Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule: Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz [1. Aufl.] 9783839419250

Spätestens im Zuge der Internationalisierung der Hochschule ist interkulturelle Handlungskompetenz auch dort zu einer Sc

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German Pages 262 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium: das MUMIS-Projekt
Zur Erforschung und Entwicklung studiumsbezogener interkultureller Kompetenzen
Critical Incidents als Forschungsinstrument und als Trainingsgrundlage
Verfahren der Erhebung, Evaluation und Didaktisierung von Critical Incidents
Zur Arbeit mit Critical Incidents im Rahmen von interkulturellen Trainings an Hochschulen
Kurskonzepte zur interkulturellen Kommunikation in der Hochschule
Arbeitsmaterialien zum interkulturellen Training mit Critical Incidents
Bibliografie zur interkulturellen Kommunikation in der Hochschule
Autorinnen
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Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule: Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz [1. Aufl.]
 9783839419250

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Adelheid Schumann (Hg.) Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule

Kultur und soziale Praxis

Adelheid Schumann (Hg.)

Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: jomi / photocase.com Lektorat: Adelheid Schumann Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1925-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium: das MUMIS-Projekt Annelie Knapp | 11

Zur Erforschung und Entwicklung studiumsbezogener interkultureller Kompetenzen Adelheid Schumann | 27

Critical Incidents als Forschungsinstrument und als Trainingsgrundlage Adelheid Schumann | 55

Verfahren der Erhebung, Evaluation und Didaktisierung von Critical Incidents Eva-Maria Hennig | 81

Zur Arbeit mit Critical Incidents im Rahmen von interkulturellen Trainings an Hochschulen Katharina Moll | 107

Kurskonzepte zur interkulturellen Kommunikation in der Hochschule Sonja Schöning | 139

Arbeitsmaterialien zum interkulturellen Training mit Critical Incidents Adelheid Schumann | 173

Bibliografie zur interkulturellen Kommunikation in der Hochschule | 241 Autorinnen | 257

Vorwort

Die in diesem Band versammelten Aufsätze und Arbeitsmaterialien sind im Rahmen des Forschungsprojektes MUMIS: »Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium« entstanden. Dieses Projekt, das von der VolkswagenStiftung gefördert und an den Universitäten Siegen, Hamburg und Kassel durchgeführt wurde, versteht sich als Beitrag zur Erforschung der durch Internationalisierung sich verändernden Kommunikationsstrukturen an deutschen Hochschulen und hat Konzepte und Maßnahmen zur Bewältigung der damit verbundenen sprachlichen und interkulturellen Probleme entwickelt. Während die Teilprojekte A und B den sprachlichen Aspekten der Internationalisierung des Studiums gewidmet sind, befasst sich Teilprojekt C mit Fragen der interkulturellen Kommunikation und der Förderung interkultureller Kompetenz an Hochschulen. Über die Forschungsergebnisse dieses interkulturellen Projektes (MUMIS/ Teilprojekt C) soll im vorliegenden Band berichtet werden. Zwei zentrale Fragenkomplexe zur interkulturellen Kommunikation im Studium bildeten den Ausganspunkt: 1. Was ist unter studiumsbezogenen interkulturellen Kompetenzen zu verstehen und mit welchen interkulturellen Problemen sehen sich internationale Studierende1 an deutschen Hochschulen konfrontiert? 2. Wie lassen sich interkulturelle Kompetenzen im Studium fördern und internationale Studierende in die Akademische Kultur integrieren? Das Projekt verfolgte also einerseits ein analytisches Ziel, nämlich interkulturelle Missverständnisse in der universitären Kommunikation empirisch zu er1 | Um männliche und weibliche Personen mit einem Begriff benennen zu können, werden, wenn möglich, geschlechtsneutrale Bezeichnungen verwendet. Wenn das nicht möglich ist, wird die männliche Form genommen. Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch dann, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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fassen und zu beschreiben, und andererseits ein programmatisches Ziel, d.h. Trainingsmethoden und -materialien, die interkulturelle Missverständnisse zu verhindern oder zu lösen helfen, zu entwickeln und für Trainingszwecke im Rahmen akademischer Lehre bereit zu stellen. In den verschiedenen Beiträgen des vorliegenden Bandes sollen die im Projekt bearbeiteten theoretischen und praktischen Aspekte der interkulturellen Kommunikation an Hochschulen präsentiert und zur Diskussion gestellt werden. Zunächst bietet Annelie Knapp als Gesamtleiterin des MUMIS-Projektes und Leiterin des Teilprojektes B1 (mit Schwerpunkt Englisch) einen Überblick über das Projekt, seine Entstehung und Entwicklung: »Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium: das MUMIS-Projekt«. Dabei werden auch die einzelnen Teilprojekte mit ihren verschiedenen Zielsetzungen und Schwerpunkten kurz vorgestellt und Fragen der Internationalisierung der deutschen Hochschule angesprochen. Der erste Beitrag von Adelheid Schumann2 ist der Frage nach der Notwendigkeit interkultureller Kompetenzen in der Hochschule gewidmet: »Zur Erforschung und Entwicklung studiumsbezogener interkultureller Kompetenzen«. Ziel dieses Beitrags ist es, die dem Projekt zugrunde liegenden Begriffe und Konzepte zu klären und Aspekte der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zur interkulturellen Kompetenz, die für die Konzeptentwicklung des Projektes von Bedeutung waren, zu präsentieren. Dabei wird auch auf die Besonderheiten Akademischer Kulturen und auf interkulturelle Differenzen von Lehr- und Lernstilen, Wissenschaftsstilen und Verhaltensnormen in der Hochschule eingegangen. Der nächste Beitrag, »Critical Incidents als Forschungsinstrument und als Trainingsgrundlage« von Adelheid Schumann,3 dient der theoretischen Grundlegung der im Projekt verwendeten Methode und der Doppelfunktion von Critical Incidents als einem empirischen Forschungsinstrument und als Trainingsgrundlage. Zunächst werden die Projektergebnisse in Form einer Typologie interkultureller Missverständnisse in der Hochschule vorgestellt und danach die konzeptionellen Überlegungen zur Umsetzung der Forschungsergebnisse in didaktische Trainingsmodelle präsentiert. Wie bei der Erhebung und didaktischen Umsetzung von Critical Incidents im Projekt konkret vorgegangen wurde, beschreibt Eva-Maria Hennig in ihrem Beitrag »Verfahren der Erhebung, Evaluation und Didaktisierung von Critical Incidents«. Die einzelnen Erhebungsmethoden werden anhand von Beispielen erklärt und die Entwicklung des Trainingskonzeptes wird vor dem Hintergrund 2 | Dieser Beitrag wird in den Querverweisen innerhalb des Bandes als Schumann (1) bezeichnet. 3 | Dieser Beitrag wird in den Querverweisen innerhalb des Bandes als Schumann (2) bezeichnet.

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aktueller Diskussionen zur Förderung interkultureller Kompetenzen dargelegt. Schließlich wird offengelegt, wie die Critical Incidents in einem mehrstufigen Verfahren evaluiert und kategorisiert wurden. Katharina Moll setzt in ihrem Beitrag »Zur Arbeit mit Critical Incidents im Rahmen von interkulturellen Trainings an Hochschulen« die Fokussierung auf konkrete Umsetzungsprobleme fort und widmet sich ganz den didaktischen Fragestellungen des Projektes. Dabei geht sie insbesondere darauf ein, wie man mit der online publizierten Datenbank der Critical Incidents (www.mumis-projekt.de/ci) arbeiten kann und welche verschiedenen Übungsmöglichkeiten sich dabei ergeben. Sie entwickelt eine Übungstypologie mit acht verschiedenen Modellen zur Arbeit mit Critical Incidents und gibt Beispiele für deren konkrete Verwendung in hochschuldidaktischen Trainingsprogrammen. Der Beitrag von Sonja Schöning »Kurskonzepte zur interkulturellen Kommunikation in der Hochschule« ist schließlich der Arbeit mit den Projektergebnissen und insbesondere mit Critical Incidents im Rahmen akademischer Lehre gewidmet. Die Autorin präsentiert ein vollständiges Kurskonzept mit theoretischen und praktischen Bausteinen und geht explizit darauf ein, welchen Beitrag die Arbeit mit Critical Incidents zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen in der Hochschule leisten kann. Im Anschluss an die in den verschiedenen Beiträgen präsentierten theoretischen, konzeptionellen und didaktischen Überlegungen, wobei inhaltliche Überschneidungen nicht ganz zu vermeiden waren, weil alle Beiträge sich auf das gleiche Projekt beziehen und jeder einzelne Beitrag dennoch für sich allein stehen und gesondert lesbar sein soll, wird schließlich ein komplettes Modell präsentiert: »Arbeitsmaterialien zum interkulturellen Training mit Critical Incidents«. Für die acht verschiedenen Trainingsphasen werden Trainingsanleitungen, Übungsmaterialien sowie Zusatzinformationen für den Trainingsleiter bereitgestellt. Den letzten Teil des Bandes bildet eine »Bibliografie zur interkulturellen Kommunikation in der Hochschule«. Sie bietet keine Zusammenfassung der in den einzelnen Beiträgen verwendeten Literatur (diese ist jeweils am Ende jedes Artikels abgedruckt), sondern einen Überblick über Titel, die zu den spezifischen Kommunikationsbedingungen und Kommunikationsproblemen der internationalisierten deutschen Hochschule bislang, d.h. bis Ende 2011 mit Ausblick auf einige Werke, die für Anfang 2012 angekündigt sind, erschienen sind. Die Bibliografie hat ihren Fokus auf dem wissenschaftlichen Diskurs im deutschsprachigen akademischen Raum, bezieht aber auch einige grundlegene Werke aus dem anglo-amerikanischen und dem frankophonen Diskurs mit ein. Mein Dank gilt in erster Linie meiner Kollegin Annelie Knapp für die von mir immer als intensiv und überaus fruchtbar empfundene gute Zusammenarbeit und den drei Mitarbeiterinnen im Projekt, Eva-Maria Hennig, Katharina Moll und Sonja Schöning, für ihren engagierten und unermüdlichen Arbeits-

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einsatz. Danken möchte ich außerdem der VolkswagenStiftung, die mit ihrer finanziellen Unterstützung die Durchführung des Projektes überhaupt erst ermöglicht hat, und der Universität Siegen, die ebenfalls einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Finanzierung des Projektes geleistet hat. Siegen/Bielefeld, Jan. 2012 Adelheid Schumann

Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium: das MUMIS-Projekt Annelie Knapp

1. D IE I NTERNATIONALISIERUNG DER H OCHSCHULEN : C HANCEN UND H ER AUSFORDERUNGEN FÜR S TUDIERENDE UND L EHRENDE Noch nie hatten junge Menschen so gute Möglichkeiten wie heute, ihr Studium oder zumindest Teile davon im Ausland zu verbringen, und noch nie wurden diese Möglichkeiten so gut wahrgenommen wie heute. Spezielle Stipendienprogramme, grenzüberschreitende bi- und multilaterale Kooperationsprogramme, Hochschulpartnerschaften und internationale Studiengänge fördern die internationale Mobilität von Studierenden (und auch von Lehrenden) und machen Hochschulen zunehmend zu Orten kultureller und sprachlicher Vielfalt. So haben beispielsweise im Hochschuljahr 2009/2010 mehr als 24.000 Studierende aus Deutschland mit dem ERASMUS-Programm der Europäischen Union in 30 anderen europäischen Ländern einen Teil ihres Studiums absolviert (vgl. DAAD 2011a). Ein Viertel aller deutschen Studierenden konnte in den Jahren 2009 bis 2011 einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt vorweisen (vgl. Heublein et al. 2011). Deutsche Hochschulen bieten für das Jahr 2012 insgesamt 103 internationale (überwiegend in englischer Sprache durchgeführte) Bachelor-, Masteroder Promotionsprogramme an (vgl. DAAD 2011b). Die Internationalisierung des Studiums stellt zweifellos eine Bereicherung für alle Beteiligten dar: Studierende haben im Rahmen eines Auslandsstudiums die Chance, neue Perspektiven auf ihr Fach kennenzulernen, inhaltliche Schwerpunkte zu setzen, die an Hochschulen ihres Heimatlands weniger stark repräsentiert sind und – eine nicht zu vernachlässigende Komponente – zu lernen, sich über fachliche Inhalte in einer Fremdsprache zu verständigen. Über diese fachbezogenen Chancen hinaus kann ein Studium im Ausland positiv zur Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen beitragen und ihnen die Möglichkeit bieten, Kontakte zu Menschen in anderen Ländern zu knüpfen, die potenziell auch für das spätere Berufsleben relevant sind. Aber auch Lehrende

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und Studierende im Heimatland können von der gemeinsamen Arbeit mit ausländischen Studierenden profitieren, z.B. indem – je nach Fach in unterschiedlichem Ausmaß – bisher als selbstverständlich angesehene Sichtweisen auf Probleme relativiert werden und Beispiele aus anderen kulturellen Kontexten in Diskussionen eingebracht werden. Diese positiven Effekte eines Auslandsstudiums lassen sich jedoch nicht ohne ein gewisses Maß an Anstrengung so realisieren, dass fachliche und persönliche Ziele der Beteiligten zufrieden stellend erreicht werden. Studieren in einem fremden Land und in einer fremden Sprache: das ist durchaus eine größere Herausforderung als ein Urlaubsaufenthalt im Ausland. Dies betrifft zunächst einmal die hohen sprachlichen Anforderungen an fachbezogene Kommunikation: Komplexe Sachverhalte müssen in einer fremden Sprache verstanden und ausgedrückt werden, wobei präzise und differenzierte Formulierungen erforderlich sind und kulturspezifische Anforderungen an hochschultypische Kommunikationssituationen und Textsorten beachtet werden müssen. Hinzu kommt für die internationalen Studierenden die Notwendigkeit, in einem fremden kulturellen Umfeld – und hier speziell in einer von der jeweiligen Kultur geprägten Organisation, der Universität – zielorientiert und erfolgreich zu agieren, wobei auch hier sprachlich-kommunikative Aspekte einen großen Stellenwert haben. Auch für Lehrende und ebenso in gewissem Grad für Studierende des Gastlandes bedeutet die Anwesenheit internationaler Studierender nicht nur eine interessante Bereicherung, sondern auch die Notwendigkeit, Strategien der Verständigung und der Zusammenarbeit über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg zu entwickeln und umzusetzen. Speziell für Lehrende ist die Arbeit mit ausländischen Studierenden in der Regel mit einem deutlich größeren Beratungs- und Betreuungsaufwand verbunden. Vor diesem Hintergrund wird schnell deutlich, dass organisatorische und finanzielle Unterstützung für ein Studium im Ausland zwar notwendig ist, allein aber nicht ausreicht. Vielmehr müssen zusätzlich sprach- und kulturbedingte Probleme gelöst werden. Der DAAD hat 2004-2008 mit seinem PROFIS-Programm (Programm zur Förderung der Internationalisierung an den deutschen Hochschulen), das darauf abzielte, bessere Rahmenbedingungen für ausländische Studierende an deutschen Hochschulen und das Auslandsstudium deutscher Studierender zu schaffen, und in der Folge (ab 2009) mit dem PROFIN-Programm (Programm zur Förderung der Integration ausländischer Studierender), das sich auf die verbesserte Integration ausländischer Studierender als einem wichtigen Faktor für den Studienerfolg konzentrierte, auf diese Situation reagiert. Neben der zunehmenden sprachlichen und kulturellen Heterogenität der Studierendenschaft hat die Internationalisierung des Studiums aber noch einen weiteren Aspekt: Mit der fortschreitenden Internationalisierung der Wissen-

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schaft und der damit einhergehenden Dominanz des Englischen als Wissenschaftssprache wird es auch ohne konkreten Bezug zu einem Studium im Ausland für Studierende immer wichtiger, ja unumgänglich, Studieninhalte nicht (nur) in ihrer Muttersprache, sondern (auch) in englischer Sprache zu rezipieren.1 Antizipierte fremdsprachliche Anforderungen der zukünftigen Berufstätigkeit sowie die Perspektive, sich nach Abschluss des Studiums eventuell auch auf dem internationalen Arbeitsmarkt zu positionieren, bieten weitere Anreize dafür, sich mit den Inhalten des Studiums in englischer Sprache auseinanderzusetzen, und damit auch für die Teilnahme an englischsprachiger Lehre. Trotz der vom DAAD initiierten Maßnahmen zur Unterstützung des Internationalisierungsprozesses an deutschen Hochschulen sind jedoch einige grundlegende Fragen, die das Studieren in einer fremden Sprache und in einem fremden kulturellen Umfeld betreffen, noch nicht hinreichend beantwortet: Wie beeinflusst das Studieren in einer Fremdsprache den fachlichen Lernerfolg? Lässt sich in Lehrveranstaltungen, in denen die Beteiligten in einer Fremdsprache kommunizieren, dasselbe fachliche Niveau halten wie bei Lehrveranstaltungen, die in der Muttersprache der Beteiligten durchgeführt werden? Wie beeinflussen kulturell divergente Vorstellungen von Lehren und Lernen und – damit verknüpft – unterschiedliche Erwartungen an die Rollen von Lehrenden und Lernenden die Interaktion in Lehrveranstaltungen? Welche sprachlich und/oder kulturell bedingten Missverständnisse zwischen ausländischen Studierenden einerseits und einheimischen Studierenden und Lehrenden andererseits beeinflussen das Studium und den Lernerfolg ausländischer Studierender?

2. D AS P ROJEK T »M EHRSPR ACHIGKEIT UND M ULTIKULTUR ALITÄT IM S TUDIUM « (MUMIS 1): V OR ARBEITEN UND A NFÄNGE Vor diesem Hintergrund entstand im Jahr 2005 das erste MUMIS-Projekt (im Folgenden »MUMIS 1«), das von Adelheid Schumann und mir geleitet wurde und an dem als externe Kooperationspartnerin auch Juliane House von der Universität Hamburg partizipierte. Das Projekt wurde im Jahr 2005 durch das Land Nordrhein-Westfalen im Rahmen der Förderinitiative »Geisteswissenschaften gestalten Zukunftsperspektiven« finanziert. Es war nicht der Anspruch dieses Projekts, alle oben gestellten Fragen umfassend zu beantworten. Das Ziel des Projektes war vielmehr, präzisere Informationen über Art und Ausmaß der kommunikativen Schwierigkeiten zu erhalten, die Studierende und Lehrende an Hochschulen im Zusammenhang mit der Internationalisierung des Stu1 | Die Dominanz des Englischen als Wissenschaftssprache wird durchaus intensiv kritisch diskutiert. Vgl. z.B. Ammon 2000, Ehlich 2000 und Thielmann 2009.

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diums erfahren. Insbesondere sollten exemplarische empirische Daten erhoben werden, die Antworten auf die Frage geben, wie die durch Internationalisierung des Studiums entstehenden Konstellationen von Mehrsprachigkeit und Multikulturalität an deutschen Hochschulen sich auf die Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden in Lehrveranstaltungen und anderen studiumsbezogenen Kommunikationssituationen auswirken und welche Konsequenzen sich dadurch für das Lehren und Lernen an Hochschulen ergeben. Von Anfang an war dabei der Gedanke im Blick, dass das Projekt zu empirisch fundierten Erkenntnissen führen sollte, die als Grundlagen für passgenaue Unterstützungsmaßnahmen im Internationalisierungsprozess der Hochschulen dienen können. Das Projekt hatte damit einen deutlichen Anwendungsbezug. In seiner fächerübergreifenden Ausrichtung mit der Perspektive auf Lernen und Lehren in natur-, ingenieur-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Studiengängen exemplifiziert es zudem die Bedeutung der Geisteswissenschaften für die Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme. Das Projekt MUMIS 1 bestand aus den folgenden drei Teilprojekten: •

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Teilprojekt 1: Verstehen und Verständigung in universitären Lehrveranstaltungen unter Mehrsprachigkeits- und Multikulturalitätsbedingungen (Knapp) Teilprojekt 2: Differente Lern- und Kommunikationsstile als Grunderfahrung des Auslandsstudiums (Schumann) Teilprojekt 3: Universitäre Sprechstunden als interkulturelle Kommunikationssituationen (House)

Gegenstand von Teilprojekt 1 war die Kommunikation in durch Mehrsprachigkeit und Multikulturalität geprägten universitären Lehrveranstaltungen. Aufgrund der Präferenz für die Wahl des Englischen als Lingua Franca in akademischen Kontexten ging es dabei konkret um Lehrveranstaltungen, die – weil eine gemeinsame Sprache zur Verständigung zwischen Sprechern unterschiedlicher Muttersprachen erforderlich war und/oder weil auf fachbezogene fremdsprachliche Kommunikationssituationen vorbereitet werden sollte – in englischer Sprache durchgeführt wurden. Auf der Basis von Befragungsdaten (Fragebögen) sowie Audioaufnahmen von Lehrveranstaltungen unterschiedlicher Fächer kristallisierten sich eine Reihe von Problembereichen heraus, von denen hier nur die wichtigsten kurz genannt werden sollen: Gut die Hälfte der befragten Studierenden sieht sich nicht gut oder sehr gut auf englischsprachige Lehre vorbereitet. Diese Studierenden erfahren sprachlich bedingte Verstehens- und Verständigungsprobleme in englischsprachigen Lehrveranstaltungen, wobei diese Probleme in der jeweiligen Lehrveranstaltung nur zum Teil thematisiert werden, häufig aber unbearbeitet bleiben. Hohe Ansprüche der Studierenden an sprachliche Korrektheit ihrer Äußerungen

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verringern die Bereitschaft zu aktiver Partizipation in Lehrveranstaltungen. Bei den deutschen Studierenden ist eine deutliche Tendenz zur Vermeidung englischsprachiger Lehrveranstaltungen zu erkennen. Als Gründe werden vor allem (antizipierte) Verständnisprobleme, höherer Zeitaufwand, Angst vor negativen Auswirkungen auf die Note sowie vor negativen Auswirkungen auf Umfang und Qualität des vermittelten Fachwissens genannt. Gleichwohl steht die überwiegende Zahl der befragten deutschen Studierenden – trotz erkannter Schwierigkeiten – englischsprachigen Lehrveranstaltungen grundsätzlich positiv gegenüber (vgl. Knapp/Münch 2008). Lehrende verfügen in der Regel über ausgezeichnete fachspezifische Englischkenntnisse, tun sich bei englischsprachiger Lehre jedoch häufig schwer in Diskursphasen, die der Bedeutungsaushandlung, der praktischen Anwendung des Transfers von Wissen, der Organisation der Lehr-Lernprozesse und dem Konfliktmanagement dienen. Im Kontext des vorliegenden Bandes besonders interessant sind hier die Hinweise, welche die erhobenen Daten auf die enge Verquickung sprachlicher und kultureller Aspekte der Lehrveranstaltungskommunikation geben: Exemplarisch konnte gezeigt werden, dass kulturspezifisch unterschiedliche Erwartungen an das Verhalten von Lehrenden und Lernenden in der Universität ein erhebliches Missverständnis- und Konfliktpotenzial bilden können (vgl. Knapp 2009, 2011a). Andererseits wird deutlich, dass der Rückgriff auf das in einer international zusammengesetzten Studierendengruppe vielfältige kulturelle und sprachliche Wissen eine Basis für die Aushandlung von Bedeutung bilden und zum Verstehen wissenschaftlicher Konzepte beitragen kann (vgl. Knapp 2011b). Teilprojekt 2 hatte das Ziel, interkulturelle Problemfelder im Auslandsstudium, insbesondere im Bereich der Lern- und Kommunikationsstile sowie der Rollen- und Leistungserwartungen, aus studentischer Sicht zu beschreiben und die Folgen interkultureller Missverständnisse für die Motivationsentwicklung, subjektive Zufriedenheit und den Studienerfolg der Studierenden zu erkunden. Es wurden Befragungsdaten per Fragebogen und – für ausgewählte Fallgruppen – zusätzlich durch leitfadengestützte Interviews erhoben. Auch hier sollen nur kurz die relevantesten Ergebnisse skizziert werden: Studiumsspezifische Arbeits- und Kommunikationsformen, die eine aktive mündliche Beteiligung erfordern, wie Referate und Diskussionen, werden von ausländischen Studierenden als besonders schwierig angesehen. Hier scheint vorrangig die kulturell bedingte Ungewohntheit der betreffenden Arbeits- bzw. Kommunikationsformen im deutschen universitären Kontext eine Rolle zu spielen. Die Mehrzahl der ausländischen Studierenden empfindet außerdem die Kommunikation mit deutschen Studierenden generell als schwierig, wobei vor allem der Mangel an Kontaktmöglichkeiten hervorgehoben wird. Die deutschen Kommilitonen und Kommilitoninnen werden als freundlich und höflich, dabei aber kühl und distanziert, zuweilen auch regelrecht abweisend gegenüber

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Fremden wahrgenommen. Zu den Kommunikationsschwierigkeiten mit den Dozenten trägt bei, dass die Dozenten aus Sicht der Studierenden nicht ausreichend auf die spezifischen Lernprobleme von ausländischen Studierenden eingehen. Die überwiegende Zahl der befragten ausländischen Studierenden wünscht sich eine intensivere Studienberatung, wobei insbesondere ein Interesse an einer besseren Einführung in die Leistungsstandards an deutschen Universitäten besteht. Ein interkulturelles Problembewusstsein in Bezug auf zentrale deutsche Kulturstandards und Kommunikationsstile, die Probleme verursachen könnten, scheint bei den ausländischen Studierenden allerdings nicht sehr ausgeprägt zu sein. In Teilprojekt 3 wurden universitäre Sprechstunden für internationale Studierende auf ihre Charakteristika und auf eventuelle Kommunikationsstörungen hin untersucht. Auch hier war das Ziel, empirisch begründete Vorschläge zur Verbesserung der interkulturellen Verständigung in diesem Bereich zu machen. Die Datengrundlage in diesem Teilprojekt besteht aus Audioaufnahmen von Sprechstunden mit ausländischen Studierenden in technischen Fächern. Die Analyse der Daten machte deutlich, dass die Anwendung des Englischen als Lingua Franca – unabhängig vom beherrschten Niveau dieser Sprache – in der mündlichen Kommunikationssituation »Sprechstunde« in der Regel nicht problematisch ist. Bei der Besprechung von schriftlichen Arbeiten zeigt sich allerdings, dass der Argumentationsstil und das schwache Niveau der Texte der Studierenden dem Anspruch der Professoren an wissenschaftliche Arbeiten häufig nicht genügen. Es wird in den Gesprächen offensichtlich, welche Probleme es bereitet, in Englisch als Lingua Franca die eigenen wissenschaftlichen Ansprüche einzulösen. Viele Sprechstundengespräche haben den Charakter von Orientierungsgesprächen. Hier zeigen sich ausländische Studierende im Vergleich zu deutschen Studierenden eher unsicher und passiv. Die deutschen Lehrenden ändern dadurch ihr Verhalten, so dass eine gewisse »Verschulung« in den Interaktionen zwischen Lehrenden und Studierenden zu beobachten ist. Die Sprechstunde verfehlt dadurch ihr Ziel, Gelegenheit zur detaillierten Diskussion individueller Studienerwartungen, -inhalte und -pläne zu bieten. Zur Gewöhnung ausländischer Studierender an den deutschen Lehr-Lern-Diskurs greifen Lehrende auf unterschiedliche Strategien zurück: schriftliche Arbeiten werden Kapitel für Kapitel abgegeben und korrigiert, Probleme bei Projekten werden in vielen kleinen Terminen abgesprochen, oder die Lehrenden führen manche Schritte exemplarisch vor.

