache, dass H wünscht, dass S die verlangte Handlung ausführt (und von (20b) über (20c) bis zu (20d) gelangen wir dann schrittweise zu immer weiteren Stufen höflicher avoidance, die zusätzlich durch die in 4.5. beschriebenen Verfahren der Impersonalisierung zustandekommen). Wir wollen im Folgenden indirekte Sprechakte wie (20b) und (22d) als ›Typ 1‹ von dem in 4.7. zu behandelnden ›Typ 2‹ unterscheiden. Es ist angedeutet oder sogar explizit behauptet worden, dass bei indirekten Sprechakten des Typs 1 nichts anderes als eine (illokutionäre) Sprechakt-Metonymie vorliegt (vgl. schon Schifko 1979: 259ff.; Taylor 1995: 157; vor allem Thornburg/Panther 1997; Panther/Thornburg 1999; Gibbs 1999: 72f.). Um dies zu präzisieren, können wir festhalten, dass jeder Typ von illokutionärem Akt grundsätzlich einen frame eröffnet, in dem ganz bestimmte pragmatische Bedingungen durch Kontiguitäten miteinander verbunden sind (die gemäß Searle 1975 für jeden Illokutionstyp gesondert zu definieren wären). Bei indirekten Sprechakten des Typs 1 wird dann innerhalb eines bestimmten Sprechakt-frame explizit nur eine der »flankierenden« Bedingungen des Sprechakts ausgedrückt, von der man aber über einen metonymischen Figur-Grund-Effekt (entsprechend Abb. 3a) zur wesentlichen Bedingung des betreffenden Sprechaktes umschwenken kann. So tritt in (22d) die Einleitungsbedingung (22b), in (20b) hingegen die Aufrichtigkeitsbedingung (22c) für die wesentliche Bedingung (20a) eines direktiven Sprechaktes ein. 175
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Derartige Sprechakt-Metonymien müssen selbstverständlich einmal als ad hoc-Innovationen im Diskurs entstanden sein (Tab. 2, I). Wie die Diskussion der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, haben wir es auf dieser Stufe mit einem Problem der pragmatischen Relevanz zu tun, sei es im Sinne einer Konversationsmaxime der Relation (»Sei relevant!«) nach Grice (1975), sei es im Sinne eines allgemeinen Relevanzprinzips nach Sperber/Wilson (1995: 50, 155-163). Die Suche nach Relevanz spornt den Hörer H dazu an, unterschiedliche Sprechakt-frames durchzumustern, in die die pragmatische Bedingung passen würde, die in der gegebenen Äußerung explizit versprachlicht ist. In Form des metonymischen Schritts von der versprachlichten Bedingung zu derjenigen wesentlichen Bedingung, die im gegebenen Kontext die wahrscheinlichste ist, kann der Hörer H über eine ›Implikatur‹ (Grice, Sperber/Wilson) bzw. eine ›Inferenz‹ (Sperber/Wilson) den gemeinten illokutionären Akt erschließen. Auf dieser ad hoc-Stufe spricht Grice von ›konversationeller Implikatur‹. Der Höflichkeitseffekt ergibt sich hier off record (Abb. 1, (δ)), da dem Hörer H die Implikatur bzw. Inferenz nicht aufgezwungen wird (avoidance). Da nun aber zahlreiche Sprechakt-Metonymien des Typs 1 keine ad hoc-Kreationen mehr sind, sondern eine Habitualisierung/Konventionalisierung erfahren haben, muss der Hörer H nach Grice (1975) in solchen Fällen nicht mehr eine konversationelle, sondern nur noch eine ›konventionelle Implikatur‹ leisten. Es liegt also ein konventionelles on record-Verfahren negativer Höflichkeit vor (Abb. 1, (γ); vgl. Brown/Levinson 1987: 70, ferner 132: »Be conventionally indirect«). Auch wenn dieser Punkt bei Grice im Dunkeln bleibt, können wir präzisieren, dass es sich um eine Habitualisierung auf rein diskurstraditioneller Ebene handelt (Tab. 2, II).33 Höfliche indirekte Sprechakte des Typs 1 stellen sogar eine der zentralen diskurstraditionellen Strategien negativer Höflichkeit dar. Auf Grund der engen Kontiguität zwischen SprechaktBedingungen wie (22a – b – c) herrscht hier also Omnipräsenz der Metonymie. Es ist allerdings gleichzeitig zu betonen, dass die Habitualisierung derartiger Verfahren wohl kaum jemals auf einzelsprachlicher Ebene (Tab.2, III) ankommt. Für Einzelsprachen wäre es unökonomisch, für unterschiedliche Spielarten indirekter Sprechakte eine grammatikalisierte Form vorzuhalten.
