Handbuch Sprache in der Literatur 9783110297898, 9783110295849

This handbook deals with linguistic aspects of literature and literary knowledge.Its contributions, written by leading e

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German Pages 591 [604] Year 2017

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Grundlegendes
1. Was oder wann ist Literatur?
2. Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck
3. Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen seit dem Mittelalter
II. Textbeschaffenheit
4. Literatur aus der Sicht von Text- und Diskurslinguistik
5. Der besondere Einsatz der sprachlichen Mittel im literarischen Erzähltext. Das Beispiel der Personalpronomen
6. Das Wort im literarischen Text
7. Metaphern in literarischen Texten
8. Satz und Zeichensetzung: Formen, Variationen, Entgrenzungen
III. Textproduktion
9. Entwürfe und Revisionen der Dichterinstanz – poeta vates, poeta imitator, poeta creator
10. Das Problem der Ästhetizität von Texten
11. Dialogizität und Intertextualität
12. Medialität
13. Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen in literarischen Texten
14. Abweichen als Prinzip
15. Ironie als Prinzip
16. Das Emotionspotenzial literarischer Texte
IV. Textmerkmale von Epik, Lyrik und Dramatik
17. Fiktionalität und Fiktionalitätssignale
18. Erzählern aufs Wort glauben? Sprachliche Merkmale der fiktionalen Kommunikation
19. Sprache (in) der Lyrik
20. Sprachspiele und Rhetorische Figuren in der Lyrik
21. Sprache in Drama und Theater
22. Fingierte Mündlichkeit und poetische Sprachgestalt im Theatertext
V. Textrezeption
23. Interpretation
24. Metaphern verstehen. Probleme einer literarischen Hermeneutik
VI. Perspektiven auf besondere literarische Bereiche
25. Der Umgang mit Sprache in der Migrationslitera
26. Pop-Literatur
27. Sprache in der Prosa für Kinder und Jugendliche
28. Sachprosa, Sachtexte, Sachbuch
Sachregister
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Handbuch Sprache in der Literatur
 9783110297898, 9783110295849

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Handbuch Sprache in der Literatur HSW 17

Handbücher Sprachwissen

Herausgegeben von Ekkehard Felder und Andreas Gardt

Band 17

Handbuch Sprache in der Literatur

Herausgegeben von Anne Betten, Ulla Fix und Berbeli Wanning

ISBN 978-3-11-029584-9 e-ISBN [PDF] 978-3-11-029789-8 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-039508-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning Einleitung   IX

I. Grundlegendes Thomas Hecken 1. Was oder wann ist Literatur? 

 3

Lars Koch 2. Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck   18 Marina Münkler 3. Transformationen der Freundschafts­semantik in Diskursen und literarischen Gattungen seit dem Mittelalter   55

II. Textbeschaffenheit Kirsten Adamzik 4. Literatur aus der Sicht von Text- und Diskurslinguistik 

 97

Emmanuelle Prak-Derrington 5. Der besondere Einsatz der sprachlichen Mittel im literarischen Erzähltext. Das Beispiel der Personalpronomen   120 Ulrich Knoop 6. Das Wort im literarischen Text 

 140

Simona Leonardi 7. Metaphern in literarischen Texten 

 160

Martina Wörgötter Satz und Zeichensetzung: Formen, Variationen, Entgrenzungen  8.

 182

VI 

 Inhaltsverzeichnis

III. Textproduktion Monika Schmitz-Emans 9. Entwürfe und Revisionen der Dichterinstanz – poeta vates, poeta imitator, poeta creator   205 Henrik Nikula 10. Das Problem der Ästhetizität von Texten  Angelika Redder 11. Dialogizität und Intertextualität 

 236

 252

Ernest W. B. Hess-Lüttich 12. Medialität   272 Hanspeter Ortner 13. Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen in literarischen Texten   290 Britt-Marie Schuster 14. Abweichen als Prinzip  Michael Hoffmann 15. Ironie als Prinzip 

 310

 330

Monika Schwarz-Friesel 16. Das Emotionspotenzial literarischer Texte 

IV.

 351

Textmerkmale von Epik, Lyrik und Dramatik

Georg Weidacher 17. Fiktionalität und Fiktionalitätssignale 

 373

Marie-Hélène Pérennec 18. Erzählern aufs Wort glauben? Sprachliche Merkmale der fiktionalen Kommunikation   391 Ulrich Breuer Sprache (in) der Lyrik  19.

 410

Inhaltsverzeichnis 

Hans-Werner Eroms Sprachspiele und Rhetorische Figuren in der Lyrik  20. Hermann Korte 21. Sprache in Drama und Theater 

 VII

 425

 449

Michaela Reinhardt 22. Fingierte Mündlichkeit und poetische Sprachgestalt im Theatertext 

 462

V. Textrezeption Andreas Gardt 23. Interpretation 

 487

Jens Birkmeyer 24. Metaphern verstehen. Probleme einer literarischen Hermeneutik 

VI.

Perspektiven auf besondere literarische Bereiche

Eva-Maria Thüne 25. Der Umgang mit Sprache in der Migrationsliteratur  Moritz Baßler 26. Pop-Literatur 

 550

Bettina Kümmerling-Meibauer/Jörg Meibauer 27. Sprache in der Prosa für Kinder und Jugendliche  Michael Schikowski 28. Sachprosa, Sachtexte, Sachbuch  Sachregister 

 582

 531

 569

 559

 509

Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning

Einleitung

1 Zur Konzeption des Bandes Von allen Wissensbeständen, die in der Handbuchreihe Sprachwissen bearbeitet werden, sind diejenigen, die Sprache in der Literatur betreffen, wohl besonders schwer zu erfassen. Im Bereich der Literatur gibt es bekanntlich nicht das Feste, Normgebundene, durch Konventionen Abgesicherte des Sprachgebrauchs, wie wir es aus den zentralen Textwelten kennen, die Adamzik (2016, 119) „Standardwelt“ (zu der der Alltag gehört) und „Welt der Wissenschaft“ nennt. Diese Welten bzw. deren zen­ trale Wissensdomänen und Handlungsfelder sind es auch, die in der Handbuchreihe in ihren relativ verbindlichen, den Sprachgebrauch bestimmenden Ausprägungen als Recht, Wirtschaft, Medizin, Öffentlichkeit, Politik, Organisationen u. a. ihren Platz haben. Im speziellen Handlungsfeld der Literatur dagegen sind sowohl die Prozesse der Produktion als auch die der Rezeption viel offener und individueller. Das heißt, man hat es, wenn man sich mit Literatur befasst, mit der „Welt des Spiels, der Fan­ tasie“ (ebd.) zu tun, also mit einem höheren Grad an Unbestimmtheit und Offenheit als gewöhnlich, mit der Herausforderung zu Neuem, mit dem Spiel zwischen Norm und Abweichung, mit dem Streben nach dem Anderssagen. Wie aber soll man eine Sprachverwendung erfassen, in der die sprachlichen Mittel nicht eindeutig festgelegt sind, sondern entgegen ihrer üblichen Verwendung eingesetzt werden können, so dass vieles möglich ist? Durch die Themensetzungen dieses Bandes versuchen wir zu zeigen, dass es trotz oder gerade wegen dieser Offenheit auch Festes und Musterhaftes gibt, also eigene Prinzipien sowie Bevorzugungen bestimmter Mittel und Verfahren, z. B. nach Gattung und Epoche, die zu beschreiben sich als Ansatz für ein Handbuch anbietet. Nur darf dabei nie vergessen werden, dass alles auch ganz anders gesagt werden kann. Diese Gedanken haben wir unserer Konzeption zugrunde gelegt. Im Mittelpunkt aller Beiträge steht, gemäß dem gemeinsamen Anspruch sämt­ licher Themenbände der Reihe, die Frage, welches Wissen gebraucht wird, um lite­ rarische Texte zu produzieren und zu verstehen. Da dieses Wissen um historische und zeitgenössische literarische Techniken und sprachliche und textsorten- bzw. gat­ tungsspezifische Erscheinungsformen erlernbar ist, eröffnet sich den Leserinnen und Lesern eine neue Sicht auf Bekanntes wie auch auf in dieser Form noch nie Gesehenes und Gehörtes. Eine weitere wichtige Überlegung für unsere Gesamtkonzeption war, ob und wie wir den unterschiedlichen Blick von Sprach- und Literaturwissenschaften auf unser Thema berücksichtigen und auch verdeutlichen sollen. Obgleich die Beschäftigung mit Sprache in der Literatur als ein gemeinsames Anliegen angesehen werden kann, DOI 10.1515/9783110297898-203

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 Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning

hat die theoretische und methodische Ausdifferenzierung der beiden Disziplinen in den letzten Jahrzehnten doch auch zu einer bedauerlichen Entfremdung geführt, so dass zentrale Fragestellungen oft ganz unterschiedlich bearbeitet werden (vgl. Betten/ Schiewe 2011). Wenn die Reihenherausgeber für diesen Band mit Berbeli Wanning eine didaktisch ausgerichtete Literaturwissenschaftlerin und mit Anne Betten und Ulla Fix zwei auf Text- bzw. Dialoglinguistik und Stilistik spezialisierte Linguistin­ nen zur Zusammenarbeit aufgefordert haben, so dürften sie nicht zuletzt im Sinn gehabt haben, eine Auseinandersetzung mit den Wissensbeständen und Erfahrungen des jeweils anderen Fachgebietes anzuregen. Als Folge ergeben sich v. a. durch die Auswahl der Autorinnen und Autoren der einzelnen Artikel (s. u.) aufschlussreiche Einblicke in teilweise beträchtlich voneinander abweichende Auffassungen darüber, was Literatursprache eigentlich ausmacht und welche Bedeutung der je spezifischen Sprache eines Autors, einer Gattung, einer Epoche für die Werkkonstitution und Interpretation beigemessen werden. Eine detaillierte Abstimmung des methodischen Vorgehens war beim gegenwärtigen Verhältnis und Selbstverständnis der germanis­ tischen Teilfächer (vgl. Bleumer u. a. 2013) nicht möglich, aber, wie wir meinen, auch nicht nötig. Für BenutzerInnen und Benutzer des Handbuchs eröffnet sich nämlich gerade deshalb die Gelegenheit, sich selbst ein Bild von den jeweiligen Herangehens­ weisen der beiden Disziplinen zu machen und zu prüfen, worin sie divergieren, über­ einstimmen oder sich wechselseitig ergänzen. So verstanden ist der Band auch ein Plädoyer, die (Diskussions-)Schranken zwischen den Disziplinen aufzuheben, das Gespräch wieder aufzunehmen, Gemeinsamkeiten und wünschenswerte wechselsei­ tige Einflüsse zu überdenken und Felder möglicher künftiger Zusammenarbeit neu auszuloten. Obwohl die eher theoriegeleiteten Artikel nicht, wie konventionellerweise viel­ leicht zu erwarten, in einem Eröffnungskapitel zusammengefasst sind, weil die Gesamtkonzeption anderen Leitlinien folgt, können sich die an einem Vergleich der sprach- und literaturwissenschaftlichen Zugänge Interessierten z. B. durch gegen­ überstellende Lektüre der Artikel von Thomas Hecken, Monika Schmitz-Emans, Jens Birkmeyer (Literaturwissenschaft) und von Kirsten Adamzik, Henrik Nikula, Hanspe­ ter Ortner (Sprachwissenschaft) einen ersten Überblick verschaffen. Die unterschied­ lichen Herangehensweisen zeigen sich besonders in den Schwerpunktsetzungen der Behandlung konkreter Themen. Ein wesentlicher Teil der Beiträge weist eine intensive Rezeption der Methoden der jeweils anderen Disziplin und die Auseinandersetzung damit auf, was besonders für die text- und dialogwissenschaftlich basierten Artikel gilt. In summa könnte (und sollte) daher trotz aller gegenteiligen Behauptungen, wie man sie in beiden Teildisziplinen finden kann, der Eindruck überwiegen, dass sich die meisten zumindest der hier zu Wort kommenden Wissenschaftlerinnen und Wis­ senschaftler mit den Forschungsergebnissen des ganzen Faches (und darüber hinaus) auseinandergesetzt haben und bei ihren Analysen davon überzeugend profitieren. Damit werden in diesem Band, wenn auch ohne eine explizite programmatische Aus­ einandersetzung, Beispiele gegeben, wie die germanistischen Teildisziplinen sich bei

Einleitung 

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einem ihrer zentralen gemeinsamen Themenfelder wieder annähern und gegenseitig inspirieren können.

2 Zum Aufbau des Bandes In ihrem Einleitungsaufsatz zum Band 1 der Reihe Sprachwissen haben die Herausge­ berinnen die ihnen wesentlich erscheinenden Gedanken und Positionen zum Thema „Sprache in der Literatur“ bereits dargelegt (Betten/Fix/Wanning 2015), ansetzend an der alten Frage, was denn Literatur eigentlich sei, fortgeführt durch die proble­ matisierende Betrachtung von Mitteln, Verfahren und Mustern der Produktion lite­ rarischer Texte bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Abweichens, mit Deautomatisierung als poetologischem Prinzip der Moderne und zur Diskussion des Verhältnisses von Wissen, Verstehen und Interpretieren. Im vorliegenden Band werden nun die dort nur kurz angesprochenen Phänomene ausführlich und spezifi­ ziert behandelt. Die 28 Beiträge sind einzelnen Themenfeldern, die unsere Gliederung bestimmen, nämlich Textbeschaffenheit, Textproduktion, Textrezeption und -vermittlung sowie Perspektiven auf einige besondere literarische Bereiche in unterschiedlicher quantitativer Gewichtung zugeordnet. Die längeren bieten jeweils eine Basisorientierung für die darauf folgenden Themenfelder. Für die Strukturierung des Bandes war es hilfreich, sich die verschiedenen Wis­ sensbestände, über die wir für den Umgang mit literarischen Texten verfügen, genauer vor Augen zu führen. Zunächst war es unser Anliegen, einen Aufsatz voranzustellen, der zum Gegenstand literarischer Text, mit dem sich jeder Beitrag befasst, Grundsätz­ liches mitteilt. Das leistet Thomas Hecken mit der Antwort auf seine Frage „Was oder wann ist Literatur?“, indem er das Phänomen ‚Literatur‘ an seiner Begriffsgeschichte abhandelt. Weiter erschien es uns notwendig, das, was wir zum Gegenstandsbereich Literatur wissen, nach diachronem und synchronem Wissen zu unterscheiden. Aus diachroner Perspektive geht es darum, literarische Texte als historische Phänomene, die inhaltlich und formal etwas über ihre Zeit aussagen, zu betrachten. Daraus ergab sich die Idee, statt der in Handbuchkontexten eher üblichen Kategorienbeschrei­ bungen – z. B. die Fragen: Was ist eine Epoche? Wie definieren und beschreiben wir Zeitstile? – zwei exemplarische Beschreibungen von Diskurssträngen durch die Jahr­ hunderte vorzustellen. Die Ausgangsfragen, die wir uns stellten, waren: Wie werden Leitthemen in Diskursen über die Zeiten hinweg literarisch behandelt? In welcher Gattung, in welcher Sprachform, mit welcher Perspektivierung erscheinen sie in einer jeweiligen Zeit? Und wie verändern sich diese Phänomene? Die zwei Beiträge, die das leisten, sind der Text von Lars Koch, „Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck“, sowie Marina Münklers Abhandlung zu „Transformatio­ nen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen seit dem

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 Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning

Mittelalter“. Beide zeigen in einem Überblick über literarische und sprachlich-gat­ tungsmäßige Entwicklungen eines Diskurses exemplarisch auf, wie Historizität und Literarizität zusammengehen. Diese aus thematischen Gründen umfangreicheren Beiträge folgen dem Aufsatz von Thomas Hecken, leiten den Band also gleichsam mit ein. Bei der Betrachtung des Phänomens Literatur und des literaturspezifischen Wissens aus synchroner Perspektive ging es den Herausgeberinnen darum, im Rahmen der Textproduktion Wissen über Textbeschaffenheit, Verfahren und Prinzipien der Herstellung literarischer Texte sowie spezifische Textmerkmale im Bereich von Lyrik, Epik und Dramatik zu erfassen. Der Blick richtet sich auf die Wissensbestände, die bei der Textrezeption und -vermittlung eine Rolle spielen. Es zeigen sich so neue Perspektiven auf Literatur. Grundlegende Beiträge stehen dem jeweiligen Teil voran, speziellere folgen. Der Teil, der sich der Textbeschaffenheit mit der Frage widmet, was wir über die Formbedingungen und Formmöglichkeiten literarischer Texte wissen, wird eingelei­ tet von Kirsten Adamziks Beitrag „Literatur aus der Sicht von Text- und Diskurslin­ guistik“. Adamzik konstatiert, an dem Nebeneinander von Sprach- und Literaturwis­ senschaft ansetzend, dass es unmöglich sei, bestimmte Merkmale für Literarizität festzulegen. Sie schlägt vor, die Merkmale in Beschreibungsdimensionen umzudeu­ ten, die sich auf sprachliche Äußerungen aller Art anwenden lassen. „Im Einzelnen werden drei Literarizitätsmerkmale auf allgemeinere Eigenschaften zurückgeführt: Poetizität ist verbunden mit hohem Gestaltungsaufwand, Fixierung (Schriftlich­ keit) wird operationalisiert als Geltungsdauer und Überlieferungswert, Fiktionalität schließlich lässt sich in der allgemeinen Frage nach Bezugswelten aufheben.“ Dieser grundlegenden theoretischen Überlegung zur Frage, ob und wie Litera­ rizität bestimmt werden kann, die den Gestaltungsaufwand, also den sprachlichen Anteil, einbezieht, folgen nun Beiträge, die sich ebendiesem Gestaltungsaufwand widmen: Emmanuelle Prak-Derrington geht in ihrem Beitrag „Der besondere Einsatz der sprachlichen Mittel im literarischen Text“ davon aus, dass die heutigen Erzähltheo­ rien „in zwei entgegengesetzte Richtungen aufgeteilt werden können“: die sog. ‚kom­ munikativen‘ (Chatman, Genette u. a.) und die ‚poetischen‘ (Banfield, Kuroda u. a.). Die Antwort auf die Frage, ob man den literarischen Text immer als einen kommuni­ kativen Akt betrachten könne, laute anders, je nachdem, wie bestimmte sprachliche Mittel (vgl. Pérennec in diesem Band) interpretiert würden. Da dabei die Kategorie der Person eine besondere Rolle spielt, exemplifiziert Prak-Derrington dies im Folgenden am Beispiel der Personalpronomina. Sie fragt, welche Potenzen der Gebrauch von Personalpronomen für das Erzählen hat, und zeigt, wie durch den Einsatz von Pro­ nomen zwei grundlegende Modi des Erzählens sowie zwei grundlegende Modi des Lesens gestaltet werden können. In dem Beitrag von Ulrich Knoop geht es um „Das Wort im literarischen Text“. In der Gegenüberstellung zum außerliterarischen Umgang mit dem Wort werden die

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Möglichkeiten des Gebrauchs eines literarischen „offenen“ Wortes als wesentlich vielfältiger angesehen. Das Spektrum des „Standards“ werde immer wieder in seine gesamtsprachlichen Möglichkeiten hinein erweitert, deren Erfassung „Grammatik“ und „Wörterbuch“ nur in Ansätzen leisten können. Das literarische Wort könne in glückenden Fällen die gewohnte sprachliche „Abbildung“ (Bedeutung) aufheben und mit seiner Performanz dem Vergänglichen des Realen die Dauer der wörtlichen Erscheinung (Sein) geben. Wie das Wort ist auch die Metapher nicht spezifisch für literarische Texte, sie trägt jedoch oft entscheidend zur ästhetischen Wirkung bei. Simona Leonardi beschäf­ tigt sich mit den „Metaphern in literarischen Texten“, d. h. mit den „verschiedenen Möglichkeiten des kreativen Umgangs mit Metaphern“, und zwar sowohl mit deren verschiedenen Typen als auch ihren Funktionen. Über die „traditionell eher philoso­ phisch bzw. kultur- und literaturwissenschaftlich“ orientierte Metaphorologie hinaus wird den Beziehungen der Metaphern zur alternativen Logik, ihrer textuellen Funk­ tion (u. a. zu Kohärenzbildung) und auch diachronen Veränderungen nachgegangen. Dass auch der Syntax und, mit ihr verbunden, der Interpunktion als Stilmitteln große Bedeutung zukommen kann, behandelt Martina Wörgötter an Beispielen des 19. und 20. Jahrhunderts. Waren seit der Klassik, aber auch noch bis tief ins 20. Jahr­ hundert hinein v. a. der kunstvolle Gebrauch als grammatisch korrekt geltender Satz­ modelle, die Variation von Wortstellung und Satzumfang (besonders Komplexität) Merkmale literarischen Stils, so brach die Moderne diese eher geschlossenen Formen auf, was Wörgötter am naturalistischen Drama ebenso wie an symbolistischer und expressionistischer Lyrik und v. a. an den avantgardistischen Strömungen in Lyrik und Prosa nach 1950 durch die „Formen, Variationen und Entgrenzungen“ von Satz und Zeichensetzung demonstriert. In dem Teil des Handbuchs, der dem Thema Textproduktion gewidmet ist, geht es zunächst um Verfahren der Textherstellung. Hier ist ein Beitrag zum Thema „Entwürfe und Revisionen der Dichterinstanz“ von Monika Schmitz-Emans vorangestellt. Aus­ gehend von der antiken Vorstellung, dass „der schöpferische Impuls vom Göttlichen selbst“ ausgehe, werden die „wechselnden historischen Ausprägungen“ der Entwürfe der Dichterinstanz skizziert: vom inspirierten poeta vates über den an „Überlieferun­ gen bzw. Regeln“ orientierten poeta imitator und poeta doctus hin zum poeta creator als Autor im neuzeitlichen Sinne (v. a. als Genie und Konstrukteur), sowie schließlich zum postauktorialen „Schreibersubjekt“ und dem neuen Dichtermodell des poeta linguisticus, in dessen literarisch-poetologischen Texten die „Beziehung des Schriftstel­ lers zur Sprache“ im Zentrum stehe. Es folgt ein Beitrag von Henrik Nikula zum Thema „Das Problem der Ästhetizi­ tät von Texten“, in dem literarische bzw. ästhetische Kommunikation als eine Konse­ quenz von Entkontextualisierung betrachtet wird, die es ermöglicht, Emotives in einer direkteren Weise zu vermitteln, als dies bei nichtliterarischer Kommunikation der Fall ist, was sich an der sprachlichen Gestaltung festmachen lässt. Welche Text­sorte als literarisch gelten kann, ist davon abhängig, ob sie konventionell bzw. prototypisch in

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literarischer Kommunikation zum Einsatz kommt. Als Texttyp unterscheiden sich die literarischen Texte von Gebrauchstexten nicht durch eine besondere übergeordnete Textfunktion, sondern dadurch, dass sie ein offenes Angebot an Interpretationsmög­ lichkeiten darstellen. Angelika Redder wählt für ihre Ausführungen zu „Dialogizität und Intertextu­ alität“ einen wissenschaftsgeschichtlichen und einen systematischen Zugang: dies erfordere die Klärung des Sprachbegriffs, der für die Kategorien Sprache und Litera­ tur einschlägig sei. Von Bachtin ausgehend, wird die moderne Forschungsdiskussion der beiden Konzepte als Ausdruck wissenschaftsgeschichtlich sukzessiver Kritik dar­ gestellt; ihre Aufnahme in die Textlinguistik erweiterte die Diskussion um die Gegen­ überstellung mit allen nicht-poetischen Texten, was den „forschende[n] Blick“ auf „immer wieder andere Faktoren der Kommunikation oder Kriterien der Textualität“ lenke. Der Beitrag von Ernest W. B. Hess-Lüttich über „Medialität“ geht der Verände­ rung des Textbegriffs durch den Einfluss elektronischer Medien in einer historisch fundierten Weise nach. Beginnend bei der Medialität des literarischen Textes als solchem rekonstruiert der Autor verschiedene zeichen-, diskurs- und literaturtheo­ retische Ansätze der letzten Jahrzehnte und konzentriert sich dabei auf den für die digitalen Medien wichtigen Begriff der Intertextualität, dessen traditionelle Skalie­ rungen heute im Konzept des ‚Hypertextes‘ bzw. der ‚Hyperfiction‘ im Rahmen der Digital Humanities fortgesetzt werden. Von da ist es zu einer Theorie der Intermedi­ alität nicht mehr weit: Hess-Lüttich zeigt die Entwicklung von den 1980er Jahren bis zur Jahrtausendwende anhand zahlreicher Beispiele. Dabei kommen dem Leser, der gewissermaßen Co-Autor einer Hyperfiction wird, verschiedene neue Funktionen zu. Aktuell lassen sich Übergänge zu verschiedenen neuen Kunstformen beobachten. Die Geschichte der Hyperfiction ist noch lange nicht abgeschlossen. Im nächsten thematischen Teil des Handbuchs werden Prinzipien der Textgestaltung betrachtet. Vorangestellt wird diesen Beiträgen der Artikel von Hanspeter Ortner „Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen in literarischen Texten“, der das für literarische Texte konstitutive Prinzip der Semanti­ sierung aufdeckt. Durch die konventionelle Versprachlichung von Wissen komme es zur Erfahrungsreduktion, manchmal zum Erfahrungsverlust. Durch Semiotisierung, das ist die Neu-Etablierierung von Zeichen- und Kommunikationsverhältnissen, soll ein neuer, lebendiger Bezug zur Erfahrung hergestellt werden, wobei unter Erfahrung das unbewusste Wissen, gleichsam die „Rückseite“ des deklarativen Wissens, ver­ standen wird. Es folgt der Beitrag von Britt-Marie Schuster zum „Abweichen als Prinzip“, in dem das Abweichen gleichermaßen als auf das Sprachsystem und den Sprachge­ brauch bezogen, als mit literarischen Arbeitstechniken korrespondierend und als intensive Arbeit am Sprachmaterial vorgestellt wird. Zentral ist die Beantwortung der Frage, wie sich herkömmliches Abweichen von literarischem unterscheidet. An Bei­ spielen aus den Werken von Kurt Schwitters und Arno Schmidt u. a. wird gezeigt, wie

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Abweichungen miteinander vernetzt sein können und welche Rezeptionsleistung sie von den Leserinnen und Lesern erfordern. Michael Hoffmann wendet sich der „Ironie als Prinzip“ zu. Er betrachtet sie als konstitutiv für „bestimmte Arten von Literatur“, wie z. B. für die Textsorten Satire und Glosse. Zudem kann sie, so stellt er ergänzend fest, Texte belletristischer Gat­ tungen in ihrem individuellen Charakter prägen. Er zeigt, wie man Texten den ironi­ schen Gebrauch sprachlicher Mittel ansehen und wie man diesen beschreiben kann. Außerdem setzt er sich mit dem traditionellen Verständnis von Ironie und Positionen neuerer Forschung auseinander. Dem „Emotionspotenzial literarischer Texte“ widmet sich Monika SchwarzFriesel, da ihre Wirkung maßgeblich davon abhänge. Auch wenn die Bedeutung von Gefühlen und die „Interaktion von Kognition und Emotion“ nicht erst seit der „emo­ tiven Wende“ in den 1990er Jahren, sondern bereits seit der Antike sowohl für die conditio humana im Allgemeinen als auch für die Funktion von Literatur im Beson­ deren (von Horaz‘ Ars poetica bis z. B. zu Ingeborg Bachmanns Wozu Gedichte) als existenziell angesehen wird, blieb sie bisher in der literaturwissenschaftlichen Aus­ einandersetzung auf wenige Analysen beschränkt. Vorgestellt wird ein Ansatz, der die „explizit und implizit kodierten Emotionsmanifestationen“ nicht nur auf allen sprachlichen Ebenen erfasst, sondern darüber hinaus „die spezifische Interaktion von Referenz, Über- und Unterspezifizierung und Informationsstruktur des gesamten Textes“ einbezieht. In den folgenden Beiträgen geht es weiter um Fragen der Textgestaltung, nun aber unterschieden nach Epik, Lyrik und Dramatik. Im Kontext spezifischer Probleme der Epik wendet sich Georg Weidachers Beitrag „Fiktionalität und Fiktionalitätssi­ gnale“ gegen den Vorwurf, Autoren fiktionaler Texte verbreiteten Lügen, und gegen die damit einhergehende Abwertung von Fiktionalität. Mit fiktionalen Texten sei keine Täuschung des Rezipienten intendiert und der fehlende Bezug zur empirischen Wirklichkeit werde anders als bei Lügen offen angezeigt. Das ist der pragmatische Aspekt von Fiktionalität. Zusätzlich konstatiert er den referenzsemantischen Aspekt, nämlich den Bezug auf eine fiktionale Textwelt. Autor und Rezipient eines fiktiona­ len Textes müssen daher ihre Textweltmodelle äquilibrieren, sodass beide dem Text einen übereinstimmenden kommunikativen Sinn zuschreiben, dessen wesentlicher Bestandteil die fiktionale Modalität der Referenzen ist. In einem prototypischen fikti­ onalen Text finden sich zu diesem Zweck Fiktionalitätssignale in Form paratextueller Hinweise und textueller Indizien. Marie-Hélène Pérennec untersucht in ihrer Abhandlung „Erzählern aufs Wort glauben? Sprachliche Merkmale der fiktionalen Kommunikation“ die Beziehungen zwischen Leser und Erzähler. Pérennecs Ausgangspunkt ist, das Lesen von Fiktion als Spiel anzusehen. Die Folgerung ist, dass die Leser als Partner dieses Spiels, wenn sie erfolgreich sein wollen, den Spielpartner richtig einschätzen können müssen, also alle Indizien über seine Person und sein Wertsystem, die der Erzähler in den Text einbaut, aufzuspüren haben. Dazu gehören vor allem Deiktika und Bewertungsaus­

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 Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning

drücke, Inszenierung der Figurenrede und die stilistische Ausführung der Redewie­ dergabe. „Das Konzept der Polyphonie erlaubt es, alle Mittel zur Verunsicherung des Lesers zu erfassen, diese machen aber wiederum das Lesespiel spannend.“ Der nächste Teil des Handbuchs behandelt spezifische Phänomene der Lyrik. Die „Sprache (in) der Lyrik“, mit der sich Ulrich Breuer befasst, resultiert daraus, dass sie in einem besonderen, nicht an den Normen der Alltagstauglichkeit orientierten Verhältnis zur Prosasprache steht. Hier ist mitnichten die Versform entscheidend, derer sich auch andere Gattungen bedienen. Eine ganz eigene Sprache entwickelt die Lyrik jedoch nicht, sondern sie stellt einen spezifischen Umgang mit Sprache dar, sie lebt geradezu aus einem Spannungsverhältnis verschiedener Sprachverwendungs­ modelle heraus. Breuer situiert die Sprache der Lyrik funktional zwischen Konstruk­ tion und Kommunikation, wofür die Theorien Sklovskijs, Tynjanovs und Jakobsons stehen. In der Form der Lyrik eröffnet die Sprache einen kommunikativen Raum, der ohne diese verschlossen bliebe. Dies fördert das Sprachdenken; neue kognitive Strukturen entstehen, was auch die Entwicklung der Lyrik als literarische Gattung beeinflusst, welche sich letztlich sogar über Sprachgrenzen hinwegzusetzen vermag. In dem daran anschließenden Beitrag von Hans-Werner Eroms über „Sprach­ spiele und Rhetorische Figuren in der Lyrik“ wird zunächst geklärt, dass diese „tradi­ tionellen Mittel[ ], um Sprache stilistischen Glanz zu verleihen“, grundsätzlich auch in der Sprache anderer funktionaler Bereiche (wie Werbung) genutzt werden. Unter­ sucht wird an Tropen und Figuren in Gedichten vom 17. Jahrhundert bis zur Gegen­ wart, was diese für ein bestimmtes sprachliches Kunstwerk leisten. Sprachspiele können sich grundsätzlich auf allen Ebenen der Sprache manifestieren, haben eben­ falls eine lange Tradition seit dem Mittelhochdeutschen und stehen in der Moderne teilweise unter Einflüssen von Linguistik und Semiotik (z. B. die Konkrete Poesie). Im folgenden Teil geht es um spezifische Phänomene der Dramatik. Hermann Korte gibt in seinem Beitrag einen Überblick über die Entwicklung und Funktion der Sprache im Theater. Als Grundelement des Dramas hat Sprache die besondere kom­ munikative Aufgabe zu erfüllen, eine über die Alltagscodes hinausgehende künstle­ rische Ausdrucksform zu sein. Die Sprache ist eng mit der Schauspielkunst verbun­ den, mit Stimme, Klang und Körperbewegung. Als Grundprinzip der dramatischen Kunst kann die Spannweite der Sprache unbegrenzt weit gefasst werden und reicht von ausgefeilter poetisch-rhetorischer Technik bis zu den verschiedenen Modi des all­ täglichen Sprechens. Die sprachliche Form hat zudem großen Einfluss, z. B. auf die Unterscheidung von Vers- und Prosastücken einschließlich entsprechender Hybridi­ sierungen. Das Drama als primär diejenige Gattung, die nicht gelesen, sondern auf­ geführt wird, integriert Schweigen, Verstummen und Stille als vordergründig sprach­ lose Elemente; diese gehören zu den wirkungsvollsten theatralischen Möglichkeiten. Daher weist gerade die Sprache des Dramas über sich selbst hinaus. Michaela Reinhardt vertieft im Folgenden den Aspekt, dass den Autorinnen und Autoren des Theaters der Gegenwart ein breites Spektrum bereits erprobter Schreib­ weisen zur Verfügung steht. Aus dem Spannungsfeld von „Fingierter[r] Mündlich­

Einleitung 

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keit und poetische[r] Sprachgestalt“ (d. h. möglichst naturgetreuer Darstellung und höchster Stilisierung) wählt sie Theatertexte des 20. und 21.  Jahrhunderts aus, um „unterschiedliche Verfahren sprachlicher Gestaltung“ vorzustellen, bezieht aber auch besondere Wendepunkte ein, die heutige Schreibweisen vorbereitet haben. Ein wichtiges Anliegen ist ihr, zu zeigen, dass (wie in allen literarischen Texten) die Sprachgestalt niemals nur Dekor ist, sondern selbst Bedeutung generiert und z. B. den gesellschaftskritischen oder politischen Charakter eines Stücks entscheidend mitbestimmt. Die Beiträge zu Aspekten der Textproduktion rundet ein kürzerer Teil zu Fragen der Textrezeption und Vermittlung literarischer Texte ab. Andreas Gardts grundsätzli­ ches Interesse gilt der Verständigung über die Kategorie „Interpretation“, unter der er die Darlegung von Bedeutung und intendierter Wirkung eines Textes oder multimo­ dalen Zeichenverbundes versteht. Entgegen unserer alltäglichen Redeweise ‚haben‘ Texte keine Bedeutung, diese werde vom Interpretierenden vielmehr in einem kon­ struktiven Akt am Text gebildet. Damit stellt sich die Frage nach der Objektivität von Interpretation, die meist negativ beantwortet wird. Dagegen steht aber das Bestreben, durch methodische Vorgaben der Beliebigkeit des Interpretierens zu begegnen. Die neuere Sprachwissenschaft habe Verfahren der textsemantischen Analyse entwickelt, „die, vor dem Hintergrund der pragmatisch-kommunikativen Einbettung von Texten, deren Makro- und Mikrostrukturen beschreiben, dabei auf punktuelle wie auch flächige Formen der Bedeutungskonstitution zugreifen“. Die Arten der Bedeutungskon­ stitution betrachtet Gardt als ausgesprochen komplex, wobei die Unterschiede zwi­ schen Gebrauchstexten und literarischen Texten signifikant seien. Den Problemen der literarischen Hermeneutik unter besonderer Berücksichti­ gung der Metapherndeutung aus Sicht der Literaturwissenschaft und -theorie widmet sich Jens Birkmeyer in seinem Beitrag. Es geht um Bedeutungskonstitution und deren sprachbildliche Vermittlung bzw. Begründung. Birkmeyer zeichnet eine Ent­ wicklung nach, die von der Interaktionstheorie über das traditionelle Identitätsver­ ständnis der Metapher hin zu einer dynamisierten Kontextualisierung und schließ­ lich zu einer umfassenderen Metaphorologie führt. Auffällig ist die Zögerlichkeit, mit der sich die Literaturwissenschaft der vorrangig linguistischen Theoriearbeit geöffnet hat, was daran liegt, dass unterschätzt wurde, wie viel Theoriewissen um Metapho­ rik bei der hermeneutischen Deutung poetischer Metaphern eigentlich notwendig ist. Dabei spielt der Rückgriff auf implizites Wissen eine große Rolle, erlaubt er doch die Teilhabe an der Sinnrekonstruktion, die zwischen ‚Zum-Ausdruck-Bringen‘ und ‚ZurGeltung-Bringen‘ changiert. Es genügt dabei nicht, nur die semantischen Dimensio­ nen anzusprechen, vielmehr kommt es auf die besonderen heuristischen Qualitäten der Metaphern im ästhetischen Kontext an. Zu den Intentionen der Herausgeberinnen gehörte es, an das Ende des Hand­ buchs Beiträge über erst in jüngerer Zeit aufgekommene, spezielle Literaturbereiche zu stellen, die das Nachdenken über Sprache in der Literatur noch einmal auf neue bzw. weniger im Blickfeld liegende Wege lenken können. Das ist in vier Fällen gelun­

XVIII 

 Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning

gen: Migrationsliteratur, Pop-Literatur, Kinder- und Jugendliteratur und Sachprosa. Ein fest eingeplanter Beitrag über „Weibliches Schreiben: Schreiben Frauen anders?“ wurde bedauerlicherweise nicht abgegeben, so dass dieses eigentlich auch an diese Stelle gehörende Thema nicht vertreten ist. Einen starken Innovationsimpuls empfängt die deutsche Gegenwartsliteratur durch den „Umgang mit Sprache in der Migrationsliteratur“. Eva-Maria Thüne legt dar, dass dieser nicht unproblematische Begriff nur in der ersten Generation „ein Ankommen von außen“ meint, auf verschiedene Generationen bezogen jedoch eher die Produktivmachung „sprachlich-kulturelle[r] Divergenzen und Kontraste“. Refle­ xionen über Sprache, unterschiedliche Formen ihrer Entautomatisierung und Trans­ lingualität sind charakteristisch, wobei der Sprachenwechsel als Verlusterfahrung thematisiert werden kann, Mehrsprachigkeit und Interkulturalität jedoch auch als Gewinn empfunden werden: Etwas Abwesendes (Räume, Zeiten, Sprachen) klingt immer mit, bereichert die deutschsprachige Literatur aber um neue Perspektiven. Pop-Literatur verwendet eigene poetologische Verfahren, die sich auf paradig­ matische Dimensionen der Möglichkeit bis hin zu paralogischen Formaten konzen­ trieren. Moritz Baßler teilt die Entwicklung der Pop-Literatur von den ersten popaffinen Anfängen in den 1970er Jahren bis zur Gegenwart in drei Phasen ein. Auffällig sind die paradigmatische Verwendung von Katalogen bzw. Listen und die Integra­ tion von Markennamen als Zeichen einer neuen Textur in Erzählungen. Eine neue, krasse Literatursprache entsteht, teils als Provokation des Bildungsbürgertums, teils als selbstbewusster Marker im Übergang zur künstlerischen Neoavantgarde und zur Jugendliteratur. Die Koordinaten verschieben sich zur Jahrtausendwende, wenn die Arbeit mit textlichem Fremdmaterial nicht mehr authentisch wirkt, sondern funktio­ nal wird. Die Entwicklung kulminiert in einem neuartigen, nicht-trivialen Verhältnis von Literatur und Kultur, wenn pop-literarische Werke den Anspruch aufgeben, als organische Ganzheiten den Teilen einen Sinn zuzuweisen. Die Sprache in der Kinder- und Jugendliteratur wirkt sich bei jüngeren Kindern unterstützend auf den primären Spracherwerb aus und vergrößert bei älteren Kindern und Jugendlichen den Wortschatz, die Reflexion sprachlicher Strukturen sowie das Verständnis von komplexen Zusammenhängen aus verschiedenen Perspektiven. Damit hat die kinder- und jugendliterarische Sprache großen Einfluss auf die so wich­ tige Schnittstelle von kognitiver Kompetenz und moralischer Entwicklung. Der Artikel von Bettina Kümmerling-Meibauer und Jörg Meibauer vollzieht die Sprachbeob­ achtungen entlang der beiden Leitlinien Einfachheit/Komplexität und Anpassung/ Überschreitung. Jede Beurteilung der Komplexität eines kinderliterarischen Textes muss das Sprachvermögen und das Komplexitätsverständnis der Zielgruppe berück­ sichtigen. Dies gilt auf der Wort- und Satzebene ebenso wie für die Kriterien Kürze, Dichte und Umfang. Ausgehend von der Sprachstandsstufe der kindlichen Leser sind auch Überschreitungen von sprachlichen und inhaltlichen Normen möglich, was das Verständnis literarischer Texte vertieft und fördert.

Einleitung 

 XIX

Die Forschung zur Sachprosa ordnet sich um die zentralen Begriffe Authentizi­ tät, Glaubwürdigkeit und Sachlichkeit, welche teilweise auch stilbildend sind. Die als Sachprosa bezeichnete Literatur umfasst das Spannungsfeld zwischen fiktionalen und faktualen Genres. Vom nicht-fiktionalen Erzählen in Reiseberichten, Reportagen und Ratgebern sowie in Briefen, Bildern und Biographien – um nur einige Formen der Sachprosa zu nennen – bis zu einer Poetik des Sachbuchs ist es noch ein längerer Weg, den Michael Schikowski in seinem Beitrag beschreibt. Er tritt ein für eine historischsystematische Gliederung der Sachprosa, die sich an Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen orientiert. Das Besondere dieser Textsorte ist, Text ohne Textmerkmale, sachlicher Stil ohne Stilmerkmale zu sein, unabhängig vom Zeitgeschmack, gleich­ sam faktual. Schikowski schlägt vor, epochenübergreifende textinterne Kriterien zu entwickeln, um die herkömmliche Trennung in fiktionale und faktuale Texte zu über­ winden. Danksagung: Die Herausgeberinnen danken den Reihenherausgebern Ekkehard Felder und Andreas Gardt dafür, dass sie das Thema „Sprache in der Literatur“ in die Reihe aufgenommen haben. Ebenfalls danken wir Daniel Gietz als unserem Ansprech­ partner beim Verlag de Gruyter für seine Offenheit unseren Fragen gegenüber und für seine umsichtige verlegerische Betreuung. Für ihre äußerst zuverlässige Arbeit beim Lektorieren und Einrichten der Texte gilt unser Dank Sophia Schleichardt in Leipzig sowie Bastian Dewenter und Jasmin Held in Siegen.

Literatur Adamzik, Kirsten (2016): Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. Berlin/Boston. Betten, Anne/Jürgen Schiewe (2011): Vorwort. In: Dies. (Hg.): Sprache – Literatur – Literatursprache. Linguistische Beiträge. Berlin, 7–12. Betten, Anne/Ulla Fix/Berbeli Wanning (2015): Sprache in der Literatur. In: Ekkehard Felder/Andreas Gardt (Hg.): Handbuch Sprache und Wissen. Berlin/Boston (HSW 1), 455–474. Bleumer, Hartmut u. a. (Hg.) (2013): Turn, Turn, Turn? Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende? Eine Rundfrage zum Jubiläum der LiLi [Themenheft]. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 172. Fix, Ulla (2013): Sprache in der Literatur und im Alltag. Berlin.

I. Grundlegendes

Thomas Hecken

1. Was oder wann ist Literatur? Abstract: Die Begriffsgeschichte von „Literatur“ steht hier im Mittelpunkt. Sie beginnt mit einem Rekurs auf die Antike und das Mittelalter und endet bei der heute in Ver­ lagen und beim Publikum üblichen Unterscheidung von Belletristik und Sachbuch. Wie ist es zu dieser Reduktion auf einen scheinbar simplen Dualismus gekommen? Im 19. und frühen 20. Jahrhundert benennt der Begriff „Literatur“ noch etwas Minder­ wertiges, ihm wird „Dichtung“ als Bezeichnung einer hochgeachteten Kunstform ent­ gegengesetzt. Ein späterer Begriffswandel führte zu dem heute üblichen Gebrauch, mit „Literatur“ sowohl Werke der Wortkunst als auch alles in Textform Veröffentlichte zu bezeichnen. Literatur ist im engeren Begriffsgebrauch jedoch da, wo Alltagsspra­ che überboten bzw. verfremdet wird. Der gesellschaftliche Konsens trifft sich beim kleinsten gemeinsamen Nenner, der Unterscheidung von „fiction“ und „non-fiction“. Dadurch kommt dem Kriterium „Fiktionalität“ eine so große Bedeutung zu, dass die Auswirkungen dieser Begriffsoszillation Literaturwissenschaftler, Poetologen und Ästhetiker umtreibt. 1 Eine kleine Begriffsgeschichte von ‚Literatur‘ 2 Literatur als Kunst 3 Implizite Trennung 4 Explizite Trennung 5 Konsequenzen der Unterscheidung 6 Literaturwissenschaft 7 Literatur

1 Eine kleine Begriffsgeschichte von ‚Literatur‘ In der deutschsprachigen Gegenwart (Stand: 2017) trifft man als Leser, der sich für Kultur und Wissenschaft interessiert, recht häufig auf das Wort ‚Literatur‘: Philolo­ gen werden als ‚Literaturwissenschaftler‘ bezeichnet; der Hanser Verlag trennt auf seiner Website in der Rubrik „Bücher“ die Sparte „Romane & Erzählungen“ u. a. von „Krimi“, „Gedichte“, „Naturwissenschaft“, „Geschenkbücher“, „Geschichte“, „Bio­ graphisches“ sowie „Literatur, Kunst, Musik“; Hausarbeiten und Qualifikations­ schriften unterscheiden zwischen ‚Primär‘- und ‚Sekundärliteratur‘; Experten ver­ weisen auf die ‚reiche Literatur‘ zur Mineralogie oder zur Krebsforschung; Zeitungen beschäftigen ‚Literaturkritiker‘. Allgegenwärtig ist das Wort aber nicht. Die FAZ nennt auf ihrer Internetseite ohne weitere Differenzierung eine Rubrik „Bücher“, selbst der Suhrkamp Verlag kennt auf DOI 10.1515/9783110297898-001

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 Thomas Hecken

seiner Website erst einmal ebenfalls nur „Bücher“, um dann nach „Neuerscheinun­ gen“, „aktuelles Programm“, „Bestseller“, „eBooks“ „Werkausgaben“, „Neuüberset­ zungen“ und „Themen, Genres & Länderschwerpunkte“ zu separieren. Von ‚Literatur‘ ist dort keine Rede. Selbst in einzelnen Häusern herrscht beim Begriffsgebrauch keine Einheitlich­ keit. Die Beilage zur Frankfurter Buchmesse wird von der Printredaktion der FAZ z. B. nicht „Bücher“, sondern „Literatur“ betitelt, gesondert in „Belletristik“ und „Sachbü­ cher“. Diese letzte Unterscheidung findet man auch in einigen Verlagsprogrammen, zwar nicht, wie bereits gesehen, in denen von Hanser und Suhrkamp, aber bei der Deutschen Verlags-Anstalt (DVA), die auf ihrer Repräsentanz im Netz das „Programm Literatur“ und das „Programm Sachbuch“ führt, dazu kommt nach der Willkür der verlegerischen Marketinginteressen das „Programm Architektur & Garten“. In den USA ist die Zweiteilung von Literatur und Sachbuch noch besser erhalten bzw. häufiger anzutreffen, allerdings heißt es dort zumeist nicht mehr ‚literature‘, sondern ‚fiction‘. Auch die New York Times trennt auf ihrer Internetseite in der Rubrik „Books“ zwischen „Fiction“ und „Nonfiction“. Der Grund dafür aus Sicht eines Betei­ ligten: ‚Literature‘ klinge „nach Schule, ernsthaft und nicht nach Spaß; ‚fiction‘ zu lesen ist lustiger‘, so ein Journalist beim Boston Globe“ (Martel 2010, 197). Wenn man dieser Einschätzung vertraut, gilt es wahrscheinlich als noch ‚lus­ tiger‘, keine Bücher mehr in die Hand zu nehmen, sondern auf die Displays von Handys und Tablets zu schauen. Zumindest im Deutschen hat ‚Literatur‘ aber den technologischen Wechsel überstanden; zwar nicht im allgemeinen Sprachgebrauch, aber in speziellen wissenschaftlichen und feuilletonistischen Artikeln hört man von „Internetliteratur“ oder „Netzliteratur“. Damit werden nicht immer nur Romane, die in Fortsetzungen und mit Hyperlinks erscheinen, angesprochen, sondern z. B. auch Blogs. Die Beispiele mögen genügen. Sie belegen, dass ‚Literatur‘ heutzutage in einer sehr weiten Fassung verwendet wird, die alles in Schriftform Gedruckte und Veröf­ fentlichte meint – und in einer engeren Fassung, die für ‚Literatur‘ den Bereich der Kunst reserviert. Die erste Bedeutung orientiert sich überwiegend an lat. ‚littera‘ (Buchstabe), die zweite trifft unter den Letterngebilden eine Auswahl, die sich künst­ lerischen Kriterien verdankt. Die erste Variante steht in einer langen Tradition, die zweite ist moderner. Wie weit die Tradition zurückreicht, erkennt man leicht, wenn man vom Lateinischen ins Griechische wechselt: Das griechische Wort für ‚Buchstabe‘ lautet ‚gramma‘, davon kommt ‚Grammatik‘ her – und Grammatik steht an der ersten Stelle jener sieben ‚artes liberales‘, die seit der Spätantike den Fächerkanon ausmachten (im frühen Mittelal­ ter wurden ihnen sieben ‚mechanische Künste‘ gegenübergestellt). In der gängigen Unterteilung der sieben regelgerechten ‚freien Künste‘ in ‚Trivium‘ (Grammatik, Rhe­ torik, Dialektik) und ‚Quadrivium‘ (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie) fehlt zur heutigen Überraschung u. a. die Poesie, wenn sie auch im Zusammenhang von Grammatik und Rhetorik zum Unterrichtsstoff gehörte (vgl. Kristeller 1976a).

Was oder wann ist Literatur? 

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Nach Anfängen in Bologna 1321 werden ab dem 15. Jahrhundert in den Universi­ täten „Poesie und Eloquenz […] als fortgeschrittene Kurse gelehrt, die den Elementar­ unterricht in der Grammatik und Rhetorik voraussetzten, und auf das Studium der lateinischen Dichter und Prosaschriftsteller wurde der größte Wert gelegt“ (Kristel­ ler 1976b, 219). Der ‚litteratus‘ ist entsprechend „ein Kenner der Grammatik und der Poesie (wie noch der lettré in Frankreich), aber nicht notwendigerweise Schriftstel­ ler“ (Curtius 1948, 52), genauso wie eben ‚litteratura‘ nicht nur Poesie oder kunstvolle Prosa bezeichnet. Die im 18.  Jahrhundert wirkungsvoll durchgeführten Operationen, die regelge­ leiteten, nützlichen Bereiche (wie Grammatik, Rhetorik, Naturwissenschaften) von den schönen und/oder dem Genie obliegenden Künsten zu trennen, führen zu dem engeren Begriff von ‚Literatur‘, der auch heute noch Anwendung findet. Mit ‚Belle­ tristik‘ ist die alte Diskussion um die ‚Beaux Arts‘, die schönen Künste, gegenwär­ tig in Wortform weiterhin greifbar, wenn auch kaum einem Deutschen, der etwa die Spiegel-Bestsellerliste (mit ihrer Unterscheidung zwischen „Belletristik“ und „Sach­ buch“) studiert, die Herkunft und Bedeutung des Wortes geläufig sein dürfte. Die Übernahme des frz. ‚belles lettres‘  – und seine heutige Verwendung durch viel gelesene Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine – zeigt bereits deutlich, dass im Deutschen ‚schöne Literatur‘ ungebräuchlich sein dürfte. Die Stelle der ‚schönen Literatur‘ ist historisch durch ‚Dichtung‘ und ‚Poesie‘ belegt gewesen. In seiner Kritik der Urteilskraft hält Kant fest, dass „in aller schönen Kunst“ das „Wesentliche in der Form“ bestehe, nicht in sinnlichen Reizen, die zur „Zerstreuung“ dienen. Unter diesen schönen Künsten nehme nun die „Dichtkunst (die fast gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdankt, und am wenigsten durch Vorschrift, oder durch Beispiele geleitet sein will)“, den „obersten Rang“ ein (Kant 1974, 264 f.), weil bei ihr weder – wie bei der Malerei – durch den „Reiz der Farben“ noch – wie bei der Musik – durch die „angenehme[n] Töne des Instruments“ die Form-Seite (bei der Malerei wäre das die für Kant entscheidende „Zeichnung“, bei der Musik die „Komposition“) in den Hintergrund gedrängt und das ästhetisch erforderliche „interesselose Wohlgefallen“ gestört werden kann (ebd., 141; 267 ff.). Diese Überlegungen haben bei Idealisten wie bei Verfechtern des Bürgerlichen Realismus, bei Ästhetizisten wie Formalisten Anklang gefunden. Das reicht bis in die Wortwahl hinein. Im 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahr­ hunderts dient ‚Literatur‘ recht häufig als Kennzeichnung für etwas Minderwertiges, wenn mit ‚Dichtung‘ die erhabene, wirklichkeitstranszendierende, ästhetisch gerei­ nigte Kunst ausgezeichnet wird. Begriffe wie ‚Asphaltliteratur‘ und ‚Zivilisationslite­ rat‘ sind mit ‚Dichtung‘ als zweitem Teil des Kompositums (Asphaltdichtung, Zivilisa­ tionsdichter) nicht oder kaum denkbar. Diese Anschauung war aber stets mehr oder minder umstritten. Vor allem Kon­ zeptionen des Naturalismus, der Neuen Sachlichkeit, des Dadaismus, der engagierten Literatur standen dem aus unterschiedlichen Gründen entgegen. Sie haben sich zwar nicht mit ihren jeweiligen spezifischen Programmen auf breiter Front durchgesetzt,

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sind aber zumindest insofern vollständig in die Literaturauffassungen der künstleri­ schen und feuilletonistischen Kreise eingegangen, als ‚Literatur‘ seit Ende der 1960er Jahre von fast niemandem mehr der ‚Dichtung‘ unterworfen wird. Wir können also für die deutsche Gegenwart (und, wohl ohne große prognosti­ sche Kräfte bemühen zu müssen, für die absehbare Zukunft) festhalten: ‚Literatur‘ bezeichnet im heutigen Sprachgebrauch zwei Phänomene: zum einen, in der engeren Fassung, Werke der Wort-Kunst, zum anderen, in der weiteren Fassung, alles in Text­ form Veröffentlichte. In der ganz weiten Fassung, die man selten antrifft, fällt unter ‚Literatur‘ alles schriftlich Niedergelegte, auch das Unveröffentlichte. Wie steht es mit bloß mündlich öffentlich gewordenen Texten? Hugo Steger (1982, 14) behauptet in Was ist eigentlich Literatursprache?, Sagen, Märchen, Zaubersprüche würden „nicht erst dadurch zur Literatur, daß sie aufgezeichnet werden“. Offenkun­ dig gilt dies aber nach dem Stand heutiger Begriffsverwendung nicht für alle mög­ lichen Witze, Komplimente, Anzüglichkeiten, Sprüche, Reden usf., sondern nur für ‚orale Literatur‘ (im Sinne von ‚künstlerischen Werken‘), so dass auch diese Variante in unsere Zweiteilung bereits Eingang gefunden hat, nämlich in der engeren Fassung, die, wie sich spätestens jetzt herausstellt, nicht allzu eng ist. Hugo Steger, der eine ähnliche Aufteilung vorgeschlagen hat, weist noch darauf hin, dass „immer wieder Forscher das Wort Literatursprache gleichbedeutend mit Schriftsprache benutzt“ und sich damit von der „allgemeinen Lebenspraxis“ entfernt hätten (ebd.). Deshalb nimmt er diese Variante von seinem Überblick zum „heutigen allgemeinsprachlichen Gebrauch“ (ebd., 13) aus. Forscher nehmen offenkundig nicht an der „allgemeinen Lebenspraxis“ teil. Unser Überblick hingegen zieht diese Konsequenz nicht und schließt den Begriffs­ gebrauch einiger Forscher nicht vom ‚Leben‘ aus. Darum unsere Formulierung vom ‚schriftlich Fixierten‘ (sei es mit Tinte, Schreibmaschine, Papier oder in digitalisierter Form) als Angabe zur sehr weiten Fassung des heutigen ‚Literatur‘-Begriffs.

2 Literatur als Kunst Interessanter als die weite ist die engere Fassung. Um sie wird häufiger gerungen. Den Grund dafür kann man leicht angeben. Kunst und Kultur besitzen nicht nur unter vielen Gebildeten, sondern auch in der staatlichen Ordnung einen hohen Rang. Zur Literatur im Sinne eines sprachlichen Kunstwerks zu zählen ist darum eine Auszeich­ nung. Sie wird z. B. in Deutschland mit steuerlichen Vorteilen für Schriftsteller hono­ riert und verfügt über den Schutz des Grundgesetzartikels 5 Abs. 3: „Kunst und Wis­ senschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Wie der Begriff ‚Trivialliteratur‘ allerdings anzeigt, ist es nicht ausgeschlossen, dass auch Werke mit geringem oder gar keinem Renommee zur ‚Literatur‘ im engeren Sinne zählen. Im Gegensatz zur (früheren) Ehre der Dichtung (ein Kompositum ‚Tri­

Was oder wann ist Literatur? 

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vialdichtung‘ war und ist bezeichnenderweise nicht im Umlauf) verfügt ‚Literatur‘ bislang über weniger Noblesse. Wenn man etwas zur Literatur schlägt, vollzieht man damit nicht automatisch eine Hochwertung. Es gibt auch weniger gute Literatur. Zwar ist es auch möglich, von ‚schlechter Kunst‘ zu reden. Wenn nicht alles täuscht, wird diese Möglichkeit aber seltener ergriffen. ‚Kunst‘ und ‚Kultur‘ besitzen einen höheren Rang, einen noch besseren Klang als ‚Literatur‘. Entsprechend fällt die Aufregung geringer aus, wenn in den Augen der Öffentlichkeit heute ein Werk als sehr schlechte oder anstößige Literatur gilt. Ein weiterer Grund für den geringeren Streit- und Ehr-Wert von ‚Literatur‘: Lite­ ratur wird nur sehr selten direkt vom Staat oder öffentlich-rechtlichen Einrichtungen finanziert. Im Unterschied zu Werken der bildenden Kunst, zu Theater- und Musik­ aufführungen wird Literatur zudem weit überwiegend von einzelnen Personen rezi­ piert. Öffentliche Ausstellungen und Darbietungen führen in Zeiten gewährter indivi­ dueller Freiheiten rascher zu Erregungen und Skandalen als die stille Lektüre – und sie führen darum schneller zu Urteilen wie ‚Das ist gar keine Kunst‘. Daraus, dass solche erregten Urteile in den letzten drei Jahrzehnten sogar ange­ sichts von obszönen Theaterinszenierungen oder unverständlichen, wiewohl teuren Werken der bildenden Kunst kaum noch zu hören sind, kann man freilich sicher schließen, in welch geringem Maße der Ausruf ‚Das ist ja überhaupt keine Literatur‘ ertönt, wenn heutzutage starkes Missfallen zum Ausdruck gebracht werden soll. Nach über einem Jahrhundert avantgardistischer Entgrenzungen ist der Literatur-Begriff kaum noch umkämpft oder auch nur Gegenstand von Diskussionen.

3 Implizite Trennung Dennoch besitzen die historischen Debatten in der Gegenwart weiterhin Einfluss. Sie werden zwar nur noch sehr selten herangezogen, um Literatur von Non-Literatur abzugrenzen, aber sie wirken sich im Bereich der Kunst regelmäßig auf die Unter­ scheidung von guter und schlechter Literatur aus. Zu nennen sind hier vor allem formalistische, modernistische Theorien und Lek­ türen in der Nachfolge Kants. Die Anmerkungen Kants zu den Bedingungen eines interesselosen ästhetischen Urteils münzen sie auf das Werk um. Das ‚Literarische‘, das einen Text zu einem Werk der Literatur mache, liegt für sie im Bruch mit jener Alltagssprache, die auf verständlich kommunizierte Inhalte setzt. Verfremdung, Ent­ täuschung und Negation solcher Alltagssprache, ihre Subversion oder Überbietung sowie metasprachliche, selbstreflexive Äußerungen sind folgerichtig die Merkmale ihrer ‚Literatur‘ (vgl. Plumpe 2001). Der Ausschluss sich realistisch verstehender Werke ist freilich nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Sie zählen heute genauso grundsätzlich zur Literatur (im Sinne der Kunst) wie Artefakte dadaistischer oder konkreter Poesie. Die Unterscheidung macht

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sich aber noch recht häufig bemerkbar, wenn es unter Lektoren, Feuilletonisten und anderen Lesern, die sich der Avantgarde oder gehobenen Kultur zurechnen, darum geht, gute von schlechter Literatur zu scheiden. Dann sind Äußerungen wie ‚das Buch ist nur auf der inhaltlichen Ebene interessant‘, ‚bietet keine Widerhaken‘, ‚ist einfach vernutzbar‘ immer abwertend gemeint. Anerkannte Literatur-Rezensenten üben weitgehend Verzicht, einen Roman zu loben, weil man sich mit dessen Helden oder ausdrücklichen Botschaften identifi­ ziert oder weil man dessen wie auch immer geartetes Erregungspotential verspürt. In den „Literatur“-Seiten der FAZ wird z. B. ausdrücklich dem „Effekt“ abgeschwo­ ren und von der besprochenen Autorin Jennifer Egan ein „weniger rasantes, brüchi­ geres Erzählen“ gefordert, ein Erzählstil, wie er sich in Jonathan Franzens Buch Die Korrekturen finden lasse. Das Fazit stellt beide Schriftsteller hart gegeneinander: „In beiden Büchern werden über mehrere Generationen, durch mehrere Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten hindurch amerikanische Befindlichkeiten umkreist  – aber Franzen taugt nicht für Hollywood, Egan schon. Das ist ihr [Egans] Problem.“ (2002, 21; diese und die folgenden Beispiele sind der „Literatur“-Beilage der FAZ zu den Buchmessen 2002 [8.10.2002, Nr. 233] und 2003 [7.10.2003, Nr. 232] entnommen). Den Unterschied macht also – bündig gesprochen – das „brüchigere Erzählen“. Selbst wenn dies nicht so klar gesagt wird, finden sich in nur wenigen Rezensi­ onen der Buchmessen-Beilagen lobende Aussagen über ein Erzählwerk, die sich in erster Linie auf dessen Themen oder Motive stützten. „Es sind nicht die Themen, um derentwillen wir Richard Fords Erzählungen immer wieder lesen“ (2002, 19), heißt es in einer Rezension unmissverständlich. Nur über den Umweg der Erzählweise scheint den Inhalten zumindest eine Art Fünftel- oder Sechstel-Lob gezollt zu werden. Häufig liest man von der „großen Leichtigkeit“ der Figurenskizze (2002, 6), einer „glaub­ haften“ Beschreibung selbst unwahrscheinlicher Gefühle (2002, S. 1), „präziser“ Beschreibung (2002, 7), „großer Ehrlichkeit“ (2002, 5), „mikroskopischer Aufmerk­ samkeit“ (2002, 7) „genauer“ Beobachtung (2002, 8), „unerschütterlicher Aufmerk­ samkeit“ (2003, 5), „Welthaltigkeit“ (2003, 4), so dass man zumindest auf die Idee kommen könnte, die derart aufmerksam beschriebenen Dinge lohnten die genaue Betrachtung auch. Wenn allerdings widersinnig von einem „Stil, dem nicht die kleinste Geste entgeht“ (2002, 9), die Rede ist, verliert sich jene Idee wieder weitgehend. Dann bleiben Nach­ erzählungen des Inhalts übrig, mit denen nur selten eine positive Wertung verbunden wird. Auf diese Art und Weise wird der Vorrang der „Form“ als Garant des ästhetischen Urteils gebührend berücksichtigt. Die gelobte ‚Beschreibungsgenauigkeit‘ bleibt als Begriff diffus genug und geht nicht im wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch auf. Die FAZ-Rezensenten vermeiden durchweg diesen Schritt, indem sie höchstens auf modern kunstreligiöse, paradoxe Weise den Vorrang literarischer Form zum Garan­ ten dafür erheben, noch außerliterarische Referenten richtig zu erfassen; etwa wenn von Schreibverfahren gesprochen wird, die „den Dingen keine Gewalt antun“ (2002, 4), von „Verfremdungen“, die gerade „Wirklichkeitsnähe“ bewiesen (2002, 7), oder

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gar von der „Form der Erzählung“ schlechthin, die alleine noch den „Spielraum der Wahrnehmung“ ermessen könne (2002, 4). Wie um die Gefahr zu umgehen, dass auch die Bewertung bestimmter Schreib­ weisen gleich mit einem politischen oder wissenschaftlichen Modell kurzgeschlos­ sen wird, steht die Analyse von Stilelementen sogar einige Male für sich, um manch­ mal erst am Ende des Artikels einem weniger spezifischen Lob oder Tadel Platz zu machen. Ein reines Leseprotokoll – ‚diese Passage habe ich überblättert, jene inte­ ressiert gelesen, diese hat mich erregt …‘  – wird zumeist eben nicht geliefert. Als ausschließlich subjektives oder interessegeleitetes soll das Urteil keineswegs ausge­ wiesen werden. Deshalb legt man im Zuge der Rezension auch nicht seine soziale Herkunft, die Geschichte seiner Idiosynkrasien, seine didaktischen Ziele oder ähn­ liches offen, sondern erweckt den Anschein, als verfüge das Objekt des Urteils über eine allgemeiner determinierende Kraft; dann heißt es nicht: ‚aus folgendem Grund langweilen mich Thesenstücke‘, sondern es heißt: „papierne Dialoge“ machten die „Lektüre“ des Romans „zur Strapaze“ (2003, 18); oder es heißt: gebannt „liest man immer weiter“ (2002, 19), „erscheint uns glaubhaft“ (2002, 1). Die Figur des „man“ und der Gebrauch des Plurals sollen aber auf keinen Fall eine Pluralität der Stimmen verhindern. Im Aufmacher der FAZ-Literaturbeilage wird die entscheidende Aussage aus einem Roman herbeizitiert. Es handelt sich um eine Regel. Sie besagt, dass „es für einen Schriftsteller keine Regeln gibt“ (2002, 1). Dies mag so sein oder auch nicht – die Rezensenten jedenfalls formulieren tatsächlich an fast keiner Stelle ausdrücklich eine Regel oder sprechen herrisch eine Anweisung aus. Doch ihr Bemühen, eine ausführlichere Angabe von „Form“-Elementen zur Grund­ lage ihres Urteils zu machen, führt sie auf stillerem Weg in den Regel-Sektor. Zwar wird die Subjektivität des Urteils versuchsweise gewahrt, indem keine allgemeine Anweisung ausgesprochen wird, aber dennoch durch den apodiktischen Ton des Ein­ zelfall-Urteils getilgt. So ist es nach Ansicht eines Rezensenten gut, über die DDR fol­ gendermaßen zu schreiben: mit „Kunstverstand“, „von keiner Mission beseelt“, „frei von Klischees, die gerade die gute Absicht produziert“, „ohne verbissene Verdächti­ gung“ oder „ulkhafte Nostalgie“, in einem „lakonischen und zuweilen unerbittlichen Ton“. (2003, 3) Es scheint fast, als sollte die Unbegründetheit des Urteils seinen Anweisungscha­ rakter überdecken. Doch wenn man nicht annimmt, dass es in der Welt der Literatur immer nur einzigartige Konstellationen gibt, bietet sich stets die Möglichkeit, eine mit einem Urteil versehene detaillierte Analyse eines Textes als technische, regelgerechte Doktrin explizit umzuformulieren oder sie implizit als solche aufzufassen. Auf diese Weise kann eine literarische Regel – auch unausgesprochen – wieder greifen. Es bleibt dann die Frage, ob solch eine Anweisung nicht nur den Status (und sogar die Kraft) besitzt, gute von schlechter Literatur, sondern auch Literatur von Non-Literatur zu trennen. Wiederum mit der Unterscheidung ‚explizit/implizit‘ lässt sich für die Gegenwart eine klare Tendenz feststellen: In Blättern wie der FAZ werden agitatorische, triviale, klischeehafte Werke nicht definitiv aus dem Bezirk der Lite­

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ratur ausgeschlossen, sie tauchen aber als Besprechungsgegenstand einfach in den ‚Literatur‘-Beilagen nicht auf, es sei denn, um in seltenen Fällen paradigmatisch als Negativbeispiele verurteilt zu werden. Der Ausschluss ist also de facto gegeben, er wird jedoch nicht definitorisch vollzogen.