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3. D AS VW-P ROJEK T MUMIS 2 3.1 Ziele, Struktur und Beteiligte Auch wenn das erste MUMIS-Projekt nur exemplarisch Einblicke in Probleme von Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium geben konnte, erschienen die Projektergebnisse uns doch aussagekräftig genug, um Ideen für konkrete Unterstützungsmaßnahmen für Studierende und Lehrende an Hochschulen zu entwickeln. Bestätigt wurden wir durch inzwischen vorliegende empirische Studien aus andern europäischen Ländern,2 die ähnlich geartete Problemlagen erkennen lassen. Die Ergebnisse des ersten MUMIS-Projekts bildeten damit den Ausgangspunkt für das zweite MUMIS-Projekt, das durch die VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderinitiative »Hochschule der Zukunft« zunächst von 2008 bis 2010 und in einer weiteren Förderphase für die Teilprojekte A und B bis 2012 finanziert wurde. Dieses zweite MUMIS-Projekt verfolgt nun eine andere Zielsetzung, nämlich die Entwicklung und Erprobung konkreter Maßnahmen zur Bewältigung der mit Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium verbundenen sprach- und kulturbedingten Probleme. Die entwickelten Maßnahmen sollen dabei auf andere Hochschulen übertragbar sein.3 Im Vergleich zum ersten MUMIS-Projekt wurde das inhaltliche Spektrum des Projekts erweitert, indem nun auch die Probleme ausländischer Studierender mit der Verwendung des Deutschen als Fremdsprache im universitären Kontext explizit einbezogen wurden. Für die Bearbeitung dieses Aspekts wurde das Projektteam des ersten MUMIS-Projekts um Karin Aguado als Expertin für Deutsch als Fremdsprache ergänzt.

3.2 Die Teilprojekte und ihre Ziele Das Gesamtprojekt gliedert sich wiederum in unterschiedliche Teilprojekte, die sich auf drei Standorte verteilen: • •

Teilprojekt A: Sprachkompetenz in internationalen Studiengängen mit Englisch als Lingua Franca (House, Hamburg) Teilprojekt B: Maßnahmen zur Verbesserung der Fremdsprachenkompetenz von Studierenden im Hinblick auf Anforderungen des Studiums (Knapp, Siegen/Aguado, Kassel)

2 | Z.B. Airey/Linder 2006, Hellekjaer 2009, 2010a, 2010b, Klaassen/Räsänen 2006, Maiworm/Wächter 2008 und für den deutschen Kontext Motz 2004, 2005. 3 | Die Forschungsergebnisse des MUMIS-Projektes stehen, soweit sie bereits vorliegen, online zur Verfügung unter: www.mumis-projekt.de.

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Teilprojekt C: Maßnahmen zur Verbesserung der Integration internationaler Studierender und zur Verbesserung der interkulturellen Kompetenz internationaler und deutscher Studierender (Schumann, Siegen; 2010 abgeschlossen)

Teilprojekt A: Sprachkompetenz in internationalen Studiengängen mit Englisch als Lingua Franca Dieses Teilprojekt zielt auf verbesserte sprachliche Kompetenzen von Lehrenden und Studierenden bei der Verwendung von Englisch als Lingua Franca im Studium. Dies soll über drei unterschiedliche Maßnahmen erfolgen: Zum einen wird auf der Basis detaillierter Analysen von Sprechstundenkommunikation Fortbildungsmaterial für Lehrende entwickelt, das auf die spezifischen Probleme der Sprechstundenkommunikation mit Englisch als Lingua Franca vorbereitet und Strategien der Verständnissicherung in der Kommunikation zwischen Studierenden und Lehrenden vermittelt. Grundlage sind die Analysen umfangreichen Datenmaterials aus universitären Sprechstunden (vgl. House/ Lévy 2008). Zweitens wird ein sprachliches Anforderungsprofil erstellt, das die erforderlichen Sprachkompetenzen für das Studium in internationalen Studiengängen im deutschen Hochschulkontext beschreibt. Dieses Anforderungsprofil hat die Form von 120 »task statements« und dient als Ausgangspunkt für die Einschätzung der Angemessenheit der gängigen Sprachtests TOEFL (Test of English as a Foreign Language) und IELTS (International English Language Testing System) für den deutschen universitären Kontext. Die bisherigen Auswertungen deuten darauf hin, dass wichtige Anforderungen des deutschen Hochschulkontexts nicht ausreichend durch den TOEFL abgedeckt werden. Drittens wird ein Online-Sprachlernplanungstool für den universitären Kontext zur Verfügung gestellt, das Studierenden einen umfassenden und systematisch strukturierten Überblick über die vielfältigen an einer Universität bestehenden Möglichkeiten zur Verbesserung fremdsprachlicher Kompetenzen bietet.

Teilprojekt B: Maßnahmen zur Verbesserung der Fremdsprachenkompe tenz von Studierenden im Hinblick auf Anforderungen des Studiums Auch in diesem Teilprojekt geht es um die Verbesserung studiumsrelevanter fremdsprachlicher Kompetenzen, und zwar mit Hilfe eines spezifisch auf Hochschulkommunikation ausgerichteten Online-Formulierungswörterbuchs (UniComm) sowie mit einem modularisierten Starterkurs »Englisch im Studium« für Studierende.

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Das Formulierungswörterbuch UniComm wird in einer Version für Englisch als Fremdsprache im Studium und einer Version für Deutsch als Fremdsprache im Studium entwickelt. Aufgrund der unterschiedlichen Bedürfnisse der Adressatengruppen für die beiden Wörterbücher (die Deutsch-Version für internationale Studierende, die in deutschsprachigen Studiengängen studieren – die Englisch-Version für internationale Studierende, die in englischsprachigen Studiengängen studieren, ebenso wie für Studierende mit Deutsch als Muttersprache, die an englischsprachigen Lehrveranstaltungen teilnehmen, sowie deutschsprachige Dozenten, die englischsprachige Lehre anbieten) unterscheiden sich die beiden Formulierungswörterbücher in ihrer Struktur. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich konsequent auf die kommunikativen Anforderungen des Studiums beziehen, dass sie nach linguistisch-pragmatischen Kriterien organisiert sind und dass sie – anders als konventionelle Wörterbücher – nicht Einzelwörter, sondern komplexe, vorgefertigte Formulierungen zur Realisierung dieser kommunikativen Anforderungen anbieten. UniComm Deutsch als Fremdsprache zeigt darüber hinaus anhand exemplarischer Video-Clips, wie derartige Formulierungen in typischen Szenarien des Studienalltags pragmatisch angemessen verwendet werden können. UniComm Deutsch als Fremdsprache deckt die Kommunikationssituationen Sprechstundenkommunikation (einschließlich Email-Konsultation), mündliche Präsentationen und Beteiligung in Lehrveranstaltungen ab, und zwar aus der Perspektive der Studierenden. Diese Kommunikationssituationen sind wiederum intern untergliedert. So wird der Bereich »Sprechstunden« durch acht Themenbereiche konkretisiert: I. Fragen zur Anerkennung von zuvor erbrachten Leistungen, II. Fragen zum Thema und zu den Anforderungen an eine Hausarbeit, III. Fragen zur Literatur und zur Eingrenzung des Themas, IV. Fragen zur Gliederung und zum Exposé einer Abschlussarbeit, V. Bitte um Fristverlängerung, VI. Nachbesprechung einer Studienleistung, VII. Bitte um Gutachten und VIII. Fragen zu Prüfungen. UniComm Englisch (vgl. Knapp/Timmermann 2012) stellt Studierenden und Lehrenden Formulierungen für eine Vielzahl von kommunikativen Funktionen, die für die Lehrveranstaltungs- und Sprechstundenkommunikation relevant sind, wie z.B. »um Wiederholung bitten«, »ein Beispiel einleiten«, »zu kritischer Stellungnahme auffordern« zur Verfügung und unterstützt außerdem Lehrende beim Verfassen kurzer studiumsbezogener Texte (z.B. Lehrveranstaltungsankündigungen in englischer Sprache). UniComm Englisch bietet Benutzern auch die Möglichkeit, auf verschiedenen Suchwegen und auf mehreren Konkretisierungsstufen unterschiedlich komplexe Formulierungsvorschläge für die Lehrveranstaltungskommunikation zu finden. Das Formulierungswörterbuch ist zudem durch die Nutzer erweiterbar. Bei der Entwicklung wurde großer Wert auf die funktionale und situative Angemessenheit der Formulierungen gelegt. Die Formulierungen stammen daher aus Datenkorpora authen-

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tischer muttersprachlicher Lehrveranstaltungskommunikation, z.B. MICASE (Michigan Corpus of Academic Spoken Englisch) und BASE (British Spoken Academic English) sowie aus öffentlich zugänglichen Videomitschnitten von Lehrveranstaltungen und eigenen Aufnahmen an der Universität Siegen.4 Der Starterkurs »Englisch im Studium« ist modular organisiert und soll dazu dienen, Studierende gezielt auf die Verwendung der englischen Sprache im Studium vorzubereiten. Er orientiert sich dabei an den typischen kommunikativen Anforderungen von Lehrveranstaltungen und sie flankierender kommunikativer Aktivitäten (Lektüre wissenschaftlicher Texte, Kommunikation in Sprechstunden) und berücksichtigt insbesondere die sprachliche und kulturelle Heterogenität in Lehrveranstaltungen und die Verwendung von Englisch als Lingua Franca. Der inhaltliche Fokus liegt dabei auf der Vermittlung von englischen Formulierungen zur Bewältigung spezifischer kommunikativer Anforderungen im Studium, fächerübergreifendem akademischem Vokabular sowie der Entwicklung strategischer Kompetenz. Der Starterkurs ist damit eng mit dem Formulierungswörterbuch UniComm Englisch verknüpft. Er ist fächerübergreifend angelegt und gliedert sich in acht Module: • • • • • • • •

Modul 1: Studying in English: Introduction Modul 2: Basic Academic Vocabulary in English Modul 3: Reading Academic Texts in English Modul 4: Academic Presentations in English Modul 5: English for Oral Communication in Class Modul 6: Understanding Varieties of English Modul 7: Intercultural Communication in University Studies Modul 8: Communication in Office Hours

Die Module des Starterkurses sind wiederum in Bausteine unterteilt und so konzipiert, dass sie – einzeln oder in Kombination – flexibel und bedarfsorientiert in wissenschaftliche Lehrveranstaltungen unterschiedlicher Fächer integrierbar sind. Kurzbeschreibungen der Module, die bei der Auswahl helfen, sowie die für jeden Modulbaustein ausgearbeiteten Materialien, bestehend aus PowerPoint-Präsentation, Übungsaufgaben mit Lösungshinweisen und einer didaktischen Handreichung, ermöglichen den Einsatz der Module ohne aufwändige Vorbereitung. Alle Module werden in Lehrveranstaltungen erprobt.

4 | Zu Problemen der Übertragung der Formulierungen auf den deutschen Hochschulkontext s. Abschnitt 3.3.

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Teilprojekt C: Maßnahmen zur Verbesserung der Integration internationaler Studierender und zur Verbesserung der interkulturellen Kompetenz internationaler und deutscher Studierender Ziel dieses Teilprojekts ist es, durch eine Sammlung studiumsspezifischer kritischer Interaktionssituationen (Critical Incidents) und deren didaktische Aufbereitung zur Weiterentwicklung der interkulturellen Kompetenz internationaler und deutscher Studierender beizutragen und so kulturell bedingte Probleme im Studium zu reduzieren. Dazu wurden Critical Incidents aus dem universitären Kontext gesammelt und nach Kommunikationssituationen kategorisiert. Im Zentrum standen dabei folgende Situationen: A. Kommunikation in Lehrveranstaltungen: Interkulturelle Missverständnisse im Bereich von Wissensvermittlung und Wissensaneignung/Verhaltensnormen in Lehrveranstaltungen; B. Kommunikation mit Dozenten: Interkulturelle Missverständnisse in den Beziehungen zwischen Dozenten und Studierenden/Leistungserbringung und Leistungserwartung; C. Kommunikation in Arbeitsgruppen: Interkulturelle Missverständnisse bei der Zusammenarbeit in studentischen Arbeitsgruppen/bei der wissenschaftlichen Teamarbeit in Forschungsgruppen; D. Kommunikation unter Studierenden: Interkulturelle Missverständnisse bei Kontaktaufnahme und Kontaktpflege/Gesprächsführung und Gesprächsthemen/Alltagsgestaltung im Studentenwohnheim. Anschließend wurden die Critical Incidents für die Nutzung zu Trainingszwecken aufbereitet und in ein hochschulspezifisches Programm zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen integriert (vgl. »Arbeitsmaterialien zum interkulturellen Training mit Critical Incidents« in diesem Band). Alle Critical Incidents wurden durch ausländische Studierende und Dozenten evaluiert und in Lehrveranstaltungen und hochschuldidaktischen Workshops erprobt (vgl. Schumann 2008, 2011). Im vorliegenden Band sollen die wissenschaftlichen Grundlagen dieses Teilprojektes sowie die didaktischen Aspekte der Arbeit mit Critical Incidents im Rahmen von Lehrveranstaltungen oder Trainingsmodulen im Mittelpunkt stehen.

3.3 Vernetzung der Teilprojekte, Resonanz und Perspektiven Im Laufe der Projektarbeit wurde zunehmend deutlich, wie eng die einzelnen Teilprojekte aufeinander bezogen bzw. miteinander vernetzt sind. Dies soll hier am Beispiel der durchgängigen Relevanz interkultureller Fragestellungen für

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alle Teilprojekte kurz dargestellt werden. Schon in den Daten zur Lehrveranstaltungskommunikation, die im Rahmen von MUMIS 1 erhoben wurden, zeigte sich, wie sprachliche und kulturelle Faktoren bei der Genese von Konflikten und bei Versuchen zu ihrer Lösung interagieren, aber auch, wie die Vielfalt kultureller und sprachlicher Ressourcen von Lehrveranstaltungsteilnehmern produktiv genutzt werden kann. Im Projekt MUMIS 2 wurden bei der Konzeption von Workshops zur Sensibilisierung für Besonderheiten deutscher akademischer Kultur im Kontext von Teilprojekt A Fallbeispiele aus dem Teilprojekt C zugrunde gelegt. Die Szenarien in UniComm Deutsch als Fremdsprache erhalten durch hinzugefügte Kommentare, die allgemeine Informationen zu Verhaltensmustern an deutschen Hochschulen beinhalten, eine explizite interkulturelle Komponente. Der Starterkurs »Englisch im Studium« enthält ein spezielles Modul zum Thema »Intercultural Communication in University Studies«, und auch in UniComm Englisch gibt es zu ausgewählten Einträgen cultural notes, die auf kulturspezifische Besonderheiten bei der Verwendung der betreffenden Sprechhandlungen und der ihnen zugeordneten Formulierungen aufmerksam machen. Die cultural notes verweisen auf ein sehr grundsätzliches, besonders schwer zu lösendes Problem englischsprachiger Lehre an deutschen Hochschulen, das sich hinter der Entwicklung von UniComm Englisch und Starterkurs verbirgt und das kulturelle Implikationen hat: Einerseits sollen die in UniComm Englisch und Starterkurs zum Erlernen angebotenen Formulierungen brauchbar, angemessen und verständlich für Hochschulkommunikation in beliebigen kulturellen Kontexten sein – andererseits kann ihre sprachliche Korrektheit und Üblichkeit aber nur im Hinblick auf ihre Verwendung im Hochschulkontext englischsprachiger Länder beurteilt werden. Wir haben uns schließlich dazu entschieden, nur solche Formulierungen zum Erlernen anzubieten, die in englischsprachigen Ländern als korrekt und gebräuchlich angesehen werden, und haben diesen Ansatz im Rahmen der Module »Studying in English: Introduction« und »Intercultural Communication in University Studies« sowie durch die cultural notes in UniComm Englisch ein wenig relativiert. Ob und in welcher Weise Studierende (und auch Lehrende) die angebotenen Formulierungen in ihrer eigenen Sprachverwendung modifizieren, ist eine andere Sache. Die Tatsache, dass die entwickelten Materialien im Rahmen ihrer Erprobung an verschiedenen Hochschulen durchgehend auf sehr positive Resonanz gestoßen sind, lässt den Schluss zu, dass die angestrebten Ziele sinnvoll und zumindest partiell erreichbar sind. Paradoxerweise dürfte aber gerade ein erfolgreicher Einsatz der Materialien und das Eintreten der erhofften Lerneffekte die Situation, auf die die Projektmaterialien vorbereiten sollen, zu einem gewissen Grade verändern. Insbesondere die interkulturellen Aspekte des Projekts sind damit von demselben Paradox betroffen wie alle interkulturellen Trainingsmaßnahmen: Indem Menschen auf das Agieren in fremdkulturellen Kontexten

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vorbereitet und für kulturelle Unterschiedlichkeit sensibilisiert werden, agieren sie in solchen Kontexten nicht mehr in derselben Weise als Angehörige ihrer Primärkultur, wie sie es ohne ein solches Training getan hätten. Damit wird die Möglichkeit wahrscheinlicher, dass die Beteiligten – als Mitglieder einer spezifischen community of practice – eigene Konventionen des Deutens, Bewertens und des (sprachlichen und nicht-sprachlichen) Handelns entwickeln. Auch die im engeren Sinne sprachlichen Aspekte von Hochschulkommunikation können von der Mehrsprachigkeit der Teilnehmer und ihrer Informiertheit über Verständigungsprobleme und -möglichkeiten beeinflusst werden: Soweit Lehrveranstaltungskommunikation in englischer Sprache eher auf Verständlichkeit als auf Korrektheit, gemessen an der Norm einer Standardvarietät, zielt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Teilnehmer selbst situations- und kontextspezifische Formen von Lingua-Franca-Kommunikation entwickeln. Dies wären interessante und wichtige Gegenstände weiterer Forschung.

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Zur Erforschung und Entwicklung studiumsbezogener interkultureller Kompetenzen Adelheid Schumann

1. I NTERKULTURELLE K OMPE TENZ ALS S CHLÜSSELQUALIFIK ATION IN DER INTERNATIONALEN H OCHSCHULE Die zunehmende Internationalisierung der deutschen Hochschulen seit den 1990er Jahren hat zu tief greifenden Veränderungen in der Akademischen Kultur geführt. Sie berührt alle Bereiche des universitären Lebens und betrifft sowohl die Systemebene der Hochschulstrukturen und Studienorganisation als auch die individuelle Ebene der Akteure: Hochschullehrer, Studierende und Administratoren. Ihr Einfluss auf die Kernbereiche der Universitäten, Forschung, Lehre und Studium, verändert auch die universitären Kommunikationsstrukturen und wirkt sich auf die Einstellungen und Verhaltensweisen der Hochschulangehörigen aus. Als zentrale Faktoren sind die Schaffung international kompatibler Studienstrukturen (Bachelor/Master) und die Internationalisierung der Curricula, die zunehmende Mobilität von Studierenden und Dozenten, die Zunahme grenzüberschreitender Universitätskooperationen und die damit verbundene wachsende Bedeutung von Fremdsprachenkenntnissen, insbesondere des Englischen als internationaler Lingua Franca, zu nennen. Unterstützt werden diese Entwicklungen durch eine mithilfe immer neuer Kommunikationstechnologien vorangetriebene Globalisierung der Wissenschaft, die den grenzenlosen Austausch von Wissen ermöglicht.1 Die Fähigkeit, sich über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg zu verständigen und Hochschulstudium und universitäre Forschung unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit und Multikulturalität zu gestalten, ist damit für alle an der akademischen Kommunikation Beteiligten zu einer Schlüssel1 | Zur Internationalisierung der deutschen Hochschulen sowie zur Abgrenzung der Begriffe Internationalisierung und Globalisierung vgl. Hahn 2004 und Teichler 2007.