33 Es rechtfertigt sich von daher, anders als Sperber/Wilson (1995: 182), so etwas wie ›konventionelle Implikaturen‹ anzusetzen, die zwischen den (inferierten) ›konversationellen Implikaturen‹ und den (einzelsprachlich vorgezeichneten) ›Explikaturen‹ liegen (vgl. Koch 2004:14). 176
HÖFLICHKEIT UND METONYMIE
4.7. Indirekte Sprechakte (Typ 2) In 4.6. ging es um indirekte Sprechakte mit einem sehr eng festgelegten Design, das nur Sprechakt(bedingungs)-frames einschließt (= Typ 1). Nun zeigen aber unsere Beispiele (5) und (10), dass es in diesem Bereich noch andere Arten von Indirektheit gibt, die sich auf wesentlich offeneren Bahnen bewegen. Dennoch lässt sich auch hier ein gemeinsames Prinzip erkennen: es muss frame-Wissen aktiviert werden, damit der Hörer H seine konversationellen Implikaturen bzw. Inferenzen konstruieren kann. Er bewegt sich dabei unter dem Aspekt der Relevanz – oft über mehrere Zwischenstationen – jeweils von einem Element zu einem kontigen Element, bis er bei einem FTA ankommt. Dies könnte für die drei genannten Beispiele folgendermaßen aussehen: S) → WUNSCH von S, SALAT zu ESSEN; und evtl.: → VEGETARIER SEIN (S) → NEGATIVE BEWERTUNG des BÜFFETS → NEGATIVE BEWERTUNG von H, der das BÜFFET vorbereitet hat (vgl. (1b) und 2.3.). (10’) ANGERICHTET (FÜR H) → H KANN ESSEN → Versuch von S, H DAZU zu BRINGEN, ZUM ESSEN zu KOMMEN (vgl. (1a)(i) und 3.2. zu (10), ferner 4.3. zu Madame). (5’)
VOM SALAT BEGEISTERT SEIN (EXPERIENCER:
zu
ESSEN
→
WUNSCH
von S,
KEIN FLEISCH
Wir können dies als einen ›Typ 2‹ indirekter Sprechakte identifizieren. Offensichtlich sind auch hier Metonymie und Kontiguität das beherrschende Prinzip. Allerdings werden beim Typ 2, wie die Beispiele verdeutlichen, nicht nur Sprechakt-frames aktiviert (die natürlich auch ins Spiel kommen), sondern frames aus dem gesamten Weltwissen. Dieses offene Verfahren eignet sich daher besonders gut dazu, ad hoc im Diskurs eine avoidance-Lösung zu »erfinden«, die es erlaubt, einen bestimmten FTA off record zu vollziehen, der sich allenfalls über konversationelle Implikaturen erschließen lässt: »Invite conversational implicatures« (Brown/Levinson 1987: 213). Allerdings sind, anders als beim indirekten Sprechakt-Typ 1, die Möglichkeiten zur Habitualisierung von Typ 2-Lösungen – und sei es nur auf diskurstraditioneller Ebene – eher begrenzt, weil einfach die Menge der Problemlagen unendlich ist. Allenfalls in stark konventionalisierten Diskurstraditionen mögen sich teilweise formelhaft-höfliche Metonymien verfestigen. Einen Fall dieser Art dürfte (10) Madame est servie darstellen, das auf die Diskurstradition von Dienstboten beschränkt ist. Sieht man von solchen Fällen ab, verdankt sich die Omnipräsenz von (metonymischen) Sprechakten des Typs 2 jedoch weniger ihrer leichten Habitualisierbarkeit im Sinne von 3.1., (iii) als ihrer quasi universalen Anwendbarkeit auf beliebige Problemlagen. 177