4 Explizite Trennung Die explizite, definitive Unterscheidung von Literatur/Non-Literatur im engeren Sinne muss folglich heutzutage durch andere Kriterien zustande kommen. Wenn die Variante der Wertung nicht oder kaum genutzt wird – ‚Literatur‘ wären in dem Fall einfach alle guten Romane, Gedichte, Dramen und was sonst als literarisches Genre anerkannt würde –, bleibt noch der Weg über neutrale Angaben offen. Nach der Diskreditierung der Rhetorik ist hier allerdings jener Pfad versperrt, der ‚Literatur‘ mit einem Über- oder Hochmaß an rhetorischen Figuren, mit Satzbau-Raf­ finesse und großem Wortschatz identifiziert (und die einfache Sprache nicht einem beachtlichen ‚genus humile‘, sondern der Non-Literatur im Sinne von Unkunst vor­ behält). Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass in Lektoratsgutachten, Rezensi­ onen, ästhetischen Urteilen solche Kriterien zur Auszeichnung von ‚guter Literatur‘ genutzt werden. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass einzelne Individuen oder Gruppen solche Kriterien weiterhin nutzen, um ein Werk kategorisch zur ‚Literatur‘ zu schlagen. In der maßgebenden Kunstwelt der Verlage, Universitäten, staatlichen Institutionen, Zeitungs-Feuilletons etc. werden sie aber in der Gegenwart nicht mehr zur grundsätzlichen Bestimmung von ‚Literatur‘ genutzt. Nach einigen realistischen und avantgardistischen Wenden führt auch einfache Sprache, eine wenig komplexe Intrige, Stillosigkeit, reduzierter Wortschatz keineswegs zwangsläufig zur Verban­ nung aus dem literarischen Sektor. Nach den empirischen Befunden, die zu Beginn dieses Aufsatzes mit einigen Beispielen präsentiert wurden, bleibt demnach gegenwärtig nur die Unterscheidung ‚fiktional/nicht-fiktional‘ wirksam übrig. Besonders im US-amerikanischen Raum wird sie verwandt, um Literatur (im engeren Sinne der Kunst) von anderen Veröffent­ lichungen zu scheiden: „fiction“/„non-fiction“ (NYT); in Deutschland schwingt das etwa in der Unterscheidung „Belletristik“/„Sachbücher“ (FAZ) bzw. von „Literatur“/ „Sachbuch“ (DVA) mit. Diese Unterscheidung überwölbt die ebenfalls aussagekräftige Genreordnung. Dass Elegien, Komödien, Hirtengedichte etc. zur Literatur zählen, ist unbestritten, nach der modernen Verabschiedung des antiken Kanons gibt es aber Bedarf für eine mindestens ergänzende, wenn nicht sogar konstitutiv neue Bestimmung. Metrum und Reim gelten für Gedichte und Dramen nicht mehr obligatorisch, der Roman kommt

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als neue Gattung machtvoll hinzu, das trägt dazu bei, Fiktionalität ins Zentrum der ‚Literatur‘-Zuschreibung zu befördern. An der Sprache kann man den Roman nicht unbedingt von einer Reportage oder einer Autobiografie unterscheiden, das heutige Drama nicht mehr in jedem Fall von der Mitschrift eines Gesprächs, darum besitzt das Merkmal der Fiktionalität enorme Bedeutung. An ihm hängt nun sehr häufig die Last oder das ehrenvolle Gewicht der ‚Literatur‘.

5 Konsequenzen der Unterscheidung Trotz der Bedeutung der Abgrenzung wird sie allerdings zumeist kaum einmal stren­ ger kontrolliert. Verlage interessieren sich nicht besonders dafür, ob der Roman weit­ gehend oder vollständig autobiografisch geprägt ist, es sei denn, es handelt sich um Geschichten über berühmte Personen, deren Intimleben preisgegeben wird. Dies sorgt zuverlässig für hohe Verkaufszahlen und großes mediales Interesse, oftmals begleitet von einer feuilletonistischen Abwertung des Titels. Begriffe wie ‚Kolportage­ literatur‘ oder ‚Schlüssellochroman‘ zeigen allerdings an, dass es zu einem komplet­ ten Ausschluss aus dem Reich der Literatur nicht notwendigerweise kommt. Der Leser wiederum fragt in allen anderen, unbekannteren Fällen zumeist auch nicht bohrend nach, sondern verlässt sich einfach auf den Peritext des Verlags, wenn er auf dem Buchumschlag die Angabe ‚Roman‘ oder ‚Erzählung‘ liest. Falls die Erzäh­ lung die Grenzen des physikalisch Möglichen nicht überschreitet, besitzt er – da er den Autor in der Regel nicht näher kennt – keinen Anhalt, über den Wirklichkeits­ gehalt der Geschichte mehr als bestenfalls einigermaßen begründete Spekulationen anzustellen. Eine Ausnahme stellen medial stark präsente Autoren dar, die in ihren Werken über Künstler schreiben, die öffentlich auftreten; in diesem Fall kann der Leser den Abgleich von Roman und Wirklichkeit kenntnisreicher vornehmen; in allen anderen Fällen muss er sich auf Indiskretionen verlassen. Selbst die Steuerbehörde schreitet aber nicht ein, wenn Rezensenten oder andere Insider darauf hinweisen, dass es sich bei den Helden eines ‚Romans‘ allesamt um lebende Personen handelt und um Handlungen, die stattgefunden haben. Hier reicht die Tatsache, dass Verlage eine entsprechende Literatur-Klassifikation (im engeren Sinne der Kunst) vorgenommen haben, fast immer aus, um für eine günstigere Taxie­ rung zu sorgen. Da in Deutschland die Künstlersozialkasse (KSK) auch Journalisten aufnimmt, fällt für sie die Notwendigkeit der Unterscheidung von ‚fact‘ und ‚fiction‘ ohnehin weg. Bloß eine Institution ist etwas häufiger  – wenn auch insgesamt gesehen sehr selten – aufgerufen, genauere Prüfungen vorzunehmen: die Justiz. Sie muss darum auch als einzige Institution ab und zu angeben, was als Kunst und Fiktion gilt. Einige Fälle haben alle Instanzen durchlaufen, darum liegen Urteile des Bundesverfassungs­

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gerichts vor; die ‚Literatur‘- und ‚Fiktionalitäts‘-Frage ist demnach zumindest in juris­ tischem Sinne endgültig entschieden (jedenfalls solange das Bundesverfassungsge­ richt sein Urteil nicht selbst modifiziert). Anlässlich eines Verfahrens zu Klaus Manns Roman „Mephisto“ hält das höchste Gericht in einem Beschluss des Ersten Senats vom 24. Februar 1971 fest: Das Wesentliche der künstlerischen Bestätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten For­ mensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen; es ist primär nicht Mitteilung, sondern Ausdruck und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuel­ len Persönlichkeit des Künstlers. (BVerfGE 30, 173 [187 f.])

Diese Definition wird in weiteren Verfahren vom Bundesverfassungsgericht durch die Jahrzehnte immer wieder aufgegriffen. Neben der Bindung an ein expressives Künstler-Subjekt kommt der „bestimmten Formensprache“ große Bedeutung zu. Ein späteres Urteil vom 27. November 1990 attestiert der indizierten Schrift „Josefine Mut­ zenbacher“ beispielsweise, dass bei ihr die „schöpferische[] Gestaltung“ in der „Form des Romans zum Ausdruck“ komme (BVerfGE 83, 130 [137]). Was ein Roman ist, wird vom Gericht zwar nicht gesagt, zum Verhältnis des sprachlichen Kunstwerks zur Wirklichkeit äußert es sich jedoch im Sinne der idealis­ tischen Tradition (vgl. Seiler 1983): Auch wenn der Künstler Vorgänge des realen Lebens schildert, wird diese Wirklichkeit im Kunst­ werk ‚verdichtet‘. Die Realität wird aus den Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten der empi­ risch-geschichtlichen Wirklichkeit gelöst und in neue Beziehungen gebracht, für die nicht die ‚Realitätsthematik‘, sondern das künstlerische Gebot der anschaulichen Gestaltung im Vorder­ grund steht. (BVerfGE 30, 173 [189])

Später geht das Gericht von der Verengung auf „anschauliche[] Gestaltung“ wieder ab, es bleibt aber bei seiner Leitlinie, auch angesichts realistischer und dokumenta­ rischer Werke Kunst-Literatur an Wirklichkeitstranszendenz zu binden. Im Beschluss des Ersten Senats vom 13. Juni 2007 zum Roman „Esra“ von Maxim Biller heißt es: „Zu den Spezifika erzählender Kunstformen wie dem Roman gehört, dass sie zwar häufig – wenn nicht regelmäßig – an die Realität anknüpfen, der Künstler dabei aber eine neue ästhetische Wirklichkeit schafft.“ (BVerfGE 119, 1 [28]) Wie kommt es nun zu solch einer ‚Kunst-Realität‘? Eine Antwort des Gerichts betont die (teilweise) Lösung von der außer-literarischen Wirklichkeit, die (teilweise) Fiktion: Je stärker der Autor eine Romanfigur von ihrem Urbild löst und zu einer Kunstfigur verselb­ ständigt (‚verfremdet‘; vgl. BVerfGE 30, 173 [195]), umso mehr wird ihm eine kunstspezifische Betrachtung zugutekommen. Dabei geht es bei solcher Fiktionalisierung nicht notwendig um die

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völlige Beseitigung der Erkennbarkeit, sondern darum, dass dem Leser deutlich gemacht wird, dass er nicht von der Faktizität des Erzählten ausgehen soll. (BVerfGE 119, 1 [29])

Je stärker also der Leser einen Unterschied des Romanhelden zu einer (früher) leben­ den Person erkennt, desto stärker erkennt er den Fiktionsgrad. Was aber, wenn keine „Verfremdung“ waltet? Dann muss das ‚Ganze‘ den Unterschied bilden, meint das Gericht: Dabei ist zu beachten, ob und inwieweit das ‚Abbild‘ gegenüber dem ‚Urbild‘ durch die künst­ lerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselbständigt erscheint, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der ‚Figur‘ objektiviert ist. (BVerfGE 119, 1 [28])

Damit ist aber das Fiktions-Kriterium bereits wieder zu den Akten gelegt worden, an seine Stelle treten, ohne dass der Wechsel angezeigt oder reflektiert würde, schwer fassliche Überlegungen zum „Gesamtorganismus“ und zum Symbolhaften künstle­ rischer Literatur. Kein Wunder, dass das Gericht die Beantwortung der Frage kurz danach dem Rezipienten aufbürdet: Die Gewährleistung der Kunstfreiheit verlangt, den Leser eines literarischen Werks für mündig zu halten, dieses von einer Meinungsäußerung zu unterscheiden und zwischen der Schilde­ rung tatsächlicher Gegebenheiten und einer fiktiven Erzählung zu differenzieren. Ein literari­ sches Werk, das sich als Roman ausweist, ist daher zunächst einmal als Fiktion anzusehen, das keinen Faktizitätsanspruch erhebt. Ohne eine Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Textes würde man die Eigenarten eines Romans als Kunstwerk und damit die Anforderungen der Kunstfreiheit verkennen. Diese Vermutung gilt im Ausgangspunkt auch dann, wenn hinter den Romanfiguren reale Personen als Urbilder erkennbar sind. (Ebd.)

Knapper gesagt: Wenn ‚Roman‘ auf dem Umschlag steht, sollte der Leser glauben, es handele sich um ein fiktionales Werk, selbst wenn er erkennt, dass es sich um eine Darstellung vergangener Wirklichkeit handelt. Als habe man diese Argumentation ausgleichen wollen, hat das Bundesverfassungsgericht zu Beginn seiner Ausführun­ gen beschwichtigend eingeräumt: Wegen der gerade für die Kunstform des Romans, aber auch die künstlerisch gestaltete Auto­ biographie, die Reportage und andere Ausdrucksformen (Satire, Doku-Drama, Faction) häufig unauflösbaren Verbindung von Anknüpfungen an die Wirklichkeit mit deren künstlerischer Gestaltung ist es nicht möglich, mit Hilfe einer festen Grenzlinie Kunst und Nichtkunst nach dem Maß zu unterscheiden, in dem die künstlerische Verfremdung gelungen ist. (BVerfGE 119, 1 [21])

Genau das hat man aber dann getan, indem man das Kriterium der (Teil-)Fiktiona­ lität einführte. Es rasch wieder ohne Angabe von Gründen zugunsten anderer Krite­ rien  – Symbol, Ganzheit, ästhetische Rezeption  –, die ebenfalls nicht näher erläu­ tert werden, zurückzulassen, trägt nicht dazu bei, für Offenheit zu sorgen, sondern nur dazu, die Grenzziehung zum Willkürakt zu machen. Wenn postuliert wird: „Ein

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fälschlicherweise als Roman etikettierter bloßer Sachbericht käme nicht in den Schutz einer kunstspezifischen Betrachtung“ (BVerfGE 119, 1 [29]), ist das zwar ein­ deutig, den Unterschied zwischen „Sachbericht“ und „Roman“ hat man aber keines­ wegs unzweideutig erklärt. Im konkreten Fall konzedierte man, dass es sich bei „Esra“ um ein Kunstwerk handele: Der Roman besitze „eine zweite“ hinter der „realistischen Ebene“, er treibe ein „Spiel“ mit der „Verschränkung von Wahrheit und Fiktion“ (BVerfGE 119, 1 [31]). Dennoch wurde sein Vertrieb verboten, weil die sexuelle Intimsphäre einer leben­ den, erkennbar dargestellten Person verletzt worden sei (BVerfGE 119, 1 [34]). Ob die dargestellten sexuellen Details nun tatsächlich der sexuellen Praxis der Person ent­ sprechen, ob es sich bei ihnen um eine Mischung aus Wirklichkeitswiedergabe und Fiktion handelt, spielt für den Entschluss freilich überhaupt keine Rolle: Die eindeutig als Esra erkennbar gemachte Klägerin […] muss aufgrund des überragend bedeu­ tenden Schutzes der Intimsphäre nicht hinnehmen, dass sich Leser die durch den Roman nahe­ gelegte Frage stellen, ob sich die dort berichteten Geschehnisse auch in der Realität zugetragen haben. (Ebd.)

Nicht nur wegen der Seltenheit des Verbots-Falls, sondern vielleicht auch wegen dieser Pointe hat das Urteil keine großen Debatten ausgelöst. Letztlich doch unab­ hängig von der diskutablen Beantwortung der Fragen nach dem Status von Fakten, Fiktionen, Verfremdungen wird „Esra“ als Kunstliteratur anerkannt, die Bedeutung der Persönlichkeitsrechte aber teilweise höher veranschlagt. Auch dieser Fall kann demnach als Beleg für unsere These dienen: Die Frage, was Literatur (im Sinne der Kunst) ausmacht, wird heutzutage nicht als wichtig erachtet. Das hat aber nichts mit einer Geringschätzung der Literatur zu tun. Es liegt im Gegenteil daran, dass derzeit alle maßgeblichen westlichen Institutionen der Kunst und Literatur einen hohen Rang einräumen. Diese Rangzumessung erfolgt auch und gerade im Horizont der modernen, regellosen und normbrechenden Kunst. Darum favorisieren gegenwärtig Institutionen (wie auch das deutsche Verfassungsgericht), herrschende Parteien und wirkungsmächtige Kunstkreise im Westen einen offenen, antitraditionellen Kunstbegriff, um innovative, kreative Abweichungen – mit denen man stetig rechnet, ohne zu wissen, in welche Richtung sie gehen werden  – nicht bewusst oder unwillentlich zu behindern (theoretisch dazu Weitz 1956). Diese Offenheit führt dazu, dass man nicht länger um den Zuschnitt der Kunst­ literatur ringt. Sogar potenzielle oder mutmaßliche ‚Erweiterer‘ und ‚Übertreter‘ können sich von vornherein aufgenommen wissen, für Übertretungen besteht prinzi­ piell kaum oder gar kein Raum mehr. Alle möglichen Schreibweisen und Inhalte sind gegenwärtig als Teil eines literarischen Werks statthaft.

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6 Literaturwissenschaft Was aber ist mit der Wissenschaft von der Literatur? Von ihr darf man doch wohl nicht nur präzisere Analysen und Definitionen, sondern auch mehr an Bedeutungszumes­ sung erwarten, schließlich geht es um ‚ihren‘ Gegenstand. Solange sich viele Philologen als Kanonstifter verstanden, galt das auch. Zwei Beispiele mögen es belegen. Der bekannte Philologe Emil Staiger wandte sich noch Ende der 1960er Jahre in einer Aufsehen erregenden Rede gegen moderne, experi­ mentelle, dekadente, obszöne Werke, auch gegen politisierte Romane, Gedichte und Dramen: Beim Ausdruck ‚Littérature engagée‘ werde „niemand wohl, der die Dich­ tung wirklich als Dichtung liebt“, lautet eine von Staigers Ausschlussformeln (1967, 91). Es ist kein Zufall, dass Staiger hier von „Dichtung“, nicht von Literatur spricht. Aber auch unter denjenigen, die mit dem Wort ‚Literatur‘ ihren Frieden gemacht haben, konnte man noch in den letzten Jahrzehnten teilweise ähnliche Abgrenzun­ gen lesen. In seinem Buch „Der Literaturbegriff“ setzte sich Helmut Arntzen mit Nachdruck dafür ein, Literatur von einer „instrumentellen Sprachauffassung, deren Praxis die Wissenschaftssprache, vor allem aber die Zeitungssprache wurde“, abzu­ setzen. Kafka und Musil hätten „die ungeheure Anstrengung der Literatur“ auf sich genommen“, weil sie „einen Sinn zu vermitteln hatten, der nur im Sprechen dieser Romane erscheinen konnte.“ Folgerichtig tritt Arntzen gegen eine Konzeption ein, deren Literaturbegriff sich auch auf „Dokument, Reportage, wissenschaftsanaloge[] Darstellung“ erstreckt (Arntzen 1984, 143). Konsequenzen hat Arntzens Position nicht nur für den Zuschnitt der Literatur (im Sinne von Kunst), sondern ebenfalls für die Vorgehensweise der Literaturwissen­ schaft. „Überflüssig, ja schädlich“ sei eine „Interpretation, die sich als Deutung einer umgangssprachlichen Paraphrase des literarischen Textes versteht“. Seine Alterna­ tive: „Erst eine Interpretation, die sich auf die Sprachlichkeit der Texte und damit auf Sprache überhaupt einläßt, kann diesem Sinn näherkommen, wenngleich ihr bewußt sein muß, daß sie ihn nie erreicht“ (ebd., 144). Mit der Aufforderung, bei der Betrachtung von Kunstliteratur auf die Sprache zu achten und nicht bloß Inhaltskondensate als fixe Botschaften auszugeben, hat Arntzen zweifellos einen überzeugenden Vorschlag unterbreitet. Nun war (und ist) das aber ohnehin Konsens unter Germanisten, Anglisten etc., diesen Vorschlag hätte er demnach gar nicht machen müssen. Seine anderen Punkte hingegen, von denen er meint, dass sie mit dem Sprach-Imperativ zusammenhängen, sind zwar auch nicht originell, sie besaßen aber zum Zeitpunkt, als Arntzen sie vorbrachte, keine größere Anhängerschaft mehr. Anders gesagt: Eine stark exklusive Bestimmung von ‚Literatur‘  – gar verbun­ den mit der Betonung hermeneutischer Sinnsuche – vertritt die weit überwiegende Mehrheit der Literaturwissenschaftler in der Gegenwart nicht, ja lehnt sie sogar oft entschieden ab. Die heutigen Philologen sehen als ihren wissenschaftlichen Gegen­ stand zumeist nicht nur (kanonisierte) Gedichte, Dramen, Romane, Kurzgeschichten,

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sondern auch Reportagen, Nachrichtenmagazingeschichten, Drehbücher, Werbeslo­ gans, Fan-Fiction, ‚Schund‘-Literatur etc. Das bedeutet keineswegs, sie alle würden diese Texte untersuchen oder lehren, es bedeutet aber, dass sie ihren Kollegen nicht verbieten möchten, so zu verfahren. Vier Theorien- und Methoden-Komplexe haben zu dieser Ausweitung beigetragen (zum Überblick etwa Rosenberg 2003; Livingston 2003; Jannidis/Lauer/Winko 2009): – erstens groß ansetzende Konzeptionen wie z. B. Marxismus, Konstruktivismus und Strukturalismus, deren Untersuchungsverfahren auf alle möglichen Texte Anwendung finden können; – zweitens Ansätze des New Historicism und des Poststrukturalismus, die nicht von abgeschlossenen Werken ausgehen, sondern auch Epen, Sonette, Trauer­ spiele kanonisierter Autoren als Gewebe beliebiger anderer Texte ansehen (vgl. etwa Culler 1982; Baßler 2005); – drittens geschmackssoziologische und historische Untersuchungen, die bestrei­ ten, dass es so etwas wie eine Ontologie der Literatur geben könne, und statt­ dessen darauf verweisen, dass Menschen und Gruppen in genau beschreibbaren unterschiedlichen Konstellationen zu je verschiedenen ‚Literatur‘-Bestimmun­ gen gelangt sind und weiter gelangen (etwa Becker 1982); – viertens ist eine objektivistische, positivistische Wende zu verzeichnen, die ästhe­ tische Wertung und philologische Analyse voneinander separiert, so dass die Beschränkung, nur als wertvoll und hochrangig erachtete Werke wissenschaft­ lich zu untersuchen, nicht mehr unbefragt gilt; zumindest ist es diesen Philo­ logen in der Tradition des Empirismus und der Analytischen Philosophie (Ayer 1970) nicht mehr möglich, die Beschränkung mit wissenschaftlichen Gründen zu stützen (etwa Kreuzer 1975; Schmidt 1980). Diese Ausweitung findet eine gewisse Entsprechung in der Zurückhaltung heutiger Literaturwissenschaftler, eine Wesensbestimmung oder eine normativ stark aufge­ ladene Definition von ‚Literatur‘ vorzulegen. Man belässt es entweder bei Nominal­ definitionen (gibt also lediglich an, was man selber meint, wenn man den Begriff gebraucht) oder verzichtet ganz auf Erläuterungen. Eine dritte Möglichkeit, die auch noch auf dieser Linie liegt, aber seltener ergriffen wird, besteht darin, den Literatur­ begriff so zu fassen, dass er a) auch auf Zeiten Anwendung finden kann, die noch über keinen verfügten, und er b) keine wichtige bisher gebrauchte Definition aus­ schließt (Jannidis/Lauer/Winko 2009, 29). In der Summe laufen all diese Ansätze auf die Frage ‚Wann ist Literatur?‘ hinaus. Man gibt selber keine Antwort auf die Frage ‚Was ist Literatur?‘ mehr  – zumindest keine mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, auf Ewigkeitswert, auf den Status richtiger (platonisierender) Ideen- und Formenschau oder auf zwingende normative Kraft (vgl. Plumpe 2001). Stattdessen beantwortet man die ‚Wann‘-Frage und zeigt auf, welche verschiedenen Antworten auf die Frage z. B. in unterschiedlichen sozi­ alen Schichten, von unterschiedlichen künstlerischen Gruppierungen, von unter­

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schiedlichen Poetologen und Ästhetikern in unterschiedlichen historischen Epochen oder Momenten gegeben wurden. Solch eine Antwort zu geben, vor allem mit Blick auf die deutsche Gegenwart, war auch das Ziel des vorliegenden Aufsatzes.

7 Literatur Arntzen, Helmut (1984): Der Literaturbegriff. Geschichte, Komplementärbegriffe, Intention. Eine Einführung. Münster. Ayer, Alfred J. (1970): Sprache, Wahrheit und Logik [Language, Truth and Logic, 1936]. Stuttgart. Baßler, Moritz (2005): Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen. Becker, Howard S. (1982): Art Worlds. Berkeley. Culler, Jonathan (1982): On Deconstruction: Theory and Criticism after Structuralism. Ithaca. Curtius, Ernst Robert (1948): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern. Jannidis, Fotis/Gerhard Lauer/Simone Winko (2009): Radikal historisiert: Für einen pragmatischen Literaturbegriff. In: Dies. (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York, 3–44. Kant, Immanuel (1790): Kritik der Urteilkraft. Frankfurt a. M. 1974. Kreuzer, Helmut (1975): Veränderungen des Literaturbegriffs. Göttingen. Kristeller, Paul Oskar (1976a): Das moderne System der Künste. In: Ders.: Humanismus und Renaissance II. München, 164–206. Kristeller, Paul Oskar (1976b): Die italienischen Universitäten der Renaissance. In: Ders.: Humanismus und Renaissance II. München, 207–222. Livingston, Paisley (2003): Literature. In: Jerrold Levinson (Hg.): The Oxford Handbook of Aesthetics. Oxford/New York, 536–554. Martel, Frédéric (2011): Mainstream. Wie funktioniert, was allen gefällt [frz. Original 2010], München. Plumpe, Gerhard (2001): Programme moderner Literatur. Eine systemtheoretische Skizze. In: Herbert Jaumann u. a. (Hg.): Domänen der Literaturwissenschaft. Tübingen, 131–143. Rosenberg, Rainer (2003): Verhandlungen des Literaturbegriffs. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft. Berlin. Schmidt, Siegfried J. (1980): Grundriss der Empirischen Literaturwissenschaft, Bd. I. Braunschweig/ Wiesbaden. Seiler, Bernd W. (1983): Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Stuttgart. Staiger, Emil (1967): Literatur und Öffentlichkeit [Rede, gehalten am 17. Dezember in Zürich]. In: Sprache im technischen Zeitalter, H. 22, 90–97. Steger, Hugo (1982): Was ist eigentlich Literatursprache? In: Freiburger Universitätsblätter 21/76, 13–36. Weitz, Morris (1956): The role of theory in aesthetics. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 15, 27–35.

Lars Koch

2. Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck „Nicht der Schlaf der Vernunft erzeugt Monster, sondern die aufmerksame, nie schlafende Rationalität“ (Deleuze/Guattari 1977, 144).

Abstract: Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der literarischen Repräsenta­ tion, Inszenierung und Reflexion von Angst seit circa 1800. Er zeichnet wesentliche Entwicklungslinien moderner Angst nach, zeigt auf, welche Themenkomplexe der Angst Eingang in die deutsche Literatur gefunden haben und skizziert, welche lite­ rarischen Verfahren erprobt wurden, um ein körpernahes Affektgeschehen in einen mediatisierten Zeichenprozess zu überführen. Angst, so die Ausgangsthese, ist einer­ seits eine Grundemotion des Menschen, die einen langen evolutionsbiologischen Index aufweist, zugleich ist sie aber immer auch Produkt zeitbedingter kultureller Überformungen: Wie Angst erlebt wird, aus welchen Anlässen heraus sie entsteht und nicht zuletzt auch wie sie als Kondensat kommunikativer Praktiken gesellschaft­ lich wirksam wird, ist ebenso historisch wie kulturell variabel. Die Literatur, verstan­ den als eine ästhetische Beobachtungsinstanz zweiter Ordnung, registriert kulturell imprägnierte Realisierungsformen von Angst, sie stellt sie symbolisch verdichtet dar, ordnet sie in einem diskursiven Ermöglichungszusammenhang ein und zeichnet ihr dialogisches Verhältnis zu zeitgenössischen Verunsicherungsintensitäten und kol­ lektiven Bedrohungswahrnehmungen nach. Damit ist die Literatur ein prädestinier­ ter Zugang zu einer Kulturgeschichte der Angst. 1 Angst und Literatur 2 Historizität, Semantik und Ausdruck von Angst in der Literatur seit 1800 3 Fazit: Für eine medienkulturwissenschaftliche Literaturgeschichte der Angst 4 Literatur

1 Angst und Literatur Nachfolgend wird davon ausgegangen, dass die Literatur der Moderne wesentlich eine Literatur der Angst ist. Konzeptualisiert als Beobachtungs- und Reflexionsme­ dium zweiter oder dritter Ordnung, setzt sich die Literatur seit der Aufklärung mit kulturellen Konjunkturen von Angst und Verunsicherung auseinander, reflektiert im DOI 10.1515/9783110297898-002

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19.  Jahrhundert über die Angstpotenziale innerhalb eines sich verändernden anth­ ropologischen Denkgebäudes und entdeckt schließlich im 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und vielgestaltiger sozialer, ökonomischer und reli­ giöser Entwurzelungstendenzen Angst und Entfremdung als conditio humana des modernen Subjekts. Philosophisch vorbereitet vom Diskurs des Erhabenen (vgl. Zelle 1987) und poetologisch angeleitet von der Gothic novel, entsteht auch in der deutsch­ sprachigen Literatur seit etwa 1800 ein intensiviertes Interesse für Angst, Furcht und Schrecken, das nicht alleine mit den Aufmerksamkeitsnotwendigkeiten und themati­ schen Vorlieben eines sich autonomisierenden Literaturmarktes erklärt werden kann, sondern als Signal eines umfassenden Problemdrucks einer breiteren Einordnung in einen sich verändernden soziokulturellen Ermöglichungszusammenhang bedarf. Wenn der Fokus innerhalb dieses Artikels also auf Angst als einer emotionalen Signatur der Literatur seit circa 1800 gelegt werden soll, dann ist damit eine methodi­ sche Weichenstellung vorgenommen, die andere literaturwissenschaftliche Zugangs­ weisen zum Phänomen literarischer Angst nicht prinzipiell zurückweist, wohl aber zugunsten eigener literaturhistorischer Fragestellungen weitgehend bei Seite lässt. Unberücksichtigt bleibt vor allem ein aktuell vielbeschrittener Forschungszweig, der die Wirkungsästhetik literarischer Texte im Zuge der Erzeugung von Emotionen beim Leser in den Vordergrund rückt (vgl. Mellmann 2006; Hillebrandt 2011; bezogen auf Angst Trautwein 1980; Hillebrandt/Poppe 2012; Lickhardt 2012). Demgegenüber soll hier Literatur unter funktions- und problemgeschichtlichen Vorzeichen als ein prädestinierter Zugang zu einer Kulturgeschichte der Emotionen gefasst werden, als eine Agentur der Genese und Dekonstruktion emotionaler Semantiken, als ein ästhe­ tisches Medium, das Angst thematisiert und präsentiert (vgl. Winko 2003). Orientiert man sich an Thomas Anz, der schon in den 1970er Jahren festgestellt hatte, dass die Literatur „im Rahmen einer ihr eigenen Logik zur Geschichte mensch­ licher Ängste einiges Material“ (Anz 1975, 238) liefert, dann stellt sich die Aufgabe, den einzelnen für die Angst-Thematik einschlägigen literarischen Text innerhalb einer kulturellen Rahmung zu situieren, die erst verständlich macht, inwieweit die literarische Darstellung von Angst als dialogischer Beitrag zur Erörterung von zu einem spezifischen Zeitpunkt vorherrschenden, soziokulturellen Problemlagen gelesen werden kann. Vor dem Hintergrund einer modernen Auslegungsnotwen­ digkeit von Wirklichkeit ist die Funktion der modernen Literatur dabei als durchaus janusköpfig zu verstehen: Zum einen bearbeiten und reflektieren literarische Texte Erfahrungen von Individuen und Kollektiven, sie erproben Handlungsweisen und stiften, indem sie nachvollziehbare, überschaubare Geschichten entwerfen, Orien­ tierungswissen. Gerade in durch technische oder politische Modernisierungsschübe verursachten gesellschaftlichen Umbruchs- und Krisenzeiten fungiert die Literatur so als Medium der Thematisierung von Sinnproblematiken, insbesondere dort, wo sie affektive Skripte, Wahrnehmungsschemata und Rollenmuster in die gesellschaftliche Kommunikation einspeist, trägt sie zudem zur „Selbstvergewisserung gegen Kontin­ genzerfahrungen“ (Braungart 1996, 164) bei.

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Zum anderen führt die Literatur  – seit der Herausbildung eines autonomen Literatursystems im 18. Jahrhundert ist dies ein wesentliches Element ihrer ästheti­ schen Programmatik – selbst wiederum zur Komplexitätssteigerung, insofern sie als Agentur der Pluralisierung von Realitätsvorstellungen tätig wird, dem scheinbar Not­ wendigen das ebenfalls Mögliche gegenüberstellt und so an der Entwertung von Tra­ dition und der Infragestellung der Autorität von Deutungsmustern mitarbeitet. Sich mit Literatur auseinanderzusetzen, bedeutet in der Moderne zunehmend, sich aus dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Blumenberg 1979, 9 ff.) zu lösen – damit sind Emanzipationschancen verbunden, aber auch Risiken der normativen und epistemi­ schen Desorientierung. Versteht man vor diesem Hintergrund Angst als eine kommunikative Ressource, die im Modus der vom literarischen Text geleisteten affektiven Ansprache ganz unter­ schiedliche Wissens- und Diskurssysteme aufzurufen und zu verschalten in der Lage ist, dann wird einsichtig, dass ihre Resonanz auch in ganz unterschiedliche Richtun­ gen verlaufen kann: Als Signal einer drohenden Gefahr kann die literarisch evozierte Angst politisch instrumentalisiert werden, um herrschende Gesellschaftsordnungen, um Macht, Herrschaft und Gewalt zu legitimieren und Gefügigkeit einzufordern. Genau so hat literarische Angst auch immer wieder gewirkt, als Plausibilisierungs­ instanz, die bestimmte Handlungsformen, Vorurteile und Denkmodelle unterstützt (im Hinblick auf den Detektivroman als Medium des Rationalismus vgl. Conrad 1974). Gegenteilig kann Angst aber auch als ein Marker fungieren, der anzeigt, dass mit der außertextuellen Welt, auf die sich der literarische Text vermittelt oder direkt bezieht, etwas nicht stimmt. Angst wird dann zum emotionalen Vehikel der Kritik, zu einer Codierung des Erzählten, die als fortgesetzte ästhetische Irritation die Ordnung der Dinge innerhalb wie außerhalb des Textes problematisiert. Literaturhistorisch lohnend ist die Beschäftigung mit der literarischen Darstel­ lung und Thematisierung von Angst in jedem Falle: Indem sich das Augenmerk auf die angstgestimmten Grundierungen der Literatur der Moderne richtet, auf die in ihr verhandelten Intensitäten von Angst als plötzlichem Schrecken, als Stimmung schleichender Unheimlichkeit oder als Spannungsmoment diffuser Erwartung, wird es möglich, eine eigene Geschichte der Genese von Subjektformen und sozia­ len Ordnungen zu erzählen. Ziel einer solchen Literaturgeschichte der Angst ist es, das „komplexe Zusammenwirken von kollektiven Vorstellungen, affektiven Mustern, Grundüberzeugungen und Verhaltensweisen“ (Arnold-de Simine 2000, 38) innerhalb literarischer Texte nachzuvollziehen und daraus die Interaktion von realhistorischem Kontext und angstthematischem Text abzuleiten.

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2 Historizität, Semantik und Ausdruck von Angst in der Literatur seit 1800 Geht es nachfolgend um Angst in der deutschsprachigen Literatur seit 1800, dann sind damit gleich zwei erklärungsbedürftige Setzungen vorgenommen. Der Fokus auf Angst in der deutschsprachigen Literatur ergibt sich aus der methodischen Verzah­ nung von außerliterarischem Erfahrungsanlass und innerliterarischen Thematisie­ rungen (vgl. hierzu auch Koch 2013, 237 ff.). Natürlich finden sich auch in anderen Literaturen vor dem Hintergrund anderer nationalkultureller und politischer Kon­ texte mannigfaltige Literarisierungen von Angst. Diese treffen sich sicher auch viel­ fach inhaltlich und gestalterisch mit deutschsprachigen Angstliteraturen, treten gar mit diesen in ein wechselseitiges Beobachtungs- und Austauschverhältnis ein. Gleichwohl schien es ratsam, den von vorneherein schon breit gespannten Bogen dieses Artikels nicht noch weiter zu fassen. Zwar wird auf direkte Einflusssphären von und Bezugnahmen auf nicht-deutsche Angstliteraturen – etwa im Kontext der Gothic novel oder der Texte Edgar Allen Poes – punktuell hingewiesen, wenn sich daraus ein nuancierteres Bild der deutschsprachigen Angstliteratur ergibt. In der Regel soll aber vor allem die deutschsprachige Literatur Beachtung finden, zum einen aus rein prag­ matischen Gründen, zum anderen, weil sich auch in ihr die spezifischen Problem­ lagen einer Literatur der Angst  – das gewaltimprägnierte Verhältnis des Menschen zu seiner inneren und äußeren Natur, die Gewalterfahrungen zweier Weltkriege, die Sinnnotstände metaphysischer Obdachlosigkeit – exemplarisch thematisieren lassen. Ein ähnliches Argument gründet sich auf die Setzung des Beginns dieser Betrach­ tung um 1800. Sicher trifft auch hier der Widerspruch zu, dass schon für die Litera­ tur des Mittelalters (vgl. Tuczay 2008) und dann für die des Barock eine Artikulation von Ängsten  – vor den Naturgewalten, vor Hunger oder dem gegnerischen Heer  – zu konstatieren ist (vgl. Meumann/Niefanger 1997). Diese Ängste scheinen aber vor dem Hintergrund religiöser Erklärungsmuster und poetologischer Programme einen anderen, weniger bedeutsamen Stellenwert innerhalb der Anthropologie und eine andere Funktion innerhalb literarischer Texte und der dort evozierten Weltmodelle gehabt zu haben. Dass man Angst als eine bedeutsame emotionale Signatur der Kultur bestimmen kann, ist wohl erst für die Moderne zutreffend. Um 1800 kommt es im Rahmen der Säkularisierung und der technischen und politischen Dynamisierung zu jenen Entsicherungs- und Freisetzungsprozessen, die das moderne Subjekt eng mit der Erfahrung von Angst verbinden. Genau in dieser Ambivalenz einer umfassen­ den soziokulturellen Transformation bewegt sich die Literatur seit der Aufklärung: Darum bemüht, das Individuum durch den Abbau von (Aber-)Glaube und religiö­ ser Bevormundung zu einem neuen Selbstbewusstsein zu führen, arbeitet Literatur zugleich mit an der Erosion des epistemologischen, anthropologischen und morali­ schen Bodens, auf dem sich der Einzelne zunehmend desorientiert bewegt. „Nicht nur“, so fasst Christian Begemann die mittelfristig ambivalente Wirkung der in dem

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Begriff „Aufklärung“ gebündelten Veränderungstendenzen zusammen, „machen die aufklärerische Umstrukturierung des Weltbildes, des Realitäts- und Naturbegriffs, die Zerstörung tradierter ‚Vorurteile‘ und die Entzauberung der Natur bestimmte Ängste erst möglich […]. Fundamentaler noch ist ein anderer Konnex: Dieselbe Bewusst­ seins- und Psychostruktur, die als Voraussetzung aller theoretischen und praktischen Naturbeherrschung […] gelten muss, […] ist eine Quelle innerer Angst“ (Begemann 1987, 11).

2.1 Um 1800: Angst in der Schauerliteratur und in der Schwarzen Romantik Die Parallelisierung von historischen Erfahrungsgehalten und literaturwissenschaft­ lichen Epochenbegriffen ist eine heikle Angelegenheit. Wenn also im Folgenden ab und an auf eine entsprechende Terminologie zurückgegriffen wird, dann nicht, um an einer epochenpoetologischen Diskussion zu partizipieren, sondern um eine ungefähre historische Einordnung der aufgerufenen Texte zu ermöglichen. Geht man vom Problembezug der Literatur aus, dann fällt auf, dass sich Spätaufklärung, Sturm und Drang und Romantik mit ähnlichen anthropologischen Herausforderungen befassen. Begriffe wie „Angst“, „Schrecken“ und „Grauen“ werden hier zu Chiffren des sich schleichend einstellenden Gefühls, dass sich auf der anderen Seite der in Europa grassierenden Aufklärungseuphorie eine dunkle Gegenbewegung vollzieht, die den seiner religiösen und sozialen Traditionen verlustig gegangenen Menschen in eine nicht mehr verstandene, kalte und bedrohliche Welt hinaus treibt. Nicht lange nachdem die „Natur durch die Technik domestiziert“ (Alewyn 1974, 315) wurde und der Aberglaube an Dämonen und andere teuflische Gestalten von der Vernunft aus den nunmehr taghell ausgeleuchteten Räumen der Wirklichkeit weitestgehend ver­ bannt worden war, entsteht ein neues literarisches Interesse für eine Ästhetik des Obskuren, des Undurchsichtigen und der mit einer Erfahrung erneuten Autonomie­ verlusts gekoppelten Angst. Zu einem zentralen Thema wird diese moderne Angst erstmalig in der Schauerli­ teratur der Spätaufklärung. Der Schauerroman aus der Feder von hoch produktiven Autoren wie Christian Heinrich Spieß, Karl Gottlob Cramer oder Joseph Alois Gleich handelt von und arbeitet mit Ängsten vor dem Übernatürlichen, die das aufgeklärte Publikum eigentlich schon abgelegt zu haben meinte, die ihm jetzt aber im Rahmen einer ästhetischen Erfahrung wiederbegegnen. Indem sie solcherart Gespenster und unheimliche, nicht-verstehbare Mächte als angstmachende Akteure diegetischer Textwelten wieder aufleben lässt, operiert die Schauerliteratur an der Schwelle von Aufklärung und Romantik. Die Gründe für diese Renaissance des Spukhaften als literarischem Sujet sind in der Literaturwissenschaft immer noch umstritten. Lange Zeit dominierte die Erklärung Richard Alewyns, der in der literarischen Konjunktur von Dingen, die in früheren Zeiten Quellen einer realgeschichtlichen Angst gewesen

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waren, eine Kompensation für die rationale Entzauberung der Welt zu erkennen vermeinte. Naturphänomene wie z. B. Gewitter und übernatürliche Phänomene wie Gespenster werden demnach erst dann zu Gegenständen der Literatur, wenn sie in der Realität aufgrund intellektueller oder technischer Kontroll- und Distanzierungs­ praktiken keinen wirklichen Bedrohungsgehalt mehr besitzen (vgl. Alewyn 1965; 1974) und so zum Anlass eines „angenehmen Grauens“ (Zelle 1987) werden können. Eine andere, der Kompensationsthese entgegengesetzte Erklärung für das Auf­ kommen von Angst in der Schauerliteratur sieht in dieser einen symbolischen Arti­ kulationsraum realgeschichtlicher Irritationserfahrungen. Demnach berichtet die Schauerliteratur von einem sukzessiven Einwandern der Erkenntnis der nicht rati­ onal kontrollierbaren Nachtseite der menschlichen Natur und der situativen Gefähr­ lichkeit der Einbildungskraft in den kulturellen Selbstverständigungsdiskurs. Der Vernunftglaube erschrickt quasi über die Begrenztheit der eigenen Orientierungs­ kraft und lokalisiert dabei  – im Medium des literarischen Textes  – bislang überse­ hene anthropologische und soziale Gefahrenzonen der im Entstehen befindlichen bürgerlichen Welt. Deren Errungenschaften  – eine sich steigernde Komplexität der wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Erkenntnis- und Aushandlungs­ prozesse – werden nunmehr selbst zu Quellen des Misstrauens und der Verunsiche­ rung. Zeitlich weit auseinanderliegende Texte wie Friedrich Schillers Der Geisterseher (1787/89) und E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi (1820) bringen demnach eine moderne Überforderungsangst zur Sprache, die aus der mit der „Erosion pro­ videntieller Schicksalsmuster und ihrer transzendenten Instanzen“ (Neumann 2002, 204) einhergehenden Erfahrung einer Undurchsichtigkeit der Welt resultiert. Schil­ lers Geisterseher wird auf dieser Grundlage lesbar als ein „soziopsychologisches Exempel gesellschaftlicher Destabilisierung in einer Krisenzeit“ (Barkhoff 2010, 26), das die zentralen Angst-Quellen der Metaphysik – das unsichtbare Reich der Geister, die Macht der Magier, den unergründlichen Willen Gottes – als politischen Verschwö­ rungszusammenhang in die Register der sich systemisch ausdifferenzierenden Gesell­ schaft einträgt. Hoffmanns Novelle, angelegt als ein Kriminalstück rund um eine rät­ selhafte Mordserie, Begehren und Juwelenraub im Paris des Jahres 1680, zielt in die gleiche Richtung. Auch hier geht es vor dem Hintergrund politischer, technischer und medialer Beschleunigungseffekte um die unzureichende Verstehbarkeit der Welt. Die Novelle zeigt, wie eine kollektive Verunsicherung um sich greift, die „aus der Ver­ wischtheit und Unlesbarkeit der Spuren, die sich im wirren und bedrohlichen Chaos der Wahrnehmungen und Ereignisse abzeichnen“ (Neumann 2002, 185), erwächst. Neben einer neuen Sensibilität für die äußeren Bedrohlichkeiten der modernen Lebenswelt, die nicht zuletzt in den Gewaltexzessen der Französischen Revolution deutlich geworden waren, tritt zudem die Einsicht, dass auch im Innenraum des Men­ schen große Gefahren und unkontrollierbare Mächte lauern. Die im Schauerroman evozierte Angst ist keine mehr, die sich direkt aus Religion und Metaphysik speist. Im Gegenteil entspringt sie genau der sich durchsetzenden Erkenntnis, dass mit der Entwertung religiöser Deutungsmuster der Mensch ganz auf sich selbst zurückgewor­

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fen worden ist und nunmehr alleine mit seinen inneren Dämonen, seinem zügello­ sen Begehren und seinen undurchsichtigen emotionalen Regungen zurechtkommen muss. In gewisser Weise, so Jürgen Barkhoff, wandern die Gespenster aus der Außenin die Innenwelt des Menschen ein: „Schauerlich ist in der Moderne nicht mehr der Blick über die Grenze ins Reich der Abgeschiedenen, sondern der ins Nichts, nicht mehr die Ungewissheit angesichts des von Gott über uns verhängten Schicksals, sondern das Gefühl des Ausgeliefertseins an die nackte Kontingenz, nicht mehr die Angst vor Sünden und Höllenstrafen, sondern vor der nihilistischen Vernichtung aller Werte“ (Barkhoff 2010, 38). Ein fundamentaler Zweifel an der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis greift um sich, gerade weil das Konzept „Seele“ als Sitz der Persön­ lichkeit nicht mehr akzeptiert wird und die Vernunft eine umfassende Stabilisierung des zunehmend als Naturwesen gedachten Menschen nicht zu leisten vermag (vgl. Košenia 2008). Angst ist in diesem Kontext der emotionale Ausdruck eines Problema­ tisch-Werdens von Subjektivität und wissenschaftlicher Erschließung der Welt, das tief in der Logik der Aufklärung und der von ihr produzierten metaphysischen Verun­ sicherung verankert ist. Literarische Angst wird so, man denke etwa an den Zusam­ menhang von optischen Medien, wissenschaftlicher Wissensproduktion und Wahn­ sinn in Hoffmanns Der Sandmann (1816) – zu einer symbolischen Begleiterscheinung der „Selbstaufklärung der Aufklärung“, die über das, was sie im Aufklärungsprozess über den Menschen herausfindet, wenig erfreut ist: „Der Roman der Schauerroman­ tik dreht sich um die Frage, unter welchen Bedingungen das Ich überhaupt ‚ich‘ sagen kann; gleichzeitig artikuliert er die irrationale Seite des Menschen […], die aus dem Bild des rational denkenden, modernen Menschen ausgeschlossen wird“ (Murnane/ Cusack 2010, 16). Die Literatur nimmt im Prozess des Reflexivwerdens der Aufklärung insofern eine Doppelstellung ein, als sie einerseits als Seismograph des kulturellen Unbeha­ gens fungiert und eine entsprechende Phänomenologie der menschlichen Innenwelt betreibt, andererseits selbst aber aufgrund ihrer Fähigkeit zur Stimulanz der Einbil­ dungskraft als Teil des Problems angesehen wird. Goethe etwa blickt mit großem Misstrauen auf die unkontrollierbaren Gefühlswallungen, die vom „heißen Imaginä­ ren der Romantik“ (von Graevenitz 2014, 31) erzeugt werden können. Die Einbildungs­ kraft, so schreibt er 1805, „lauert als der mächtigste Feind, sie hat von Natur aus einen unwiderstehlichen Trieb zum Absurden, der selbst in gebildeten Menschen mächtig wirkt und gegen alle Kultur die angestammte Rohheit fratzenliebender Wilden mitten in der anständigsten Welt wieder zum Vorschein bringt“ (zit. n. Iser 1991, 295). Noch deutlicher kommt die Angst vor der affektiven Macht der literarischen Imagination in einem Brief von Ludwig Tieck an Wilhelm Heinrich Wackenroder zum Ausdruck, in dem er von seinen Erlebnissen bei der Lektüre des Romans Der Genius (1790/94) von Carl Grosse berichtet: Nach zwei Uhr war das Buch geendigt. Eine kleine Pause, worinn ich nichts sprechen, nicht denken konnte, alle Scenen wiederholten sich vor meinen Augen […] als plötzlich  – noch

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schaudre ich wenn ich daran denke, noch kann ich die Möglichkeit nicht begreifen  – […] schwarze Nacht und grause Todesstille, gräßliche Felsen ernst und furchtbar [aufstiegen…]. Ich war auf einige Sekunden hin wirklich wahnsinnig (Wackenroder 1991, 48 f.).

Die Einbildungskraft, die in Form einer radikalisierten Aktualisierung antiker Vor­ behalte nun auch Goethe und Tieck sehr beunruhigt (vgl. Sloterdijk 2001), ist genau besehen nur der hochverdichtete Sonderfall eines intensivierten Misstrauens gegen­ über der affektiven Disposition des Menschen, wie sie – angeleitet von einer zuneh­ menden Psychologisierung des Menschenbildes im Kontext von Erfahrungsseelen­ kunde und Empfindsamkeit  – vor allem dann die Schwarze Romantik thematisch beschäftigt. In Die Elixiere des Teufels (1814/15) von E. T. A. Hoffmann, aber auch zuvor schon in Ernst August Friedrich Klingemanns Nachtwachen (1804) oder in Ludwig Tiecks Der Runenberg (1804) erscheint der Mensch ganz und gar von seinen Trieben bestimmt, bekommt das rationalistische Selbstbild des aufgeklärten Bürgertums, das in der gelingenden Affektkontrolle das Ergänzungsstück zur Familie als einer produk­ tiven Keimzelle der modernen Gesellschaft sah, massive Risse. Ihre Themen findet die Schwarze Romantik, deren düstere Perspektive auf die Gesellschaftsfähigkeit des Einzelnen bis weit ins 20.  Jahrhundert ausstrahlen und noch bei Autoren wie Franz Kafka und Ernst Jünger literarische Spuren hinterlassen wird (vgl. Bohrer 2004), in den Extremzuständen von Gewalt, entgrenzter Sexualität und Wahnsinn. Die Literatur der Angst um 1800 erwächst aus „dem Grauen vor dem Unbekannten“ (Schlegel 1989, 528), sie erzählt von einem tief verunsicherten Ich, das sich in Zeiten sozialer und normativer Umbrüche in der Welt symbolisch neu einrich­ ten muss und dabei immer wieder an Grenzen der Versteh- und Steuerbarkeit stößt. Wiederkehrendes Kernelement der Schwarzen Romantik ist daher eine Bestands­ aufnahme der „Beschädigung der menschlichen Substanz im Zivilisationsprozess“ (Klein 2004, 116) und die Darstellung eines umfassenden subjektiven Selbstverlusts, der – ganz im Sinne einer Dialektik der Aufklärung – aus dem Prozess der Unterord­ nung der inneren und äußeren Natur und der gewaltsamen Einpassung des Denkens und Verhaltens in gesellschaftliche Muster herrührt. Gerade die Sexualität der romantischen Protagonisten und Protagonistinnen wird dabei zu einer Kraft eigenen Rechts, die sich nur unter größten Schwierigkeiten dauerhaft sublimieren lässt. Die in vielen Texten transportierte Diskreditierung der Vernunft als Medium der Vergesell­ schaftung wird textintern übersetzt in ein Figurenpersonal, dessen Handeln einzig von seiner aggressiven Triebstruktur motiviert scheint. Die wahnsinnigen, triebhaften Protagonisten E. T. A. Hoffmanns, allen voran die Doppelgänger-Figuration Medar­ dus/Victorin in den Elixieren des Teufels, fungieren als Personifikationen eines funda­ mental Anderen, das die soziale Ordnung nicht von außen her in Frage stellt, sondern aus deren verdrängtem Inneren hervorbricht und nur sichtbar gemacht werden kann, weil es sogleich als pathologischer Sonderfall der bürgerlichen Normalität markiert wird. Genau davon berichtet die schwarze Romantik (vgl. Vieregge 2008): dass das selbstkontrollierte, selbstdurchsichtige und selbstgewisse Ich der Aufklärung immer

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nur eine Fiktion war, die sich stabilisieren konnte, weil es Verfahren des Ausschlus­ ses und der Verdrängung gab. Hoffmann, der durch die Lektüre von Gotthilf Hein­ rich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften (1808) und der späteren Symbolik des Traums (1814) für die Wirkmacht der Sexualität sensibilisiert worden war, weist genau aus dieser Spannung heraus „dem Trieb und der Ratio neue Plätze im Arrangement des psychischen Haushalts zu“ (Alt 2010, 129). Dass die Sexua­ lität sich allen Praktiken der Kontrolle und der Einhegung widersetzt und nur um den Preis des Wahnsinns dem Herrschaftsanspruch des Bürgertums unterworfen werden kann, übersetzt Hoffmann in die Figurenkonstellation von gutem Held und bösem Doppelgänger, wobei sehr deutlich wird, das der Letztere schlussendlich am längeren Hebel sitzt. Von den Elixieren des Teufels ausgehend, durchzieht die Metapher des Doppelgängers die Kultur der Moderne. In einer genealogischen Linie, die von Hoff­ mann und Edgar Allen Poe über Robert Louis Stevenson und Oscar Wild bis zu David Lynch reicht, berichtet sie davon, dass die gewaltsame Unterdrückung und Kanalisie­ rung des Triebschicksals zu neuer Gewalt führt, und davon, dass affektkontrollierte Vernunft und triebhafter Wahnsinn die beiden Seiten einer in der Moderne immer schon prekären Subjektivität darstellen.

2.2 Im 19. Jahrhundert: Metaphysische Obdachlosigkeit und die Angst des einsamen Subjekts Der Umgang mit Sinnverlust und erodierender Orientierungssicherheit bleibt eines der insistierenden Grundprobleme der modernen Literatur und Philosophie. Letzt­ lich sind die großen Utopien und politischen Religionen des 19. und 20. Jahrhunderts Versuche einer Antwort auf die von Jean Paul noch als Schreckensvision ausgemalte Erkenntnis, dass der Mensch nach dem Tode Gottes in Einsamkeit die Welt als Kon­ glomerat des „starre[n], stumme[n] Nichts“, der „kalte[n], ewige[n] Notwendigkeit“ und des „wahnsinnige[n] Zufall[s]“ wird ertragen müssen (Paul 1928, 251). Die Lite­ ratur indes interessiert sich weniger für den Erfolg solch neuer Großerzählungen als vielmehr für die Verlustbilanzen und bleibenden Schäden, welche die Dialektik der Aufklärung im modernen Subjekt verursacht. Einer der wichtigsten Chronisten des sozialen und moralischen Ordnungsverlusts ist Heinrich von Kleist, der in seinen Erzählungen und Dramen immer wieder Figuren vorführt, denen der Boden unter den Füßen immer weniger als fester Halt erscheint und die nunmehr von einem fundamen­ talen Schwindel erfasst durch ihre jeweiligen Erzählwelten taumeln. Kleists Texte, die man als literarische Krisenexperimente verstehen kann, in denen die Effekte der epi­ stemologischen, normativen und politischen Zentrifugalkräfte der Moderne auf den Einzelnen, aber auch auf soziale Gruppen untersucht werden, erzählen – allen voran Das Erdbeben in Chili (1807) – von der Unmöglichkeit dauerhafter Selbstkontrolle und der Angst, die eintritt, wenn die bislang „verlässlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen“ (Janz 2005, 221 f.) nicht mehr funktionieren und Gesellschafts­

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strukturen sich in Anomie auflösen. Als „Indikator gravierender Irritationen im kultu­ rellen Gefüge“ (Janz 2005, 219) wird der Schwindel so zu einer „anthropologische[n] Schlüsselerfahrung“ (Janz 2005, 217) der Jahrzehnte nach 1800, die die Konsolidie­ rung der individuellen Selbstgewissheit als ein nicht lösbares Problem aufgibt. Weit mehr als eine bloße Reaktion auf die zeitweilige Störung des Gleichgewichtssinns fungiert der von Angstzuständen begleitete Schwindel als Verweis auf eine grundsätz­ liche Instabilität der sozialen und moralischen Raumkonstitution, welche die Denkund Darstellbarkeit der Ordnung der Dinge und der Welt insgesamt prekär werden lässt (vgl. Hamacher 1985). Wenn Kleist in seinem Essay Über das Marionettentheater (1810) davon berichtet, „welche Unordnung, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewusstsein anrichtet“ (Kleist 1961, 343), dann markiert er damit ein die Moderne kennzeichnendes Auseinandertreten von Körper und Geist. Die ebenso gewaltsame wie angstgestimmte Zurücknahme dieser Desintegration in der Unterwerfung der Physis unter Vernunft und Willen wird immer wieder – man denke an Alfred Döblins Geschichte Die Tänzerin und der Leib (1910; vgl. Koch 2015) oder an Darreen Aronows­ kys Kinofilm Black Swan (2010) – zum Gegenstand der Kunst werden. Ein ähnlicher Blick auf das insuffiziente Subjekt und das Chaos der Welt, wie ihn Kleists Poetik des Extremen eröffnet, artikuliert sich auch im schmalen Oeuvre von Georg Büchner, der wiederkehrend der Frage nachgeht, wie es um die individu­ ellen und kollektiven Sinnhaushalte der Moderne steht. Seine Figuren, allen voran Lenz und Woyzeck, sind gekennzeichnet von einer schwarzen Anthropologie, die sich in „unbenennbare[r] Angst“ (Büchner 2009b, 139) Bahn bricht. Das Erzählfrag­ ment Lenz (1835) etwa stellt sich in eine Tradition des Bildungsromans, wie er von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) konfiguriert wurde, präsentiert aber in dem wandernden Lenz einen Protagonisten, der auf allen Ebenen daran scheitert, die Sinneseindrücke und Gedanken seiner Reise durch die erhabenen Landschaf­ ten der Vogesen zu einem harmonischen Weltbild zu formen. Während die deutsche Klassik noch mit großer Hoffnung auf die Fähigkeit des Einzelnen blickte, sich die Welt im Medium von Bildung und Kultur zu einem Ganzen zusammenzufügen, erken­ nen die modernistischen Literaturen danach, angefangen bei schwarzer Romantik und Vormärz, überall nur noch blinde Triebhaftigkeit, Gewalt und – ins Ästhetische gewendet – Bruchstückhaftigkeit. Für den aus der inneren Balance geratenen Lenz gilt dementsprechend, was Büchner seinem Woyzeck paradigmatisch aussprechen lässt: „jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“ (Büchner 2009c, 217). Büchners Texte werden so zu Dokumenten eines entsicherten, einsamen Bewusstseins, das, in einen entleerten Himmel gestellt, auf sich selbst zurückfällt (vgl. Vietta 1992, 133 ff.): „es wurde ihm entsetzlich einsam, er war allein, ganz allein, er wollte mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu atmen, das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er mußte sich niedersetzen; es fraß ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren, er riß sich auf und flog den Abhang hinunter“ (Büchner 2009b, 138). Der durch eine einsame Berglandschaft irrende Lenz fungiert als personelle Metapher einer ängstlichen Subjektivität, der der

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eigene Körper mit seinen Begierden fremd geworden ist, die im christlichen Heilsver­ sprechen nur noch eine tote, nicht mehr aufzuweckende Kinderleiche zu erblicken vermeint (vgl. ebd., 150 f.) und Entlastung vom Leerlauf der Reflexion allenfalls in der Dringlichkeit physischer Schmerzerfahrungen finden kann (vgl. Oberlin 2014). Die Hoffnung auf Geschichte als Fortschritt, die säkularreligiöse Erbin der Aufklärung, hat sich bei Büchner in ihr Gegenteil verkehrt. Erschüttert von den Gewaltexzessen des jakobinischen Terrors während der Französischen Revolution und ernüchtert von der politischen Stagnation der deutschen Kleinstaaterei, markieren Geschichtspessi­ mismus, Fatalismus und Todesangst ein untergründiges Gravitationszentrum seiner Poetik, die der Titelheld seines Revolutionsdramas Dantons Tod kurz vor seiner Hin­ richtung zu einer fatalistischen Klage über die Sinnlosigkeit der Welt anleitet: Wir sind alle lebendig begraben und wie Könige in drei- oder vierfachen Särgen beigesetzt, unter dem Himmel, in unseren Häusern, in unseren Röcken und Hemden. – Wir kratzen fünfzig Jahre lang am Sargdeckel. Ja, wer an Vernichtung glauben könnte! Dem wäre geholfen. – Da ist keine Hoffnung im Tod; er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere, organisierte Fäulnis, das ist der ganze Unterschied (Büchner 2009a, 119).

Der Zusammenhang von Angst und Sinnverlust, der alle Protagonisten Büchners mehr oder weniger explizit betrifft, macht ihn zu einem paradigmatischen Autor der Moderne. Die für die Jahrhundertwende 1900 zentrale Problematik einer „Krise des Ichs“ ist hier ebenso angelegt wie die Frage nach dem Verhältnis von Religion, Politik, Weltanschauung und zur Entgrenzung tendierender Gewalt. Eine Entwicklungslinie der modernen Literatur führt von Büchner über Autoren der klassischen Moderne wie etwa Hermann Broch, Elias Canetti oder – anders gewendet – Hans Henny Jahnn zu den Autoren des Transzendenzverlusts in den 1960er und 1970er Jahren, wie etwa Thomas Bernhard, dem die Geschichte nach zwei Weltkriegen in seinem Romande­ büt Frost (1963) wie ein einziges „Schlachthaus“, ein „Totenmaskenball“ erscheint (Bernhard 1971, 255, 248). Bernhards Figuren, allen voran der Protagonist Konrad in dem Roman Das Kalkwerk (1970), sind in unumkehrbarer Weise solipsistisch defor­ miert. Eingeschlossen in eine Ummantelung der Angst, ist ihnen die eigene Psyche ein labyrinthisches Gefängnis, ein „Verfinsterungsort“ (Bernhard 1970, 59), den es im fortgesetzten Selbstgespräch auszuhalten gilt. Während die Angstamplitude in der Romantik und im Vormärz deutlich aus­ schlägt, stellt die Angst im nachfolgenden literarischen Realismus eher eine wohltem­ perierte Hintergrundatmosphäre dar. Gleichwohl ist sie auch hier deutlich spürbar, etwa dort, wo der allgemeine Fortschrittsoptimismus im Hinblick auf die mit Indust­ rialisierung und sozialer Dynamisierung verbundene Traditionsentwertung in Frage gestellt wird. Mit Blick auf Theodor Fontane etwa kann man davon sprechen, dass sich die Literatur erneut als Seismograph der „herrschenden, hochgradig instabilen kulturellen Atmosphäre“ (Gay 2002, 185) erweist. Von den Angstwelten Kleists und Büchners unterscheidet den Realismus gleichwohl eine Tendenz zur Prosaisierung der Angst. So geht es nunmehr weniger um die Darstellung eines letztlich spekula­

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tiven, postmetaphysischen horror vacui, der zur Verdeutlichung auf Dämonen, Irre und andere Figurationen der Devianz zurückgreift, als vielmehr um konkretere Beun­ ruhigungsanlässe einer Welt im sozialen und ökonomischen Wandel, die in Romanen wie Unwiederbringlich (1891) oder Der Stechlin (1897) zum Gegenstand des Erzählens werden. Auch der Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht dabei noch unter dem Eindruck der politischen Umbrüche der letzten Jahrhundertwende und den großen Modernisierungskrisen von 1789, 1815 und 1848, die in aller Deut­ lichkeit vor Augen geführt hatten, dass die Stabilität der sozialen und politischen Ordnung immer nur eine vorläufige ist. „Das Trauma der Revolution“, so Gerhard von Graevenitz zusammenfassend, „blieb lebendig in der Furcht vor dem Wandel, vor der Destabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Aufbruch in die Moderne von Anfang an begleitet hatten“ (von Graevenitz 2014, 36). Neben einer kon­ servativen Sehnsucht nach politischer Beständigkeit geht es dem Realismus vor allem auch darum, die Veränderung sozialer Hierarchien und Geschlechterkonstellationen zu reflektieren, paradigmatisch etwa in Szene gesetzt in der titelgebenden Hauptfi­ gur des Romans Effi Briest (1894/95), die als Ehebrecherin zum Opfer überkomme­ ner Moralvorstellungen und verunsicherter Rollenmuster wird. Ihrer ‚Krankheit zum Tode‘, die am Ende des Romans steht, geht ein Leben zwischen zwei Männern voraus, das geprägt ist von Schuld, Furcht vor Entdeckung und wiederholten AngstAttacken, die symptomatologisch die Gewalt anzeigen, die Effi durch die von ihrem Ehemann, Baron von Innstetten, verkörperte männlich dominierte Sexual- und Ehe­ moral angetan wird: Nein. Und das ist es, warum ich vor mir selbst erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz anderes – Angst, Todesangst und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an den Tag. Und dann außer der Angst… Scham. Ich schäme mich. […] Ja, Angst quält mich und dazu Scham über mein Lügenspiel (Fontane 2008, 271).