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qualifikation geworden. Unter dem Begriff der »Interkulturellen Kompetenz« hat sich diese Fähigkeit deshalb in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Forschungsfeld entwickelt, das von verschiedenen Disziplinen, insbesondere der Soziologie, Sozialpsychologie und Pädagogik sowie den Kommunikationsund Kulturwissenschaften und der Sprachlehrforschung aus unterschiedlichen Blickwinkeln multidimensional bearbeitet und von allen Wissenschaftlern als wichtiger und zukunftsweisender Beitrag zur internationalen Hochschulentwicklung angesehen wird. In dem Teil des MUMIS-Projektes, der in diesem Band vorgestellt werden soll: »Integration internationaler Studierender und Förderung interkultureller Kompetenzen«,2 geht es um die Folgen der Internationalisierung für die Hochschulangehörigen, insbesondere die Studierenden und die Dozenten.3 Im Mittelpunkt steht also die individuelle Dimension der Internationalisierung, die vor allem durch die erhöhte Mobilität der Studierenden und einer damit verbundenen signifikanten Veränderung der Zusammensetzung der Studentenschaft bestimmt wird. Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Zahl der ausländischen Studierenden in Deutschland stetig zugenommen. Sie umfasste im Jahre 2010 bereits 11,5 % aller Studierenden, davon 8,5 % Bildungsausländer und 3,0 % Bildungsinländer.4 Die Hälfte der Bildungsausländer kommt aus Europa, wobei die Zahl der Osteuropäer, insbesondere aus Russland, Polen, Bulgarien und Ukraine, doppelt so hoch ist wie die der Westeuropäer, bei denen Studierende aus Österreich, Frankreich, Italien und Spanien an der Spitze liegen. Etwa ein Drittel der ausländischen Studierenden stammt aus Asien, insbesondere aus China, Südkorea und Indien, und ca. 11 % kommen aus Afrika, vorwiegend aus Marokko, Tunesien und Kamerun. Amerikaner, sowohl aus Nordamerika (USA und Kanada) als auch aus Lateinamerika, finden hingegen nur relativ selten den Weg an deutsche Universitäten oder Fachhochschulen. Im Jahr 2010 waren es 7 % aller Bildungsausländer. Bei den Fächern, die von ausländischen Studierenden belegt werden, dominieren an Universitäten die Geisteswissenschaften (14,5 %), gefolgt von den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (12,5 %), den Naturwissenschaften und der Mathematik (10,6  %), den Ingenieurwissenschaften (9,9  %) sowie den Agrar- und Veterinärwissenschaften (9,9 %) und der Medizin (9,0 %), 2 | Das MUMIS-Projekt zur Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium wird seit 2009 von der VolkswagenStiftung gefördert und besteht aus drei Teilprojekten. Vgl. den Beitrag von Annelie Knapp in diesem Band. 3 | Zu den Akteuren vgl. auch Weidemann/Nothnagel 2010. 4 | Seit 2000 gibt der DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) zusammen mit dem HIS (Hochschulinformationssytem) jährlich eine Datensammlung zur Internationalisierung der deutschen Hochschule heraus: Wissenschaft weltoffen. Daten und Fakten zur Internationalisierung von Studium und Forschung in Deutschland. Die vorliegenden Zahlen beziehen sich auf die Daten von 2010.

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während an den Fachhochschulen vor allem die Ingenieurwissenschaften (7,5 %) sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (7,1 %) von ausländischen Studierenden belegt werden. Dabei ist bei der Fächerwahl eine eindeutige Geschlechtsspezifik festzustellen: 34 % der männlichen ausländischen Studierenden kommen zum Studium der Ingenieurwissenschaften nach Deutschland, gefolgt von Naturwissenschaften und Mathematik (24 %), während weibliche ausländische Studierende in erster Linie in den Geisteswissenschaften (30 %) oder in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (23 %) zu finden sind.5 Diese Zahlen machen deutlich, dass ausländische Studierende in mehr oder weniger großem Umfang in allen Fächergruppen der Hochschulen vertreten sind und damit für alle Hochschulangehörigen potenziell die Notwendigkeit besteht, sich in interkulturellen Überschneidungssituationen bewähren zu müssen. Es bedeutet auch, dass im Zuge der Internationalisierung der Hochschulen interkulturelle Kompetenzen für Dozenten und Studierende zu einem wichtigen Aspekt ihres kommunikativen Handelns geworden sind und die Hochschulen gefordert sind, Gelegenheiten zum Erwerb dieser Kompetenzen zu schaffen. Die Studierenden, deutsche genauso wie ausländische, benötigen interkulturelle Studierfähigkeiten, um ihr Studium unter den Bedingungen von Multikulturalität und Mehrsprachigkeit bewältigen zu können. Die Dozenten brauchen interkulturelle Lehrkompetenzen sowie eine allgemeine cultural awareness, um sich auf die ausländischen Studierenden und ihre differenten Bildungserfahrungen und Studienerwartungen einzustellen und ihnen bei der Orientierung im Studium helfen zu können. Unter interkultureller Kompetenz versteht man die Fähigkeit, in interkulturellen Kontexten angemessen und erfolgreich zu interagieren.6 Es handelt sich dabei um eine soziale Handlungskompetenz, bei der spezifische Persönlichkeitsmerkmale, Situationsbedingungen und Interaktionsprozesse eine Rolle spielen und das kommunikative Verhalten sowohl von individuellen Dispositionen als auch von kollektiven Wertvorstellungen beeinflusst wird. Bei den Persönlichkeitsmerkmalen wird im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs in der Regel zwischen affektiven und kognitiven Dimensionen unterschieden, wobei unter der affektiven Dimension Einstellungen und Haltungen gegenüber fremden Personen und Kulturen verstanden werden und unter der kognitiven Dimension das Wissen über eigene und fremde Kulturen sowie die Fähigkeit, dieses Wissen zielgerichtet in die Interaktion einzubringen (vgl. Bolten 2001, Hatzer/Layes 2005). Mit Situationsbedingungen sind die spezifischen Kontexte 5 | Vgl. die 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) 2010. Die Erhebung bezieht sich auf Daten von 2009. 6 | Zum Begriff der »Interkulturellen Kompetenz« und zu der kontroversen Diskussion des Begriffes unter wissenschaftlichen Experten in Deutschland vgl. u.a.Thomas 2003, Hatzer/Layes 2005, Rathje 2006, Straub 2007, Scheitza 2007.

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gemeint, in denen die Interaktion stattfindet. Sie betreffen die räumlichen und zeitlichen Faktoren der Kommunikation, die Statusmerkmale der beteiligten Personen sowie die Machtverhältnisse zwischen den Interaktionspartnern. Interkulturell kompetente Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Interaktion ihre personalen Merkmale und den situativen Kontext dazu nutzen, in einen Prozess der Verständigung mit dem Interaktionspartner einzutreten und interkulturelle Missverständnisse zu vermeiden bzw. zu überwinden. Dabei bestimmt einerseits die Situation mit ihren spezifischen Kommunikationsbedingungen die jeweiligen Normalitätserwartungen, andererseits wird das konkrete interaktive Verhalten von den personalen Fähigkeiten des Erfassens und Ausgleichens interkultureller Differenzen, d.h. den affektiven und kognitiven Kompetenzen der Interaktionspartner, gesteuert, sodass mithilfe von Aushandlungsprozessen eine Relativierung des eigenen Erwartungshorizontes und eine Öffnung gegenüber dem Gesprächspartner erfolgen kann. Auf der Grundlage eines umfassenden Forschungsprojektes, bei dem überwiegend USamerikanische Experten zu ihren Vorstellungen und Erkenntnissen über die Charakteristika interkultureller Kompetenz befragt wurden und eine Liste von zentralen Komponenten7 erarbeitet wurde, kommt Darla K. Deardorff zu einem Modell der interkulturellen Kompetenz, das die genannten Einflussfaktoren in ihrer Prozesshaftigkeit abbildet:8 Abb. 1: Entwicklung interkultureller Kompetenz (nach Darla K. Deardorff 2006) Individualebene Haltung & Einstellungen: Respekt; Offenheit und Unvoreingenommenheit; Neugier, Entdeckergeist und Ambiguitätstoleranz

Wissen & Verständnis: Kulturelle Selbstreflexion, umfassendes Kulturverständnis, soziolinguistisches Bewusstsein / Fähigkeiten: Zuhören, Beobachten, Interpretieren, Analysieren, Bewerten, Zuordnen

Prozessorientierung Externe Wirkung: Effektive und angemessene Kommunikation und Verhalten in interkulturellen Situationen

Interne Wirkung: Verlagerung des Referenzsystems; Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Relativierung der ethnozentrischen Sicht, Empathie

Interaktion 7 | Weitere Komponenten- und Konstituentenmodellen von interkultureller Kompetenz werden von Stefanie Rathje 2006 und Jürgen Straub 2007 vorgestellt und diskutiert. 8 | Zur Delphi-Studie von Darla K. Deardorff vgl. Deardorff 2006.

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Die Grafik macht deutlich, dass es sich bei der Entwicklung interkultureller Kompetenz um einen niemals abgeschlossenen, einen sich selbst verstärkenden Prozess handelt. Erfahrungen in interkulturellen Überschneidungssituationen führen zur Erweiterung von Wissen und Verständnis sowie einer fortschreitenden Relativierung eigener Wahrnehmungsmuster und Verhaltensnormen. Das wirkt sich positiv auf die Angemessenheit und Effektivität der interkulturellen Kommunikation aus: Es bestärkt die Interaktionspartner in ihren Einstellungen und motiviert sie, ihr kulturelles Wissen kontextspezifisch zu erweitern und ihre Einsichten mithilfe von Selbstreflexionsprozessen zu vertiefen. Bezogen auf die interkulturelle Kommunikation in der Hochschule und das soziale Handlungsfeld von Studierenden und Hochschullehrern bezeichnet interkulturelle Kompetenz die Fähigkeit der universitären Akteure, sich auf die Internationalisierung ihres Arbeits- und Studienbereiches und die damit verbundenen kulturellen Herausforderungen einzustellen (vgl. Weidemann/Nothnagel 2010). Dazu bedarf es auf der individuellen Ebene eines geschärften Bewusstseins für die Besonderheiten der eigenen Akademischen Kultur und möglicher Differenzen zu anderen akademischen Praktiken sowie der Bereitschaft, andere wissenschaftliche Lehr-, Lern- und Arbeitsstile zu akzeptieren.9 Das gilt insbesondere für die ausländischen Studierenden, die sich in einer für sie ungewohnten Akademischen Kultur zurechtfinden müssen. Doch auch die Dozenten sind gefordert, sich mit den differenten Rollenerwartungen und Verhaltensweisen ausländischer Studierenden auseinanderzusetzen, um eventuelle Missverständnisse besser durchschauen und beheben zu können. Auf der Ebene der Interaktion sind deshalb Sensibilität für Irritationen im Kommunikationsablauf und die Fähigkeit erforderlich, mithilfe von adäquaten Handlungsstrategien wie Nachfragen, Erklären, Vergleichen etc. Differenzen aufzuspüren und zu benennen. Für die Akteure Akademischer Kulturen, Studierende und Lehrende, besteht die Entwicklung interkultureller Kompetenzen im Hochschulkontext also darin: •

Kenntnisse über Differenzen in Akademischen Kulturen zu erwerben, um ihre spezifischen Sinn- und Bedeutungssysteme erfassen zu können und sich bewusst zu werden, dass den Differenzen unterschiedliche Bildungstraditionen und Lernkonzepte zu Grunde liegen;10

9 | Eine empirische Untersuchung zu Studienproblemen ausländischer Studierender an deutschen Universitäten hat ergeben, dass unbekannte Formen und Formate von Leistungsnachweisen (z.B. Referate) bei ausländischen Studierenden häufig für wenig sinnvoll und lerneffektiv gehalten werden, vgl. Schumann 2008a. 10 | Dass jedes kulturbezogene Wissen grundsätzlich als vorläufig und veränderlich angesehen werden muss und der permanenten Aktualisierung bedarf, darauf weist insbesondere Annelie Knapp-Potthoff hin, vgl. Knapp-Potthoff 1997: 203.

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Einfühlungsvermögen zu entwickeln, um in Konfliktsituationen zu erkennen, ob die Irritation oder das Missverständnis auf der Verständigungs- oder auf der Beziehungsebene angesiedelt ist, und angemessene Reaktionsstrategien zu entwickeln; Interaktionsstrategien zu erwerben, mit deren Hilfe die interkulturelle Kommunikation erfolgreich verlaufen kann und sie im Handlungskontext so anzuwenden, dass eine Klärung der Differenzen erfolgen kann und Reflexionsprozesse angestoßen werden.

In den letzten Jahren hat sich eine intensive Forschung zur interkulturellen Kommunikation an Hochschulen entwickelt,11 die auf Untersuchungen zur internationalen Wirtschaftskommunikation aufbauen, die in den 1990er Jahren im Zentrum der interkulturellen Forschung standen (vgl. Bolten 2001, Thomas/ Kinast/Schroll-Machl 2003). Dabei überwiegen soziologische und soziokulturelle Ansätze sowie Studien zum Erwerb interkultureller Kompetenzen und der Entwicklung hochschulspezifischer Trainingsmethoden. Daneben existiert eine sprachlich-pragmatische Forschungstradition zur interkulturellen Kommunikation an Hochschulen, die bereits früher, in den 1980er Jahren, entstanden ist. Sie baut auf anglo-amerikanischen Erkenntnissen auf12 und befasst sich insbesondere mit der kulturellen Prägung von Lernstilen und Wissenschaftssprachen, wobei Deutsch als Fremdsprache im Mittelpunkt steht, aber zunehmend auch die spezifischen Kommunikationsprobleme mit Englisch als Lingua Franca untersucht werden.13 Wichtige Impulse erhielt die Erforschung der interkulturellen Aspekte des Hochschullebens durch die wissenschaftliche Disziplinierung interkultureller Themen und Fragestellungen. Nachdem es dem Fachgebiet der »Interkulturellen Kommunikation« gelungen war, sich in Form von interkulturell ausgerichteten Studiengängen in verschiedenen universitären Fachbereichen, insbesondere den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie den Wirtschaftswis11 | Als aktuelle Werke, die sich ausschließlich mit der interkulturellen Kommunikation an Hochschulen befassen, sind zu nennen: Otten 2006, Knapp/Schumann 2008, LévyTödter/Meer 2009, Weidemann/Straub/Nothnagel 2010, Hiller/Vogler-Lipp 2010, Eß 2010, Bosse/Kreß/Schlickau 2011; vgl. auch die Bibliografie zur interkulturellen Kommunikation in der Hochschule in diesem Band. 12 | Vgl. die Untersuchungen zu kulturdifferenten Wissenschafts- und Lernstilen: Kolb 1981, Galtung 1985, Hofstede 1986 u.a. 13 | Zum Themenbereich »Deutsch als Wissenschaftssprache« und »Deutsch als Fremdsprache« vgl. Ehlich 1983 und 2002, Müller-Jacquier 2000, Eßer 2001, CasperHehne 2004, Mehlhorn 2005 u.a. Zu »Englisch als Lingua Franca« vgl. House 2003, Motz 2004. Außerdem sind die Teilprojekte A und B1 des MUMIS-Projektes dem Englischen als Lingua Franca gewidmet, vgl. den Beitrag von Annelie Knapp in diesem Band.

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senschaften, als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, setzte zwischen den einzelnen disziplinären Ansätzen ein Prozess des Austausches und der Suche nach gemeinsamen Kernbereichen ein. Dabei erfuhr der Untersuchungs- und Anwendungsbereich der interkulturellen Forschung eine deutliche Ausweitung und neue Handlungsfelder gerieten in den Blick.14 Einerseits sehen diese Studiengänge ihre primäre Aufgabe darin, die Studierenden im Sinne von Employability15 auf den globalisierten internationalen Arbeitsmarkt vorzubereiten und ihnen dafür interkulturelle Kompetenzen mit auf den Weg zu geben. Andererseits wird immer deutlicher, dass sich die Hochschule selbst zu einem interkulturellen Handlungsraum entwickelt hat, der entsprechende Kompetenzen erfordert. Karola Hahn stellt fest: »Die Internationalisierung der Hochschulen macht eine Neudefinition der Anforderungen an die Lehre und deren Qualität notwendig. Durch die zunehmende Mobilität von Studierenden und die steigende Zahl an integrierten internationalen Studiengängen sehen sich Lehrende in verstärktem Maße heterogen zusammengesetzten Studierendengruppen gegenüber. Seminare, Kurse, Vorlesungen, die gleichzeitig von deutschen und ausländischen Studierenden besucht werden, sind zur Normalität geworden. Das geänderte Profil der Studierendenschaft erfordert wiederum Veränderungen im Profil des Lehrenden, anderes Wissen und andere Fertigkeiten. Die Rolle der Lehrenden, die Lehrmethoden und ihre Anforderungsprofile sind daher neu zu definieren. Interkulturelle Kompetenzen, transdisziplinäre, internationale Lehr- und Lernteams, multimediale, mehrsprachige Lehre etc. könnten erste Lösungsansätze darstellen.« (Hahn 2004: 310)

Karola Hahn plädiert dafür, die interkulturelle Perspektive gezielt in die Hochschuldidaktik zu integrieren und sowohl extra-curriculare als auch intra-curriculare, fachspezifische Angebote zum Erwerb interkultureller Kompetenzen zu entwickeln.

2. A K ADEMISCHE K ULTUREN UND INTERKULTURELLE K OMMUNIK ATIONSSITUATIONEN IM S TUDIUM Akademische Kulturen werden in der Kultursoziologie als eine besondere Form sozialer Praxis beschrieben (vgl. Reckwitz 2007). Sie verfügen über kontextspe14 | Zu verschiedenen disziplinären Ansätzen der interkulturellen Kommunikationsforschung vgl. Lüsebrink 2004 und Moosmüller 2007. Eine Auflistung aller autonomen Studiengänge zur interkulturellen Kommunikation an deutschen Hochschulen (Erhebungszeitpunkt 2007) ist bei Straub/Nothnagel 2007 zu finden. 15 | Zu dem Begriff der Employability (Anwendbarkeit, Verwertbarbeit) und seinen Konnotationen vgl. Weidemann/Nothnagel 2010: 124.

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zifische Verhaltensweisen, Kommunikationsstrukturen und Diskurse, Organisationsformen und materielle Ausstattungen, Raum- und Zeitsysteme, die von denen, die ihnen angehören, in Form der Übernahme eines spezifischen Rollenverhaltens und der Ausprägung eines Habitus16 verinnerlicht werden und als »kollektiv inkorporiertes kollektives Wissen«, wie Andreas Reckwitz es nennt, wirken (Reckwitz 2003: 292). Die soziale Praxis einer Akademischen Kultur entwickelt auf diese Weise ein eigenes Sinn- und Bedeutungssystem, das sich in Diskursen manifestiert und das interaktive Verhalten der Dozenten und Studierenden bestimmt. Dabei wird zwischen den kollektiven Normen des universitären Handlungsfeldes und den individuellen Entscheidungsmöglichkeiten der Akteure unterschieden (vgl. Leenen 2002). Während das Handlungsfeld in Form vorgegebener Rollenzuweisungen und Verhaltensnormen kollektive soziale Zwänge schafft, eröffnet das subjektive Rollenverständnis den Individuen gewisse Spielräume und ermöglicht ihnen, die vorgegebenen und verinnerlichten Strukturen individuell auszulegen, so dass, wie Wolf Rainer Leenen betont, »ein Wechselspiel zwischen sozialen Zwängen und individueller Freiheit, zwischen kollektiven Vorgaben und persönlicher Verantwortlichkeit« (Leenen 2002: 65) entsteht. Die akademischen Strukturen, die die Kommunikation zwischen Studierenden und Dozenten bzw. Studierenden untereinander prägen und ihre sozialen Praktiken bestimmen, sind vor allem in den Bereichen der Wissensvermittlung und Wissensaneignung, des Beziehungsaufbaus zwischen Studierenden und Lehrenden sowie der studentischen Zusammenarbeit und Kontaktpflege im Studium zu finden. Sie beruhen auf Universitätstraditionen und Organisationsprinzipien, die sich in den verschiedenen nationalen Kulturen im Verlauf der letzten Jahrhunderte herausgebildet haben und zum Teil erhebliche Differenzen aufweisen: •





Wissenschaftstraditionen und Wissenschaftsstile: die Art und Weise, wie Wissen generiert und weitergegeben wird und welche wissenschaftlichen Ziele dabei vorrangig verfolgt werden; Organisation von Forschung und Lehre: die Art und Weise, wie Forschung und Lehre aufeinander bezogen werden und welche Rolle sie für die Akteure der Hochschule spielen; Lehr- und Lernkultur sowie Leistungsanforderungen: die pädagogischen Grundlagen der universitären Lehre und die Art und Weise, wie die Studierenden zum Lernen angeleitet und ihre Leistungen überprüft werden;

16 | Der Habitus-Begriff wurde von Pierre Bourdieu geprägt und wird in der Kultursoziologie zur Beschreibung von verinnerlichten Handlungs- und Denkschemata verwendet, vgl. Reckwitz 2007: 207.

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Verhältnis von Studierenden und Dozenten: das Rollenverständnis von Dozenten und Studierenden und die Art ihrer Kontakte und kommunikativen Verhaltensweisen in der Interaktion.

Der Begriff der Wissenschaftstradition verweist auf langfristige Entwicklungsprozesse im Hochschulwesen und berücksichtigt die Tatsache, dass Wissenschaft und Forschung in den verschiedenen Ländern und Kulturen einen unterschiedlichen historischen Werdegang aufweisen. Spätestens seit der Herausbildung der Nationalstaaten in Europa und einer damit einhergehenden Verstaatlichung von Wissenschaft und Bildung17 war es mit der ursprünglichen Einheit der Universitäten des Mittelalters und der Renaissance ebenso vorbei, wie mit dem Latein als einigender Lingua Franca, und es entstanden nationalstaatliche Strukturen, die den Wissenschaften in den verschiedenen Ländern unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen zuwiesen. Eine weitere Differenzierung erfuhr die Wissenschaft durch die Entstehung immer neuer Disziplinen und einer damit verbundenen Ausweitung ihres Fächerkanons, was auch mit der Entwicklung neuer Verfahren der Wissensgenerierung und neuer Wissenschaftsstile einherging. Mit Wissenschaftstraditionen sind also einerseits nationalstaatliche Entwicklungen gemeint, die mithilfe von strukturellen und organisatorischen Vorgaben die Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben wird und welchen Stellenwert sie in der Gesellschaft hat, bestimmen. Andererseits sind die verschiedenen Fächerkulturen gemeint, die die Gegenstände wissenschaftlicher Forschung und die jeweiligen Methoden der Wissensgenerierung bestimmen und dabei spezifische Denkstrukturen und Wissenschaftsstile hervorbringen. Beides hat erhebliche Auswirkungen auf die kommunikative Praxis an Hochschulen: auf die Lehr- und Lernkultur mit ihren Formen der Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, auf die schriftliche Wissenskommunikation mit ihren verschiedenen Textsorten und fächerspezifischen Leistungsformaten (vgl. Ehlich 2002), auf die mündliche Interaktion zwischen Studierenden und Dozenten. Darüber hinaus prägen die Wissenschaftstraditionen und insbesondere die Fächerkulturen das soziale Verhalten und den Habitus der Akteure und führen, wie Ludwig Huber hervorhebt, zur Ausprägung von Distinktionen, die nicht selten zur Abgrenzung gegenüber anderen Fachkulturen genutzt werden (vgl. Huber 1991: 15f.) und bei der Entwicklung fachspezifischer Gruppenidentitäten eine wichtige Rolle spielen.18 Ausländische Studierende sehen sich an deutschen Hochschulen also nicht nur mit sprachlichen und fachlichen Differenzen konfrontiert, sondern auch 17 | Einen kurzen Überblick über die Entwicklung der modernen Universität in Europa bieten Prahl 1978, Wiesmann 1999 und Otten 2006. 18 | Zur Abgrenzung von Fachkulturen gegenüber Lernkulturen und der Bedeutung der Fachkulturen für die Ausprägung des Habitus vgl. auch Liebau/Huber 1985, Ricken 2011.