PETER KOCH
5 . K o n k l u si o n Wir haben gesehen, dass Sprecher Innovationen entwickeln müssen, um pragmatisch mit dem Problem der Höflichkeit, hier speziell mit demjenigen der FTAs, fertig zu werden. Im Moment ihrer ad hoc-Entstehung im Diskurs müssen solche Innovationen einerseits die Möglichkeit zur avoidance eröffnen, andererseits aber auch von der konventionellen Bedeutung des betreffenden Ausdrucks her motivierbar sein (vgl. 3.1., (i) und (ii)). Es stellte sich also die Frage, welche semantische Relation diese Zwecke am besten erfüllt. Wie gezeigt werden konnte, basieren grundlegende und weitverbreitete Verfahren der höflichen referenziellen Anrede (4.1.-4.5.) und des indirekten Vollzugs von illokutionären Akten (4.6., 4.7.) auf Metonymie. Dies ist nicht überraschend. Die Metonymie stellt denjenigen Tropus dar, der mit der Kontiguität innerhalb von frames zweifellos die kognitiv schlichteste semantische Relation ins Spiel bringt. Die Motivierbarkeit (ii) ist hier besonders gut gewährleistet. Nicht zufällig verzeichnen wir generell eine Omnipräsenz der Metonymie in der diachronischen lexikalischen und grammatikalischen Semantik (vgl. Koch 2004; 2008a). Der Bereich der somit äußerst frequenten und vielgestaltigen Phänomene der Metonymie umfasst – unter anderem, aber nicht zuletzt – Kontiguitätseffekte, die sich durch geringe Salienz auszeichnen und die daher für die avoidance wie geschaffen sind (vgl. 3.2.2.). In Abschnitt 4. wurde dokumentiert, dass sich hier die Sprecher massiv bei der Kreation von Höflichkeitsverfahren bedienen. Des Weiteren stellte sich heraus, dass die meisten dieser metonymischen off record-Verfahren der Höflichkeit sich sehr gut dazu eignen, zu on record-Verfahren der negativen Höflichkeit, sei es auf diskurstraditioneller Ebene, sei es gar auf einzelsprachlicher Ebene habitualisiert zu werden (vgl. 3.1., (iii)). Lediglich bei den indirekten Sprechakten des Typs 2 (4.7.) dürfte die Habitualisierung auf formelhafte Spezialfälle beschränkt bleiben. Allerdings ist dieses Verfahren so offen gegenüber der Vielfalt möglicher frames, dass es auch ad hoc nahezu unbegrenzt einsetzbar und damit omnipräsent ist. Sicherlich steht die »Gegenprobe« noch aus. Es müsste im Einzelnen überprüft werden, wo im Bereich der Höflichkeit Spezialisierungen oder auch Metaphern eine Rolle spielen (vgl. 3.3. und Anm. 9). Schon jetzt aber können wir sagen, dass zweifellos die für die Höflichkeit wirklich vitalen Bereiche der Anrede und des Vollzugs illokutionärer Akte weithin von der Metonymie beherrscht werden.