Fontane bringt insofern eine neue Dimension der Angst ins Spiel, als sein Text deut­ lich werden lässt, dass Angst wesentlich über Blickkonstellationen, Momente der Exponiertheit und die (manchmal auch bloß vorgestellte) Anwesenheit Anderer ver­ mittelt ist. Der kontrollierende, angstinduzierende Blick der Gesellschaft wird gerade in der zeitlichen und mentalitätsgeschichtlichen Nähe des Fin de siècle, als tradierte soziale Verhaltensmodelle ihre Selbstverständlichkeit verlieren und die Grenzen des Sag-, Zeig- und Machbaren im Zuge gesellschaftlicher Liberalisierungstendenzen zur Disposition stehen, zum Thema der Literatur. Dies hat nicht unwesentlich mit den sukzessiven Entdeckungen der Instanz des Über-Ichs in Psychologie und Psychoana­ lyse zu tun, wie die Erzählungen Arthur Schnitzlers – allen voran sein Leutnant Gustl (1900) – vorführen, die sich im neuartigen Narrationsmodus des Bewusstseinsstroms mit Fragen der Ehre bzw. des Ehrverlusts auseinandersetzen (vgl. Guntersdorfer 2013, 105–119). Die Gewalt der öffentlichen Meinung wird aber auch aus autonomen Gründen der literarischen Intertextualität zu einem Dauerbrenner der Jahrhundert­

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wende, wie etwa Stefan Zweigs Novelle Angst (1910) zeigt, die erneut die Gewissens­ angst einer ehebrechenden Frau aus bürgerlichem Hause zur Darstellung bringt (vgl. Lickhardt 2013) und dabei nicht ohne intertextuelle Bezüge zu Fontane, aber auch zu Gustave Flauberts Madame Bovary (1857) auskommt. Dass man sich die historische Genese der Literatur der Angst nicht als Abfolge radikal voneinander unterschiedener Epochen, sondern sehr viel eher als einen flie­ ßenden Transformationsprozess wiederkehrender Themen und Reflexionsfiguren unter der Maßgabe sich verändernder ästhetischer Modellierungen vorzustellen hat, wird deutlich, wenn man nach der Fortführung eines der zentralen Angstanlässe der schwarzen Romantik unter realistischen Vorzeichen fragt, nämlich nach dem Tod. Auch hier, in der Imagination des individuellen Schicksals an seinem Ende, hält eine die nachromantische Periode kennzeichnende Sachlichkeit Einzug. Das SterbenMüssen wird mit der Erosion christlicher Rettungsnarrative zu einem fundamenta­ len Skandalon der Kultur. Während romantische Autoren wie etwa Novalis ihr Heil in der Stilisierung des Todes zum romantisierenden Lebensprinzip suchten (vgl. Sepasgosarian 1991), blicken Texte wie Nikolaus Lenaus Ballade Der traurige Mönch (1836) oder Theodor Storms Spukgeschichtensammlung Am Kamin (1862) im Medium eines phantastisch gestalteten „Bewusstseinsrealismus“ (Freud 1989, 108) melancho­ lisch-nüchtern auf das von allen Jenseitshoffnungen entkleidete Lebensende. In der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts geht es, angeleitet von den Todesphilosophien Kierkegaards und Schopenhauers, nunmehr weniger darum, den Tod sinnhaft in einer romantischen Unendlichkeitsemphase aufzuheben, als ihn und die mit ihm ver­ bundene Angst vielmehr als unüberwindliche Herausforderung jeder Lebensführung und aller Sinnstiftung anzuerkennen und in der Krise des endlichen Bewusstseins zu lokalisieren. Parallel zu einem neuerlichen Ästhetisierungsschub in der DekadenzLiteratur, die an die Romantik anknüpfend den Tod vor allem als Ausweg aus der bürgerlichen Langeweile zu literarisieren trachtet, kündigt sich in Schnitzlers Novelle Sterben (1894) eine programmatische Existenzialisierung des Todes an, die nach 1900 in Texten wie Thomas Manns Tod in Venedig (1911) oder Herrmann Brochs Der Tod des Vergil (1945) literarisch fortgeführt werden wird. Schnitzler, der als Arzt wohl einen konkreteren Zugang zum Lebensende hatte, beobachtet mit „klinischer Präzision“ (Pfeiffer 1997, 150) das „Prüffeld des Todes“ (Allerdissen 1985, 161) und registriert dabei vor allem eines: die Angst seines sterbenden Protagonisten Felix, angesichts des Siechtums die Kontrolle über sich selbst zu verlieren und mit dem körperlichen Ende auch das Ende seiner individuellen Welt akzeptieren zu müssen. Der Tod wird so zu einer Evaluationsinstanz des Lebens – ein Gedanke, der spätestens seit Martin Heideggers Sein und Zeit (1927) zum Kernbestand aller Sterblichkeitsphilosophie gehört (vgl. Gehring 2010), der aber auch in der Literatur, etwa in Fritz Zorns Mars (1977), Christa Wolfs Kassandra (1983) oder Martin Walsers Angstblüte (2006), immer wieder aufgeworfen worden ist.

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2.3 Um 1900 – Angst und die ‚Tragödie der Kultur‘ Als Georg Simmel 1911 seinen Essay Der Begriff und die Tragödie der Kultur schrieb, bewegte er sich auf der Höhe der zeitgenössischen Kulturkritik. Im Zentrum dieser eigentlich schon in Schillers Briefe[n] über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793) angelegten und von Friedrich Nietzsche im Bild des „tollen Menschen“ (Nietz­ sche 1988, 481) verdichteten Klage über die ethischen Kosten der Moderne stand die Einsicht, dass der Mensch in seiner Eigenschaft, ein kulturschaffendes Wesen zu sein, einem nicht aufzuhaltenden Entfremdungsprozess ausgesetzt sei, der seiner inneren und äußeren Natur, seiner Freiheit und seiner Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung Gewalt antue (zum kulturkritischen Diskurszusammenhang vgl. Bollenbeck 2007). Simmel und andere Autoren, etwa Ludwig Klages oder Oswald Spengler, sahen die Gesellschaft trotz aller technischen Fortschritte von einem normativen Verfallspro­ zess betroffen, der ihre Mitglieder in Leid und Angst stürze. Eine ästhetische Übersetzung fand diese, in einer Semantik der Angst artiku­ lierte, technikkritische Zeitdiagnose zuvorderst in der expressionistischen Großstadt­ literatur. Gerahmt von der politischen Stagnation des wilhelminischen Kaiserreichs und untergründig provoziert von den großen epistemologischen Erschütterungen, die sich neben Nietzsche auch mit den Namen Marx, Freud und Bohr verbanden, entwerfen die Expressionisten die Stadt als einen von den neuen Medien Fotografie und Film organisierten Wahrnehmungs- und Verkehrsraum, der das Individuum mit seiner beschränkten Perzeptionsfähigkeit überfordert und damit in Verunsicherung versetzt (vgl. hierzu grundlegend Anz 2010). Vorbereitet von Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) ist es vor allem die expressionistische Lyrik, die die mit der kulturellen Entfremdung verbundene Angst in vielfältigen Vari­ ationen ausbuchstabiert. Während Rilke, der das vagierende kulturelle Unbehagen während seines ersten Paris-Aufenthalts literarisch aufgriff, vor allem an einer aus der großstädtischen Topografie abgeleiteten Senso-Motorik der unheilvollen Stim­ mung und der Angst interessiert war, fokussieren die expressionistischen Autoren das mit dem Ballungsraum der Stadt verbundene Folgeproblem einer moralischen und sozialen „Entbettung“ (Giddens 1996, 81). Dabei wird die Stadt zu Sujet und Chiffre einer körperlichen und weltanschaulichen Entwurzelungserfahrung, die das lyrische Ich in Gedichten wie Der Gott der Stadt (1910) von Georg Heym, Ernst Blass’ In einer fremden Stadt (1912) oder Alfred Lichtensteins Die Stadt (1913) als Angstge­ schehen erlebt. Die Selbstverständlichkeit subjektiver Autonomie zerbricht dabei an den Kristallisationskernen der modernen Technik – dem Verkehr und den Medien –, deren Darstellung zwischen der Kenntlichmachung von zufälliger Zusammenhang­ losigkeit und der Evokation einer dämonischen Eigenmacht changiert und das Ich in Verwirrung, Sprachlosigkeit und Panik stürzt (vgl. Anz 1982). Von den Dingen und Körpern weiß der Expressionismus in Form parataktischer Sprachmuster zu berichten, dass diese dem Subjekt vor allem im Modus der Aufsäs­ sigkeit begegnen. Damit einher geht ein Gefühl des Wirklichkeitsverlusts, der sich

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poetisch als Auflösung eines Wahrnehmungsganzen und Aneinanderreihung bruch­ stückhafter Einzelheiten darstellt. Der inhaltlichen Markierung eines umfassenden Ordnungsverlusts entspricht dabei auf formaler Ebene eine Destruktion der gram­ matischen Ordnung, so dass das expressionistische Sprachkunstwerk insgesamt als programmatischer Bruch mit allen von der Klassik angestellten literarischen Bemü­ hungen um Schönheit und Harmonie aufgefasst werden kann. Die großen Städte, allen voran Berlin, erscheinen in der expressionistischen Lite­ ratur somit als Zonen der Gefahr, in denen der Einzelne physisch und psychisch ange­ griffen zu werden droht. In diesem Sinne schreibt etwa Ernst Blass 1919, als hätte er Robert Wienes paradigmatischen Angstfilm Das Cabinet des Dr. Caligarie (1920) schon gesehen, über die Unwirklich- und Unwirtlichkeit der Stadt: Das Leben draußen ist unheimlich geworden, die anderen Dinge haben sich uns […] entfremdet, ja verfeindet, sie drohen uns zu überfallen, und was wir für unsere Wohnung und liebe Gewohn­ heiten halten, könnte jeden Augenblick die höhnische Miene annehmen. Nur unser Spiegelbild lebt in diesen Räumen, unser Selbst ist uns entwendet worden, aber es kann zu jeder Zeit als Doppelgänger auftreten und uns verfolgen und narren (Blass 1919, 63).

Neben den materiellen Räumen der Entfremdung, den Nachtbars, den zugigen Bahn­ höfen und den unmenschlich wirkenden Straßenzügen sind es vor allem Orte eines inneren Ausnahmezustands, die besichtigt und als motivische Amalgamierung der Themen Großstadt und Triebschicksal ausgestellt werden. Deutlich wird die Insta­ bilität der symbolischen Ordnung vor allem an der literarischen Konjunktur sexuell insuffizienter Männer, die mit der Körperkontrolle auch die Definitionshoheit über ihre Positionierung im gesellschaftlichen Feld zu verlieren drohen. Die frühen Texte Alfred Döblins, sein Romanerstling Jagende Rosse (1900) etwa oder auch die Geschich­ tensammlung Die Ermordung einer Butterblume (1913), gehen entschieden mit der von den wilhelminischen Vätern verordneten Triebökonomie ins Gericht und führen dabei vor, dass aufgrund der Stauung von Libido-Energien unweigerlich der AngstLust-Pegel steigt. Die „gottverfluchte Sehnsucht“ (Döblin 1987, 67), von der Döblins Protagonist in den Jagenden Rossen spricht, der an Gott gerichtete Angstschrei des Frauenhassers in den Memoiren eines Blasierten (1913) oder auch die Paranoia, die Herrn Fischer in Die Ermordung einer Butterblume in Reaktion auf die Unterdrückung seines homosexuellen Begehrens ergreift, stellen Döblins Erzählungen in eine Reihe mit den literarischen Portraits der aus Trieb- und Körperdisziplinierung erwachsen­ den Psychopathologien bei Georg Heym, Alfred Kubin oder Franz Jung. Heyms Der Irre (1913) etwa schildert eine Dezentrierung des männlichen, sexuell und intellek­ tuell gehemmten Protagonisten, der, von seinem Verfolgungswahn bedrängt, als unheimlicher Doppelgänger des affektkontrollierten bürgerlichen Subjekts in einen Amoklauf der Gewalt und schlussendlich in den Selbstmord getrieben wird. Das Verhältnis von Moderne, Autodestruktion und Angst ist nicht zuletzt von Franz Kafka auf meisterliche Weise literarisch gestaltet worden. Auffällig ist dabei, dass Angst als Affekt oder Emotion anders als in seinen autobiografischen Schriften

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auf der Oberflächenebene seiner fiktionalen Texte kaum präsent ist. Kafka schafft es gleichwohl, eine Atmosphäre der Verunsicherung und der Opazität als grundlegende Stimmungslage seiner Textwelten zu kreieren, so dass Hermann Brochs Einschät­ zung, das Kafkas Texte „von aller Angst und aller Untergründigkeit beschwert“ (Broch 1975, 113) seien, nur zugestimmt werden kann. Kafkas Poetologie der Angst hinterlässt bei den Leser_innen einen umso vehementeren Eindruck, als seine ästhetische Stra­ tegie darauf abzielt, entlastende Rationalisierungen  – eine Adressierung der Angst als Ereignis in der Gefühlswelt einzelner Figuren, die narrative Depotenzierung von diffuser Angst zu einem konkreten Furchtobjekt – zu verunmöglichen. Gerade weil er vagabundierende Bedrohungswahrnehmungen mit punktuellen Verdichtungen des Ekelhaften und des Grotesken verbindet und in labyrinthische Narrationen einbaut, die kausallogische Handlungsmacht negieren und Verantwortlichkeit in einen ano­ nymen Machtzusammenhang überführen, bewegt sich Kafka bewusstseinsgeschicht­ lich, medientechnisch und biopolitisch – quasi in Echtzeit – auf der Höhe des retro­ spektiv entwickelten Moderne-Diskurses (vgl. Jansen 2012; Vogl 2010; Alt 2009). Das Moment des Kafkaesken, das seine drei Romane – allen voran Das Schloss (1922; vgl. Kleinwort/Vogl 2013) – ebenso organisiert wie seine Erzählungen – man denke etwa an die alptraumartige Sammlung Ein Landarzt (1918) –, stellt sich dergestalt als Meta­ pher für die Einsicht dar, dass gesellschaftlich konventionalisierte Erkenntniswei­ sen an der Aufschlüsselung einer immer komplexeren und zugleich hermetischeren Erscheinungsweise der Welt wie des Ichs scheitern müssen. Kafkas Texte sind inso­ fern unheimlich, als sich in ihnen die Wahrnehmung der epistemologisch-metaphysi­ scher Bodenlosigkeit der institutionalisierten Welt in eine Ästhetik des leeren Grunds übersetzt, die Walter Benjamin mit dem Hinweise auf die „wolkige Stelle“ (Benjamin 1980, 427) in den Parabeln Kafkas zu übersetzen versucht hat. Kafkas Texte führen vor, dass es zwischen Zeichen und Bedeutung einen „unüberbrückbare[n] Hiatus“ gibt, „den keine metaphysische Evidenz mehr“ (Alt 2008, 373) schließen kann. Medium einer solchen Dekonstruktion aller Letztbegründungsanstrengungen sind dementsprechend weniger sprachliche Botschaften, die etwa vom Erzähler oder dem Figurenpersonal gesendet oder empfangen würden, als vielmehr eine willkürliche Körperlichkeit und Gestik der Angst (vgl. Käuser 2013; am eigentlichen Punkt der Angst bei Kafka vorbei geht hingegen Duhamel 2012), die Semantik durch Präsenz ersetzt und damit – man denke etwa an Kafkas Erzählung Die Sorge des Hausvaters (1920) – auf die Kontingenz aller Sinnbehauptungen aufmerksam macht.

2.4 Die 1920er Jahre – Deutungsnotstände und Sinnabbrüche Die Kultur der Weimarer Republik steht vor der großen Aufgabe, dem millionenfa­ chen Sterben auf den Schlachtfeldern Europas und dem Zusammenbruch eines poli­ tischen und ökonomischen Systems einen Sinn abzutrotzen oder doch zumindest die Erfahrungen  – und Erfahrungsentwertungen  – der zurückliegenden Jahre zur

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Darstellung zu bringen. Wie Helmut Lethen herausgearbeitet hat, ist Angst als Fun­ damentalemotion der 1920er Jahr dabei zunächst auf der Diskursoberfläche wenig präsent. Ganz im Gegenteil reüssieren in Literatur und Philosophie „Verhaltensleh­ ren der Kälte“ (vgl. Lethen 1994), die Affektkontrolle propagieren und das Subjekt davor warnen, seine Kreatürlichkeit und seinen emotionalen Haushalt offen zu artikulieren. Gegen Angst und Scham setzt man auf Coolness, ein affektives Setting also, das den psychologischen Anforderungen der industrialisierten Kriegsführung ebenso wie den Überreizungen des hektischen Großstadtlebens in adäquater Weise zu entsprechen scheint. Unterbrochen wird die neue Sachlichkeit des Kultur erst in den letzten Jahren vor 1930, als es, angeführt von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, zu einem Ende der von Walter Benjamin beschriebenen Stummheit der Weltkriegsteilnehmer und einer Wiederkehr ihrer Erinnerung im Medium der Litera­ tur kommt. Diese Konjunktur des erzählten Krieges ist nunmehr auch eine Konjunk­ tur der Angst. In Romanen und Erinnerungsbüchern wie Edlef Köppens Heeresbericht (1931), Arnolt Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa (1930) oder Werner Beumelburgs Die Gruppe Bosemüller (1930) streiten Autoren von links und rechts um die erinnerungspolitische Deutungshoheit über die Jahre 1914–1918 (vgl. Koch 2014a). Angst ist dabei auf zwei verschiedenen Ebenen präsent. Zum einen als panikartige Todesangst während der Schlacht, als Erschütterung angesichts des Todes der Kame­ raden und der offenkundigen Sinnlosigkeit des Abschlachtens. Zum anderen in ihrer programmatischen Abwesenheit, die sie doch als Leerstelle präsent hält. Paradigma­ tisch für eine solche Form von heroischer Panzerung, die mit aller Macht das Ausbre­ chen der Angst verhindern will, sind die Erzähler in den Kriegsbüchern Ernst Jüngers, die den Krieg als Lebenssteigerung „in Stahlgewittern“ zu genießen vorgeben, dann aber, wenn das soldatische Subjekt im Sperrfeuer der Schrapnelle und Affekte den Boden unter den Füßen zu verlieren droht, narrative Zuflucht bei der eingeführten Bildlichkeit der schwarzen Romantik suchen (vgl. Koch 2005, 229 ff.). Um eine Über­ flutung des Erzählers mit unheroischer Angst zu verhindern, ruft Jünger immer dort, wo dieser in seinen Grundfesten erschüttert wird, Bilder und Narrative der Romantik auf, die ästhetische Distanz verschaffen und die Autorfiktion des kaltblütigen Helden stabil halten. Den existenziellen Krisen, denen auch Jünger als Offizier an der West­ front ausgesetzt war, kommt man erst auf die Spur, wenn man seine Literarisierung des Krieges nach Maßgaben einer „Ästhetik des Schreckens“ (vgl. Bohrer 1978) nicht von vorneherein als protofaschistischen Bellizismus kategorialisiert, sondern nach der Funktion der Verwendung tradierter Metaphern und schwarzromantischer Topoi fragt. Unweigerlich kommt man dann bei einer genauen Lektüre zu der Einsicht, dass Jüngers Erzähler immer dann auf intertextuelle Modellierungen zurückgreifen, wenn sie Gefahr laufen, sich im Grauen der Materialschlachten zu verlieren. Der Einsatz von Erzählmustern, die Aspekte einer eigeführten Heldenepik mit Momenten postroman­ tischer Décadence verbinden, wird in Texten wie Das Wäldchen 125 (1925) oder Feuer und Blut (1925) zu einer Selbstversicherungsstrategie, die in der Konstruktion eines in der kulturellen Tradition verankerten soldatischen Ichs eine punktuelle Emanzipa­

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tion aus der Herrschaft der Kriegstechnik und der von ihr entfesselten, industriellen Gewalt ermöglicht. Kennzeichnend für die kulturellen Bearbeitungsprozesse des Krieges ist, dass dieser oftmals auch in solchen literarischen Texten anwesend ist, die zunächst einmal von ganz anderen Dingen zu erzählen scheinen. Die deutschsprachigen Hauptwerke der 1920 Jahre, Thomas Manns Zauberberg (1924), Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929), Hermann Brochs Schlafwandler-Trilogie (1930/1932) und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930/2009), sind alle auf je eigene Weise durch das Ereignis des Ersten Weltkriegs affiziert. In zweien davon, bei Döblin und Broch, geht es dabei zugleich darum, Angst als die zentrale emotionale Signatur der Moderne herauszu­ arbeiten, die den Krieg in einen Zusammenhang mit einem umfassenden ‚Zerfall der Werte‘ stellt und ihn als grell ausgeleuchtetes Symptom einer umfassenden Krise der Moderne zu verstehen gibt. Franz Bieberkopf, der Protagonist in Berlin Alexanderplatz, ist in seiner Subjektivität durch und durch von Angst bestimmt: Die Großstadt Berlin erlebt er, nachdem er aus einer – nicht zufällig vier Jahre andauernden – Haft entlassen wird, als einen gefährlichen Lebensraum, der ihn in seinem gewalttäti­ gen Durcheinander aus Menschenmassen, Technik und Verkehr sukzessive in den Wahnsinn treibt. Der dritte Roman von Brochs Schlafwandlern mit der Überschrift „Hugenau oder die Sachlichkeit“ ist eine breit angelegte Analyse der psychischen und normativen Verwüstungen der Moderne, die die Menschen in eine von Angst und Panik bestimmte Masse verwandelt haben, die für die Verführungen eines dämoni­ schen Anführers anfällig ist (vgl. Koch 2014b). Broch, der in den späten 1930er Jahren seine Arbeit an der Massenwahntheorie (1960) beginnt, entwirft schon in den Schlafwandlern ein emotionssoziologisches Erklärungsmodell für die Attraktivität des auf­ kommenden Nationalsozialismus, der – so Brochs Quintessenz – erfolgreich ist, weil er die vagabundierende Angst kanalisiert und auf ein konkretes Furchtobjekt – die Juden – lenkt (vgl. Kittsteiner 2006). Genau für jene Ambivalenz der Angst, in der eine (vermeintliche) Gefahr auf diffuse Weise gefühlt, aber nicht konkretisiert werden kann, interessiert sich auch Franz Kafka in seinem Text Der Bau (1928), der noch einmal aus anderer Warte vor Augen führt, wie eng die Weltkriegserfahrung und die Genese und Konfiguration des modernen Bewusstseins verbunden sind. Der Text, der einen wichtigen Beitrag zu einer politischen Zoologie der Gefahr liefert, erzählt von einem nicht genauer beschriebenen Tier, das tagein tagaus damit beschäftigt ist, seinen Bau zu perfek­ tionieren und präventiv gegen mögliche Eindringlinge abzusichern. Der Alltag des Tiers wird empfindlich gestört, als eines Tages ein nicht genauer zu lokalisierendes Geräusch zu vernehmen ist. Gerade die fehlende Spezifik des Geräuschs wird zu einer Quelle der Angst als einem rekursiven Ansteckungsgeschehen, öffnet es doch in seiner Unbestimmbarkeit eine Tür zur potenziell zügellosen Imagination drohender Gefahren. Neben einem deutlichen zeitlichen Index – der Text adressiert die Wahr­ nehmungsstruktur des Grabenkriegs, in dem das Ohr ein zentrales Organ der Gefah­ renaufklärung war (vgl. Kittler 1990) – weist Kafkas Bau damit zugleich einen refle­

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xiven Zugriff auf die Herausforderung einer modernen Epistemologie der Feindschaft unter Bedingungen, in denen aufgrund Taktik und Tarnung die Ortung und Ordnung des Feindes immer schwerer fällt. Die Nicht-Ortbarkeit der Geräuschquelle, die Unfä­ higkeit der Aufklärung der Urheberschaft, motiviert eine Protoparanoia des Ver­ dachts, die den Krieg im 20. und 21. Jahrhundert durchweg begleitet. Präzise nimmt Kafka damit eine Einsicht vorweg, die angesichts der Fetischisierung von Sicherheit in den letzten Jahren und verstärkt nach 9/11 von der Soziologie, Literatur- und Medi­ enwissenschaft diskutiert wurde: Dass Angst ein sich selbst verstärkendes Phänomen ist und Prävention als Strategie der Eindämmung von Angst zur Entgrenzung tendiert (vgl. Balke 2003; Horn 2014, 297 ff.).

2.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg: Holocaust und Zerstörung Während in der 12jährigen Terrorherrschaft der Nationalsozialisten die Publikati­ onsmöglichkeiten für eine Literatur der Angst kaum vorhanden waren, wird Angst nach 1945, bezogen auf die Repräsentierbarkeit von Holocaust und Verfolgung, aber auch im Kontext der Erinnerung an die Gewalt des Krieges erneut zu einer wesent­ lichen Ausdrucks- und Reflexionsform einer gegenwartskritischen Literatur. War es vor 1945 vor allem Ernst Jüngers Roman Auf der Marmorklippe (1939), der es schaffte, die Gewaltherrschaft der Nazis an der Zensur vorbei in das allegorische Angstbild einer Schinderhütte im Wald zu packen, so mehren sich nach 1945 die literarischen Stimmen, die gegen den dominanten Chor der ‚Stunde Null‘ und die stumme Mehr­ heit des Neuanfangs eine kritische Bilanz des ‚Dritten Reiches‘ ziehen und dabei immer wieder auf Angst als Grundgefühl der Jahre 1933–1945 zu sprechen kommen. Kursorisch lassen sich innerhalb dieser literarischen ‚Inventur‘ drei Angstfelder unterscheiden: Zum einen eine deutsche Selbstbespiegelungsliteratur, die nach den Verwüstungen fragt, die der Krieg an Front und Heimatfront hinterlassen hat. Zum zweiten die Literatur einer erneuten Zwischenkriegszeit, die unter dem Eindruck der Atombomben-Abwürfe von Hiroshima und Nagasaki die Zukunft als einen kommen­ den Krieg imaginiert. Und zum dritten eine ethische Literatur des Holocausts und der Verfolgung, die die Opfer zu Wort kommen und die Untaten der Deutschen in ihrer ganzen Brutalität ins Bild treten lässt. In der ersten Zeit dominiert die literarische Rekonstruktion des Krieges und die am Realismus der US-amerikanischen short story orientierte, nüchterne Beschreibung der Orientierungslosigkeit in der von Niederlage, Zusammenbruch und ideologischem Absturz traumatisierten Nachkriegsgesellschaft. In Texten wie Wolfgang Borchardts Draußen vor der Tür (1947), in Alfred Döblins Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende (1956) oder auch den frühen Erzählungen und Romanen Heinrich Bölls – Der Engel schwieg (1945/1992) etwa  – wird nicht ohne ein oftmals das Programm der nüchternen Bestandsaufnahme durchkreuzendes Pathos ein geopolitisch zerrisse­ nes Deutschland dargestellt, das materiell zerstört und moralisch diskreditiert noch

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ganz unter dem Schock des Zusammenbruchs steht. Auch wenn die deutschsprachige Nachkriegsliteratur immer wieder Gefahr läuft, in Kitsch abzugleiten – etwa dort, wo sie davon erzählt, dass das soldatische Kinderherz „von Angst erdrosselt worden“ (Böll 1992, 37) ist –, dominiert insgesamt ein antiideologischer Gestus. In bewusster Abset­ zung von gesamtgesellschaftlichen Ideologien und Programmen geht es in Theodor Plieviers Stalingrad (1945) oder Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit (1952) um den einzelnen Soldaten in seiner zwischen Angst und Freiheit oszillierenden Bedingtheit, die Fragen nach der Schuld mit Hinweisen auf den Zwangs- und Gewaltcharakter des NS-Systems abzumildern versucht. Indem dabei eine Unterscheidung zwischen dem Einzelnen und der Gewalt des totalitären Staats eingeführt wird, arbeiten diese Texte mit an der Etablierung eines generationenspezifischen Entschuldungsnarrativs, das die Privatisierung der Kriegserfahrung gegen Fragen nach der politischen Dimension des eigenen soldatischen Tuns in Stellung bringt und so auch die Mehrheit der Deut­ schen zu Opfern der NS-Gewaltherrschaft erklärt (vgl. Ächtler 2013). Parallel zur sogenannten ‚Trümmerliteratur‘ entstehen zudem zahlreiche Texte, die den Krieg selbst zum Thema machen und dabei herausarbeiten, dass auch hier angesichts von Barbarei, Gewalt und Tod Angst die dominierende Form der emotiven Wirklichkeitswahrnehmung war. In einer die gängigen Varianten des Opfernarrativs konterkarierenden Weise gelingt es Alfred Andersch, die verschiedenen Themenkom­ plexe und Ressourcen der Nachkriegsangst in seiner Gespenstergeschichte Die Letzten vom ‚schwarzen Mann‘ (1951) zu einer eindringlichen Atmosphäre des Unheimlichen zu verdichten. Die mit Anleihen an E. T. A. Hoffmann arbeitende Geschichte erzählt von zwei untoten Soldaten, einem Deutschen und einem Amerikaner, die nach Been­ digung der Kampfhandlungen auf der Suche nach Erlösung durch die Wälder der Eifel irren, überall aber nur auf Fremdenangst und Ablehnung stoßen. Fernab solch allegorischer Zugriffe, die erst in einem übertragenen Sinne die Kriegsgewalt als ein Verdrängungsgeschehen markieren, das in der Nachkriegsreali­ tät in Form unheimlicher Doppelgänger-Figurationen wiederkehrt und den Konsens des Beschweigens stört, geht der anfangs von der Literaturkritik gefeierte Autor Gert Ledig in seinem Ostfront-Roman Stalinorgel (1955) das Phänomen der Kriegsgewalt in formaler Radikalität und Direktheit auf eine fast schon phänomenologische Weise an. Dabei wird Angst aus der Froschperspektive des Fronteinsatzes zu einer von allen Soldaten geteilten Erfahrung, die politische und militärische Unterschiede aufhebt: „Eine Lokomotive aus Menschenleibern, angetrieben von Angst und Panik“, haben sie alle „dieselbe Angst“, sie haben die gleichen Wünsche: „ein bißchen Nahrung, etwas Wärme, nicht mehr leiden zu müssen“. „Nur andere Uniformen und andere Gesichtszüge. Sonst waren sie genau so verdreckt, genau so überanstrengt, genau so gehorsam“ (Ledig 2000, 44, 20, 45, 110). Bei Ledig, der neben Nossack einer der wenigen Autoren war, der auch das Thema des Bombenkriegs gegen deutsche Städte aufgriff, erfährt man in einer an die Literatur des Ersten Weltkriegs anknüpfenden Intensität von den kinetischen und affektiven Energien, von denen das soldatische Bewusstsein überflutet wird,

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und von der Angst, dass der nächste Angriff der letzte gewesen sein könnte. An das Schreibverfahren einer viszeralen Eindringlichkeit anknüpfend, schafft es sein Luft­ kriegsroman Vergeltung (1956), die physischen und psychischen Verheerungen des Bombenterrors in einer Anschaulichkeit zu evozieren, die den Roman zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Bücher über den Zweiten Weltkrieg macht. Der Clou des Romans besteht darin, die Frage nach Moral und Vergeltung nicht als abstrakte philosophische Debatte zu behandeln, sondern als einen rekursiven psychologi­ schen Verrechnungsmodus, der in seiner alltäglichen Evidenz der Gewalterfahrung einfache Dichotomien von gut und böse, legitimer und illegitimer Gewalt unterläuft. Für die deutsche Nachkriegsgesellschaft war die Mischung aus nicht einzufangen­ der Angst, grotesker Gewalt und Fragment-Ästhetik gleichwohl zu viel: Zunächst als wichtige Stimme der jungen Literatur gerühmt, wurde Ledig aufgrund der obszönen Gewalt seiner Schilderung des Bombardements einer deutschen Stadt nunmehr scharf angegriffen. Nachdem sein dritter Roman, Faustrecht (1957), bei Publikum und Kritik auf Missachtung stieß, verschwand er für viele Jahre aus dem Kanon der Kriegsliteratur, bevor er im Kontext der Debatte der 1990er Jahre um „Luftkrieg und Literatur“ (Sebald 1999) wiederentdeckt und rehabilitiert wurde. Diese Debatte, die W. G. Sebald mit einer Poetik-Vorlesung angestoßen hatte, macht die Länge der Halb­ wertszeit deutlich, die das Trauma des Bombenkriegs kennzeichnet. In einem der jüngsten Beiträge zur Luftkriegsliteratur, dem Roman Kaltenburg, hat sich 2008 der Dresdner Schriftsteller Marcel Beyer des Themas angenommen, allerdings verbunden mit einer Verschiebung in Richtung anthropologischer Urformen der Angst, die die Stadtgeschichte Dresdens mit Reflexionen über das Zusammenspiel von ontogeneti­ schen und geschichtlichen Angstanlässen und der grundsätzlichen Angstdisposition von Menschen und Tieren verbindet. Eine weitere Justierung der Perspektive, die die deutsche Literatur nach 1945 im Hinblick auf eine europa- oder gar weltpolitische Dimension hin öffnet und dabei das Verhältnis von Gewalt, Technik und Angst weiter im Blick behält, reflektiert die menschliche Fähigkeit zur Selbstauslöschung, die die Atombombenabwürfe über Japan als Denkmöglichkeit auf die Tagesordnung gesetzt haben. Die Angst vor einem atomaren Overkill bleibt, von der „apokalyptisch aufgeladenen Nullpunktsituation von 1945“ (Scherpe 1989, 289) ausgehend, nunmehr eines der zentralen Schreckens­ szenarien der westdeutschen Literatur. In der Lyrik – bei Günter Eich oder Ingeborg Bachmann etwa, die in ihrem Gedicht Alle Tage (1952) feststellt, „der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt“ (Bachmann 1993, 46)  – wird der Atomtod im Medium einer abstrakteren Metaphorologie der Angst ebenso zum Thema wie im Roman (vgl. Eggert 1991). Von Arno Schmidts Roman-Trilogie Nobodaddy’s Kinder (1951–1953) über Friedrich Dürrenmatts Der Winterkrieg in Tibet (1981) und Gudrun Pausewangs Die Kinder von Schewenborn oder… sieht so unsere Zukunft aus? (1983) bis hin zu Günter Grass’ Postapokalypse-Roman Die Rättin (1986) versucht die Litera­ tur auf unterschiedlichen ästhetischen Komplexitätsniveaus die von Günther Anders philosophisch beklagte „Apokalypse-Blindheit“ zu beenden, indem sie im Sinne

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einer „Abschreckungskunst“ (Horstmann 2012) die Anschaulichkeitspotenziale der poetischen Imagination gegen das Unvorstellbare eines Endes der Menschheit in Stel­ lung bringt. Alleine im Jahr 1983, in dem die atomare Aufrüstung Westdeutschlands einen entscheidenden Schub erfährt, erscheinen eine ganze Reihe von Texten, die vor einem drohenden Untergang der Menschheit warnen, u. a. Der Bunker von Gerhard Zwerenz, ENDE – Tagebuch aus dem Dritten Weltkrieg von Anton Andreas Guhas und Das Komitee von Alex Gfeller. Angst spielt dabei nicht alleine als Reaktion auf die dro­ hende Gefahr eines Atomkriegs eine Rolle, sondern darüber hinaus auch in einem das anthropologische Selbstverständnis angreifenden Form, insofern die KernwaffenArsenale zum Symbol einer technologischen Bedingtheit der menschlichen Existenz werden, die sich dem Einfluss des Einzelnen entzieht und einer eigenen, militärischtechnologischen Logik zu folgen scheint. Während sich die deutsche Literatur mit dem zurückliegenden und dem drohen­ den nächsten Krieg intensiv auseinandersetzt, bleiben die Vernichtung der Juden und die anderen Gräueltaten der Nazis zunächst im toten Winkel der deutschen Öffentlich­ keit. Erste ästhetische Bearbeitungen des NS-Terrors wie Albrecht Haushofers Moabiter Sonette (1945), Nelly Sachs’ Lyrikband In den Wohnungen des Todes (1947) oder Paul Celans später zum paradigmatischen Holocaustgedicht erklärtes Poem Todesfuge (1948) finden zunächst genauso wenig Beachtung wie autobiografische Erin­ nerungstexte, wie sie u. a. von Luise Rinser schon früh nach dem Ende des ‚Dritten Reiches‘ veröffentlicht wurden. Gemeinsam haben diese literarischen Emanationen der Opferperspektive, dass sie die Herrschaft der Nationalsozialisten und das von ihnen ins Werk gesetzte Verfolgungsregime als Verlust eines primären Wirklichkeits­ vertrauens und als eine fortgesetzte Dominanz eines ubiquitären Bedrohungsgefühls beschreiben. Hervorgehoben wird diese Entgrenzung der Angst in prägnanter Weise in Ilse Aichingers Die größere Hoffnung (1948). Aichinger, die sich in ihren Essays strikt gegen eine Programmatik des Nullpunkts gewendet und der Kahlschlagliteratur eine Verdrängung des geschichtlichen Leids vorgeworfen hatte, berichtet in diesem autobiografischen Roman aus der Perspektive der 15jährigen Ellen vom Schicksal ‚nichtarischer‘ Kinder und der Angst, die sie als Überlebende über das Ende des NS hinaus bis in die Gegenwart hinein begleitet. Isolation, Demütigung und Angst vor der Abholung durch die Geheimpolizei sind die Grundbedingungen eines Lebens, das keinen Entwicklungshorizont besitzt und in dem Angstlosigkeit zum Kernelement einer Idee der Erlösung wird – wenn diese auch, wie die Nebenfigur Kurt bei einer Geburtstagsfeier mit Blick auf ein offenes Fenster vorschlägt, mit dem Tod erkauft wird: „Wenn wir jetzt springen würden, einer nach dem andern! Einen Augenblick lang und wir hätten keine Angst mehr. Keine Angst. Stellt euch das vor!“ (Aichinger 2012, 111; vgl. Ivanovic 2012). Eine breitere literarische Debatte der Schrecken der Judenverfolgung setzt in Deutschland erst mit Peter Weiss’ Theaterstück Die Ermittlung (1965) ein. Weiss, der die Verhandlungen der Frankfurter Auschwitzprozesse in einer Mischung aus dar­ stellendem Spiel, szenischer Lesung und Oratorium in einen theatralen Raum über­

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führte, gab den Anstoß zu einer ausgreifenden Erinnerung an die Shoah, die sich vor allem in Form autobiografischer Zeugenschaft der Totalisierung der Angst stellt, gleichzeitig aber immer wieder an die Grenzen der Repräsentierbarkeit eines Grauens stößt, das sich gerade durch Sprachlosigkeit und die Entwertung der gesamten sym­ bolischen Ordnung auszeichnet (vgl. Bayer/Freiburg 2009). Dass die Textgattung der Holocaust-Literatur eine historische Dimension der Ausgrenzungserfahrung aufweist, die hinter das Jahr 1933 zurück verweist, belegt u. a. Heinrich Heines Roman-Fragment Der Rabbi von Bacharach, das, schon 1840 Zeiterfahrungen mit historischem Material überblendend, aus der Perspektive eines Rabbis und seiner Frau davon erzählt, wie sehr die jüdische Lebenspraxis im deut­ schen Sprachraum bereits im Mittelalter aufgrund von Ritualmordverleumdungen und den dadurch ausgelösten, wiederkehrenden Pogromen von „Todesängsten“ und „grausenhafte[n] Angstgefühl[en] bestimmt war“ (Heine 1968, 621). Der Mechanis­ mus der Kanalisierung von Angst und Unzufriedenheit in die Identifizierung eines Objekts der Andersartigkeit, das dann ausgegrenzt und angefeindet werden konnte, ist also keine genuine Erfindung des NS, sondern war auch im 19. Jahrhundert schon ein gängiger Modus der Affektpolitik. Die Texte, die während und nach der Nazi-Dik­ tatur entstanden sind, radikalisieren die von Heine fokussierte Politik der Angst zu einem omnipräsenten Bedrohungsgefühl, das sich aus der konkreten Gefahr für Leib und Leben speist, gleichzeitig aber auch eine fundamentale Entwurzelung der Juden innerhalb der deutschen Gesellschaft anzeigt. Für die Deutschen jüdischen Glaubens brechen nach 1933 alle kulturellen Verankerungen innerhalb der deutschen Tradition weg. Genau diesen Verlust einer symbolischen Heimat, die mit einem kollektiv geteil­ ten Erfahrungsraum auch einen gemeinsamen Erwartungshorizont kollabieren lässt, hatte der aus dem Exil zurückgekehrte Germanist Richard Alewyn im Blick, als er 1949 angesichts eines wieder aufblühenden Goethe-Kults feststellte: „Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald“ (Alewyn 1984, 335). Artikuliert sich in Alewyns Sentenz die retrospektive Abgeklärtheit eines Über­ lebenden, verzeichnen andere Texte quasi in Echtzeit den Prozess des Auseinander­ fallens einer gemeinsam geteilten Welt. Angesichts der NS-Gewalt notiert z. B. Victor Klemperer in seinem Tagebuch immer wieder in einer Semantik des Abgrunds die eigene Todesangst und die Gefahr, angesichts der alltäglichen Erniedrigungen und Ausgrenzungen in den „Bruchstücke[n] des Wahnsinns zu versinken“ (Klemperer 1999, 37). Jurek Beckers Jakob der Lügner (1969) beschreibt das von Angst und Not beherrschte Leben im Ghetto, und Ruth Klüger berichtet in ihren Erinnerungen von ihrer Angst, die sie in ihrer Zeit im KZ permanent begleitete: „Die Baracke im Ausch­ witzer Frauenlager, wo ich als Zwölfjährige die letzten paar Nächte vor dem Abtrans­ port nach Groß-Rosen mit vier Frauen auf der untersten Pritsche verbrachte, voller Angst vor dem Tod, bis der Schlaf die Angst ablöste, die dann am Morgen wiederkam. Dann das Aufatmen, als es doch nur zur Zwangsarbeit, nicht zur Vergasung ging“ (Klüger 2010, 233 f.).

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Noch einmal in einer anderen Perspektive erscheint das Verhältnis von NS-Terror, Angst und Überlegen bei Jean Améry und Imre Kértesz. Beide berichten davon, dass die Angst so groß werden kann, dass sie unweigerlich zum Absterben aller Emotionen führt. In Amérys Essays Die Tortur (1965) und Weiter leben – aber wie? (1982) zeigt sich, dass das Erlebnis der Folter, dem der Autor in SS-Gefangenschaft ausgesetzt war, ihr eigentliches Ende überdauert und alle Zukunft zu einem Nachspiel dieser immensen Gewalterfahrung macht, aus dem letztlich nur die Selbsttötung befreit (vgl. Diner 2012). In eine ähnliche gedankliche Richtung zielt auch Kertesz’ Roman eines Schicksallosen (1975), der einen Protagonisten präsentiert, dessen totale see­ lische Zerstörung in der Gefangenschaft gerade dadurch deutlich wird, dass er von seinen schrecklichen Erlebnissen in einem merkwürdig angstfreien, immunen Duktus erzählt, der deutlich werden lässt, dass er eigentlich nur als emotional Untoter das Jahr 1945 überlebt hat (vgl. Koppenfels 2007, 334 f.).

2.6 1970er und 1980er Jahre: Konjunkturen der Warn-Literatur und Gender-Codierung des Gefahrensinns Die 1970er und 1980er Jahre sind eine Dekade der politischen und ökonomischen Krise, in der sich eine zunehmende Sensibilisierung für die Endlichkeit natürlicher Ressourcen und die Grenzen des Wachstums in Verbindung mit einem wachsenden Misstrauen gegenüber der Steuerungsfähigkeit und Zuverlässigkeit der Technik lite­ rarisch in einer „Virulenz und Konjunktur der Katastrophe“ (Lilienthal 1991, 194) Bahn bricht. Ein zentrales Thema ist dabei der drohende Dritte Weltkrieg, der in einem postapokalyptischen Bilderensemble aus Staub, Dreck und Ruinen als eine wahrscheinliche Zukunft vorgestellt wird. Neben der Warnung vor den schrecklichen Konsequenzen einer nicht beherrschbaren Kriegslogik gerät zudem auch die zivile Großtechnik in den Fokus der Katastrophenimagination. Vorbereitet von den Unfäl­ len von Harrisburg (1979) und Bhopal (1984) ist es vor allem die Reaktorexplosion von Tschernobyl, die 1986 zum Zeichen für die „Alltags- und Arbeitskatastrophe unserer Industriezivilisation“ (ebd., 203) wird. Die Literatur reagiert auf das sich stei­ gernde Gefahrenbewusstsein, das einen massiven Zweifel an den Risikokalkülen der Ingenieure und Politiker impliziert, mit der Entwicklung des neuen Subgenres der „kupierten Apokalypse“, d. h. einer Vorstellung des Weltendes, das von seiner heils­ geschichtlichen Aufhebung abgekoppelt wird (vgl. Vondung 1987). Dystopische Texte wie Matthias Horx’ Es geht voran (1982), Ulla Berkéwicz’ Michel, sag ich (1984) und Herbert W. Frankes Endzeit (1985) vermischen schon bekannte Angst-Szenarien des Atomkriegs mit der Warnung von neuen ökologischen Risiken und setzen – paradigmatisch zu beobachten in Christa Wolfs Post-Tschernobyl-Erzäh­ lung Störfall. Nachrichten eines Tages (1987)  – gegen die männlich kodierte Gewalt einer „perfektionierte[n] Naturbeherrschung“ (Beck 1986, 300) eine weiblich kodierte Angst, die sich angesichts der fatalen Konsequenzen der totalen Technifizierung aus­

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breitet. Insgesamt ist für die Literatur der 1970er und vor allem der 1980er Jahre die Tendenz kennzeichnend, Zukunft immer weniger als offenen Möglichkeitsraum zu denken und stattdessen ein ‚noch nicht, aber bald‘ des Endes der Menschheit zu ima­ ginieren. Diese „Risikogesellschaft ist eine katastrophale Gesellschaft. In ihr droht der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden“ (Beck 1986, 31). Dass sich in der Bebilderung einer möglichen Endzeit Angst mit Lust vermischt, dass vielleicht sogar die Warn-Literatur nicht alleine als Emanation eines kritischen Gegendiskurses, sondern auch als eine parasitäre Spektakel-Literatur aufzufassen wäre, hatte schon früh Hans Magnus Enzensberger erkannt, der in seinem Text Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang (1978) die deutsche Untergangsfixierung kriti­ siert und eine neue Form von Realpoesie als Alternative zum Alarmismus des öffent­ lichen Diskurses ins Spiel gebracht hatte. „Ich wünsche Dir, wie mir selber und uns allen“, so Enzensberger, „ein bisschen mehr Klarheit über die eigene Konfusion, ein bisschen weniger Angst vor der eigenen Angst, ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, Respekt und Bescheidenheit vor dem Unbekannten. Dann werden wir weiter sehen“ (Enzensberger 1978, 8). In der Literatur der 1980er Jahre entwickelt sich eine stabile Wahrnehmungsscha­ blone, die die gewaltsame Ausbeutung der Natur mit der ideologischen Selbstkons­ truktion von dominanter Männlichkeit verbindet. Schon in Christa Wolfs Erzählung über den Reaktorunfall in der Ukraine wird deutlich, dass der notwendige, einzig zu einer Umkehr der Verhältnisse fähige Gefahrensinn einem weiblich konnotierten Denkhorizont entspringt. Angst – mit Hans Jonas könnte man auch von einer „Heu­ ristik der Furcht“ (Jonas 1979, 62 ff.) sprechen – wird zur feministischen Lebensgrund­ lage und Voraussetzung einer kritischen Ermächtigung der Frau, die aus der Kom­ plizenschaft von „Entfremdungs- und Entwirklichungsprozessen“ (Wolf 2000, 189) aus- und in Form literarischer Interventionen in das männliche Freund-Feind-Den­ ken einbrechen will. Christa Wolfs Texte der 1980er Jahre, die im Hintergrund immer auch von den Auflösungstendenzen der DDR erzählen, verstehen sich in diesem sehr konkreten Sinne als Gegenwartsliteratur, auch wenn sie das Setting und die Analyse der Angst wie in Kassandra (1983) in eine archaische Zeit des Mythos verlegen. Diese Erzählung, die eine fortgesetzte Reflexion über die Produktivität und Dysfunktiona­ lität von Angst darstellt, steht metathematisch in einem engen Dialog mit Marlen Haushofers zivilisationskritischem Roman Die Wand (1963), der eine Protagonistin in einer postkatastrophischen Natur isoliert, in der sie – Robinson Crusoe gleich –, die Welt und ihre mit männlicher Autorität verbundenen Ordnungen des Sag- und Sichtbaren mit anderen Augen sehen lernt. Haushofer und Wolf ist gemein, dass sie die „reale Gefahr einer Weltkatastrophe“ (Wolf 1989, 10) mit der Konstatierung eines Geschlechterkampfs verbinden, dessen Ausgang eng mit dem Schicksal der Mensch­ heit verknüpft wird. Ähnlich wie Elfriede Jelinek (u. a. Die Klavierspielerin, 1983), Eva Demski (Scheintod, 1984) oder Monika Maron (Die Überläuferin, 1986) geht es beiden Autorinnen darum, das Geschlechterverhältnis als ein repressives Machtverhältnis zu deuten, das einerseits auf einer Oberflächenebene in der Relationierung von Mut und

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Männlichkeit bzw. Angst und Weiblichkeit gesellschaftlich wirksame Rollenmuster prägt, tiefenstrukturell aber selbst als geschlechtsspezifisch kodiertes Angst-Gesche­ hen durchschaubar gemacht werden kann. Die ‚großen‘ politischen wie die ‚kleinen‘ körperbezogenen Ängste erscheinen einer feministisch motivierten Literatur als Ergebnis des Gewalthandelns männlicher Akteure, die ihre eigene Autorität um den Preis der Konstruktion der Frau als angstmachendem Anderen erkaufen. Der Kampf um die Befreiung des weiblichen Subjekts, der immer auch die Utopie einer anderen Gesellschaft zumindest implizit ins Spiel bringt, greift Kontexte und Denkfiguren der existenzialistischen Angstphilosophie auf und transformiert sie  – in aller Klarheit nachzuvollziehen in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt (1966–1971; vgl. Kanz 1999) – in ein heuristisches Instrumentarium zur Analyse moderner Herrschafts- und Gewaltverhältnisse (vgl. Kanz 2013). Eng verknüpft mit dem literarischen Projekt, Angst als Korrelat des Geschlech­ terverhältnisses zu durchdenken, ist der Versuch, genau diese Relation auch als Moment der Erscheinungsweise totalitärer Machtsysteme kenntlich zu machen. Neben Bezügen, die immer wieder den Faschismus als grelle Ausleuchtung der ins­ trumentellen Ausbeutung von Mensch und Natur markieren, sind es vor allem die kommunistischen Machtsysteme Osteuropas, die literarisch als Ökologien der Angst thematisiert werden. Gut nachzuvollziehen ist der Versuch, eine Affektpolitik der Dik­ tatur zu skizzieren, etwa in Christa Wolfs Erzählung Was bleibt (1989), die 1990 zum Anlass eines heftigen geschichts- und kulturpolitischen Streits über die politische Situierung der Autorin wie um den Status und das Erbe der ostdeutschen Nachkriegs­ literatur wurde. Auch wenn man die Selbstpositionierung der Erzählerin als Opfer des Machtapparats vor dem Hintergrund der zweifellos vorhandenen Privilegierung Christa Wolfs nicht unbedingt teilen mag, leistet der Text jenseits einer solchen, mög­ licherweise zu eindimensionalen autobiografischen Lesart, eine komplexe Analyse der Deformationen von Subjektivität im Medium der Angst. Wichtig für das Verständ­ nis der Effekte von Veralltäglichung und Kontrolle unter einem totalitären Regime ist Was bleibt, weil der Text zeigt, wie der Angst stiftende Blick der Überwacher in der Imagination der Überwachten sukzessive zu einer nicht kontrollierbaren Form der Selbst- und Umweltbeobachtung führt, die das Gefühl einer Exponiertheit radikal entgrenzt. Die gesamte Umwelt verwandelt sich für die Ich-Erzählerin in Was bleibt in ein Panoptikum im Sinne Michel Foucaults: Eben weil nicht genau zu unterscheiden ist, welcher Blick von einem Mitarbeiter der Staatssicherheit herrührt und welcher Blick bloßer Zufall ist, entsteht eine paranoide Hemmung, die alle Lebensvollzüge entsichert und die Vorstellung von Privatheit auflöst. In eine ähnliche Richtung wie Christa Wolf geht auch Herta Müller. Ihre Texte, die zum Großteil in Rumänien unter der Diktatur Nicolae Ceausescus entstanden sind, greifen den Zusammenhang von Unterdrückung und Angst als Sprachproblem auf. In Texten wie Herztier (1994) oder Der König verneigt sich und tötet (2003) sucht Müller nach einer Poetik des Widerstands, die deutlich macht, dass die totalitäre Omniprä­ senz des Verdachts die politisch Verfolgten auf allen Ebenen – der des Körpers, der

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des Denkens und eben auch der der Sprache – tangiert (vgl. Steffens 2011). Die Angst strukturiert den Wahrnehmungs- und Sprachapparat. Müller präsentiert eine klaust­ rophobische Subjektivität, die innere und äußere Räume der Einengung und der per­ manenten Kontrollvermutung durchquert: Aber der Suff schützt den Schädel vor dem Unerlaubten, und der Fraß schützt den Mund. Wenn auch die Zunge nur noch lallen kann, verläßt die Gewöhnung der Angst die Stimme nicht. Sie waren in der Angst zu Hause. Die Fabrik, die Bogeda, Läden und Wohnviertel, die Bahnhofshal­ len und Zugfahrten mit Weizen-, Sonnenblumen- und Maisfeldern paßten auf. Die Straßenbah­ nen, Krankenhäuser, Friedhöfe. Die Wände und Decken und der offene Himmel (Müller 2009, 39).

Effektiv ist die Politik der Angst, weil die Handlanger des Geheimdienstes Sekuritate immer unkalkulierbar bleiben. Wer wann warum von den männlichen Schergen zum Verhör abgeholt wird, ist in einem hohen Maße kontingent: „Alle wollten fliehen […]. Nur der Diktator und seine Wächter wollten nicht fliehen. Man sah es ihren Augen, Händen, Lippen an: Sie werden heute noch und morgen wieder Friedhöfe machen mit Hunden und Kugeln. […] Man spürt den Diktator und seine Wächter über allen Geheimnissen der Fluchtpläne stehen, man spürt sie lauern und Angst austeilen“ (Müller 2009, 55 f.). Diese Unkalkulierbarkeit und Intransparenz der staatlichen Gewalt, die eine kollektive Dimension der Angst mit einer individuell-existenzialis­ tischen verknüpft, ist ein wesentliches Kennzeichen, das so unterschiedliche Dikta­ turen wie die in Chile, Argentinien, Portugal, Rumänien oder der DDR miteinander verbindet.

2.7 Nach der Jahrtausendwende: 9/11, Krieg, Prävention Die Angst-Signaturen der Gegenwartsliteratur in Echtzeit zu verzeichnen, stellt ein schwieriges Unterfangen dar. Das thematische Spektrum der Gegenwartsliteratur ist zu fluide, als dass ein stabiler Kanon relevanter Angsttexte zeitnah genau zu bestim­ men wäre. Gleichwohl lassen sich einige Emotionscluster fokussieren: Eine zentrale Stellung innerhalb der zeitanalytischen Literatur der Gegenwart nehmen sicherlich die Anschläge vom September 2011 und der ihnen nachfolgende War on Terror ein. Zwar war auch schon der Terror der Roten Armee Fraktion in der Literatur der 1980er Jahre bei Autoren wie Friedrich Christian Delius (Mogadischu Fensterplatz, 1987) oder Rainald Goetz (Kontrolliert, 1988) als eine den kollektiven Gefühlshaushalt adres­ sierende, Paranoia induzierende Kommunikationsstrategie reflektiert worden. Im Gegensatz zur Literatur der Gegenwart hatte der Terror der 1970er und 1980er Jahre aber keineswegs die Literatur in gleichem Maße auch als ein Darstellungsproblem herausgefordert, wie dies im Kontext des Massenmords von Al Qaida und der Gegen­ maßnahmen der USA in Afghanistan und Irak nunmehr der Fall ist. Literarische Annäherungen wie Katrin Rögglas really ground zero (2001), Katharina Hackers Die

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Habenichtse (2006) oder Thomas Lehrs September (2010) stehen vor der Aufgabe, mit literarischen Mitteln mit der Eindringlichkeit und Ubiquität der TV-Bilder der einstür­ zenden Türme von New York konkurrieren zu müssen. Sie tun dies, indem sie in Form von „traumatischen Texturen“ (Reinhäckel 2012) den Gefühls- und auch Angstdyna­ miken nachspüren, die unter der Prämisse „Es wird nichts mehr so sein, wie es war“ (Hacker 2006, 287) von der Medienberichterstattung nach dem September 2001 aus­ gelöst wurden und bis in die jüngste Vergangenheit nachwirken. Deutlich wird dabei, dass in der globalisierten Mediengesellschaft das individuelle Erleben politischer Großkonflikte immer schon von medialen Skripten präfiguriert ist und Terror vor allem als Ergebnis der medialen Durchmischung von Narrativen, Bildern und Erwar­ tungen den Alltag bedrohlich überschattet. Das analytische Potenzial, die aus der relativen Distanz Deutschlands zum heißen Krieg gegen den Terror erwächst, machen sich Friedrich von Borries’ 1WTC (2011) oder auch Marlene Streeruwitz Die Schmerzmacherin (2011) zu Nutze, um nach den affektpolitischen Effekten und den Autoim­ munreaktionen des Antiterrorkriegs zu fragen. Beide Romane zeigen auf, dass sich das politische Klima in Richtung einer sicherheitsfixierten Protoparanoia entwickelt hat, die Freiheitsrechte zugunsten von Präventionsabwägungen auflöst. Emblema­ tische Figur der sich wechselseitig verstärkenden Interaktion von realer Bedrohung und machtpolitisch nutzbarer Bedrohungsfiktion ist der unerkannte Schläfer, der erst in dem Moment als Feind zu erkennen ist, in dem er zuschlägt. In Reaktion auf die Unmöglichkeit einer präzisen Epistemologie der Feindschaft gerät die Wirklich­ keit insgesamt unter Verdacht, insofern nie klar ist, ob nicht gerade die momentane Ereignislosigkeit ein Anzeichen für bevorstehende Gefahr darstellt (vgl. Koch 2010). Von Borries macht auf diesen imaginativen Überschuss der Terrorangst aufmerksam, wenn er das Streben nach einer möglichst lückenlosen Überwachung zum eigentli­ chen Fluchtpunkt des politischen und polizeilichen Handelns nach 9/11 erklärt. In gewisser Weise an Rainald Goetz’ frühen Text Polizeirevier (1983, vgl. Häusler 2014) anknüpfend, geht es ihm darum, die Zirkularität von Beobachtung, Gegenbeobach­ tung und Beobachtung der Gegenbeobachtung als eine Spirale der Angst versteh­ bar zu machen, die nahezu zwangsläufig in immer weitere Eruptionen von Gewalt münden wird. Deutlich wird in der Literatur, die sich mit den Folgen der Anschläge von New York und Washington beschäftigt, dass die anderthalb Jahrzehnte seit der Jahrtausendwende unter einem Diktat der Dringlichkeit und der Ahnung einer kom­ menden Katastrophe stehen. Um kommendes Unheil abzuwehren, scheint nahezu jedes Mittel erlaubt zu sein. Angst, das zeigt von Borries in seinem kolportagehaften Text, der Anleihen beim Thriller nimmt, die übersichtliche Handlungsebene aber mit einem wikipedia-ähnlichen Glossar zum Zusammenhang von Beobachtung, Sicht­ barkeit und ästhetischer Intervention verbindet, wirkt selbstverstärkend und fordert einen Aktionismus heraus, der Teil des Problems, nicht Teil der Lösung ist. Dass mit dem War on Terror auch immense völkerrechtliche und kriegsökono­ mische Umbrüche verbunden sind, macht hingegen Die Schmerzmacherin deutlich. Anhand der Protagonistin, die eine Ausbildung bei einer u. a. in Afghanistan enga­

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gierten privaten Sicherheitsfirma macht, entwirft Streeruwitz das Porträt des aktu­ ellen Nicht-Kriegs (vgl. Werber 2010), der sich vor allem durch das Kollabieren der Unterscheidung von Kombattant und Nicht-Kombattant, Polizei und Armee, Staat­ lichkeit und Privatheit charakterisieren lässt. Im Zeitalter der low intensity conflicts ist der Ausnahmezustand auf Dauer gestellt, entsteht eine neue Gouvernementali­ tät der permanenten Wachsamkeit, die die Individuen ganz auf die Wahrnehmung von Bedrohung hin ausrichtet und Sicherheit zur obersten Maxime allen politischen Handelns bestimmt (vgl. Daase/Engert/Junk 2013). Die Schmerzmacherin, dass unter­ scheidet den Roman von 1WTC, geht das Problem der durch Angst deformierten Subjektivität als Aufgabenstellung der Erzählstruktur an. Der Roman vermeidet in seiner textuellen Bauform jeden Eindruck von Überblick und Orientierung. So wie die Unterscheidungskategorien des Politischen zunehmend an Trennschärfe einbüßen, erodiert die Autorität und Souveränität des Erzählers, der daran scheitert, Realität und Fiktion, Spur und Hirngespinst noch unterscheiden und die verschiedenen Sin­ neseindrücke, Gedankenfetzen und Erinnerungsfragmente noch zu einer homogenen Narration integrieren zu können. Die Orientierungslosigkeit der Erzählinstanz, die in Die Schmerzmacherin zu einer wichtigen Zeitdiagnose wird (vgl. Werber 2012), verbin­ det die Gegenwartsdeutung von Streeruwitz mit anderen katastrophen- und krisen­ sensiblen Gegenwartsromanen – etwa Thomas Glavinic’ Texten Die Arbeit der Nacht (2006) und Lisa (2011) oder auch Thomas von Steinaeckers Roman Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen (2012) –, die grundsätz­ lich an einer Erkenn- und Verstehbarkeit der postmodernen Medien- und Finanzwelt zweifeln und in einer „Zirkelbewegung“ (Koschorke 2013, 245) zwischen Wirklichkeit und Text die Verdichtung und das Scheitern von Kontroll- und Sicherheitsdispositi­ ven als Evidenz der Verunsicherung und der Angst in Szene setzen. Die subjektprägenden Effekte von einer generalisierten Sicht auf Zukunft als Bedrohung stehen auch im Fokus von Katrin Rögglas kulturnarratologischer Gegen­ wartsdiagnose die alarmbereiten (2010). Röggla, die schon zuvor in ihrem Essay-Band disaster awareness fair (2006) über die wahrnehmungskonfigurierende Wirkung populärkultureller Katastrophenfantasien nachgedacht hatte, entwirft in dieser Geschichtensammlung das Bild einer Gegenwartsgesellschaft, deren Möglichkeits­ sinn ganz durch einen ausufernden Gefahrensinn verdrängt wurde. Die Erzähler und Figuren der hier versammelten, komplementären Erzählsituationen sind allesamt in einem grassierenden Katastrophismus gefangen, der ein um sich greifendes „präven­ tivdenken“ (Röggla 2006, 25) herausfordert. Röggla entlarvt in die alarmbereiten die durch die Medien erzeugte Hysterie der permanenten breaking news als Instrument einer kapitalistischen Aufmerksamkeitsökonomie, die Angst als Aufforderung zu Prä­ vention und Ablenkung in Profit verwandelt. Die einzelnen Geschichten der Samm­ lung, die allesamt in indirekter Rede gehalten sind und damit die wirklichkeitskon­ stitutive Macht der Sprache unterstreichen, beleuchten die unterschiedlichen worst case-Szenarien der Gegenwart und zeigen auf, dass diese wesentlich zur Akkumula­ tion politischer oder ökonomischer Macht beitragen. Der entscheidende Punkt dabei,

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dies macht schon Rögglas Titel deutlich, ist der Zeitbezug der Angst: Als „Erwartungs­ affekt“ (Bloch 1954, 350 f.) lässt sie ein Handeln attraktiv erscheinen, das den Über­ tritt bloß potenzieller Gefahren aus der Imagination in die Realität verhindern soll. Genau in diesem Einsatz für eine Gegenwart, die sich nicht ändern soll, realisiert sich der unter Zuhilfenahme greller Umbruchs- und Untergangssemantiken operierende Konservatismus der Präventionsdoktrin (vgl. Holzinger/May/Pohler 2010, 227 ff.). Eben weil nach jeder nur knapp verhinderten Katastrophe bereits der nächste Ernst­ fall lauert, entsteht eine postutopische Situation weitgehender Entpolitisierung, die hinter der Aufrechterhaltung fortgesetzter Denormalisierungsängste die Arbeit an der Stabilität der Machtverhältnisse verbirgt. In einer gewissen thematischen Korrespondenz zum gegenwartsliterarischen Terror-Reflexion steht Julie Zehs Roman Corpus Delicti (2009), der das Paradigma der Prävention aufgreift, allerdings vom Kontext der Geopolitik in das Bezugsfeld der Körper- und Biopolitik überträgt. Zehs Dystopie, die den Diskurs des Rechts mit dem der Biomedizin verbindet, fragt nach den bürgerrechtlichen Kosten, die ein ganz am Leitwert der Sicherheit orientiertes Gemeinwesen zu zahlen hat. Anknüpfend an eine Tradition des dystopischen Romans, wie sie von Aldous Huxley, George Orwell und Ray Bradbury begründet wurde, stellt Corpus Delicti den Körper ins Zentrum eines Heils- und Angstgeschehens, in dem verschiedene gegenwartskulturelle Krisennarra­ tive zusammenlaufen und zum diegetischen Entwurf eines geschlossenen staatlichen Systems totaler Kontrolle hochgerechnet werden. Im Entwurf einer Gesundheitsdik­ tatur greift Zeh den sich in den letzten Jahren intensivierenden Gesundheits- und Vor­ sorgediskurs auf und überblendet, geschult an den biopolitischen Theorien Foucaults und Agambens, verschiedene Fragestellungen über Gentechnik, Pränataldiagnostik und regierungsnotwendigen Krankheitsrisiken, die sich alle darin treffen, dass sie den individuellen Körper mit dem sozialen Körper der Gemeinschaft normativ ver­ schalten. Von literarischen Beschäftigungen mit jener Angst, die die Krankheit zum Tode hervorruft (etwa Max Frischs Homo Faber, 1957; Erica Pedrettis Valerie oder Das unerzogene Auge, 1986; oder – unter ganz anderen sprachtheoretischen und poetolo­ gischen Voraussetzungen – Elfriede Jelineks Todkrank.doc (für Christoph Schlingensief), 2009), unterscheidet sich Corpus Delicti im Hinblick auf die Relationierung von Angst und Krankheit: Hier geht es nicht mehr in existenzieller Hinsicht um die Angst, die die lebensbedrohende Erkrankung begleitet, sondern um das Nachdenken über Angst vor einer schweren Erkrankung als einer politischen Ressource, die genutzt werden kann, um das Verhalten der Bevölkerung zu lenken. Corpus Delicti führt eine biopolitische Ratio „der totalen Beherrschung des Körpers“ (Geisenhanslüke 2013, 228) vor, die in den gegenwärtig geführten Debatten um die Privatisierung des Sozi­ alstaats bereits angelegt ist. Der Roman macht klar, dass derzeit eine Entwicklung zu konstatieren ist, die Krankheit nicht mehr als Schicksal, sondern als individuel­ les Versagen im Umgang mit genetischen Risiken begreift. Indem Zeh das auch von Röggla reflektierte Präventionsprinzip als biopolitisches Programm der Sorge um den eigenen Körper konturiert, wird deutlich, wie sich im Zuge von AIDS und Human

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Genome Project und vor dem Hintergrund schwindender finanzieller Ressourcen die Physis zu einem Angst-Terrain eigener Logik entwickelt. Auch hier wird eine Tendenz wirksam, die die Gegenwart vom Rückblick einer katastrophischen Zukunft her ausleuchtet und den gesunden Körper als einen solchen beschreibt, dessen latente Erkrankung bloß noch nicht zum Ausbruch gekommen ist. Angesichts der techni­ schen Manipulationsmöglichkeiten der Physis stehen nicht nur die riskanten Verhal­ tensweisen des Einzelnen zur Debatte: Das Schicksal der Protagonistin Mia Holl, die aufgrund ihrer vermeintlichen Devianz wegen Terrorismus angeklagt und verurteilt wird, wirft vielmehr ein exemplarisches Licht auf eine juridisch-medizinische Praxis, die den Anfang und das Ende des Menschen zur Disposition stellt und den auf sein nacktes Leben reduzierten Menschen zur Verfügungsmasse eines humankapitalisti­ schen Ressourcenmanagements bestimmt (vgl. Lemke 2007). Bezeichnend für die Angst nach der Jahrtausendwende ist also, dass sie räum­ lich und zeitlich einer Zone der Unsichtbarkeit und der Latenz entspringt: Einem ‚Noch-Nicht‘ der terroristischen Tat, der unheilbaren Krankheit, der katastrophalen Zukunft. Aus dieser zeitlichen Struktur, die die Katastrophe als ein vorausliegendes Ereignis imaginiert, das aber schon die Gegenwart betrifft, resultiert eine Prolifera­ tion der Angst, die den Alltag mit einem Hintergrundrauschen der Bedrohlichkeit auffüllt. Zwei Romane, die diese Veralltäglichung der Angst in Zeiten ubiquitärer Krisenrhetoriken seismografisch verzeichnen, sind Peter Hennings Die Ängstlichen (2009) und Dirk Kubjuweits Angst (2012). In beiden Romanen geht es nicht um große Katastrophenängste, sondern um eine um sich greifende Verunsicherung, die zuneh­ mend auch die bislang stabile bürgerliche Mittelschicht als eine Sorge um eine mögli­ che Verschlechterung der ökonomischen Lage uns als Angst vor einem schleichenden Abstieg erfasst. Henning und Kubjuweit besichtigen Figurenensembles, die allesamt die Fähigkeit verloren haben, ihrem Leben eine dauerhafte Form und ein grundle­ gendes Gefühl von Beheimatung in der Welt zu verschaffen. Angesichts einer bislang nicht gekannten Zunahme an Komplexität der Zusammenhänge von Ökonomie, Ökologie und letztlich auch Wissen insgesamt, dem die Politik mit immer weniger Entscheidungs- und Handlungskompetenz gegenübersteht, führen beide Romane insuffiziente Protagonisten vor, die die Orientierung verloren haben und angesichts der eigenen Aktionsunfähigkeit in Angst abgleiten. In Kubjuweits Text, in dessen Zentrum ein gutsituierter Berliner Architekt und Familienvater steht, ist es ein HartzIV-Empfänger, der die Wohnung im Souterrain bewohnt und als Figur einer unheim­ lichen Wiederkehr der verdrängten ökonomischen Abstiegsängste im Zentrum des Wohlstands mit Vorwürfen des Kindesmissbrauchs und zudringlichen Liebesge­ dichten für Irritation sorgt. Bei Henning fungieren die Figuren allesamt als kapita­ listisch deformierte Identitätsattrappen, die den Gang der Dinge passiv und gänzlich entpolitisiert ertragen. Gesellschaft spielt auf der Ebene der Figurenwahrnehmung in Angst wie in Die Ängstlichen nur noch als Arsenal der Unannehmlichkeiten und der durch Zäune und Denkbarrieren außen vor zu haltenden Umwelt eine Rolle. Die aufklärerische Idee, dass die Gesellschaft ein Projekt der gemeinsamen Gestaltung

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einer besseren Zukunft sein könnte, erfährt in einer Stimmung spätkapitalistischer Alternativlosigkeit keine Resonanz mehr. Damit adressieren beide Romane ein Psy­ choklima von Angst, Depression und Schlaflosigkeit, wie es derzeit in einer ganzen Zahl von soziologischen Zeitdeutungen entworfen wird (vgl. Bude 2014; Crary 2014; Rosa 2013). Gesellschaft wird hier nur noch als ein Gewaltzusammenhang vorgestellt, der weniger in Form energetischer Ausbrüche, dafür aber im Modus fortgesetzten nie­ derschwelligen Drucks eine Konformität des Denkens und Handelns erzeugt, die von den Betroffenen als Entfremdung erfahren wird.