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mit fachspezifischen Diskursformen, Denkstilen, Verhaltensweisen und Gruppenidentitäten, die nicht immer leicht zu erkennen und einzuordnen sind. Dabei treffen sie in den Naturwissenschaften, bei denen eine relativ hohe internationale Übereinstimmung über grundlegende Wissensbestände besteht und sich eine internationale Vergleichbarkeit der Methoden und wissenschaftlichen Arbeitsformen herausgebildet hat, eher auf akademische Strukturen, die ihnen aus den Schulen und Hochschulen ihrer Herkunftsländer vertraut sind, als in den Geistes- und Sozialwissenschaften, bei denen weniger internationaler Wissenskonsens besteht und ein dynamischer und diskursiver Wissenschaftsstil mit konkurrierenden Inhalten und kulturspezifischen Methoden gepflegt wird (vgl. Wiesmann 1999: 39). In der Organisation von Forschung und Lehre sind ebenfalls erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Akademischen Kulturen festzustellen. In den deutschen Universitäten und Hochschulen wird ein enger Zusammenhang von Forschung und Lehre angestrebt, so wie es von Wilhelm von Humboldt bei der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 konzipiert worden war. Neben Vorlesungen, die einen Überblick über wissenschaftliche Inhalte vermitteln sollen, werden Seminare und Kolloquien angeboten, in denen die Studierenden Einblick in Forschungsprozesse erhalten und zum »forschenden Lernen« angeleitet werden. Hans-Werner Prahl beschreibt das historische Konzept folgendermaßen: »Im Seminar und Colloquium sollte exemplarisch ein Zusammenhang zwischen Lehre und Forschung hergestellt werden, indem der Lehrende die Schritte und Ergebnisse seiner Forschung vor den Studenten ausbreitete und der Kritik zugänglich machte. Im Seminar wurden die Studierenden nicht mehr als bloß rezipierende Schüler, sondern als gleichberechtigte Lern- und Forschungspartner erachtet – zumindest war dies das Ideal der Universitätsreformer. Diese Lehr- und Lernformen setzten voraus, dass die Studenten nicht mehr ausschließlich von der Wissensvermittlung durch die Dozenten abhängig waren, sondern zu selbständiger Lektüre und Wissensaneignung befähigt wurden.« (Prahl 1978: 238)

Das Humboldt’sche Universitätskonzept prägt bis heute die Organisation von Forschung und Lehre an deutschen Hochschulen, auch wenn die Einheit von Forschung und Lehre mittlerweile in die Kritik geraten ist und von einigen Hochschulforschern für einen Mythos gehalten wird, der den tatsächlichen Verhältnissen an den heutigen Massenuniversitäten in keiner Weise mehr entspricht.19 Dennoch hat die Konzeption Humboldts in den deutschen Universitäten einige unverwechselbare Spuren hinterlassen, die alle Hochschulreformen 19 | Matthias Otten gibt einen Überblick über die Diskussion zum »Einheitsmythos«, vgl. Otten 2006: 220-223.

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überlebt und dazu geführt haben, dass die deutsche Hochschullandschaft sich von anderen nationalen Akademischen Kulturen20 deutlich unterscheidet: •





die Verbindung von Forschung und Lehre in der Person des Hochschullehrers bzw. der Hochschullehrerin, die sowohl in der Forschung als auch in der Lehre tätig sind und sich in beiden Bereichen, insbesondere aber in der Forschung, ausweisen müssen; die Auffächerung der Unterrichtsformate in Lehrveranstaltungen, in denen die Studierenden Wissen rezipieren (Vorlesungen), und Lehrveranstaltungen, in denen die Studierenden tendenziell an der Generierung von Wissen beteiligt werden und zur kritischen und selbständigen Auseinandersetzung mit den Wissensbeständen angeleitet werden (Seminare, Kolloquien, Praktika etc.); die Aufhebung oder Relativierung des Autoritätsgefälles zwischen Dozenten und Studierenden und die potenzielle Anerkennung der Studierenden als fachliche Kommunikationspartner.

Für Studierende, die aus ihren Herkunftsländern an eine Trennung von Forschung und Lehre gewöhnt sind, ergeben sich aus diesen Merkmalen der Akademischen Kultur in Deutschland eine Reihe von Rollenkonflikten. Als Studierende verstehen sie sich vorwiegend als Rezipienten von Wissen und erwarten von ihren Dozenten, dass diese ihnen die fachlichen Wissensbestände möglichst umfassend präsentieren. Sich kritisch damit auseinanderzusetzen und sich selbständig neue Wissensbereiche zu erarbeiten, sind sie hingegen in der Regel nicht gewohnt.21 Der universitäre Lehr- und Lernstil ist eng mit der Konzeption von Forschung und Lehre verknüpft. Akademische Kulturen, in denen Forschung und Lehre getrennt sind und Studierende vornehmlich als Wissensrezipierende angesehen werden, sind eher einem Stil des monologisch präsentierenden Lehrens verpflichtet, bei dem der Dozent die zentrale Wissensquelle für die Studierenden darstellt. Die Verknüpfung von Forschung und Lehre und das Ziel, Studierende möglichst frühzeitig in Forschungsfragen zu involvieren, hat hingegen einen Lehr- und Lernstil zur Folge, der von Bettina Wiesmann als Typ des diskursiv entwickelnden Lernens bezeichnet wird (vgl. Wiesmann 2001). 20 | Als Beispiel sei auf die französische Hochschullandschaft verwiesen, wo Forschung und Lehre institutionell getrennt sind. Universitäten und Grandes Ecoles fungieren ausschließlich als höhere Lehranstalten, während die Forschung hauptsächlich an gesonderten Forschungsinstitutionen (Akademien, Centres de Recherche etc.) betrieben wird. 21 | Zu Problemen asiatischer, osteuropäischer und arabischer Studierender an deutschen Hochschulen, vgl. v. Queis 2009.

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Bei dieser Form des Lehrens und Lernens steht die Interaktion zwischen den Dozenten und den Studierenden im Vordergrund. Die Studierenden werden aufgefordert, Fragen zu stellen und sich in den wissenschaftlichen Praktiken des Kritisierens, Begründens, Bewertens, Einwendens, Illustrierens etc. zu erproben. Es geht dabei nicht nur, und noch nicht einmal vorrangig, um den fachlichen Wissenszuwachs der Studierenden, sondern vor allem um seine Persönlichkeitsentwicklung und die Ausbildung einer wissenschaftlichen Lernkompetenz. Selbständigkeit und Kritikfähigkeit sind die Bildungsziele dieses Lehr- und Lernstils, während bei der Methode des monologisch präsentierenden Lehrens und rezipierenden Lernens die Aneignung eines umfangreichen fachlichen Wissens Priorität hat.22 Die Leistungsanforderungen, die in den verschiedenen Lehr- und Lernkulturen gestellt werden und die Art der Leistungsnachweise, die zu erbringen sind, entsprechen den jeweiligen Lernzielen und spiegeln die differenten Bildungskonzeptionen wieder, wobei es sich nicht nur um nationalstaatliche Differenzen handelt, sondern auch um supranationale fachspezifische Lehr- und Lernkonzepte. Ein weitgehend kanonisiertes Wissen, das von den Studierenden beherrscht werden soll und in Form von Leistungsüberprüfungen regelmäßig abgefragt wird, auf der einen Seite und auf der anderen Seite die problemorientierte und exemplarische Verarbeitung des Wissens, die im Rahmen individueller Arbeiten zu einem vorgegebenen Thema übergeprüft wird. Allerdings ist anzumerken, dass die hier geschilderten Gegensätze zwischen den verschiedenen Lehr- und Lernstilen sich im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung der Hochschulen immer mehr angleichen und davon auszugehen ist, dass sich gerade im Bereich der Leistungsüberprüfung, zumindest im europäischen Bildungsraum, vergleichbare Formate herauskristallisieren werden (vgl. Otten 2006: 235). Die Beziehungen zwischen Dozenten und Studierenden sind einerseits durch die Rollenfunktionen des Lehrer-Lerner-Verhältnisses festgelegt. Andererseits sind sie von dem individuellen Rollenverständnis der Akteure abhängig.23 Während sich die Rollenfunktionen aus dem Lehr- und Lernstil der jeweiligen Akademischen Kultur ergeben, findet man beim Rollenverständnis eine große Bandbreite von individuellen Variationen, in die auch politische und soziale Überzeugungen mit eingehen. Dabei spielt die Frage der Hierarchie und des Machtgefälles zwischen Dozenten und Studierenden eine zentrale Rolle. Sie wird in Akademischen Kulturen mit einem monologisch präsentierenden 22 | Zu kulturellen Unterschieden im Lehr- und Lernstil vgl. auch Nikitopoulos/Utler 2011: 260ff. 23 | Zu den Akteuren in Studiengängen zur »Interkulturellen Kommunikation« vgl. Weidemann/Nothnagel 2010 und zu den Beziehungen zwischen Studierenden und Dozenten vgl. Nikitopoulos/Utler 2011: 257ff.

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Lehrstil eher im Sinne einer funktionalen Hierarchie verstanden, bei der dem Dozenten als wissenschaftlicher Autorität Respekt entgegen gebracht wird und zwischen Lehrenden und Studierenden eine natürliche Distanz besteht. Wenn hingegen, wie oben beschrieben, die Studierenden von den Dozenten potenziell als ernst zu nehmende Kommunikationspartner im fachlichen Bereich angesehen werden, ändern sich auch die Rollenfunktionen und das interaktive Verhalten der Akteure, was in der Regel zu einer Minimierung der Distanz führt. Dass über die konkrete Ausgestaltung einer Rolle letztendlich aber das individuelle Rollenverständnis der Dozenten und Studierenden entscheidet, ist selbstverständlich. Ebenso ist der Einfluss gesellschaftlicher Strömungen und politischer Konstellationen von Bedeutung. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass die antiautoritäre Protestbewegung der 1968er Jahre die Beziehungen zwischen den Studierenden und Dozenten an europäischen Hochschulen nachhaltig verändert und erheblich zu einem Abbau hierarchischer Strukturen beigetragen hat. Die Kontaktmöglichkeiten zwischen Studierenden und Dozenten sind an deutschen Universitäten in Form von Sprechstunden institutionalisiert. Die Studierenden können die Dozenten im Rahmen ihrer Sprechstunden aufsuchen und sich in fachlichen Fragen, insbesondere im Zusammenhang mit Leistungsnachweisen und Prüfungen, beraten lassen. Außerhalb der Sprechstunden sind die Beratungsgelegenheiten allerdings aufgrund der vielfältigen Verpflichtungen der Dozenten relativ eingeschränkt. Außerdem beschränkt sich der Zuständigkeitsbereich der Dozenten auf fachliche und methodische Fragen, während für organisatorische Probleme der Studienplanung spezifische Beratungsstellen zuständig sind. Für ausländische Studierende stellt die Kommunikation mit Dozenten häufig einen besonders sensiblen Bereich dar, da er ihr studentisches Rollenverständnis und ihre Höflichkeitsroutinen berührt. Aus Unsicherheit meiden viele deshalb den Kontakt und gehen nicht in die Sprechstunden, was negative Auswirkungen auf ihren Studienverlauf haben kann. Andere haben Probleme mit der organisierten Form der Kontaktaufnahme mit Dozenten in Form von Sprechstunden oder missverstehen deren Funktion. Zusammenfassend lassen sich bei den Akademischen Kulturen zwei strukturelle Prototypen erkennen, die sich in der Realität zwar vielfach vermischen und sich im Zuge der Internationalisierung immer mehr angleichen, dabei aber doch als differente Grundmuster erkennbar bleiben: die Kultur einer diskursiven und interaktiven Wissensaneignung und Wissensinnovation einerseits und die Kultur einer monologisch präsentierenden Wissensvermittlung andererseits (vgl. Wiesmann 2001, Ehlich 2002). Der diskursive und interaktive Wissenschaftsstil kann folgendermaßen beschrieben werden:

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Tab. 1: Diskursive und interaktive Wissensvermittlung (Schumann 2011: 619) Strukturprinzipien von Wissensgene- Auswirkungen auf den Lehr- und rierung und Wissensvermittlung Lernstil und die Kommunikation Verbindung von Forschung und Lehre: diskursive und interaktive Wissensvermittlung

Interaktion in den Seminaren, Forderung nach Kritikfähigkeit und selbständiger Wissensaneignung

Seminardiskussionen, Dozenten und Verarbeitung des Wissens und Wissensinnovation unter Beteiligung der Studierende als Diskussionspartner, Abbau der hierarchischen Distanz Studierenden, reflektiertes Lernen Entwicklung neuen Wissens auf der Grundlage des Bekannten, kritische Auseinandersetzung mit den Wissensbeständen

Aufarbeitung des Wissensstandes, Bearbeitung von Quellen- und Sekundärliteratur (Zitiertechniken), Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen Ansätzen

Variabler Wissenskanon, hohe Theorie- und Methodenorientierung

Problemorientierte und exemplarische Verarbeitung des Wissens

Der Typ der monologisch präsentierenden Wissensvermittlung und rezeptiven Wissensaneignung ist durch folgende Strukturprinzipien und Arbeitsformen gekennzeichnet: Tab. 2: Monologisch präsentierende Wissensvermittlung (Schumann 2011: 619) Strukturprinzipien der Wissensgene- Auswirkungen auf den Lehr- und rierung und Wissensvermittlung Lernstil und die Kommunikation Trennung von Forschung und Lehre: Sukzessive Trennung (Grund- und Aufbaustudium) oder institutionelle Trennung (Lehrinstitute/Forschungsinstitute)

Verschulung des Grundstudiums, Präsentation des Fachwissens durch Dozenten, rezeptive Wissensaneignung

Dozent als zentrale Wissensquelle, Rezipieren und Memorisieren des Wissens durch die Studierenden

Bevorzugung von Frontalunterricht, hierarchisches Gefälle zwischen Dozenten und Studierenden

Kanonisiertes Wissen als fester Wissensbestand in der Lehre, Entwicklung neuen Wissens in speziellen Forschungsinstitutionen

Einheitliche Lehrwerke, einheitliches Curriculum (Jahrgänge), keine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Theorien

Klare Trennung von Wissensaneignung und Auseinandersetzung mit fachlichen Wissensbeständen

Priorität von Wissensaneignung im Studium, kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Theorien hauptsächlich in Forschungsinstituten

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Die Studierenden werden durch ihre spezifischen Fächerkulturen und ihre nationalen Bildungskulturen in einen Wissenschaftsstil hineinsozialisiert, der in der Regel eher dem einen oder eher dem anderen Typus zuneigt und die Lerngewohnheiten, Erkenntnisziele und Kommunikationsgewohnheiten nachhaltig prägt. Sich von einer Akademischen Kultur, in der beispielsweise ein monologisch präsentierender Lehr- und Lernstil vorherrscht, wie in den meisten Fächern an asiatischen oder osteuropäischen Hochschulen üblich (vgl. Queis 2009), an eine Form der diskursiv-interaktiven Wissensvermittlung zu gewöhnen, wie er an deutschen Hochschulen besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften gepflegt wird, stellt eine große Herausforderung dar. Die Studierenden müssen sich von vertrauten Lernmethoden und Arbeitsformen auf ihnen unbekannte Verfahren des Wissenserwerbs umstellen, deren Sinnhaftigkeit und Zweckmäßigkeit ihnen häufig nicht unmittelbar einleuchtet und denen sie deshalb eher skeptisch gegenüber stehen. Die Studienprobleme, die sich aus den oben geschilderten differenten Lehr-, Lern- und Wissenschaftsstilen für ausländische Studierende ergeben und die Kommunikationssituationen, die sich bei verschiedenen empirischen Untersuchungen der vergangenen Jahre als besonders konfliktanfällig herausgestellt haben (vgl. Casper-Hehne 2004, Mehlhorn 2005, Schumann 2008b, Leenen/ Groß 2007) betreffen insbesondere die folgenden Bereiche: •





• •

Rollenerwartungen an Dozenten: Lehrstile und Lehrmethoden, Sprechstunden- und E-Mail-Kommunikation, Betreuung und Bewertung von Leistungsnachweisen, Leistungsanforderungen; Rollenverständnis der Studierenden: Lernstile und Lernmethoden, Kontaktaufnahme mit Dozenten, Formen der Leistungsnachweise, Kommunikation unter Studierenden; Diskursstrategien und Diskursstile in Seminaren: Unterrichts- und Sozialformen in Lehrveranstaltungen, Verhaltenserwartungen an Dozenten und Studierende; Studentische Gruppenidentität: Verhaltenserwartungen an Kommilitonen, Kontaktaufnahme und Kontaktpflege mit deutschen Studierenden; Studienorganisation: Studienplanung und Zusammenstellung des Stundenplans, Zusammensetzung der Kursgruppen, Beratungsangebote.

Interkulturelle Missverständnisse, die aus diesen Problemen entstehen können, führen zu Frustrationen und Motivationsverlust und sind auch mit dafür verantwortlich, dass die Studienabschlussquote bei ausländischen Studierenden

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niedriger ist als bei deutschen Studierenden.24 Bei ihrer Untersuchung zu den Studienabbruchsquoten an deutschen Hochschulen kommen Ulrich Heublein und seine Mitarbeiter zu dem Ergebnis, dass bei internationalen Studierenden vor allem unzureichende Deutschkenntnisse und mangelndes Vorwissen über die Studienbedingungen und Studienstrukturen in Deutschland zum Studienabbruch führen. Die Fähigkeit, das Studium eigenständig zu gestalten, halten sie für die wichtigste Voraussetzung für ein erfolgreiches Studium in Deutschland (vgl. Heublein/Schmelzer/Sommer/Wanke 2008). Die internationalen Studierenden selbst bezeichnen bei der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes (BMBF 2010) die Orientierung im Studiensystem, die Finanzierung des Studiums und den Kontakt mit deutschen Studierenden als ihre größten Schwierigkeiten, während die Verständigung in deutscher Sprache als weniger problematisch empfunden wird.

3. M ASSNAHMEN UND M E THODEN ZUR E NT WICKLUNG STUDIUMSBE ZOGENER INTERKULTURELLER K OMPE TENZEN Das Bewusstsein, dass die Entwicklung interkultureller Kompetenzen bei allen Akteuren der universitären Kommunikation, deutschen und ausländischen Studierenden sowie Dozenten, zu einer besseren Integration der internationalen Studierenden beitragen kann, hat dazu geführt, dass in den vergangenen Jahren eine Fülle von studiumsbezogenen interkulturellen Integrationsprogrammen entwickelt wurde. Dabei sind vor allem fächerübergreifende Angebote zur interkulturellen Kommunikation entstanden, die von den Sprachenoder Kompetenzzentren der Hochschulen für Studierende aller Fachbereiche bzw. von hochschuldidaktischen Zentren für Dozenten aller Fachrichtungen veranstaltet werden. Interkulturelle Kurse für Hörer aller Fachbereiche werden auch im Rahmen der bereits erwähnten Studiengänge zur interkulturellen Kommunikation durchgeführt oder von internationalen Servicecentern und Betreuungsprojekten, die im Rahmen der PROFIS- und PROFIN-Programme des DAAD entstanden sind und häufig in Akademischen Auslandsämtern angesiedelt wurden.25 Das im Jahr 2009 vom DAAD initiierte PROFIN-Programm zur »Förderung der Integration ausländischer Studierender« hat bisher in zwei För24 | Für deutsche Studierende liegt die Studienabschlussquote zur Zeit bei ca. 80 %, bei ausländischen Studierenden bei ca. 75 %, vgl. DAAD/HIS 2011; Heublein/Schmelzer/Sommer/Wank 2008. 25 | PROFIS = Programm zur Förderung der Internationalisierung an den deutschen Hochschulen 2004-2008; PROFIN = Programm zur Förderung der Integration ausländischer Studierender 2009-2012; zu den verschiedenen Projekten des Programms vgl. www.daad.de/hochschule/betreuung/profin/09239.de.html. Detaillierte Darstel-

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derphasen 132 universitäre Integrationsprogramme in ganz Deutschland unterstützt und mit regelmäßigen Tagungen und Workshops dafür gesorgt, dass zwischen den Hochschulen ein reger Austausch über Methoden und Verfahren der Integration ausländischer Studierender entstand. Dabei umfasst das PROFINProgramm alle Bereiche der interkulturellen Kommunikation im Studium: • • •

• •

Verbesserung der Integration internationaler Studierender in die Fachbereiche vor und während des Studiums Verbesserung der Integration internationaler Studierender in das Campusleben und in die Gesellschaft Aktive Mitwirkung der deutschen Studierenden und der Studierenden mit Migrationshintergrund bei der Integration ihrer ausländischen Kommilitonen Internationalisierung der Lehre Training interkultureller Kompetenzen. (BMBF/DAAD 2010: 8)

Neben einer Reihe verschiedener Betreuungsverfahren, Mentorenprogramme und Orientierungsangebote konnten sich insbesondere Methoden des interkulturellen Trainings durchsetzen. Sie haben den Vorteil, dass sie flexibel in andere Formen universitärer Vermittlungsverfahren wie Seminare und Workshops eingefügt werden können und sich sowohl intra-curricular in bestehende Studiengänge einpassen als auch in Form von extra-curricularen Zusatzveranstaltungen organisieren lassen. Dabei wurden in Anlehnung an klassische Trainingsverfahren eine Reihe von hochschulspezifischen Konzepten entwickelt (vgl. Kinast 2003, Vogler-Lipp 2010, Bosse 2010, Rathje 2010), die den von Stefanie Rathje aufgestellten Kriterien für ein effektives Training zur Entwicklung interkultureller Kompetenzen an Hochschulen entsprechen: • • • •

Komplexität: Das Lernziel ist vielschichtig. Aktivität: Die Studierenden müssen selbst handelnd tätig werden. Systematik: Die einzelnen Aktivitäten sind aufeinander sowie auf das Lernziel abgestimmt. Realitätsbezug: Die Aktivitäten wirken erfahrungsbildend in Bezug auf konkrete Anwendungssituationen. (Rathje 2010: 217)

Wir haben in unserem Projekt zur Erforschung und Förderung interkultureller Kompetenzen in der Hochschule auf die Critical-Incident-Methode, ein auf der Analyse interkultureller Missverständnisse beruhendes Konzept, zurückgegriffen, die seit vielen Jahren in interkulturellen Trainingsprogrammen eingesetzt lungen einzelner Projekte findet man auch bei Otten/Scheitza/Cnyrim 2007, Eß 2010, BMBF/DAAD 2010, BMBF/DAAD 2011, Bosse/Kreß/Schlickau 2011.

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wird und sozialpsychologischen Forschungsansätzen entstammt. Die Methode wurde in den 1950er Jahren in den USA als ein Verfahren entwickelt, komplexe menschliche Verhaltensweisen im Umgang mit Maschinen in Einzelfallstudien zu analysieren (vgl. Flanagan 1954). Danach wurde das Verfahren auf die menschliche Interaktion übertragen und zur Konzeption von interkulturellen Trainingsprogrammen für die Vorbereitung von Auslandseinsätzen von Politikern, Diplomaten und Geschäftsleuten genutzt (vgl. Grosch/Groß 2005: 232ff, Heringer 2004: 222ff.). In Deutschland war es der Sozialpsychologe Alexander Thomas, der die Critical-Incident-Methode für die Untersuchung interkultureller Kommunikationsprozesse entdeckte, sie in seine kulturtheoretischen Forschungen integrierte und Trainingsprogramme für die Wirtschaft entwickelte, bei denen Critical Incidents als Ausgangspunkt für kulturkontrastive Analysen dienen und Missverständnisse als Ausdruck divergierender Kulturstandards interpretiert werden (vgl. Thomas 1991). Dabei übernahm Alexander Thomas die auf Konzepten des programmierten Lernens und des Multiple-Choice-Verfahrens basierende Culture-Assimilator-Technik (vgl. Grosch/Groß 2005) und schuf ein strukturiertes Trainingsmodell, das eine kultur- und kontextspezifische Ausrichtung besitzt und mittlerweile für mehr als 30 Länder in Selbststudienprogramme für Fach- und Führungskräfte zur Entwicklung von Handlungskompetenz im Ausland umgesetzt wurde.26 Im Rahmen hochschulspezifischer Trainingsmodule zur Förderung interkultureller Kompetenzen konnte sich das Verfahren des Culture-Assimilators jedoch nicht durchsetzen, weil es als zu eindimensional und anfällig für Stereotypisierungen angesehen wird und auch der Komplexität interkultureller Kommunikationssituationen nicht angemessen erscheint.27 Hinzu kommt, dass das Trainingsprogramm des Culture-Assimilators bislang ausschließlich in wirtschaftlichen oder politischen Kontexten eingesetzt wurde. Für die hochschulspezifische Kommunikation wurden deshalb neue Trainingsmethoden entwickelt, die zwar meistens auch mit Critical Incidents bzw. längeren Fallbeispielen arbeiten, dabei aber auf konstruktivistischen Lehr- und Lernkonzepten beruhen, bei denen die Selbstreflexion und die aktive Konstruktion von Bedeutungen eine zentrale Rolle spielen und der Zusammenhang von kollektiven und individuellen Verhaltensaspekten in die Analyse einbezogen wird. Besonders bekannt geworden ist das Modell der Intercultural Anchored Inquiry (IAI), das Stefan Kammhuber auf der Grundlage eines amerikanischen Lernkonzeptes von Bransford, Brown und Cocking entwickelt hat (vgl. Kammhuber 2000 und 2010). Dabei wird der Critical Incident als Ausgangpunkt für einen Reflexionsprozess eingesetzt, bei dem über die Generierung und Diskussion verschiede26 | Die Selbststudienprogramme sind in der Reihe »Beruflich in« bei Vandenhoeck & Ruprecht/Göttingen erschienen. 27 | Zur Kritik am Culture-Assimilator vgl. Grosch/Groß 2005, Otten 2011.