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(U N )H Ö F L I C H K E I T < ( I M ) P O L I T E S S E IM WÖRTERBUCH: EINE VERGLEICHENDE UNTERSUCHUNG BARBARA KALTZ
Über Höflichkeit ist in den letzten Jahrzehnten von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen1 vieles gesagt und geschrieben worden. Für den Bereich der Sprachwissenschaft bemerkt etwa Vorderwülbecke (2002: 29), Höflichkeit sei »in den letzten 30 Jahren zu einem Boomthema« geworden.2 Und im Historische[n] Wörterbuch der Rhetorik ist die Rede von einer »weltweit wachsenden Beschäftigung mit dem universellen Phänomen der H[öflichkeit]«, die auf die »Einsicht in die unhintergehbare Rollenhaftigkeit menschlicher Kommunikation und die Unverzichtbarkeit von Respekthaltungen gerade in multikulturellen Gesellschaften« zurückzuführen sei (Beetz 1996: 1486). Der vorliegende Beitrag ist ein Versuch, sich dem Thema wissenschaftsgeschichtlich anzunähern. Untersucht werden soll hier, wie seit dem 18. Jahrhundert in der französischen und deutschen Wörterbuchtradition bei der Beschreibung von (im)politesse bzw. ›(Un)Höflichkeit‹ verfahren worden ist, und zwar vornehmlich in zwei Typen von Wörterbüchern, dem einsprachigen allgemeinen und dem Synonymwörterbuch; ergänzend wurden auch einige 1 2
Vgl. auch Weinrich (1986: 8f.) zur »ausgedehnte[n] und bemerkenswerte[n] Höflichkeitsforschung« im 20. Jahrhundert. Held (2003: 358) verweist auf die »Entwicklung eines theoretischen Paradigmas« in der Höflichkeitsforschung der »moderne[n] performanzorientierte[n] Linguistik« und deren »mittlerweile unüberschaubare Rezeption < quer durch alle Sprachen, Formen und Situationen«. Wie so viele andere moderne Linguisten glaubt auch sie, die »traditionelle Grammatik« kritisieren zu müssen, wobei in diesem Fall allerdings ein grundsätzliches Missverständnis vorliegt: die »Fülle von sprachlichen Erscheinungen«, die mit Höflichkeit zu tun haben, war in der Tat nie Gegenstand der traditionellen Grammatik; in der Tradition der Rhetorik ist diese dagegen eingehend untersucht worden. 185
BARBARA KALTZ
Einträge in Lexika herangezogen. Die überaus vielschichtigen Prozesse der Bedeutungsentwicklung und -verschiebung in den Wortfeldern um politesse – courtoisie – civilité – honnêteté3 – bienséance – affabilité bzw. ›Höflichkeit‹ – ›Artigkeit‹ – ›Wohlanständigkeit‹ – ›Wohlstand‹4 – ›Anstand‹ können hier schon deshalb nur andeutungsweise thematisiert werden, weil lexikographische Werke allein für eine auch nur annähernd vollständige Rekonstruktion dieser Prozesse keine hinlängliche Quellengrundlage sind: eine »Kreuzung der Quellen« ist unerlässlich.5 »Pour découvrir l’origine de la politesse, il faudroit la savoir bien définir, & ce n’est pas une chose aisée.« So beginnt der einschlägige Eintrag in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert. In der Tat zeugen die von mir herangezogenen lexikographischen Werke sämtlich von dieser Schwierigkeit, den Begriff ›Höflichkeit‹ angemessen zu definieren.6 Die einsprachigen allgemeinen Wörterbücher rekurrieren im eigentlichen Definitionsteil durchgängig auf Abstrakta wie manières, usage(s) (Rey
3
4
5
6
Vgl. Höfer u. Reichardt (1986: 51f.) zur »semantische[n] Demokratisierung« von honnêteté nach der Französischen Revolution: »Dem Abbau und Ende der königlichen honnêteté entsprach die zunehmende Inanspruchnahme des honnête homme-Begriffs für den kleinen Mann«. Wie Adelung (1793-1801) s.v. ›Wohlstand‹ erläutert, hatte das Wort im 18. Jh. noch die Bedeutung von Wohlanständigkeit, als »das angenommene Urtheil anderer, von dem, was einer Person und ihren Verhältnissen anständig ist, und die Übereinstimmung der äußern Handlungen mit diesen angenommenen Urtheilen anderer, da es denn nicht bloß von eigentlichen Sitten, sondern auch von allen äußern Handlungen gebraucht wird.