3 Fazit: Für eine medienkulturwissenschaftliche Literaturgeschichte der Angst Versteht man den Begriff der Entfremdung, wie er hier in unterschiedlichen histo­ rischen Konstellationen als sozialbegriffliche Entsprechung zum Phänomen der Angst entwickelt wurde, in einem umfassenden Sinne als Ergebnis eines modernen Entkopplungsprozesses, der das Auseinanderfallen von Erfahrung und Erwartung, Struktur und Handlung, Privatheit und Öffentlichkeit, Arbeit und Kapital, Ökono­ mie und Politik, Körper und Geist – vielleicht sogar Natur und Kultur – analytisch zu fassen versucht, wird deutlich, dass sich Angst in mittelfristiger Sicht als eine emotio­ nale Signatur der Literatur der Moderne konturieren lässt, die sich trotz der Differen­ zierung diskreter Anlässe und Kontexte in eine Kontinuität der letzten rund 250 Jahre stellt. Eine medienkulturwissenschaftlich informierte Literaturgeschichte der Angst nähert sich vor diesem Hintergrund einer Geschichte der Emotionen an, wie sie seit einigen Jahren von der Geschichtswissenschaft betrieben wird (vgl. Hitzer 2011). Sie teilt mit dieser die Einsicht, dass es wenig Sinn macht, Angst alleine als anthropolo­ gische Konstante in einen evolutionsbiologisch-kognitionspsychologischen Rahmen zu stellen. Als symbolische Verdichtung verbindet literarische Angst Individuen und Gesellschaft, als Kondensat kommunikativer Praktiken vermittelt sie zwischen indi­ viduellen und kollektiven Gefühlslagen – damit ist sie ein hervorgehobener Gegen­ stand zur retrospektiven Aufschlüsselung kultureller Dynamiken und Prozesse. Auch wenn die Literaturgeschichte in dem in diesem Beitrag vorgeschlagenen Sinne mit der Geschichtswissenschaft den Ansatz teilt, Angst als „kulturelle Matrix“ (Gerok-Reiter/ Obermaier 2007) der Weltwahrnehmung zu begreifen, geht die medienkulturwissen­ schaftliche Beschäftigung mit der kulturellen Codierung der Angst (die freilich neben der Literatur um andere Medien zu erweitern wäre) gleichwohl über den Status quo der historischen und soziologischen Emotionsforschung hinaus. Sie konstatiert eine grundlegende Historizität der Angst, bricht aber das enge faktuale Quellenkorpus der Geschichtswissenschaft auf und erweitert es im Wissen um die konstitutive Medialität der Angst um die Textarchive der fiktionalen Literatur, die sie als einen funktionalen Speicher und Ort der Artikulation kultureller Problem- und Verunsicherungslagen

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begreift. Als Beobachtung zweiter oder manchmal gar dritter Ordnung ist insbeson­ dere die Literatur dazu in der Lage, Angst als Zeitphänomen in symbolisch verdich­ teter Weise zur Sprache zu bringen und sie in Form von Umschriften, Übersetzungen und Narrativierungen in kommunikativ anschlussfähige Szenarien und verhaltens­ stabilisierende Skripte zu transformieren, die als Medien der Objektivierung selbst wiederum wesentlich zur gesellschaftlichen Selbstauslegung beitragen. Eine solche Perspektive auf Literatur, die nach den inhaltlichen Bezügen, der Formensprache und der medialen Rahmung der Angst fragt, bedeutet weder, ihren Eigenwert, ihre ästhe­ tischen Verfahren und ihr affektives Kalkül zu verleugnen, noch sie als bloße Wider­ spiegelungsphänomene der wirklichkeitskonstituierenden Macht der Gesellschafts­ struktur unterzuordnen (vgl. Stäheli 1998). Indem die medienkulturwissenschaftliche Angstforschung die Frage nach Semantiken und narrativen Kontexten von Angst stellt, schafft sie es, die wechselseitige Signifikation von Welt, Subjekt, Diskurs und kulturellem Artefakt in der notwendigen Komplexität zu betrachten. Damit schafft sie einen Zugang zur Angst als einem kulturellen Zusammenhang, der in diachroner ebenso wie in synchroner Hinsicht untersucht werden kann.

4 Literatur Ächtler, Norman (2013): Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960. Göttingen. Aichinger, Ilse (1948): Die größere Hoffnung. Frankfurt a. M. 2012. Alewyn, Richard (1984): Goethe als Alibi. In: Karl Robert Mandelkow (Hg.): Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Bd. IV: 1918–1982. München, 333–335. Alewyn, Richard (1965): Die Literarische Angst. In: Hoimar von Dittfurth (Hg.): Aspekte der Angst. Starnberger Gespräche 1964. Stuttgart. Alewyn, Richard (1974): Die Lust an der Angst. In: Ders.: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt a. M., 307–330. Allerdissen, Rolf (1985): Arthur Schnitzler: Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Moralismus in seinen Erzählungen. Bonn. Alt, Peter-André (2009): Kafka und der Film. Über kinematografisches Erzählen. München. Alt, Peter-André (2008): Kafka. Der ewige Sohn. München. Anz, Thomas (2010): Literatur des Expressionismus. Stuttgart/Weimar. Anz, Thomas (1982): Entfremdung und Angst. Expressionistische Psychopathographie und ihre sozialwissenschaftliche Interpretierbarkeit. In: Horst Meixner/Silvio Vietta (Hg.): Expressionismus – sozialer Wandel und künstlerische Erfahrung. München, 15–29. Anz, Thomas (1975): Die Historizität der Angst. Zur Literatur des expressionistischen Jahrzehnts. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft 19, 237–283. Arnold-de Simine, Silke (2000): Leichen im Keller. Zu Fragen des Gender in Angstinszenierungen der Schauer- und Kriminalliteratur 1790–1830. St. Ingbert. Bachmann Ingeborg (1953): Alle Tage. In: Dies.: Werke Bd. 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. Hg. v. Christine Koschel u. a. München 1993, 46.

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Marina Münkler

3. Transformationen der Freundschafts­ semantik in Diskursen und literarischen Gattungen seit dem Mittelalter Abstract: Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit der diskursiven und literari­ schen Inszenierung und Reflexion von Freundschaft seit dem Mittelalter. Er zeichnet die Transformationen vormoderner und moderner Konzeptionen von Freundschaft nach, zeigt auf, wie diese mit Kulturen und Praktiken verbunden sind, und skizziert, welche Semantiken und Topoi dabei eingesetzt werden. Freundschaft, so die Aus­ gangsthese, ist einerseits neben Verwandtschaft und Liebe eine Grundkonstellation menschlicher Beziehungen, sie ist aber andererseits nur in den jeweiligen sozialhisto­ risch bedingten kulturellen Überformungen erfassbar: Wie Freundschaft beschrieben wird, welche Emotionen ihr zugeschrieben werden, zwischen welchen Personen und aus welchen Gründen sie entsteht, ob sie beständig oder brüchig ist und nicht zuletzt, wie sie als Kondensat kommunikativer Praktiken gesellschaftlich wirksam wird, ist historisch wie kulturell variabel. Als Beobachtunginstanz zweiter Ordnung bearbei­ tet Literatur historische, kulturelle und diskursive Praktiken und Darstellungsformen von Freundschaft, stellt sie symbolisch verdichtet dar und setzt sie in ein dialogi­ sches Verhältnis zu den jeweils zeitgenössischen Praktiken von Freundschaft. Die der Freundschaft diskursiv und literarisch zugemessene Bedeutung schwankt jedoch erheblich. Es formieren sich diskursive und literarische Verdichtungsräume und -zeiten, in denen die Erwartungen an das, was Freundschaft für den Einzelnen und die Gesellschaft zu leisten vermag, besonders hoch sind. Solche Verdichtungsräume und -zeiten bilden denn auch einen Schwerpunkt der Untersuchung. Welche unter­ schiedlichen Aspekte dabei aufgerufen und je spezifisch bearbeitet werden, wird nicht zuletzt von den konkreten medialen Bedingungen und gattungsspezifischen Formen literarischer Texte bestimmt. Die Kulturgeschichte der Freundschaft mit ihren beson­ deren Verdichtungen lässt sich somit in erster Linie als eine Kulturgeschichte ihrer semantischen Transformationen in diskursiven und literarischen Texten begreifen. 1 Freundschaft als Code des sozialen Systems 2 Die Evolution der Freundschaftssemantik 3 Historische Aneignungen und Transformationen der Freundschaftssemantik 4 Freundschaftskonstellationen 5 Medien und Gattungen der Freundschaftssemantik 6 Literatur

DOI 10.1515/9783110297898-003

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 Marina Münkler

1 Freundschaft als Code des sozialen Systems Historisch wie systematisch betrachtet, lässt sich feststellen, dass Freundschaft ebenso als soziale Institution wie als persönliche Nahbeziehung fungieren kann. Als soziale Institution schafft Freundschaft Verbindlichkeit und Vertrauen zwischen Per­ sonen, die über einen gemeinsamen Habitus und die ihm zugeschriebenen Tugen­ den verfügen. Als persönliche Nahbeziehung stabilisiert sie Identität durch den Aus­ tausch mit einem Anderen, der als Vorbild, Spiegel des Selbstbildes oder alter ego begriffen werden kann. Damit begründet Freundschaft sowohl sozio-politische als auch persönliche Vernetzungen, die zur Stabilisierung des sozialen Systems beitra­ gen können. Freundschaft kann daher als zentrales Element eines gesellschaftlichen Tugendsystems sowie als Fundierungsbegriff gesellschaftlicher Ordnung eingesetzt werden, aber auch als Code für Intimität, wobei sie jeweils sehr spezifische Aus­ prägungen erfahren kann. In der Vielfältigkeit ihrer Funktionen lässt sich Freund­ schaft mit Niklas Luhmann als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium beschreiben, das auf der Ebene des sozialen Systems die Anschlussfähigkeit von Kom­ munikation steigert (vgl. Luhmann 1980; Luhmann 1993; Münkler 2015). Luhmann geht davon aus, dass jedem System eine Umwelt gegenübersteht, die ebenfalls aus Systemen besteht, welche aber nicht unmittelbar zugänglich sind. Anschlussfähig­ keit zwischen einander opaken Systemen wird durch Kommunikation hergestellt, die sich jedoch nicht durch Eindeutigkeit, sondern durch unterschiedliche Selektionsof­ ferten auszeichnet. Sinn entsteht durch die Auswahl von Selektionsofferten, die umso anschlussfähiger sind, je stärker sie auf bereits vorliegende Sinnkonstruktionen Bezug nehmen können. Solche anschlussfähigen Konstruktionen nennt Luhmann symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die sich als einen Bestand an Zeichen, Gesten, Redewendungen und Bildern beschreiben lassen. Freundschaft stellt für soziale Strukturbildungen einen Vorrat an Semantiken zur Verfügung, der das Gelingen von Kommunikation und Interaktion wahrschein­ licher macht. Dadurch tendiert das Kommunikationsmedium Freundschaft aber zum inflationären Gebrauch. Das gilt insbesondere für bestimmte historische Peri­ oden oder literarische Epochen, in denen die Freundschaftssemantik besonderen Aufschwung nimmt, wie etwa im Humanismus oder im 18. Jahrhundert mit Aufklä­ rung und Empfindsamkeit. Vielfach verbindet sich in solchen Hochkonjunkturen die Semantik von Freundschaft mit literarischen Strömungen oder Bildungsbewegun­ gen, deren Anerkennung noch fragil ist. Man sucht Gleichgesinnte, mit denen sich zu verbinden gleichermaßen Notwendigkeit wie tiefes Bedürfnis ist oder jedenfalls als solches beschrieben werden kann. Aber auch jenseits der besonderen Konjunk­ turen der Freundschaftssemantik gehört Freundschaft zu jenen elementaren Formen sozialer Vernetzung, für die es einen permanenten Bedarf gibt, weil in stratifizierten und erst recht in funktional differenzierten Gesellschaften die sozialen Beziehun­ gen und deren Pflege nicht mehr allein über Familie und Verwandtschaft gesteuert werden können (vgl. Eisenstadt/Roniger 1984, 269–293). Der Begriff der Freundschaft

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muss daher soziale Strukturlasten tragen, die ihn mit einer Vielzahl von Funktionen befrachten. Das Spezifikum des symbolisch generalisierten Kommunikationsmedi­ ums Freundschaft besteht nun darin, dass es solche Strukturlasten zu tragen vermag, weil es als Code der Öffentlichkeit fungieren kann, der in erster Linie politisch-soziale Vernetzungen bezeichnet, aber auch als Code von Intimität, der enge, gegenüber Dritten abgegrenzte persönliche Bindungen markiert. Aus dieser Doppelheit ergeben sich jedoch weitreichende Ambiguitäten, die synchron und diachron für die Semantik von Freundschaft kennzeichnend sind. Phänomenologisch resultieren diese Ambigu­ itäten daraus, dass die beiden idealtypisch unterscheidbaren Modelle von Freund­ schaft als sozialer Institution und persönlicher Nahbeziehung auf der Ebene der kom­ munikativen Codes nicht eindeutig zu trennen sind und sich mit anderen Codes, wie denen von Verwandtschaft und Liebe, überschneiden. In welcher Weise sich die Codierung je ausprägt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob sie in diskursiven oder narrativen Texten erfolgt. Grundsätzlich kann man dabei zwischen der Ethik und dem Ethos der Freundschaft unterscheiden, wobei die defini­ torische Grenze zugleich als systematische Grenze zwischen Diskursen und Narrati­ onen verläuft: Diskurse begründen eine Ethik der Freundschaft, in der Freundschaft als elementarer Teil von Lebens-, Sitten- und Tugendlehren formuliert wird (bspw. bei Aristoteles, Cicero, Montaigne), wohingegen Narrationen ein Ethos der Freundschaft inszenieren, das in einzelnen Protagonisten verkörpert und in Interaktionen reprä­ sentiert wird. Die Trennung zwischen Ethik und Ethos kann in unterschiedlichen lite­ rarischen Gattungen und Formen jedoch auch aufgehoben werden. Dialoge etwa sind als Repräsentation von face-to-face-Kommunikation nicht nur ein entscheidendes Medium der diskursiven Bearbeitung dessen, was unter Freundschaft je verstanden werden soll, sondern setzen sie auch in Szene. Sie machen die Codierungen von Ethik (Anforderung) und Ethos (Leistung) durchlässig, weil sie sowohl diskursiv (Platon, Cicero, Aelred von Rievaulx) als auch narrativ (vom Epos bis zum zeitgenössischen Roman) einsetzbar sind. Der Dialog verknüpft damit Theorien und Praktiken freund­ schaftlicher Interaktion; er partizipiert gleichermaßen an der Entwicklung einer Ethik wie an der Repräsentation eines Ethos der Freundschaft. Das gilt erst recht für die Dialoge in dramatischen Texten. Ihre sprachlichen Handlungsmuster, Sequenz­ muster und Strategien (vgl. Fritz 1994) lassen deshalb Rückschlüsse auf den Status und die Funktion der szenisch inszenierten Freundschaften zu, wobei neben den sachlich-informationellen und argumentativen Elementen die Aspekte phatischer Kommunikation (bei Malinowski: Kommunion, vgl. ders. 1923; Senft 2009) bedeut­ sam sind, also solcher Kommunikation, bei der es nicht um Informationsaustausch, sondern um Beziehungsaufbau und Beziehungsstabilisierung, d. h. um Anschluss­ kommunikation geht. An beiden Aspekten, der Ethik wie dem Ethos der Freundschaft, partizipiert auch die Lyrik, die als Gattung programmatischen wie erlebnishaften Sprechens nach beiden Seiten hin offen ist. Lyrik kann sowohl über Freundschaft und ihre Anfor­

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 Marina Münkler

derungen sprechen als auch den Freund adressieren, indem seine herausragenden Tugenden, seine Einzigartigkeit und Unverzichtbarkeit gelobt und gepriesen werden. Gerade weil für Freundschaft sowohl eine Ethik als auch ein Ethos entworfen worden ist, kann sie soziales und symbolisches Kapital im Sinne Pierre Bourdieus generieren. Hinsichtlich der Relevanz von Freundschaft für die Begründung, Stabili­ sierung und Differenzierung sozialer Ordnung ist es deshalb sinnvoll, neben Niklas Luhmanns Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien Pierre Bour­ dieus Begriff des sozialen Kapitals (vgl. Bourdieu 1983, 6 ff.) sowie die ihm zugrunde liegende Habitustheorie zu berücksichtigen. Habitus bezeichnet bei Bourdieu ein System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, die bestimmen, in welcher Weise Personen kommunizieren, wie sie sich kleiden, geben und verhalten (vgl. Bourdieu 1998, 99; Bourdieu 1970, bes. 37 ff.). Unter sozialem Kapital versteht er die „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegen­ seitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder […] Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983, 190 f.). Freundschaftsbe­ ziehungen können neben Verwandtschaft als solche Netze begriffen werden, mittels derer Individuen nicht nur in die Gesellschaft insgesamt, sondern in spezifische Teil­ systeme integriert werden, die ihnen den Zugang zu sozialer oder politischer Macht ermöglichen. Freundschaftliche Beziehungsnetze bedürfen jedoch fortwährender „Institutionalisierungsarbeit“, um die Reproduktion dauerhafter Bindungen zu gewährleisten, die als unbedingte Verpflichtungen erscheinen und den „Zauber des Geweihten“ (ebd., 192) in sich tragen. Kulturelles Kapital bezeichnet dagegen spezifische Aspekte wie den Zugang zu Bildungsressourcen und die Verfügung über relevantes Wissen, das durch seine inten­ sive Inkorporation einen spezifischen Habitus ausprägt (vgl. Bourdieu 1983, 185 f.; Bourdieu 1970). Die Verfügung über kulturelles Kapital reguliert dementsprechend häufig auch den Zugang zu freundschaftlichen Bindungen, und das gilt umso mehr, je stärker Freundschaft als Anspruchsbegriff formuliert oder repräsentiert wird. Nur wer über kulturelles Kapital verfügt, wird als freundschaftswürdig betrachtet. Das hat Frauen in der Tradition der entsprechenden Diskurse und Erzählungen lange Zeit nicht nur von der Entwicklung einer Freundschaftsethik, sondern, von wenigen Aus­ nahmen abgesehen, auch vom Ethos der Freundschaft ausgeschlossen.

2 Die Evolution der Freundschaftssemantik Neben der Liebe gehört Freundschaft zu den sozialen Semantiken, die geeignete Welt- und Selbstdeutungsmuster für die Strukturbildung von Inklusions- wie Exklusi­ onsindividualität zur Verfügung stellen. Während die stratifizierte, d. h. hierarchisch strukturierte Gesellschaft der Vormoderne Individualität als Inklusionsindividuali­

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tät begreift, in der der Einzelne Individualität nicht gegen, sondern mittels der Inte­ gration in seine soziale Schicht entfalten kann, bietet die moderne funktional dif­ ferenzierte Gesellschaft diese Möglichkeit nicht mehr. Aufgrund der funktionalen Differenzierung kann der Einzelne in seinem Stand nicht mehr vollständig aufgehen, sondern muss in verschiedenen Funktionen derjenige sein, der in den unterschied­ lichen Teilsystemen je gefordert ist. Da die Semantik von Freundschaft eng mit der Identitätsbildung und deren Aufrechterhaltung verbunden ist, muss sie sich dem­ entsprechend wandeln. Die Evolution der Freundschaftssemantik verläuft dabei von einer öffentlichkeitsbezogenen, sozio-politischen Vorstellung von Freundschaft, in der dieser eine herausragende Bedeutung für Konstituierung wie Bestand von Bür­ gerschaft respektive Herrschaft attestiert wird, über eine zunehmende Intensivierung und Pluralisierung hin zu einer Intimisierung von Freundschaft als gemeinsamem Erfahrungs- und Erlebnisraum, in dem der Freund als der einzige erscheint, der Zugang zur vollständigen und häufig widersprüchlichen Identität seines alter ego hat. Die Semantik von Freundschaft vermag damit horizontale und vertikale Vernet­ zung, Loyalität und Verbindlichkeit, Vertrautheit und Vertraulichkeit sowie Nähe und Distanz gleichermaßen zu regulieren. Lexikalisch zeigt sich das an den semantischen Transformationen der Begriffe Freund und Freundschaft. Das alt- und mittelhochdeutsche Lexem friunt/vriunt wird auf ein schwaches Verb zurückgeführt, das im Gotischen als frijōn (lieben) überliefert ist. Morphologisch betrachtet handelt es sich beim Substantiv frijōnds um ein Partizip Präsens (‚der Liebende‘). frijōnds bedeutet also zunächst: der Liebende, der in Liebe Verbundene. In der gotischen Bibel des Bischofs Wulfila entspricht frijōnds jeweils dem griech. phílos in der Vorlage (vgl. hierzu und zum nachfolgenden Nolte 1990). Die ursprüngliche Gebrauchssphäre von idg. *prijo- bezog sich nach Meinrad Schel­ ler 1. auf die „Bezeichnung der Zugehörigkeit des Körpers und seiner Teile“, 2. auf die „Bezeichnung der Blutsverwandtschaft“ (vgl. Scheller 1959, 73 f.). Bereits germ. *frijōnd hat nach Scheller die beiden Hauptbedeutungen Freund und Verwandter. Diese in der semantischen Forschung immer wieder behauptete Gleichsetzung (mit Differenzierungen: vgl. Green 2000, 57–59) ist freilich nicht wirklich überzeugend. In den althochdeutschen Glossen steht friond meist für lat. amicus, carus, cliens. Keines dieser Nomen hat im klassischen Latein die Bedeutung von Verwandter. Im Mittel­ lateinischen kann amicus auch für den Verwandten bzw. Verschwägerten gebraucht werden, aber die Bedeutung von verwandt ist nicht dominant und sie meint nicht in engerem Sinne blutsverwandt, sondern bezeichnet den weiteren Verwandtschaftsver­ band mit angesippten Verwandten. Nach Verena Epps grundlegender Untersuchung (vgl. Epp 1999) wurde im Früh­ mittelalter das lateinische Wort amicitia für vier unterschiedliche Beziehungsver­ hältnisse verwendet: die persönliche Freundschaft, die Klientel- bzw. Gefolgschafts­ beziehung, das (außen-)politische Bündnis, die geistliche Verbindung der Christen untereinander und mit Gott. Amicitia bezeichnete damit wechselseitige, wertbezo­ gene und religiös begründete Verpflichtungen, die zwischen zwei oder mehreren Per­

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sonen bestanden, kontraktuelle und affektive Aspekte umfassten und sich in beider­ seitigen Diensten äußerten. Verwandtschaft spielt dabei eine kleinere Rolle, als dies in der Forschung zur Semantik von Freundschaft immer wieder vertreten worden ist. Die Verwandtschaft bezeichnenden lateinischen Nomen cognatus, affinis, propinquus etwa, wurden mit ahd. mag übersetzt, consanguinis mit ahd. gisibbo. Das zeigt sich auch bei Notker (950–1022), bei dem die Gleichsetzung von amicus – friunt im Sinne des neuhochdeutschen Freund (vertraut, aber nicht verwandt) durch den jeweiligen Kontext eindeutig ist (Nolte 1990). In der Bedeutung des klass. amicus steht neben friunt in den Übersetzungen auch wini und trût. Wini bedeutet Geliebter, trût bezeich­ net den Vertrauten. Friunt sind häufig die Schwurbrüder, die ein Freundschaftsbund i. S. eines rechts­ förmigen Aktes verbindet (vgl. Nolte 1990). Das althochdeutsche friunt umfasst einen weiteren Kreis als die Blutsverwandtschaft, nämlich die Gesamtheit derer, die in der Lage und dazu verpflichtet sind, für einen Stammesgenossen rechtlich einzutreten. Die rechtlichen Verpflichtungen der Freundschaft werden durch eine Reihe von ahd. Glosseneinträgen bestätigt, in denen das lat. foedus, pactum, testamentum jeweils mit friuntscaf wiedergegeben wird. So reiht z. B. der Abrogans (lat.-dt. Glossar um 750): federis – friuntscaf – friuntskephi. Freundschaft hat damit einen rechtsverbindlichen, institutionellen Charakter. Das spricht dafür, dass friuntscaf dazu da war, das Band der Verwandtschaft zu ergänzen, wo dieses für die Organisation des herrschaftlichen Verbands nicht ausreichte. Wo das Band der Verwandtschaft brüchig wurde, war friunt­scaf umso stärker gefordert. Das zeigt sich etwa daran, dass friuntscaf in Berich­ ten über die Zerfallskämpfe des Karolingerreichs häufig verwendet wird. Ahd. friuntlaos bezeichnet demgegenüber das Fehlen eines loyalen Verbandes von Verbündeten und Getreuen. Im Hildebrandslied etwa wird Dietrich, der vor seinem Konkurrenten Odoaker nur von wenigen engen Gefährten begleitet in den Osten fliehen muss, von Hildebrands Sohn Hadubrand als friuntlaos man bezeichnet. Der Begriff freondlaos findet sich auch in angelsächsischen Rechtstexten und bedeutet dort, dass man keine Gefährten, also keine Schwurbrüder, Rechtshelfer, Stammesgenossen, Kampfgenos­ sen hat. Die im Mittelhochdeutschen häufig gebrauchte Formel friunt unde mage bezeich­ net den gesamten Schutz- und Hilfsverband eines Adligen, der neben den Freun­ den auch Verwandte umfasst. Das mittelhochdeutsche Wörterbuch von Benecke, Müller und Zarncke gibt folgende Bedeutungen für friunt an: a) „guter freund“; b) „der geliebte, gatte“; c) „der verwandte“; „bisweilen sind auch die vasallen mit ein­ geschlossen“. Lexers Mittelhochdeutsches Handwörterbuch nimmt als zusätzliche Bedeutung auf: d) „kriegs-, bundesverwan[d]ter“, d. h. alle, die durch Treuebindung dem Herrn zu Rat und Hilfe verpflichtet sind. Bei der Bedeutung c) wird aber in der Regel durch Zusätze deutlich gemacht, dass Verwandter gemeint ist. Häufig wird dann friunt durch erborn, anerborn ergänzt. Wie b) zeigt, gab es – wie beim Mittel­ lateinischen amicus oder dem altfranzösischen amîs – neben der auf die herrschaft­ liche Ordnung bezogenen, homosozial orientierten Semantik von vriunt auch die

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Bedeutung Geliebter oder Gatte. Die Überschneidung von Freundschafts- und Liebes­ semantik von vriunt kann sowohl für Personen bzw. Figuren männlichen als auch weiblichen Geschlechts verwendet werden, so etwa in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur, wo es über das Paar heißt, si was sîn friunt, er ir amîs. Die Vermischung der Semantik von Freundschaft und Liebe wird auch an den Synonymen von friunt/vriunt deutlich. Synonyme von friunt/vriunt sind u. a. geselle, trûtgeselle, günner, holde, liep­ haber, trûtgespil, wine. Geselle als Synonym zu vriunt wurde schon im Mittelalter häufig verwendet, im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit wird es zum dominanten Nomen für die Bezeichnung einer auf Loyalität und wechselseitigem Vertrauen beruhenden Bezie­ hung. In Loher und Maller (um 1437) etwa sprechen sich die beiden titelgebenden Freunde, die in unverbrüchlicher Treue miteinander verbunden sind, nahezu durch­ gängig als geselle an, Freund kommt dagegen nur an fünf Stellen vor. Solche Domi­ nanz von geselle oder geselschaft gegenüber freündt und freündschaft ist jedoch nicht die Regel; zumeist werden beide synonym verwendet und mit Adjektiven wie guot oder getreüw begleitet, was auf den axiologischen Anspruch der Nomen verweist. Seit dem 16.  Jahrhundert tritt die Bedeutung Vertrauter jedoch zurück und die Zugehö­ rigkeit zum Haus in den Vordergrund. Geselle bezeichnet dann in erster Linie den seinem Handwerksmeister treu dienenden und von ihm ausgebildeten Handwerker, der durch Hausgenossenschaft zur weiteren Familie des Meisters gehört. Auch der Handwerksgeselle partizipiert noch an den ethischen Anforderungen, aber diese sind nicht mehr dominant, sondern entwickeln sich in Richtung der Bezeichnung für einen Status. Seit der Frühen Neuzeit übernehmen Enzyklopädien und Lexika zunehmend die Aufgabe, Freundschaft zu definieren, wobei in der Regel eine Zweiteilung von Freund­ schaft in persönliche und zweckorientierte Beziehungen vorgenommen wird. Eine solche Zweiteilung zeigen die Artikel zum Thema Freundschaft in Johann Heinrich Zedlers Grosse[m] vollständige[m] Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste (1734–1754), das allerdings die deutschen Lexeme Freundschaft und Freund nicht verzeichnet, sondern sich der lateinischen Lexeme Amicitia und Amicus bedient. Mit Amicitia wird nicht der Beziehungsmodus, sondern die gleichnamige römische Göttin bezeichnet, eine Parallelpersonifikation zur griechischen Göttin Philotes. Ihre Beschreibung von Kopf bis Fuß repräsentiert die mit der Freundschaft verbundenen Werte und Normen: Die Göttin ist jung, weil man bemerken soll, dass Freundschaft niemals altert; ihr Haupt ist unbedeckt, weil sie jedem zu dienen bereit ist, ihr Kleid ist armselig, weil man daran erkennen soll, dass man sich vor einem Freund auch in ärmlicher Kleidung nicht schämen soll; am Saum des Kleides sind Mors et Vita (Tod und Leben) geschrieben, weil man erkennen soll, dass Freundschaft Treue bis in den Tod verlangt, etc. Zedlers Lexikon stellt damit die ethische Dimension der amicitia in den Mittelpunkt. Das Lexem Amicus dagegen bezeichnet die ethisch anspruchslose Geschäftspartnerschaft:

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Amicus ein Freund / die Correspondenten derer Kauff=leute werden also genennet dahero sagen die Kauff=leute offtermals, mein Freund hat mir dieses oder jenes geschrieben, sein Amico in Hamburg verschafft ihm die Waaren in einem guten Preis (Zedler 1734, Bd. 1, Sp. 1732).

Damit fallen die Semantiken von Amicitia und Amicus auseinander; Amicitia bezeich­ net einen vergangenheitsbezogenen Wertbegriff, von dem anzunehmen ist, dass er auch noch für die Gegenwart Gültigkeit haben soll, Amicus den zeitgenössischen Sprachgebrauch. Durch das Fehlen der Lexeme Freundschaft und Freund ist aller­ dings nicht feststellbar, wie weit dies auch für die deutschen Wörter gelten würde. Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (Bd. 2, Leipzig 1796, 285) verzeichnet unter dem Lexem Freundschaft aber eine ähnliche Doppelheit: Freundschaft, 1) die gegenseitige Anhänglichkeit, welche Personen von übereinstimmenden Gesinnungen für einander empfinden u. durch Handlungen, welche auf Förderung gegensei­ tiger Zufriedenheit u. Wohlseins gerichtet sind […]. F. heißt auch 2) der Umgang u. das Zusam­ menleben mit Personen, deren Neigung auf Einen Zweck gerichtet ist, zu dessen Verfolgung blos Selbsucht antreibt, der aber ohne Verbindung Mehrerer nicht erreicht werden kann.

In einem der Knotenpunkte der literarisch-kulturellen Konjunkturen von Freund­ schaft hat sich damit lexikalisch eine Ambiguität ausgebildet, die darauf verweist, dass das im 18. Jahrhundert literarisch verbreitete Pathos der Freundschaft (s. u.) die Vorstellung von Freundschaft keineswegs vollständig dominiert. Bemerkenswerterweise findet sich solch überschießendes Pathos aber unter dem Lexem Freundschaft im Damen Conversations Lexikon (1853), das Freundschaft sakra­ lisiert und sie dazu scharf von der Liebe abgrenzt: Freundschaft, ein heiliges, wenn nicht das heiligste Gefühl, oder vielmehr der reine Einklang aller Gefühle im Accorde des geselligen Lebens; ein oft mißbrauchtes Wort; ein Utopien, ein Traumland des Herzens; die Oase in der heißen Wüste des Daseins, an deren immerfrischer Quelle der müde, lechzende Wanderer nach allen Stürmen ausruht und sich erquickt, um den heiligen Ort seiner Bestimmung zu erreichen. […] Sie reißt nicht hin, wie die Liebe, aber sie zieht an, dauernd; sie glüht und strahlt nicht, wie die Liebe, aber sie wärmt und erhellt; sie verzehrt und schmachtet nicht stürmisch und krank, wie die Liebe, aber sie sehnt sich, glücklich zu machen und im fremden Glück das ihrige zu finden. Nur die redlichsten Herzen sind wahrer Freundschaft fähig, für Liebe hingegen ist fast jedes Gemüth empfänglich. Liebe ist Leiden­ schaft, Freundschaft Ruhe. (Ebd., 253)

Gegen die Tradition, die Freundschaft männlich codiert, leitet das Damen Conversations Lexikon daraus den Vorzug weiblicher Freundschaften ab: Nach allem dem hier Gesagten ergibt sich der natürliche Schluß, daß Freundschaft im weibli­ chen Herzen leichter Wurzel fassen und sich nähren kann als im männlichen, da dieses, leiden­ schaftlicher von Natur, im Ganzen für dieses ruhige Gefühl weniger Anhaltspunkte bietet. […] Freundschaft also ist vor Allem eine weibliche Tugend; Freundschaft unter Männern ist darum

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seltener, am seltensten zwischen Männern von gleichem Geschäfte. […] So viel ist gewiß: Freund­ schaft wohnt gern in einem leidenschaftslosen, frommen, sich selbst verläugnenden Herzen; Ruhe aber, Frömmigkeit und Selbstopferung, sind vorzugsweise Eigenschaften einer unverderb­ ten Weiblichkeit. (Ebd., 253 f.)

Mit Pathos versucht der Artikel offenbar aufzuwiegen, was Frauen in großem Umfang verschlossen bleibt: der Zugang zu Freundschaftsnetzwerken und dem damit verbun­ denen sozialen und kulturellen Kapital. Demgegenüber geht Meyers KonversationsLexikon von 1907 unter dem Rubrum Freundschaft wieder ganz selbstverständlich von einer Dominanz männlicher Beziehungen aus, die in erster Linie ständisch codiert und an einen spezifischen Habitus gebunden sind: Freundschaft ist das auf gegenseitiger Wertschätzung beruhende und von gegenseitigem Ver­ trauen getragene freigewählte gesellige Verhältnis zwischen Gleichstehenden. Zwischen Perso­ nen, die, sei es äußerlich (in sozialer Hinsicht), sei es innerlich (ihrer geistigen und sittlichen Entwickelung nach) auf sehr ungleichen Stufen stehen, ist eigentliche F. ausgeschlossen, weil sie unmöglich den gleichen Wert füreinander haben können; hier tritt an Stelle derselben das Verhältnis der Gönnerschaft des Höherstehenden zum Niedrigerstehenden (z. B. des »großen Herrn« zum »kleinen Mann«, des reifen Mannes zum Jüngling, des Meisters zum Schüler), das seine Ergänzung findet durch das Respekts- oder Pietätsverhältnis des letztern zum erstern. (Ebd., 96)

Funktionale Differenzierung ist in dieser Definition stark von ständischer Codierung überformt, was zu einer extremen Asymmetrisierung solcher Beziehungen führt, die nicht als soziales Kapital dienen. Solche asymmetrischen Codierungen verschwinden in der Gegenwart völlig. Auch ethische Anforderungen werden zwar noch formuliert, aber sie werden als freiwillig beschrieben und damit aus einem Anforderungs- und Bewährungsprofil in ein persönlichkeitsbezogenes Modell ohne soziale Rückbindung und Kontrolle transformiert. So definiert die Brockhaus-Enzyklopädie von 1988 (Bd. 7, 654 f.) Freundschaft als Form sozialer Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Partnern, die durch gegenseitige Anziehung und persönlichkeitsbezogene Vertrautheit und durch Achtung bestimmt ist und Hilfs- und Opferbereitschaft und freiwillige Verantwortung für den anderen einschließen kann, im Unterschied zu zweckbedingten partnerschaftlichen Verbindungen.

Die ethische Dimension von Hilfs- und Opferbereitschaft ist damit nunmehr aus einer Sollens- in eine Kann-Bestimmung transformiert worden, die für die Beurteilung von Freundschaften nicht mehr als Maßstab fungieren kann. Das entspricht dem Anforde­ rungsprofil der funktional differenzierten Gesellschaft. Wo Freundschaft privatisiert worden ist, kann sie nur noch das leisten, wofür ihr die funktionale Differenzierung Platz lässt, und das kann nur das sein, was mit der dafür erforderlichen Entschei­ dungsfreiheit vereinbar ist.

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3 Historische Aneignungen und Transformationen der Freundschaftssemantik 3.1 Historischer Abriss Sowohl in der ritterlich-aristokratischen als auch in der philosophisch-ethischen Tra­ dition ist Freundschaft öffentlich, und zwar in dem doppelten Sinne, dass sie öffent­ lich bekundet wird und öffentliche Wirksamkeit im Hinblick auf die Strukturierung der Gemeinschaft erlangt. Anders als Liebe, die im Mittelalter erst durch starke Subli­ mierung und Poetisierung gesellschaftsfähig gemacht werden kann, ist Freundschaft auf die Gesellschaft und ihre Beziehungsrepräsentation bezogen. Liebe tendiert zur Heimlichkeit, zur Abkehr von den gesellschaftlichen Verpflichtungen oder gar zur Negierung der gesellschaftlichen Ordnung, während Freundschaft öffentlich bekun­ det wird, wechselseitige Anerkennung voraussetzt und die gesellschaftliche Ordnung durch die Freiwilligkeit und emphatische Begründung der wechselseitigen Verpflich­ tungen stützt. Die Ausbildung eines gesellschaftlichen Tugendsystems ist in Antike und Mittelalter daher eng an den Begriff der Freundschaft gebunden. Freundschaft im Mittelalter bestimmt sich zunächst vor dem Hintergrund der Konstruktionen sozialer Ordnung in vorstaatlichen, aber hierarchisierten Gesell­ schaften, in denen eher personale Bindungen als institutionelle Arrangements den Zusammenhalt garantieren (vgl. Althoff 1990; Garnier 2000). Als horizontale wie vertikale Bindung innerhalb des Adels steht sie neben Verwandtschaft (vgl. Althoff 1990; Rexroth/Schmidt 2007) und Patronage (vgl. Eisenstadt/Roniger 1984; Asch 2011) als den weiteren Organisations- und Stabilisierungsformen sozialer Ordnung. Das schließt emotional grundierte, persönliche Nahbeziehungen nicht aus, sondern begünstigt sie vielmehr, insofern emphatische Beziehungen als zusätzliches stabili­ sierendes Element fungierten, es führt aber zu Problemen, wenn sich daraus unter­ schiedliche Imperative ergeben, die miteinander in Konflikt geraten (vgl. van Eickels 2004; Oschema 2005; 2006). Als wichtiger Aspekt mittelalterlicher Freundschafts­ semantiken ist neben den innerweltlichen Freundschaftskonzeptionen die amicitia spiritualis (vgl. Langer 1994) zu betrachten, die ihren Ort keineswegs nur im Kloster, sondern auch außerhalb der Orden in religiösen Laiengemeinschaften hat. Grundlage der spirituellen Freundschaft ist nicht zuletzt die Konzeption der Gottesfreundschaft, die Gott als spirituell stabilisierendes Element bis in den Pietismus und die von ihm beeinflussten Strömungen der Empfindsamkeit in die Struktur von Gemeinschaften integrierte und ihnen auf diese Weise einen transzendenten Horizont verlieh. Um Freundschaft als besondere Anspruchsbeziehung sichtbar zu machen, ist sie mit einer Reihe ritualisierter Handlungen verbunden. Zu den traditionellen Ritualen von Freundschaft gehört neben der Umarmung der Kuss (vgl. Manger 2006; Martin 2006). Zeitgenössisch vorwiegend an der französischen Tradition des mehrfachen Wangenkusses orientiert, war er seit der Antike als Mundkuss ein vom Liebeskuss

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nicht leicht zu unterscheidendes, aber diskursiv stets unterschiedenes Ritual bei Begrüßung und Abschied, wurde aber auch im Rahmen politischer Verhandlungen, insbesondere bei Friedensschlüssen, sowie im liturgischen Kontext, als Zeichen fried­ licher und freundschaftlicher Übereinstimmung, eingesetzt (vgl. Münkler/Standke 2015, 9–23). Entgegen dem rituellen Gebrauch wurde dem Freundschaftskuss diskur­ siv wie literarisch im Mittelalter wie in der Frühen Neuzeit und erst recht im 18. Jahr­ hundert das Signet der Spontaneität des Gefühlsausdrucks aufgeprägt. Der Humanismus wird häufig als Hochkonjunktur, das 18. Jahrhundert gar als das ‚Jahrhundert der Freundschaft‘ bezeichnet. Zweifellos gehören beide, Humanismus und 18. Jahrhundert, zu jenen Phasen, die sich durch einen inflationären Gebrauch der Freundschaftssemantik auszeichnen. Dafür können sozial-, bildungs- und litera­ turgeschichtliche Gründe angeführt werden. Die Bewegungen des Humanismus und der Aufklärung erfassten nur relativ kleine gebildete Schichten des Bürgertums. Die sie bejahenden Gruppen huldigten deshalb häufig dem Ideal der Freundschaft und der Zweisamkeit, das die erforderliche Netzwerkbildung emphatisch überhöhte. Einen weiteren Höhepunkt einer stark gruppenorientierten Freundschaftsseman­ tik bildete die Jugendbewegung des späten 19. und 20.  Jahrhunderts, insbesondere die Wandervogel-Bewegung (1896–1913), aber auch die Bündische Bewegung (1919– 1933), die zum großen Teil in der Hitlerjugend aufging. Sie förderten die Semantik einer gemeinschaftsbezogenen Freundschaft. Die beiden Weltkriege führten dann dazu, dass die Semantik von Freundschaft von der Kameradschaftssemantik überla­ gert wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg und infolge des zunehmenden Individualismus seit den sechziger Jahren wird Freundschaft zunehmend zu einem Adoleszenzphänomen, das einerseits durch Auflehnung gegen die Elterngeneration, andererseits durch Erlebnishaftigkeit und gemeinsame Liminalitätserfahrungen gekennzeichnet ist. Seit den 2000er Jahren lässt sich beobachten, dass die durch die neuen Medien bewirk­ ten Transformationen bei zunehmendem Individualismus zugleich eine Lockerung und eine höhere Stabilität bestehender Freundschaften auch über große räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg ermöglichen. Sie sind Teil einer Identitätspolitik, die eine Geschichte sich permanent fortsetzender und gleichzeitig endlos erweiter­ barer stabiler Beziehungen suggeriert. Dadurch verwischen erneut die Grenzen von Freundschaft, Bekanntschaft und Netzwerkbildung, was für die hochgradig individu­ alisierten Lebensentwürfe unabdingbar ist. Die Kommunikationen werden bei gleich­ zeitiger Steigerung von Intimität entpersönlicht; was man unter anderen medialen Bedingungen nur seinem engsten Freund anvertraut hätte, wird nun mit einer großen Zahl von Personen kommuniziert. Es entsteht so ein Kommunikationsmodus, in dem die Unterscheidung zwischen Freunden und Fremden mehr oder weniger hinfällig wird, weil Kommunikation mit Freunden gegenüber Fremden kaum noch abgeschirmt werden kann, dies teilweise, wie verschiedene Blogs und youtube-Videos demonstrie­ ren, aber auch gar nicht mehr soll.

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3.2 Die politisch-ethische und die sozio-moralische Tradition Für die literarische Geschichte der Freundschaftssemantik ist der Tugenddiskurs ein zentraler Anknüpfungspunkt. In der antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitli­ chen Tradition spielt der Freundschaftsbegriff für die Behandlung ethischer Fragen eine zentrale Rolle; freilich ist Freundschaft hier kein Code der Intimität, sondern ein Code der Sittlichkeit. Freundschaft impliziert als kontinuierliche Konnotation Vertrauen und Vertraulichkeit, aber nicht unbedingt Privatheit. Hierin liegt eine der entscheidenden Differenzen der modernen gegenüber vormodernen Vorstellungen von Freundschaft. In der antiken Ethik wird Freundschaft als das Vehikel sittlicher Vervollkommnung und als Stifterin von Gemeinsinn betrachtet. Aristoteles betrachtet die Freundschaft als Perfektionsform des Sozialen, in der die idealen Merkmale einer politischen Gemeinschaft vollkommen realisiert werden. Er behandelt sie deshalb in der Nikomachischen Ethik, in deren Aufbau sie das Verbindungsglied zwischen dem Einzelnen und der Stadt, den Übergang von der Ethik zur Politik bildet. Nach der aristotelischen polis-Konzeption reichen Recht und Gerechtigkeit allein nicht aus, um eine echte Gemeinschaft zu bilden. Gemeinschaft wird erst durch die über dem Reich der dike liegende Sphäre geschaffen, in der man dem Anderen mehr zubilligt als ihm nach Recht und Gesetz zusteht (epieikeia). Für Aristoteles ist dies eine zent­ rale Voraussetzung für das Funktionieren der polis, denn nur dort, wo die Menschen befreundet sind, herrschen die Göttinnen der Eintracht (homonoia) und der Gerech­ tigkeit (dikaiosyne). Die Erfahrung lehrt auch, daß Freundschaft die Polisgemeinden zusammenhält und die Gesetz­ geber sich mehr um sie als um die Gerechtigkeit bemühen, denn die Eintracht hat offenbar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Freundschaft. […] Sind die Bürger einander freund, so ist kein Rechtsschutz nötig, sind sie aber gerecht, so brauchen sie noch außerdem die Freundschaft […]. (Nikomachische Ethik, VIII, 1, 182)

Allerdings ist nicht jede Form der Freundschaft vollkommen. Vollkommen ist die Freundschaft nur als Tugendfreundschaft, die durch Vertrauen und Stabilität gekenn­ zeichnet ist, während die Lust- und Nutzenfreundschaft lediglich auf ihren Zweck bezogen sind und mit dessen Erfüllung vergehen. An der Dreiteilung des Freundschaftsbegriffs in Lust-, Nutzen- und Tugendfreund­ schaft orientiert sich in der römischen Ethik insbesondere Cicero, wobei er jedoch die Tugendfreundschaft sehr viel stärker von der Nutzenfreundschaft abhebt als Aristote­ les. In seinem Dialog Laelius de amicitia formuliert Cicero mittels der Gestalt des mit seinem Freund Scipio Africanus als Vorbild präsentierten Laelius einen codex legum amicitiae, dessen Kern die Definition der wahren Freundschaft als omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio (Laelius, 154) bildet. Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als die Übereinstimmung in allen irdischen und überirdischen Dingen, verbunden mit Zuneigung und Liebe. (Ebd., 155)

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Das bedeutet aber keineswegs, dass Freundschaft als rein persönliche Nahbeziehung bestimmt worden wäre. Die persönliche Beziehung unterliegt dem Code des Politi­ schen und dessen Orientierung an Gemeinwohl und Gemeinsinn, dessen Grundlage sie bildet. Freundschaft gilt Cicero als zentrale Voraussetzung für die Stabilität der Gemeinschaft: Schafft man aber die Verbindung, die aus der Sympathie erwächst, aus der Welt, dann kann keine häusliche Gemeinschaft, keine Stadt mehr bestehen, und nicht einmal die Bestellung der Felder kann weitergeführt werden. (Ebd., 159)

Freundschaft ist damit das zentrale Element einer gänzlich auf Gemeinschaft und Gemeinsinn hin orientierten Identitätspolitik, die den Anforderungen einer stratifi­ zierten Gesellschaft entspricht. Wahre Freundschaft, so Laelius, kann es nur unter den viri boni (tugendhaften Männern) geben, die sich durch Beständigkeit, Festigkeit, insbesondere aber Treue (fides) auszeichnen. Die tugendhaften Männer sind grund­ sätzlich Angehörige der herrschenden Oberschicht, die für das Wohl der politischen Gemeinschaft, der res publica, Sorge zu tragen haben. Tugend ist demnach der Code ihres Herrschaftsanspruchs. Die Liebe gibt den ersten Impuls, ein Band der Freundschaft zu knüpfen, aber erst die Tugend kann sie wirklich hervorbringen, denn: gerade die Tugend ist es, die Freundschaft hervorbringt und zusammenhält, und es kann Freundschaft ohne die Tugend unter keinen Umständen geben. (Ebd., 155)

Tugend (virtus) ist aber nicht nur Ursache und Maßstab der Freundschaft, sondern auch ein politischer Kampfbegriff, der eine Grenzlinie innerhalb der herrschen­ den Schicht zieht. Wer untugendhaft zu seinem eigenen Vorteil agiert, verliert den Anspruch auf wahre Freundschaft und damit zugleich die Legitimität seines Machtan­ spruchs. Die Dreiteilung von Freundschaft in Lust-, Nutzen- und Tugendfreundschaft führt somit nicht nur terminologische Differenzierungen ein, sondern Scheidelinien im Kampf um die Vorherrschaft in der res publica. Niemals, so Laelius, dürfe man daher vom Freund Untugendhaftes verlangen oder dem Freund, der Untugendhaftes verlangt, nachgeben. Tugendhaftigkeit aber ist – wie Ciceros Laelius, dessen Tugend­ freundschaft mit Scipio Africanus dem Jüngeren innerhalb des Dialoges als Vorbild fungiert, seinen Schwiegersöhnen vermittelt – ein seltenes Phänomen, weil Rom von Nutzenfreundschaften beherrscht wird, die sich den Staat zur Beute machen. In der Einschätzung der Gesellschaft machte Cicero Tugendfreundschaft damit zur Ausnahme, diskursiv jedoch für lange Zeit zur Regel. Da Selbstbeschreibun­ gen selten ohne Selbststilisierungen auskommen, lässt sich beobachten, dass der Tugendfreundschaft in der Geschichte der Freundschaftsethik und damit auch des Freundschaftsbegriffs immer wieder der Vorzug gegeben wurde. Zur Lust- und Nut­ zenfreundschaft mochte sich niemand bekennen. Beide wurden zweifellos gepflegt, aber nicht zur Norm erhoben oder gar gepriesen, was freilich nicht verhindert hat,

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dass politische, ökonomische und soziale Vorteile in der Begründung und Pflege von Freundschaften eine zentrale Rolle spielten und spielen. Insbesondere der Nutzen­ freundschaft haftet seit ihrer Verdammung durch Cicero der Ruch der Falschheit, der Verlogenheit und der Korruption an, weswegen in der Geschichte des Freundschafts­ diskurses auch kaum noch versucht wurde, Differenzierungen einzuführen, die eine Unterscheidung zwischen Beziehungspflege sowie politischer Verbindlichkeit und eigennütziger Speichelleckerei etabliert hätten. Für die Frühe Neuzeit war Ciceros Laelius von großer Bedeutung. 1535 wurde er unter dem Titel Marci Tulij Ciceronis verdeutschts Büchle/von dem Lob und vnderweysung der freündschaft ins Frühneuhochdeutsche übersetzt (vgl. Kühlmann 2008, 211; Braun 2001, 291–295) und zugleich terminologisch an zentralen Stellen umcodiert. Ciceros Konzeption der Tugendfreundschaft wurde nicht nur mit der christlichen Nächstenliebe gleichgesetzt, sondern auch mit der universalen Liebe, die auch die Feindesliebe einbezog. Semantisch erfolgte die Transformation von der Tugend­ freundschaft zur universalen Liebe dadurch, dass virtuosus (tugendhaft) mit früm übersetzt wurde. Damit wurde der exklusive Charakter der Tugendfreundschaft negiert, der für Ciceros Konzeption entscheidend war. Die politischen Klugheitslehren des 16. und 17. Jahrhunderts, deren sozialer Ort der Hof mit seinen strengen Hierarchisierungen und undurchsichtigen Einflusssphä­ ren war, versuchten dagegen, ein sozial belastbareres und enttäuschungsresistente­ res Modell zu etablieren. Die neuerliche semantische Transformation funktionierte darüber, dass das Misstrauen in den Freundschaftsdiskurs eingeführt und als Vor­ sicht beschrieben wurde, die nicht nur, wie bei Cicero, in den Anfängen der Freund­ schaft als Prüfung des Freundes gedacht war, sondern als dauerhafte reservatio mentalis. Schon in Baldassare Castigliones Cortegiano (1528), der im 16. Jahrhundert zweimal, nämlich 1565 und 1593 (vgl. Burke 1996, 80), ins Deutsche übersetzt wurde, wird Misstrauen gegenüber dem Freund als eine aus bitterer Erfahrung gewonnene Klugheitsregel formuliert: Da es mir jedoch mehr als einmal passierte, von dem getäuscht zu werden, den ich am meisten liebte und in den ich vor jedem anderen das Vertrauen setzte, geliebt zu werden, habe ich zuwei­ len bei mir gedacht, daß es gut sei, sich niemals auf einen Freund zu verlassen und sich einem Freund, so teuer und geliebt er auch sei, nicht derart zur Beute zu geben, daß man ihm ohne Vorbehalt alle seine Gedanken mitteilt, wie man es sich selbst gegenüber tun würde (Cortegiano, 147).

Die soziale Differenzierung des Hofes machte es unmöglich, sicher zu wissen, wer tugendhaft war und wer nicht und wie lange er es blieb. Sie machte auch Ansprü­ che an die eigene Tugendhaftigkeit obsolet, weil der Tugendhafte als der Dumme erschien, der nicht in der Lage war, auf die soziale Differenzierung mit einer Differen­ zierung seines emotionalen Haushalts zu reagieren. Cicero fand seinen Platz daher eher in bürgerlichen Kreisen, die an Macht und Herrschaft noch nicht beteiligt waren und deshalb Tugend weiterhin als Grundlage

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von Freundschaft und Vertrauen formulieren konnten. Eng an Cicero orientierte sich etwa Georg Philipp Harsdörffer, der in seinen Frauenzimmer Gesprächspiele[n] (1646) postulierte, bei der Wahl eines Freundes müsse man auf dessen Rechtschaffenheit achten. Hatte man diese erst einmal festgestellt, erübrigte sich jede weitere Vorsicht und die Tugendfreundschaft konnte als Vertrauensbeziehung gefeiert werden, die alle sozialen Funktionen gleichzeitig übernehmen konnte: Die Tugendfreundschaft ist die löblichste Wollust in diesem Leben  / die Hüterin der Gemein­ schaft unter den Menschen / die Tröst- und Helfferin in den Nöthen / und die Theilhaberin unsrer geheimsten Gedancken (Frauenzimmer Gesprächspiele, 361).

Wie Cicero lehnte Harsdörffer jede Form der Nutzenfreundschaft ab und charakte­ risierte sie als „falsche Freundschaft“, deren „schändliche Höflichkeit  / eine ver­ dekkte Lügenkrämerei“ (ebd., 362) sei. Wie unschwer zu erkennen ist, richtete sich die Ablehnung der Nutzenfreundschaft gegen die Höfe und ihre galanten Konversati­ onsformen, die als Unaufrichtigkeit gebrandmarkt wurden. Kritik an den Höfen war im 16. und insbesondere im 17. Jahrhundert ubiquitär und wurde auch in zahlreichen Sprichwörtersammlungen verbreitet. Eine ähnliche Stoßrichtung gegen die Unaufrichtigkeit formulierte auch der als Sprachforscher bekannte Justus Georg Schottelius in seiner 1669 erschienenen Ethica. Schottelius orientierte sich ebenfalls an Cicero, rückte aber die emotionale Basis der Freundschaft noch stärker in den Mittelpunkt, indem er sie als „ehrliche, offenbare Liebe und Gegenliebe“ beschrieb, die aber weiterhin dem Modell von Tugend und Ehre verpflichtet blieb (Ethica, 594 f.). Ein gänzlich anderes Freundschaftsmodell hat dagegen Michel de Montaigne ent­ wickelt. Er bezieht Freundschaft nicht auf die politische Ordnung und deren Bestand, sondern allein auf die Möglichkeit, sich selbst in einem anderen zu erkennen und mit ihm als alter ego in eine intime Kommunikation einzutreten, die Freundschaft als Offenbarungsraum des Selbst etabliert. Für Montaigne wurde das Ich zum Ich, indem es zum Du eines anderen wurde, den es zugleich zu seinem Ich machte. Eine so intime Freundschaft, die intern die Möglichkeit zu absoluter Vertrautheit und Vertraulich­ keit eröffnete, war nach außen nicht mehr kommunizierbar. Auf die Frage, warum er Etienne de la Boétie geliebt habe, so schrieb Montaigne in seinem Essai del amitié, könne er nur antworten, „weil er er war, weil ich ich war“ (Von der Freundschschaft, 101). Im ausgehenden 17. und 18.  Jahrhundert, das als das Jahrhundert der Freund­ schaft gilt, spielte die Bedeutung der Freundschaft für die Begründung einer Tugend­ ethik dagegen kaum noch eine Rolle. Die literarische Bedeutung der Freundschaft wuchs, aber für die Begründung der Ethik verlor sie in dem Moment an Relevanz, als begonnen wurde, die Moral aus der Natur bzw. dem Naturrecht und der Vernunft zu begründen. So bezeichnete es Christian Thomasius als Irrtum, die Freundschaft zur Grundlage der Norm des Guten zu machen (vgl. Vollhardt 2001, 191 f.):

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Die meisten Irrthümer kommen daher / daß die Weltweisen disputiren / ob die Eigenliebe oder die Freundschafft  / die Norm des Guten sein solle  / das ist  / ob die Eigenliebe die Norm der Freundschafft / oder die Freundschafft die Norm der Eigenliebe seyn solle. Weiser Leute Eigenliebe und Freundschafft sind einander gleich / nicht entgegen gesetzet. Denn es giebt eine gesunde und verdorbene Eigenliebe  / es giebt eine kluge und närrische Freund­ schaft. Demnach kann keines von beyden des anderen Norm sein (Christian Thomasius 1709, 1, IV, 41 f.).

Und auch Christian Fürchtegott Gellert, der ihr in Gedichtform einen Lobpreis gesun­ gen hatte, ließ sie in seinen Vorlesungen über Freundschaft nur dann gelten, wenn sie sich der Tugend unterordnete. In so weit also die Freundschaft eine gleichseitige Übereinstimmung des Charakters und eine von der Natur veranstaltete Aehnlichkeit des Gemüths voraussetzt, in so weit kann sie keine allgemeine Pflicht sein. Und in so weit wir bloß dieser Stimme der Natur, die unsere Herzen ein­ ander zuführen will, gehorchen, in so weit ist es noch keine Tugend (Vorlesungen über Freundschaft, 258).

Freundschaft wird damit der Erfüllung anderer Tugenden nachgeordnet. Entschei­ dend dafür war nicht zuletzt die auch bei Kant erfolgte Umstellung von der Tugen­ dethik zur Pflichtethik, die keines Bezugs auf einen anderen mehr bedurfte. Das eröff­ nete die Möglichkeit einer Emotionalisierung der Moral bei gleichzeitigem Rückzug der Freundschaft auf die Privatsphäre.

4 Freundschaftskonstellationen 4.1 Freundschaftsnetzwerke Die Bildungsbewegung des Humanismus, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhun­ derts auch in Deutschland Fuß fasste, führte zu einer Gruppenbildung, die in erster Linie durch Reisen erfolgte. Deutsche Studenten zogen in die Zentren des Humanis­ mus in Italien, wo sie die studia humanitatis und einige der berühmten italienischen Humanisten wie Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola kennenlernten. In Deutschland war die Gruppe der Humanisten jedoch sehr viel kleiner als in Italien, vergleichbare Institutionen wie die Florentiner Akademie fehlten und die deutschen Universitäten wurden von den Scholastikern beherrscht. Um ihre Bildungsbestre­ bungen und das neu erworbene Selbstbild zu verwirklichen, mussten die deutschen Humanisten sich nach dem Vorbild des italienischen Humanismus zusammenschlie­ ßen und untereinander intensive Netzwerke begründen und pflegen. Dazu dienten ihnen das Reisen, der Briefverkehr und die Gründung von Freundschaftsbünden. Auf den teils ausgedehnten Reisen der Humanisten suchte man bevorzugt die besonders angesehenen humanistischen Gelehrten auf, bei denen man in der Regel zuerst sein

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Stammbuch vorlegte, in das die schon bestehenden Kontakte eingetragen waren (vgl. Trunz 1931, 34 f.). Auf diese Weise ergaben sich Gespräche über Fragen der Literatur und der Bildung. Die Stammbücher bildeten eine ‚Philothek‘, ein Verzeichnis der lite­ rarischen Freunde, in das diese sich mit eigener Hand eintrugen. Um neue Kontakte aufzunehmen oder bestehende zu verstetigen, war der Brief die wichtigste Ergänzung oder Alternative. Die dadurch erfolgende Netzwerkbil­ dung funktionierte über die Semantik von Freundschaft. Man trug einem anderen Gelehrten die Freundschaft an (amicitiam offere) und dieser nahm sie an (in amicitiam accipere). Daraus ergaben sich regelrechte Freundschaftsnetzwerke, denn man hatte nicht selten 30 bis 50 Freunde, die ihrerseits über einen ähnlich großen oder noch größeren Freundeskreis verfügten (vgl. Trunz 1931, 38). Von daher lag es nahe, Freundschaftsbünde zu gründen. 1495 gründete Konrad Celtis in Heidelberg die Sodalitas literaria Rhenana. Ihr Vorbild war der Freundeskreis des italienischen Humanisten Marsilio Ficino, der sich seinerseits an der Platonischen Akademie ori­ entierte. Man traf sich zu regelmäßigen Gesprächen und Symposien, bei denen unter­ schiedliche Themen besprochen wurden. Die humanistischen Freundschaftsbünde zelebrierten ihre geistige Verbundenheit in Fragen der Bildung, der Wissenschaften, der Gelehrsamkeit und der Begeisterung für die Antike und die von ihr verkörperten Tugenden in Abgrenzung von ihren scholastischen Gegnern. Freundschaft war für die Humanisten deshalb „nicht nur ein selbstverständliches philosophisches Thema, sondern geradezu die Bedingung ihrer Existenz“ (Rädle 2014, 161). Auch im 18.  Jahrhundert bildeten sich Freundschaftskreise, allerdings mit geringerer Institutionalisierung. Der Status des freien Schriftstellers verlangte, zwi­ schen Konkurrenz und Korrespondenz oder Kooperation zu changieren. Auf dieser Grundlage bildeten sich semi-private Freundeskreise, bei denen es sich zumeist um pietistische oder anakreontische Dichterbünde handelte. Der bekannteste anakreon­ tische Dichterkreis war der Halberstädter Dichterkreis um Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der ein breites Beziehungsnetz um sich herum gesponnen hatte. Gleim, der sich selbst in erster Linie über seine Freundschaftspflege definierte und der Freund­ schaft in seinem Haus einen Tempel errichtete, entfaltete einen regelrechten Freund­ schaftskult und wurde auf diese Weise nicht nur wegen seiner Großzügigkeit zu einem begehrten Freund, sondern auch, weil man über ihn mit zahlreichen anderen Dichtern in Kontakt treten konnte. Wichtigstes Dokument seines schon zu Lebzeiten legendären Freundschaftskultes waren die zwischen 1746 und 1771 von ihm veröffent­ lichten vier Bände von Freundschaftliche[n] Briefe[n]. Sie priesen das stille Glück des gesellschaftlichen Abseits mit geselligem Zusammentreffen, geistvoller Unterhaltung und freundschaftlichem Verstehen (vgl. Hermand 2006, 20). Der Ton der Briefe ist idyllisch-verspielt (vgl. ebd., 21), was einen hohen Grad persönlicher Verpflichtung aber keineswegs ausschließt. Neben Gleims anakreontischem Freundschaftskreis gab es auch politischere Freundschaftskreise, wie etwa den Göttinger Hainbund, dessen Publikationsorgan seit 1770 der von Heinrich Christian Boie herausgegebene Musenalmanach war. Sechs

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junge Dichter schlossen am 12. September 1772 in der Nähe des Dorfes Weende unter einer Gruppe von Eichen einen „ewigen Bund der Freundschaft“ und verpflichteten sich durch einen Eid, ihr Leben fortan in den Dienst der Tugend, des Vaterlandes und der Freiheit zu stellen (vgl. Lüchow 1995; Hermand 2006, 22). Sie gaben sich Freund­ schaftsnamen wie Bardenbold, Gottschalk oder Minnehold, um auf diese Weise ihre Verbundenheit mit der deutschen Dichtertradition hervorzuheben. Die politische Dimension wurde dabei ästhetisch überlagert und semantisch überhöht. Es ging nicht mehr nur um die Konstruktion einer persönlichen Identität, die in einer sich zuneh­ mend funktional differenzierenden Gesellschaft ihren Platz selbst suchen musste, und nicht mehr nur um den Anspruch auf Teilhabe an der Macht, sondern auch um die Konstruktion einer Vergangenheit, in deren Kontinuität man sich sehen konnte. Freundschaftsnetzwerke blieben nicht auf das 18. Jahrhundert und die Empfind­ samkeit beschränkt. Sie formten sich immer wieder neu, wobei neben dem Modell der Vereinigung Gleichgesinnter auch das Modell des sich um einen messianisch insze­ nierten Charismatiker scharenden Kreises von Jüngern ausgeprägt wurde. Ein solches Modell war insbesondere im frühen 20. Jahrhundert für den George-Kreis kennzeich­ nend (vgl. Egyptien 2012). Stefan George bildete das Zentrum einer Verehrungsge­ meinschaft, in der zwar alle, die sich um ihn scharten, selbst als Dichter Anerken­ nung beanspruchten, aber George als ihren Leitstern verehrten. George modellierte seinen Freundeskreis nach dem Vorbild Christi und seiner Jünger, wie eine von ihm veröffentlichte Dichtertafel demonstriert, die, mit Georges Porträtfoto im Zentrum, um ihn herum zwölf seiner Dichterfreunde in unterschiedlicher Größe und damit subtil hierarchisiert zeigt (vgl. Karlauf 2007, 336–340; Bildtafel nach 256). In dem Knaben Maximin, eigentlich Maximilian Kronberger, um den George sich zeitweise intensiv bemühte, bildete er sich auch seinen Lieblingsjünger Johannes, der freilich vor dem Meister starb und dann zum Gegenstand eines intensiven Totenkults wurde.