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ner Interpretationsperspektiven und der Entwicklung multipler Handlungsperspektiven eine interkulturelle Einordnung oder »Metakontextualisierung« des Missverständnisses erfolgt. Erwähnt werden soll in diesem Zusammenhang auch das Trainingsmodell von Elke Bosse, das mit verschiedenen Perspektiven von kultureller Vielfalt, Diversity, arbeitet. Nach einer Erkundung personenbezogener Vielfalt in Form interkultureller Biografien werden anhand von schriftlichen Critical Incidents Aspekte institutioneller und gesellschaftlicher Vielfalt bearbeitet. Daran schließt sich die Analyse gefilmter Critical Incidents zur Erfassung von kommunikativer Vielfalt an (vgl. Bosse 2010). Durch die explizite Einbeziehung biografischer Daten und subjektiver Erfahrungen kann mit diesem Modell ein hohes Maß an Lernerorientierung erreicht werden. Für die Arbeit mit Critical Incidents wurden aber auch verschiedene mediale Formate entwickelt, die geeignet erscheinen, die Konfliktsituation möglichst anschaulich und authentisch darzustellen. Neben der klassischen narrativen Fallbeschreibung in Form eines schriftlichen Textes sind das vor allem Filmsequenzen mit in Szene gesetzten Critical Incidents, Rollenspiele und Simulationen auf der Grundlage von authentischen Fällen oder Gesprächsanalysen von transkribierten Gesprächsmitschnitten.28 Aus didaktisch-methodischer Sicht lassen sich für jedes der Formate Vor- und Nachteile feststellen. Filmsequenzen sind zweifellos besonders anschaulich und dazu geeignet, die Komplexität interkultureller Kommunikationssituationen wiederzugeben. Ihre Vorteile können mit Anschaulichkeit, Realitätsnähe, Informationsdichte und Multiperspektivität beschrieben werden. Dabei kann sich aber, wie Harald Grosch und Andreas Groß kritisch anmerken, die hohe Komplexität des Mediums auch als Nachteil erweisen, wenn die filmische Umsetzung z.B. zu viele Informationen transportiert, die vom zentralen Lerngegenstand ablenken oder die Rezipienten überfordern (Grosch/Groß 2005: 259f.). Für die Analyse von Filmsequenzen bedarf es außerdem einiger Grundfertigkeiten im Umgang mit dem Medium: Grundkenntnisse der Bildsprache und der Verfahren des visuellen Dekodierens. Diese Fertigkeiten können in der Regel nicht vorausgesetzt werden und müssen zunächst erworben werden. Wenn man dennoch gefilmte Critical Incidents einsetzen will, dann eignen sie sich insbesondere als Einstieg in das Training, weil sie motivieren und Neugier wecken. Dabei sind solche Filmsequenzen von erhöhtem Interesse, die Kontroversen auslösen und Fragen aufwerfen, die im Verlauf des Trainings geklärt werden können. Allerdings gibt es bislang nur wenige interkulturelle Übungsfilme, die im Hochschulkontext angesiedelt sind und durch ihre professionelle Qualität den ästhetischen Seh28 | Zu weiteren Verfahren der Arbeit mit Critical Incidents vgl. den Beitrag von Katharina Moll in diesem Band. Eine Übersicht über die verschiedenen Formate von Critical Incidents und eine Bewertung ihrer Vor- und Nachteile liefern Harald Grosch und Andreas Groß, vgl. Grosch/Groß 2005.

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gewohnheiten der Lerner entsprechen. Die Produktion von entsprechenden Filmen im Rahmen von interkulturellen Seminaren oder Projekten, wie sie z.B. an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder durchgeführt wurde, ist technisch sehr aufwändig und bedarf nicht nur einer entsprechenden Ausrüstung, sondern auch einschlägiger Kompetenzen auf Seiten der Trainingsleitung. Rollenspiele und Simulationen dienen der Aktivierung der Lerner und können dazu beitragen, die affektiven Aspekte einer kritischen Interaktionssituation besonders ins Bewusstsein zu heben. Sie vermitteln, wie Harald Grosch und Andreas Groß betonen, Einsichten in die Wirkung eines bestimmten Rollenverhaltens auf die Kommunikationspartner sowie Erkenntnisse über das eigene Reaktionsverhalten (Grosch/Groß 2005: 251f.). Bei der von Michael Becker-Mrotzek und Gisela Brünner entwickelten Simulationsmethode SAF (Simulation authentischer Fälle) sollen mithilfe von so genannten »rekonstruierten Problemstrukturen« (Becker-Mrotzek/Brünner 1999), bei denen authentische Fälle kritischer Interaktionen nachgespielt werden, automatisierte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster de-automatisiert und Reflexionsprozesse angestoßen werden.29 Allerdings bedürfen Rollenspiele und Simulationen der Vermittlung eines kontextspezifischen Handlungswissens, d.h. einer sehr genauen Situationsanalyse und detaillierter Rollenanweisungen, und sind deshalb in aller Regel sehr zeitintensiv. Innerhalb eines interkulturellen Trainings sind verschiedene Einsatzmöglichkeiten denkbar. So kann man beispielsweise zu Beginn der Trainingseinheit auf der Grundlage eines authentischen Critical Incidents die Situation und die beteiligten Personen mit ihren spezifischen Rollen vorgeben und die Trainingsteilnehmer auffordern, die Interaktion zu gestalten. Oder man kann umgekehrt nach der Besprechung und Analyse eines Critical Incidents die Situation nachspielen lassen und die Spieler auffordern, verschiedene Handlungsstrategien zur Überwindung des Missverständnisses zu entwickeln. Gesprächsanalysen erlauben die intensive Auseinandersetzung mit den verbalen und nonverbalen Aspekten von Critical Incidents, die in der Mehrzahl der vorwiegend auf psychologisch-pädagogischen Erkenntnissen aufbauenden Trainingsprogramme in der Regel vernachlässigt werden. Bernd Müller-Jacquier fordert die stärkere Berücksichtigung der sprachlichen Aspekte misslingender Kommunikation mithilfe einer genauen Analyse der konkreten Äußerungshandlungen. Sein Trainingskonzept Linguistic Awareness of Cultures (LAC) basiert auf Gesprächsmitschnitten von kritischen Interaktionssituationen und arbeitet mit der Erfassung und Analyse kulturell markierter sprachlicher Phänomene wie der sozialen Bedeutung lexikalischer Begriffe, Sprechhandlungen, Gesprächsstile, Gesprächsthemen, Gesprächsorganisationen, Register, para29 | Zur Beschreibung und Diskussion des SAF-Verfahrens vgl. Lambertini/ten Thije 2004.

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verbalen Faktoren, nonverbalen Faktoren und kulturspezifischen Einstellungen oder Handlungen (Müller-Jacquier 2000a).30 Die Vorteile dieser Methode liegen in der hohen Authentizität der Materialien und der Fokussierung auf den kommunikativen Ablauf der Interaktion. Jan ten Thije schreibt zur Methode der Gesprächsanalyse: »Die Diskursanalyse bietet einen inspirierenden Ausgangspunkt für die Analyse interkultureller Kommunikation, sowohl bezüglich ihrer Methode als auch ihrer theoretischen Grundlage. Mithilfe der Diskursanalyse rekonstruiert man, was tatsächlich in interkulturellen Situationen abläuft. Dadurch ist man nicht auf abgeleitete Quellen, wie persönliche Berichte, Erzählungen, Interviewbefragungen oder Rollenspiele angewiesen. Die Mehrdeutigkeit in der Interaktion – ein wesentliches Merkmal in der interkulturellen Kommunikation – kann mittels der Diskursanalyse in ihren besonderen Prägungen erfasst werden.« (ten Tije 2001: 178f.)

Allerdings liegen bisher nur vereinzelt Gesprächsmitschnitte von universitären Seminaren, Sprechstundengesprächen oder Arbeitsgruppenbesprechungen veröffentlicht vor,31 und meist sind die Situationen so fachspezifisch, dass sie nicht in jedem Trainingskontext verwendet werden können. Auch für dieses Format gilt, dass die Erstellung eigener Materialien sehr aufwändig ist und der Einsatz bereits vorhandener Gesprächsmitschnitte an einem Mangel an zugänglichen hochschulspezifischen Materialien leidet. Critical Incidents in Form von schriftlichen, narrativen Fallbeispielen sind zweifellos am einfachsten zu beschaffen und zu handhaben. Sie sind darüber hinaus flexibel einsetzbar und erfordern keine spezifischen technischen Kompetenzen. Wir haben uns bei dem MUMIS-Projekt deshalb und aus weiteren Gründen, die in den folgenden Beiträgen dieses Bandes noch ausführlich dargestellt werden, für dieses Format der Sammlung und Didaktisierung von Critical Incidents entschieden. Es gewährleistet, dass sowohl die Erhebung als auch die Auswertung der Critical Incidents nach einer entsprechenden Anleitung auch von Studierenden durchgeführt werden können, was nicht nur für zahlreiche Kontakte zwischen deutschen und internationalen Studierenden sorgt, sondern auch bei allen Beteiligten erheblich zur Förderung von kulturellen Bewusstseinsprozessen beiträgt.32 Unsere Arbeit mit Critical Incidents soll 30 | Auf der Grundlage des LAC-Konzeptes wurden 13 Lehrfilme zur Wirtschaftkommunikation produziert, vgl. Müller-Jacquier 2000b. 31 | Veröffentlichte Gesprächsmitschnitte von hochschulspezifischen Kommunikationssituationen sind u.a. zu finden bei Wiesmann 1999, Caspar-Hehne 2004 und 2010, Knapp 2009. 32 | Zur Funktion der Erhebung und Auswertung von Critical Incidents durch Studierende vgl. den Beitrag von Sonja Schöning in diesem Band.

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in den folgenden vier Beiträgen dieses Bandes aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden: •

• • •

die theoretischen Grundlagen des Konzeptes, insbesondere die Doppelfunktion der Critical Incidents als Forschungsinstrument und als Trainingsgrundlage (Adelheid Schumann); die Verfahren der Erhebung, Evaluation und Didaktisierung von Critical Incidents (Eva-Maria Hennig); die didaktischen Möglichkeiten der Arbeit mit Critical Incidents in Trainingsmodulen zum Erwerb interkultureller Kompetenz (Katharina Moll); die Einbettung und Funktion der Arbeit mit Critical Incidents im Rahmen von Seminaren zur interkulturellen Kommunikation (Sonja Schöning).

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Critical Incidents als Forschungsinstrument und als Trainingsgrundlage Adelheid Schumann

1. C RITICAL I NCIDENTS IN

DER INTERKULTURELLEN

K OMMUNIK ATION

Als Critical Incidents werden Konfliktsituationen und Missverständnisse in der interkulturellen Kommunikation bezeichnet, bei denen kulturbedingte Differenzen der Wahrnehmung, des Verhaltens oder des Bewertens Irritationen auslösen, die zu einer Störung der Interaktion führen.1 Dabei lässt sich aus der Art der Irritation meist darauf schließen, welche kulturellen Deutungsdifferenzen das Missverständnis ausgelöst haben oder welche Normalitätserwartungen bei den Kommunikationspartnern verletzt wurden. Bereits in den 1960er Jahren wurden Critical Incidents von amerikanischen Wissenschaftlern als bedeutsame Untersuchungsgegenstände für die interkulturelle Forschung entdeckt und als Fallstudien menschlichen Verhaltens in der interpersonellen Interaktion zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen beschrieben.2 In Form der so genannten Critical-Incident-Technique wurden Critical Incidents in interkulturelle Trainingsprogramme integriert und dazu genutzt, bei den Trainingsteilnehmern kulturelle Bewusstseinsprozesse anzustoßen, soziokulturelle Hintergründe aufzudecken und Handlungsstrategien für Konflikte in Überschneidungssituationen zu entwickeln (vgl. Wight 1995: 128, Grosch/Groß 2005: 237). Alexander Thomas führte die Critical-Incident-Methode in die deutsche Interkulturalitätsforschung ein und übersetzte dabei den Begriff des »Critical Incident« in »kritisches Ereignis« oder »kritische Interaktionssituation« 1 | Zur Definition von Critical Incidents vgl. Flanagan 1954, Thomas 1993, Wight 1995, Benett 1995, Heringer 2004, Grosch/Groß 2005, Layes 2007, Hiller 2009, Utler/Thomas 2010. 2 | Zur Geschichte, Erhebung und Verwendung von Critical Incidents im interkulturellern Training vgl. auch die Beiträge von Katharina Moll und Eva-Maria Hennig, sowie den Beitrag (1) von Adelheid Schumann in diesem Band.

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(vgl. Layes 2007). Im Kontext dieser Forschung bezeichnen Critical Incidents kurze, auf das Missverständnis verdichtete Erzählungen aus der Sicht des beteiligten Interaktionspartners, für den der Vorfall ein irritierendes persönliches Erlebnis darstellt. Sie enthalten eine knappe Schilderung des kommunikativen Konfliktes, eine Präsentation der Interaktionspartner sowie die Darstellung des Missverständnisses mit Hinweisen auf die dadurch ausgelöste Irritation. Von anderen Textsorten, die ebenfalls kulturelle Überschneidungssituationen und Missverständnisse darstellen, wie z.B. ausführliche Fallbeispiele (vgl. Da Silva 2010) oder Gesprächstranskripte (vgl. ten Thije 2001) unterscheiden sich Critical Incidents durch ihre Kürze und die Reduktion auf das »kritische Ereignis«. Alexander Thomas charakterisiert sie folgendermaßen: » • Sie sind alltäglich, oft wiederkehrend, authentisch und damit typisch für Interaktionen von Personen aus den beiden beteiligten Kulturen; • Sie sind für die Interaktionspartner relevant; • Sie verlaufen nicht erwartensgemäß (negativ/positiv), sondern werden als überraschend, unverständlich bis hin zu konflikthaft erlebt; • Sie sind anfällig für Fehlinterpretationen, jedoch (eindeutig) erklärbar, wenn das entsprechende kulturelle Hintergrundwissen vorhanden ist.« (Utler/Thomas 2010: 318)

Der Vorteil von Critical Incidents als Erhebungsinstrument von kulturellen Differenzerfahrungen besteht in ihrer Orientierung auf die individuelle Perspektivierung des Konfliktes und auf die Kontextspezifik der Interaktion, d.h. es geht um Konflikte, die als individuelle Normverstöße im Kontext eines spezifischen Handlungsfeldes erlebt werden. Dabei geht der Betroffene in der Regel von seinen Verhaltenserwartungen aus und bewertet auf dieser Basis den Vorfall. Auf diese Weise gewährt er introspektive Einblicke in die Zusammenhänge seiner Wahrnehmung, Deutung und Wertung und stellt die Interaktion in einen Sinnzusammenhang, der seinen kulturellen Vorstellungen entspricht. Dabei trägt der Prozess des Erzählens, das narrative Fixieren der irritierenden Erfahrung, wesentlich dazu bei, dass das Erlebnis als abweichend von den eigenen Erwartungen dargestellt wird und dass das auslösende Moment des Missverständnisses erkannt werden kann. In der Regel enthält jeder Critical Incident sowohl narrative Passagen mit der Darstellung der Kommunikationssituation, die als missverständlich oder konfliktreich erlebt wurde, als auch selbstreflexive Passagen, in denen das Erleben kommentiert wird und die eigenen Empfindungen wiedergegeben werden, sowie analytische Passagen mit Erklärungsansätzen und subjektiven Theorien zum Verhalten der Interaktionspartner (vgl. Schumann 2008a: 83). Die Narration des Critical Incidents fördert also einerseits Differenzkonstruktionen, andererseits führt sie zu Bewusstseins- und Refle-

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xionsprozessen und ermöglicht, dass das Erleben von der affektiven Ebene der Emotionen auf eine kognitive Ebene der Reflexion gehoben wird. Als besonders aufschlussreich für die Bewertung der Erfahrungsdimension des Critical Incidents ist dabei die Wahl der sozialen Kontextualisierung anzusehen. Grundsätzlich sind bei einem Missverständnis drei Dimensionen zu unterscheiden (vgl. Schumann 2008b): •





In jeder Kommunikation geht es um Verstehens- und Verständigungsprozesse, d.h. das Verstehen von Informationen, aber auch von Intentionen und Interessen, Befindlichkeiten und Einstellungen und das sich darüber Verständigen; Gleichzeitig geht es in jeder Kommunikation um einen Beziehungsaufbau, die verbale oder nonverbale Kontaktaufnahme mit dem Interaktionspartner und die Entwicklung eines gemeinsamen Begegnungsraums; Schließlich geht es um Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung, d.h. um das Bemühen, die eigene Person mit ihren spezifischen Wertvorstellungen einzubringen und sich Gehör und Respekt zu verschaffen.

In der Interaktionsforschung wird diese dritte Dimension auch als »historische« Dimension der handlungsleitenden Konzepte der Akteure beschrieben (vgl. Layes 2007: 387). Es handelt sich dabei um die Ebene, auf der kulturelle Wertorientierungen wie Ehre, Würde, Respekt etc. wirksam werden und auf der es um Gesichtswahrung geht. Die Gewichtung dieser Dimensionen innerhalb der Kommunikation ist kulturell unterschiedlich ausgeprägt. Während in der Kommunikation unter Deutschen in der Regel der Verstehensprozess eine dominante Rolle spielt und der Beziehungsaufbau nachgeordnet ist, ist in romanischen Kulturen die umgekehrte Gewichtung üblich: der Beziehungsaufbau ist vorrangig und der Verständigungsprozess nachgeordnet. Die Ebene der Selbstbewahrung und Selbstvergewisserung spielt hingegen besonders in asiatischen Kulturen eine herausragende Rolle in der Kommunikation und ist in Form von gesichtsgebenden und gesichtswahrenden Handlungen mit dem Aufbau von gegenseitigem Vertrauen verbunden (vgl. Matthes 1991). Die soziale Kontextualisierung eines Missverständnisses ist also häufig als Hinweis auf tief liegende kulturelle Wertvorstellungen und Deutungsmustern zu verstehen und bietet Ansätze zum Verständnis und zur Lösung des Konfliktes. Bei der Untersuchung von Integrations- und Orientierungsproblemen internationaler Studierender an deutschen Hochschulen geht es um Missverständnisse in einem sehr spezifischen und genau definierten Handlungskontext, der seinen eigenen Gesetzen gehorcht und kontextspezifische Verhaltensweisen er-

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fordert.3 Dabei sind die sozialen Praktiken innerhalb der Akademischen Kultur einerseits von den Rollen und Funktionen der Akteure, den Studierenden und Dozenten, vorgegeben (vgl. Weidemann/Nothnagel 2010), andererseits können sich die Akteure durch individuelle Rollendefinitionen und non-konformes Verhalten auch gewisse Handlungsspielräume verschaffen. Hinzu kommt, dass sich im universitären Handlungsfeld verschiedene Interaktionstraditionen kreuzen und überlagern: •





der deutsche Wissenschaftsstil, der sich aus der Wissenschaftstradition der deutschen Hochschulen entwickelt hat, sowie ein daraus resultierender Lehr- und Lernstil (vgl. Wiesmann 1999, Otten 2006); die fachspezifischen Wissenschaftsstile und Lehr-Lernverfahren, die mit der spezifischen Form der Wissensaneignung und des wissenschaftlichen Austauschs in den verschiedenen Fächern zusammenhängen und den Habitus der Akteure prägen (vgl. Liebau/Huber 1985, Huber 1991, Ricken 2011); die deutschen Diskurskonventionen, die die Normerwartungen in der Alltagskommunikation lenken und insbesondere in der direkten Kommunikation zwischen Dozenten und Studierenden oder deutschen und internationalen Studierenden relevant werden (vgl. House 1993 u. 2003, Casper-Hehne 2004).

Missverständnisse können in diesem überaus komplexen Handlungskontext aus der Unkenntnis der sozialen Praktiken an deutschen Hochschulen, d.h. der spezifischen Normen des Kontextes, sowie ihrer Fehldeutung aufgrund von differenten Bildungserfahrungen entstehen. Sie können aber auch auf individuelle, non-konforme Verhaltensweisen der Interaktionspartner zurückzuführen sein. Deshalb ist es notwendig, bei der Analyse von Critical Incidents im Hochschulkontext einerseits im Sinne des interaktionistischen Ansatzes alle Ebenen der Kommunikation zu beachten und sowohl die situativen, interpersonalen und individuellen Faktoren (Beziehungsebene, Machtverhältnisse, Zeit-RaumKontext, Persönlichkeitsmerkmale) einzubeziehen, als auch andererseits auf die kollektiven und rollenspezifischen Aspekte des Missverständnisses, d.h. die Besonderheiten der deutschen Akademischen Kultur und ihrer fachspezifischen Wissenschaftsnormen einzugehen und sie im Sinne eines kulturkontrastiven Ansatzes mit den jeweiligen Bildungskulturen, die die Normerwartungen der internationalen Studierenden geformt haben, zu vergleichen. Das bedeutet, dass für die Analyse von Critical Incidents immer verschiedene, kontextspezifische und individuelle, Erklärungsansätze in Frage kommen und man nicht von eindimensionalen Handlungsabläufen ausgehen kann. 3 | Zum universitären Handlungsfeld und ihren spezifischen sozialen Praktiken vgl. den Beitrag (1) von Adelheid Schumann in diesem Band.