« Adelung führt weiter aus: »Ein Geistlicher, welcher tanzet, handelt wider den Wohlstand, wenn es nach den angenommenen Urtheilen der Würde seines Amtes nicht angemessen ist, daß er tanze. […] Es gibt tausend Dinge, welche an sich unschuldig sind, welche aber der Wohlstand verbiethet. Die Beobachtung des Wohlstandes macht die gute Lebensart aus. Da diese Bedeutung mit der folgenden [d.h. der heute noch gebräuchlichen; BK] oft Zweydeutigkeit machen kann, so bedient man sich alsdann lieber des bestimmtern, Wohlanständigkeit.« < Vgl. auch frz. bienséance. Ausführlich hierzu Reichardt (1985: 86ff.). Die Fruchtbarkeit dieses methodischen Ansatzes demonstriert eindringlich Chartiers Studie zu civilité, die »eine stetige Verengung und Verflachung« des Begriffes im Zeitraum 16.-19. Jh. aufzeigt (1986: 49), sowie Höfer und Reichardt (1986) in ihrer Untersuchung zu honnêteté. Dass die Bedeutungserläuterung in manchen einsprachigen Wörterbüchern unter dem Stichwort poli bzw. ›höflich‹ erfolgt und bei den Substantiven jeweils darauf verwiesen wird, kann hier außer Acht bleiben. 186
(UN)HÖFLICHKEIT < (IM)POLITESSE
2005, Bd. 3: 1878). (du monde), formes, règles7 bzw. für das Deutsche ›Sitten‹, ›Gesetze‹, ›Umgangsformen‹, ›Benehmen‹, ›Betragen‹. Adelung (1793-1801) definiert das Adjektiv ›höflich‹ als »geneigt, Fertigkeit besitzend, andern in seinem Betragen gegen sie, Achtung zu erweisen, sein Urtheil von ihren Vorzügen thätig zu beweisen.«8 Auch bedeutungsähnliche Wörter wie bienséance, honnêteté, respect, égard(s); ›Wohlstand‹, ›Wohlanständigkeit‹, ›Lebensart‹, ›Artigkeit‹, ›Respekt‹, ›(Hoch)Achtung‹,9 ›Wohlerzogenheit‹10 gehen in die Definitionen ein, oft miteinander kombiniert; so erscheint als erstes Definitionselement im Grand Dictionnaire universel du XIXe siècle von Pierre Larousse (1874, Bd. 12: 1300, Sp. 3) die honnêteté des manières. Hinzu treten fast immer evaluative Adjektive wie honnête, belles und vor allem bonnes.11 Der Trésor de la langue française [nachstehend TLF] definiert politesse als »respect des bonnes manières, des règles de la bienséance; bonne éducation«, der Dictionnaire de l’Académie française (71878) als »certaine manière de vivre, d’agir, de parler, civile et honnête, acquise par l’usage du monde« (1878, Bd. 2: 455), eine Formulierung, die wörtlich auch im Littré (und noch im Nouveau Littré von 2004!) erscheint.12 Allein der Grand Robert de la langue française (Rey 2001) und der Dictionnaire culturel en langue française (Rey 2005) verzichten auf explizit wertende Definitionselemente; in beiden Wörterbüchern wird die Bedeutung von politesse erläutert als »ensemble des règles, des usages qui régissent le comportement, le langage à adopter dans une civilisation et un groupe social donnés« (Rey 2001, Bd. 5: 903; Rey 2005, Bd. 3: 1878).13 7 8
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13
Ähnlich Le Fur (2005: 884): »Politesse renvoie à l’ensemble des règles qui permettent de vivre sans heurts dans un groupe déterminé«. Eine interessante Parallele zu Weinrichs Definition (1986: 24): »Höflichkeit ist ein sprachliches oder nichtsprachliches Verhalten, das zum normalen Umgang der Menschen miteinander gehört und den Zweck hat, die Vorzüge eines anderen Menschen indirekt zur Erscheinung zu bringen oder ihn zu schonen, wenn er vielleicht nicht vorzüglich sein will.« Vgl. Adelung (1793-1801) s.v. ›Höflichkeit‹: »die thätige Erweisung seiner Hochachtung«. So in Klappenbach u. Steinitz (1969, Bd. 3) als Definiens von ›Höflichkeit‹. Das gilt ebenso für die Synonymwörterbücher: »bonnes manières«, »belles manières« (Girard 1823, Eintrag impoli). Ebenso fast wörtlich im Petit Larousse Illustré; vgl. etwa die Ausgabe von 1926: »manière d’agir ou de parler civile et honnête. L’action même qui offre ce caractère.« Vgl. auch die Formulierung im Petit Robert (1988: 1475): »ensemble de règles qui régissent le comportement, le langage considérés comme les meilleurs dans une société«. 187