4.2 Dichterfreundschaften Einzelne und enge bis intime Künstlerfreundschaften, von denen es bis heute zahlrei­ che gibt, haben sich häufig aus einer Geste der Abgrenzung entwickelt, die aus unter­ schiedlichen Gründen entstehen konnte: fehlender Anerkennung, mangelnder Ver­ netzung, ideologischer Ächtung. In der funktional differenzierten Gesellschaft sind sie ein entscheidendes Forum der Anerkennung, insofern die wechselseitige Wert­ schätzung als Ersatz gesellschaftlichen Ansehens fungieren oder diese überbieten kann. Die Dichterfreundschaft bildet damit häufig zugleich ein elitäres Konzept, das als wechselseitige Zuschreibung von Exzellenz und Genie den Anspruch auf höchste Geltung des jeweiligen Werks formuliert und stabilisiert. Häufig etabliert sich die gegenseitige Versicherung der Höchstbedeutsamkeit füreinander dort, wo man, vom Gefühl der emotionalen, intellektuellen oder moralischen Überlegenheit durchdrun­ gen, auf ein Meer von Mittelmäßigkeit herabblickt.

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Das in der deutschen Tradition berühmteste, aber auch umstrittenste und am häufigsten umgedeutete Beispiel einer Dichterfreundschaft ist zweifellos die Freund­ schaft zwischen Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller (vgl. Osterkamp 2011; Pfeiffer 2000, 202–205). Von den zahlreichen zeitgenössischen Freundschaftsbünden, deren kommunikativen Austausch Goethe hämisch als „Wechselnichtigkeit[en]“ cha­ rakterisierte, hielten sie sich fern. Ob sie sich wie im Modell der Tugendfreundschaft zueinander hingezogen fühlten, ist fraglich. Insbesondere Schiller begriff Goethe in den Anfangszeiten ihrer Bekanntschaft als Konkurrenten, der seine eigene Aner­ kennung wenn nicht verhinderte, so doch behinderte. Sie fühlten sich auch durch­ aus nicht von Natur aus zueinander hingezogen; als Schiller zwischen Juli 1787 und Januar 1789 erstmals in Weimar wohnte, unterhielten sie keinen Kontakt miteinander. Das dürfte vermutlich daran gelegen haben, dass sich ihre berufliche und soziale Stel­ lung deutlich unterschied: Goethe war Mitglied der herzoglichen Regierung und als Dichter geachtet und verehrt, Schiller befand sich auf der Flucht und war auf einen Mäzen und Förderer angewiesen – eine Rolle, die Goethe nicht spielen wollte. Schiller hatte noch nicht genügend soziales Kapital angesammelt, um eines Goethe würdig zu sein, Goethe hatte bereits einen Habitus ausgeprägt, der ihn für Schiller eher absto­ ßend erscheinen lassen musste. Gemeinsame naturwissenschaftliche Interessen, ein Gebiet, auf dem beide dilet­ tierten, beförderten ihre Beziehung, die dann in der Auseinandersetzung mit den politisch liberalen bis libertären Positionen jener Dichter intensiviert wurde, die mehr oder weniger der französischen Revolution anhingen. Mit ihnen rechneten sie in den im Musenalmanach des Jahres 1797 erschienenen Xenien gnadenlos ab und gaben sich damit erstmals als zusammengehörige Gleichgesinnte zu erkennen. Selten aber schwang sich ihre Gemeinschaft zu emphatischen Formulierungen oder Freundschaftsbekundungen auf. Insbesondere Goethe war in dieser Hinsicht äußerst zurückhaltend, was nach Osterkamp daran lag, dass die Semantik von Freundschaft um 1800 bereits so überstrapaziert war (vgl. Osterkamp 2011, 201), dass sie gerade wegen ihrer pathetischen Bekundungen weitgehend bedeutungsentleert war. Goethes Briefe an Schiller klingen denn auch wenig emphatisch oder gar pathe­ tisch, formulieren aber dennoch das Ideal eines Gemeinsinns, der auf der Zuschrei­ bung ähnlicher künstlerischer Auffassungen fußte. So schrieb Goethe in Reaktion auf Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung: Ich habe ihre Prinzipien und Deduktionen desto lieber, da sie mir unser Verhältnis sichern und mir eine wachsende Übereinstimmung versprechen. (Briefwechsel, 170; vgl. Böhler 1980).

Umgekehrt nahm Schiller an der Entstehung des Wilhelm Meister mit großem Inte­ resse Anteil, was sich darin zeigt, dass er an Kritik nicht sparte. Der so erfolgende literarische Austausch machte erhebliche Institutionalisierungsarbeit in der Regulie­ rung von Nähe und Distanz erforderlich, in der immer wieder subtile Austarierungen benötigt wurden.

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Erst in der Literaturgeschichte des 19.  Jahrhunderts wurden Goethe und Schil­ ler zum Dioskurenpaar stilisiert, in dem sich zwei Genies nahezu zwangsläufig und unauflöslich miteinander verbunden hatten. Hermann Hettner schrieb in seiner Geschichte der deutschen Literatur über Goethe und Schiller, sie seien sich in „volls­ ter Wesens- und Strebensverwandtschaft“ verbunden gewesen. Ihre „edelste Männer­ freundschaft“ habe sich durch „aufrichtigste gegenseitige Anerkennung und Vereh­ rung“ ausgezeichnet (zit. nach Böhler 1980, 35). Die Vorstellung vom Dioskurenpaar als sich wechselseitig anerkennende Einzigartigkeit verdoppelte die ihr zugrundeliegende Geniekonzeption und verdichtete sie ikonisch zu einem nationalen Symbol. Die befreundeten Genies markierten so den Gipfelpunkt eines national gedachten Schaffens, das in der Freundschaft seine Einzigartigkeit etablieren sollte.

5 Medien und Gattungen der Freundschaftssemantik 5.1 Freundschaftsbriefe Der Brief hat als Medium der Freundschaft eine lange Tradition. Als Kommunikati­ onsmedium ergänzt er in der Regel die face-to-face-Kommunikation, kann aber auch ganz an ihre Stelle treten, und fungiert so als stabilisierendes, gelegentlich aber auch begründendes und zentrales Element der Freundschaft. Berühmte Briefe oder Briefwechsel, angefangen mit den Paulusbriefen an die ersten christlichen Gemein­ den und Ciceros Briefen an Atticus und an seine Freunde (ad familiares), über die Briefwechsel der Humanisten und zahlreicher Dichter seit dem 17.  Jahrhundert bis hin zu zeitgenössischen Freundschaftsbriefwechseln bilden eine eigene Rhetorik der Freundschaft aus, die zwischen emphatischen Freundschaftsbekundungen und regelmäßigem Neuigkeiten- und Interessenaustausch oszilliert. Zentral waren dafür Elemente der phatischen „Kommunion“ (vgl. Malinowski 1923; vgl. Senft 2009), der bestätigenden Rede und der wechselseitigen Versicherung der anhaltenden Freund­ schaft. Freundschaftsbriefe waren deswegen aber keineswegs nur ein Kennzeichen pri­ vater oder intimer Kommunikation. Zahlreiche Freundschaftsbriefe, insbesondere des Mittelalters und des Humanismus, wurden in Briefsteller aufgenommen oder ediert. Freundschaftsbriefe hatten damit auch eine normative Dimension, weil sie das Ethos der Freundschaft nicht nur durch den Austausch inszenierten, sondern es häufig auch performativ zur Geltung brachten. Nicht zuletzt waren Briefe auch das Medium der homosozial weiblichen und der heterosozialen Freundschaft, weil sie den ortsund raumgebundenen Frauen erlaubten, miteinander Kontakt zu halten, Erfahrun­ gen auszutauschen und sich wechselseitig gegen ihre sonstige Marginalisierung ihrer Bedeutsamkeit zu versichern. Auch zwischen Männern und Frauen ermöglichten

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Briefwechsel eine emphatische Bezugnahme aufeinander, die im mündlichen Aus­ tausch stets misstrauisch als den Gefährdungen des Eros unterlegen beäugt wurde. Monastische Briefwechsel, wie die Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloisa, Heinrich von Nördlingen und Margareta Ebner sowie die Söflinger Briefe (vgl. Signori 1998) belegen, dass die Spiritualisierung der Freundschaft einen intensiven, wenn auch nicht gleichrangigen Austausch zwischen Männern und Frauen ermöglichte, sofern die Leiblichkeit überwunden und die körperliche Liebe durch die spirituelle Freundschaft und Liebe transzendiert werden konnte. Unabhängig von der Frage seiner Authentizität, ist der Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloisa das klas­ sische Beispiel einer solchen Spiritualisierung, weil sich hier beobachten lässt, in welcher Weise der Austausch der Briefe und die Entwicklung einer spirituellen Einheit zwischen beiden die vorhergegangene gewaltsame Beendigung des intimen Liebesverhältnisses biographisch, sozio-moralisch und religiös integrierte (vgl. Sablotny 2015). Die ersten umfangreich edierten Briefwechsel waren die humanistischen. Die Edi­ tionen erfolgten in der Regel unter dem Rubrum der Freundschaft, deren Beständig­ keit und Lebendigkeit sie dokumentieren und normieren sollten. Diese Rubrizierung wurde zumeist in den Widmungsvorreden der Herausgeber vorgenommen, die häufig das Loblied der Freundschaft anstimmten. So begann Joachim Camerarius das Wid­ mungsschreiben seines Libellus alter an Johannes Drach mit dem performativen Satz, die amicitia gehöre wie Wein und Münzen zu den Gütern, die mit den Jahren an Wert gewännen (vgl. Huber-Rebenich 2001, 146). Zentrale Topoi waren das gemeinsame Interesse für eine große Sache, nämlich die studia humanitatis, und das erinnernde Gedenken an verstorbene Vorbilder oder vorbildliche Freunde (vgl. ebd.). Auf diese Weise verbanden sich Zeitklage und laudatio temporis acti, die zugleich eine Vorbild­ funktion für die Gegenwart begründen und so ethische Orientierung bieten sollten. Entsprechend dem Gewicht, das sie dem genus epistolare beimaßen, spielten Freundschaftsbriefe (epistola amatoria) im Humanismus eine zentrale Rolle. Schon die Späthumanisten selbst sprachen von einem literarius cultus amicitae, einem lite­ rarischen Freundschaftskult (vgl. Trunz 1931, 39). Dieser cultus wurde durch Freund­ schaftsbeteuerungen, eine ausgeprägte Liebesmetaphorik sowie emotionalisierte Wendungen, die durch die Einstreuung von scherzhaften Bemerkungen ausbalanciert wurden, gepflegt. Versicherungen von Liebe und Freundschaft waren dabei nicht von persönlicher Bekanntschaft oder gar Vertrautheit abhängig; teilweise kannten sich die Briefschreiber nicht einmal persönlich. Kennzeichen solcher Liebe war auch hier die gemeinsame Orientierung an der Tugend. Sie schrieb der Gründer des Erfurter Freundeskreises Conradus Mutianus Rufus an seinen Freund Heinrich Urban: Nostre vero vite finis est iusticia, temperantia, pacientia, concordia, veritas et unanimis amicicia. (Das wahre Ziel unseres Lebens sind Gerechtigkeit, Mäßigung, Geduld [Duldsamkeit], Eintracht, Wahrhaftigkeit und harmonische Freundschaft.) (Gillert, Nr. 82, 122; vgl. Rädle 2014, 170)

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Schon die Häufung der axiologischen Nomen, an deren Schluss die Freundschaft steht, zeigt, dass Freundschaft ganz auf Tugend bezogen wurde. Nur die Tugendhaf­ ten konnten demnach befreundet sein und sie waren es um ihrer Tugend willen und aus Begeisterung für die Tugend des jeweils anderen. Tugendhaftigkeit bildete eine Form des sozialen Kapitals, die es ermöglichte, Netzwerke zu pflegen und zugleich gegen unerwünschte Interessenten abzugrenzen. Folgt man den Briefstellern des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts, scheint die humanistische Kultur der Freundschaftsbriefe zunächst keine Fortsetzung gefun­ den zu haben. Ab der Mitte des 17.  Jahrhunderts spielen im Ton persönliche Briefe auch in den Briefstellern jedoch wieder eine größere Rolle, so etwa in dem Georg Philipp Harsdörffer zugeschriebenen Teutsche[n] Secretarius (1655). Ihm gilt der Brief wieder als Medium zur Pflege „der Abwesenden Freundschaft“ und „zur Erhaltung der Gemeinschaft“ (Erwentraut 1999, 272). Wie der Freundschaftskult erlebte der Freundschaftsbrief im 18.  Jahrhundert einen enormen Aufschwung (vgl. Maurer 2006). Briefe galten nun als „Spiegel der Seele“, Freundschaftsbriefe als Denkmäler der „Geselligkeit der Seelen“ (Adam 2004, 25), mittels derer die Absenz eines Freundes, auch über sehr lange Zeiträume, kom­ pensiert werden konnte. Das entspricht der zeitgenössischen Epistolartheorie, die den antiken Topos vom Brief als Kolloquium abwesender Freunde – amicorum colloquium absentium – aufnimmt (vgl. ebd.). Unbeschadet dessen waren keineswegs alle diese Briefe Ausdruck intimer Kommunikation. Wolfgang Adam (ebd., 26) unterscheidet anhand der Korrespondenz von Klopstock und Gleim drei Hauptarten von Briefen: Geschäftsbriefe, poetische Briefe und launige Briefe. Bei den geschäftlichen Briefen handelte es sich zumeist um Briefe über Verlagskontrakte, Honorare, Vertriebsmög­ lichkeiten, Bücherkäufe etc., die mit der Existenz des freien Schriftstellers zu tun hatten. In den poetischen Briefen dominierten Berichte über das eigene literarische Schaffen, die Behandlung poetologischer Fragen und die Besprechung neuer, eigener und anderer, Werke. Die launigen Briefe dagegen waren stark anekdotischer Natur und hatten die Funktion, das Ideal gemeinsamer Erlebnisse medial zu transformieren. Sie umfassten deshalb Schilderungen heiterer Momente, hielten sich an unbedeuten­ den Details fest, die Goethe in Dichtung und Wahrheit als „Wechselnichtigkeit[en]“ charakterisieren sollte (ebd.), drehten sich um anakreontische Themen wie Wein und Gesang und endeten häufig mit Freundschaftsbeteuerungen oder launigen Floskeln, wie sie Klopstock an Gleim in einem Brief vom 16. Juni 1750 notierte: „Vergessen Sie nicht, zu mir auf einen Kaffee und einen Kuss zu kommen.“ (Zitiert nach ebd., 27) Die ‚launigen‘ Briefe bildeten ein wichtiges Element literarischer Geselligkeit, die sich in der Salonkultur des 18. Jahrhunderts entfaltete. Häufig handelte es sich dabei auch um Gemeinschaftsbriefe mehrerer Briefschreiber, die einem abwesenden Freund ein Beispiel ihrer Geselligkeit und gleichzeitiger Verbundenheit mit dem Abwesenden lie­ ferten. Sehr beliebt war darin das anakreontische Thema des Freundschaftskusses. In dem Freundschaftstempel, einem Raum mit zahlreichen Porträts seiner Freunde, den Gleim in seinem Haus anlegte, las er mit Vorliebe die Briefe seiner Freunde oder ließ

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sie in geselliger Runde vorlesen und bewahrte sie anschließend im Raum daneben auf (vgl. ebd., 25). Als vierter Typus können hochgradig emotionale Briefe hinzugefügt werden. Für sie ist kennzeichnend, dass sie ästhetischen Anspruch und emotionale Fundierung eng miteinander verschränken: Der Ausdruck von Gefühlen bis hin zu pathetischen Liebesbekundungen war zugleich eine Einübungsform in die Ästheti­ sierung von Emotionen, die sich dann auch in Gedichte, Dramen und Romane ein­ bringen ließen. Die freundschaftlichen Briefe bedienten sich dazu dezidiert eines Tons, der stän­ dische Differenzen negierte und ein Gegenmodell zum formalisierten Briefverkehr bildete. Die Briefe sollten die Gefühlsregungen des Schreibers, seine Wertschätzung und Zuneigung gegenüber dem Adressaten, Vertrauen und Vertrautheit gleicherma­ ßen zum Ausdruck bringen (vgl. Velussig 2000, 61–68). Innerhalb dieses gesellschaftlichen und literarischen Umfelds eröffneten sich auch für Frauen neue Möglichkeiten, an der elaborierten Freundschaftssemantik teil­ zuhaben (vgl. Heuser 1991, 146). Einerseits bot der Salon ihnen die Möglichkeit, sich an der Kommunikation über Literatur zu beteiligen und Literaten kennenzulernen, andererseits ermöglichte es ihnen die Briefkultur, mit Dichtern in näheren Kontakt zu treten, deren Werke zu kommentieren oder eigene zu präsentieren und den Rat des Freundes dazu einzuholen, wie etwa der Briefwechsel zwischen Wieland und Sophie La Roche zeigt, die von Wieland wiederholt zur Veröffentlichung ihrer Werke ange­ halten wurde (vgl. Loster-Schneider 1998, 77–88; zu weiteren Briefwechseln, insbe­ sondere dem mit Friedrich Heinrich Jacobi, vgl. Nenon 2005).

5.2 Freundschaftslyrik Die Lyrik bildete zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert einen Schwerpunkt der literarischen Bearbeitung von Freundschaft. Insbesondere im Humanismus waren Freundschaftsgedichte eng mit den Freundschaftspraktiken der humanistischen Netzwerkbildung verknüpft. Lyrische Sammelbände bestanden daher oft zum großen Teil aus Freundschaftsgedichten, und bei dem Freundschaftskult, den man trieb, kam man bald dazu, die Freundschaftsgedichte gesondert zusammenzustellen und auf diese Weise besondere Freundschaftsbücher zu schaf­ fen. (Trunz 1931, 42)

Freundschaftsgedichte entstanden im 17.  Jahrhundert sowohl innerhalb der elabo­ rierten lateinischen und deutschsprachigen Lyrik als auch im Rahmen der deutsch­ sprachigen Kasuallyrik. Grundsätzlich ist in beiden Lyriktypen zwischen dem Lob der Freundschaft, das die elaborierten Lehrgedichte prägte, und dem Lob des Freun­ des zu unterscheiden, das die Kasuallyrik dominierte. Zu den Topoi beider Gedicht­ arten gehörte die Unverbrüchlichkeit wahrer Freundschaft, die unbedingte Treue

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gegenüber dem Freund, das wechselseitige Vertrauen und die Abgrenzung gegen­ über Freundschaften, die von Nutzen oder Lust getragen wurden. Insbesondere die Kasuallyrik hat noch an die humanistische Tradition der Freundschaftsgedichte angeschlossen (vgl. Stockinger 1999, 440 f.; Ingen 1998, 184–186). Dominant in der Kasuallyrik war das Trauergedicht (Epicedium) auf den verstorbenen Freund. In der Sprache der Trauer wurde die Sprache der Freundschaft besonders intensiv von der Sprache der Liebe imprägniert. In seinem Epicedium auf seinen Freund Georg Gloger vom 16. Oktober 1631 charakterisierte Paul Fleming diesen mit Topoi, die als Beschrei­ bungen einer Geliebten hätten fungieren können und bezeichnete dementsprechend den letzten Kuss, den der tote Freund nicht mehr erwidern konnte, als Zeichen ihrer Vermählung. Daneben trauerte er aber auch um den „Zeugen seiner Poesie“, den „Anker“ seines Lebens, den er als „mein selber ich“ bezeichnete (Hintzen 2012, 166 ff.). Künstlerische Interessengemeinschaft und Liebesbekundung flossen in der Figuration des alter ego zusammen, die Liebessemantik und Freundschaftssemantik miteinander verschmolz. Den Lobpreisungen der Freundschaft war solches Pathos eher fremd. Sie beton­ ten vielmehr Stabilität und Unverbrüchlichkeit der freundschaftlichen Beziehung, die ganz im Sinne Ciceros jedoch auf die Tugendfreundschaft als ‚wahre‘ Freund­ schaft beschränkt sein sollte. Die wahre Freundschaft ist, sich also zu verbinden, Das aufzulösen Sie, Kein Mittel sey zu finden, Es kann sie trennen nichts. Sie reißet durch die Noth, Und ist, wie jener sagt, so stark als wie der Todt. So unzerbrechlich soll der Freundschaft bündtnis bleiben, Es soll sie keine Zeit aus ihren Schrancken treiben. Sich endern kann sie nicht. Die aber aus gewinn, Und bloßen Lust besteht, fällt mit dem Nutzen hin. (Petrus Oheim, zit. nach Ludwig 2001, 728, V. 1–8)

Auch in den Freundschaftsgedichten des 18.  Jahrhunderts werden die Topoi der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gegenüber dem Freund mit der Abgrenzung von negativ besetzen Topoi wie Schmeichelei, Heuchelei und Verstellung (vgl. Kersten 2006, 34–36) verbunden. Tugendfreundschaft wird damit im 17. und 18. Jahrhundert zu einem anti-höfischen Topos. Der Hof gilt als Ort der Verstellung und der Heuchelei, an dem wahre Freundschaft nicht möglich ist. Tugendfreundschaft bewährt sich so in erster Linie in der Abgrenzung; da sie an den Höfen nicht überlebensfähig ist, wird sie zu einer bürgerlichen Tugend, die Aufrichtigkeit und Bescheidenheit semantisch zusammenführt. Aus dieser Perspektive schreibt Gellert im zweiten seiner Lieder über den Freund, dass er für jeden Mangel entschädige:

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Ein Freund, der unserm Wunsche gleicht, Macht uns das Leben erstlich leicht. Mein Glück sei noch so klein, Hab ichs mit ihm gemein, So wird mirs kostbar sein. Und hätt’ ich auch ein Königreich Und hätte keinen Freund zugleich: So ließ ich Kron und Land. Und wählt aus freyer Hand, Mir eh den Schäferstand. (Gellert 1769, 52)

Der Adel, insbesondere der hohe Adel, wird auf diese Weise von den Freuden der Freundschaft ausgeschlossen: Ihr Großen habt es nie geschmeckt, wie viel in Freundschaft Wollust steckt. Wenn Euch der Schmeichler küßt: So küßt er voller List, Bloß weil er hungrig ist. Ein Freund hat einen edlern Sinn, Er liebt mich, weil ich redlich bin; Wir sind einander gut, Blos, weil ein ehrlich Blut In unsern Adern ruht. (Ebd., 52 f.)

Tugendfreundschaft, die bei Cicero eine ganz und gar politische Dimension hatte, zieht sich damit, gestützt auf Redlichkeit und Ehrlichkeit, ins Private zurück. Das Politische wurde nicht als der Raum gesehen, an dem Tugendfreundschaft ihren eigentlichen Ort hatte, weil nur durch sie das Gemeinwesen erhalten werden konnte, sondern als der Raum, den es zu meiden galt, um die Freundschaft nicht zu gefähr­ den. Ein ähnliches, ganz aus der Negation von Nutzen- und Lustfreundschaft und an Cicero sowie Christian Thomasius orientiertes Programm der Tugendfreundschaft entwickelt Friedrich von Hagedorn in seinem Gedicht Die Freundschaft (1746). Wie Cicero fundiert er die Freundschaft in der natürlichen Geselligkeit und dem Hingezo­ gensein zueinander (vgl. Martus 1999, 196–198) und wie dieser lehnt er Nutzen- und Lustfreundschaft vehement ab und zieht mit scharfem Spott gegen sie zu Felde. Die Kritik trifft aber nicht mehr nur den Adel, sondern auch den bürgerlichen Philister, der sich als Menschenfreund gibt: Mein alter Wahlspruch bleibt: Zins und Provision! Den Leuten helf‘ ich gern, nur nicht dem Bauernsohn; Doch dien‘ ich, kann er mir drei gute Bürgen stellen, Sind gleich die Zeiten schlecht, auch ihm in allen Fällen. In andrer Kreuz und Leid find‘ ich mich, als ein Christ.

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Wer weiß, wenn mancher klagt, warum er dürftig ist? Der Himmel will vielleicht durch Mangel ihn bekehren: Sollt‘ ich gerechter sein, und seine Führung stören? (Die Freundschaft, 62)

Sowohl die bürgerliche als auch die adlige Welt sind freundschaftsfeindliche Orte. Stärker noch als Cicero macht Hagedorn die Tugendfreundschaft zu einem Selten­ heitsphänomen. Dennoch hält er unbeirrt an ihr fest: Die wahre Freundschaft ist der Tugend Meisterstück. Die Neigung, wenn man soll, Ruhm, Güter, Ruh‘ und Leben, Ohn‘ Eigennutz und Zwang, für andre hinzugeben, Die echte Zärtlichkeit, die immer Lust und Schmerz Mit andern willig theilt, kömmt in kein schlechtes Herz, Und Helden, welche wir vor tausend Siegern preisen, Sind Helden, die sich auch, als Freunde, groß erweisen. (Ebd., 70 f.)

Wahre Freunde sind Heroen der Tugend, und nur ein wahrer Freund macht das Leben lebenswert. Demgegenüber postuliert Gellerts Ode Der Menschenfreund (1748) ein entpersön­ lichtes Freundschaftsideal, in dem ein religiös begründeter, ansonsten aber weitgehend moralisch fundierter Freundschaftsbegriff im Mittelpunkt steht. Der Menschenfreund ist verpflichtet, allen Menschen zu dienen, Hilfe zu leisten und ihnen somit Freund zu sein. Die Transformation von Pflichtenethik in Nächstenliebe, von Ethik in Moral, führt aber dazu, dass Freundschaft als Beziehungsmodus völlig zurücktritt. Zwischen dem Menschenfreund und denjenigen, denen er Hilfe leistet, gibt es keine Beziehung, weder der sozialen Verbindlichkeit noch der Dankbarkeit; der Menschenfreund bezieht sich nur auf „Gott und sein eignes Herz“, deren Freude ihm als Lohn genügt In eine andere Richtung weist dagegen die religiöse Grundierung der Freund­ schaft in den Gedichten Jakob Immanuel Pyras und Samuel Gotthold Langes. 1745 gab Johann Jakob Bodmer eine Auswahl davon in Zürich unter dem Titel Thirsis und Damons freundschaftliche Lieder heraus (vgl. Dohm 1995, 91–97). Ihre Freundschaft speist sich nicht aus der Vorstellung natürlicher Geselligkeit, sondern aus der pietisti­ schen Vorstellung von der Heiligkeit der Freundschaft, in der Gott selbst anwesend ist, sowie der Übernahme mystisch-pietistischer Hohelied-Deutungen nach dem Modell bräutlicher Christusliebe (vgl. Kemper 1997, 121 ff.). Die Rhetorik des Freundespreises entspricht jedoch dem dramatisch-theatralischen Deklamationsstil des Dramas: DU Sohn der Großmuth und der Treue O Damon, meine Lust und ewig meine Zier, Du würdiger Bewahrer meines Hertzens, Du durch die Huld des Vaters aller Liebe Für mich allein bestimmter Freund Sieh da das Bild des gantz entzückten Geistes,

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Durchschau das ofne Heiligste Des Dier gewidmeten Gemütes. (Pyra, Lied Nr. 18, in: Bodmer 1745, 48)

Diese Theatralik hat offenbar ein gewisses Misstrauen hervorgerufen. In der Vorrede zur zweiten Auflage betont Lange jedenfalls nachdrücklich, dass ihre Freundschaft nicht mit Blick auf die Kunst fingiert sei. Vielmehr drückten ihre freundschaftlichen Lieder aus, was sie fühlten „ohne an die Kunst zu denken“. Die explizite Zurückwei­ sung eines solchen Verdachts verweist darauf, dass Freundschaft als soziales Kapital leicht entwertet werden konnte, wenn sie als künstlerisches Mittel eingesetzt wurde. Ungeachtet ihrer Bestreitung durch Lange, war die Ästhetisierung von Emotionen zweifellos ein zentraler Aspekt der Freundschaftsgedichte. Die Sprache des Gefühls wurde nicht nur zu einem unverzichtbaren Aspekt von Freundschaft, sondern auch zu einem Aspekt der Poetik. An der Poetik von Freundschaft partizipiert auch Friedrich Schiller, der in seiner Ballade Die Bürgschaft (1799) narrative und dramatische Elemente verknüpft und darüber ein Ethos der Freundschaft entwickelt, das selbst den Tyrannen rührt. Die zahlreichen Hindernisse, die sich vor Damon auftürmen, als er zu seinem für ihn mit dem Leben bürgenden Freund zurückkehren will, um ihn auszulösen, und die Bereitschaft, mit ihm zu sterben, wenn er ihn schon nicht retten kann, setzen an die Stelle einer Anforderungsethik ein Ethos der Freundschaft, dessen Erfüllung gegen alle Widerstände die Probleme der Freundschaftsethik überwindet. Was sich ethisch nur noch mühsam und unter Anleihen bei der Religion aufrechterhalten lässt, über­ windet das Ethos rückhaltlos, das sich freilich schon in der Namenlosigkeit des bür­ genden Freundes als Ästhetisierung der Freundschaft zu erkennen gibt. Der Freund ist die Funktion eines Ethos, das Pathos an die Stelle einer Beziehung gerückt hat.

5.3 Freundschaft im Drama Auch im Drama bildet das 18.  Jahrhundert für die Bearbeitung der Freundschafts­ semantik einen Höhepunkt. Allerdings ist das Pathos der Freundschaft hier nicht mehr ungebrochen: Daneben findet sich hier auch schon der Spott über ihre ethischmoralische Überfrachtung. Die Dramen des 18. Jahrhunderts stellen die in der Lyrik vehement eingeforderten und pathetisch vorgetragenen Konzeptionen der Tugend­ freundschaft von zwei Seiten her in Frage: Von der Seite der Wahrhaftigkeit solcher Beteuerungen und von der Seite des Konflikts mit anderen Beziehungsmodi mit emo­ tionaler Grundierung, insbesondere der Liebe. In seiner Komödie Der Freigeist bespöttelt Gotthold Ephraim Lessing die in der Tugendfreundschaft geforderte Prüfung des Freundes als selbstwidersprüchlich; in Damon und Leander, oder die wahre Freundschaft unterzieht er sie einem Realitäts­ test, der zeigt, dass derjenige, der am meisten von Tugendfreundschaft spricht, am

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ehesten auf seinen Nutzen schielt (vgl. Vollhardt 1991, 286; Lu 2014, 24–34). Insbe­ sondere Leander ergeht sich in pathetischen Freundschaftsformeln (Die Freundschaft bewaffnet eine edle Seele mit einer unüberwindlichen Sanftmuth. Was ihr Freund thut, was von ihrem Freunde kömmt, ist ihr billig und angenehm. (V, 3), die verdecken sollen, dass er tatsächlich seinen Vorteil sucht. Darin äußert sich bei Lessing aber weniger Kritik an der Nutzenfreundschaft als vielmehr Kritik an der ethischen Überfrach­ tung der Tugendfreundschaft, die auf einem realitätsfernen Ethos beruht, das nichts anderes als Heuchelei hervorzubringen vermag. Das Problem liegt hier im geforderten Ethos selbst: Der in der Liebe und im Geschäft notwendig auf seinen Vorteil Bedachte kann einer Ethik, die von ihm Verzicht und nichts als Verzicht fordert, gar nicht genügen und die geeignete Antwort auf eine solche Ethik ist die Komödie. Tragisch entfaltet dagegen Schillers Don Carlos (Erstaufführung 1787) den Kon­ flikt zwischen Liebe und Freundschaft, der zugleich ein Konflikt zwischen Leiden­ schaft und Tugend ist, in dem Carlos sich zunächst für die aussichtslose Liebe zu seiner Stiefmutter Elisabeth und gegen seine Freundschaft mit Roderich de Posa entscheidet, um dessentwillen er den flandrischen Provinzen zu Hilfe eilen müsste. Gleichzeitig demonstriert Schiller, dass Freundschaft und tyrannische Herrschaft sich ausschließen. In seiner verzweifelten Suche nach einem Freund wird König Philipp deshalb von Posa zurückgewiesen; König Philipp kann nach der Überzeu­ gung des Marquis keine Freunde haben, weil er niemandem vollständig vertrauen kann. Aber auch die Freundschaft zwischen Carlos und Marquis Posa scheitert letzten Endes daran, dass der vollständig von seinen Affekten getriebene Carlos das Intri­ genspiel der Nutzenfreundschaft bei Hofe nicht versteht, nicht durchschaut, dass die Gräfin Eboli heimtückisch mit ihm spielt und dass Posa auf anderer Ebene mitspielt, um Carlos und seine republikanischen Ziele zu retten. Am Ende muss der Marquis sich opfern – nicht um Carlos‘, sondern um seiner politischen Ziele willen, die frei­ lich Carlos im Andenken an seinen Freund verfolgen soll: Rette dich für Flandern! / Das Königreich ist Dein Beruf. Für Dich / zu sterben der meinige (V, 3, V. 4716–4718). Während Carlos, ganz im Sinne der Bürgschaft glaubt, König Philipp werde sich von ihrer Freundschaft erweichen lassen (Vater, will ich sagen, / Das hat ein Freund für einen Freund getan. / Es wird ihn rühren. V, 3, V. 4722–4724), weiß Roderich, dass er sich opfern muss. Erst nach Posas Tod kann Carlos den Anforderungen der Tugend­ freundschaft genügen, in stoischem Gleichmut seine Aufgabe annehmen und sich von der Liebe um einer größeren Sache willen verabschieden: Carlos. Vollenden Sie nicht, Königin – Ich habe In einem langen, schweren Traum gelegen Ich liebte – jetzt bin ich erwacht. Vergessen Sei das Vergangene! Hier sind ihre Briefe Zurück. Vernichten Sie die meinen. Fürchten Sie keine Wallung mehr von mir. Es ist Vorbei. Ein reines Feuer hat mein Wesen Geläutert. Meine Leidenschaft wohnt in den Gräbern

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Der Toten. Keine sterbliche Begierde Teilt diesen Busen mehr. (Don Carlos, V, 11, V. 5308–5317)

Mit der Verbindung von Tugendfreundschaft und stoischer Ruhe (ataraxia) schließt Schiller an Senecas Ideal (vgl. Thiel 2004, 60 ff.) der Unerschütterlichkeit gegenüber Schicksalsschlägen und Ciceros Vorstellung von der Pflicht gegenüber der res publica an. Damit verbindet Schiller Pflichtenethik und Tugendfreundschaft, die in der tat­ sächlichen Performanz der Freundschaft zwischen Carlos und Roderich aber schei­ tert. Eine ganz auf das Gefühl ausgerichtete Freundschaft präsentiert dagegen Johann Wolfgang Goethe in seinem Drama Stella (1776). Es ist eines der wenigen Beispiele für die Inszenierung weiblicher Freundschaft in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stella und Cezilie, beide von ihren Männern verlassen, finden ineinander Halt und Trost, weil sie das gleiche Gefühl teilen und sich ihr Leid anvertrauen können, das die je andere aufgrund ihrer identischen Erfahrung emotional nachvollziehen kann: Stella. Sie haben geliebt! O Gott sei Dank! ein Geschöpf das mich versteht! Das Mitleiden mit mir haben kann! das nicht kalt zu meinen Schmerzen drein blikt (Stella, I, 455).

Freundschaft wird damit zum Ersatz für verlorene Liebe (wir wollen einander das sein, was sie uns hätten sein sollen, I, 455 f.), an deren Semantik (Von diesem Augenblick an laß ich Sie nicht!, ebd.) sie partizipiert. Weibliche Freundschaft errichtet damit keinen eigenen Referenzrahmen, sondern bleibt auf die Liebe bezogen, als deren Surrogat sie fungiert.

5.4 Freundschaft im Roman Der Roman ist die literarische Gattung, die Freundschaft in der größten Variations­ breite über den längsten Zeitraum semantisch entfaltet und immer wieder neu durch­ spielt. Zwar ist Freundschaft nicht das zentrale Thema des Romans, diesen Rang nimmt die Liebe ein, aber sie ist sehr häufig kompetitiv oder komplementär mit ihr verknüpft, kann teilweise aber auch ein eigenes Profil entwickeln und darüber hinaus eine poetologische Dimension entfalten. Ob Freundschaft sich im Roman zu einem zentralen Thema entwickelt, hängt nicht zuletzt von der jeweiligen Romangattung ab. Insgesamt gehört Freundschaft zu den wichtigen Aspekten der Identitätsbildung des Helden, über die seine soziale Integration gesteuert wird. Freunde dienen in der Regel der Komplettierung der Hauptfigur, sie geben ihr sozialen Horizont, begleiten, befördern oder stören Ent­ wicklungs- und Integrationsmöglichkeiten, vermitteln Konflikt- oder Ausgleichsop­ tionen und unterstützen den Helden in Krisensituationen, die durch Liebe, Verrat, Krieg, Erziehung etc. ausgelöst werden. Bestimmte Gattungen, wie der Bildungs-, Ent­

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wicklungs- und Erziehungsroman sind dafür besonders prädestiniert, was schon am höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts zu beobachten ist, der sich zwar nicht angemessen als Bildungsroman charakterisieren lässt, für den aber doch die krisen­ hafte Übergangsphase eines jugendlichen Helden vom jungen Ritter zum Herrscher kennzeichnend ist. Freundschaft als soziale Institution ist sowohl für die mittelalterliche Heldenepik als auch den höfischen Roman kennzeichnend. Gegenüber der Heldenepik plurali­ siert der höfische Roman die Modi freundschaftlicher Bindungen, wobei persönli­ chen Nahbeziehungen eine besondere Bedeutung zukommt. Die Heldenepik kennt Freundschaft in erster Linie als Kriegerfreundschaft, der höfische Roman dagegen in vielfältig ausdifferenzierter Form: als Integrationsmedium, als exklusive Sonderdy­ ade, als Ratgeberschaft und als Stellvertretung. Als Integrationsmedium in die höfi­ sche Gesellschaft – die noch nicht unter dem Ruch der Verderbtheit steht, sondern als Ort der entfalteten Tugend gilt  – fungiert Freundschaft als Integrationsmedium für junge, der Artusgemeinschaft schon zugehörige (Hartmann von Aue, Erec und Iwein) oder neu an den Hof kommende Ritter (Wolfram von Eschenbach, Parzival), denen in Gawein ein idealer Ritter als Freund zur Seite gegeben wird (Iwein, Parzival). Als exklusive Sonderdyade (Marke und Tristan in Gottfrieds von Straßburg Tristan, Lancelot und Galahot im Prosalancelot), irritiert Freundschaft jedoch die höfische Ordnung. Als Ratgeberschaft bewährt sie sich dagegen insbesondere bei weiblichen Freundschaften im höfisch-herrschaftlichen Raum und gibt weiblicher Freundschaft damit eine ansonsten kaum eingespielte politische Dimension, die in Hartmanns von Aue Iwein insbesondere die interimistisch herrschende Königin Laudine mit ihrer politischen Ratgeberin Lunete oder die in Gottfrieds von Straßburg Tristan in eine ille­ gitime Liebe verstrickte Königin Isolde mit ihrer Ratgeberin und Vertrauten Brangäne verbindet. In der Bereitwilligkeit, sich für Isolde zu opfern, partizipiert Brangäne an der männlichen Codierung von bedingungsloser Opferbereitschaft für den Freund. Als Stellvertretung folgt Freundschaft hier dem Modell der Tugend und der Opferbe­ reitschaft, die zum Muster der Bewährung gehören. Narrationen von Freundschaft sind im Roman häufig unter das Muster der Bewäh­ rung gestellt. Dass solche Bewährung diachron vom Mittelalter (amicus und amelius, Konrad von Würzburg, Engelhard) über die frühe Neuzeit (Jörg Wickram, Galmy) und die Sattelzeit bis in die Moderne immer wieder erzählt wird, bedeutet freilich nicht, dass sie sich gleich bliebe. In mittelalterlichen Freundschaftserzählungen, insbesondere denen vom Typus amcius und amelius, dominieren und interferieren die Modelle von Ähnlichkeit und Tugend, die auf die Anforderungen einer stratifizierten Gesellschaft reagieren. Das zeigt sich insbesondere in der Bearbeitung dieses Typus in Konrads von Würzburg Engelhard, der den Konflikt zwischen Tugend und unbedingter Treue gegenüber dem Freund durchspielt. Das Modell der Tugend wird hier mit dem der Bewährung ver­ mittelt: Dietrich ist bereit, für Engelhard im Kampf sein Leben zu riskieren, um damit dessen wegen der heimlichen Liebesbeziehung mit der Königstochter Engeltrut voll­

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zogenen Betrug am König zu decken. Aus diesem ersten Verstoß gegen das Gebot der Tugend folgen weitere. Die Unbedingtheit der Freundschaft gipfelt in permanenten Verstößen gegen die Anforderungen der Tugend und gegenüber allen anderen sozi­ alen oder persönlichen Verpflichtungen. Sieht es zunächst so aus, als würden diese Normtransgressionen in der Welt der Erzählung von Gott gestraft, so zeigt sich im weiteren Fortgang, dass selbst die Tötung seiner eigenen Kinder durch Engelhard, um das von tödlicher Krankheit bedrohte Leben seines Freundes zu retten, nicht als Anlass der Verdammung gesehen wird. Durch ein Wunder Gottes werden die Kinder wieder zum Leben erweckt. Freundschaft wird damit nicht nur allen anderen Sozial­ beziehungen vorangestellt, sondern selbst noch in ihren schlimmsten Auswüchsen sakralisiert. Bewährt sich Freundschaft hier vorwiegend in Handlungen, so entwirft der Pro­ saroman des 16. Jahrhunderts, ohne sich von diesem Modell völlig zu verabschieden, das Ideal einer intimen Freundschaft, in der man dem Freund alle seine Geheimnisse, Sorgen und Wünsche anvertrauen kann. Vertrauliche Selbstoffenbarung findet sich auch schon im Engelhard, aber die Gespräche sind so kurz, dass daraus kein elabo­ riert inszenierter Kommunikationsraum erwächst. Bei umfänglichem kommunikati­ vem Austausch wird der Freund nicht nur zum sozialen Horizontgeber, sondern zum alter ego des Protagonisten, zum emotionalen Spiegel und rationalen Ratgeber. Das macht einen anderen Erzählmodus erforderlich, in dem nicht Handlungen, sondern Dialoge im Mittelpunkt stehen. Insbesondere in den Romanen Jörg Wickrams werden die vertraulichen Gespräche zwischen den Freunden breit inszeniert. Zwar ver­ schwindet das Bewährungsmodell nicht völlig, aber der Freund wird, etwa im Galmy (1539), als intimer Freund gezeigt, der die negativen Folgen der Liebe Galmys zur ver­ heirateten Herzogin durch seinen freundschaftlichen Rat abfedert. Während Galmy den Unbilden des Liebeslebens ausgeliefert ist, kann Fridrich sich zwar in seinen Freund hineinversetzen, bleibt aber gleichzeitig rational und handlungsfähig. Beider Freundschaft beruht auf Statusgleichheit, die sich umgekehrt komplementär zur unterschiedlichen emotionalen Verwicklung verhält. Demgegenüber zeigt Wickrams Der Goldtfaden (1557) in der Freundschaft zwischen Lewfried und Walther die Mög­ lichkeit der Aufhebung von Statusdifferenzen in der Freundschaft. Wickrams Roman Von guten und bösen Nachbarn spielt dagegen in einem stadtbürgerlichen Milieu und setzt Freundschaft und Nachbarschaft als stabilisierende Elemente der Gesellschaft ein (vgl. Braun 2001, 311–344). Geht man von der Dominanz von Freundschaft in Wickrams Romanen aus, so repräsentieren sie einen enorm gewachsenen Bedarf an Freundschaften in allen Bereichen des Lebens und der Kommunikation. Die sich aus­ weitende funktionale Differenzierung bei gleichzeitiger Dominanz von Stratifikation macht differenzierte Freundschaftsmodelle erforderlich, die sich den unterschiedli­ chen sozialen Situationen und Szenarien anzupassen vermögen. Auch im Roman des 17. Jahrhunderts tritt Freundschaft häufig als komplementäre Beziehung zur Liebe auf. Allerdings wird sie hier eher gegen die als irrational betrach­ tete Leidenschaft der Liebe ins Feld geführt, als ihre Folgen abzufedern. Während

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die Liebe zu Verwirrung und Leid führt, fungiert Freundschaft als sittliches Ideal der persönlichen Perfektion (vgl. Pfleger 2009, 35). In der Empfindsamkeit sowie im Sturm und Drang nimmt das Kommunikations­ medium Freundschaft dagegen die für die funktional differenzierte Gesellschaft typi­ sche „Situation des exkludierten Individuums“ und die daraus resultierende Indivi­ dualitätssemantik auf (Willems 1999, 105 f.). Ein Musterbeispiel dafür liefert Goethes Werther (1774), in dem der Brief das zentrale Medium der Bindung zwischen Werther und Wilhelm, dem Adressaten seiner Briefe, ist. Ihm kann Werther seine Ideale und Wunschvorstellungen, seinen Liebeskummer, sein Scheitern und seinen Selbstverlust mitteilen und zugleich versuchen, sein Selbstbild aufrechtzuerhalten. Gegenüber der Liebe zu Lotte, die zunehmende Vereinsamung und Sprachunfähigkeit produziert, erweist sich das Freundschaftsprojekt aber als nicht tragfähig genug, um den Selbst­ mord zu verhindern. Werther scheitert nicht nur an der Liebe, sondern auch in der Freundschaft, was durch die poetologische Konstruktion des Briefromans als einsei­ tige Kommunikation, in der Wilhelms Antworten in Werthers Briefen zwar erwähnt werden, aber nicht vorhanden sind, gesteuert wird. Auch im Freundschaftsgespräch bleibt Werther allein. Konstitutiv ist Freundschaft im 18. und 19. Jahrhundert insbesondere für den Bil­ dungsroman von Goethes Wilhelm Meister (1777–1795) über Gottfried Kellers Grüne[m] Heinrich (1854, in zweiter Fassung 1879/80), Gustav Freitags Soll und Haben (1855) bis zu Stifters Nachsommer (1857) (vgl. Selbmann 1994), und zwar auch dann, wenn der Freund den Protagonisten nur für einige Zeit begleitet oder die Freundschaft, die häufig auch als Lehrer-Schüler-Beziehung dargestellt wird, scheitert. Schon Wilhelm Dilthey stellte in seinem Buch Das Erlebnis und die Dichtung fest, dass Freundschaft für den Bildungsroman eine konstitutive Bedeutung habe: Von dem Wilhelm Meister und dem Hesperus ab, stellen sie alle den Jüngling jener Tage dar; wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freund­ schaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird. (Dilthey 1906, 327)

Allerdings fungiert der Freund aus Diltheys Sicht im Bildungsroman nicht mehr als integrierendes Element in die Anforderungen von Staat und Gesellschaft, sondern als unterstützendes Element einer an evolutionistischen Modellen orientierten per­ sönlichen Reifung, deren Bezug zur Gesellschaft sich auf das kleinräumige Glück von Beruf, Ehe und freundschaftlichem Gespräch bezieht. Der Erste Weltkrieg bildet noch einmal einen Höhepunkt der Thematisierung von Freundschaft im Roman, allerdings größtenteils unter einem anderen semanti­ schen Label, nämlich dem der Kameradschaft. Die Umcodierung von Freundschaft in Kameradschaft erfolgt über das gemeinsame Durchstehen einer andauernden Situa­ tion höchster Gefahr und des anhaltenden Gefühls, ausgeliefert zu sein. Das gilt frei­ lich nicht für alle Kriegsromane. Wo das heroische Modell sich mit den ständischen

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Aspekten militärischer Hierarchie mischt, bilden Freundschaft und Kameradschaft noch zwei komplementäre Modelle, wie etwa in Walter Flex‘ Der Wanderer zwischen beiden Welten (1916). Den von ihm vergötterten und hochgradig nach dem Muster des Heroischen mit Eigenschaften wie Klarheit, Selbstgewissheit und Tapferkeit konstru­ ierten Leutnant Erich Wurche bezeichnet Walter Flex in seiner autobiographischen Erzählung in aller Regel als Freund. Kameradschaft ist auf das Schützengrabenerleb­ nis und das Durchstehen der Kriegshandlungen beschränkt, was durch einen charak­ teristischen Satz Wurches quasi programmatisch formuliert wird: Im Schützengraben sind allerlei fremde Geister zur Kameradschaft gezwungen worden. Es ist mit Büchern nicht anders als mit Menschen. Sie mögen so verschieden sein, wie sie wollen – nur stark und ehrlich müssen sie sein und sich behaupten können, das gibt die beste Kameradschaft (Der Wanderer zwischen beiden Welten, 8).

Daneben aber entfaltet sich in den Situationen von Feldwache, Freizeit und Naturer­ lebnis Freundschaft als der Kommunikationsraum von Gleichgesinnten, der in erster Linie über literarische Bildung ausgewiesen wird. Das kulturelle Kapital der literari­ schen und theologischen Bildung fungiert hier als Gemeinschaft stiftendes Element, das die Offiziere von den einfachen Soldaten abgrenzt. Den Männern seines Trupps gilt Wurches höchste Sorge, aber diese Sorge wird nach dem Modell des fürsorglichen und verehrten ‚Führers‘ organisiert. Dagegen erzeugt das kulturelle Kapital einer elaborierten literarischen Bildung einen Habitus der Selbstgewissheit und begrün­ det damit eine Freundschaft, die nicht nur homoerotische Züge trägt, sondern auch als Residuum einer heilen Welt fungiert, die von den Vernichtungsmaschinerien der Westfront weit entfernt ist (vgl. Koch 2005, 175) und in der die Momente des intimen Rückzugs von den Kameraden im gemeinsamen Literatur- und Naturerlebnis quasisakrale Formen annehmen. In Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) hat Kameradschaft dagegen die Semantik von Freundschaft völlig aufgesogen: Das Wichtigste aber war, daß in uns ein festes, praktisches Zusammengehörigkeitsgefühl erwachte, das sich im Felde dann zum Besten steigerte, was der Krieg hervorbrachte: zur Kame­ radschaft! (Im Westen nichts Neues, 29)

Anders als die Offiziersfreundschaft bei Walter Flex fungiert die Kameradschaft als Zeichen eines Zusammengehörigkeitsgefühls, das nicht an einer intimen Zweierbe­ ziehung, sondern an Gemeinschaft orientiert ist. Die Kameraden werden als enge Kommunikationsgemeinschaft gezeigt, die sich wechselseitig Halt geben, während alle anderen Kommunikationsbeziehungen dagegen abfallen, weil ihnen das gemein­ same Erlebnis der Grausamkeit des Krieges, das Fronterlebnis, fehlt. Die Codierung einer exklusiven, durch den Krieg gestifteten Beziehung unter einer Gruppe von Soldaten erlaubt es denn auch, den Feind als Gleichen zu betrachten: Nachdem der in einem Trichter Schutz suchende Paul Bäumer einen ebenfalls vor den Granaten

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Zuflucht suchenden französischen Soldaten in Panik getötet hat, bittet er ihn um Ver­ zeihung: Vergib mir, Kamerad! Wir sehen es immer zu spät. Warum sagt man uns nicht immerwieder, daß ihr ebenso arme Hunde seid wie wir, daß eure Mütter sich ebenso ängstigen wie unsere und daß wir die gleiche Furcht vor dem Tode haben und das gleiche Sterben und den gleichen Schmerz –. Vergib mir, Kamerad, wie konntest du mein Feind sein. (Ebd., 222)

Solche die Freund-Feind-Unterscheidung unterlaufenden Codierungen kennt bereits das Nibelungenlied, aber was dort als wechselseitige Anerkennung der Träger des Heroischen fungiert, wird hier als Erkenntnis des beiderseitigen Ausgeliefertseins an eine vernichtende Kriegsmaschinerie formuliert. Neben und nach der Kriegserfahrung und ihrer Beschwörung unverbrüchlicher Kameradschaft wird Freundschaft im Roman des 20.  Jahrhunderts nicht zuletzt in ihrer Brüchigkeit gezeigt. Im Milieu- und Großstadtroman der 1920er und frühen 1930er Jahre, dessen zentrales Thema der Einzelne in der Massengesellschaft ist, gibt es wenig Platz für die positive Erzählung von Freundschaften. Wenn hier Freund­ schaften dargestellt werden, dann eher als einseitige und teilweise brutal scheiternde Annäherungen, deren Asymmetrie konstitutiv für die unüberwindliche Vereinsa­ mung in der Großstadt ist. So liebt Franz Biberkopf in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz seinen vermeintlichen Freund Reinhold mit großer Naivität und hilft ihm bereitwilligst immer wieder, aber diese freudige Hingabe erzeugt bei Reinhold ledig­ lich tiefen Hass, der in Anschlägen auf Biberkopfs Leben gipfelt. Freundschaft erweist sich im Roman des 20.  Jahrhunderts aber poetologisch als fruchtbar, denn in einer ganzen Reihe von biographischen Romanen erscheint der Freund als Erzähler des Lebens und häufig auch des Scheiterns der Hauptfigur. Freundschaft ermöglicht hier jene Mischung aus Nähe und Distanz, die es erlaubt, den Freund als homodiegetischen Erzähler zu etablieren, der anteilnehmend die Geschichte seines zumeist bereits verstorbenen Freundes erzählt. Häufig bildet eine asymmetrische Freundschaft die Grundlage der Narration. Das berühmteste Beispiel hierfür ist Thomas Manns Doktor Faustus, in dem der Erzähler Serenus Zeitblom einerseits immer wieder seine von Kindheit an bestehende Freundschaft mit Adrian Leverkühn betont, andererseits aber auch die Asymmetrie ihrer Freundschaft thema­ tisiert: ich habe ihn geliebt – mit Entsetzen und Zärtlichkeit, mit Erbarmen und hingebender Bewunde­ rung – und wenig dabei gefragt, ob er im mindesten mir das Gefühl zurückgäbe. Das hat er nicht getan, o nein. […] Wem hätte er sein Herz eröffnet, wen jemals in sein Leben eingelassen. Das gab es bei Adrian nicht. Menschliche Ergebenheit nahm er hin – ich möchte schwören: oft ohne sie zu bemerken (Doktor Faustus, 12).

In dem seit der Empfindsamkeit verbreiteten Entwicklungs- und Adoleszenzroman tritt Freundschaft als die primäre Bindungserfahrung der Jugend ins Zentrum und

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erscheint damit als der entscheidende Aspekt einer liminalen Situation. Freundschaft kann hier zwei Funktionen für den Adoleszenten übernehmen: Sie kann gegenüber der Herkunftsfamilie als Abgrenzungsinstrument und entscheidend neuer Erfah­ rungsraum fungieren, sie kann aber auch gegenüber feindseligen Gleichaltrigen als Schutzwall und erste tiefgreifende Solidaritätserfahrung wirken. In beiden Fällen bilden die gemeinsame Erfahrung und das beziehungsstiftende Erlebnis die Grund­ lage für das Bestehen liminaler Situationen (vgl. Born 2015). Freilich kann der Adoleszenzroman auch das Ausgeliefertsein an eine ‚Brüder­ horde‘, wie in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, oder die Unter­ werfung unter ein nur an Leistung orientiertes System inszenieren, das den Einzel­ nen gegenüber dem Willen zum Aufbau kulturellen Kapitals, wie in Hermann Hesses Unterm Rad, nicht mehr zu würdigen vermag und ihn damit letztlich vernichtet. Die beiden mit Hans Giebenrath freundschaftlich verbundenen Hermann Heilner und der Schuhmacher Flaig können diesen Prozess nicht aufhalten, weil sie sich, wie Heilner, selbst dem System entziehen, oder, wie Flaig, aufgrund ihres sozialen Status davon ausgeschlossen sind. Ihre Freundschaft vermag deshalb keinen funktionierenden Schutzraum zu bieten. Solche Schutzräume gegen eine verlogene und verrottete Erwachsenenwelt bleiben aber bis in den zeitgenössischen Adoleszenzroman, wie etwa in Wolfgang Hermdorfs Tschick, ein fortbestehendes Muster. Intensive Kommunikation und lange Dialoge sind hier eher selten. An ihre Stelle tritt das gemeinsame Erlebnis (vgl. Ewers 1994; Gansel 2011), das in der Jugendfreundschaft die Logik zeitgenössischer männli­ cher Freundschaften vorwegnimmt: Side-by-side, nicht face-to-face.

6 Literatur 6.1 Primärliteratur Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier. 9. Aufl. Berlin 1991. Bodmer, Johann (1745): Thirsis und Damons freundschaftliche Lieder. Zürich. Castiglione, Baldassare (1528): Das Buch vom Hofmann. Übersetzt und erläutert von Fritz Baumgart. Mit einem Nachwort von Roger Willemsen. München 1986. Cicero, Marcus Tullius: Laelius de amicitia. Lat.-dt., hg. von Max Falter. München 1993. Döblin, Alfred (1929): Berlin Alexanderplatz. Frankfurt a. M. 2008. Flex, Walter (1916): Der Wanderer zwischen beiden Welten: Ein Kriegserlebnis. München 1966. Gellert, Christian Fürchtegott (1770): Von der Freundschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 6: Moralische Vorlesungen; Moralische Charactere. Hg. von Sibylle Späth. Berlin 1991. Gellert, Christian Fürchtegott (1769): Moralische Gedichte. In: Ders.: Sämmtliche Schriften. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1769. Hildesheim 1968, Bd. II, 3–68. Gellert, Christian Fürchtegott (1770): Gesammelte Schriften. Kritische Kommentierte Ausgabe. Bd. 2: Gedichte, Geistliche Oden und Lieder. Hg. von Heidi John/Carina Lehnen/Bernd Witte. Berlin/ New York 1997.

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II. Textbeschaffenheit

Kirsten Adamzik

4. Literatur aus der Sicht von Text- und Diskurslinguistik Abstract: Der Beitrag setzt an dem unbefriedigenden Nebeneinander von germanis­ tischer Literaturwissenschaft und Linguistik an, hebt aber hervor, dass beide Sub­ disziplinen in den vergangenen Jahrzehnten ähnliche Entwicklungen durchgemacht haben. Neben einer enormen Erweiterung des Gegenstandsbereichs und der Diver­ sifizierung von Untersuchungsansätzen gehören dazu insbesondere die Annahmen, dass Textualität und Literarizität zugeschriebene Merkmale sind (im Sinne des Konst­ ruktivismus) und die Kategorie (literarischer) Text entsprechend dem Prototypenkon­ zept zu behandeln ist. Da eine eindeutige Zuweisung bestimmter Merkmale sich als unmöglich erwiesen hat, wird vorgeschlagen, die Merkmale in Beschreibungsdimen­ sionen umzudeuten, die sich auf sprachliche Äußerungen aller Art anwenden lassen. Im Einzelnen werden drei Literarizitätsmerkmale auf allgemeinere Eigenschaften zurückgeführt: Poetizität ist verbunden mit hohem Gestaltungsaufwand, Fixierung (Schriftlichkeit) wird operationalisiert als Geltungsdauer und Überlieferungswert, Fiktionalität schließlich lässt sich in der allgemeinen Frage nach Bezugswelten auf­ heben. 1 Vorbemerkung zum Gegenstand und den Teildisziplinen der Germanistik 2 Die zentralen Konzepte: Text und Literatur – das Definitionsproblem 3 Jenseits von Definitionen und Taxonomien – ein diskurslinguistischer Ansatz 4 Das Problem der Wertung 5 Textlinguistische Beschreibungsdimensionen 6 Fazit 7 Literatur

1 Vorbemerkung zum Gegenstand und den Teil­ disziplinen der Germanistik Auf einem Internationalen Colloquium zu Perspektiven der Germanistik im 21. Jahrhundert (Dehrmann/Rohde 2013) stand ein Forum unter dem Thema Philologie, Textwissenschaft, Medienkunde? Zum Gegenstand der Germanistik. Constanze Baum bemerkt in ihrem Bericht dazu, dass neben Mediävistik und Neuerer deutscher Philologie zwar die sog. Auslandsgermanistik und die Medienwissenschaft vertreten waren, nicht aber die Germanistische Linguistik, und zwar weder auf dem Podium noch auf der Tagung generell. Dies „wurde sowohl als Manko als auch als Zeichen dafür gewertet, DOI 10.1515/9783110297898-004

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 Kirsten Adamzik

dass die Autonomisierung dieses Teilbereichs schon weit fortgeschritten sei und eine weitere Zusammenarbeit aktiv gesucht werden müsse“ (ebd.). Dies ist ein neuerer der vielen Belege dafür, dass das Verhältnis von Literaturwis­ senschaft und Linguistik als denkbar schlecht gilt und die Spezialisten für literari­ sche Texte von der (neueren) Sprachwissenschaft kaum für sie relevante Erkenntnisse zu erwarten scheinen. Baum relativiert diese Einschätzung mit Hinweis auf zwei Sam­ melbände aus dem Jahr 2003, die die Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft (so der Titel von Hoffmann/Keßler; beim zweiten Band handelt es sich um Haß/König) thematisieren (vgl. für neuere Sammelpublikationen zum Thema Betten/Schiewe 2011, Bleumer u. a. 2013 und Fludernik/Jakob 2014). Bemer­ kenswert ist allerdings, dass auch deren Herausgeber am höchst unbefriedigenden Neben-, wenn nicht Gegeneinander der Subdisziplinen ansetzen. Das Gleiche gilt für die Beiträge eines Hefts der Zeitschrift für germanistische Linguistik (Hausendorf 2008), das dem Thema Zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft gewidmet ist. Im Einleitungsaufsatz kann Hausendorf wegen der denn doch großen Menge ein­ schlägiger linguistischer Arbeiten zu literarischen Texten bzw. literaturwissenschaft­ licher, die linguistische Konzepte einbeziehen, zwar nur eine kleine Auswahl davon nennen, wichtiger ist ihm aber, dass es an einem „übergreifenden interdisziplinären Rahmen“ (ebd., 320) für die Kooperation fehle. Dass Literatur- und Sprachwissenschaft überhaupt, erst recht aber angesichts immer wieder unternommener Versuche, besser ins Gespräch zu kommen, mit-ein­ ander fremdeln, muss nicht nur Außenstehende – d. h. jene, die mit den auch wis­ senschaftspolitischen Hintergründen nicht vertraut sind – erstaunen. Und das umso mehr, als beide Subdisziplinen in den vergangenen 50 Jahren durchaus parallele Entwicklungen durchlaufen haben. Zu diesen gehört eine enorme Ausweitung der Gegenstandsbereiche, mit denen sie sich befassen, und eine ausgeprägte Diversifizie­ rung theoretisch-methodischer Ansätze. Auf beiden Seiten spielt dabei die Öffnung gegenüber allem, was in alten und neuen Medien produziert und rezipiert werden kann, eine herausragende Rolle. So müssten sich die Teilfächer mindestens in der ohnehin nur interdisziplinär denkbaren Medienwissenschaft (wieder)begegnen, die ja auch auf dem eingangs erwähnten Forum vertreten war. Bei näherem Hinsehen ist das begrenzte Interesse der Subdisziplinen aneinander allerdings durchaus verständlich: Gerade der Druck zu ständigen Neuerungen inter- bzw. transdisziplinärer Ausrichtung führt dazu, dass man sich schon über die Spezialisierungen im eigenen Fach keinen Überblick mehr verschaffen kann. Die (zumindest institutionell) engste Nachbardisziplin nur in einer Reduktionsvariante zur Kenntnis zu nehmen, die von den eigenen Interessen möglichst weit entfernt ist, erspart die Auseinandersetzung mit einem weiteren ausgedehnten Forschungsfeld. Im deutschen Sprachraum wirkt überdies die Entgegensetzung von Natur- vs. Geis­ teswissenschaften in der Tradition von Wilhelm Dilthey nach, die sich mitunter in antiszientistischen bzw. antihermeneutischen Affekten niederschlägt. So gesehen hatte die immer wieder heraufbeschworene goldene Zeit der engen Liaison zwischen

Literatur aus der Sicht von Text- und Diskurslinguistik 

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Linguistik und Literaturwissenschaft in den 1960/70er Jahren (vgl. insbesondere Ihwe 1971 und 1972) durchaus kontraproduktive Effekte, stand sie doch überwiegend im Zeichen formalisierter Ansätze strukturalistischer und generativistischer Provenienz. Dies hat offenbar nachhaltig dafür gesorgt, die Linguistik in den Ruf einer Disziplin zu bringen, „die sich mehr und mehr zu einer hoch spezialisierten Fachwissenschaft entwickelt [hat, für die] kulturwissenschaftliche Ansätze nicht entscheidend sind.“ (Benthien/Velten 2002, 9) Wird ‚die‘ Linguistik hier mit ihrer szientistischen Variante gleichgesetzt, so unterliegt umgekehrt ‚die‘ Literaturwissenschaft aus einer eigentlich desinteres­ sierten Außensicht fortgesetzt dem Verdacht der Unwissenschaftlichkeit, d. h., grob gesagt, sie wird mit schöngeistigen, aber nicht nachvollziehbaren Interpretationen identifiziert. Aus den jeweiligen Innensichten stellt sich die Situation insofern anders dar, als man von den vielfältigen Strömungen in der eigenen Subdisziplin immer­ hin eine genauere Kenntnis hat; der Austausch zwischen ihnen ist aber nicht unbe­ dingt intensiver oder gar konstruktiver, sondern nimmt leicht den Charakter heftiger Kämpfe zwischen verschiedenen Schulen an. Thomas Anz, Herausgeber des 2007 erschienenen Handbuchs Literaturwissenschaft, schreibt dazu: Drei Jahrzehnte lang war die Literaturwissenschaft geprägt von heftig und zuweilen verbissen geführten Auseinandersetzungen um divergierende wissenschaftliche Positionen, von Abgren­ zungskämpfen und angestrengten Profilbildungen diverser Fraktionen im akademischen Kräfte­ feld. Demgegenüber scheinen sich in den Anfängen des 21. Jahrhunderts, zumindest vorläufig, eine pragmatische Gelassenheit und eine theoretische Souveränität zu verbreiten, die nicht auf Feindbilder und die Durchsetzung bestimmter Vorlieben fixiert sind. (Anz 2007, Bd. 1, IX)

Ziel des Handbuchs ist es, die verschiedenen Strömungen vorzustellen und „ihnen einen bestimmten Stellenwert innerhalb eines integrativen Konzeptes zur umfassen­ den und angemessenen Auseinandersetzung mit Literatur“ (ebd.) zuzuweisen. Ein Kapitel ist der Sprachwissenschaft gewidmet. Es bietet eine sehr gute Übersicht über die vielen Wechselbeziehungen und gemeinsamen Interessen der beiden Teilfächer, kommt allerdings zu dem Schluss, dass diese vielfach übersehen, wenn nicht ausge­ blendet werden: Insgesamt ist im Hinblick auf die gegenwärtige Relation von Literaturwissenschaft und Lingu­ istik auffallend, dass zwischen der Vielzahl von tatsächlichen Berührungs- und Überschnei­ dungsbereichen der Disziplinen einerseits und der Distanz vieler Fachvertreter der Germanistik gegenüber der jeweils anderen Teildisziplin andererseits eine erhebliche Diskrepanz besteht. (Schiewer 2007, 392)

Im Folgenden soll nicht erneut ein Panorama der vielen Zeugnisse fruchtbarer Koope­ ration bzw. gegenseitiger Stimulanz entfaltet werden, vielmehr wird der Versuch unternommen, in eher systematischer Absicht einen Rahmen zu entwerfen, inner­ halb dessen sich verschiedene Gegenstände und Fragestellungen situieren lassen. Dabei folge ich der Anregung von Ulla Fix, die „Textlinguistik, deren Gegenstand

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Texte und Textsorten an sich sind“ (Fix 2009, 82), als eine Querschnittswissenschaft zu denken. Eine solche sollte insbesondere ein Kategorieninventar für die Beschrei­ bung anbieten, das sich nicht nur auf Texte aller Art, sondern auch auf alle mögli­ chen historischen und kulturellen Situationen anwenden lässt, d. h. nicht aus einer zu stark gegenwartsbezogenen Sicht konzipiert ist.