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Die Frage, ob Critical Incidents als ein geeignetes Instrument für die Analyse interkultureller Interaktionen sowie die Entwicklung interkultureller Kompetenz anzusehen sind, ist in den vergangenen Jahren in der fachwissenschaftlichen Öffentlichkeit von Experten der interkulturellen Kommunikation häufig gestellt worden.4 Dabei wurden vor allem kritische Einwände gegen die Arbeit mit Critical Incidents, insbesondere in Verbindung mit der Culture-AssimilatorTechnik, vorgebracht. Critical Incidents gelten als anfällig für unzulässige Generalisierungen und Stereotypisierungen, weil sie Interaktionen auf einige typische Verhaltensweisen reduzierten und zu nationalkulturellen Attribuierungen aufforderten. Ihnen wird auch vorgeworfen, mit ihrer Fokussierung auf misslingende Kommunikation und kulturelle Differenzen die positiven interaktionalen Aspekte interkultureller Begegnungen zu vernachlässigen. Schließlich werden Zweifel an der Authentizität von Critical Incidents angemeldet, weil die geschilderten Erfahrungen die Interaktionssituation nur einseitig und subjektiv verformt wiedergäben und keine realistische Beurteilung des Missverständnisses oder Konfliktes zuließen. Zudem würde die Reduktion der Texte auf den Kern des »kritischen Ereignisses« die Berichte verfälschen. Für die Verwendung von Critical Incidents im Rahmen von Trainingsprogrammen mit Multiple-Choice-Verfahren, wie bei der Culture-Assimilator-Technik üblich, mag diese Kritik zutreffen, doch wird das interkulturelle Potenzial von Critical Incidents als Forschungsinstrument und als Grundlage für Trainingsprogramme bei dieser Methode in keinster Weise ausgeschöpft. Critical Incidents stellen ein sehr komplexes und vielfältiges Instrumentarium dar, das allein durch die Art und Weise, wie man damit arbeitet und wie man seine spezifischen Möglichkeiten ausschöpft, zur Entfaltung kommen kann.5 So lassen sich beispielsweise Generalisierungen und Stereotypisierungen vermeiden, wenn man bei der Analyse der Missverständnisse nicht nur die kollektiven Einflussfaktoren der sozialen Interaktion, sondern, wie oben beschrieben, auch die individuellen und situativen Faktoren berücksichtigt. Die kulturkontrastive Suche nach Differenzen kann durch Diskussionen und die Entwicklung von Handlungsstrategien zum kommunikativen Umgang mit Differenzen in interaktive Prozesse eingebunden werden. Zur Frage der Authentizität ist schließlich zu sagen, dass der Wert von Critical Incidents gerade darin besteht, dass eine Interaktionssituation aus der subjektiven Sicht eines der beteiligten Interaktionspartner wiedergegeben wird. Es geht nicht um die realistische Einschät4 | Zur Kritik an Critical Incidents im Zusammenhang mit Grundlagendebatten zur interkulturellen Kompetenz vgl. Grosch/Groß 2005, Rathje 2006, Scheitza 2007, Layes 2007. 5 | Zur differenzierten und multiperspektivischen Auswertung von Critical Incidents vgl. die Arbeitsanleitungen und Aufgabentypen in den »Arbeitsmaterialien zum interkulturellen Training mit Critical Incidents« in diesem Band.

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zung einer Konfliktsituation, sondern um individuelle Konflikterfahrungen, die zu Missverständnissen führen und der Deutung bedürfen. Jedes Missverständnis ist als polyvalent anzusehen und offen für verschiedene Interpretationen; es entzieht sich einer richtig/falsch-Bewertung. Critical Incidents spiegeln diese Uneindeutigkeit, Multiperspektivität und Polyvalenz wieder. Critical Incidents sind jedoch nicht nur doppeldeutig, sondern sie können für die Entwicklung interkultureller Kompetenzen auch eine Doppelfunktion einnehmen: als Erhebungsinstrument und als Trainingsgrundlage. Dabei sind die beiden Funktionen miteinander verschränkt, d.h. einerseits ist die Erhebung von Critical Incidents durch die Notwendigkeit einer genauen Erfahrungswiedergabe und der Kontextualisierung des Missverständnisses für die Betroffenen mit Trainingseffekten verbunden und andererseits führt das Training mit Critical Incidents notwendigerweise dazu, dass die Trainingsteilnehmer ihre persönlich erlebten Missverständnisse erzählen und auf diese Weise neue Critical Incidents der Sammlung hinzugefügt werden können. Die beiden Funktionen sollen im Folgenden am Beispiel des MUMIS-Projektes konkretisiert werden.

2. C RITICAL I NCIDENTS ALS F ORSCHUNGSINSTRUMENT Ziel des Forschungsprojektes zur »Integration internationaler Studierender und Förderung interkultureller Kompetenz«, das als Teil eines umfassenden Projektes zur »Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium« (MUMIS) seit 2008 an den Universitäten Siegen, Kassel und Hamburg durchgeführt wird,6 war es, die interkulturellen Kommunikationsprobleme internationaler Studierender an deutschen Hochschulen zu erfassen und zu beschreiben, ihr interkulturelles Konfliktpotenzial zu analysieren und darauf aufbauend ein Trainingsprogramm zu entwickeln, das ausländische Studierende auf die spezifischen Kommunikations- und Arbeitsformen an deutschen Hochschulen vorbereitet (vgl. Schumann 2011a und 2011b). In einem Vorläuferprojekt waren die zentralen Konfliktbereiche für ausländische Studierende bereits ermittelt worden (vgl. Schumann 2008a).7 Sie lassen sich folgendermaßen darstellen:

6 | Zum gesamten MUMIS-Projekt vgl. den Beitrag von Annelie Knapp in diesem Band. 7 | Zu weiteren Untersuchungen zu interkulturellen Konflikten in der universitären Kommunikation vgl. auch Casper-Hehne 2004, Mehlhorn 2005, Leenen/Groß 2007.

C RITICAL I NCIDENTS ALS F ORSCHUNGSINSTRUMENT UND ALS T RAININGSGRUNDL AGE

Abb. 1: Interkulturelle Konfliktbereiche im Studium (Seminarunterlagen Schumann 2008/09)

Zusammenarbeit in stud. Arbeitsgruppen

Kontakt zu deutschen Studierenden

Leistungsanforderungen und Leistungsbetreuung

Sprechstunden- und E-MailKommunikation mit Dozenten

Interkulturelle Konfliktbereiche im Studium

Rollenerwartungen an Dozenten und Studierende

Studienplanung und -beratung

Sprachliche Verständigung

Lehr- und Lernstile in Lehrveranstaltungen

Wir haben zwei Jahre lang in Seminaren zur »Interkulturellen Kommunikation in der Hochschule« und in Form von direkten schriftlichen und mündlichen Befragungen Critical Incidents gesammelt und dabei darauf geachtet, dass alle an der universitären Kommunikation Beteiligten, internationale Studierende, deutsche Studierende und deutsche Dozenten,8 Gelegenheit bekamen, von interkulturellen Missverständnissen zu berichten, die ihnen selbst oder befreundeten Kommilitonen bzw. Kollegen widerfahren sind.9 Das Instrumentarium der Critical Incidents war bereits vorher in Seminaren zur »Interkulturellen Kommunikation und Fremdwahrnehmung« mit vorwiegend deutschen Studierenden eines kultur- und medienwissenschaftlichen Bachelor-Studiengangs erfolgreich erprobt worden (vgl. Schumann 2008b) und hatte sich als eine Form der Befragung und empirischen Datensammlung erwiesen, die die Studierenden zu engagierten Erzählungen über ihre vorwiegend im Ausland erlebten interkulturellen Missverständnisse anregte und sich als geeignete Grundlage für die Analyse und Diskussion kultureller Differenzen in der Alltagskommunikation erwies. Unter den in diesen Seminaren gesammelten Critical Incidents waren vereinzelt auch Berichte von ausländischen Studierenden, die sich auf interkulturelle Konflikte in deutschen Hochschulen be8 | Der Bereich der Universitätsverwaltung wurde bewusst ausgeklammert, weil administrative Kommunikationstrukturen einen sehr spezifischen Bereich darstellen, der einer gesonderten Analyse bedarf, und weil das Projekt primär auf die universitäre Kommunikation im Bereich von Lehre und Forschung ausgerichtet war. 9 | Zum Erhebungs- und Auswertungsverfahren vgl. den Beitrag von Eva-Maria Hennig in diesem Band.

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zogen und später die Grundlage für die Datensammlung des Projektes bilden konnten. Im Rahmen der Projektveranstaltungen, die für Hörer aller Fachbereiche angeboten wurden,10 wurde die Sammlung von Critical Incidents dann gezielt fortgesetzt und der Erfahrungsraum auf interkulturelle Missverständnisse in deutschen Hochschulen begrenzt. Zusätzlich wurden eine Reihe von Interviews durchgeführt, insbesondere mit Dozenten und Studierenden von Fachbereichen, die durch die Seminare zur Interkulturellen Kommunikation nicht oder nur in geringem Maße erreicht werden konnten, wie z.B. Studierende der Naturwissenschaften und der Ingenieurwissenschaften. Auf diese Weise wurden 524 Critical Incidents gesammelt, von denen allerdings nur 322 (62,1  %) die universitäre Kommunikation betrafen, während die anderen sich auf Alltagserfahrungen der internationalen Studierenden außerhalb der Hochschule oder auf Erfahrungen deutscher Studierender an ausländischen Universitäten bezogen. Diese außeruniversitären Erfahrungen wurden im Verlauf der weiteren Auswertung nicht mehr berücksichtigt. Aus Sicht der internationalen Studierenden lassen sich auf der Grundlage der erhobenen Critical Incidents vier zentrale Konfliktbereiche unterscheiden: • •





Kommunikation mit deutschen Studierenden: Kontaktaufbau, Beziehungspflege, Gesprächsthemen, Zusammenleben im Studentenwohnheim; Kommunikation in Lehrveranstaltungen: Lehr- und Lernstile, Rollenerwartungen an Dozenten und Studierende, Verhaltensnormen in Lehrveranstaltungen, Wissenschaftsstile; Kommunikation mit Dozenten: Kontaktaufnahme, Betreuung und Bewertung von Leistungsnachweisen, Sprechstunden- und E-Mail-Kommunikation; Kommunikation in Arbeitsgruppen: Gruppenarbeit in Lehrveranstaltungen, zur Erstellung von Referaten und Leistungsnachweisen, in Forschungsteams.

Am häufigsten berichten die internationalen Studierenden von Missverständnissen mit deutschen Studierenden: 50,6 % aller aus Sicht von internationalen Studierenden erzählten Critical Incidents entstammen diesem Kommunikationsbereich. Von Irritationen in Lehrveranstaltungen ist in 23,5 % der Critical Incidents die Rede, während Konflikte mit Dozenten 14,2  % der Fallbeispiele ausmachen und nur 11,3  % die Zusammenarbeit in Arbeitsgruppen thematisieren. Auch für die deutschen Studierenden stehen Missverständnisse in der direkten personalen Kommunikation im Mittelpunkt: sie betreffen 72,0 % ihrer 10 | Zur Konzeption der projektbezogenen Seminare zur »Interkulturellen Kommunikation in der Hochschule« vgl. den Beitrag von Sonja Schöning in diesem Band.

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Berichte, während deutsche Dozenten vor allem von Missverständnissen in der Sprechstunde (39,5 %) oder im Zusammenhang mit Lehrveranstaltungen (32,6 %) berichten sowie fast genauso häufig Missverständnisse bei der Gruppenarbeit (27,3 %) thematisieren.11 Auf der Grundlage der erhobenen Daten konnten für die vier zentralen studiumsrelevanten Kommunikationssituationen jeweils 10-14 Typen von interkulturellen Missverständnissen identifiziert werden. Sie treten wiederholt auf, lösen Irritationen aus und sind eindeutig auf Besonderheiten der sozialen Praxis in der Akademischen Kultur an deutschen Hochschulen zurückzuführen. Es handelt sich dabei um eine offene Liste, die der ständigen Erweiterung und Präzisierung bedarf. Für die Kommunikation in Lehrveranstaltungen und den Bereich der Wissensvermittlung und Wissensaneignung sind folgende Typen als relevant anzusehen:12 Tab. 1: Kommunikation in Lehrveranstaltungen (Arbeitsmaterialien Schumann 2011) Ursachen für Fehldeutungen und Missverständnisse

Differenzen zwischen Lehrund Lernstilen in Akademischen Kulturen

1.

Rollenerwartungen an Dozenten

Interaktiv-diskursiver Lehrstil vs. monologisch-präsentierender Lehrstil

2.

Rollenerwartungen an Studierende

Aktiver vs. rezeptiver Lernstil

3.

Diskursstile und Diskursstrategien in Seminardiskussionen

Direkter und sachorientierter Sprachstil vs. indirekter und personenorientierter Stil

4.

Inhaltliche Erwartungen an Lehrveranstaltungen

Verknüpfung von Theorie und Praxis vs. Dominanz von Theoriewissen

5.

Sozialformen in Lehrveranstaltungen

Einsatz interaktiver Sozialformen (Partner-/Gruppenarbeit) vs. Präferenz von Frontalunterricht

6.

Zusammensetzung der Studierenden in Kursen

Curriculare Wahlfreiheiten der Studierenden/Heterogenität vs. einheitliche Jahrgangsgruppen

11 | Es wurden nur diejenigen Critical Incidents in die Sammlung aufgenommen, bei denen sich kulturell bedingte Fremderfahrungen erkennen ließen. 12 | Die Sammlung enthält darüber hinaus einige (wenige) Fallbeispiele, die eher als alltagskommunikativ einzustufen sind und deshalb zu keinem der angegebenen Typen passen.

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A DELHEID S CHUMANN 7.

Verhaltenserwartungen an Studierende und Dozenten

Partnerschaftliches Verhältnis zwischen Dozenten und Studierenden vs. hierarchische Distanz

8.

Umgang mit Zeit in Lehrveranstaltungen

Strikte Einhaltung von offiziellen Zeitplänen vs. Toleranz gegenüber individuellen Abweichungen

9.

Sozialverhalten unter Studierenden

Studentisches Gemeinschaftsgefühl und Solidarität vs. Individualismus und Zurückhaltung gegenüber Unbekannten

10.

Verbindlichkeitsnormen im Lehrbetrieb

Zuverlässigkeit bei Verabredungen vs. flexibler und situationsabhängiger Umgang mit Verabredungen

11.

Ritualisierte Verhaltensweisen in Lehrveranstaltungen

Klopfen als Beifallskundgebung vs. Klopfen als Missfallenskundgebung

Die Typologie zeigt, welche Differenzen zwischen Lehr- und Lernstilen in Akademischen Kulturen zu welcher Art von Missverständnissen führen können. Dabei sind auf der Seite der Differenzen jeweils die möglichen Gegensätze angegeben, die als Erfahrungshintergrund der Studierenden handlungswirksam werden können. Im Bereich der Wissensvermittlung und Wissensaneignung entstehen bei internationalen Studierenden Fremdheitserfahrungen schwerpunktmäßig durch differente Rollen- und Verhaltenserwartungen an Dozenten und Studierende.13 Dabei gibt die von den Studierenden erwartete Selbstständigkeit und Aktivität im Lernprozess besonders häufig Anlass zu Irritationen.14 Eng verbunden mit Fremderfahrungen im Bereich der Rollen- und Verhaltenserwartungen sind differente Vorstellungen von der Durchführung, den Inhalten und den Arbeitsformen in Lehrveranstaltungen. Einige Typen von Missverständnissen im akademischen Lehrbetrieb sind auch der Studienorganisation zuzuordnen, wobei die curricularen Wahlfreiheiten in einigen Fächergruppen zu Fehleinschätzungen in Bezug auf die Zusammensetzung und den Leistungsstand der Seminarteilnehmer führen können. Im Bereich der Beziehungen zwischen Studierenden und Dozenten konnten folgende Typen von Missverständnissen festgestellt werden:

13 | Zum Zusammenhang zwischen Hochschultradition und Rollenzuweisungen im Lehr- und Lernbetrieb vgl. den Beitrag (1) von Adelheid Schumann in diesem Band. 14 | Judith Ricken weist in ihrer aktuellen Studie zu universitären Lernkulturen auf die Diskrepanzen hin, die im akademischen Alltag zwischen der erwarteten Selbstständigkeit der Studierenden und den Lern- und Arbeitsformen bestehen, vgl. Ricken 2011: 366ff.

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Tab. 2: Kommunikation mit Dozenten (Arbeitsmaterialien Schumann 2011) Ursachen für Fehldeutungen und Missverständnisse 1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

Differenzen bei akademischen Betreuungsstrukturen und Bewertungsverfahren Anredekonventionen zwischen Partnerschaftliches Verhältnis zwiStudierenden und Dozenten schen Studierenden und Dozenten vs. hierarchische Distanz Begrüßungsrituale zwischen Studie- Begrüßungsinitiative bei höher gerenden und Dozenten stellter Person vs. Begrüßungsinitiative bei hinzukommender Person Formen der Kontaktaufnahme mit Geregelte Kontaktaufnahme Dozenten (Sprechstunden) vs. flexible Kontaktaufnahme Zuständigkeitsbereiche von Dozen- Fachliche Beratung als Aufgabe der ten Dozenten vs. umfassende organisatorische und fachliche Beratung durch die Dozenten Rollenerwartung an Studierende in Direkter und sachorientierter GeSprechstunden sprächsstil vs. personenorientierte Gesprächsführung Zeitplanung in Sprechstunden Geregelter Zeitablauf (Anmeldelisten) vs. flexible Zeitplanung und offene Beratungszeiten Formen der Beziehungspflege zwi- Trennung von Beruf und Privatleschen Studierenden und Dozenten ben vs. Vermischung von formellen und persönlichen Kontakten (Geschenke, Einladungen) Leistungserwartungen an StudieSelbstständigkeit und Kritikfähigrende keit vs. Reproduktionsfähigkeit und Normerfüllung Formen und Formate der Leistungs- Differenzierung und Auswahl von erbringung Leistungsnachweisen (Klausur, Referat, Hausarbeit) vs. festgelegte Obligatorik Betreuung von LeistungsnachweiBeratung und Anleitung zur selbstsen ständigen Arbeit vs. enge Betreuung der Durchführung Normen des wissenschaftlichen Berücksichtigung fach- und kulSchreibens turspezifischer Normen bei der Abfassung von Hausarbeiten vs. Akzeptanz von kulturspezifischen Differenzen Kriterien der Leistungsbewertung Sachorientierte Leistungsbewertung vs. Berücksichtigung personenorientierter Kriterien

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In der Beziehung zwischen Studierenden und Dozenten treten Typen von Missverständnissen auf, die im weitesten Sinne mit unterschiedlichen Vorstellungen vom Lehrer-Schüler-Verhältnis zu tun haben. Dabei geht es insbesondere um die Art der Kontaktaufnahme, Anrede und Begrüßung, mit der Respekt und hierarchische Distanz bzw. Nähe und Vertrautheit zum Ausdruck gebracht werden. Daneben treten im Rahmen von Sprechstunden spezifische Konflikte auf, die die Funktion von Sprechstunden sowie die inhaltliche und zeitliche Gestaltung der Beratung betreffen. Im Mittelpunkt der Beziehung zwischen Studierenden und Dozenten steht jedoch zweifellos die vorgegebene Rollenverteilung zwischen denjenigen, die Leistungen zu erbringen haben, und denjenigen, die Leistungen bewerten. In diesem Bereich sind vor allem Typen von Missverständnissen anzutreffen, die mit den fachspezifischen Leistungserwartungen von Dozenten und den Leistungsgewohnheiten bzw. Vorstellungen der Studierenden von Leistungsbetreuung und Leistungsbewertung zusammenhängen. Da Critical Incidents zu Fragen von Leistung und Bewertung jedoch als besonders problematisch, unter Umständen sogar als gesichtsbedrohend empfunden werden, erwies es sich als äußerst schwierig, von internationalen Studierenden Berichte zu diesem Themenbereich zu erhalten, während die von uns interviewten Dozenten problemlos und gern ihre Erfahrungen wiedergaben. Deshalb dominiert bei diesen Typen von Missverständnissen in unserer Datensammlung die Perspektive der Dozenten. Die interkulturellen Differenzerfahrungen im Bereich der studentischen Zusammenarbeit und wissenschaftlichen Teamarbeit lassen sich zu folgenden Typen von Missverständnissen zusammenfassen: Tab. 3: Kommunikation in Arbeitsgruppen (Arbeitsmaterialien Schumann 2011) Ursachen für Fehldeutungen und Missverständnisse

Differenzen zwischen studentischen Lernstrukturen und Arbeitsformen

1.

Einstellung gegenüber Gruppenarbeit

Wertschätzung von interaktiven Arbeitsformen vs. Ablehnung von Gruppenarbeit

2.

Verhaltenserwartungen in Arbeitsgruppen

Aushandlungsprozesse und kritische Diskussionen vs. Dominanzverhalten/Strategien der Konfliktvermeidung

3.

Verfahren der Gruppenbildung

Freie Wahl bei der Zusammensetzung der Gruppen vs. gelenkte Zusammensetzung der Gruppen

C RITICAL I NCIDENTS ALS F ORSCHUNGSINSTRUMENT UND ALS T RAININGSGRUNDL AGE 4.

Arbeitsaufteilung und -planung in Arbeitsgruppen

Dominanz individueller Interessen vs. Entwicklung gemeinsamer Arbeitsstrukturen

5.

Diskussionsstil in Arbeitsgruppen

Direkter, sachorientierter Gesprächsstil/kritische Aushandlungsprozesse vs. personenorientierter Gesprächsstil/Strategien der Konfliktvermeidung

6.

Zeitplanung bei Gruppen- und Partnerarbeit

Monochrone, langfristige Zeitplanung vs. polychrone, kurzfristige Zeitplanung

7.

Funktion von Arbeitsgruppen

Projektorientierte Arbeitsgruppen vs. Lerngruppen zur Prüfungsvorbereitung

8.

Sprachenwahl in internationalen Forschungsgruppen

Dominanz der englischen Sprache vs. Dominanz der deutschen Sprache

9.

Soziale Kontakte in Forschungsgruppen

Trennung von Beruf und Privatleben vs. Verbindung von studienbezogenen und privaten Kontakten

10.

Rollenerwartung an die Mitglieder von Forschungsgruppen

Selbstständigkeit und Teamfähigkeit vs. Erfüllung von Arbeitsaufträgen und Einzelarbeit

Die im deutschen akademischen Lehr- und Lernbetrieb hoch geschätzte Arbeitsform der Gruppenarbeit trifft bei vielen internationalen Studierenden, insbesondere aus Osteuropa und Asien, auf Ablehnung. Häufig ist das auf differente Vorstellungen von der Rollenverteilung zwischen Dozenten und Studierenden im Lehr- und Lernprozess zurückzuführen. Typische Missverständnisse in Arbeitsgruppen beziehen sich deshalb insbesondere auf die Funktion und die Arbeitsweisen dieser Sozialform: Verhaltens- und Rollenerwartungen an die Kommilitonen, Verfahren der Gruppenbildung und der Arbeitsplanung sowie der Umgang mit Zeit. Daneben können aber auch soziale Probleme zu Missverständnissen führen: die Art der persönlichen Kontakte, der Gesprächsstil innerhalb der Gruppe oder die Sprachenwahl in internationalen Teams. Wenn man von dem quantitativen Ergebnis der Datenerhebung auf die subjektive Bedeutsamkeit von interkulturellen Erfahrungen schließt, dann sind die am schwersten wiegenden Missverständnisse in der Beziehung zwischen internationalen und deutschen Studierenden zu finden. Dabei geht es bei vielen Critical Incidents jedoch eher um Probleme der Alltagskommunikation unter Jugendlichen und um die private Ausgestaltung des Studentenlebens außerhalb der Hochschule als um studienrelevante Fragen im eigentlichen Sinne.

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Tab. 4: Kommunikation unter Studierenden (Arbeitsmaterialien Schumann 2011) Ursachen für Fehldeutungen und Misverständnisse

Differenzen in der Alltagskommunikation unter Studierenden

1.

Höflichkeitsnormen bei der Kontaktaufnahme

Gemeinschaftsgefühl und Distanzminimierung (Duzen) vs. Differenzierung zwischen Bekannten und Unbekannten

2.

Kontaktrituale und Proxemik

Große Körperdistanz vs. geringe Körperdistanz und Körperkontakte

3.

Verhaltensnormen bei Einladungen Anmeldung von Besuchen/Verbindund Besuchen lichkeit von Absprachen vs. spontane Besuche/Unverbindlichkeit von Absprachen

4.

Verhaltenserwartungen bei Einladungen

Respektierung der kulturellen Gewohnheiten des Gastgebers/Anpassung vs. Behauptung eigenkultureller Gewohnheiten

5.

Zeitplanung bei Einladungen

Genaue Zeitplanung vs. flexibler Umgang mit Zeit

6.

Einladungen ins Restaurant

Einzeln zahlen vs. Einer zahlt für alle/Herren zahlen für Damen

7.

Gesprächsstile und Gesprächsführung

Direkter und sachbezogener Gesprächsstil vs. indirekter und personenbezogener Gesprächsstil

8.

Diskursphasen und Sprecherwechsel

Langsamer und markierter Sprecherwechsel vs. schneller und überlappender Sprecherwechsel

9.

Fehldeutungen und Fremdzuweisungen

Stereotypisierungen und Stereotypenverdächtigung vs. Bedeutungsaushandlung und Differenzierung

10.