BARBARA KALTZ
In der deutschen Tradition erscheinen in diesem Zusammenhang vor allem die Adjektive gut, artig, gesittet, vernünftig, liebenswürdig: »gute Lebensart« (Adelung 1793-1801 s.v. ›Wohlstand‹), »gesittete Wohlanständigkeit,«14 »vernünftige Erwartungen« (Eberhard 1799: 141).15 Ganz ähnlich wird noch in neueren Wörterbüchern verfahren; so wird Höflichkeit als »höfliches, gesittetes Benehmen« (Drosdowski 1994, Bd. 4: 1623) bzw. als »liebenswürdiges Benehmen« definiert (Klappenbach/ Steinitz 1969, Bd. 3: 1882). Für die Bedeutungserläuterung berufen besonders französische Lexikographen sich gern auf bekannte Schriftsteller, wobei entweder wörtlich zitiert oder reformuliert wird. So wird etwa in der Encyclopédie und im Littré (Bd. 5, 1996: 4823) Bezug genommen auf La Bruyères Caractères: »C’est, dit la Bruyere, une certaine attention à faire, que par nos paroles & nos manières les autres soient contens de nous« (Diderot/ d’Alembert 1969, Bd. 3: 497).16 Civilité, politesse, affabilité werden in diesem Eintrag als synonym bezeichnet, doch wird darin auch auf Bedeutungsunterschiede hingewiesen, indem eine »réflexion de l’auteur de l’esprit des lois« (ebd.), d. h. Montesquieu zitiert wird: »Les regles de la civilité valent bien mieux que celles de la politesse. Celle-ci flate les vices des autres, & la civilité nous empêche de mettre les nôtres au jour: c’est une barriere que les hommes mettent entr’eux pour s’empêcher de se corrompre« (ebd.). Die Wörterbücher, die sich an dem von Girard begründeten Prinzip der so genannten distinktiven Synonymie orientieren, nehmen zuweilen recht subtile Differenzierungen vor. So versucht etwa Eberhard (1799: 139f.), ›Höflichkeit‹ von ›Lebensart‹, ›Welt‹ und ›Sittenanmuth‹ abzugrenzen:
14 Diese Formulierung verwendet Adelung (1793-1801) in seiner Bedeutungserläuterung von ›unhöflich‹: »abgeneigt, andern in seinem Betragen gegen sie diejenige Ehrerbiethigkeit zu erweisen, welche die gesittete Wohlanständigkeit erfordert […]«. 15 Vgl. Eberhard (1799: 141): »Um ächte Höflichkeit zu lernen, muß man auf die vernünftigen Erwartungen andrer in äußerer Behandlung merken.« 16 Auch zitiert in Held (2003: 358). < Ähnlich verfährt Beauzée in dem von ihm bearbeiteten Eintrag civilité, politesse in Girard (1823: 205): »Manières honnêtes d’agir et de converser avec les autres hommes dans la société. C’est, dit M. Duclos [d. h. der Grammatiker und Moralist Charles Duclos, Verfasser u. a. der Considérations sur les mœurs (1751), auf die Beauzée sich hier wohl bezieht, und der Remarques à la Grammaire de Port-Royal (1754); BK], l’expression ou l’imitation des vertus sociales: c’en est l’expression, si elle est vraie, et l’imitation, si elle est fausse.« 188
(UN)HÖFLICHKEIT < (IM)POLITESSE
»Höflichkeit. Lebensart. Welt. Sittenanmuth. I. Das äußere Betragen, wodurch man sich andern im höhern Grade angenehm macht. II. Wer andern so viele Proben von Aufmerksamkeit und Achtung giebt, als sie nach ihren Verhältnissen und den eingeführten Sitten verlangen können, dem schreiben wir Höflichkeit zu. Wer durch die Art seines Betragens gefällt oder einnimmt, der hat Lebensart, in der weitern Bedeutung; in der engern, wer den eingeführten Wohlstand beobachtet. < Wessen Betragen mit dem Sittengebrauch, zumal mit den Forderungen der höhern und feinern Gesellschaft übereinstimmt, der hat Welt. Wessen Umgang für jeden Mann von Geschmack und Bildung süße Reize und Lieblichkeit hat, an dem preisen wir mehr, als Urbanität < Sittenanmuth. […] Ein Bauer, der jedem die gebührende Ehre erweist, ist höflich. Ein Landmädchen, das sich, trotz aller Unerfahrenheit in Stadtgebräuchen, artig, geziemend, kurz zu unserm Wohlgefallen beträgt; ein Türk, der in Deutschland nach morgenländischer Weise lebt, aber die Pflichten des allgemeinen Wohlstandes mit angenehmer Leichtigkeit ausübt, beyde haben Lebensart. Legen sie ihre eigenthümlichen Sitten ab, bilden sie sich nach den feinsten Gesellschaften, erwerben sie sich eine glänzende Geschliffenheit, dann sagt man: sie haben Welt.«