2 Die zentralen Konzepte: Text und Literatur – das Definitionsproblem Die Selbstverständigungsdiskussion der letzten Jahrzehnte lässt sich in der Textlingu­ istik wie der Literaturwissenschaft unter das Stichwort Erweiterungspostulat stellen. In beiden Bereichen rechnet man mit einem engen und einem weiten Konzept des Gegenstands, der den Disziplinen ihren Namen gibt. Die (deutsche) Textlinguis­ tik, die ihrem Selbstverständnis zufolge erst seit den 1960er Jahren existiert, ist in ihrer Anfangsphase ganz von der Diskussion um die Definition ihres Kernkonzepts beherrscht. Dabei konkurrieren von Anfang an enge und weite Textbegriffe miteinan­ der. Im Vordergrund steht zunächst die Dichotomie schriftlich vs. mündlich. Unter­ stellt wird in der Regel, dass der alltagssprachliche Ausdruck Text nur schriftliche Äußerungen von einer gewissen Länge bezeichnet. Da sich in jener Zeit die neuere Linguistik von der älteren Sprachwissenschaft abgrenzen wollte und für sich insbe­ sondere Wissenschaftlichkeit beanspruchte, strebten viele die Anschlussfähigkeit an alltagsweltliche Konzepte gar nicht an, sondern setzten sich davon sogar bewusst ab. Aus dieser Zeit stammt das Postulat, der linguistische Textbegriff umfasse im Unter­ schied zum gemeinsprachlichen auch Mündliches. Text bezeichnet demnach jedwede sprachliche Äußerung, den Sprachgebrauch schlechthin, d. h. das, was Saussure Parole nennt. Saussure hatte nun die Sprachverwendung aus dem Untersuchungsbereich der Linguistik als eigenständiger, autonomer Disziplin gerade ausgeschlossen; ihr geht es nur um das Sprachsystem, die Langue. Die Textlinguistik ist daher (neben insbe­ sondere der Soziolinguistik) eine der Strömungen, die sich explizit gegen Autonomie­ bestrebungen (wieder) der sprachlichen Realität zuwendet. Damit verbunden ist das Interesse an der sozialen Funktion von Sprache. Zum neuen Leitbegriff wird Kommunikation: Text ist „Sprache in kommunikativer oder wie immer sozialer, d. h. partner­ bezogener Form“ (Hartmann 1972, 5). Aus dieser Sicht liegt es auch nahe, den Textbegriff noch weiter auszudehnen, nämlich auf nichtsprachliche Zeichen, die in kommunikativen Prozessen ja neben sprachlichen vorkommen. Auch diese, gewöhnlich als semiotisch bezeichnete Aus­ weitung des Begriffs findet sich schon in den 1960er Jahren, so dass Text teilweise auch den Begriffsinhalt ,Zeichenkomplex‘ bekommt. Diese Ausweitung steht aktuell erneut im Vordergrund der Diskussion. Dabei konzentriert man sich allerdings stark

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auf das Visuelle und es besteht eine deutliche Tendenz, Mündliches wieder auszu­ klammern bzw. es der Spezialdisziplin der Gesprächslinguistik zuzuweisen. Mit einem engen Textbegriff arbeiten demgegenüber Ansätze, die man als Textgrammatik bezeichnet. Hier ging es zunächst darum, strukturalistische und genera­ tivistische Beschreibungsmodelle für die Syntax über den Satz hinaus auch auf den Text auszudehnen, d. h. Regeln für die grammatisch korrekte Verkettung von Sätzen zu rekonstruieren. Damit wird nicht nur sprachliche Verfasstheit, sondern auch Satz­ förmigkeit und eine gewisse Länge (mehrere Sätze) als notwendig bzw. trivial gege­ benes Merkmal von Texten unterstellt. Textlinguistik erscheint dabei nicht wie im ersten Ansatz als Linguistik des Sprachgebrauchs, sondern als eine Ebenen-spezifi­ sche, nämlich die Mittel der Satzverknüpfung betreffende Subdisziplin (daher spricht man auch oft von Transphrastik). Auch wenn generativistische Ansätze in diesem Zusammenhang heute keine Rolle mehr spielen, bleibt es insofern bei einer system­ linguistischen bzw. auf die Sprachkompetenz bezogenen Ausrichtung, als nicht die Texte selbst, sondern nur die Regeln interessieren, nach denen wohlgeformte Sätze zu wohlgeformten Texten verbunden werden. Literarische Texte wird man, grob gesehen, als eine Teilmenge dessen betrach­ ten, was unter einen engeren Textbegriff fällt – allerdings nicht gerade den der Text­ grammatik (deswegen musste die Zusammenarbeit enttäuschend bleiben). Auch den Literaturbegriff kann man eng und weit fassen. Für die sich im 19. Jahrhundert etablierende Literaturwissenschaft stellt ein enger Begriff ein konstitutives Merkmal dar, da sie sich auf Texte der Hochkultur beschränkt, ihre Gegenstände also nach bestimmten Wertmaßstäben auswählt. Die Forderung nach einer Erweiterung des Literaturbegriffs fällt in dieselbe Zeit und denselben Kontext wie die Ausbildung der Textlinguistik. Dass Wissenschaftlichkeit eingeklagt wird, ist jedoch für die Litera­ turwissenschaft ungleich folgenreicher, da dies nicht nur einen anderen Umgang mit dem Gegenstand, nämlich intersubjektiv nachvollziehbare Analysen, impliziert. Vielmehr unterliegt schon die Gegenstandsbestimmung selbst dem Verdikt, gegen wissenschaftliche Prinzipien zu verstoßen, gelten doch Werturteile als damit nicht kompatibel. Dies hat nicht zuletzt dazu geführt, dass an die Stelle des Begriffs Werk, der eine Wertung impliziert, programmatisch der Ausdruck (literarischer) Text trat. Wie sich der Gegenstand der Literaturwissenschaft aus dieser Sicht darstellt, umreißt das zitierte Handbuch folgendermaßen: Der Literaturbegriff ist so weit gefasst, dass er literarische Erscheinungsformen sowohl der Eliteals auch der Massenkultur und ihrer neuen Medien einbezieht, die ästhetischen Affinitäten von Literatur und anderen Künsten beachtet und Literarizitätsmerkmale von Texten, die gewöhnlich nicht der Kunst zugerechnet werden, in den Blick bekommt. [… Das Handbuch möchte aber] nicht gleich die gesamte Kultur zu textuellen Sachverhalten erklären und damit die Zuständig­ keiten der Literaturwissenschaft ins Grenzenlose ausweiten. (Anz 2007, Bd. 1, XII)

Auch wenn hier die extreme Ausweitung des Begriffs im Sinne der Formel Kultur als Text abgelehnt wird, zeigt sich doch, dass die Literaturwissenschaft zumindest ten­

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denziell ‚textuelle Sachverhalte‘ aller Art zu ihrem Gegenstandsbereich rechnet, so dass dieser mit dem der Textlinguistik (im Sinne der Untersuchung des Sprachge­ brauchs) zusammenfällt. Angesichts dessen fragt sich umso dringlicher, worin denn der fundamentale Unterschied zwischen beiden bestehen soll, der eine Kooperation geradezu verunmögliche. Trotz aller Erweiterungen bleibt es natürlich dabei, dass für die Literaturwis­ senschaft nur eine Teilmenge der Texte im Fokus steht und nicht-literarische Texte v. a. insoweit in den Blick kommen, als sie wenigstens Literarizitätsmerkmale auf­ weisen. Damit steht man vor der Aufgabe, Literarizität zu definieren. Im Rahmen der Literaturwissenschaft geschieht dies nach Jannidis u. a. (2009, 22) in „den meisten neueren Arbeiten zum Literaturbegriff“ unter Rückgriff auf die Kriterien „Fiktiona­ lität und Poetizität“. Schneider (2007) spricht statt von Poetizität von künstlerischer Sprachverwendung und nennt damit ausdrücklich sprachliche Verfasstheit als konsti­ tutives Literarizitätsmerkmal. Zusätzlich zieht er das Kriterium Fixierung heran – im Sinne von ‚gespeichert‘; für das Gutenbergzeitalter heißt das: schriftlich. Ihm ist es dagegen wichtig, auch schriftlose Kulturen, also u. a. oral poetry, einzubeziehen und das Gedächtnis als Speichermedium zu berücksichtigen. Einig sind sich die zitierten Autoren allerdings darin, dass die genannten Kriterien „weder für sich genommen noch gemeinsam geeignet [sind], ‚Literatur‘ zu bestim­ men. Zugleich sind jedoch Versuche, ohne Bezug auf diese Begriffe zu bestimmen, was unter ‚Literatur‘ zu verstehen sein [sic], nicht plausibel.“ (Jannidis u. a. 2009, 22) Anders gesagt: Es erweist sich als unmöglich, Literatur exakt zu definieren, insbeson­ dere wenn man die ganze Bandbreite historischer und kultureller Gemeinschaften einbeziehen will. Zu demselben Ergebnis ist die Textlinguistik in Bezug auf ihr Kernkonzept gelangt. Dies zeigt sich besonders gut an dem einflussreichsten Vorschlag, Kriterien für Textu­ alität zu definieren, nämlich dem Katalog von Beaugrande/Dressler (1981). Sie führen gleich sieben Merkmale an, und zwar: (grammatische) Kohäsion, Kohärenz, Intenti­ onalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität (im Sinne von Situationsange­ messenheit des Textes) und schließlich Intertextualität. Diese Kriterien (von denen wohlgemerkt keines den für Literarizität angeführten entspricht) wurden zunächst als notwendige Merkmale präsentiert oder in der Rezeption jedenfalls so aufgefasst (vgl. dazu Adamzik 2004, Kap. 3). Die weitere Diskussion führte jedoch zu einer ein­ helligen Zurückweisung dieses Anspruchs. Im Vordergrund stand (und steht) dabei das Kriterium der Kohärenz und der Nachweis, dass es keiner expliziten sprachlichen Mittel (der Kohäsion) bedarf, um den inhaltlichen Zusammenhang sicherzustellen. Vielmehr sind allemal konstruktive Leistungen der Rezipienten notwendig, die dabei nicht nur auf den Text, sondern auch auf Vorwissen und -erwartungen zurückgreifen, also nicht nur vom Sprachlichen geleitet (bottom-up), sondern auch schemagesteu­ ert (top-down) Inhalte (re-)-konstruieren. In dieser Form ist der konstruktivistische Charakter von Textverstehen in der Textlinguistik inzwischen allgemein akzeptiert. Damit bestätigt sich aber auch der schon früh geäußerte Verdacht, dass es schlech­

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terdings nicht möglich ist anzugeben, „was immer und überall als Text zu gelten hat“ (Brinker 1973, 9, zit. nach Heinemann/Heinemann 2002, 102). Über den heutigen Dis­ kussionsstand kann man sagen, dass die Suche nach einer exakten Textdefinition nicht mehr auf der Agenda der Textlinguistik steht. In dieser Situation, die als durchaus unbefriedigend empfunden wird, haben sich sowohl die Textlinguistik als auch die Literaturwissenschaft – allerdings weitestge­ hend unabhängig voneinander und jeweils in unterschiedlich starkem Ausmaß  – zwei neueren Denkfiguren geöffnet. Die erste besteht darin, Textualität und Literarizi­ tät als zugeschriebene Eigenschaften zu betrachten, und nicht etwa als den Objekten inhärente Merkmale – das lässt die Suche nach strikten Definitionskriterien grund­ sätzlich als inadäquat erscheinen und darf daher nicht als Ausdruck von Resignation interpretiert werden. Nicht zuletzt aufgrund der Tradition der Rezeptionsästhetik, die auch den Sinn eines literarischen Textes als Ergebnis der Lektüre begreift, ist dieser Gedanke in der Literaturwissenschaft weit fester verankert, wenngleich er auch schon in frühen Definitionen aus der Textlinguistik erscheint, nämlich als ‚das, was Leute als Texte behandeln‘ (vgl. Adamzik 2016, Kap. 2.5.2.). Auch die große Bedeutung des Wertkriteriums erleichtert es, Literarizität als zugeschriebenes Merkmal aufzufassen, denn bei Werten handelt es sich allemal um zugeschriebene, sozusagen verliehene Eigenschaften. Bei literarischen Texten kann man zudem viel einfacher die Instanzen namhaft machen, die solche Urteile fällen und die diskursiv einen Kanon durchset­ zen oder dies zumindest versuchen. Stärker in der Linguistik verbreitet ist dagegen die zweite Umorientierung. Sie betrifft die Frage, welchen Status (sprachliche) Kategorien haben. Dabei ging es zunächst um die Bedeutung von Wörtern. Unter Rückgriff auf Wittgensteins Theorie der Familienähnlichkeit stellte man die Annahme infrage, Elemente einer Katego­ rie, also z. B. alles, was man Spiel nennt, müssten notwendigerweise mindestens ein Merkmal gemeinsam haben. Im Rahmen der Rezeption des Prototypenkonzepts aus der Kognitiven Psychologie wurde diese Annahme endgültig verabschiedet. Wie die Wörter der normalen Sprache mehrdeutig und vage sind, ihre Bedeutungen sich teil­ weise überschneiden und das jeweils Gemeinte sich erst im Kontext erschließt, arbei­ tet die menschliche Kognition generell mit Kategorien, die unscharfe Ränder aufwei­ sen und an verschiedene Situationen angepasst werden können und müssen. So gibt es zwar konkrete Objekte, Verhaltensweisen, Situationen usw., die für eine Katego­ rie (z. B. Vogel, lügen, Schulunterricht) besonders typisch, sozusagen exemplarisch sind; aber auch weniger repräsentative Einheiten fallen noch in dieselbe Kategorie (z. B. Pinguine, Notlügen oder Unterricht ohne Lehrperson); sie sind allerdings vom Prototyp weiter entfernt, befinden sich also im peripheren oder Randbereich. Dieses Konzept wurde erst sekundär auch auf Texte und Textsorten angewendet, heute ist es aber in der Textlinguistik fest etabliert. Da Kategorien sich verschiedenen Oberbegriffen zuordnen lassen, kann ein und dieselbe in Bezug auf den einen Oberbegriff dem Prototyp nahestehen, in Bezug auf den anderen eher peripher sein. So ist ein Roman ein besserer Repräsentant für die

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Kategorie Literatur als ein Briefwechsel. Dieser ist aber typischer für die Kategorie kommunikativer Austausch. Ferner unterliegen die Vorstellungen darüber, welche Merkmale besonders wichtig sind und wie nah bestimmte Einheiten und Kategorien dem Prototyp stehen, großer historischer und kultureller, aber auch gruppenspezifi­ scher und individueller Varianz (man denke z. B. an die Kategorie Nahrungsmittel). Gebundene Rede als Merkmal von Literatur ist z. B. für die Gegenwart viel weniger relevant als zu früheren Zeiten. In literaturwissenschaftlichen Beiträgen ist das Prototypenkonzept ebenfalls durchaus verbreitet (vgl. z. B. das Register von Zymner 2010), teilweise allerdings nur implizit, d. h. ohne dass dieser Begriff erscheint. Dies gilt etwa für den im vorliegen­ den Zusammenhang besonders einschlägigen Beitrag aus dem Handbuch von Anz, nämlich den bereits zitierten von Jost Schneider. Er schlägt folgende Definition für literarische Texte vor und präsentiert dazu ein Schema (Abb. 1): „Ein literarischer Text ist eine Abfolge von Sprachlauten und/oder Schriftzeichen, die fixiert und/oder sprachkünstlerisch gestaltet und/oder ihrem Inhalt nach fiktional ist“ (Schneider 2007, 2; im Orig. kursiv). FIXIERUNG

FIKTIONALITÄT L7 L2

L3

L1

L5 L4

L6 KÜNSTLERISCHE SPRACHVERWENDUNG Abb. 1: (Schneider 2007, 3)

L1 entspricht dem Prototyp, der alle drei Merkmale aufweist, für quantitativ am bedeutsamsten hält Schneider die Menge L3, die Unterhaltungs- und Trivialliteratur umfasst; zu L6 zählt er „z. B. improvisierte Festansprachen in Versform“ (ebd., 5).

3 Jenseits von Definitionen und Taxonomien – ein diskurslinguistischer Ansatz Die Befreiung vom Zwang zu exakten Definitionen durch das Prototypenkonzept besteht eigentlich nur darin, dass man bestimmte Merkmale nicht mehr als notwen­ dig und/oder hinreichend für die Zuweisung zu einer Kategorie betrachtet. Das ändert nichts daran, dass solche Merkmale z. B. bei einem konkreten Text (bzw. einem Kan­ didaten für die Kategorie (literarischer) Text) gegeben sein können oder nicht bzw. dass man Texte unter diesen Aspekten beurteilen kann und dies auch die Grundlage

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für ihre Einschätzung als (nicht) literarisch bildet. Insofern behalten die Eigenschaf­ ten als Beschreibungskategorien ihre volle Relevanz. Schneider wählt in seinem zusammenfassenden Schema drei häufig genannte Merkmale aus und unterstellt, dass mindestens eines davon gegeben sein muss. Es könnte daher ebenso gut als Merkmalsmatrix mit Plus- und Minuswerten dargestellt werden, berücksichtigt also nicht, dass Merkmale graduell ausgeprägt sein und weitere Merkmale einbezogen werden können. Dies geschieht jedoch in den weiteren Erläuterungen, in denen auch die zweite Umorientierung zentral ist, nämlich der Übergang von einem substanzia­ listischen bzw. essenzialistischen zu einem konstruktivistischen bzw. konventiona­ listischen Literaturbegriff. Schneider betrachtet sein Schema als ein Metamodell, mit dem sich Ansätze aller Ausrichtungen erfassen lassen. Ein substanzialistischer Literaturbegriff unterstellt, dass ein Text an und für sich diese oder jene Eigenschaft hat, dass er also z. B. fiktional ist, unabhängig davon, ob ein Leser dieses Textes sub­ jektiv diese objektiv vorhandene Fiktionalität erkennt oder nicht. Ein konstruktivistischer Litera­ turbegriff basiert demgegenüber auf der Vorstellung, dass ein bestimmter Text nicht an und für sich diese oder jene Eigenschaft hat, dass er also z. B. nicht an und für sich fiktional ist, sondern dass die Zuschreibung des Merkmals ‚Fiktionalität‘ ein Akt des jeweiligen Beobachters ist, der in Abhängigkeit von seinen spezifischen Kenntnissen, Neigungen und Überzeugungen seine Vor­ stellung von diesem Text als einem fiktionalen Text konstruiert. Im einen wie im anderen Fall erlaubt es das Dreikreisschema, eine bestimmte Verwendung des Begriffs ‚Literatur‘ zu erfas­ sen oder auch eine schwankende, womöglich widersprüchliche oder bestimmten strategischen Zwecken dienende Verwendung dieses Ausdrucks innerhalb eines bestimmten Argumentations­ ganges aufzudecken. (Schneider 2007, 3 f.)

Einbeziehen lassen sich so insbesondere die vielen Auffassungen, für die das Kri­ terium ‚besonders wertvoll‘ zentral ist. In literaturwissenschaftlichen Ansätzen hält Schneider  – mit anderen, die im Namen der Wissenschaftlichkeit Werturteile aus­ schließen wollen – wertende Zusatzkriterien zwar für gänzlich unangebracht; diese spielen aber für viele Akteure im Literaturbetrieb, nicht zuletzt das Publikum, eine zentrale Rolle und zumindest als solche „können und sollen [… sie] zum Gegenstand ästhetik- und wissenschaftsgeschichtlicher Analysen gemacht werden“ (ebd., 4). Die germanistische Literaturwissenschaft hat ihre Wissenschaftsgeschichte umfangreich aufgearbeitet und es ist allgemein bekannt, dass der Träger bzw. Erfin­ der des emphatisch-wertenden Literaturbegriffs das Bildungsbürgertum war, das das Schreiben der eigenen Literaturgeschichte als ein nationales Anliegen begriff. Offenkundig handelt es sich bei diesem Vorgang um die diskursive Konstruktion des Gegenstands der Disziplin, nämlich der Nationalliteratur, und natürlich auch um die Konstruktion der Disziplin, der germanistischen Literaturwissenschaft. Ein solches Konstrukt kann man infrage stellen, kritisieren, ihm andere Konzepte entgegenstel­ len – genau in solchen Zusammenhängen kam es ja auch zum Erweiterungspostulat. Man kann sich jedoch nicht aus dem diskursiven Zusammenhang befreien. Die Wis­ senschaft bietet keinen archimedischen Punkt, der eine standortfreie Rede über Lite­ ratur ermöglichen würde. Als paradox muss es daher letztlich auch beurteilt werden,

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Wertfreiheit einzufordern, da dies dem Setzen eines anderen Wertmaßstabs gleich­ kommt. Das Maximum, das sich an Relativierung und Distanzierung von Wertmaßstäben erreichen lässt, besteht darin, diese selbst – in ihrer Pluralität – zum Gegenstand von Reflexion und Analyse zu machen. Dies ist die Vorgehensweise, mit der sich die Dis­ kurslinguistik der Literatur zu nähern hätte, für die unterschiedliche, ja widerstrei­ tende Diskursstränge innerhalb von Diskursen den Normalfall darstellen. Der Irre­ alis ist hier geboten, weil die Diskurslinguistik bislang weder die Literatur noch die Literaturwissenschaft zum Gegenstand gewählt hat, sondern ihre Themen bevorzugt im Kommunikationsbereich Politik sucht und gesellschaftlich brisante Themen (Kli­ mawandel, Migration usw.) privilegiert (vgl. als Übersicht Spitzmüller/Warnke 2011). Das entscheidende Moment eines diskurslinguistischen Ansatzes besteht darin, die Gegenstände, von denen Texte handeln, nicht als objektive Gegebenheiten der außersprachlichen Wirklichkeit zu behandeln  – um nicht zu sagen: zu hypostasie­ ren –, sondern als diskursiv hervorgebrachte Konstrukte. Dass es sich bei (National-) Literatur um ein solches Konstrukt handelt, ist im Übrigen viel offensichtlicher als bei (in der Diskurslinguistik prominenten) Kategorien wie Geschlecht oder Ethnie, nicht zuletzt weil es in vielen Gesellschaften gar keine spezielle Kategorie für das gibt, was wir als literarische Texte zusammenfassen. Sachlich entsprechen die hier als pars pro toto zitierten Beiträge von Schneider und Jannidis u. a. einer solchen diskurslinguistischen Perspektive und es zeigt sich erneut, dass trotz unbefriedigenden Austauschs zwischen Linguistik und Literatur­ wissenschaft die jeweiligen Entwicklungen in mindestens sehr ähnliche Richtun­ gen gehen – nicht zuletzt natürlich, weil beide gleichermaßen transdisziplinär ein­ flussreiche Konzepte aufgreifen. Der konsequent anti-essenzialistische bzw. ‚radikal historisierte‘ Blick richtet sich wesentlich auf die eigene Wissenschaftsgeschichte. Literatur ist aber nicht nur und nicht einmal in erster Linie ein wissenschaftliches Konstrukt, sondern eines, das für alle Gesellschaftsmitglieder relevant ist. Mit einer gewissen Emphase hebt Schneider (2007, 1) sogar die Universalität dessen hervor, was er doch zugleich als Konstrukt auffasst: Zu allen Zeiten, auf allen Kontinenten sowie in allen Bildungs-, Alters- und Gesellschaftsschich­ ten begegnen uns Formen des mündlichen oder schriftlichen Sprachgebrauchs, die aufgrund bestimmter Merkmale und Eigenarten als ‚literarische Kommunikation‘ bezeichnet werden können und bezeichnet worden sind.

Jannidis u. a. (2009, 15) scheint demgegenüber „eigentlich jede Verwendung eines modernen Literaturbegriffs hoffnungslos anachronistisch“, wenn es um historisch oder auch kulturell entfernte Gesellschaften geht. Die Lösung dieses Dilemmas sehen aber auch sie darin, den historisch-kulturell spezifischen Umgang mit Texten verschie­ dener Art zum Objekt der Analyse zu machen und die Kategorien zu rekonstruieren, mit denen die Gesellschaftsmitglieder und einzelne Gruppen von ihnen ‚ihre‘ Text­

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universen konstituieren und gliedern (vgl. ebd., 29). Untersuchungen in diesem Sinne haben in Bezug auf literarische oder literaturnahe Texte auch schon eine längere Tra­ dition. Neben Literatursoziologie und historischer Leseforschung, die insbesondere Institutionen der Literaturvermittlung im Blick hat, ist v. a. die handlungstheoretisch ausgerichtete Empirische Literaturwissenschaft von Siegfried J. Schmidt (1980) zu nennen, ferner (in jüngerer Zeit) auch Arbeiten zur individuellen Textverarbeitung, die in Kooperation mit psychologischen und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen entstanden sind (vgl. dazu die einschlägigen Kapitel in Anz 2007).

4 Das Problem der Wertung Mit einer diskurslinguistischen Position ist das Problem der Wertung vordergrün­ dig neutralisiert, insofern bloß zu rekonstruieren ist, welche Wertungen relevante Gruppen in Bezug auf Lesestoff vornehmen, der (offenbar allein auf der Grundlage des Kriteriums fiktional) zur Literatur gerechnet wird. Dies führt Schneider zur Unter­ scheidung verschiedener Arten von Literatur, die für gesellschaftliche Schichten wesentlich als Distinktionsmittel fungieren: In der Unterhaltungsliteratur der Mittelschichten wird vorrangig eine Vorstellung von gesell­ schaftlicher ‚Normalität‘ ausformuliert, die der Abgrenzung des eigenen Lebensstils sowohl nach unten, gegenüber den für ‚primitiv‘ erklärten Unterschichten, als auch nach oben, gegen­ über den für ‚realitätsfern‘ erklärten Bildungseliten bzw. gegenüber den als ‚arrogant‘ wahrge­ nommenen Machteliten, dient. (Schneider 2007, 18)

Vordergründig bleibt diese Neutralisierung aus mehreren Gründen: Zunächst gehören Literaturwissenschaftler selbst zur Bildungselite und schon durch die Auswahl des Behandelten konstituieren sie den Gegenstand Literatur mit. Das gilt natürlich beson­ ders, wenn es um die Vermittlung an ein breiteres Publikum z. B. in Literaturgeschich­ ten oder Nachschlagewerken geht, erst recht aber in didaktischen Zusammenhängen, also dort, wo die gesellschaftliche Relevanz der Literaturwissenschaft besonders auf dem Spiel steht. Ferner sind sozial- und rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zwar zweifellos bedeutsam, es ist aber doch etwas anderes über den Umgang mit Lite­ ratur als über die Literatur selbst zu sprechen; es hat wenig Sinn, das eine gegen das andere auszuspielen. Schließlich beinhaltet die Kategorie Literatur (als Unterbegriff von Kunst) eine Wertung. Dies gilt auch für die Zuschreibung künstlerischer Sprachgebrauch, selbst wenn Schneider (2007, 4) meint, dieses Prädikat „nicht normativ, sondern unter Bezugnahme auf Kategorien der Deviationsstilistik streng deskriptiv“ benutzen zu können. Kommunikation über Kunst kommt aber nicht ohne das Bewer­ ten aus – neben dem Bezugnehmen, Beschreiben, Deuten und Erläutern (vgl. Hau­ sendorf 2011).

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Dazu passt auch, dass man die Angemessenheit bildungsbürgerlicher Wertmaß­ stäbe zwar infrage stellt oder sogar für obsolet hält, der Literatur aber laufend neue Qualitäten zuspricht (innovativ, emanzipatorisch, subversiv usw.), so „dass es gegen­ wärtig scheint, als gäbe es kaum eine hochzielende Erwartung, die nicht mit dem Begriff [Literatur] verknüpft werden könnte“ (Jannidis u. a. 2009, 4). Ferner lässt sich in der literaturwissenschaftlichen Praxis nach wie vor „eine deutliche Konzentration auf kanonische Literatur der Moderne und Postmoderne“ (ebd., 10) konstatieren. So spricht doch einiges dafür, dass der Ausschluss von Wertung einem vergeblichen Unterfangen gleichkommt, einer Art Quadratur des Kreises. In Bezug auf die Literatur (und andere Künste) gibt es allerdings so etwas wie eine ideale Rollenverteilung, nach der die Bewertungen vorrangig der Kunstkritik zufallen, wo sie nicht nur erlaubt, sondern geradezu obligatorisch sind. Eine möglichst wert­ neutrale Wissenschaft könnte sich dagegen auf das Beschreiben und Erläutern (von Entstehungszusammenhängen, vergleichbaren Stoffbehandlungen usw.) konzent­ rieren. Eine solche (hypothetische) Arbeitsteilung änderte freilich nichts daran, dass Wissenschaftler, insofern sie Kunst zu ihrem Gegenstand machen, in den entspre­ chenden Diskurs eingebunden bleiben und ihn sowie den Gegenstand selbst mit her­ vorbringen. Es ist außerdem nicht einfach nachvollziehbar, wieso ausgerechnet die­ jenigen, die besonders profunde Kenntnisse über den Gegenstand haben – nur diese versetzen sie in die Lage, differenziert zu beschreiben und zu erläutern  – und die außerdem Werturteile von anderen Instanzen reflektieren, sich selbst jeder Wertung enthalten müssten. Mit wissenschaftlichen Prinzipien ist es zwar nicht vereinbar, lediglich subjektive (Geschmacks-)Urteile zu verkünden, ohne die Wertmaßstäbe und die Regeln ihrer Anwendung offenzulegen. Wenn eben dies aber geschieht, so sind Wertungen in intersubjektiv nachvollziehbare Argumentationen eingebettet, und mehr als das ist in der Wissenschaft ohnehin nicht erreichbar. An dieser Stelle ist es nützlich, einen Blick auf eine vergleichbare Debatte in der Linguistik zu werfen, zumal deren Wissenschaftlichkeit ja teilweise Vorbildcharakter hat. Zwar ist das Werten für die Kategorie Sprache nicht so konstitutiv wie für Litera­ tur, besonders im Feuilleton und verwandten Gattungen gehört aber die Sprachkritik zu den beliebtesten Formen, Sprache zu thematisieren. Solche Kritik richtet sich in der Regel gegen den aktuellen Sprachzustand und präsentiert immer wieder neu den altbekannten Topos vom Sprachverfall. Mit dem Argument, Wertungen seien in der Wissenschaft grundsätzlich ausgeschlossen, wurde Sprachkritik lange für linguis­ tisch nicht relevant erklärt. Die Sprachwissenschaft sah sich dann allerdings heftigen Angriffen u. a. von Seiten der Sprachkritiker ausgesetzt, die, so könnte man resü­ mieren, die wertneutrale Deskription von Sprache für gesellschaftlich nicht relevant halten. Dies löste innerhalb der Linguistik eine ausgedehnte Diskussion um die Frage aus Darf man als Sprachwissenschaftler die Sprache pflegen wollen? (Bär 2002). Zwar haben sich die Beziehungen zwischen den heute meist als laienlinguistisch herabgesetzten Sprachkritikern – tatsächlich fehlen ihnen in der Regel die fachlichen Voraussetzungen für das Beschreiben und Erklären  – und der Sprachwissenschaft

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nicht verbessert, fest etabliert ist aber inzwischen eine linguistisch fundierte Sprach­ kritik (vgl. Kilian u. a. 2010) und die Diskussion um das Wertungsproblem ist erheb­ lich differenzierter geworden. Während die Frage, ob man globale Werturteile über Sprachen, Varietäten oder auch den Entwicklungsstand einer Sprache fällen darf, noch sehr kontrovers beantwortet wird, bezweifelt niemand, dass man Texte bewer­ ten kann und darf, besser gesagt: dass man diese in der Sprachwirklichkeit ohnehin ubiquitäre Praxis auf wissenschaftlicher Grundlage durchführen kann. Besonders wichtig ist natürlich wieder der didaktische Kontext (einflussreich hier Nussbaumer 1991). Dies zeigen eigentlich schon die oben angesprochenen Textualitätskriterien von Beaugrande/Dressler, von denen man zumindest einige kaum anders denn als Wert­ maßstäbe verstehen kann, insbesondere Akzeptabilität, Situationsangemessenheit und Kohärenz. Besonders bemerkenswert ist allerdings, dass in Bezug auf die sprach­ liche Form Kohäsion als zentrales Merkmal erscheint, nicht aber Korrektheit, die doch ein elementares Gütekriterium bildet. Dieses Kriterium lässt sich auf Texte praktisch allerdings nur anwenden, wenn es überhaupt eine (kodifizierte) Norm gibt, an der der Sprachgebrauch gemessen werden kann. Für das Deutsche gilt dies bekanntlich erst seit dem 18. Jahrhundert. Der Augenblick der gefestigten Norm ist [aber] zugleich schon der Augenblick der Revolte gegen die Norm. […] In den 70er Jahren [des 18. Jahrhunderts] beginnt, angesichts der eben erst gefes­ tigten Norm, das Zeitalter der Abweichungspoetik. (Eibl 1985, 119 f.) Die ‚Ausdruckskraft‘ der Normabweichung wirkt [allerdings] nur deshalb, weil sie die Norm voraussetzt und ein zusätzliches Register ist; nicht Unfähigkeit, sondern nur das souveräne – zumindest passive – Beherrschen der Norm macht die Abweichung zu einem Akt der Freiheit. (Ebd., 121 f.)

Wer nun Abweichungsstilistik zwecks Vermeidung von Werturteilen zum ‚deskripti­ ven‘ Maßstab für Literarizität machen will, ist nicht nur gezwungen, Abweichungen danach zu unterscheiden, ob sie gewollt (und künstlerisch oder sonst sinnvoll) sind oder aber auf Inkompetenz oder Versehen zurückgehen; er büßt ferner die Möglich­ keit ein, die unterschiedlichsten (sprach)historischen Epochen erfassen zu können. Dies entspricht einem sehr engen Literaturbegriff, der das Bestehen von Sprachnor­ men voraussetzt und dabei nicht zuletzt die Bedeutung schmälert, die der Literatur bei der Ausbildung eben dieser normierten deutschen Standardsprache zukam. Ein enger Begriff von Literatur ist auch in der Textlinguistik durchaus verbrei­ tet und dürfte v. a. denen vorschweben, die literarische Texte gar nicht dem Gegen­ standsbereich dieser Disziplin zurechnen. Dafür, dass eine solche – aus der Außen­ sicht zweifellos erstaunliche – Selbstbeschränkung nicht unüblich ist, sprechen v. a. die am weitesten verbreitete, inzwischen in 8. Auflage vorliegende Einführung von Brinker (Brinker u. a. 2014) und der einschlägige Band aus der Reihe der Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK 16; Brinker u. a. 2000/2001), die literarische Texte aus der Betrachtung fast gänzlich ausschließen. Der verständlichste

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Grund dafür besteht darin, dass es in diesen Werken nicht zuletzt um die Subklassi­ fizierung von Textsorten geht und die literaturwissenschaftliche Gattungsforschung bereits ein derartig weit ausdifferenziertes Forschungsfeld darstellt (vgl. Zymner 2010), dass man nur dahinter zurückbleiben kann. Dieses Vorgehen kann gleichwohl nicht überzeugen, denn schon allein um eine Gruppe von Texten (noch dazu eine, die für die meisten Sprachteilhaber dem Prototyp nahesteht) aus der Betrachtung auszuklammern, bedarf es eines Abgrenzungskrite­ riums, d. h. man müsste eigentlich angeben können, was denn  – aus textlinguisti­ scher Sicht – das Spezifische an literarischen Texten ist. Diese Frage wird jedoch eher selten behandelt und praktisch (!) dürfte man meist dem konventionalistischen Lite­ raturbegriff folgen: Texte kommen ja nicht als unkategorisierte Einheiten in die Welt, sondern es werden ihnen von vornherein bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, häufig durch einen expliziten meta- bzw. parasprachlichen Hinweis auf die Gattung bzw. Textsorte. Alles, was sich bereits selbst als einer literarischen Gattung zugehörig präsentiert, kann man als solches akzeptieren – und dann der Literaturwissenschaft überlassen. Wer die Textlinguistik auf Gebrauchstexte beschränken oder mindestens konzen­ trieren möchte, tut dies allerdings nicht unbedingt (nur) aus Respekt vor disziplinären Zuständigkeiten. Vielmehr werden literarischen Texten mitunter auch ausdrücklich Eigenschaften zugeschrieben, die sie für textlinguistische Fragestellungen ungeeig­ net erscheinen lassen. Ein erstes gelegentlich sehr explizit zum Ausdruck gebrachtes Argument besteht letzten Endes in der Berufung auf das Prinzip de singularibus non est scientia, das uns auf den Anspruch größerer Wissenschaftlichkeit der Sprachwis­ senschaft zurückführt. Danach gehe es in der Linguistik immer nur um Allgemeines – anders als in den Naturwissenschaften ist allerdings nicht von Gesetzen, sondern von Regeln die Rede: Im Unterschied etwa zur Literaturwissenschaft kann die Linguistik […] Textexemplare nie als eigentliches Erkenntnisziel betrachten, sondern nur als Material aus dem die sprachlichen Regeln und Normen zu erschließen sind,

heißt es bei Koch/Oesterreicher (2008, 214). Noch einen Schritt weiter gehen Hoff­ mann/Keßler (2003, 9), die bezeichnenderweise wieder mit dem Begriff Werk operie­ ren und unterstellen, er bleibe für die Literaturwissenschaft zentral: Die Literaturwissenschaft ist von je her auf den Einzeltext in seinem Charakter als Werk orien­ tiert. Diese Werkorientiertheit wird auch dann niemals völlig aufgegeben, wenn Fragen nach Gat­ tungs- oder Œuvretypischem, nach Relationen der Diskursivität und Intertextualität die Frage nach der Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit eines Textes zweitrangig werden lassen. Dem­ gegenüber ist die Linguistik dazu berufen, anhand eines Textcorpus Mengen von Gebrauchstex­ ten nach ausgewählten Kriterien so zu sortieren, dass der Einzeltext mitsamt seinen individuel­ len Eigenheiten in einer abstrakten Klasse verschwinden kann.

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Entsprechend der ersten Aussage kommen literarische Texte immerhin noch als Mate­ rial für die Rekonstruktion von Regeln und Normen infrage, wenngleich kein Einzel­ text als solcher interessiert (das ist eigentlich die systemlinguistische Position). Die zweite präsentiert gleich Gebrauchstexte als alleinigen oder jedenfalls vorrangigen Gegenstand der Linguistik und präsupponiert die Einmaligkeit und Unverwechsel­ barkeit literarischer Texte, rekurriert also auf den emphatisch-wertenden Literatur­ begriff. Gebrauchstext (in der Literaturwissenschaft häufig auch als pragmatischer Text bezeichnet) bildet also die Gegenkategorie zu literarischer Text. Daraus lässt sich ableiten, worin der fundamentale Unterschied zwischen beiden gesehen wird: Lite­ ratur hat keinen Gebrauchswert. Das passt durchaus zu dem mit ‚höheren Werten‘ assoziierten Begriff von Literatur und dem dafür zentralen Konzept der Autonomie. Literatur steht nicht im Dienst irgendwelcher praktischer Zwecke, ist im Extremfall l‘art pour l‘art. Es passt natürlich nicht zu Erscheinungen wie Gebrauchslyrik, Lehr­ dichtung usw., zieht die Grenzen der Literatur eben sehr eng. Ebenso eng ist das Konstrukt der Textfunktion, das im Gefolge der sog. kommuni­ kativ-pragmatischen Wende in der Textlinguistik vorherrschend wurde und das man bevorzugt zur Textsortendifferenzierung einsetzt. Es lehnt sich an die fünf illokutio­ nären Typen aus der Sprechakttheorie an (vgl. dazu genauer Nikula in diesem Band) und bietet für die speziellen, außerhalb von konkreten Handlungszusammenhängen angesiedelten Funktionen von (literarischen) Texten keinen Platz (vgl. dazu Adamzik 2016, Kap. 5.). Entscheidend für dieses Konzept ist ferner, dass die Textfunktion mit der Inten­ tion des Produzenten gleichgesetzt wird, die dieser mit konventionellen Mitteln rea­ lisiert – und die daher vom Rezipienten auch leicht rekonstruiert werden kann. Dies führt auf ein weiteres Merkmal, das literarischen Texten zugeschrieben wird und das in einer sprechakttheoretisch ausgerichteten Textlinguistik stört: Gemeint ist das, was man meist ihre Offenheit nennt, die Eigenschaft, dass sie nie vollständig und einsinnig ausdeutbar sind. Die Instrumente zum Umgang mit impliziten und indirek­ ten Botschaften (Implikaturen entsprechend den Konversationsmaximen von Grice) können dieser Offenheit nicht gerecht werden, zumal die Produzentenperspektive privilegiert bleibt. Nun stellt im Prinzip nicht nur jeder literarische, sondern auch jeder pragmati­ sche Text eine – freilich mehr oder weniger große – hermeneutische Herausforderung dar und kann völlig oder partiell unverstanden bleiben oder auch gründlich missver­ standen werden. Nicht relevant ist dies ausschließlich für diejenigen, die sich für den Inhalt von Texten bzw. seine Rekonstruktion ohnehin nicht interessieren, sondern Texte nur als Material für die Rekonstruktion von Regeln behandeln. Solche Ansätze sind denkbar weit entfernt von einer als Querschnittsdisziplin gedachten ‚allgemei­ nen‘ Textlinguistik, auf die wir jetzt zurückkommen.

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5 Textlinguistische Beschreibungsdimensionen Die Aufgabe einer allgemeinen Textlinguistik besteht darin, ein Inventar von Beschreibungskategorien bereitzustellen, die sich auf sprachliche Äußerungen aller Art anwenden lassen. Was man zunächst als Merkmal (von Texten überhaupt oder bestimmter Untergruppen wie literarischer) angesetzt hat, das gegeben ist oder nicht, wird in eine Beschreibungsdimension umgedeutet, die differenzierte (und möglichst gut operationalisierbare) Ausprägungen einer abstrakteren Kategorie umfasst. Ange­ sichts der unscharfen Grenzen zwischen Kategorien ist zu erwarten, dass Merkmale besonders nützlich sind, die sich als skalar angelegte Dimensionen konstruieren lassen. Im Folgenden soll es darum gehen, ausgehend von den oben behandelten Kriterien für Literarizität solche Oberbegriffe und zugehörige (meist skalar gedachte) Ausprägungen zu suchen.

5.1 Künstlerische Sprachverwendung oder: Gestaltungsaufwand Beim ersten Kriterium bedarf es nur der Weglassung des spezifizierenden Adjek­ tivs, um zur abstrakten Kategorie zu gelangen: Es geht um die Sprachverwendung, die konkrete sprachliche Gestalt von Texten bzw. ihren Sprachstil. Es gilt dabei die Annahme, Sprachstil komme jedem Text zu, der Ausdruck wird also nicht etwa für eine Menge besonderer Stilmittel oder dergl. reserviert. Die allgemeine Anwendbar­ keit des Kriteriums ist damit garantiert, allerdings handelt es sich natürlich um einen ganzen Komplex von Merkmalen. Auf lexikalischer und morphologischer Ebene ist es allgemein üblich, alternative Ausdrucksmittel entsprechend ihrem Stilniveau skalar anzuordnen. Für die syntaktische Ebene ist das seltener (prominent aber z. B. die Verbstellung bei weil). Eine engere Auffassung von Stil stellt den sog. Redeschmuck in den Vordergrund. Die Auflistung poetischer und rhetorischer Mittel hat eine besonders alte Tradi­ tion: Reim- und metrische Schemata sowie ein ganzes Arsenal rhetorischer Figuren. Schneider scheint tatsächlich auch genau dies im Blick zu haben, wenn er Festan­ sprachen Literarizität zuschreibt, falls sie Versform aufweisen. Später stellt er aller­ dings selbst fest: Die seit langem zu konstatierende Tendenz zur Entmetrisierung sowohl der Lyrik als auch des Dramas einerseits und die exzessive Verwendung von Reim und Verstechnik in der Produktwerbung andererseits haben jedoch diese Gleichsetzung von Poetizität und Literarizität erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. (Schneider 2007, 16)

Es ist indes sicher nicht allein der (mögliche) Verzicht auf die in Regelpoetiken und rhetorischen Lehrbüchern (auch aktuellen!) tradierten Techniken, der moderne Literatur charakterisiert, besser gesagt: der es unmöglich macht, Literarizitität auf

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bestimmte sprachliche Merkmale zurückzuführen. Es bedarf eines abstrakteren Kri­ teriums, das erlaubt, die bekannten Mittel als spezifische Ausprägungen eines allge­ meinen Prinzips zu begreifen. Dies leistet das Konzept der poetischen Funktion von Roman Jakobson. Es besagt, dass durch die Rekurrenz irgendwelcher Elemente Struk­ turen hervorgebracht werden. Entgegen einer verbreiteten Ansicht spielen dabei nicht nur formale oder gar lautliche Phänomene eine Rolle. Ginge es nur um die üblichen Ausdrucksmittel, wäre ja die komplizierte Formel von der ‚Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination‘ unnötig. In dem Wahlslogan, den Jakobson als Beispiel wählt, kommt die Grundidee in knapps­ ter Form sehr sinnfällig zum Ausdruck: I like Ike (statt z. B. We like Eisenhower). Aber auch z. B. Isotopieketten, Leitmotive, die Verbindung bestimmter Stimmungen mit Farben oder Witterungserscheinungen usw. folgen demselben Prinzip, nämlich der strukturkonstituierenden Auswahl eines Elements aus einer Menge alternativ einsetz­ barer. Man kann die poetische Funktion daher auch mit dem Prinzip der Überstruk­ turierung gleichsetzen. Das Beispiel sollte auch einem weiteren verbreiteten Missverständnis vorbeu­ gen, dass nämlich die poetische Funktion zur Unterscheidung von literarischen und nicht-literarischen Texten tauge: „Jeder Versuch, die Sphäre der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die poetische Funktion einzuschrän­ ken, wäre eine trügerische Vereinfachung.“ (Jakobson 1979, 92) Sehr wohl kann sie dagegen dazu dienen, die Elaboriertheit des Stils zu bestimmen, die nun aber eben nicht spezifisch für Literatur ist. Während heutzutage v. a. Werbung mit Reimen arbei­ tet, findet man besonders virtuosen, mitunter auch geradezu akrobatischen Sprach­ stil wohl am leichtesten im Feuilleton von Bildungsbürgern geschätzter Blätter. Es bleibt zu erläutern, wieso der Sprachstil gleichwohl ein sehr wesentliches Merkmal für literarische Texte darstellt. Dazu eignet sich die Kategorie Selektion, also Auswahl. Aus den Mitteln auswählen muss man bei jedem Äußerungsakt. Das Prädi­ kat gewählt hat aber neben der neutralen auch eine wertende Lesart. Diese kann sich darauf beziehen, dass man Elemente wählt, die auf hohem Stilniveau angesiedelt (und damit selten) sind, oder dass eine besonders große Vielfalt von Ausdrucksmit­ teln Verwendung findet, was nur bei hoher Sprachkompetenz möglich ist. Eine solche impliziert ein breites Varietätenspektrum, so dass auch höchst unfeine Redemittel infrage kommen  – wenn sie denn zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden und nicht etwa, weil man es nicht besser weiß oder sich gerade nicht beherrschen kann. Die dritte, in unserem Zusammenhang einschlägigste Lesart von gewählt bezieht sich auf den Prozess des Wählens: Je mehr alternative Ausdrucksmittel bedacht und erprobt werden (können), desto bewusster, individueller und auch langwieriger ist die Auswahl. Daher erscheint mir Gestaltungsaufwand als abstrakte Kategorie am geeignetsten. Der Gestaltungsaufwand ist am geringsten bei Texten, bei denen der Produzent überhaupt keine oder eine nur höchst eingeschränkte Wahlfreiheit hat, also bei hochstandardisierten, die man vollkommen automatisiert (heutzutage durchaus auch im technischen Sinn) erstellt. Das muss nicht mit geringer sprachli­

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cher Elaboriertheit korrelieren. So sind z. B. juristische Texte sehr komplex, bestehen aber zu einem großen Teil aus vorformulierten Komponenten.

5.2 Fixierung oder: Geltungsdauer und Überlieferungswert Fixierung ist ein Merkmal, das sich besonders schlecht dichotomisch fassen lässt. Nicht nur müssen in unterschiedlichen Stadien der Mediengeschichte ganz verschie­ denartige Speichermöglichkeiten berücksichtigt werden, es handelt sich auch um ein essenziell graduelles Merkmal, geht es doch um die – notwendigerweise mehr oder weniger lange – Dauer der Existenz eines Textes. Zugleich erweist sich dieses Kriterium als äußerst problematisch, obwohl es auf den ersten Blick am einfachsten anwendbar scheint. Mitgedacht wird meist die Dichotomie mündlich – schriftlich, und bei allem schriftlich oder auch audiovisuell Fixierten sind materielle Eigenschaften im Spiel, die sozusagen objektiv gegeben und relativ leicht feststellbar sind. Wenn man das Merkmal Fixierung statt Schriftlichkeit wählt, um auch nicht materiell, sondern nur im Gedächtnis gespeicherte Texte einbeziehen zu können, muss man deren Dauer mit dem Ende der Lebenszeit aller Individuen zusammenfallen lassen, die sie so gespei­ chert haben – eine praktisch denn doch nur schlecht ermittelbare Größe. Aber auch für materiell, in ‚externen Speichern‘ zugängliche Texte entpuppt sich die Frage nach der Existenzdauer als recht verwickelt. Um dies an einem drastischen Beispiel zu verdeutlichen: Bücherverbrennungen sind kein probates Mittel, um Texte aus der Welt zu schaffen. Man könnte sogar sagen: im Gegenteil. Die Vernichtung materieller Exemplare steigert eher den ideellen Wert, den ‚die anderen‘ diesen Texten zuschreiben. Auch die ‚Haltbarkeit‘ ist also Gegenstand diskursiver Aus­ handlungsprozesse und damit zusammenhängender praktischer Handlungen. Das Verbrennen, Einstampfen, Schreddern von Papieren führt nur teilweise zu endgül­ tiger Vernichtung. Der bloße Verzicht auf willentliche Zerstörung sichert den Fortbe­ stand von Texten aber auch nicht, sie müssen vielmehr kontinuierlich re-aktualisiert werden: immer wieder (vor-)gelesen, abgeschrieben, nachgedruckt, neu aufgelegt, übersetzt, heutzutage natürlich v. a. gescannt. Solche Reaktualisierungen, bei denen viele und sehr verschiedenartige Materialisierungen eine Rolle spielen, sind Folge und zugleich Mittel der Zuschreibung einer Eigenschaft, für die sich allgemein der Ausdruck Geltungs-Dauer (statt Existenz-Dauer) anbietet; bei sozial und v. a. kulturell besonders wichtigen Texten ist der Ausdruck Überlieferungswert gängig (einfluss­ reich hier Ehlich 1983). In diesem Zusammenhang kommt eine Lesart von Text in den Blick, die immate­ rielle bzw. virtuelle Einheiten betrifft, denn solche kann man eben nicht verbrennen. Die immaterielle Seite eines Textes ist ein Wortlaut (zu verschiedenen Ebenen der Virtualität vgl. Adamzik 2016, Kap. 2.4.), den man immer wieder neu – gesprochen, gesungen, geschrieben, gedruckt, in Pixeln oder auch als innere Sprache – realisieren kann. Entsprechend vielfältig sind die Kriterien, die man zur Operationalisierung der

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Geltungsdauer einsetzen kann. Literarische Texte gehören auf jeden Fall zu solchen, bei denen die Geltungsdauer nicht explizit begrenzt wird (wie z. B. bei Ausweisen, Verträgen usw.). Ansonsten sind folgende Fragen besonders wichtig: Wie viele Ver­ sionen des virtuellen Textes (Neuausgaben, Übersetzungen usw.) existieren? Über welchen Zeitraum werden neue Versionen erstellt und in wie vielen Exemplaren erscheinen sie? Auf diesem Wege lässt sich sehr gut die Literatur der Massen- von der der Elitekultur abgrenzen, weil sich die Zuschreibung hohen Werts in kontinuierli­ cher Überlieferung über lange Zeiträume niederschlägt. Für viele Texte ist ferner die (eingeschränkte) Zugänglichkeit ein wichtiges Krite­ rium (Briefe, Verwaltungsunterlagen usw.). Bei literarischen Texten unterstellt man gewöhnlich, dass sie öffentlich zugänglich sind – nur so können sie jedenfalls gesell­ schaftlich relevant werden. Literarisch wäre dann allerdings nur das, was von Men­ schen stammt, die als Schriftsteller anerkannt sind. Entsprechend diesem Konzept müsste man u. a. die fiktionalen Texte ausschließen, die in der Schule abzufassen sind.

5.3 Fiktionalität oder: Bezugswelten Der Kategorie Fiktionalität und ihrer Relativität sind (in der Literaturwissenschaft) besonders viele Untersuchungen gewidmet, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann (vgl. dazu Weidacher in diesem Band). In der Textlinguistik spielt diese Dimension meist keine große Rolle, d. h. man geht in der Regel einfach von einer Dichotomie ‚real vs. fiktional‘ aus und schreibt ferner die Merkmale global Texten zu: Fiktionale Texte beziehen sich auf eine nicht reale Welt, nicht-fiktionale auf die reale oder wirkliche Welt. Aber welche Welt ist wirklich? Nicht erst seit dem Konstruk­ tivismus wissen wir, dass wir zur wirklichen Welt keinen Zugang haben. In der All­ tagspraxis ist die ständige Erinnerung daran allerdings ungefähr so relevant wie die Bemerkung, dass der Ausdruck Sonnenaufgang sachlich unangemessen ist, d. h. von der prinzipiellen Unzugänglichkeit der ,wirklichen Welt‘ müssen wir für alltagswelt­ liche Bedürfnisse absehen. Deswegen tun und reden wir meist so, als ob klar wäre, was die reale Welt ausmacht. Berger/Luckmann (1980) nennen dies die Alltagswelt, wie sie sich für das Jedermannswissen darstellt: „Jedermannswissen ist das Wissen, welches ich mit anderen in der normalen, selbstverständlich gewissen Routine des Alltags gemein habe.“ (26) Das impliziert freilich nicht, dass das Jedermannswissen mit einer Dichotomie arbeitet, der Alltagswelt also nur fiktionale Welten gegenüberstellt und davon ausgeht, es könne immer klar zwischen beidem unterscheiden: In der Medienwirklichkeit wird die Grenze sogar zunehmend systematisch verwischt. So sind z. B. Doku-Dramen typi­ sche Grenzgänger und ein prosperierendes Genre privater Fernsehanstalten, bei dem man von Faction spricht (vgl. Bonfadelli u. a. 2010, 501). Hier wird etwas dargestellt, das sich zumindest ereignen könnte, um die aristotelische Formel aufzugreifen. Am

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eindeutigsten zum fiktionalen Bereich gehört die Gattung Märchen mit anthropomor­ phisierten Tieren, Pflanzen und Gegenständen. So etwas kommt aber nicht nur in Märchen vor: Um gar nicht von Haustieren oder Feststellungen wie Der Computer will nicht zu sprechen: Es gibt auch Leute, die mit Blumen reden – tatsächlich wissen wir ja nicht genau, inwieweit ‚niederen Lebewesen‘ (zu denen in manchen ‚Alltagswelten‘ allerdings auch Frauen gehören) eine Psyche oder Seele eignet. Besser gesagt: Wir wissen – zumal in unserer multikulturellen Welt –, dass es verschiedene Versionen dessen gibt, was die Mitglieder einer Gruppe für fraglos wirklich und normal halten. Ich bevorzuge dafür den Ausdruck Standardwelt, eine Kategorie, die unbedingt im Plural zu denken ist. Aufgerufen sind mit diesen Bemerkungen, abgesehen von fiktionalen, zwei weitere Welten, die das Jedermannsbewusstsein klar von der ‚wirklichen‘ Welt trennt, nämlich die Welt des Übersinnlichen, Jenseitigen, der Religion einerseits und die Welt der Wissenschaft andererseits. Wissenschaftler entwerfen (wie Science-Fiction-Auto­ ren) u. a. Zukunftsszenarien, die gewiss nicht real, aber auch nicht fiktional, sondern hypothetisch sind. Das Gleiche gilt aber auch von den Modellen, die in der Gegenwart oder Vergangenheit Wirkliches erfassen sollen – Wissenschaftler rechnen grundsätz­ lich damit, dass ihre Annahmen falsifizierbar sind. Dass Welten, in denen Menschen leben, mentalen Konstrukten entsprechen, dürfte für das Jedermannsbewusstsein am offenkundigsten sein, wenn es um nur subjektiv gültige Vorstellungen darüber geht, wie die Welt beschaffen ist. Wir können uns nicht wirklich in die gedankliche und emotionale Innenwelt anderer begeben, allerdings durchaus erkennen, dass ihre Weltkonstruktion aus anderer Sicht mitunter einem Irrtum, einer fixen Idee oder gar einer Wahnvorstellung gleichkommt. Noch relevanter ist es allerdings wohl festzustellen, dass schon die exakt gleiche Sicht zweier Individuen auf ein und denselben Sachverhalt der Standardwelt ein eher selte­ ner Grenzfall sein dürfte. Es ist vielmehr normal (bzw. in unserer Standardwelt nicht unüblich), dass verschiedene Menschen dasselbe nur partiell identisch wahrneh­ men, kategorisieren, werten und interpretieren, selbst wenn sie genau die gleichen Normalitätsvorstellungen zugrunde legen. Das bedeutet zugleich, dass man sich Sachverhalte (und Texte) nicht schlicht in bestimmten Welten angesiedelt vorzustellen hat, sondern dass diese Welten und das in ihnen Denk- und Sagbare Bezugsgrößen für die Konstruktion mentaler Repräsen­ tationen darstellen: In manchen Welten gelten bestimmte Gesetze, Regeln, Werte, in anderen nicht; nur in einigen ‚gibt es‘ Engel, Teufel und Hexen, koschere Speisen, Schicksal, angeborene Ideen, das Über-Ich, sich schneidende Parallelen oder auch sprechende Tiere. Selbst Texte, die in der Märchenwelt spielen, stellen jedoch nicht reine Fiktionen dar, d. h. es sind nicht sämtliche Normalitätsvorstellungen außer Kraft gesetzt. Vielmehr besteht die Anthropomorphisierung gerade darin, auf Sche­ mata aus dem Bereich menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns, die aus der Standardwelt vertraut sind, auch bei der Interpretation von Sachverhalten zurückzu­ greifen, die einer Fantasiewelt angehören. Ebenso können Ereignisse, die in der Stan­

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dardwelt wirklich vorgekommen sind, unter Rückgriff auf verschiedene Bezugswel­ ten gedeutet werden, nämlich z. B. als Zufall, Schicksal, Strafe Gottes oder auch als Konsequenz unverantwortlichen Handelns, für das man juristisch zur Rechenschaft gezogen werden kann. Auch literarische Texte sind nur lesbar vor dem Hintergrund von Vorerwartungen. Die Wahrscheinlichkeit, dass bestehende Normalitätsvorstel­ lungen suspendiert werden müssen, ist hier zwar größer als bei Gebrauchstexten, die Grenze zwischen beiden Gruppen ist aber auch entsprechend dem Kriterium des Weltbezugs weniger scharf als oft angenommen.

6 Fazit „Die Suche nach einer allgemein gültigen Definition […] ist bisher nicht gelungen und wäre wohl auch ein Widerspruch in sich selbst“ (Betten u. a. 2014, 456). Diese Fest­ stellung treffen die Herausgeberinnen dieses Bandes in Bezug auf den Begriff Litera­ tur. Für den Textbegriff gilt allerdings dasselbe: Die Suche nach einer strikten Defi­ nition ist gescheitert. Insbesondere ließen sich keine textinternen Merkmale finden, also solche der sprachlichen Gestalt, die die eindeutige Zuordnung eines Artefakts zur Kategorie (literarischer) Text erlauben. Dieses Scheitern lässt sich rekonstruieren als fehlerhafte Fragestellung bzw. Aus­ gangshypothese: Die Annahme, es müsse eine klare Grenze zwischen literarischen und Gebrauchstexten geben, widerspricht dem Charakter von Kategorien als diskur­ siv etablierten Größen. In der deutschsprachigen (Text-)Linguistik ist diese Einsicht verbunden mit der Profilierung eines kulturwissenschaftlich orientierten Analysean­ satzes. Dieser wendet sich gegen die in den 1960er Jahren prominenten streng for­ malisierten Verfahren wissenschaftlicher Analyse und Begriffsbildung, die gewusst und gewollt die Perspektive der Diskursgemeinschaft, also der Sprachteilhaber, aus­ klammern bzw. als vorwissenschaftlich ablehnen, d. h. gar nicht erst anstreben, mit alltagsweltlichen Konzepten kompatibel zu sein. Der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung liegt dagegen die Annahme zugrunde, dass Texte wie andere Artefakte in historisch-soziale Praxen eingebettet und nur aus diesen heraus verstehbar sind. Sie werden im Rahmen solcher Praxen hervorge­ bracht, kategorisiert, rezipiert und in der einen oder anderen Weise weiterbehandelt. Es wäre mehr als erstaunlich, wenn in oralen oder schwach alphabetisierten Gesell­ schaften auch nur annähernd dieselben Konzepte für Text oder Literatur ausgebildet würden wie in der Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts. In historischer und kulturvergleichender Sicht geht es in Sprach- und Literatur­ wissenschaft um die Rekonstruktion der Kommunikations- und Textwelten fremder Gesellschaften. Nun werden nicht zuletzt literarische Texte aus früheren Zeiten über­ liefert und aus anderen Gemeinschaften importiert. Sie finden sich dann in neuen Kontexten wieder, in denen sie notwendigerweise einen anderen Stellenwert haben

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 Kirsten Adamzik

als in der Ausgangssituation. Aber auch innerhalb von Sprach-, Kultur oder Interakti­ onsgemeinschaften ist immer mit mehr oder weniger großer Varianz insbesondere bei Wertzuschreibungen zu rechnen und es kommt zu Streitigkeiten über angemessene Zuschreibungen. Eben dies belegt, dass diese Kategorien diskursive Konstrukte sind, und macht den Versuch so aussichtslos, exakt festzulegen, was immer und überall als (literarischer) Text zu gelten hat. Die hier vorgeschlagenen Beschreibungsparameter – Gestaltungsaufwand, Gel­ tungsdauer und Bezugswelten  – scheinen mir dagegen hinreichend abstrakt, um mit einiger Aussicht auf intersubjektiven Konsens auf sprachliche Äußerungen aller Art angewendet werden zu können. Dabei sind selbstverständlich immer die Nor­ malerwartungen spezifischer Gemeinschaften als Bezugsgröße zugrunde zu legen. Wer welche Ausprägungen in welcher Kombination dann als spezifische Kategorien zusammenfasst, ist eine empirische Frage.

7 Literatur Adamzik, Kirsten (2004): Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen. Adamzik, Kirsten (2016): Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. Berlin/Boston, 2., völlig neu bearb., akt. u. erw. Neuaufl. Anz, Thomas (Hg.) (2007): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Stuttgart/Weimar, 3 Bde. Bär, Jochen A. (2002): Darf man als Sprachwissenschaftler die Sprache pflegen wollen? Anmerkungen zu Theorie und Praxis der Arbeit mit der Sprache, an der Sprache, für die Sprache. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 30, 222–251. Beaugrande, Robert-Alain de/Wolfgang Ulrich Dressler (1981): Einführung in die Textlinguistik. Tübingen. Benthien, Claudia/Hans Rudolf Velten (Hg.) (2002): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg. Berger, Peter L./Thomas Luckmann (1966/1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M. Betten, Anne/Jürgen Schiewe (Hg.) (2011): Sprache – Literatur – Literatursprache. Linguistische Beiträge. Berlin. Bleumer, Hartmut/Rita Franceschini/Stephan Habscheid/Niels Werber (Hg.) (2013): Turn, Turn, Turn? Oder: Braucht die Germanistik eine germanistische Wende? Eine Rundfrage zum Jubiläum der LiLi. Stuttgart/Weimar (= Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 172). Bonfadelli, Heinz/Otfried Jarren/Gabriele Siegert (Hg.) (2010): Einführung in die Publizistikwissenschaft. Bern, 3. Aufl. Brinker, Klaus (1973): Zum Textbegriff in der heutigen Linguistik. In: Horst Sitta/Klaus Brinker (Hg.): Studien zur Texttheorie und zur deutschen Grammatik. Düsseldorf, 9–41. Brinker, Klaus u. a. (Hg.) (2000/2001): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin/New York, 2 Bde. Brinker, Klaus/Hermann Cölfen/Steffen Pappert (2014): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin.