Gesprächslautstärke in der Öffentlichkeit

Gewohnheit eines hohen Lautstärkepegels in der Öffentlichkeit vs. niedriger Lautstärkepegel

11.

Einstellung zum Elternhaus

Studium als Zeit der Loslösung vom Elternhaus vs. enge Bindung an Elternhaus und Familie

12.

Strukturierung der Wohneinheiten im Studentenheim

Selbstständige, autonome und gemischte Wohngruppen vs. reglementierte Zimmerzuweisung (Doppel-/Dreierzimmer)/nach Geschlechtern getrennte Wohnheime

C RITICAL I NCIDENTS ALS F ORSCHUNGSINSTRUMENT UND ALS T RAININGSGRUNDL AGE 13.

Abgrenzung und Gemeinsamkeiten Abgrenzung des Persönlichkeitsbein Wohnheimen reichs vs. Öffnung des individuellen Wohnbereichs

14.

Organisation des Zusammenlebens

Strukturierung des Gemeinschaftslebens/gemeinsame Verpflichtungen vs. Individualisierung aller Lebensbereiche

Die typischen Konfliktkonstellationen, die sich in der Kommunikation unter Studierenden außerhalb des Studienbetriebs benennen lassen, betreffen die Art der Kontaktaufnahme, die Gesprächsthemen und Gesprächsverläufe sowie verschiedene Formen des sozialen Lebens: Verabredungen, Einladungen und Besuche. Dabei gibt das Zusammenleben im Studentenwohnheim am häufigsten Anlass zu Missverständnissen, wobei neben der Struktur der Wohneinheiten und dem Aufeinanderprallen gegensätzlicher Lebensgewohnheiten vor allem Fragen der Nähe und der Distanz eine Rolle spielen. Von vielen internationalen Studierenden werden deutsche Kommilitonen als distanziert und zurückhaltend wahrgenommen. Es dauert aus ihrer Sicht sehr lange, bis sich Freundschaften entwickeln. Eine weißrussische Studentin schildert diese Erfahrung folgendermaßen: »Das Schweigen beeindruckte mich am meisten, das Schweigen im Fahrstuhl, in der Pause vor und nach den Seminaren. Wenn mich jemand nach einem typisch deutschen Charakterzug fragt, dann ist das für mich die Zurückhaltung. Sie hat positive und negative Seiten. Eine positive Auswirkung ist zum Beispiel, dass ich in den vier Jahren keine Ausländerfeindlichkeit mir gegenüber erlebt habe. […] Die andere Seite deutscher Zurückhaltung erfordert von einem Ausländer einen langen Atem, wenn er oder sie Freunde finden will. Es geht aber den Deutschen selbst nicht viel besser, das muss man schon fairerweise sagen. Dafür ist das Verhältnis unter guten Freunden sehr innig. Beim Studieren habe ich viele interessante Leute kennen gelernt, mit denen ich so richtig über Gott und die Welt reden konnte. Gute drei Jahre vergingen aber, bis es dazu kam.« (DAAD 1998)

Die Bedeutung, die der Verbesserung der Beziehung zwischen den Studierenden für die Integration und den Studienverlauf der internationalen Studierenden zukommt, wurde schon vor Jahren erkannt15 und vom DAAD in die Gestaltung seiner Förderprogramme, insbesondere des PROFIN – Programms seit 2009, aufgenommen. Von den 46 Projekten der ersten Förderphase 2009-2011 widmen sich allein elf Projekte ausschließlich dem Ziel, Netzwerke zwischen deutschen und ausländischen Studierenden aufzubauen und dauerhaft Kon15 | Zu Defiziten in der Beziehung zwischen deutschen und ausländischen Studierenden vgl. Mehlhorn 2004, Henze/Oberlik 2007, Aplevich 2008, Schumann 2008a.

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takte herzustellen, und bei allen anderen Projekten stellt die Aktivierung aller Studierenden zur Gestaltung eines multikulturelles Campus-Lebens ein wichtiges Teilziel dar (vgl. BMBF/DAAD 2010 und 2011). Besonders erwähnenswert erscheint dabei die Tatsache, dass Studierenden mit Migrationshintergrund in vielen Projekten eine wichtige Vermittlerrolle zufällt. Sie werden gern als Tutoren zur Betreuung internationaler Studierender eingesetzt, da sie sich, dank ihrer bikulturellen Sozialisation, häufig besser in die Situation ausländischer Studierender hineinversetzen können als ihre deutschen Kommilitonen (vgl. Knapp 2008). Als Ergebnis der Erforschung der studiumsbezogenen Kommunikation mithilfe von Critical Incidents kann festgehalten werden, dass die Entwicklung interkultureller Kompetenzen für alle an der universitären Kommunikation Beteiligten von großer Bedeutung ist. Die zentralen Typen von Missverständnissen, die durch die Studie identifiziert und beschrieben werden konnten, betreffen insbesondere die Bereiche der akademischen Lehre und der Integration der Studierenden in wissenschaftliche Lernprozesse. Dabei lassen sich auf der Beziehungsebene zwischen deutschen und ausländischen Studierenden deutliche Defizite erkennen. Die Integration ausländischer Studierender kann nicht allein als eine Bringeschuld von Seiten derer, die in die deutsche Akademische Kultur eintreten, betrachtet werden, sondern muss als eine Verpflichtung für alle Akteure des Universitätslebens gelten.

3. C RITICAL I NCIDENTS ALS TR AININGSGRUNDL AGE Critical Incidents bieten für interkulturelle Trainingseinheiten eine komplexe Diskussionsgrundlage: Sie lösen Reflexionen über Differenzen in Akademischen Kulturen aus und fördern die Entwicklung einer studiumsbezogenen interkulturellen Kompetenz. Unter studiumsbezogener interkultureller Kompetenz wird dabei der Erwerb der Fähigkeit verstanden, sich in dem spezifischen sozialen Feld der Akademischen Kultur an deutschen Hochschulen zu orientieren und Handlungsstrategien zu entwickeln, die in der Interaktion zwischen Dozenten und Studierenden zu einem erfolgreichen Kommunikationsverlauf führen.16 Anders als in wirtschaftsorientierten interkulturellen Trainingsprogrammen (vgl. Kinast 2003), die in der Regel lösungsorientiert vorgehen und mehr oder weniger eindeutige Erklärungen für interkulturelle Missverständnisse anbieten, kann es in Trainingskonzepten für die Hochschule nicht darum gehen, Komplexität zu reduzieren, sondern vielmehr darum, die verschiedenen indivi16 | Zum Begriff der »Interkulturellen Kompetenz« und dem Lernziel des interkulturellen Trainings vgl. den Beitrag (1) von Adelheid Schumann in diesem Band.

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duellen und kollektiven Faktoren eines interkulturellen Missverständnisses in ihrer Komplexität zu begreifen. Dabei stehen folgende Ziele im Mittelpunkt: • • • • •

Erkenntnisse übermitteln über Differenzen in Akademischen Kulturen; Diskussionen anstoßen über individuelle und kollektive Ursachen von Missverständnissen; Sensibilisieren für die verschiedenen Kommunikationsebenen (Verständigung, Beziehungsaufbau, Selbstdarstellung); Reflexionsprozesse befördern über die kulturelle Bedingtheit der eigenen Wahrnehmung und Wertung; Handlungskompetenzen entwickeln für den Umgang mit interkulturellen Missverständnissen (vgl. Schumann 2011b).17

Die Sammlung der Critical Incidents wurde zunächst verschiedenen Maßnahmen der Selektion und Textbearbeitung unterworfen und anschließend didaktisiert. Die Selektion erfolgte nach dem Kriterium der Exemplarität im Hinblick auf die Besonderheiten der Akademischen Kultur an deutschen Hochschulen und ihrer Eignung als Ausgangspunkt für Diskussionen und Reflexionsprozesse. Außerdem wurde darauf geachtet, dass die Perspektiven internationaler Studierender zu etwa 50 % und die der deutschen Studierenden und deutschen Dozenten zu jeweils etwa 25 % vertreten sind. Auf diese Weise wurden 164 Critical Incidents als Grundlage für die Entwicklung des Trainingsprogramms ausgewählt. Alle Texte wurden im Sinne einer Konzentration auf den kulturellen und interaktiven Kern der irritationsauslösenden Kommunikationssituation sprachlich bearbeitet. Dabei wurden, um vorschnelle Interpretationen zu vermeiden, alle von den Berichtenden mitgelieferten Erklärungsansätze zunächst ausgeklammert. In den Kommentaren, die später zu jedem Critical Incident erarbeitet wurden, wurden diese Erläuterungen wieder aufgegriffen.18 Bei der Didaktisierung der Critical Incidents wurde auf Erkenntnisse aus der Sprachlehrforschung zum interkulturellen Lernen zurückgegriffen. Interkulturelles Lernen wird im Kontext des Fremdsprachenerwerbs als ein umfassender Bildungsprozess beschrieben, bei dem die Entwicklung affektiver, kognitiver und handlungsorientierter Kompetenzen eine Rolle spielt und die Anerken-

17 | Zu Grundsatzüberlegungen und weiteren Modellen für interkulturelles Training an Hochschulen vgl. Henze/Oberlik 2007, Kammhuber 2009, Bosse 2010, Hiller 2010, Vogler-Lipp 2010, Rathje 2010. 18 | Die Sammlung der Critical Incidents sowie ihre Bearbeitung und Didaktisierung wird ausführlich in dem Beitrag von Eva-Maria Hennig beschrieben. In dem Beitrag von Katharina Moll wird auf die Arbeit mit Critical Incidents im Rahmen interkultureller Trainingseinheiten und auf die Arbeit mit der Online-Datei eingegangen.

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nung und Respektierung des Fremden intendiert ist.19 Zu den affektiven Kompetenzen zählen Empathie, Offenheit und Ambiguitätstoleranz sowie die Fähigkeit, sich in den Anderen hineinzuversetzen, d.h. einen Perspektivenwechsel zu vollziehen. Zu den kognitiven Kompetenzen zählen das Wissen über die andere Kultur und Selbstreflexivität, d.h. die Einsicht in die grundlegende Relativität von Deutungsmustern und Wertsetzungen sowie die Bereitschaft, eigene Positionen zu überdenken. Unter den handlungsorientierten Kompetenzen wird schließlich die Fähigkeit verstanden, Interaktionsstrategien zu entwickeln und Konflikte mithilfe von Bedeutungsaushandlungen oder Kompensations- und Anpassungsstrategien zu lösen.20 Diese Grundprinzipien des interkulturellen Lernens wurden bei der Entwicklung des Trainingsprogramms zur Konzeption einer Standardaufgabe zu jedem Critical Incident und einigen vertiefenden exemplarischen Übungen genutzt. Die Standardaufgabe besteht aus zwei Fragen, die im Anschluss an jeden Critical Incident im Sinne einer Aufforderung zum Perspektivenwechsel gestellt werden. Die Trainingsteilnehmer sollen sich mithilfe dieser Fragen in die differenten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Interaktionspartner hineinversetzen und das konkrete Geschehen abwechselnd aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, um auf dieser Grundlage Hypothesen zu den Ursachen des Missverständnisses formulieren zu können. In Form von ausführlichen Kommentaren zu jeder der beiden Fragen werden dem Kursleiter Hintergrundinformationen zu den strukturellen Besonderheiten einzelner Akademischer Kulturen bzw. zu kulturell geprägten Verhaltensweisen sowie die bereits erwähnten Erklärungsansätze der Berichtenden an die Hand gegeben. Sie ermöglichen ihm, das Gruppengespräch so zu lenken, dass differente Lernerfahrungen und Lernerwartungen ausgetauscht werden können und die Sinnhaftigkeit und Kontextgebundenheit akademischer sozialer Praxis deutlich werden. Nach der Bearbeitung der perspektivischen Dimension der Missverständnisse erfolgt die Diskussion der affektiven, kognitiven und handlungsorientierten Dimensionen. Sie zielt darauf ab, sich intensiv mit den Interaktionspartnern des Critical Incidents und ihren personenbezogenen Merkmalen, der Kontextspezifik der Kommunikationssituation und den Handlungsmöglichkeiten in der beschriebenen Situation auseinander zu setzen. Anschließend sollte auch der lernerorientierten Dimension ausreichend Zeit eingeräumt werden, denn die Verknüpfung der Trainingsinhalte mit den von den Trainingsteilnehmern selbst erlebten Missverständnissen verspricht besonders intensive Lerneffekte.

19 | Zum interkulturellen Lernen vgl. Byram1997, Bredella1999, Erll/Gymnich 2007. 20 | Zu den theoretischen Grundlagen des interkulturellen Lernen, insbesondere zum Ansatz von Byram, vgl. den Beitrag von Eva-Maria Hennig in diesem Band.

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Tab. 5: Anleitung zur Arbeit mit Critical Incidents (Arbeitsmaterialien Schumann 2011) Anleitung zur Arbeit mit Critical Incidents Den Critical Incident genau durchlesen und Hypothesen zu den Ursachen des Missverständnisses aufstellen Sich mit Hilfe der beiden Fragen abwechselnd in die Perspektive der Interaktionspartner hineinversetzen

Perspektivische Dimension

Sich überlegen, auf welcher affektiven Ebene das Missverständnis angesiedelt ist: Handelt es sich um eine Störung des Verständigungsprozesses, des Beziehungsaufbaus oder eine Verletzung der persönlichen Würde der Interaktionspartner und welche Wertorientierungen sind betroffen?

Affektive Dimension

Überlegen, welche strukturellen Unterschiede zwischen der Kognitive DiAkademischen Kultur an deutschen Universitäten und der mension des ausländischen Studierenden Ursache für das Missverständnis sein können Diskutieren über Strategien zur Vermeidung von Interkulturellen Missverständnissen in der Hochschule

Handlungsorientierte Dimension

Berichten von vergleichbaren Situationen und Interkulturel- Lernerorientierte len Missverständnissen, die man selbst erlebt hat Dimension

In den vertiefenden Übungen wird das Konfliktpotential der Critical Incidents in Form von kulturellen Zuschreibungen und Stereotypisierungen, Störungen des Beziehungsaufbaus oder der Verletzung der persönlichen Würde, der Missachtung akademischer Normen und Gepflogenheiten etc. noch einmal gezielt ins Bewusstsein gehoben und einer analytischen Bearbeitung zugeführt. Außerdem werden spezifische Übungen zur Entwicklung von angemessenen Interaktionsstrategien angeboten, die die Gelegenheit bieten, sich über praktische Handlungsaspekte in der interkulturellen Kommunikation zu verständigen und Erfahrungen auszutauschen.21 Das Lernkonzept, das diesem interkulturellen Training zugrunde liegt, entspricht der Theorie des Konstruktivismus (vgl. Wendt 1996 und 2002). Lernen wird dabei als ein autonomer und selbstverantwortlicher Prozess der Wissenserschließung und Wissensgenerierung verstanden, bei dem das aktive Entdecken von Problemen und das eigene Konstruieren von Sinnzusammenhängen im Vordergrund steht. Bei der Arbeit mit Critical Incidents im Hochschulkon21 | Eine Zusammenstellung von Arbeitsmaterialien für ein hochschulspezifisches interkulturelles Training mit Critical Incidents befindet sich in diesem Band. Weitere Vorschläge für die Arbeit mit Critical Incidents sind in dem Beitrag von Katharina Moll aufgeführt.

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text können die Trainingsteilnehmer ihre Erfahrungen mit studiumsbezogener Kommunikation und ihr Praxiswissen zu akademischen Lehr- und Lernkulturen in die Erschließung kultureller Differenzen und die Analyse der Handlungs- und Deutungsmuster der Akteure einfließen lassen und auf diese Weise in einen konstruktiven Prozess der Wissensgenerierung und der Umstrukturierung der eigenen Wissensbestände eintreten. Der Trainingsleiter tritt dabei als ein Vermittler auf, der durch die gezielte Auswahl praxisrelevanter Critical Incidents und die Gestaltung einer aktivierenden Lernumgebung begleitet. Rainer Leenen beschreibt dieses Trainingsverfahren folgendermaßen: »In Trainings werden […] Anregungen und Hilfen zur schrittweisen Umstrukturierung von Deutungssystemen geliefert. Besonderes Gewicht erlangen hierbei aktivierende und explorative Methoden sowie Materialien und Medien, die dem Lernenden die Einnahme neuer Perspektiven erleichtern. Dadurch ändert sich auch naturgemäß die Rolle des ›Vermittlers‹; seine Aufgabe besteht nun primär in der Gestaltung anregender Lernumgebungen, der Initialisierung und Moderation des Lerngeschehens und der Lernberatung. […] Interkulturelle Trainings müssen allerdings auch Wissen vermitteln; es steht jedoch weniger die abstrakte Wissens-›Vermittlung‹ als vielmehr die Generierung praxis- und feldrelevanten Struktur- und Handlungswissens im Vordergrund. Dabei wird Wissensgenerierung mit Möglichkeiten des Erfahrungslernens verbunden: einerseits über vom Trainer antizipierbare, durch Übungen und Simulationen erzeugte sog. strukturierte Erfahrungen, andererseits durch das von den Teilnehmern in das Training eingebrachte Praxiswissen, das in der Gruppe berufserfahrener Lerner reflektiert und unter Einbeziehung interkultureller Gesichtspunkte neu justiert werden muss.« (Leenen 2007: 779)

Auch das Konzept des »Situierten Lernens«, das von Stefan Kammhuber in seinem Trainingsmodell Intercultural Anchored Inquiry (IAI) verwendet wird (vgl. Kammhuber 2009),22 basiert auf einer konstruktivistischen Vorstellung von Lernen und betont darüber hinaus die Kontextabhängigkeit von Lernprozessen. Bei unserem Trainingsmodell ist diese Kontextabhängigkeit durch die konsequente Ausrichtung aller Critical Incidents auf die Kommunikation im Hochschulkontext gegeben. Das gesamte Trainingsmaterial, die Datenbank mit den 164 Critical Incidents sowie die dazu gehörigen Kommentare, Übungen und englischen Übersetzungen für einen Teil (84) der Critical Incidents,23 steht mittlerweile online zur Verfügung und kann unter www.mumis-projekt.de/ci abgerufen werden. 22 | Zu dem Trainingsmodell vgl. auch den Beitrag (1) von Adelheid Schumann und den Beitrag von Eva-Maria Hennig in diesem Band. 23 | Die englischen Versionen der Critical Incidents wurden von Peter J. Witchall/Fachsprachenzentrum der Universität Hamburg angefertigt.

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Vier verschiedene Suchkriterien (Situationen/Typen, Schlagworte, Nationalität, Irritationsaspekte) erleichtern die Auswahl aus der Datenbank und ermöglichen eine der jeweiligen Trainingseinheit angepasste, adressatengerechte Zusammenstellung von Critical Incidents und Übungen.24 Das Trainingskonzept richtet sich an alle an der universitären Kommunikation beteiligten Interaktionspartner und kann sowohl in hochschuldidaktischen Workshops als auch in Orientierungskursen für internationale Studierende oder innerhalb von Seminaren zur interkulturellen Kommunikation eingesetzt werden. Dabei verfolgt jedes Training nicht nur das Ziel, interkulturelle Diskussionen und Reflexionsprozesse anzustoßen, sondern es dient gleichzeitig auch der permanenten Evaluation der Materialien und fordert zur Weiterentwicklung der Datenbank auf. Da die Kommunikation an Hochschulen in Zeiten fortschreitender Internationalisierung permanentem Wandel unterworfen ist, kommt dem Zusammenspiel zwischen empirischer Erforschung interkultureller Konfliktsituationen und der praktischen Erprobung ihrer Überwindung in Form von interkulturellen Trainingsangeboten eine ganz besondere Bedeutung zu. Jede Trainingseinheit kann als eine Art Aktualisierung der Critical Incidents gewertet werden: Einerseits werden die Forschungsergebnisse, d.h. die einzelnen Critical Incidents und ihre typologische Einordnung, einer kritischen Überprüfung ihres interkulturellen und interaktiven Potenzials unterworfen, andererseits führt dieser Diskussionsprozess dazu, dass die Trainingsteilnehmer sich zunehmend ihrer potenziellen Befangenheit in eigene kulturelle Wahrnehmungsmuster und Bildungsvorstellungen bewusst werden und in der Auseinandersetzung mit differenten Normalitätserwartungen zur Entwicklung einer hochschulspezifischen interkulturellen Kompetenz gelangen.

L ITER ATUR Aplevich, Noelle (2008): »Ausländische StudentInnen in universitären Kommunikationssituationen: Probleme und Bewältigungsstrategien.« In: A. Knapp/A. Schumann (Hg.): Mehrsprachigkeit und Multikulturalität im Studium, Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 51-84. Bennett, Milton J. (1995): »Critical Incidents in an Intercultural Conflict-Resolution Exercise.« In: S.M. Fowler/M.G. Mumford (Hg.): Intercultural sourcebook: cross-cultural training methods, Yarmouth/Maine: Intercultural Press, S. 147-156.

24 | Auf die Möglichkeiten der Arbeit mit der Online-Datei wird in dem Beitrag von Katharina Moll in diesem Band ausführlich eingegangen.

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Verfahren der Erhebung, Evaluation und Didaktisierung von Critical Incidents Eva-Maria Hennig

1. C RITICAL I NCIDENTS IM H OCHSCHULKONTE X T Im Zuge des Bologna-Prozesses haben zahlreiche Internationalisierungsmaßnahmen1 dazu beigetragen, dass deutsche Hochschulen immer multikultureller werden (vgl. u.a. DAAD 2003). Dadurch hat sich interkulturelle Kompetenz2 im deutschen Hochschulbereich zu einer Schlüsselqualifikation entwickelt. Sie bildet die wesentliche Grundlage zur Bewältigung von Multikulturalität und Mehrsprachigkeit in Studium, Lehre und Wissenschaft. Von den an der Hochschulkommunikation beteiligten Personen werden in interkulturellen Kontaktsituationen Fähigkeiten und Fertigkeiten erwartet wie etwa Ambiguitätstoleranz, Empathiefähigkeit, Kreativität, Kommuniationsfertigkeiten (bewusstes Kommunizieren und Strategien) und Konfliktlösungsfähigkeiten (vgl. Hiller 2010). Diese Fähigkeiten und Fertigkeiten sind allerdings nicht immer in ausreichendem Maß vorhanden und müssen für bestimmte institutionelle Kommunikationssituationen bei allen Beteiligten – internationalen Studierenden, deutschen Studierenden und Dozierenden – trainiert und entwickelt werden. Internationale Studierende kommen häufig mit differenten Bildungserfahrungen und Bildungsvorstellungen ins deutsche Hochschulsystem und stoßen dadurch auf Schwierigkeiten, die Studienunzufriedenheit erzeugen und in der Folge zu Studienabbrüchen führen können.3 Dozierende stellen ihrerseits

1 | Zur ausführlichen Beschreibung der Internationalisierungsmaßnahmen vgl. Beitrag (1) von Adelheid Schumann in diesem Band. 2 | Interkulturelle Kompetenz wird in Anlehnung an Byram 1997 als ein Set von Fertigkeiten und Fähigkeiten betrachtet, das u.a. handlungsbezogene, affektive und kognitive Dimensionen umfasst. 3 | Zu den statistischen Angaben vgl. Schumann 2011.