In den einsprachigen allgemeinen Wörterbüchern werden die lexikalischen Relationen durch Auflistung von (vermeintlichen) Synonymen bzw. bedeutungsähnlichen Wörtern und Antonymen im Verweisteil illustriert. Was hier auffällt, ist wiederum die Kontinuität der Angaben: civilité, politesse, affabilité gelten nicht nur in der Encyclopédie als Synonyme, sondern auch im Larousse von 1874. Auf eben diese Wörter wird (neben anderen) noch im Grand Robert (Rey 2001) und im Dictionnaire culturel verwiesen (Rey 2005, Bd. 3: 1878). Verschiedentlich wird auch die Etymologie bei der Bedeutungserläuterung herangezogen. So beginnt der Eintrag in Zedlers Enzyklopädie (1969 ff.) mit dem Hinweis, das Wort ›Höflichkeit‹ habe »ohne Zweifel von Hofe, Hof=Leben seine Benennung.«17 Aus den sich daran anschließenden Bemerkungen erhellt der strategische Aspekt von Höflichkeit, auf den ich später noch zurückkommen werde: »Grosser Herren Höfe sind ein Schau=Platz, wo ieder sein Glück machen will. Dieses lässet sich nicht anders thun, als wenn man des Fürstens und derer Vornehmsten am Hofe Zuneigung gewinnet. Man giebt sich also alle ersinnliche
17 Ähnlich Eberhard (1799: 139): »Es ist daher auch natürlich, daß der Hof und die Hauptstadt, wo die zahlreichsten gebildeten Gesellschaften am öftersten beysammen sind, die Gesetzgeber der Regeln der Höflichkeit sind. Und darauf führt das Wort Höflichkeit schon durch seine Abstammung.« 189
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Mühe, denenselben sich beliebt zu machen. Hierinnen vermag nichts mehr, als wenn man den andern glaubend machet, daß wir bey aller Gelegenheit nach äussersten Kräfften ihm zu dienen bereyt sein. Gleichwohl sind wir dazu nicht allezeit vermögend, wollen auch wohl nicht, und dieses vielmahls aus gerechten Ursachen. Dieses alles ersetzet die Höflichkeit.« (Bd. 13: 353).
In der Encyclopédie wird auf die ursprünglich konkrete Bedeutung des Adjektivs poli verwiesen:18 »Polir un ouvrage dans le langage des artisans, c’est en ôter ce qu’il y a de rude & d’ingrat, y mettre le lustre & la douceur dont la matiere qui le compose se trouve susceptible, en un mot le finir & le perfectionner. Si l’on donne à cette expression un sens spirituel, on trouve de même que ce qu’elle renferme est bon & louable. Un discours, un sens poli, des manieres & des conversations polies, cela ne signifie-t-il pas que ces choses sont exemptes de l’enflure, de la rudesse, & des autres défauts contraires au bon sens & à la société civile […]?« (Diderot/d’Alembert 1969, s.v. politesse)
Schließlich ist noch kurz auf die Funktion der Zitate in den so genannten Belegwörterbüchern einzugehen. Diese praktizieren de facto eine »Kreuzung der Quellen«, indem sie u. a. auf literarische Texte zurückgreifen. Ich nenne hier nur jeweils ein Beispiel aus der französischen und deutschen Tradition. Die Formulierung »respect des règles de la bienséance« in der bereits zitierten Definition des TLF ist wörtlich aus La Rochefoucaulds Maximen (in der Ausgabe von 1678) übernommen; am Ende des Eintrags ist sie nochmals als wortgeschichtlicher Beleg angeführt.19 Und das schöne Lessing-Zitat < »Die schlaue Höflichkeit gibt allen alles um von allen wiederum alles zu erhalten«