Literatur aus der Sicht von Text- und Diskurslinguistik 

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Emmanuelle Prak-Derrington

5. Der besondere Einsatz der sprachlichen Mittel im literarischen Erzähltext. Das Beispiel der Personalpronomen Abstract: Ist jeder Roman und jede Erzählung als eine Kommunikation anzusehen? Der Beitrag geht dieser Frage am Beispiel des Einsatzes von Personalpronomen nach. Es wird gezeigt, dass die sprachliche Strukturgrenze, welche die Deiktika (Pronomen der ersten und zweiten Person) von den Anaphorika (Pronomen der dritten Person) trennt, es erlaubt, zwei grundlegende Modi des Erzählens und damit auch des Lesens zu gestalten. Die Erzählung in der dritten Person und ohne Deiktika scheint von jeder Sprechsituation losgelöst zu sein und tritt in keinerlei Beziehung zu einer Autor-LeserDialogstruktur. Deiktika dagegen, welche nur durch den Bezug auf den nicht-sprach­ lichen Kontext der Äußerung interpretiert werden können, führen Autor und Leser, die sich nicht persönlich gegenüberstehen und sich in der realen Welt fremd sind, im literarischen Text sprachlich zusammen. Sie erlauben es, mit dem uneinheitlichen Status des realen/fiktionalen Autors und des fiktionalen/realen Lesers zu spielen. Es werden verschiedene Personenkonstellationen untersucht, die jeweils den Autor und den Leser in eine andere Rolle versetzen. 1 Einleitung 2 Die Kategorie der Person 3 Ich ist ein anderer! 4 Getrennte Szenen: die dritte Person 5 Grenzverwischungen zwischen den Szenen: die Personaldeiktika 6 Das Ich im inneren Monolog 7 Schlussbemerkung 8 Literatur

1 Einleitung Es scheint uns, die Eigenart der Poesie beruht in der vollkommenen Ahnungslosigkeit des Dich­ ters hinsichtlich des Hörers. […] Alle Poesie ist von Natur aus soliloquium. (John Stuart Mill) Der erste schöpferische Akt, den der Schriftsteller zu leisten hat, ist die Erfindung seines Lesers. (Max Frisch)

DOI 10.1515/9783110297898-005

Der besondere Einsatz der sprachlichen Mittel im literarischen Erzähltext 

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2 Die Kategorie der Person Die Erzähltheorien können heute in zwei entgegengesetzte Richtungen aufgeteilt werden. Sie vertreten zum einen die sogenannten ‚kommunikativen‘ (Chatman 1978, Genette 1972, 1993 u. a. m.), zum anderen die poetischen oder ‚nicht-kommunikati­ ven‘ Modelle (Banfield 1983, Kuroda 1973 u. a. m.). Die Antwort auf die Frage „Kann man den literarischen Text immer als einen kommunikativen Akt betrachten?“ lautet anders, je nachdem, wie die bestimmten sprachlichen Mittel (siehe Pérennec in diesem Band) interpretiert werden. Dabei spielt die Kategorie der Person eine beson­ dere Rolle. Die kommunikativen Modelle haben die Tendenz, in dem grammatischen Unter­ schied zwischen erster und dritter Person ein unzureichendes, die Vielschichtigkeit der Fiktion vereinfachendes Kriterium zu sehen (Booth 1961, 150). Für sie ist jede literarische Erzählung ein Diskurs, in dem ein Sprecher/Schreiber (der Autor) Adres­ saten (den Lesern/dem Leser) etwas über die Welt (den Text) mitteilt. Ob Ich- oder Er-Erzählung, hinter jeder literarischen Äußerung steckt in jedem Fall ein Ich: „Jede Erzählung ist per definitionem eine virtuelle Ich-Erzählung“ – ‚Toute narration est, par définition, virtuellement faite à la première personne‘ (Genette 1972, 252; Übers. E. P.-D.). Die poetischen Modelle dagegen heben die Eigenart des literarischen Textes hervor und verteidigen die These, dass dieser, anders als eine mündliche Kommu­ nikation, die ja immer die beiden Kommunikationspartner voraussetzt, speakerless, d. h. ohne Sprecher – ohne Erzähler sein kann. „Every text can not be said to have a narrator“ (Banfield 1983, 11). In solchen „unspeakable sentences“ fehlt dann jeder Bezug auf ein kommunikatives Paar Ich und Du. Im vorliegenden Beitrag soll diese Frage (Ist jede Erzählung in eine kommuni­ kative Struktur eingebettet?), die viele linguistische Probleme aufwirft, am Beispiel der Personalpronomen beleuchtet werden. Personalpronomen stellen die Grundlage jeder Kommunikation dar, daher bieten sie einen idealen Zugang zur Problematik Literatur und Kommunikation. Wie werden sie im literarischen Text eingesetzt?

2.1 Deiktika vs. Anaphorika, Person vs. Nicht-Person Die übliche Unterscheidung zwischen der Singular- und Pluralform der Personalpro­ nomen verdeckt eine viel wichtigere Unterscheidung: die zwischen den Pronomen der ersten und zweiten Person einerseits und der dritten Person anderseits. Grammatisch gesehen ist diese Unterscheidung diejenige, welche die Anapho­ rika von den Deiktika, die textinternen von den textexternen Ausdrücken trennt. Er ist eine ganz normale Verweisform, deren Substituendum im Vor-, manchmal auch im Nachtext liegt. (Der Mann ging auf die Straße. Er trug einen dunklen Regenmantel). Ganz anders läuft es mit dem Ich. (Ich liebe dich!) Hier ist kein Vor- oder Nachtext

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nötig, wohl aber die Kenntnis der Sprechsituation. Das Ich ist ein deiktischer Aus­ druck, der über den Text hinaus auf die außersprachliche, konkrete Sprechsituation hinweist. Die deiktischen Ausdrücke (Ich-Hier-Jetzt) besitzen daher einen doppelten Status: Als sprachliche Zeichen weisen sie wie jedes andere Wort auch auf einen Referenten in der Welt hin (Ich weist auf den Sprecher hin), aber als kontextgebundene Zeichen können sie nur durch den Bezug auf die nicht-sprachliche Sprechsituation interpre­ tiert werden (je nach der Sprechsituation weist das Ich auf einen jeweils anderen Referenten hin). Von Gesprächsrollen im eigentlichen Sinn kann nur für die erste und die zweite Person die Rede sein. Die erste Person bezeichnet den Sprecher, die zweite Person den Angesprochenen. Die dritte Person dagegen ist eine Pro-Form, die auf das Besprochene hinweist: das, wovon im Text gesprochen wird (Person oder Sache). Die dritte Person steht also außerhalb der Sprecher/Hörer-Beziehung. Benveniste (1966) beschreibt diese Opposition zwischen dem Ich-Du-Paar und dem Er als eine Opposi­ tion zwischen Person und Nicht-Person. Was bedeutet das für den literarischen Text? Nichts anderes, als dass die Erzählund die Rezeptionshaltung anders gestaltet und gesteuert werden, je nachdem, ob ein Text in der Ich-Form oder in der Er-Form geschrieben wird (Prak-Derrington 2005). Aber wer spricht und zu wem? Es werden nun die konstitutiven Eigenschaften des literarischen Textes darge­ stellt: als komplexer, mehrstufiger, polyphonischer Sprachbau. Anschließend werden verschiedene Pronomen-Konstellationen genauer betrachtet.

3 „Ich ist ein anderer!“ 3.1 Redevielfalt im literarischen Text In unseren Alltagsgesprächen passiert es immer wieder, dass wir die Worte eines anderen in der direkten Rede zitieren (Eva zu Anna: „Weißt Du, Adam hat mir endlich gesagt: ‚ich liebe Dich!‘“). Die berühmte Aussage Rimbauds „Je est un autre!“, ‚Ich ist ein anderer‘, die sich auf die Verwandlung des lyrischen Ich in der Dichtung bezog, kann auch ganz konkret auf jedes eingebettete Ich in einer zitierten Rede angewandt werden. Sobald wir die Worte eines Sprechers näher untersuchen, stellt sich heraus, dass der Sprecher sich in viele diskursive Rollen aufspalten kann. Im Französischen spricht man von Dialogizität (Bachtin 1979) oder Polyphonie (Ducrot 1984), im Deut­ schen von Redevielfalt. Im literarischen Text ist Redevielfalt nicht nur die Regel (die bekanntlich immer Ausnahmen zulässt), sondern die Voraussetzung des Schreibens überhaupt. Es lassen sich drei Ebenen unterscheiden: Hinter den Figuren steckt der Akt des Erzäh­ lens, aber hinter diesem Akt steckt der Autor.

Der besondere Einsatz der sprachlichen Mittel im literarischen Erzähltext 

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Wie steht es aber mit dem Leser? Die erste Spaltung, zwischen Fiktion und Wirk­ lichkeit, lässt sich leicht finden: hinter dem fiktionalen, angeredeten Leser (Geneigter Leser, Lieber Leser) steht ein realer, empirischer Leser – wenn der Leser nicht ange­ redet wird, spricht man eher vom impliziten Leser. Schwieriger wird es aber, sobald wir die diegetische Ebene einführen. Wie steht der Leser zu der dritten Ebene der Figuren? Mit dieser konkreten Frage hat sich die Literaturtheorie, die sich vorrangig mit dem Verhältnis Erzähler/Figuren auseinandersetzt, weniger beschäftigt. Genau diesen Aspekt wollen wir im Folgenden beleuchten: Ist es möglich, innerhalb der Fiktion, jenseits der Spaltung zwischen realem und fiktionalem Leser, zwischen ver­ schiedenen Leserrollen zu unterscheiden, die denjenigen des Erzählers symmetrisch entsprechen würden: gibt es einen heterodiegetischen Leser bei einer Er-Erzählung also einen Leser, der außerhalb der Geschichte steht, und einen homodiegetischen Leser in einer Ich-Erzählung – einen Leser, der sich innerhalb der Geschichte (aber wo?) befindet? Anders als in einer face-to-face communication setzt der literarische Text Dekontextualisierung und Abwesenheit der Sprechinstanzen voraus: für den Autor das imaginäre Du, an das er sich wendet, für den Leser das imaginäre Ich, das zu ihm spricht. Autor und Leser sind real und fiktional zugleich, an- und abwesend. Aber sie treffen sich im Reich der Fiktion, in der erfundenen Welt des Autors, die der Leser lebendig werden lässt. Günter Grass hat nicht mit drei Jahren aufgehört zu wachsen, wie Oskar Matzerath in der Blechtrommel, Theodor Fontane ist nicht mit neunund­ zwanzig Jahren gestorben wie Effi Briest, sondern wurde achtundsiebzig Jahre alt. Aber Oskar Matzerath und Effi Briest sind für immer und ewig an ihre Autoren gebun­ den und werden von jedem neuen Leser erneut zum Leben erweckt. Ich ist mehrere andere! Gegen die Unwiderruflichkeit des Lebens lautet das Gesetz der Fiktion „Ich stelle mir vor!“ (Frisch 1964, Mein Name sei Gantenbein). Die Literatur­ theorien zielen meistens darauf ab, die verschiedenen Ebenen sorgfältig zu trennen. Wir werden hier den entgegengesetzten Weg einschlagen. Der doppelte Status der Deiktika (als sprachliche und kontextgebundene Zeichen) erlaubt es, mit der grund­ sätzlichen Uneinheitlichkeit des Autors und des Lesers des literarischen Textes zu spielen. Durch die Deiktika werden die in der Wirklichkeit getrennten Instanzen in eine andere Welt versetzt und zusammengeführt. Im Folgenden werden also bewusst die alle Rollen verwischenden, umfassenden Bezeichnungen Autor/Leser verwendet.

3.2 Die dreifache Äußerungsszene Die dreifache Verschachtelung der erzählerischen Ebenen lässt sich mit der Theorie der Äußerungsszene (Maingueneau 2007; 2014) erklären, welche der doppelten Forderung Rechnung trägt, dass der Text aus seinem Inneren und seinem Kontext heraus (zu einer bestimmten Textsorte, oder im Fall des literarischen Textes, zu einer bestimmten Gattung gehörend) zu begreifen ist. In jedem Diskurs greifen nach

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Maingueneau nicht zwei, sondern drei Szenen ineinander ein: die übergreifende Szene (scène englobante oder der Diskurstyp), die gattungsspezifische Szene (scène générique oder die Textsorte) und die Szenographie (scénographie, origineller Begriff Maingueneaus). Diese dritte Ebene der Szenographie ist es, die es jeder Äußerung erlaubt, einen Rahmen oder ein Universum aufzuspannen, die über die diskurstypi­ schen und gattungsspezifischen Zwänge hinausgehen. Die Szenographie kann entweder die übergreifende und die gattungsspezifische Szene in den Hintergrund treten lassen und sich anderer, diesen beiden nicht zuge­ höriger Merkmale bedienen: Ein Roman kann zum Beispiel die Szenographie eines Briefwechsels einführen, sich als Tagebuch ausgeben, ein Werbespot kann als Gedicht konzipiert werden u. v. m. Oder sie hebt die gattungsspezifischen Merkmale als solche hervor: Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn der Autor/Erzähler eines Romans seinen Leser anruft. Es ist also möglich, zwischen endogener (mit der Textsorte übereinstimmender) und exogener (für die Textsorte nicht erwartungsgemäßer) Szenographie zu unter­ scheiden. Wir wollen hier den Versuch unternehmen, verschiedene Szenographien je nach dem Einsatz von Personalpronomen zu unterscheiden.

4 Getrennte Szenen: die dritte Person 4.1 Dritte Person, keine Deiktika In der traditionellen Form der Erzählung wird meistens in der dritten Person und im Präteritum erzählt. Die Bezeichnung Er-Erzähler ist aber falsch und irreführend. (1) An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Rosshändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. (Heinrich von Kleist 1808, Michael Kohlhaas, 3; Hervorh. E. P.-D.)

Das Er bezieht sich auf den Helden Kohlhaas und nicht auf die Person eines Erzählers. In der dritten Person erzählen heißt nicht, dass es keine Spur von Subjektivität gibt, wie das obige Beispiel beweist. Die evaluierenden, sich widersprechenden Adjektive im Superlativ charakterisieren von vornherein Michael Kohlhaas als einen Ausnahme­ menschen, der das Beste und das Schlimmste in sich vereint, der beim Leser Bewun­ derung und Sympathie sowie Abscheu und Erschrecken hervorrufen wird. Aber diese Subjektivität kommt ohne deiktische Ausdrücke aus. Der Leser wird in die Geschichte hineinversetzt und braucht sich dabei nicht vorzustellen, dass jemand zu ihm spricht.

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(2) Erika Ewald trat langsam ein, mit dem vorsichtig-leisen Gang einer Zuspätkommenden. Der Vater und die Schwester saßen schon beim Abendessen; beim Geräusch der Türe blickten sie auf, um der Eintretenden flüchtig zuzunicken, dann klang nur wieder das Klingen der Teller und das Klappern der Messer durch den matterhellten Raum. (Stefan Zweig 1927, Erika Ewald, 19)

Zwar gibt es in diesem Auszug subjektive Ausdrücke (vorsichtig-leise; matterhellt), aber nichts, was auf den Akt des Erzählens oder des Lesens hinweisen würde. Ben­ veniste hat für diesen Sprechmodus (3. Person Präteritum  – passé simple), der die Spuren des Sprechers-Schreibers/Hörers-Lesers verschwinden lässt, den Begriff récit (histoire) geprägt. Die Erzählung scheint von jeder Sprechsituation losgelöst zu sein, sie tritt in keinerlei Beziehung zu einer Autor-Leser-Dialogstruktur. ‚Es scheint, als würden sich die Geschehnisse von selbst erzählen‘ (Benveniste 1966, 241; Übers. E. P.-D.). Die binäre Gegenüberstellung von discours und récit knüpft in abgewandelter Form und mit anderen Argumenten an Hamburgers Thesen an, die als erste Theore­ tikerin in ihrem Buch Die Logik der Dichtung (1968) eine strenge Trennung zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten einführte. Ihr zufolge verliert in der Fiktion das Präteritum seinen Vergangenheitswert, und markiert den Eintritt in die Fiktion. Die Fiktion erlaubt es, die eigene Verankerung in einer bestimmten Ich-Origo (IchHier-Jetzt) aufzugeben und in die Gedanken einer (oder mehrerer) dritten (dritter) Person(en) versetzt zu werden (Hamburger 1968, 73; s. auch 115). Als Gattungsmerk­ male für Fiktio­nalität führt sie neben dem epischen Präteritum die Verben der inneren Vorgänge in der dritten Person und vor allem das Verfahren der erlebten Rede an. In fol­ gendem Auszug kehrt der Held Tonio Kröger nach Jahren in seine Heimatstadt zurück: (3) Großer Gott, wie winzig und winklig das Ganze erschien! Waren hier in all der Zeit die schmalen Giebelgassen so putzig steil zur Stadt emporgestiegen? […] Sollte er jene Straße hinaufgehen, die dort, an der das Haus lag, das er im Sinne hatte? (Thomas Mann 1903, Tonio Kröger, 301)

Das Verfahren der erlebten Rede lässt uns unmittelbar in Tonio Krögers Denk- und Gefühlswelt eintauchen. Es scheint, als würde es gar keinen Autor oder keinen Erzäh­ ler geben: „Nicht der Dichter sagt, was vorgeht, sondern unmittelbar erfahren wir, was der Mensch in der Erzählung erlebt“ (Walzel 1924, 227). Durch den Gebrauch der dritten Person bleiben wir selber als Leser auf Distanz, an keine bestimmte Sprechsi­ tuation gebunden. Den Gedanken einer von der Sprechsituation losgelösten Welt hat Weinrich (1964, 1977) weitergeführt, der aber nicht die Kategorie der Person, sondern nur die Tempora berücksichtigt. Mittels der Tempora steuert der Sprecher/Schrei­ ber die Rezeption des Textes durch den Leser/Hörer. Die besprechenden Tempora (Präsens, Perfekt, Futur) sollen eine gespanntere Rezeptionshaltung, die erzählen­ den Tempora (Präteritum, Plusquamperfekt) umgekehrt eine entspannte Rezeptions­ haltung signalisieren (1977, 33, 36 ff.). „[…] der erzählende Text lässt die Existenz des Sprechers und Hörers aus dem Spiel“ (1977, 47; Hervorh. E. P.-D.).

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Heute finden wir in den nicht-kommunikativen Theorien eine Fortsetzung und Entwicklung der Theorien Hamburgers und Benvenistes. There are thus at present two possible alternative theories of narrative style, one which is sub­ sumed under communication theory where every sentence has a speaker and every text a narra­ tor […] and another which divides the sentences of narrative into those with a subject and those without. As a consequence of the latter, every text cannot be said to have a narrator. (Banfield 1982, 11)

Die Szenographie einer Er-Erzählung ohne Deiktika erlaubt es, auf die einbettende Autor-Leser-Dialogstruktur, also auf den Verweis auf die Partnerrollen der gattungs­ spezifischen Szene gänzlich zu verzichten.

4.2 Dritte Person und Deiktika 4.2.1 Metafiktion und temporale Dualität In vielen Er-Erzählungen ist dieser Autor-Leser-Dialog aber nicht getilgt und die Rol­ lenverteilung der gattungsspezifischen Szene ist sogar Bestandteil der Szenographie. Es sind die so genannten Autoreinmischungen, die Anrufungen, wenn der Autor/ Erzähler sich direkt an seinen abstrakten/realen Leser wendet. Selbstreflexiv insze­ nieren sie einen imaginären Austausch, der sich über die Abwesenheit des jeweiligen Partners hinwegsetzt. Dieses Verfahren, das Autor und Leser als kommunikatives Paar auftreten lässt, war im 18. und 19. Jahrhundert sehr beliebt. Ein Ich-Autor spricht einen Du-Leser an (4), ein auktoriales Wir (5) oder ein Wir, das den Leser mit einbezieht (6), meldet sich zu Wort: (4) Wohl darf ich geradezu dich selbst, günstiger Leser! fragen, ob du in deinem Leben nicht Stunden, ja Tage und Wochen hattest, in denen dir all dein gewöhnliches Tun und Treiben ein recht quälendes Missbehagen erregte. (E. T. A. Hoffmann 1819, Der goldene Topf, 28; Hervorh. E. P.-D.) (5) Wir haben unsern Lesern immer gern die Tageszeit geboten, aber so schwer wie diesmal ist uns das noch nie gemacht worden. In der Stadt Höxter waren die Turmuhren sämtlicher Kirchen in Unordnung; Sankt Peter und Sankt Kilian zeigten falsch, Sankt Nikolaus schlug falsch und bei den Brüdern stand das Werk ganz still […]. (Wilhelm Raabe 1879, Höxter und Corvey, 261; Hervorh. E. P.-D.) (6) Wir kennen bereits den Chevalier in seinem schneeweißen wollenen Schlafrock […] Manches Jahr ist hingegangen, seit wir ihn zum ersten mal erblickten, und nichts hat sich in diesen Äußerlichkeiten verändert. (Wilhelm Raabe 1869, Der Schüdderrump. Zit. nach Vuillaume 1997, 184; Hervorh. E. P.-D.)

Der besondere Einsatz der sprachlichen Mittel im literarischen Erzähltext 

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Der Inhalt der Autoreinmischungen kann sehr unterschiedlich sein. Sie können die schon vergangenen oder kommende Ereignisse kommentieren, Einblick in die Schreibwerkstatt des Autors gewähren, den Leser um seine Meinung bitten. Ob sie auf das Erzählte, den Akt des Erzählens oder den Akt des Lesens hinweisen, sie sind immer selbstreflexiv. Daher können sie der größeren Ebene der Metafiktion zugerech­ net werden (Waugh 1984). In einer traditionellen Er-Erzählung bleiben die zwei Ebenen der Fiktion und der Metafiktion durch den verschiedenen Gebrauch der Tempora und Pronomina ganz klar voneinander getrennt. Das Nebeneinander der Fiktion und Metafiktion ist sowohl mit einer temporalen Doppelbödigkeit (Vuillaume 1990, 1991) als auch mit einer klaren Rollenverteilung verbunden. (7) Da küsste sie ihn auf den Mund. Es war so ein russischer Kuss. […] Während also die Lippen Hans Castorps und Frau Chauchats sich im russischen Kusse finden, verdunkeln wir unser kleines Theater zum Szenenwechsel. Denn nun handelt es sich um die zweite der beiden Unterredungen […], und nach Wiederherstellung der Beleuchtung […] erblicken wir unseren Helden in schon gewohnter Lage am Bette des großen Peeperkorn (Thomas Mann 1924, Der Zauberberg, 549. Zit. nach Vuillaume 1991, 91; Hervorh. E. P.-D.).

Der russische Kuss wird in der Fiktion als vergangen, in der Metafiktion dagegen (Vuillaume spricht von Randfiktion) als gegenwärtig dargestellt. „[Die Fiktion] besitzt die Fähigkeit, Vergangenes wiederzubeleben und gegenwärtig zu machen“ (Vuillaume 1991, 91). Deiktika und Präsens (oder das Perfekt) bleiben dem Paar Autor/Leser vor­ enthalten, während sich die Protagonisten der Geschichte als dritte Personen in der Vergangenheit (Präteritum, Plusquamperfekt) bewegen. In den meisten Romanen unserer Zeit ist die Inszenierung des Paares AutorLeser so weit geschrumpft, dass sie nur noch in dem unerwarteten Gebrauch eines Zeit- oder Personaldeiktikums zu erkennen ist oder auch einfach in der Verwendung des Präsens. Der plötzliche Wechsel der Ebenen bleibt besonders unauffällig, da er sich auf kleinere Texteinheiten bezieht. Manchmal sind es nicht einmal ganze Sätze, sondern ist es nur ein kleiner Einschub, in dem das Paar Autor-Leser zu erkennen ist: (8) Wo dieser Hund eigentlich steckte, das entzog sich freilich der Wahrnehmung; […] Über­ haupt schien sich nichts mit Absicht verbergen zu wollen, und doch musste jeder, der zu Beginn unserer Erzählung des Weges kam, sich an dem Anblick des dreifenstrigen Häus­ chens und einiger im Vorgarten stehenden Obstbäume genügen lassen. (Theodor Fontane 1888, Irrungen, Wirrungen, 3; Hervorh. E. P.-D)

Für Deiktika in der Metafiktion gilt der obige Vergleich des Erzähl- und Leseprozes­ ses mit einer Theateraufführung (Szenenwechsel, Beleuchtung u. a. m.): die Inter­ aktionspartner der gattungsspezifischen Szene, Autor und Leser, wohnen beide den dargestellten Ereignissen als Außenstehende bei, der Leser in einer passiven Rolle als Zuschauer, der Autor-Erzähler in einer aktiven Rolle als Regisseur. Beide aber bleiben von der eigentlichen Bühne, wo sich die Aufführung abspielt, getrennt. „Leser und

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Erzähler sind wie von einer Glaswand getrennt, durch die sie hindurchsehen können, ohne selbst gesehen zu werden. […] sie dürfen nicht in die Handlung eingreifen“ (Vuillaume 1991, 93).

4.2.2 Pronominale Brüche Ganz anders aber verhält es sich mit der Rolle des Lesers, wenn die Deiktika nicht mehr in einem metareflexiven Kommentar vorkommen, sondern in die Figureneben eingeflochten sind, wie im folgenden Beispiel: (9) Seine Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüch­ liche, Gebot und Verbot. Er tötete früh im Auflodern, darum wusste er besser als jeder Unerfahrene, dass Töten zwar köstlich, aber getötet zu haben höchst grässlich ist, und dass du nicht töten sollst. Er war sinnenheiß, darum verlangte es ihn nach dem Geistigen, Reinen und Heiligen, dem Unsichtbaren, denn dieses schien ihm geistig, heilig und rein. Bei den Midianitern, einem rührig ausgebreiteten Hirten- und Handelsvolk der Wüste, zu dem er aus Ägypten, dem Lande seiner Geburt, fliehen musste, da er getötet hatte […] machte er die Bekanntschaft eines Gottes, den man nicht sehen konnte, der aber dich sah; […] Den Kindern Midians war dieses Numen, Jahwe genannt, ein Gott unter anderen; […] Mose dagegen, kraft seiner Begierde nach dem Reinen und Heiligen, war tief beeindruckt von der Unsichtbarkeit Jahwe‘s. (Thomas Mann 1944, Das Gesetz, 339; Hervorh. E. P.-D.)

Die Pronomina werden in diesem Auszug, der am Anfang der Erzählung steht, auf eine sehr ungewöhnliche Weise eingesetzt, sowohl für die dritte als für die zweite Person. Der Text stellt zunächst den Leser vor ein Rätsel: wer ist dieser mysteriöse Er, um den es sich handelt? Die Antwort wird erst im 4. Absatz gegeben (Mose). Die kataphorische Verwendung des Pronomens (es weist auf keinen Vor-, sondern auf einen Nachtext hin) führt den Leser gleich in medias res, mitten in die Erzählung ein. Dabei wird einzig seine Aufmerksamkeit als Augenzeuge erhöht, er bleibt als Leser ein Außenstehender. Der unerwartete Einsatz des Anredepronomens Du mit Präsens bringt ihn aber aus seiner passiven Zuschauerrolle heraus, und mitten in die Hand­ lung hinein: „dass du nicht töten sollst“. Das sechste Gebot Gottes lässt sich nur in der zweiten Person ausdrücken. Sonst verliert es seine illokutive Kraft als Aufforde­ rung. Abwesenden kann man keine Befehle erteilen. (Dies ist auch der Grund, warum der Imperativ als Modus nur das Präsens und die zweite Person Singular oder Plural gelten lässt). Der Verzicht auf die dritte, von der Sprechsituation losgelöste Person, der sich im ersten du durch die Form des biblischen Zitates und den universalen, allgemeingültigen Wert des Gebotes erklären ließe, wird aber ein zweites Mal wie­ derholt, mit einem Präteritum: „machte er die Bekanntschaft eines Gottes, den man nicht sehen konnte, der aber dich sah“. Als Adressat sieht sich der Leser von seiner Gegenwart aus in die tiefste Vergangenheit des Alten Testaments versetzt, nicht als Zuschauer, sondern als direkt Betroffener.

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Die Vermischung der beiden Ebenen (discourse und story) die hier unauffäl­ lig stattfindet  – wer achtet schon bei der Lektüre auf einen solchen pronominalen Bruch? – macht uns auf den Doppelstatus des Lesers (und des Autors) aufmerksam: die Dualität der Fiktion lässt sich nicht nur in ihrer temporalen Doppelbödigkeit, im Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwärtigkeit feststellen, sondern auch in der Zwiespältigkeit in der Kategorie der Person. Der moderne Roman nutzt diesen personalen Zwiespalt konsequent aus und inszeniert Rollenspiele, in denen sich der Zuschauer-Leser in einen Mitspieler-Leser verwandelt: „Ich und Du, Müllers Kuh, Müllers Esel, das bist du!“

5 Grenzverwischungen zwischen den Szenen: die Personaldeiktika Solange die Figuren in der dritten Person erzählt werden, können der Autor und der Leser ihre Distanz als Außenstehende bewahren. Sobald aber auf die Figuren mit einem Deiktikum, d. h. mit einem Personalpronomen der ersten und der zweiten Person referiert wird, stehen Autor und Leser als Beteiligte nicht mehr am Rand der Fiktion, sondern mitten im Geschehen. Grenzverwischungen werden möglich, die mit der dritten Person nicht denkbar sind. Die unentwirrbare Vermischung von Fiktion und Nicht-Fiktion wird durch den Einsatz von Deiktika begünstigt. Dies gilt für die erste Person, wenn der Erzähler mit dem Protagonisten iden­ tisch ist. Ich ist ein Anderer! Goethe musste es bis zum Ende seines Lebens erdul­ den, immer wieder mit Werther – nicht aber mit Wilhelm Meister! – gleichgesetzt zu werden. Goethe selber, wie die meisten seiner Zeitgenossen, hielt Ossians Gesänge, die sich nachträglich als die größte Fälschung der Literaturgeschichte erwiesen, für echt. Und über die Authentizität der fünf Portugiesischen Liebesbriefe (1663) wird heute noch debattiert. Dasselbe gilt auch für die zweite Person! Die postmoderne Literatur hat eine neue Szenographie erfunden, die Du-Erzählung, die den Leser in die Geschichte selbst hin­ einverwebt, und ihn in den Hauptcharakter der Geschichte verwandelt: „The story is the story of the addressee“ (Fludernik 2001, 626).

5.1 Das Du der Figur. Der Autor als Regisseur, der Leser als Schauspieler Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht… beginnt folgender­ maßen:

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(10) Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. (Italo Calvino 1979, Wenn ein Reisender in einer Winternacht…, 9)

Gleich am Romananfang inszeniert die Szenographie einen Text, in dem die Grenzen zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion ineinanderfließen: die Erwähnung des realen Namens des Autors (Italo Calvino), die Du-Aufforderungen, die alle vom realen Leser wörtlich aufgenommen werden, zielen durchweg darauf ab, die sonst getrennten Szenen zusammenzuführen. Im Laufe der Erzählung wird dann das Präteritum ein­ geführt, immer mehr Informationen über dieses Du werden angegeben, so dass der Leser sich von diesem fiktionalen Du distanziert. In Frankreich hat Michels Butors Modifikation diese Form bekannt gemacht (Vous-Anrede), ein deutsches Beispiel dafür bildet Ilse Aichingers Spiegelgeschichte (Prak-Derrington 2006): (11) Wenn einer dein Bett aus dem Saal schiebt, wenn du siehst, dass der Himmel grün wird, und wenn du dem Vikar die Leichenrede ersparen willst, so ist es Zeit für dich, aufzustehen, leise, wie Kinder aufstehen, wenn am Morgen Licht durch die Läden schimmert, heimlich, dass es die Schwester nicht sieht und schnell! (Ilse Aichinger 1949, Spiegelgeschichte, 245; Hervorh. E. P.-D.)

In diesem Ausschnitt (Anfang der Erzählung) werden alle sprachlichen Mittel einge­ setzt, um den Leser in eine Situation zu versetzen, die auch die seine sein könnte: die Wenn-Sätze, der alleinige Gebrauch des definiten Artikels (dem Saal, dem Vikar, die Läden, die Schwester), das indefinite Pronomen einer, und vor allem die Leere des Deiktikums du, das ohne jeden Referenten aus dem Nichts auftaucht und auch weiter­ hin auf keinen Eigennamen hinweist. Dem Leser bleibt dann keine andere Wahl, als dieses Du zu besetzen, von dem er sich zwar nach und nach, im Laufe der Erzählung, je mehr er über die Figur erfährt, als realer Leser distanzieren kann, das ihn aber als impliziten Leser, als Adressaten fesselt. Dieses Du ist hier die Selbstanrede einer jungen Frau, die, kurz bevor sie stirbt, ihr ganzes Leben rückwärts Revue passieren lässt. Sie stirbt in dem Moment, in dem sie sich an ihre Geburt erinnert. Nach Butor (1963, 80 f.) verrät jede Du-Erzählung eine didaktische, erzieherische Absicht. Die Du-Figur kommt zu einer Wahrheit, die ihr als Ich-Figur sonst verborgen geblieben wäre. Diese Adressierungsform hält dem Leser einen ‚Spiegel‘ vor (Spiegelgeschichte ist auch in diesem Sinn zu verstehen), und erzeugt bei ihm eine sehr starke Involviertheit (addressee-involvment), die didaktischen Zielen tatsächlich am besten entspricht.

5.2 Direkte Rede, wechselnde Rollen. Du und Wir (12) Draußen steht die Stadt. Ein Haus steht in der Stadt. Stumm, steinern, grau wie die andern. Und ein Zimmer ist in dem Haus. […] Und in dem Zimmer sind zwei Männer. Einer ist blond

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und sein Atem geht weich und das Leben geht wie sein Atem weich in ihn hinein, aus ihm heraus. […] Das ist der tief im Zimmer. Und einer steht am Fenster. Lang, hoch, gekrümmt, schrägschultrig. […] Eine Stimme ist da am Fenster wie von einem Amokläufer, panisch, atemlos, gehetzt, übertrieben, erregt: Siehst du das nicht? Siehst du nicht, dass wir ausgeliefert sind. Ausgeliefert an das Ferne, an das Unaussprechliche, an das Ungewisse, das Dunkle? Fühlst du nicht, dass wir ausgeliefert sind an das Gelächter, an die Trauer und die Tränen, an das Gebrüll. Du, das ist furchtbar, wenn das Gelächter in uns aufstößt und schwillt, das Gelächter über uns selbst. […] Furcht­ bar ist es, du, oh, furchtbar, wenn die Trauer uns anweht […] (Wolfgang Borchert 1949, Gespräch über den Dächern; Hervorh. E. P.-D.)

In dieser zehnseitigen Erzählung kann man die einbettende Rede am Anfang, die zwei entgegengesetzte Menschentypen inszeniert, als Vorwand betrachten, denn über diese Figuren wird der Leser nichts Weiteres erfahren als diese sehr allgemeinen Informationen (die Stadt steht für jede beliebige Stadt, ein Haus für jedes beliebige Haus usw.). Im Dialog hört man dann nur noch die Figur des Langen, Gekrümmten, Schräg­ schultrigen sprechen, der mit einem Fuß schon im Grab steht, der sich niemals mit Ich, sondern immer durch ein nicht näher bestimmtes Wir ausdrückt. Der Erzähler enthält sich jedes Eingreifens bis zum Ende. Die Figur wirkt völlig ‚entkörpert‘, einzig auf ihre Stimme reduziert. Wie im Theater, wo die Figuren zugleich miteinander auf der Bühne und zu den Zuschauern sprechen, ist hier jedes Du als doppelte Adressie­ rung zu verstehen. Das Du bezieht sich dann nicht so sehr auf den blonden, den im Leben verankerten Mann, sondern soll als generelle Anredeform verstanden werden, für alle, die sich in den düsteren Nachkriegszeiten weiter an das Leben klammern. Der Leser wird über die Figur hinaus mehrfach adressiert: Er kann entweder ein Stellvertreter des Du oder des Wir sein, oder auch, wie Borchert, in sich selbst die Stimmen des Verzweifelten und des Lebensbejahenden miteinander vereinbaren. Das Gespräch über den Dächern ist somit exemplarisch ein Gespräch mit sich selbst, durch und über den Text – und steht für die ganze Generation der Nachkriegszeit.

5.3 Die Unbestimmtheit des Wir Von allen Deiktika ist das Wir die für die Redevielfalt der beiden Sprechinstanzen am besten geeignete Form. Das Wir ist nämlich alles andere als eine simple Verviel­ fachung des Ich. Das Wir ist entweder aus einem Ich und einem Du bzw. Ihr zusam­ mengesetzt: das inklusive Wir. Oder aus einem Ich und einem Er/Sie bzw. Sie (Plural): das exklusive Wir. Mit dem Wir werden die Konturen des Sprechers über seine eigene Person hinaus ausgeweitet und verlieren jede Schärfe. Das betrifft aber auch die Konturen des Adres­ saten, der vom Wir ein- oder ausgeschlossen wird: Wer spricht zu wem? Die impli­ zite Doppelbödigkeit des Wir erlaubt es, mit zwei Zungen zu reden, sich innerhalb

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des fiktiven Rahmens der Erzählung zu bewegen und gleichzeitig diesen Rahmen zu sprengen. Das Wir kann immer wieder eingesetzt werden, wenn sich die eigene Stimme des Autors nicht direkt erheben darf, ohne sein eigenes Face (und manchmal seine eigene Person) und/oder das des Adressaten in Gefahr zu bringen. Das an sich undurchschaubare Wir kann u. a. ermöglichen, die Zensur zu umgehen, wie mit dem folgenden Beispiel, aus der DDR-Zeit, gezeigt wird (Prak-Derrington 1999). In Kein Ort. Nirgends (1979) inszeniert Christa Wolf eine fiktive Begegnung zwi­ schen Kleist und der Dichterin Günderrode. In der Erzählung wird keine Geschichte erzählt, keine Handlung vorgeführt. Der Höhepunkt des Geschehens ist der direkte Gedankenaustausch, den Kleist und Günderrode am Ende führen. Erzählt werden also ausschließlich Gespräche, laute Unterhaltungen, oder in Gedanken geführte Monologe Kleists und Günderrodes. Das erlaubt Christa Wolf, alle Techniken der Vermittlung und der Redewiedergabe zu benutzen, wobei sie eine Vorliebe für die Techniken zeigt, bei denen der Erzähler in den Hintergrund tritt. Das gilt auch für die Verwendung des Wir. In dem Wir überwiegt zwar die Stimme eines Ich, aber es ist ein unscharfes Ich, dessen Stimme durch die Schicht der anderen Stimmen geschützt, aber auch geschwächt wird. (Benveniste 1966, 234–235). Kein Ort. Nirgends (KON) wurde 1979 geschrieben, drei Jahre nach Wolf Biermanns Ausbürgerung, die in der DDR einen kulturpolitischen Einschnitt markierte. Die Intellektuellen und Schriftsteller, die dagegen protestiert hatten, sahen sich hart bestraft oder ausgegrenzt. Christa Wolf erzählt: In den siebziger Jahren, als ich keine Möglichkeit mehr sah, mich hier politisch zu betätigen, habe ich versucht, in der Geschichte zu finden, wie sich deutsche Intellektuelle in solchen aus­ weglosen Zeiten verhalten haben. Daraus sind KON und einige Essays entstanden. Die Beschäf­ tigung mit Büchern hat mir damals über die schlimmsten Jahre hinweggeholfen. (Christa Wolf 1990, Im Dialog, 142)

In Kein Ort. Nirgends greift Christa Wolf immer dann zum Wir, wenn es sich um den politischen Apparat, um den Staat handelt. Und bis auf das Wir in der Exposition, das unzweideutig auf die Autorin zurückzuführen ist, sind immer entweder Kleist oder Günderrode die Sprecher, so dass die Kritik an den Verhältnissen immer getarnt vor­ kommt. (13) Ich bin nicht ich. Du bist nicht du. Wer ist wir? Wir sind sehr einsam. Irrsinnige Pläne, die uns auf die exzentrische Bahn werfen. In Män­ nerkleidern dem Geliebten folgen. Handwerk ausüben: Tarnung, zuerst vor uns selbst. Auch wenn man bereit ist, zu sterben, tun die Verletzungen weh, welche die Menschen uns zufügen müssen; nimmt uns der Druck der eisernen Platten, die näher rücken, uns zu zer­ quetschen oder an den Rand zu drücken, allmählich doch den Atem. Kurzatmig, angstvoll, müssen wir weitersprechen, das wissen wir doch. Auch dass uns keiner hört. Auch, dass sie sich gegen uns wehren müssen: Wo kämen sie hin? Dahin, wo wir sind – wer wollte es ihnen wünschen. (Christa Wolf 1979, Kein Ort. Nirgends, 108 f.; Hervorh. E. P.-D.)

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Am Ende der Erzählung, während des Spaziergangs Kleists und Günderrodes wird fast nur noch mit diesem Wir gesprochen – und nur noch über das, was auch Christa Wolfs eigenes Lebensproblem war: über die Gefahr für den Schriftsteller, in eine Außenseiterposition zu geraten, über die Nichtübereinstimmung mit der Welt. Und damit spricht sie nicht nur für sich, sondern auch für all die Leser, die ebenfalls mit ihrer Welt nicht in Übereinstimmung sind, sie spricht für all diejenigen, denen das Recht zu sprechen verweigert war/ist: (14) Die Ideen, die folgenlos bleiben. So wirken auch wir mit an der Aufteilung der Menschheit in Tätige und Denkende. Merken wir nicht, wie die Taten derer, die das Handeln an sich reißen, immer unbedenklicher werden? Wie die Poesie der Tatenlosen den Zwecken der Handelnden immer mehr entspricht? […] Wer spricht? (Ebd., 113; Hervorh. E. P.-D.)

Das Wir ist das politische Pronomen schlechthin. In der Literatur wird es im Dienst einer ‚stellvertretenden‘ Prosa eingesetzt – einer Prosa, die neben den Stimmen der Figuren die Stimme des Autors und des Lesers mit einbezieht.

6 Das Ich im inneren Monolog 6.1 Eine seltene Form Die letzte hier untersuchte Szenographie führt das Spiel zwischen den verschiedenen Ebenen zu äußerster Spannung: Es ist die Form des inneren Monologs. Der Ausdruck innerer Monolog steht hier nicht als Synonym für innere Rede oder Bewusstseinsdarstellung allgemein, sondern bezeichnet die Wiedergabe von unausgesprochenen Gedanken, wenn sie in der Ich-Form und im Präsens stattfindet (autonomous monologue bei Cohn 1983). Der Franzose Émile Dujardin hat sie zum ersten Mal in seiner Novelle Geschnittener Lorbeer (Les Lauriers sont coupés, 1888) verwendet. In deut­ scher Sprache sind Schnitzlers Leutnant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924) die bekanntesten Werke für diese Erzähltechnik. Im inneren Monolog muss sich alles innerhalb der Grenzen der Ich-Origo des Protagonisten abspielen. (15) Wie lang‘ wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen… schickt sich wahr­ scheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht‘s denn? Wenn‘s einer sieht, so passt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch‘ ich mich nicht zu genieren… Erst viertel auf zehn?… Mir kommt vor, ich sitz‘ schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin‘s halt nicht gewohnt… (Arthur Schnitzler 1900, Leutnant Gustl, 9)

Der innere Monolog steht im Dienst der Illusion der Unmittelbarkeit und Synchronität (Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit). Er zwingt aber Grenzen auf, die schwer zu überwinden sind. Wie kann zum Beispiel ein Protagonist im Präsens von

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seiner eigenen Geburt und von seinem eigenen Tod erzählen? Aus diesem Grund gibt es nur wenige Texte, die ganz im inneren Monolog verfasst sind. Sie sind dann auch von kürzerem Umfang: Erzählungen, Novellen, und sie müssen von ihrem Stoff her mit dieser Form eine innere Verwandtschaft aufweisen (s.u). In den meisten Fällen wird sonst die Einsperrung in einer einzigen Ich-Subjek­ tivität, die ja im Leben unser gewöhnliches Los ist, in der Fiktion doch nicht einge­ halten. Der innere Monolog ist dann nur ein Kapitel im Werk, wie in dem berühmten Monolog von Blooms Frau Molly, in Joyces Ulysses, mit dem das Werk schließt, das sonst in der dritten Person geschrieben ist. Oder der Autor inszeniert nicht einen, sondern mehrere Monologe, so dass wir die Geschichte aus der Sicht verschiedener Ich-Figuren erfahren. In Faulkners Als ich im Sterben lag (As I lay dying, 1930), wird die Beerdigung einer armen Farmersfrau von fünfzehn Ich-Figuren (Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn) in 59 Kapiteln erzählt; Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen (1996) hinterfragt den griechischen Mythos der Kindesmörderin Medea multiperspek­ tivisch, durch fünf verschiedene Stimmen, um ihn neu zu interpretieren. In diesen beiden Werken ist jedes Kapitel mit dem Namen des jeweiligen Ich überschrieben. Mit dem ständigen Perspektivenwechsel befreit sich der Erzähler von der Illusion der absoluten Unmittelbarkeit (er ist dann der Regisseur, der die Stimmen inszeniert), und von den Spannungen, die mit der Radikalität dieser Form einhergehen.

6.2 Spannungen im inneren Monolog Ganz anders ist jedoch die Wirkung, wenn der ganze Text die Gedanken einer einzigen Figur inszeniert. Die unerhörte Kraft des inneren Monologs liegt nicht so sehr in der Form (die auch sehr klassisch sein kann, ähnlich dramatischen Selbstgesprächen, wie z. B. bei Schnitzler) als in der Verleugnung dessen, was das Gattungsmerkmal der Erzählung ausmacht: seine Mittelbarkeit (Prak-Derrington 2015). Der Erzähler ver­ schwindet ganz und gar, um der Figur das narrative Terrain gänzlich zu überlassen. Was aber geschieht auf Seiten des Lesers? Es soll auch jene zweite, unerhörte Ver­ leugnung berücksichtigt werden: die Verleugnung der Adressiertheit an einen Leser. Kein Erzähler redet hier, es scheint, als würden die Figuren von sich aus denken. Aber genauso könnte man sagen: Kein Leser dürfte hier lesen, denn es sind Gedanken ohne Adressaten. In allen anderen Szenographien hat der Leser einen Platz: als Außenstehender (3.1), als Zuschauer (3.2), oder als zuschauender Mitspieler/mitspielender Zuschauer (4.1, 4.2, 4.3). Selbst wenn dieser Platz manchmal kein eindeutiger ist (temporale Dop­ pelbödigkeit oder/und personale Zwiespältigkeit), bleibt jedoch die Existenz eines Lesepaktes bestehen. Im inneren Monolog wird aber der Lesepakt gebrochen, der Leser wird in seiner Eigenschaft als Leser um seine Legitimität gebracht. Der Leser wird zum unerwünsch­ ten Gast im eigenen Haus! Aus ihm wird ein nicht-ratifizierter Rezipient, was Goffman

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(1981) als einen eavesdropper bezeichnet, ein heimlicher Mithörer, jemand der an den Türen lauscht. Mit dem Unterschied, dass es sich dabei nicht um eine laute, sondern eine stumme Stimme handelt. Es entstehen dann Spannungen, welche die Schwä­ che, aber auch die Stärke des inneren Monologs ausmachen, wie wir am Beispiel von Schnitzlers Novellen (zitiert nach Die großen Erzählungen) zeigen wollen.

6.2.1 Die Bewegungsverben Die Grenzen dieser Form werden offenbar, sobald nicht mehr Gedanken erzählt, sondern Bewegungen und Gebärden beschrieben werden müssen. Die Forderung nach Unmittelbarkeit tritt dann in Widerspruch zu der Forderung, den Leser zu infor­ mieren. (16) „Adieu, Paul.“ Wo habe ich die schmelzende Stimme her. Er geht, der Schwindler. Wahr­ scheinlich muss er noch etwas abmachen mit Cissy wegen heute nacht. Ich ziehe den Schal um meine Schulter und stehe auf und gehe vors Hotel hinaus. (Arthur Schnitzler 1924, Fräulein Else, 71; Hervorh. E. P.-D.) (17) „Also auf Wiedersehen, Else.“ Ich antworte nichts. Regungslos stehe ich da. Er sieht mir ins Auge. Mein Gesicht ist undurchdringlich. Er weiß gar nichts. (Ebd., 82; Hervorh. E. P.-D.)

Die Verbalisierung nicht sprachlicher Handlungen klingt hier merkwürdig; im Leben vollführen wir doch die meisten unserer Bewegungen, ohne im Geringsten daran zu denken. Dass der innere Monolog sie versprachlicht, lässt sich nur durch die Tatsa­ che rechtfertigen, dass hier für Leser erzählt wird. Um diese Spannung zu überwin­ den, werden sprachlichen Strategien entwickelt, mit denen die Figur sich aus der einsperrenden isochronen Ich-Innenperspektive befreit und eine Außenperspektive einnimmt, ob personal, modal oder temporal, manchmal alle zugleich kombiniert. Auf die Ich-Perspektive wird verzichtet: Statt des Ich werden dann das Du oder das Wir eingesetzt, oder auch unpersönliche Formen vorgezogen (Infinitivformen): Setzen wir uns einen Moment  – aber nicht einschlafen, wie im Prater. (Leutnant Gustl, 40, Hervorh. E. P.-D.) Schau, Gustl, Du bist doch extra herunter in den Prater gegangen, mitten in der Nacht, wo Dich keine Menschenseele stört. (Ebd., 32–33, Hervorh. E. P.-D.)

Statt der temporalen Isochronie und des Gebrauchs von Präsens wird die Bewegung in die unmittelbare Zukunft gesetzt oder als gerade vergangen dargestellt (Tempus Perfekt oder resultative Aktionsart): Nun, er ist offen der Brief, und ich habe gar nicht gemerkt, dass ich ihn aufgemacht habe. (Fräulein Else, 57, Hervorh. E. P.-D.)

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Statt des Aussagesatzes werden Frage- und Aufforderungssätze, oder auch verblose Sätze verwendet: Was, ich bin schon auf der Straße? Wie bin ich denn da herausgekommen? (Leutnant Gustl, 18; Hervorh. E. P.-D.)

Wenn die Kombination Ich und Präsens für ein Bewegungsverb oder die Beschrei­ bung einer Wahrnehmung sich nicht vermeiden lässt, wird die Aussage von einem rechtfertigenden Kommentar begleitet, der die Versprachlichung der Gebärde reflexiv legitimiert: (18) Dass sie was miteinander haben, Cousin Paul und Cissy Mohr, darauf schwör ich. […] Nun wende ich mich noch einmal um und winke ihnen zu. Winke und lächle. Sehe ich nun gnädig aus? (Fräulein Else, 51)

Diese verschiedenen Strategien zeugen von der Schwierigkeit, die Übereinstimmung zwischen Sprecher und Adressat, die dem inneren Monolog eigen ist, zu bewahren. Die Forderung nach Unmittelbarkeit, die der Existenz des Autor-Leser-Paares wider­ spricht, kann aber auch sehr fruchtbar sein.

6.2.2 Der Leser als Komplize Der innere Monolog löscht die Rede- und Rollenvielfalt des literarischen Textes aus und lässt nur noch die Figurenebene gelten. Dem Leser bleibt dann keine andere Wahl, als in die Gedankenwelt der Figur unvermittelt, ohne jede Erlaubnis, einzubre­ chen. Seine Leugnung als Leser geht also mit einer Vergrößerung seiner Rolle einher: Er steht nun allein mit dem/der Protagonisten/in. Allein, um ihn/sie zu interpretie­ ren. Aber auch allein, um ihm/ihr zu widerstehen. Der Schriftsteller Michel Butor hat den inneren Monolog als ein gewaltsames Eindringen in ein geschlossenes Bewusstsein beschrieben (Butor 1963, 79). Aber die Frage stellt sich: Wer tut wem bei diesem frontalen Zusammenprall Gewalt an? Der Leser der Hauptfigur? Oder umgekehrt? In Schnitzlers beiden Novellen sehen sich beide Protagonisten, Gustl und Else, mit einer Gewissenskrise konfrontiert, die unbedingt geheim gehalten werden muss. Etwas geschieht, das ihr ganzes Leben bedroht: eine Demütigung. Leutnant Gustl ist in der Oper von einem Bäckergesellen beleidigt worden, und hat ihn nicht zum Duell gefordert. Keiner aber hat die Szene bemerkt. Wenn jemand das erfährt, ist er entehrt. Von der jungen Adligen, Else, verlangt ihre Mutter, dass sie von dem reichen Kunst­ händler, Dorsday, dreißigtausend Gulden erbittet, um ihre Familie aus dem Bankrott zu retten. Letzterer willigt ein, aber unter der Bedingung, dass er sie nackt betrachten darf. In beiden Fällen kann ihr Dilemma nicht eingestanden werden, ohne dass sie das Gesicht verlieren. Das Hinauswerfen des Lesers aus der Szenographie ist umso

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bedeutender, als sein Eindringen der absoluten Notwendigkeit, das Dilemma geheim zu halten, widerspricht. Der dem Leser aufgezwungene Voyeurismus macht ihn eines Verbrechens schuldig und seine Schuldgefühle spiegeln die der zwei Figuren Schnitz­ lers wider. Im inneren Monolog ist der Leser als Voyeur wider Willen anwesend und gleich­ zeitig ist er der Einzige, der dem Ich seine Stimme verleiht.

7 Schlussbemerkung Das in der Literaturwissenschaft oft zitierte Urteil des Amerikaners W. Booth über die Kategorie der Person („Perhaps the most overworked distinction is that of person. To say that a story is told in the first or the third person will tell us nothing of impor­ tance“ (Booth 1961, 150)) beachtet die sprachliche Grenze nicht, welche die dritte Person (Referenzrolle, Weinrich 1993, 94) von der ersten und der zweiten Person trennt (Gesprächsrollen, ebd.). Booth selber kommentierte in der zweiten Auflage zu seinem Buch, zweiundzwanzig Jahre später: „Plain wrong. It was radically underworked“ (Booth 1983, 412). Die Strukturgrenze zwischen Kommunikanten- und Nicht-KommunikantenPronomina erlaubt es, zwei grundlegende Modi des Erzählens und damit auch zwei grundlegende Modi des Lesens zu gestalten. Erst die Kommunikanten-Pronomina, die Deiktika, gewähren den Interaktanten Autor/Leser eine sprachliche Rolle im literarischen Text: als heterodiegetisches Paar, wie in der Metafiktion, oder auch als homodiegetische Aktanten, wie wir es mit den Pronomen Wir, Du oder auch dem Ich im inneren Monolog gesehen haben. Ob mit oder ohne Deiktika, mit oder ohne kommunikative Struktur – der Akt des Erzählens und der Akt des Lesens gehören zusammen: Es sind die zwei Janusgesich­ tern des fiktiven Andersseins.

8 Literatur 8.1 Primärliteratur Aichinger, Ilse (1949): Spiegelgeschichte. In: Die Gefesselte. Erzählungen 1. Frankfurt a. M. 2010, 63–74. Borchert, Wolfgang (1949): Gespräch über den Dächern. In: Das Gesamtwerk. Hamburg 1959, 48–58. Calvino, Italo (1979): Wenn ein Reisender in einer Winternacht… Frankfurt a. M. 2012. Fontane, Theodor (1888): Irrungen, Wirrungen. Stuttgart 1965. Kleist, Heinrich von (1808): Michael Kohlhaas. In: Sämtliche Erzählungen und andere Prosa. Stuttgart 1984, 3–115. Hoffmann, E. T. A. (1819): Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Stuttgart 2004.

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Mann, Thomas (1924): Der Zauberberg. Berlin/Frankfurt a. M. 1962. Mann, Thomas (1903): Tonio Kröger. In: Sämtliche Erzählungen. Bd. 1. Berlin/Frankfurt a. M. 2002, 265–331. Mann, Thomas (1944): Das Gesetz. In: Späte Erzählungen. Frankfurt a. M. 1981, 339–408. Raabe, Wilhelm (1869): Der Schüdderrump. In: Sämtliche Werke 8. Göttingen 1972, 3–379. Raabe, Wilhelm (1879): Höxter und Corvey. In: Sämtliche Werke 11. Göttingen 1973, 259–353. Schnitzler, Arthur (1900): Leutnant Gustl. In: Die großen Erzählungen. Stuttgart 2006, 7–47. Schnitzler, Arthur (1924): Fräulein Else. In: Die großen Erzählungen. Stuttgart 2006, 49–127. Wolf, Christa (1979): Kein Ort. Nirgends. Frankfurt a. M. 1981. Wolf Christa (1996): Medea. Stimmen, München 1999. Wolf, Christa (1990): Im Dialog. Aktuelle Texte. Frankfurt a. M. Zweig, Stefan (1927): Verwirrung der Gefühle. In: Erzählungen. Frankfurt a. M. 1984.

8.2 Sekundärliteratur Bachtin, Michail (1979): Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M. Banfield, Ann (1982): Unspeakable Sentences. Boston. Benveniste, Emile (1966): Problèmes de linguistique générale. Paris. Booth, Wayne C. (1961/1983): The Rhetoric of Fiction. Chicago. Butor, Michel (1963): L’usage des pronoms personnels dans le roman. In: Ders.: Essais sur le roman. Paris, 73–88. Chatman, Seymour Benjamin (1978): Story and Discourse: Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca (New York). Cohn, Dorrit (1983): Transparent Minds. Princeton. Ducrot, Oswald (1984): Le dire et le dit. Paris. Dujardin, Edouard (1931): Le monologue intérieur. Paris. Eco, Umberto (1998): Lector in fabula: die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München. Fludernik, Monika (2001): New wine in old bottles? Voice, focalization, and new writing. In: New Literary History 32, 619–638. Genette, Gérard (1972): Figures III. Paris. Genette, Gérard (1998): Die Erzählung. München. Goffman, Erving (1981): Forms of Talk. Oxford. Hamburger, Käte (1968): Die Logik der Dichtung. 2. Aufl. Stuttgart. Kuroda, Sige-Yuki (1973): Where Epistemology, Style and Grammar Meet: A Case Study from the Japanese. In: Stephen R. Anderson/Paul Kiparsky: A Festschrift for Morris Halle. New York, 377–391. Maingueneau, Dominique (2007): Analyser les textes de communication. 2. Aufl. Paris. Maingueneau, Dominique (2014): Diskurs und Äußerungsszene. In: Johannes Angermüller u. a. (Hg.): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Bd. 2. Bielefeld, 431–453. Prak-Derrington, Emmanuelle (1999): ‚Wer spricht?‘ Über Tempora, Pronomina und Grenzverwischungen in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends. In: Cahiers d’etudes germaniques 37, 173–184. Prak-Derrington, Emmanuelle (2005): Ich und Er: vom Schreiben in der Ich-Form. Zur Kommunikationssteuerung durch Pronomina. LYLIA – Lyon Linguistique allemande. Online verfügbar unter: https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-00377288 [12. Juni 2017]. Prak-Derrington, Emmanuelle (2006): Wie redet der Autor seinen Leser an? In: Irmtraud Behr/Anne Larrory/Gunhild Samson (Hg.): Der Ausdruck der Person im Deutschen. Tübingen, 203–218.

Der besondere Einsatz der sprachlichen Mittel im literarischen Erzähltext 

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6. Das Wort im literarischen Text Abstract: Die Bestimmung von Wort ist bekanntlich schwierig, weshalb die sprach­ wissenschaftlichen Darstellungen i. d. R. auf die Wortform abstellen. Und auch dort, wo sie das nicht tun, geht man immer noch von einem prozeduralen Adäquatheitsbe­ griff aus, der einen top-down-Prozess von einer festen lexikalischen zu einer situati­ ven oder aktuellen Bedeutung steuert (Schwarz 1992, 28): auch die kognitive Seman­ tik benötigt die abschließende Konzeptualisierung der Wortbedeutung (ebd., 80). Das literarische Wort hingegen wird in der völligen Offenheit der Bedeutung verwendet, was wiederum die Ursache für die Bestimmungsschwierigkeit ist. Das ‚offene‘ Wort widerstrebt der Bedeutungseingrenzung auf den Begriff, die im Satz ihre Fortsetzung hat. Durch das literarische, ‚offene‘ Wort wird das Spektrum des ‚Standards‘ immer wieder in seine gesamtsprachlichen Möglichkeiten hinein erweitert, deren Erfassung Grammatik und Wörterbuch nur in Ansätzen leisten können. Zusammen mit den historischen Wortbeständen (Differenzwortschatz) zeigt das literarische Wort den Kosmos sprachlicher Möglichkeiten und stellt hohe Anforderungen an das standard­ sprachlich orientierte Verstehen. Das literarische Wort kann in glückenden Fällen die gewohnte sprachliche ‚Abbildung‘ (Bedeutung) aufheben und mit seiner Performanz dem Vergänglichen des Realen die Dauer der wörtlichen Erscheinung (Sein) geben. Anzeichen hierfür sind die wesentlich vielfältigeren Wort-Verbindungsmöglichkeiten in literarischer Prosa und Lyrik, die ganz andere Formen bereithalten als die stan­ dardsprachliche Syntax. 1 Die schwierige Bestimmbarkeit von Wort 2 Die ‚Offenheit‘ der Wortbedeutung 3 Die Standardsprache als Eingrenzung einer weiter angelegten Gemeinsprachlichkeit 4 Das literarische Wort und der Satz 5 Die Funktionsintensität des Titel-Wortes 6 Das literarische Wort als ‚offenes‘ Wort 7 Verständlichkeit 8 Der Differenzwortschatz und die Markierung poet. 9 Performanz 10 Die vielfältigen Verbindungsmöglichkeiten des literarischen Wortes 11 Literatur

1 Die schwierige Bestimmbarkeit von Wort Eine Bestimmung von Wort fällt gar nicht so leicht. Ziehen wir linguistische Erläute­ rungen zurate, dann fällt die Antwort zwar eindeutig aus: Ein Wort ist eine Buchsta­ DOI 10.1515/9783110297898-006

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bensequenz zwischen zwei Leerzeichen (so z. B. Metzler Lexikon Sprache 2010, 768). Aber wir stutzen, bis dann ersichtlich wird, dass dieser Erklärung eine besondere Form der Sprache zugrunde liegt (die Schriftlichkeit) und dass zudem eine besondere Funktion des Wortes gemeint ist, nämlich verbunden werden zu können im syntak­ tischen Zusammenhang der Grammatik. Genau dies machen grammatische Darstel­ lungen, wie die von Peter Eisenberg (2013, Überschrift des 1. Teils: „Das Wort“), zu ihrer Aufgabe. Hier werden die Möglichkeiten dargestellt, wie die Wörter unterein­ ander verbunden werden können. Es geht also gar nicht um das Wort, sondern um die Formen, die Wörter annehmen (müssen), wenn sie syntaktisch untereinander ver­ bunden werden. Wir erfahren hier, wie beispielsweise das Wort „Wald“ seine Grund­ form ändert, wenn es in anderen Zusammenhängen und mit anderen Wörtern zum Satz verbunden werden soll, nämlich zu „Wälder“, „Waldes“ etc. Wollen wir aber statt dieser Formendarstellung wissen, was „Wald“ bedeutet, dann verweist uns der Grammatiker auf das Lexikon, das als der (mentale) Bereich gilt, der die Bedeutung eines Wortes speichert. Darauf basiert die Theorie der kog­ nitiven Semantik (Schwarz 1992, 2; 28), die allerdings den Speicherinhalt individua­ lisiert, das aber nur als Postulat. Also bleibt für eine Nachfrage nur das herkömmli­ che Wörterbuch. Im Wörterbuchartikel wiederum erfahren wir, dass die Bedeutung von Wald ‚große Fläche mit dichtem Baumbestand‘ sei (Wahrig 2011, 1625; Dudenonline ähnlich). Das allerdings hat nur entfernt mit dem zu tun, was wir bei einem Spaziergang durch den Wald als seine Wortbedeutung wahrnehmen, oder mit dem sprachlichen Ausdruck von Matthias Claudius: „Der Wald steht schwarz und schwei­ get“ (Abendlied) verbinden. In der Linguistik ist diese Schwierigkeit bekannt: „Bis heute entzieht sich das Wort einer exakten sprachwissenschaftlichen Definition. Das bedeutet, dass das Wort für die Linguistik nicht als feste Größe fassbar wird.“ (Sobotta 2002, 84) Instruktiv für das, was Wort überhaupt in einer Sprache sein kann, ist immer noch der Abschnitt: „Bezeichnungsmittel der Worteinheit. Pause“ im Kawi-Werk von Wilhelm v. Humboldt ([1830–1835], 505 ff.). Aber auch mit dem, was die Bedeutung eines Wortes sein könnte, also dem, was Wald uns sagt, tut sich die Linguistik schwer, vor allem dann, wenn man die Vorgaben betrachtet, die die Linguistik für ihre Bedeutungslehre von einer Richtung der Philo­ sophie übernommen hat. Prominent für diesen „logischen Positivismus“ (vgl. Sukale 1988, 22 ff.) ist das Beispiel, das Gottlieb Frege wählt, um für mehr Eindeutigkeit beim Ausdruck zu werben: der Planet Venus wird einmal als Abend-, ein andermal als Mor­ genstern bezeichnet. Zwei Wörter für ein und denselben Gegenstand sind für Frege ein Unding. Dabei besitzt er in Göttingen sicherlich einen Garten mit Haus darin, muss dafür aber Grundsteuer – das Wort kommt im 18. Jahrhundert auf – bezahlen. Sein Garten wird hier also anders bezeichnet. Die Zwei- oder Mehrfachbezeichnung kommt häufiger vor und ist wohl eine genuine Erscheinung der Sprache. Erkennbar wird daran zweierlei: die sprachliche Organisation der Wortbedeu­ tung geht ‘krumme‘ Wege und die Wissenschaft bemüht sich darum, einen festen Bezugspunkt für die Bedeutung außerhalb der Wörter zu finden. Den findet sie in

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dem Korrelat von Wort und Sache, nämlich in der Dinglichkeit der realen Welt. Ein Wort „referiert“ demnach auf reale Gegenstände in der Welt, „Hund“ beispielsweise auf das Tier mit vier Beinen (Löbner 2003, 24). Es ist dann nicht mehr überraschend, dass diese Semantik ganz im Bereich dinglicher Gegenstände und ihrer Bezeichnun­ gen bleibt, also eine Bedeutungslehre nur für einen Teilbereich des Wortschatzes ist. Sicherlich ist hierfür die Inhaltskonzeption des Wortes durch de Saussure prägend, der mit seiner kurzen Klarstellung von Signifikant und Signifikat zugleich auch die ganze Schwierigkeit dieser Konzeption zu erkennen gibt: das Wortzeichen „Baum“ (Signifikant) referiere auf die als Bild wiedergegebene Pflanze (Signifikat), nämlich einen belaubten Baum (so noch Schlobinski 2003, 32). Aber weder lässt sich die ganze ‚Realität‘ eines Baumes so abbilden – denn was ist mit diesem ‚Baum‘ im Winter, also ohne Blätter?  –, noch meint das Sprachzeichen (Signifikant) „Baum“ nur und aus­ schließlich solch einen gewachsenen Baum. Sogar in einem nur einbändigen Wör­ terbuch finden sich immerhin sechs Bedeutungen für dieses Sprachzeichen (Wahrig 2011, 232). Trotzdem scheint das, was ‚real‘ ist, klar und einfach als ‚Gegenstand‘ vor uns zu liegen. Diese Auffassung finden wir in der Nachfolge Freges, vor allem in der (sprach-) analytischen Philosophie des Wiener Kreises (Rudolf Carnap, Moritz Schlick, Alfred J. Ayer u. a.). Bedeutung wird dort so verstanden, dass der ‚Gegenstand‘ die Bedeutung bestimme und der Gegenstand fraglos ‚vorliege‘. Von daher erklärt sich die Vorliebe der analytischen Philosophie für die Namen. Bei diesen sei die Bedeutung deshalb klar, weil wir ihren ‚Gegenstand‘ kennen (Sukale 1988, 22). Dazu Hans-Martin Gauger (1976, 126) – mit der einfachen Klarheit seiner Strukturalismus-Kritik –: „die Wörter bedeuten die Dinge mittels der  – bewusstseinsmäßig mit ihnen verbundenen  – Inhalte“. Es geht hier also um die Möglichkeiten unserer Erkenntnis und ihrer Darstel­ lung. Dieses Problem hat Kant bekanntlich umgetrieben und er kommt zu dem Ergeb­ nis, dass jedes (menschliche) Erkennen unter den Vorbehalt zu stellen ist, es handle sich dabei immer nur um das Bild, das sich unser Denken von der Realität macht, nämlich als einem „Postulat der Möglichkeit der Dinge“ (KrV A, 220). Die Realität selbst, der ‚Gegenstand‘, liege uns nicht vor. Damit wird der Gegenstandsbezug eines Wortes fraglich. Das Wort ruft einen Gegenstand lediglich als Möglichkeit auf. Seine ‚Ungenauigkeit‘, ‚Sprunghaftigkeit‘ oder ‚Unsystematik‘ sind dann zwar sprachlich organisiert, jedoch im Kantischen Sinne erkenntnisentsprechend. Eine Begriffssprache, wie sie der Wiener Kreis forderte, wäre demnach nicht nur überflüssig sondern auch erkenntnismindernd. Der Begriff ist ein eingegrenztes Wort, nämlich mit der Schließung seiner Offenheit eingegrenzt auf eine präzisierte Aussage, die ihren Wert aus dem erlernten Einverständnis der Begriffsgebraucher (Fachleute) erhält (Burk­ hardt 1983). Zum Beispiel so wie Juristen lernen, dass Besitz die (momentane) Verfügung über eine Sache ist, allgemeinsprachlich aber jemand einen (verstreuten) Besitz haben kann.