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vor dem Hintergrund deutscher Akademischer Kulturen4 Anforderungen, mit denen internationale Studierende nicht notwendigerweise vertraut sind (vgl. Kainzbauer 2002). Durch multikulturelle und mehrsprachige Strukturen entsteht an Hochschulen ein erhöhter »individueller Lernbedarf« (Hiller 2010: 20). Am schwersten scheinen aber die Integrationsprobleme der Bildungsausländer in die Gruppe der deutschen Studierenden zu wiegen. Darauf weisen auch die innerhalb des MUMIS-Projektes erhobenen Datensätze hin.5 Daher scheint es notwendig zu sein, deutsche Studierende und internationale Studierende gemeinsam auf das universitäre Alltagsleben vorzubereiten. Innerhalb des von der Volkswagenstiftung geförderten MUMIS-Projektes/ Teil C (2008-2010) wurde zu diesem Zweck ein interkulturelles Training für den Hochschulkontext entwickelt. Es soll dazu dienen, dass Studierende und Dozenten eine erhöhte cultural awareness entwickeln und Handlungskompetenzen im Umgang mit interkulturellen Missverständnissen in Studium und Lehre erwerben. Sie sollen für Differenzen zwischen deutschen und internationalen Akademischen Kulturen sensibilisiert werden, sich in die Probleme internationaler Studierender hineinfühlen und Handlungsstrategien für interkulturelle Kontaktsituationen entwickeln. Dabei ist es erforderlich, dass alle Dimensionen der interkulturellen Handlungskompetenz, d.h. affektive, kognitive und handlungsbezogene interkulturelle Kompetenzen, gleichermaßen gefördert werden (vgl. Bolten 2001). Durch schriftliche Befragungen in Form von Selbstberichten in Seminaren zur »Interkulturellen Kommunikation in der Hochschule« und über Befragungen mittels qualitativer Leitfadeninterviews wurden kritische interkulturelle Kommunikationssituationen (Critical Incidents) im Hochschulkontext erhoben. Sie sollen als Erkenntnisquelle für die Erforschung von Konfliktbereichen in der interkulturellen Hochschulkommunikation dienen. Anschließend sollen diese Texte in aufbereiteter und didaktisierter Form die Basis für ein hochschulspezifisches, interkulturelles Training bilden.

4 | Unter dem Begriff »Akademische Kultur« wird in der Soziologie eine institutionelle, soziale Praxis verstanden, vgl. Reckwitz 2003. »Kultur« wird in diesem Zusammenhang als ein diskursiv ausgehandeltes Konstrukt definiert, durch das geteilte Wissensbestände in einer kulturellen Gemeinschaft geschaffen werden, vgl. u.a. Knapp 1997, Altmayer 2006. Kultur ist ein dynamisches Konstrukt, eine Sammlung von gleichzeitig existierenden, divergenten Angeboten, vgl. Rathje 2006. Im universitären Kontext können diese Konstrukte fachbezogen sein (Ingenieure, Geisteswissenschaftler, Juristen etc.). Das deutsche Hochschulsystem unterscheidet sich durch das Humbold’sche Universitätskonzept von anderen Akademischen Kulturen, vgl. dazu ausführlicher den Beitrag (1) von Adelheid Schumann in diesem Band. 5 | Zu den statistischen Ergebnissen des Projektes vgl. die Angaben in Kap. 2 dieses Beitrags und in Beitrag (2) von Adelheid Schumann in diesem Band.

V ERFAHREN DER E RHEBUNG , E VALUATION UND D IDAK TISIERUNG VON C RITICAL I NCIDENTS

Der Begriff Critical Incident wird in der Forschung zur interkulturellen Kommunikation als Bezeichnung für Kommunikationssituationen verwendet, in denen Probleme auftreten, die darauf zurückzuführen sind, dass die verschiedenen Diskursgemeinschaften differente Scripts6 bzw. Diskurskonventionen sowie Wissens- und Wahrnehmungsmuster verwenden (vgl. Erll 2010: 119, Lüsebrink 2005: 32). Critical Incidents entstehen dann, wenn die Handlungsweisen verschiedener Interaktionspartner in einer bestimmten Situation unerwartet differieren. Dadurch kommt es zu Irritationen bei zumindest einem der beiden Interaktionspartner und häufig zu einer negativen Wahrnehmung der Gesprächssituation oder zu einer Fehlinterpretation des Gesprächsablaufs. Dies kann wiederum zu einer negativen Bewertung des Gesprächspartners und seines Verhaltens führen (vgl. Da Silva 2010: 17). In der Hochschule können Critical Incidents zudem auf Unterschiede zwischen Akademischen Kulturen zurückgeführt werden (vgl. u.a. Ehlich 2002). Arbeitsformen in Lehrveranstaltungen, Lehr- und Lernstile, studienorganisatorische Aspekte und auch der Umgang mit Dozenten und Kommilitonen weisen Unterschiede auf. Die dadurch bedingten Missverständnisse können sich bei mangelnder Metareflexion zu Stereotypen verfestigen, d.h. die negative Wahrnehmung kann zu negativen Werturteilen und somit zur Bildung von Vorurteilen führen (vgl. Lüsebrink 2005: 86f.). In der metareflexiven Auseinandersetzung mit Critical Incidents innerhalb eines interkulturellen Trainings kann eine cultural awareness geschaffen werden, die dazu beiträgt, das Erleben von der affektiven Ebene der Irritation auf eine kognitive Ebene der Reflexion zu heben. Dadurch können Stereotypisierungsprozesse vermieden werden. Durch den Erwerb einer intercultural sensitivity (vgl. Bennett 1986) wird, indem verschiedene Perspektiven und Standpunkte eingenommen und verglichen werden, das negative Erleben der Situation nicht auf den Kommunikationspartner und dessen Verhalten zurückgeführt, sondern auf einer übergeordneten Ebene analysiert. Aus früheren Studien (vgl. Casper-Hehne 2004, Mehlhorn 2005, Leenen/ Groß 2007, Schumann 2008) sind bereits einige interkulturell konfliktanfällige Kommunikationsbereiche im Hochschulbereich bekannt.7 Für das MUMISProjekt haben wir uns auf die Bereiche konzentriert, die sich auf das Studium im engeren Sinne beziehen und außeruniversitäre und organisatorische Bereiche weitgehend außer Acht gelassen. Für die Erhebung der Critical Incidents wurden folgenden Kommunikationsbereiche im Hochschulkontext betrachtet:

6 | Als Scripts (Drehbücher) werden Schemata bezeichnet, die in Diskursgemeinschaften zur Bewältigung kommunikativer und handlungsorientierter Situationen ausgehandelt und dabei internalisiert werden, vgl. Auernheimer 2006: 151. 7 | Vgl. an dieser Stelle auch den Beitrag (2) von Adelheid Schumann in diesem Band.

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A. Kommunikation in Lehrveranstaltungen: Lehrmethoden, Lernstile, Rollenerwartungen B. Kommunikation mit Dozenten: Leistungsanforderungen, Leistungsbewertung, Beratung C. Kommunikation in Arbeitsgruppen: Diskussionsformen, Selbstständigkeit, Teamarbeit D. Kommunikation unter Studierenden: Alltagskommunikation und studentisches Leben. Für diese Bereiche soll über Critical Incidents als Forschungsinstrument ein detailliertes Verständnis davon gewonnen werden, in welchen konkreten Situationen interkulturelle Missverständnisse in der Hochschule auftreten können und wo aus Sicht der internationalen Studierenden Hindernisse für eine erfolgreiche Bewältigung deutscher Studienanforderungen liegen.

2. F ORSCHUNGSME THODEN ZUR E RHEBUNG VON C RITICAL I NCIDENTS Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von sprach- und kulturwissenschaftlichen Veröffentlichungen, in denen Critical Incidents präsentiert werden. Diese beziehen sich allerdings häufig auf berufliche Kommunikationssituationen8 und nicht primär auf universitäre Kontexte. In Bezug auf den Hochschulbereich besteht nach wie vor ein Mangel an empirischen Erkenntnissen zu interkulturellen Kommunikationsproblemen im Hochschulkontext. Ziel des MUMISProjektes C war es deshalb, durch die Erhebung von Critical Incidents einen Einblick in interkulturelle Kommunikationsprobleme an der Hochschule zu gewinnen und basierend auf den dadurch gewonnenen Erkenntnissen ein interkulturelles Trainingskonzept zu entwickeln. Als Quelle oder Ursache für die jeweiligen Critical Incidents werden innerhalb des MUMIS-Projektes individuelle, interpersonale und situationsspezifische Handlungsprozesse betrachtet, die sich auf kollektive, d.h. von akademischen Diskursgemeinschaften ausgehandelte akademische Konventionen beziehen. Zum sozialen Handlungsfeld der Universität gehören sowohl individuelle Lernerfahrungen und personelle Faktoren als auch im akademischen Diskurs ausgehandelte Konventionen bzw. Scripts, die jeweils die Verhaltensnormen für bestimmte Kommunikationssituationen mitbestimmen. Akademische Kulturen »verfügen über kontextspezifische Verhaltensweisen, Kom8 | Vgl. die von Alexander Thomas herausgegebene Reihe »Beruflich in«, die national orientierte Trainingsprogramme nach dem Culture Assimilator enthält und bei Vandenhoeck & Rupprecht/Göttingen erscheint.

V ERFAHREN DER E RHEBUNG , E VALUATION UND D IDAK TISIERUNG VON C RITICAL I NCIDENTS

munikationsstrukturen und Diskurse, Organisationsformen und materielle Ausstattungen, Raum- und Zeitsysteme, die von denen, die ihnen angehören, in Form der Übernahme eines spezifischen Rollenverhaltens und der Ausprägung eines Habitus« (vgl. Schumann (1) in diesem Band) angenommen werden. Die Entscheidungsfreiheit des Individuums trifft in der institutionellen Kommunikation folglich auf von der Diskursgemeinschaft situativ festgelegte Verhaltensund Kommunikationskonventionen, mit denen man vertraut sein muss, um institutionelle Anforderungen zu meistern. Häufig ist das Individuum aber nur dann mit diesen Konventionen vertraut, wenn es an den entsprechenden Diskursgemeinschaften teilhaben kann. Internationalen Studierenden muss eine solche Teilhabe durch interkulturelle Trainingsmaßnahmen ermöglicht werden. Die anderen Akteure (deutsche Studierende und Dozenten) müssen ihrerseits ein Bewusstsein dafür entwickeln, in welchen Situationen internationale Studierende möglicherweise Unterstützung benötigen. Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzungen wurden internationale Studierende, deutsche Studierende und Dozenten zu ihren interkulturellen Kommunikationserfahrungen im Hochschulkontext befragt. Dies geschah unter anderem in Seminaren zur »Interkulturellen Kommunikation in der Hochschule« zum einen über narrative Texte, in denen Studierende von persönlich erlebten kritischen Kommunikationssituationen berichteten und diese anschließend reflektierten, und zum anderen durch Interviews, die die Seminarteilnehmer mit internationalen Studierenden führten, um Aufschlüsse über deren Probleme im deutschen Hochschulsystem zu erhalten.9 Mittels des »Arbeitsbogen[s] zur Erfassung und Schilderung von Critical Incidents« (M7)10 wurden die Seminarteilnehmer gebeten, persönlich erlebte Critical Incidents und deren Verlauf zu schildern. Außerdem sollten sie Angaben zu folgenden Aspekten machen: 1. Angaben zur Kommunikationssituation (Interaktionspartner/Nationalität/ Studienfach), Ort (Lehrveranstaltung/Sprechstunde/Freizeit), Zeitpunkt des Critical Incidents (Semesterangabe) 2. Hypothesen zu möglichen Ursachen für das Missverständnis. Mittels der narrativen Texte können introspektive Einblicke in die Irritationserfahrungen der Studierenden und die damit verbundenen kognitiven und affektiven Interpretationsprozesse gewonnen werden. Im Folgenden soll dies anhand eines Beispiels veranschaulicht werden. Ein deutscher Studierender der Wirtschaftswissenschaften erzählt von einer kritischen Kommunikationssituation mit einer chinesischen Studentin: 9 | Vgl. den Beitrag von Sonja Schöning in diesem Band. 10 | Zu allen erwähnten Trainingsmaterialien und Arbeitsblättern vgl. »Arbeitsmaterialien zum Interkulturellen Training mit Critical Incidents« in diesem Band.

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E VA -M ARIA H ENNIG »Fehler müssen korrigiert werden« Dieses Ereignis ist mir persönlich passiert. Daher werde ich in der 1. Person erzählen. In einem volkswirtschaftlichen Seminar hat letztes Semester auch eine Studentin aus China teilgenommen, deren Deutschkenntnisse noch sehr begrenzt waren. Mir ist sie sofort aufgefallen, weil sie ein besonders hübsches Mädchen war und eine besondere Ausstrahlung besaß, auch wenn sie nie geredet hat. Eines Tages bemerkte ich sie in der Cafeteria und wir begrüßten uns. Sie saß völlig verzweifelt vor ihrem Ordner und lernte die deutsche Sprache. Ich bot ihr an, ihr zu helfen und sie nahm das Angebot dankend an. Bis zur nächsten Seminarstunde sollte sie einen kurzen Text übersetzen. Nach der folgenden Seminarstunde setzten wir uns gemeinsam in die Cafeteria und gingen ihre Übersetzung durch. Ihre Übersetzung war voller Fehler und kaum ein Satz war weder grammatikalisch noch in Sachen Rechtschreibung korrekt. Ich erklärte ihr genau, was sie falsch gemacht hat (was sehr viel war). Sie fühlte sich anscheinend dadurch zu stark kritisiert und es entstand eine angespannte Stimmung.

Diese Version wurde anschließend modifiziert, indem die Ausführungen des Studierenden auf den kulturellen Kern reduziert und dann in der dritten Person wiedergegeben wurden. Dadurch soll es dem Leser später leichter fallen, das Ereignis aus Sicht beider Kommunikationspartner zu beurteilen und sich in beide Perspektiven hineinzuversetzen. Das Missverständnis beruht hier auf unterschiedlichen Diskursstilen. Der deutsche Studierende unterscheidet bei seiner Kritik zwischen der chinesischen Studentin als Person und ihren Arbeitsergebnissen (einer Sache). Seine Kritik bezieht sich allein auf die Sache und daher formuliert er sehr direkt, um der Chinesin zu helfen. Diese empfindet die Anmerkungen des Kommilitonen jedoch als persönliche Gesichtsbedrohung. Neben dem kulturellen Kern sollte jede Fallgeschichte aus folgenden Bestandteilen bestehen: einer Situationsbeschreibung als Kontext, der Beschreibung der Aktionen und Reaktionen beider Interaktionspartner sowie den Gefühlsbeschreibungen und Interpretationsansätzen beider Interaktionspartner. Jeder Critical Incident bietet also die Möglichkeit, Einblicke in individuelle Irritationserfahrungen zu erhalten, die durch unterschiedliche, situationsspezifische Verhaltens- und Diskurskonventionen hervorgerufen werden (affektive Dimension). Ferner bieten Critical Incidents die Möglichkeit, die Ursachen für die Entstehung der kritischen Situationen auf der subjektbezogenen Ebene und auf der Ebene des sozialen Kollektivs (akademische Diskursgemeinschaft) zu reflektieren und zu diskutieren. Dadurch kann Wissen über Differenzen zwischen Akademischen Kulturen vermittelt werden (kognitive Dimension). Außerdem können Critical Incidents dazu anregen, Handlungsstrategien zur Bewältigung von kritischen Kommunikationssituationen zu formulieren, die dann in realen Situationen angewendet werden können (handlungsorientierte Dimension). Unter Berücksichtigung dieser Aspekte entstand folgende Endversion für das Trainingsmaterial:

V ERFAHREN DER E RHEBUNG , E VALUATION UND D IDAK TISIERUNG VON C RITICAL I NCIDENTS C13: Frederik/Deutschland/Wirtschaftswissenschaften (WS 09/10) Interaktionspartner: chinesische Studentin In einem Seminar lernt Frederik eine chinesische Studentin kennen, die ihm aufgrund ihrer besonderen Ausstrahlung und Schönheit sofort auffällt. Als er sie einmal in der Cafeteria über Übersetzungsaufgaben für ihren Deutschkurs brüten sieht, geht er spontan zu ihr und bietet seine Hilfe an. Die chinesische Studentin willigt dankbar ein, und so beginnt Frederik, die Übersetzung Schritt für Schritt mit ihr durchzugehen, ihre zahlreichen Fehler zu verbessern und ihr genau zu erklären, was sie jeweils falsch gemacht hat. Doch statt den erhofften Dank von der hübschen Studentin zu erhalten, wird diese immer stiller und beendet die Arbeit schließlich abrupt, indem sie erklärt, jetzt unbedingt gehen zu müssen. Frederik versteht nicht, was sie plötzlich hat.

Ungefähr 80 % der Gesamtmenge der erhobenen Critical Incidents wurden auf der Grundlage dieser Erhebungs- und Überarbeitungsmethoden gewonnen. Weitere 20 % wurden über Leitfadeninterviews durch die am Projekt beteiligten Forscherinnen erhoben und anschließend auf Basis der oben beschriebenen Reduktions- und Bearbeitungsmethoden modifiziert. Bei den Interviews handelt es sich speziell um die Form des »problemzentrierten Interviews« (Friebertshäuser/Langer 2010: 437). Diese Interviewform dient dazu, spezifischen, in der Gesellschaft wahrgenommenen Problemstellungen nachzugehen. Der Interviewer orientiert sich bei der Befragung an einem Leitfaden, versucht aber im Wesentlichen, sich der Gesprächsgestaltung durch den Interviewten anzupassen. Durch Nachfragen oder das Hinweisen auf Widersprüche in den Aussagen des Interviewten werden die Ausführungen jeweils vertieft. Vor Beginn des eigentlichen Gesprächs werden biographische Eckdaten abgefragt, um den Gesprächsverlauf von einem typischen Frage-Antwort-Schema zu entlasten. Dies geschah im Projekt über Nachfragen zur Lern- und Bildungsbiographie. Nach jedem Interview wurde ein Postscriptum (vgl. ebd.) angefertigt, in dem die Erklärungsansätze und Interpretationen der Interviewten für die Ursachen und die Entstehung des Critical Incidents aufgenommen wurden. Für die verschiedenen Probandengruppen (Dozenten, deutsche Studierende und internationale Studierende) wurden unterschiedliche Leitfragen entworfen. Entscheidend für die Wahl eines Fragebogens während der Befragung war aus subjekttheoretischen Gründen (vgl. Grotjahn 2005) die Selbstdefinition der Befragten, die berichten sollten, welcher Akademischen Kultur sie sich zugehörig fühlen. Zudem wurde darauf geachtet, dass die Probanden ein möglichst breites Spektrum an Fachrichtungen und Studiengängen abdeckten, da akademische Diskurskulturen innerhalb des deutschen Hochschulsystems je nach Fachkultur deutlich unterschiedlich sein können (vgl. Huber 1991: 15f.). Ein solcher Leitfaden ist nun auszugsweise im Folgenden abgedruckt:11 11 | Der Leitfaden wurde von Katharina Moll erstellt.

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E VA -M ARIA H ENNIG Teil I: Biographische Daten 1. Wie heißt du, aus welchem Land kommst du? 2. Wie lange bist du schon in Deutschland? An der Universität X? 3. Was studierst du/hast du studiert? Teil II: Lernbiographie und Erfahrungen im deutschen Hochschulsystem 1. Als du nach Deutschland kamst und dein Studium begonnen hast, was hat dich am meisten verunsichert? 2. Inwiefern unterscheidet sich das Studium an deiner ehemaligen Heimatuniversität vom Studium an der deutschen Universität? 3. Wie kommst du mit den Lernmethoden und dem Lern- und Lehrstil zurecht? Art der Veranstaltungen: Vorlesungen, Seminare, Übungen Arten der Leistungserbringung: Klausuren, Referate, Hausarbeiten 4. Weißt du immer, was in Lehrveranstaltungen von dir erwartet wird? Gibt es Schwierigkeiten? 5. Wie ist dein Verhältnis zu den Dozenten? Ist das Verhältnis Student-Dozent anders als in deinem Heimatland? Gibt es manchmal Kommunikationsprobleme, die nicht auf Sprachschwierigkeiten zurückzuführen sind? (Beschreibe mal eine Situation, die für dich merkwürdig war bzw. in der du dich unwohl/missverstanden gefühlt hast.) 6. Hast du Situationen erlebt mit deutschen Studenten/Kollegen, die schwierig für dich waren? z.B. im Studen ten wohnheim oder an der Uni in Vorlesungen, beim gemeinsamen Frühstück, in der Mensa/Cafeteria … 7. Gab es Situationen, in denen du dich unwohl gefühlt hast, vielleicht missverstanden und du weißt nicht warum? (Beschreibe mal eine Situation, die für dich merkwürdig war bzw. in der du dich unwohl/miss ver stan den gefühlt hast.) 8. Hast du guten Kontakt zu deutschen Studierenden? 9. Fühlst du dich an der Uni X gut integriert? Hast du aktiv etwas für deine Integration getan? 10. Hast du das Gefühl, dass du im Laufe der Zeit immer besser zurechtkommst im deutschen Universitätssystem?

Die digital aufgezeichneten Interviews wurden anschließend auszugsweise transkribiert, um aus den in dialogischer Form vorliegenden Daten Rückschlüsse ziehen zu können auf die Irritationserfahrungen der Befragten. Ziel war es zunächst, den Kern des Missverständnisses auszumachen und nähere Erläuterungen des Befragten zur erzählten Situation zu erhalten, d.h. den Kontext für das eigentliche Missverständnis zu erfahren. Dies soll anhand des folgenden Auszugs aus einem Interview veranschaulicht werden (vgl. Tab. 1: Eduardo = E/ Interviewer = I).

V ERFAHREN DER E RHEBUNG , E VALUATION UND D IDAK TISIERUNG VON C RITICAL I NCIDENTS

Tab. 1: Transkription einer Aufnahmesequenz mit Eduardo/Kolumbien/ gekürzte Version (SS 08) I

Hast du mal im Gespräch mit Dozenten Kommunikationsprobleme gehabt, die nicht auf die Sprache zurückzuführen waren? (-) Irgendeine Situation, in der du Kontakt mit einem Dozenten hattest und es war irgendwie komisch und du wusstest nicht warum, oder…

E

[…] Also das war, erst als ich das gemacht habe, habe ich festgestellt, dass das unpassend war in diesem Moment, weil, die Person hat sie mich angekuckt, sie hat mir die Hand gegeben, aber ich habe sofort festgestellt, das macht man nicht. Nie wieder, also das war ein bisschen Missverständnis, ich weiß nicht warum, ganz spontan das gemacht […] Wie hat es reagiert? Erst mal war total schockiert. Ich habe dieses schockiertes Gesicht gesehen. >lacht< Oooh, faaalsch. So da hat aber eine Sekunde, fast weniger als eine Sekunde gedauert und die Person hat (-) okay, ich mache dann mit. >streckt die Hand zur Begrüßung aus wie der Dozent< >beide lachen< […]

E

Und ich okaaay…

I

Wie ist das in Kolumbien? Weil da gibt man sich ja auch nicht die Hand, oder?

E

Jaaa (-), hier bei Professoren es gibt, obwohl normalerweise eine sehr hierarchisierte Gesellschaft ist, (-) man sogar die Professoren duzt, das ist dort möglich (-) und den Hand es ist irgendwie (-) Standardbegrüßung, Verabschiedung, also normal.

I

Und wer reicht, gibt zuerst die Hand?

E

Der sich verabschieden will.

I

Nein, also…

E

Also es gibt, nicht der Älteste oder der Professor, sondern es ist in dem Zusammenhang: Ich will das jetzt hier irgendwie langsam zum Ende bringen, ja, okay, muss gehen, man fängt an.

I

Und bei der Begrüßung auch?

E

Ja, normalerweise.

I

Und wer fängt dann da an? Also wenn, du kommst zum Professor ins Büro und du kommst rein.

E

Ja okay, da muss man ein bisschen differenzieren. Das ist wahrscheinlich nicht mit jedem und nicht in jeder Situation, aber normalerweise die Person, die kommt, die ankommt, diese Person.

I

Aaah, okay. Weil hier in Deutschland ist es ja eher so, wenn jemand die Hand gibt, dann der, der Höhergestellte.

E

Alles klar. Ne ne, ich habe schon gelernt.

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E VA -M ARIA H ENNIG I

Wenn dir jetzt der Professor, wenn, du kommst zum Professor ins Büro und er reicht dir die Hand…

E

dann geht das.

I

dann geht das.

E

Oh Mann. Ich habe hier eine Unverschämtheit gemacht. >lacht< Aber ich wusste es nicht. Aber wie gesagt, ich habe dieses Mal schon sofort gemerkt, dass das gar nicht geht und jetzt mach ich das ganz brav. >beide lachen