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2 Die ‚Offenheit‘ der Wortbedeutung Daraus ergibt sich eine Folgerung für die Wortbedeutung: sie wird offener. Das Wort referiert zwar auf etwas, das jedoch zu allererst etwas ‚Allgemeineres‘ im Umkreis des vom Wort Angesprochenen ist, z. B. Fuß als die unterste Gliedmaße des Menschen überhaupt, also nicht etwa ‚konkret gegenständlich‘, z. B. den Fuß eines bestimmten Menschen. Das resultiert aus der Offenheit des Wortzeichens, die über die Bedeutung ‚Fuß überhaupt‘ das ‚Fußmäßige‘ mit benennen kann. Der Bezug auf einen (konkreten) Fuß ist möglich, aber das Vorstellen des Fußes als einer ‚Grundlage‘ als Fuß des Berges ebenso. Entscheidend hierfür ist die Verständlichkeit für andere (Hörer). Referenz soll also nicht gegenstandsgebunden angenommen werden. Ein Wort kann einen Gegen­ stand bezeichnen, auch einen ganz konkreten, aber damit ist seine Bedeutungsleis­ tung nicht erschöpft, denn es bleibt immer noch der weite Bereich des Assoziierens, nämlich die Entwicklung und Ausfaltung von Bedeutungen. Nur ein Beispiel: Töne, eigentlich nur hörbar, können auch scheinen, also einen anderen Aggregatzustand annehmen, nämlich in Richtung ‚Sichtbares‘, ohne dass das Verstehen gestört wird: „blickt zu mir der Töne Licht.“ (Clemens Brentano, Abendständchen) Die mühevolle „Kategorialarbeiten“, die Löbner leisten muss, um „Donald“ „semantisch korrekt“ als „Ente“ bezeichnen zu können, können entfallen, ebenso wie die ganzen „Einhorn“-Debatten über Bezeichnungen für etwas, das „es nicht gibt“ (2003, 257 ff.). Selbstverständlich bezeichnet „Donald“ in diesem Fall eine Ente, genauso wie „Ente“ die falsche Zeitungsnachricht oder den Kleinwagen 2CV von Citroen benennt. Systematisierend kann man das dann in das bilaterale Zeichenmo­ dell von de Saussure einzeichnen: die Trennlinie zwischen Signifikant und Signifikat behält weiter ihren Sinn, aber das umschließende Oval, das nur den belaubten Baum zulässt, wird gesprengt. Ein Signifikant kann die verschiedensten Dinge bezeichnen, also auch begrifflich unsystematische. Um was es geht, lässt sich geradewegs an dem Erkenntnisprozess von Ludwig Wittgenstein ablesen. Von der Forderung des Wiener Kreises nach definitorischer Eindeutigkeit setzt er sich mit den „Philosophischen Untersuchungen“ ab: „Ist das unscharfe (Photo) nicht oft gerade das, was wir brau­ chen?“ (1953, § 71). Das verweist darauf, dass Wörter gerade nicht als Feststellungen, Definitio­ nen oder Abgeschlossenes angesehen werden können. Wörter haben prozessuale Momente, die sie erst im Diskurs offenbaren bzw. offenbaren sollen. Insofern ist das Wort nie ‚recht‘ oder passend und Wörterbucheinträge können deshalb nie das ganze Bedeutungsspektrum eines Wortes wiedergeben. Ein Wörterbuch von 1400 könnte nicht anzeigen, dass Grund‚ ‚(ganz real) Ackerland, Stück Erde‘ in der gleichzeitigen mystischen Reflexion zu einem Äquivalent von lat. causa wird, heute erweitert in die ganze Wortfamilie ‚Begründung‘. Das Entwicklungspotential von Wortbedeutungen muss offengehalten werden. Wie ‚offen‘ ein Wort sein kann, wie viel ‚Sinn‘ es trägt und wie viel Erläuterung sein Bedeutungsumfang erfordert, dafür sei hier das Bei­ spiel eines vermeintlich unbedeutenden Wortes genannt: und. Wahrig (2011) erläutert

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und auf einer halben Drittelsspalte, das Deutsche Wörterbuch (DWB 1999 s. v.) auf 24 Spalten, Bruno Liebrucks (1979) aber auf 847 Seiten, und das fast nur für die Sprache Hölderlins. Wie steht es nun mit der Offenheit der Wortbedeutungen? Gerade in der Lite­ ratursprache ergibt sich eine Diskrepanz zwischen dem Bemühen des Autors, mög­ lichst genau zu formulieren, und dem Ergebnis dieser Bemühung, dass die Leser gerade deshalb lange darüber nachdenken können. Weil sich darüber kein endgül­ tiges Ergebnis einstellen will, kann man literarische Texte als fiktiv, nämlich nur ausgedacht ansehen: „lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne“ (Hans Magnus Enzenberger 1957, ins lesebuch für die oberstufe). Sie mögen unterhaltsam und anre­ gend sein, aber sie haben keine Referenz zur Realität. Eine solche wird für Sachbü­ cher, Ratgeber, Zeitungsberichte und sogar Tatsachenberichte angenommen, was viele Bemühungen hervorgerufen hat, dieses eine ‚wahr‘ mit einem anderen ‚wahr‘, nämlich dem der Literatur und Kunst überhaupt, zu ergänzen (Theodor W. Adorno 1970, Ästhetische Theorie; bzw. Wolfgang Iser mit seiner „Zweiweltenvorstellung“, nämlich einer „sozio-politischen“ und einer „artifiziellen“, 1991, 386). Mit diesem Bezug auf das eine ‚wahr‘, nämlich das der ‚Realität‘, ist freilich nur eine spezielle Meinung erfasst. Diese wunderbare Welt der Realität – wo ist sie? Sie ist lediglich eine „Konstruktion“, legt Niklas Luhmann dar und verweist den Wunsch nach einer kons­ truktionsfrei erkennbaren Realität auf die überholte Vorstellung einer Anordnung der Arten und Gattungen („den alten Essenzenkosmos“, 1995, 14 ff.). Es stimmt schon: Kein literarisches Wort verweist auf etwas ‚anderes‘. Mit dem Verweisen würde es sich nämlich abschließen und wäre dann überschaubar. Und genau darum geht es ihm nicht. Es ruht aber auch nicht in sich selbst. Es ist in Bewe­ gung. Einmal, mit seinem Initial, in Bewegung gebracht, fordert es die jeweilige Rezeption. Damit ist es nicht ‚Abbild‘ sondern Perspektive, die jede Synchronie seiner Entstehung verlässt und in andere ‚Zeitumstände‘ oder neue Realitäten eintauchen kann, selbst wenn die Entstehung des Wortes lange Zeit zurückliegt, manchmal tau­ sende von Jahren wie z. B. bei den Fragmenten der Sappho. „Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein“ (Paul Celan 1958, 23). Gewonnen wird diese Wirklichkeit mit der Offenheit der Wörter, die uns selbst in Erstaunen verset­ zen können: was habe ich da gerade gesagt? Mit dieser Frage hat man sich aus den bindenden Kommunikationszusammenhängen gelöst. Eine solche Bindung besteht beispielsweise für „füllen“ um 1800 darin, dass damit die Tätigkeit des Auffüllens von Hohlräumen benannt wird (Adelung 1793 ff., Bd. 2, 348 ff.), welches Bedeutungsver­ ständnis bis heute andauert. Wenn wir nun hören: „Füllest wieder Busch und Tal“, dann suchen wir – mehr als zweihundert Jahre nach Entstehen des Gedichts (Johann Wolfgang v. Goethe 1777, An den Mond) – nach der Wirklichkeit dieser Erscheinung und merken an diesem Wort, dass weitere seiner Möglichkeiten offengelegt worden sind. Sie verweisen auf die kosmische Belebung eines Tals, die uns rätselhaft bleibt, aber eben auch eine Perspektive verheißt, die es uns verbietet, dieses Wort in seine normalsprachliche Bedeutung zurückfallen zu lassen. Eine solche Bewegung kann

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ein Wort auslösen: wir stutzen, ahnen und schließen mit dem Wort gerade nicht ab, sondern geben uns seinen nun aufgewiesenen Möglichkeiten hin. Das ist der Gewinn an Wirklichkeit, von dem Paul Celan spricht.

3 Die Standardsprache als Eingrenzung einer weiter angelegten Gemeinsprachlichkeit Aber spielt sich das nicht in Bereichen ab, die nichts mit unserem normalen Leben zu tun haben? Ist das literarische Wort nicht eine Ausnahme gegenüber unserem all­ täglichen Sprechen und Schreiben? Das literarische Wort ist oft ungewöhnlich und das in vielen Hinsichten: seiner Bedeutung, des ungekannten Gebrauchs, seiner Sel­ tenheit und seiner Verständlichkeit. „Schwarze Milch der Frühe“ (Paul Celan, Todesfuge) – was für eine „Milch“ soll das sein? Vor allem: von welcher Grammatik könnte dieser Satz erklärt werden und in welchem Wörterbuch könnte man diese Bedeutun­ gen erklärt bekommen? Zumindest in keinem der gängigen Werke. Deshalb wird ein solcher Sprachgebrauch als ‚ungewöhnlich‘ angesehen und dann auf den üblichen Sprachgebrauch verwiesen, der eben als ‚gewöhnlicher‘, vor allem aber als ‚normaler‘ angesetzt wird. Grundlegend hierfür ist der Gedanke einer Sprech- und Schreibweise, die von allen verstanden werden kann. Mit dieser für alle verständlichen Sprache geht der Anspruch einher, damit eine Sprache darzustellen, die allgemein gültig ist. Man nennt sie deshalb Standard und unterstellt, dass sie eine umfassende, alle Aus­ drucksnotwendigkeiten der Darstellung ermöglichende Sprache sei, kurzweg: die Sprache. Inspirierend für diese Auffassung war die Ordinary Language Philosophy, der zufolge diese normale bzw. ‚gewöhnliche‘ Sprache ganz gut geeignet sei, reflektori­ sche Vorgänge angemessen darzustellen. Dadurch könnten viele traditionelle phi­ losophische Probleme aufgelöst werden. Mit der Übernahme dieser Überlegungen in den linguistischen Strukturalismus kam es dann auch dazu, dass die poetische Sprache wegen ihrer ‚Ungewöhnlichkeit‘ als ‚defizitär‘ angesehen wurde (prominent hierfür Bierwisch 1965, 55; diese Annahme findet sich immer wieder, z. B. bei Thoma­ schewski 1985, 271: „Der Vers ist wesentlich deformierte Rede“.). Ein einfacher Blick darauf, welche Sprachvarianten wir sprechen oder hören (Dialekte, Fachsprachen, Familiensprachen, Szenejargons etc.), zeigt allerdings, dass es viel mehr ‚Sprachen‘ in einer Sprachgemeinschaft gibt, weshalb die Frage aufkommt, was Norm oder Standard eigentlich meinen bzw. wie sie geformt werden. Sie entstehen über Vari­ antenabbau und Prägung von Vorbildern bzw. Regelungen (z. B. das OrthographieRegelwerk), also durch Ausschluss und Abschließung, so dass die Standardsprache nur eine Teilmenge der gesamten Sprachlichkeit einer Sprachgemeinschaft ist (vgl. Berruto 2004, 191). Sie ist geformt und bestimmt unter dem Optimierungsziel Verständlichkeits- und Darstellungsaffinität und prägt das Einverständnis (vermittelt über

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Schulunterricht, anders gesagt: über Bildung) mit den Kategorien falsch und richtig. Man meint, diese Standardsprache bilde die gesamte Sprache ab, und bezieht sich dabei auf das Werk, das nur über eine Einschränkung einer weitgefassten Gemein­ sprachlichkeit entstanden ist, die Grammatik. Wie schwierig diese ‚Standardisierung‘ aber ist, zeigt ein einfacher Fall. Welche Möglichkeiten hat der Genitiv? Helbig/Buscha (1996, 591 ff.) benennen zwölf, Eisen­ berg (2013, 244) geht von sechs Typen aus. Eisenberg ist freilich zu Recht skeptisch: „Man weiß nicht einmal genau wie vollständig (…) die Liste von Attributtypen ist“. Um was es gehen könnte, zeigt das Gedicht von Oskar Pastior das denken des zufalls (aus dem Gedichtband Das Hören des Genitivs, 1997) und die Erläuterungen von Robert Stockhammer (2014, 480 ff.): weder erfassen die Grammatiken alle Sätze einer Sprache – auch Chomskys ‚erfundener‘ Satz „Colo[u]rless green ideas…“ gehört zur (in dem Fall: englischen) Grammatik, zumindest ist er „sinnvoll“ (Stockhammer 2014, 496)  –, noch erfassen Wörterbücher alle Wörter und alle Wortbedeutungen einer Sprache. Für letztere ein einfacher Zahlenvergleich: der zehnbändige Duden hat etwa 90.000 Worteinträge, das Deutsche Wörterbuch etwa 350.000. Das Deutsche hat aber weit mehr Wörter als diese gebuchte Anzahl und deren erklärte Bedeutungen. Das literarische Wort nun lebt davon, dass diese Bedeutungsräume geöffnet werden können. Ein Beispiel: ich wird standardsprachlich als Funktionswort erklärt, nämlich als 1. Person Singular, und bedeutet: „der Sprecher selbst“ (Wahrig s. v.). Das aller­ dings ist derjenige gewiss nicht, von dem sagt wird: „o Absolut, das meine Stirne deckt, um das ich ringe“ (Gottfried Benn, Trunkene Flut [1922–1936], 56). Der Autor ist es nicht, der Leser oder Vortragende aber auch nicht. Wer ist dann ich und welche Bedeutung hat ich? Die Literaturwissenschaft spricht von einem lyrischen Ich, die Sprachwissenschaft von großen Schwierigkeiten, weil nämlich dieses Ich-Sagen nicht die sprachwissenschaftlich angenommene Selbstverständlichkeit hat (Stockhammer 2014, 479 ff.). Die Standardisierung hat jenseits ihrer selbst nicht nur ‚marginalisierte Reste‘ übrig gelassen, wie öfters vermerkt wird, vielmehr kann aus ihrer Begrenztheit heraus gar nicht gesagt werden, was es noch gibt (Linke/Feilke 2009, 3). Wichtig wird also die Unterscheidung, dass ‚(standard)ungrammatisch‘ nicht gleich ‚sprachlich unmöglich‘ ist. Was die normsprachliche Restriktion ihrerseits sprachlich auslösen kann, geht aus einer Bewegung hervor, die um 1900 das Ungenügen dieser Normspra­ che zum Ausdruck bringt – Ein Brief (1902), auch bekannt unter Lord Chandos, Hugo v. Hofmannsthal (ebd., 45–55)  – und damit einen Aufruhr einleitet, der sämtliche normsprachliche Vorschriften (Knoop 1991) sprengt, den Expressionismus: „Denn es kann im Menschen etwas aufsteigen, dessen Grund kein Verstand (…) aufzufinden vermag“ (Humboldt, [1827–1829], 229).

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4 Das literarische Wort und der Satz Literarische Wörter und ihre Bedeutungen steigen also auf und bereichern unser Sprechen und Schreiben. Sie gehören zu unserer Sprache, auch wenn sie uns über­ raschen. Aber was sind sie eigentlich? Sind sie nur Teile von Sätzen? Oder sind sie eigenständig, zunächst, und dann erst in Sätzen ‚verknüpft‘, was der Begriff Syntax eigentlich anzeigt? Eine Antwort aus der Literatur klingt so: Ein Wort Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen, und alles ballt sich zu ihm hin. Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich – und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich. (Gottfried Benn [1937–1947], 196)

Ein Wort erleuchtet also unser Dasein und für uns stellt sich die Frage, wie das lite­ rarische Wort das leisten kann. Zunächst wird hier wieder die Schwierigkeit sichtbar, die uns der Strukturalismus und dessen Verzweigungen mit auf den Weg gegeben haben. Unter Bedeutung werden nur Sätze behandelt, nicht aber die Bedeutungen von Wörtern. In dem Reader von Ludger Hoffmann (2010) erscheint Wort gar nicht, sondern nur Wortform und Wortstruktur. Im Kapitel Bedeutung werden in den Bei­ trägen von Lyons bis Tugendhat Wörter fast ausschließlich als (Sprach-?)Phänomene verhandelt, die erst dann Bedeutung haben, wenn sie zu Sätzen verbunden werden. Wörter, allein stehend, haben keine Bedeutung, mehr noch: sie können gar nicht allein stehen. Für Boris Thomaschewski ist das ganz klar: „Außerhalb eines Satzes gibt es keine Wörter, – einzelne Wörter gibt es nur im Wörterbuch.“ (1985, 27) Harald Weinrich nennt das Aussagen aus der „Ära der Satzlinguistik“ (2001, 101). Nehmen wir das Satzmäßige von „Ihr Worte, auf, mir nach!“ aus dem Gedichtan­ fang Ihr Worte von Ingeborg Bachmann (1961, 162 f.) weg, müsste doch „Ihr Worte“ nichtssagend sein, ohne Bedeutung. So ist es aber nicht, vielmehr wird „Ihr Worte“ vielseitiger, es ist nun eine Ansprache an „Worte“, für die die Aussage über ihre Bewe­ gung („auf, mir nach!“) einschränkend ist. Sie können Verschiedenes sein, nicht nur im Aufbruch, sie können sogar ganz allgemein zum Angesprochenen werden für andere Zusammenhänge, für Aussagen überhaupt. Aber auch wenn die Ansprache „Ihr“ wegfällt, ist „Worte“ weiterhin bedeutsam: man kann zu jemandem „Worte“ sagen und er kann sich denken, was der Sprecher damit meint. Daraus wird wie­ derum deutlich, dass das Attribut mit seiner informativen Zugabe vereindeutigend

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einschränkt: nur das so Angesprochene gilt und nicht das, was ein Wort sonst noch bedeuten kann. Die Aussage im Satz präzisiert, aber beschränkt eben auch. Umgekehrt führt die Destruktion des Satzes nicht zu bedeutungslosen Sprach­ teilen. Substantive, Adjektive oder Verben sind bedeutungsvolle Sprachteile, die für sich stehen können, Funktionswörter eher nicht (vgl. aber das „Da“ in Heideggers Existenz-Analyse oder das „Als ob“ in Vaihingers Philosophie; dort sind sie bedeu­ tungsvolle Sprachteile). Ist das Einzelwort wirklich so angelegt, dass es ein „Flammenwurf“ sein kann, also eine Erhellung, ein Sichtbarmachen von etwas? Benns Gedicht selbst zeigt das in der Reihung der Einzelwörter „Glanz“, „Flug“, „Feuer“, „Flammenwurf“, „Ster­ nenstrich“, die nicht syntaktisch verbunden sind und trotzdem ‚aussagen‘ können: wir können uns denken, was gemeint ist. Dass wir das können, ist gar nicht so fern liegend. In unserem gewohnten Umfeld zeigen uns Aufrufe (Achtung), Hin­ weise (Einbahn) u. Ä. die Aussagemöglichkeiten von Einzelwörtern. Im Umgang mit Texten erfahren wir seit langem ihre Ordnungsfunktion und Aussagekraft: in älteren Texten die Glossen  – ein einzelnes Merkwort, über den Text geschrieben  – und in den gedruckten Texten, den Büchern, der sinnaufschließende Wort-Index, wo Einzel­ wörter komplexe Sachverhalte anzeigen und mit der Seitenzahl auf deren textliche Erläuterung verweisen. Und es zeigt sich, dass das Einzelwort als genuine sprachli­ che Erscheinung Geltung hat: (das ist) Revolution, Umsturz, (ein) Roman, (die) Kirche, (das) Gedicht, (das) Drama, (oh, diese) Schulden oder (ja, die) Liebe. Das rechte Wort ist nie recht, sonst wäre es die Bezeichnung für einen schon gege­ benen Sachverhalt. Die Überschrift Gedicht ist eine Hoffnung. Das Wort nennt eine mögliche Wahrheit, bevor es als begreifbares Wort erfasst werden kann: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner blickt es zurück“ (Karl Kraus, Die Fackel XIII, Nr. 336, 1911; vgl. auch di Cesare 2011, 166 ff.). Wichtig hierfür ist seine Unbestimmtheit, die den Menschen in die Lage versetzt, mögliche Bedeutungen nach seiner Art zu modi­ fizieren und so in seiner Sprache zu bilden (Borsche 1990, 155). So verfuhr Gottfried Benn in seiner Zusammenstellung der Einzelwörter, und sie wird von vielen verstan­ den und nachvollzogen. Es gibt also eine Individualität des Wortes und dieses hat eine Bedeutung, die zunächst weder durch den Begriff, den das Wort in einer Restriktion erst bildet, noch durch den Gegenstand, dem der Begriff entspricht, bestimmt wird. Deshalb hat das Wort ein der Reflexion vorausliegendes Dasein und ist „das wahre Individuum in der Sprache“ (Wilhelm v. Humboldt [1824–1826], 410). So sieht es auch Ernst Cassirer, der an Sokrates’ Denken eben beobachtet, dass für ihn im Wort die Bestimmtheit und Eindeutigkeit nicht gegeben ist, wohl aber als latente Forderung mitschwingt. Diese Eindeutigkeit und Bestimmtheit erhält das Wort im Satz, womit das „rein beziehentliche Denken“ (Ernst Cassirer 1923, 61) die Grundlagen erhält, die es als synthetisches Urteils- oder Satzdenken mit der Verknüpfung von Begriff und Gegenstand so erfolgreich gemacht haben. Damit ist aber auch die weitgreifende Dif­ ferenz erkennbar, die zunächst von Heidegger, dann von Derrida und Lacan, heraus­ gearbeitet wurde: gerade die Verknüpfung im „Urteils-Satz“ („das ist …“) verdeckt

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diese Differenz von Sein und Gegenständlichkeit, welches Sein das Gegenstandssein überhaupt erst ermöglicht und nicht schon ist. Das Wort ist deshalb für Heidegger vor der sprachlichen Satzaussage gültig, also vor der Einfügung in einen Argumentati­ onszusammenhang: „Das Wort – Wort wesentlich reicher als die Sprache. Sprache ein Abfall und eine Veräußerung des Wortes an das Vorhandene“ (1939, 56). Für Heide­ gger existiert das Wort vor dem Gegenstand, ist also nicht seine ‚Abbildung‘.

5 Die Funktionsintensität des Titel-Wortes Wie soll man uns, die wir damit leben, Wort und Gegenstand im Satz zu verknüpfen, erklären, was das Wort dann sein kann, wenn es nicht im Satz mit anderen Wörtern zur Aussage verbunden wird? Damir Barbaric (2005, 39) versucht eine Erklärung: das Wort in seiner ursprünglichen Funktion sei ein „nennender, heißender, rufen­ der Name“. Helmut Schnelle (1993, 779) nennt das Verhältnis von Satz und Wort ein „delikates“, das eigentlich einer Klärung seitens der Semantik bedürfe. Das erinnert daran, dass der Satz das einzelne Wort einschränkt. Die Folgerung daraus: wenn jemand ein Buch mit Der Regenwald überschreibt, kann er nicht erwarten, dass er alles über diesen Regenwald sagen kann. Irgendwann wird es wieder einen Buchtext geben, der erneut mit Der Regenwald überschrieben ist. Und damit sind wir auch ganz nahe an dem Beweggrund der Literatur. Der Autor geht von einem Wort aus, er hat es gefunden, es fasziniert ihn, er empfindet seine Ganzheit. Dann versucht er, all das zu umschreiben, zu entfalten, aufzufalten, zu entwickeln, was das Wort ihm sagen kann. Er überschreibt den Text mit dem Titel Die Wahlverwandtschaften (Goethe), oder Der Zauberberg (Th. Mann), Die Verwandlung (Kafka) oder Lied (Bürger), Abendlied (Clau­ dius), Abglanz (Goethe), Herbsttag (Rilke) und versucht im Text das anzulegen, was er mit dem Einzelwort im Titel benannt hat (die Vergabe des Titelwortes kann zeitlich differieren, also auch später erfolgen, gültig wird sie trotzdem). Titel(worte) sind sin­ gulär, es gibt sie meist nur einmal, und das zeigt wiederum, dass es darauf ankommt, deren Vorgabe zu erfüllen. Man hat gemeint, Titel seien die ‚Aufreißer‘ für potenti­ elle Leser. Titel sind viel schwieriger: sie zeigen die Verbindung des Textes zum Titel­ wort an und sind eigentlich das ganze Geheimnis von Literatur: ein Titel-Wort gibt den „Flammenwurf“ und der Autor muss brennen, um die Helligkeit zu erzeugen, die den Text auszeichnen soll. Etwas pathetisch gesagt: ein Wort ruft. Etwas weniger pathetisch, im Sinne von Bühlers Sprachtheorie: Titel sind funktionsintensiver (vgl. Weinrich 2001, 104 mit Verweis auf Arnold Rothe 1986). Das wird natürlich ausdiffe­ renziert über Mehrworttitel wie Kabale und Liebe (Schiller), Hälfte des Lebens (Höl­ derlin), Irrungen, Wirrungen (Fontane) zu ganzen Sätzen: A la recherche du temps perdu (Proust) Und sagte kein einziges Wort (Böll), vor allem aber parallelisiert mit dem Wort, das einen ganz bestimmten Gegenstand bezeichnet, dem (Personen- oder Orts-)Namen. Also: Wilhelm Meister (Goethe), Effi Briest (Fontane), Patmos (Hölder­

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lin) oder Der Stechlin (Fontane; hier doppelt: Personen- und Gewässername). So offen wie das Titel-Wort (oder die Titel-Wörter) müssen auch die Text-Wörter sein. Zum Bei­ spiel Fenster, also das Wort für den Gebäudeteil, der Licht und, geöffnet, frische Luft hereinlässt, wird in romantischen Schriften ganz anders entfaltet, nämlich als die Benennung der Idee des Perspektivismus, die mit ‚Fenster‘ zum Ausdruck gebracht werden kann. Daraufhin werden Fenster geschildert, die transparent sind, oder aber getrübt, vereist, beschriftet, zerbrochen, mit Gardinen behängt, aber auch solche, die Blicke auf Menschen freigeben oder abwehren (Jaeger/Willer 2000, 29). Der literarische Text ist also keine Erläuterung einer Sache und auch nicht des anzeigenden Titelwortes, wie das für den sacherklärenden Text zutrifft. Hier ist das Titelwort Anzeige für den Inhalt des Textes, dort nur Anzeige für den Weg, den der Autor nehmen will. Eigentlich ist jeder literarische Text ein Beispiel für die Beweg­ lichkeit (Offenheit) des Titelwortes. Ein besonders markantes sei hier genannt. Franz Kafka gibt einer Erzählung den Titel Die Verwandlung (1917) und schreibt im ersten Satz: „Als Gregor Samsa (…) erwachte, fand er sich (…) zu einem ungeheuren Unge­ ziefer verwandelt.“ Aufgrund der weiteren Schilderung finden es Interpreten nahelie­ gend, dass Gregor in einen Käfer verwandelt worden sei, so ähnlich wie in Märchen von der Verwandlung in Tiere erzählt wird. Allerdings schreibt der Erzähler nirgends von einem Käfer. Das genannte „Ungeziefer“ hat eine schwierig zu vermittelnde Bedeutung. Tier ist seltener (Bedeutung 3b in DWB 1999, Bd. 24, 945), und wenn Tier gemeint ist, dann nicht Käfer sondern schädliche Insekten wie Mücken, Wanzen etc. Insgesamt überwiegt das Abstraktum Unreines, Schädliches, Ekelhaftes etc. (Bedeu­ tung 1) oder aber das Opfer, das tabuisierte Wesen (Bedeutung 2). Mittlerweile, im 21.  Jahrhundert, ist die Bedeutung Tier die wichtigste, allerdings eingegrenzt auf Schädling (Mäuse, Milben, Läuse, Wanzen…; Duden online), und gerade nicht auf Käfer. Die Richtung, die in der Erzählung von 1917 mit dem Wort „Ungeziefer“ ange­ deutet wird, verweist denn auch auf einen Menschen, der sich als Schädling ansieht bzw. von den anderen als solcher angesehen wird, etwa im Sinne von Bedeutung 1 oder 2. Mensch und nicht Käfer hier ausdrücklich, weil am Ende der Erzählung der Körper des Gregor als „Leiche“ und nicht als Kadaver i. S. v. Tierkörper bezeichnet wird. Damit erhält das Titel-Wort Verwandlung eine Aspektierung auf alle Personen der Geschichte und es ist dann nicht überraschend, dass sie mit der Verwandlung von Greta, Gregors Schwester, endet. Titel-Worte werden für Prosatexte und Dramen fast immer gegeben, für Gedichte aber auffallend weniger. Es gibt Gedichte ohne Titel-Worte und es gibt ein Schwanken des Autors, welches Titel-Wort bestimmend sein soll. Berühmt die große DionysosElegie von Hölderlin, die Brod und Wein als Titel-Worte hat, aber auch Der Weingott und Die Nacht. Das literarische Titel-Wort ist also kein (zutreffendes) Etikett, sondern der Versuch, das angesprochene Wortfeld zu skizzieren, das Wort in seiner Bedeu­ tung offen zu halten und seine ‚Durchsichtigkeit‘ (Hans Martin Gauger) mit dem lite­ rarischen Text zu vermitteln. Diese Offenheit hält den Verstehensprozess in Gang.

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6 Das literarische Wort als ‚offenes‘ Wort Literarische Wörter müssen viel genauer bedacht werden, weil ihre Bedeutungen nicht ‚mitgeliefert‘ werden, vielmehr nur im sprachtätigen Lesen erkundet werden können. Das erläutert Humboldt, wenn er von dem spricht, was Sprache und Wort ist, nämlich energeia. Das ist: die Leistung des Wortes, Dinge und Verhältnisse in ihrem ganzen Umfang anzudeuten, also möglichst alle seine Bereiche zu meinen, und das ist nur als Wort-Offenheit und -Bewegung möglich. „Verwandlung“ meint eben nicht die plane Veränderung eines Menschen in einen Käfer, das wäre schnell erzählt. „Ver­ wandlung“ spielt an auf Metamorphosen, unter welchem Titel Ovid von den Verwand­ lungen von Menschen in Pflanzen, Tiere oder Sterne erzählt (das ist viel näherliegend als zunächst anzunehmen wäre: Nachrichten vom „Pontus“ will Kafka hören, Brief 22./23.1.1913, womit er auf Ovid anspielt, vgl. Neumann 2012, 539). Sprachlich gesehen entwickelt der Text der Erzählung die Möglichkeiten des Wortes „Verwandlung“ und wir denken noch heute darüber nach, was „Verwandlung“ alles sein kann. Was ist ein ‚offenes‘ Wort, was ist das ‚Offene‘ an einem Wort? Übernehmen wir die energeia-Bestimmung Humboldts, dann ist das seine Möglichkeit, Dinge und Sachverhalte zu bezeichnen, nämlich mit seinem möglichen Gegenstandsbezug und der Entfaltung alles dessen, was mit dem Gegenstandsbezug gemeint sein kann, dann aber auch etwas aufzurufen, das über diesem bloßen Gegenstandsbezug in den Hin­ tergrund getreten ist und nun wieder bewusst gemacht werden könnte. Das offene Wort ist ungenau. Wir hören, dass die „Zeichen sinken“, dann auch „die Banner“, und über die mitgegebenen Satzzeichen „ –:“ erfahren wir, dass der Text mit einem Nomen endet: „Unwiederbringlichkeit“, also ohne Verb (Gottfried Benn [1922–1936], Tag, der den Sommer endet, 168). Eine Übereinstimmung mit irgendetwas ist hier nicht gegeben. Benn war seit langem der erste, der das formu­ lierte, nämlich 1935. Es war ein Wort aus eigentlich fünf Teilen  – Un-wieder-bringlich-keit –, möglicherweise eine okkasionelle Wortbildung, wie das in Überlegungen zur Erzeugung neuer und besonders der literarischen Wörter angenommen wird (Jean Aitchison 2010, 540). Es ist richtig: solche neuen Wörter sind überraschend, aber sie sind alle durchsichtig. Der Typ „dognik“ ‚Satellit mit Hund an Bord‘ ist eine erkenn­ bare Ableitung aus „Sputnik“. Das literarische Wort hingegen lebt vom Paradox einer gefundenen klaren Aussage, die aber einen Bedeutungserschließungsvorgang erst in Gang bringt. Zum Beispiel wird der Auffassung, „Das Unzulängliche“ (Faust, v. 12106) meine das Unvollkommene, widersprochen. Gemeint sei das, was für uns nicht erreichbar ist. Für das literarische Wort kommt es auf das Signifikat an und nicht auf den Überraschungseffekt mit einem neuen Signifikanten. Und so erging es auch „Unwiederbringlichkeit“. Seine Rezeption erlosch nicht alsbald, etwa weil ein Konsens fehlte und keine Frequenz aufgebaut werden konnte (Aitchison 2010, 540 u. ö.). Vielmehr trat das ein, was ‚offenen‘ Wörtern widerfahren kann: obwohl ungewohnt bis unbekannt, werden sie angenommen, vielleicht auch verstanden. Das Ungewohnte, das sie mitbringen, stört nicht, ist im Gegenteil Anreiz,

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über das nachzudenken, was sie aufrufen. Dieses Wort „Unwiederbringlichkeit“ ist sogar schon seit längerer Zeit Anreiz (nämlich seit dem 18. Jahrhundert), hat Buchun­ gen in Adelung und DWB, und Verwendungen bei Doderer und Benjamin, sowie eine adjektivische Korrespondenz im Romantitel von Theodor Fontane, Unwiederbringlich (1891). Dieses Wort breitet seine Benennungsmöglichkeiten aus und taucht in die Dimension ein, die seiner Offenheit entsprechen: dem Verständnis als dem Kriterium, das seinem „Flug“ (aus dem Gedicht Das Wort) folgen kann. Allerdings ist das nicht ‚selbstverständlich‘. Verstehen ist zunächst einmal die Fähigkeit und Möglichkeit, übermittelte Sachverhalte in das vorhandene Wissen ein­ ordnen zu können. Das literarische Wort, gerade weil es ‚offen‘ formuliert wird, über­ steigt das vorhandene Wissen merklich oder unmerklich. Ein „Unzulängliches“, das „Ereignis“ wird (Johann Wolfgang v. Goethe, Faust vv. 12106–12107), also ein Geschehen  – das ist eigentlich nicht verständlich! Ähnlich unverständlich ist ein „Über­ mensch“ (Friedrich Nietzsche) oder „das Gesetz“ (Franz Kafka, Der Process), das doch eigentlich einen Sachverhalt genauestens erfassen und darstellen soll, aber im Roman demjenigen, dem Übertretung dieses Gesetzes vorgeworfen wird, weder bekannt ist noch erläutert wird. Das gilt auch für eine „Belagerung“, die aus der Sicherung eines Gefährdeten resultiert, also gerade nicht zu dessen „Eroberung“ oder „Einnahme“ führen soll – wie „Belagerung“ bis dahin verstanden wird (Heinrich Böll 1979, Fürsorgliche Belagerung). Unverständlichkeit führt normalerweise zur Abwendung und Nichtbefassung. Hier nicht. Und das ist ein eigentümlicher sprachlicher Vorgang. Zunächst deshalb, weil ein Wort („Übermensch“), für das kein Signifikat angegeben werden kann, sich im Gespräch hält. Und darin liegt denn auch die Erklärung: Wörter sind nur zum Teil Verweisanzeichen für Sachen. Wer spricht schon so, dass er nur ver­ weist? Mittlerweile wird dieser eigenartige (Verweis-)Bereich des ‚Außersprachlichen‘ eingeebnet und es bleibt nur noch Richard Rortys amüsierte Bemerkung über die ‚Tat­ sachen‘: Wir müssen lernen, „dass die Welt uns nicht mit Kriterien für die Entschei­ dung zwischen alternativen Metaphern ausstattet, dass wir Sprachen und Metaphern nur miteinander vergleichen können, [und] nicht mit einem Ding namens ‚Tatsache‘ jenseits der Sprache“ (1989, 48).

7 Verständlichkeit Wörter werden gesprochen (und geschrieben), weil sie eine Resonanz bei anderen auslösen sollen. Diese Resonanz nennt man Verstehen, ihren Modus Verständlichkeit. Hierin liegt das Motiv für die Ausbildung von Fach- und Standardsprachen: sie garan­ tieren in gewissen Modifikationen, dass das, was mit ihnen formuliert worden ist, den Anspruch haben kann, von anderen verstanden zu werden. Mit dieser Verständlichkeit verwirklichen sie das Humboldt‘sche Verstehens-Axiom, das auf die notwendige Tätigkeit des Empfangenden hinweist: der Sprecher muss seine Äußerung in die Form

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gießen können, „die er (der Empfangende, U. K.), für sie bereitet, hält und das ist es, was man verstehen nennt“ ([1827–1829], 156). Wenn der Empfangende aber keine Form bereiten kann? Dann wird sich das Verstehen nicht einstellen können und das trifft häufig auf literarische Wörter zu. Wenn Nietzsche das Wort „Übermensch“ formuliert und hinschreibt, erregt er Miss­ verständnis und Unverständnis, also das Gegenteil von Zustimmung bzw. Verstehen. Aber unerwartet stellt sich die Neugier ein, es doch verstehen zu wollen. Man könnte annehmen, das gälte eher für neue Wörter oder neue Wortprägungen, wie das Jean Aitchison (2010) annimmt (dazu s. o.). Das ist aber höchst selten der Fall. Nahezu alle ‚neuen‘ Wörter Goethes z. B. sind schon länger vor ihm in Umlauf gewesen und erscheinen nur neu, weil die Frequenz gering ist. Das oft genannte „Knabenmor­ gen-/Blütenträume“ (aus: Prometheus, 1. Fassung, 1772–1774; 1806: „Blütenträume“) ist ein Satzwort und diese gehen höchst selten in den allgemeinen Wortschatz ein (z. B. Vergissmeinnicht). Das literarische Wort gehört als Signifikant zum allgemeinen Wortschatz, ist aber trotzdem rätselhaft und entwickelt daraufhin mit seiner geahn­ ten Bedeutung eine lang anhaltende Faszination, aufzuklären, wie man es verstehen könnte. Viele fühlen sich aufgerufen zu sagen, wie sie literarische Wörter verstehen, und geraten darüber in weitreichende Auseinandersetzungen mit anderen, die ein anderes Verständnis haben. Das war um 1800 Anlass für die Begründung eines wis­ senschaftlichen Verfahrens: die Einrichtung einer Literaturwissenschaft, die Teile der älteren Philologie übernahm, die seit der Antike die Literatur begleitete. Sie erklärt nun, methodisch gerüstet, diese Wörter und ihre Texte. Mittlerweile ist klar, wie „Ereignis“ (Faust, v. 12107) zu verstehen ist: als ‚Sichtbarmachung, Veranschauli­ chung‘ („eräugnis“ wie Goethe auch schreibt; vgl. hierzu Goethe-Wörterbuch, 1974 ff., Bd. 3, 263–265). Die Diskussion um „Übermensch“ ist noch im Gange. Bei „Gesetz“ ergab sich etwas anderes: der Umstand, dass ein Wort mit zweifelhaftem Gegenstands­ bezug trotzdem eine Wirkung entfalten kann, hat zu dem umgangssprachlichen Wort „kafkaesk“ i. S. v. ‚unerklärlich bedrohlich‘ (so auch im Englischen), geführt. „Belage­ rung“ behält seine militärische Bedeutung als ‚Einkesselung‘, eine zweite kommt nun hinzu: ‚Heimsuchung, Behinderung‘.

8 Der Differenzwortschatz und die Markierung poet. Der Anreiz, das Wortverständnis zu erkunden, ist also sprachproduktiv. Allerdings ist die Erkenntnis öfters unvollständig, nämlich dann, wenn unser Wortbedeutungs­ verständnis auf Wörter angewendet wird, die aus zeitlich zurückliegendem Sprechen und Schreiben stammen und dort in andere Bedeutungszusammenhänge eingebun­ den waren. Grün ist für uns eine Farbe und Leben die zeitliche Erstreckung eines Exis­ tierens. Dann erscheint uns „Und grün des Lebens goldner Baum“ Goethe, (Faust, v. 2039) widersprüchlich, ein grüner Baum, der golden ist? Und „Hälfte des Lebens“

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wird als biographische Lebensmitte verstanden, aber ist das damit gemeint? Gefor­ dert ist also eine andere sprachliche Produktivität: das Erforschen zurückliegender Wortverständnisse bzw. regionaler Unterschiede. Literatur, die heute (noch) rezi­ piert wird, stammt aus sprachlichen Verhältnissen, die bis zu 250 Jahre zurücklie­ gen (Lessing). Aber auch Literatur aus dem 20. Jahrhundert kann missverständlich sein. So könnte der Titel von Heimito v. Doderers Roman Strudelhofstiege (1951) eine unansehnliche ‚Hintertreppe‘ meinen (norddeutsch), während er tatsächlich eine prächtige Treppenanlage im 9. Bezirk Wiens bezeichnet. Das Gros der erklärungsbe­ dürftigen Wörter stammt allerdings aus früherer Zeit und hat die ansehnliche Menge von durchschnittlich jedem sechsten Wort in einem Klassikertext (Knoop 2011, 200). Durch Aussehensgleichheit wird die Erklärungsbedürftigkeit etwas verstellt, also nicht orthographisch angezeigt (wie das bei fodern, Reuter, genung, giebt u. a. sichtbar wird). Grün hat um 1800 die zweite Bedeutung ‚sprießend‘, und auf die bezieht sich die Faust-Stelle, so dass gemeint ist: der goldene Baum gedeiht weiterhin (vgl. GoetheWörterbuch 1974 ff. Bd. 4, 511). Ähnlich Leben, das um 1800 vor allem als ‚Lebenswille, Lebenskraft‘ verstanden wird, so dass „Hälfte des Lebens“ eher die Halbierung dieser Lebenskraft meint und das Gedicht die Befürchtung eines dichterischen Verfehlens für ein ganzes Leben beschwört (Knoop 2008, 67 ff.). Die Menge dieses Differenzwort­ schatzes ist groß, sie geht weit über die bekannten Wörter wie merkwürdig etc. hinaus und gilt für solche angenommene Selbstverständlichkeiten wie Wohlstand (‚Anstand, Erziehung‘), Fräulein (auch: ‚Prostituierte‘), bewußtlos (‚von Sinnen, aber handlungs­ fähig‘), klirren (‚klappern‘), blau (‚hell‘), Soldatenglück (‚Soldatenschicksal‘), Ereignis (‚Sichtbares‘), Marmorbild (‚Statue‘), zweideutig (‚unsicher‘), durchaus (‚gänzlich‘), englisch (‚engelhaft‘), lispeln (‚flüstern‘), vergnügt (‚zufrieden‘), blöd (‚schwach, kurz­ sichtig, schüchtern‘), umständlich (‚umfassend‘), ängstlich (‚eng‘) u. v. m. Diese Erklärungsnotwendigkeit könnte in eins gesehen werden mit einer eigenar­ tigen Erscheinung in neueren Wörterbüchern, nämlich gewisse Wörter mit „poet.“ zu markieren. Das erweckt den Eindruck, als würde ein Autor zu solchen Wörtern greifen, um seinem Text die Markierung Dichtung zu verleihen. Ein solchermaßen markiertes Wort, Gestade, wird aber heute noch in Sachtexten verwendet, allerdings in gerin­ ger Frequenz. Um 1800 war die Frequenz erheblich höher und das lag daran, dass Gestade das gängige süddeutsche Wort für ‚Ufer‘ war (Adelung 1793 ff. s. v.), weshalb es in den Texten von Hölderlin öfter vorkommt. Dann erfolgte die Standardisierung mit ihrem Variantenabbau und Ufer wurde als alleiniger Ausdruck durchgesetzt. Das heutige Vorkommen ist also kein Ausweis für „poet.“, sondern nur der Reflex darauf, dass die (süddeutschen) Texte des 18. und 19. Jahrhunderts noch von Rezeptionsinte­ resse sind. Diese Markierung ist ein Hybrid standardsprachlicher Wörterbuchmacher und kein Anzeichen poetischer Sprache, die es ohnehin in einer solchen Formalisie­ rung nicht gibt.

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9 Performanz Das literarische Wort ist auf die ganze Fülle und Weite der möglichen Wortbedeutun­ gen angelegt und zeigt „den lebendigen Keim nie endender Bestimmbarkeit in sich“ (Humboldt [1830–1835], 436). Aber auch das vermag die gegebene Grenze zwischen Nennen (bedeuten) und Sein nicht zu überbrücken: das, was gesagt wird, ist (phy­ sisch) nicht das, worüber es etwas sagt. Deshalb ist die bevorzugte Zeitform des lite­ rarischen Worts auch die Vergangenheit, manchmal auch die Zukunft, aber nur unter großen Schwierigkeiten die Gegenwart. Denn das literarische Wort kann im Augen­ blick seines Gesagtwerdens etwas Gegenwärtiges benennen, dann aber, in der wei­ teren Tradierung, wird das gegenwärtig Gemeinte immer unzutreffender, weil diese Gegenwart vergeht und das literarische Wort zu einer Benennung dessen wird, was einmal war. Es unterliegt also zwei Verschiebungen, einmal der Benennung als dem Gesagten, dass es so sei – und der gleichzeitigen Erkenntnis, dass das Sagen nicht das Ereignis ist –, und zum anderen, dass das Benannte vergangen ist, lediglich einstens war und nicht jetzt, also nicht in dem Augenblick, in welchem das literarische Wort noch mal gesagt (oder gelesen) wird. Wie keinem anderen ist das Hölderlin klar. Der Wunsch, dass „das Wort (…) das Ereignis des Heiligen ist“ (Heidegger [1936–1968], 76; Hervorhebung U. K.), wäre für Hölderlin eine Gleichsetzung der Vermittlung mit dem Unmittelbaren und die gibt es für Hölderlin nicht. Vielmehr sagt er in dem Gedicht Wie wenn am Feiertage …: „das Heilige sei mein Wort“ (Hervorhebung U. K.) und benennt das Ereignis als etwas, das sein soll, aber nicht ist. Damit zeigt er an, dass er über das Reden, das das Ereignis ja nicht ist, sondern es nur sagt, hinaus will. Wir stoßen hier auf die immer wieder (phi­ losophisch, erkenntnistheoretisch) besprochene Grenze von Nennen (Sprache) und Sein (das, was ist). Das literarische Wort versucht, die Möglichkeiten des Nennens überhaupt zu erfassen und auszuschöpfen, aber die Dimensionen der „Zeit“ und der „Trennung“ sind nicht zu transzendieren (Menninghaus 2003, 55). Hölderlin stellt sie als Erscheinungsproblem des literarischen Wortes auch genauestens dar: es kann „eine todte und tödtende Einheit“ werden, also eine bloß repräsentative Darstel­ lung, wenn das Sein nur in einem ihm „äußeren Organ“ wiedergegeben wird (Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes, Hölderlin StA 4.1. 252 ff.). Es geht also darum, „wie das poetische Schreiben nicht nur auf etwas ihm Voraufliegendes (die sogenannte wirkliche Welt) sich beziehen kann (dies der Bedeutungsbezug), sondern das, wovon geschrieben wird, im Schreiben selbst präsent sein kann (Seinsbezug)“ (Reuß 1999, 21, Anm. 77). Hier liegt also die große abendländische Unterscheidung von Sein und Bedeutung vor – und ihre Lösung. Hölderlin dekonstruiert die präsenz­ metaphysischen Vorgaben im Darstellungsproblem (Menninghaus 2003, 61), auf dass das ‚Lebendige‘ aus dem Wort entspringt und die Wörter schöpferisch produzierende Momente werden, und zwar so, dass nicht das Vorhandene umgesetzt wird, sondern erst das Wort sich einfindet. Dann ergibt sich aus dieser „Thätigkeit, die unendliche schöne Reflexion, welche (…) durchgängig beziehend und vereinigend ist“ (Hölderlin

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StA 4.1., 265). Hölderlin hebt ab auf die positive Verpflichtung der Sprache – also eine zu erhoffende  –, auf ihre eigenen Bahnungen, auf die Immanenz ihres ‚Wirkungs­ kreises‘ als Lösung des Reflexions- und Darstellungsproblems (vgl. Menninghaus 2003, 63). Es ist das, was Reuß anspricht, dass nämlich im „evokativen Sprechen“ die Dinge selbst entstehen. So wird in der Elegie Brod und Wein nicht von der stillen Gasse gesprochen, sondern diese wird am Ende des Verses „still“ – eine Gasse also, die es in diesem Zustand erst jetzt so gibt. Sprechen wäre dann eine Ermöglichung von ‚stiller Gasse‘ (Reuß 1999, 21). Das klingt für den üblichen Gebrauch etwas abständig, wird aber vielleicht klarer, wenn neuere Überlegungen zur Klarheit ins Spiel gebracht werden, die darauf abheben, dass Erkenntnisse auch in der Phantasie, also dem bloß Gedachten, stattfinden können (Schildknecht 2008, 782). Entscheidend jedoch ist, dass das Wort sich nicht durch eine ‚äußere‘ Dingweltlichkeit, sondern durch und mit sich selbst begründet, also performativ verstanden wird. So wie Novalis das kurz und knapp festhält und deshalb die Dingbezogenheit spottend ablehnt: „Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, dass die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen.“ (Monolog, in: Schriften Bd. 2, 672; ausführlicher zu diesem sprachtheoreti­ schen Gedankengang Gardt 1999, 249). Eben das spielte auch in der Anfangsphase der Sprechakttheorie eine Rolle. Mit der Einführung der illocutionary und perlocutionary force verabschiedet sich John L. Austin von dem repräsentationslogischen Zeichen­ modell und gibt Jacques Derrida die Vorlage für seine Darstellung von „signature évé­ nement contexte“ (1972): Austin benennt das Performative der Sprache als Produktion und Verwandlung, es wirkt (Näheres bei Jaeger/Wille 2000, 16). Damit gewinnt die Performanz wieder den Stellenwert, der für die Erklärung der Wort-Wirkung unerläss­ lich ist (Linke/Feilke 2009). Spiel, Aufführung, Darstellung und eben Wort-Wirkung prägen und entfalten Sinn, der dann wahrgenommen werden soll.

10 Die vielfältigen Verbindungsmöglichkeiten des literarischen Wortes Damit kommt etwas ins Spiel des literarischen Wortes, das bislang wenig Beachtung gefunden hat. Früher, um 1800, war es selbstverständlich, danach wurde es formali­ siert eben als bloße Form: wie werden diese Wörter eigentlich so zusammengestellt, dass sie nicht einzeln dastehen, sondern sich mit anderen Wörtern sinnvoll verbin­ den? Syntaktisch, so lautet die erste Antwort, also nach den Vorgaben des gramma­ tischen Baus einer Sprache. Aber wenn wir Wörter in der Literatur aufsuchen, sehen wir mehr und anderes. In der Prosa sind sie gruppiert in Absätzen, Kapiteln und Büchern (früher: Zusammenfassung mehrerer Kapitel). Ein besonderes Moment ist der erste Satz, mit dem eine Erzählung beginnt: „Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg.“ (Georg Büchner 1839, Lenz) oder der letzte Satz, mit dem sie schließt: „Handwer­ ker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet“ (Johann Wolfgang v. Goethe 1774,

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Werther). Erkennbar wird hier ein weiteres Verbindungselement: der Rhythmus (Ver­ hältnis von Pause und Aktion). Diesen gibt es auch in der Lyrik. Zusätzlich gibt es dann weitere Verbindungsmittel für Wörter: den Reim (dem Wort A folgt ein Wort mit dem Wortklang A), den Versfuß (z. B. Jambus) und das Versmaß (z. B. Blankvers mit fünf Jamben), die Strophe als Zusammenfassung mehrerer Verse, z. T. mit vorgegebe­ ner Abfolge (z. B. Stanze), und die Gedichtform als Kombination mehrerer Strophen (z. B. Sonett). Mit dieser Art von Wortverbindung erhält das literarische Wort zudem eine besondere Gestaltung der Zeit, einmal in der Folgeanordnung der Wörter und zum anderen in der Erinnerungsdauer. Will ein Autor ein literarisches Wort hervor­ rufen, dann muss er darauf hören, wie es sich in diese besonderen Formen der Wort­ verbindung einfügen kann. Erst dann klingt es ‚frei‘. So spricht das literarische Wort aus erstaunlichen Dimensionen und verweigert sich dem vorschnellen Schließen. Es kann deshalb die Aufmerksamkeit des Zuhörens über lange Zeit für sich in Anspruch nehmen.

11 Literatur 11.1 Primärliteratur Bachmann, Ingeborg (1961): Inge Koschel u. a. (Hg.): Werke. Bd. 1. München 1978. Benn, Gottfried (1986): Gerhard Schuster (Hg.): Sämtliche Werke, Bd. 1 Gedichte 1. Stuttgart. Cassirer, Ernst (1923): Philosophie der symbolischen Formen. Teil I: die Sprache. Berlin. Celan, Paul (1958): Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker. Wiederabgedruckt in: Dietlind Meinecke: Über Paul Celan. Frankfurt a. M. 1973, 23–27. Derrida, Jacques (1972): signature événement contexte. In: Ders.: Marge de la philosophie. Paris, 365–393. Gauger, Hans-Martin (1976): Sprachbewußtsein und Sprachwissenschaft. München. Heidegger, Martin (1936–1968): Erläuterungen zu Hölderlins Dichtungen. 4., erweiterte Aufl. Frankfurt a. M. 1971. Heidegger, Martin (1939): Vom Wesen der Sprache. Frankfurt a. M. 1999. Hoffmann, Ludger (Hg.) (2010): Sprachwissenschaft. Ein Reader. 3., aktualisierte und erweiterte Aufl. Berlin/New York. Hofmannsthal, Hugo v. (1902): Ein Brief. In: Ellen Ritter (Hg.): Sämtliche Werke. Bd. XXXI. Erfundene Gespräche und Briefe. Frankfurt a. M. 1991, 45–55. Humboldt, Wilhelm v. (1824–1826): Gründzüge des allgemeinen Sprachtypus. In: Wilhelm v. Humboldt. Albert Leitzmann u. a. (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 5, (Nachdruck) Berlin 1968, 344–474. Humboldt, Wilhelm v. (1827–1829): Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues. In: Wilhelm v. Humboldt. Andreas Flitner/Klaus Giel (Hg.): Schriften zur Sprachphilosophie. 3. durchgesehene Aufl. (= Werke in fünf Bänden, Bd. III). Darmstadt 1969, 144–367. Humboldt, Wilhelm v. (1830–1835): Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts. In: Wilhelm v. Humboldt. Andreas Flitner/Klaus Giel (Hg.): Schriften zur Sprachphilosophie. 3. durchgesehene Aufl. (= Werke in fünf Bänden, Bd. III). Darmstadt 1969, 368–756.

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 Ulrich Knoop

Iser, Wolfgang (1991): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1993. Liebrucks, Bruno (1979): „.Und“ – Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos, Wirklichkeit und Realität. Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas. Luhmann, Niklas (1995): Die Realität der Massenmedien. 4. Aufl. Wiesbaden 2009. Metzler Lexikon Sprache (2010): Helmut Glück (Hg.). 4. aktualisierte u. überarbeitete Aufl. Stuttgart/ Weimar. Neumann, Gerhard (2012): Kafka – Lektüren. Berlin/New York. Rorty, Richard (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übersetzt v. Christa Krüger. Frankfurt a. M. Wahrig (2011): Deutsches Wörterbuch. Von Renate Wahrig-Burfeind. Gütersloh/München. Weinrich, Harald (2001): Sprache, das heißt Sprachen. 3. Aufl. Tübingen 2006. Wittgenstein, Ludwig (1953): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M. 1993.

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Das Wort im literarischen Text 

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Simona Leonardi

7. Metaphern in literarischen Texten Abstract: Metaphern werden als sprachlich-kognitives Phänomen aufgefasst, denn sie ermöglichen es, komplexe Begriffe und subjektive Erfahrungen bzw. Wahrneh­ mungen zu verbalisieren. Obwohl sie nicht spezifisch für literarische Texte sind, spielen sie in diesen eine wichtige Rolle und tragen zu deren ästhetischer Wirkung bei. Nach der Darstellung verschiedener Möglichkeiten des kreativen Umgangs mit Metaphern (wie kreative und innovative Metaphern, Remetaphorisierung und Wie­ derholung) wird der Frage nach der Funktion von Metaphern und deren Beziehung zur alternativen Logik solcher bildlichen Ausdrücke nachgegangen, wobei auch die häufige metaphorische Kodierung poetologischer Aussagen behandelt wird. Meta­ phern erfüllen eine zentrale textuelle Funktion; sie können zur Kohärenz beitragen und auf unterschiedliche Weise auch satzübergreifend fortgesetzt werden. Die Wand­ lungen, die eine Metapher im Lauf der Zeit erfährt, sind Gegenstand der traditionell eher philosophisch bzw. kultur- und literaturwissenschaftlich orientierten Metapho­ rologie. 1 Einleitung 2 Metaphern und ästhetische Prozesse 3 Funktionen von Metaphern 4 Metaphern im Text 5 Metaphorologie 6 Literatur

1 Einleitung Die Metapher (aus lat. metaphŏra, gr. μεταϕορά, metaphorá, eigentlich ‚Übertra­ gung‘, abgeleitet von gr. μεταϕέρω, metaphéro‚ ‚ich trage anderswohin‘) ist wohl die bekannteste rhetorische Figur. Selbst eine kurze Darstellung der verschiedenen the­ oretischen Ansätze zur Metapher, die im Laufe der Jahrhunderte  – und besonders intensiv ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – aus unterschiedlichen Perspek­ tiven und wissenschaftlichen Disziplinen (neben Sprach- und Literaturwissenschaft und Rhetorik auch Philosophie, Psychologie, Kognitionswissenschaften, Anthropolo­ gie u. a. m.) herausgearbeitet wurden, würde den Umfang dieses Beitrags bei weitem sprengen (für einen allgemeinen Überblick vgl. Rolf 2005, besonders aus rhetorischlinguistischer Perspektive Liebert 2008; grundlegende Schriften zur Metaphernthe­ orie aus verschiedenen Perspektiven sind in Haverkamp 1996 gesammelt, darunter auch ein Auszug aus dem nicht nur sprachwissenschaftlich relevanten Beitrag von DOI 10.1515/9783110297898-007

Metaphern in literarischen Texten 

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Jakobson 1956). Da es hier nicht um die Auseinandersetzung mit verschiedenen Meta­ pherntheorien geht, sondern um die Rolle metaphorischer Ausdrücke in literarischen Texten, wird im Folgenden hauptsächlich von den im Rahmen der Kognitiven Lin­ guistik erarbeiteten Forschungen ausgegangen, die Metaphern als Träger kognitiver Strukturen und Prozesse ansehen. Metaphern strukturieren demzufolge grundlegend unsere Sprache und können eine textkonstituierende Funktion haben.

1.1 Metaphern als Ausdruck kognitiver Prozesse Der Ansatz, nach dem Metaphern als ein zentrales sprachlich-kognitives Phänomen aufzufassen sind, wurde durch die Arbeiten von George Lakoff und Mark Johnson populär (vgl. grundlegend Lakoff/Johnson 1980), wobei frühere Arbeiten von z. B. Hans Blumenberg (1960) und Harald Weinrich (1963; 1967) in eine ähnliche Richtung weisen. Als ein erstes Beispiel für Metaphern in diesem Sinn soll das Gedicht Lebensgruß von Heinrich Heine genannt werden: (1) Eine große Landstraß’ ist unsere Erd’ Wir Menschen sind Passagiere; Man rennet und jaget, zu Fuß und zu Pferd, Wie Läufer oder Couriere. Man fährt sich vorüber’ man nicket, man grüßt Mit dem Taschentuch’ aus der Carosse; Man hätte sich gerne geherzt und geküßt, Doch jagen von hinnen die Rosse. Kaum trafen wir uns auf derselben Station, Herzliebster Prinz Alexander, Da bläst schon zur Abfahrt der Postillion, Und bläst uns schon auseinander. (Heinrich Heine 1822, 55)

Nach unserem Weltwissen nehmen wir die Identität von Landstraße und Erde bzw. Menschen und Passagiere nicht wörtlich; wir verstehen, dass durch diese Formu­ lierungen Eigenschaften und Merkmale, die normalerweise eine (hektische) Reise charakterisieren, mit dem menschlichen Leben allgemein in Verbindung gebracht werden. Diese semantischen Beziehungen entwickeln sich nicht nur punktuell, denn die Vorstellung der Hektik der „große[n] Landstraß’“ und die ‚Passagierperspektive‘ erstrecken sich über die ersten zwei Verse, wo sie ausdrücklich formuliert werden. Nach der Grundannahme der Kognitiven Linguistik offenbaren sprachliche Äußerun­ gen zugrunde liegende übergeordnete mentale Einstellungen, emotionale Haltungen und konzeptuelle Schemata (vgl. Schwarz 2008), indem die Verbalisierung auf eine

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bestimmte Konzeptualisierung zurückgeht, d. h. auf den „Prozess der Bildung von geistigen, intern gespeicherten Repräsentationen“ (Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 8). Die Konzeptualisierung, die dem ganzen Gedicht zugrunde liegt – und die im Titel Lebensgruß schon angedeutet wird – ist: Das Leben ist eine Reise (vgl. auch Lakoff/ Johnson 1980, 44 f.). Die für Metaphern charakteristische Übertragung besteht nach dieser Auffassung darin, Merkmale aus einem Bereich, der mit einfachen und wiederholten Wahrneh­ mungen, Tätigkeiten oder vertrauten Gegenständen gekoppelt ist und der sich deswe­ gen leicht in Worte fassen lässt (engl. source domain, dt. Bildspender, Herkunfts- bzw. Ursprungsbereich), hier: die Reise, auf einen anderen Bereich (engl. target domain, dt. Bildempfänger, -geber, Zielbereich) zu projizieren, der unscharfe Konturen besitzt und mit komplexeren Erfahrungen verbunden ist, hier: das Leben. In diesem Prozess wird eine Beziehung zwischen etwas Abstraktem oder Unbekanntem und etwas Kon­ kretem, Vertrautem hergestellt. Das Ergebnis ist die Konzeptualisierung Das Leben ist eine Reise. Eine solche metaphorisch fundierte Konzeptualisierung gilt weder ausschließlich für Heines Gedicht noch für literarische Texte allgemein, denn die Kognitive Linguis­ tik, die die Interaktion der Kenntnissysteme von Sprache, Kognition und Emotion bei der Sprachproduktion und -rezeption im Blick hat, geht davon aus, dass auch hinter alltäglichen sprachlichen Äußerungen metaphorisch strukturierte Konzepte stehen: Die Konzeptualisierung Das Leben ist eine Reise liegt z. B. auch Ausdrücken wie eine neue Lebensetappe oder Aufbruch zu neuen Ufern zugrunde. Demnach sind meta­ phorische Formulierungen weit mehr als ein Stilmittel an der Oberfläche eines Textes und auch keine uneigentlichen und vereinzelten sprachlichen Ausdrücke; sie stellen vielmehr die Verbalisierung metaphorisch strukturierter Vorstellungen dar, die das menschliche Kognitionssystem durchweg organisieren.

1.2 Metaphern als Universalien Die Vorstellung, dass in der Antike die Metapher lediglich als äußerer Schmuck auf­ gefasst worden sei, beruht auf einer vereinfachenden Interpretation der klassischen Metapherntheorien, die sich v. a. im Zuge der allgemeinen Abwertung der Rhetorik als einer oberflächlichen, manipulierenden Kunstfertigkeit verbreitet haben. Dazu kann auch die Klassifikation der Metapher als Ornatus-Kategorie bei Cicero und Quintilian beigetragen haben, wobei lat. ornatus das Griechische κόσμος (kósmos) übersetzt, d. h. die Ordnung, die innerhalb des Verhältnisses eines Ganzen und seiner einzelnen Teilen besteht (Liebert 2008, 744 f.). Nach Donald E. Brown (1991) gehören zu den Universalien („all people, all socie­ ties, all cultures and all languages have [them] in common“; 1991, 130) Formen von dichterisch bzw. rhetorisch ausgestalteter Sprache („special forms of speech for

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special occasions […] figurative language“); dabei misst er besonders Metaphern eine hohe Bedeutung bei (1991, 132). In den ältesten uns überlieferten Texten sind metaphorische Formulierungen tat­ sächlich häufig belegt, was zu Auffassungen (z. B. bei Vico, Rousseau, Hamann und Herder) beigetragen hat, nach denen die Sprache ursprünglich metaphorisch sei (vgl. Rolf 2005, 263). Als frühe Beispiele für die Verwendung metaphorischer Formulierun­ gen betrachte man folgende Stellen aus Texten, die als grundlegend für die Entwick­ lung der westlichen Literatur gelten, nämlich die Bibel (2) und die Ilias (3). (2) VND es wird eine Rute auffgehen von dem stam Jsai / vnd ein Zweig aus seiner wurtzel Frucht bringen. (Jesaia, 11,1 – Luther 1545) (3) ἀλλ᾿ ὅτε δὴ μύθους καὶ μήδεα πᾶσιν ὕφαινον (‚Sobald sie [Menelaos und Odysseus] nun aber Worte und Gedanken webten vor allen [Troern].‘) (Homer 1998, Ilias, III, V. 212 – Übers. Schadewaldt, in Homer 1975)

In (2) stehen die organischen Elemente als Bildspender für die Generationenkette, in (3) weist die Tätigkeit des Webens auf die kunstvolle Rede der Gesandten Menelaos und Odysseus in Troja. Auch in der germanischen Tradition – v. a. in der altnordischen und altenglischen Literatur – sind metaphorische Ausdrücke vielfach belegt, so dass sie zu den Haupt­ merkmalen germanischer Dichtung gezählt werden können (Haubrichs 1995, 115). Besonders verbreitet ist die nach altnord. kenna‚ ‚Zeichen‘, kenning genannte Form, d. h. Komposita, in deren einfacherer, zweigliedriger Variante das zweite, allgemei­ nere Element durch das erste so präzisiert wird, dass die Referenz der ganzen Zusam­ mensetzung klar(er) wird, vgl. altengl. hron-rade (mehrfach, u. a. Beowulf), zusam­ mengesetzt aus hron ‚Wal‘ + rade ‚Weg‘, zu deuten als ‚Meer‘. In der altdeutschen Dichtung sind die Belege für kenningar rarer; einer davon stammt aus der folgenden Stelle (4) aus dem Hildebrandslied, wo das Wort staimbort als kenning für ‚Kampf­ schild‘ steht. Staimbort wird nämlich mit mhd. steim ‚Getöse, Lärm‘  – mit Anspie­ lung auf die Schläge auf die Schilde beim Angriff  – und bort ‚Brett‘ in Verbindung gebracht. (Das erste Glied ist auch als stein ‚Flecke, Farbfleck‘ interpretierbar): (4) do stoptun to samane staimbort chludun (Hildebrandslied, V. 65 – in Haug/Vollmann 1991, 14 (‚Darauf ließen sie ihre laut dröhnenden Bretter (oder: ihre bemalten Bretter) aufeinan­ derprallen‘, Übers. S. L.)

Die oft wiederkehrenden und formelhaften Schemata der kenningar, die sich v. a. in der altnordischen Tradition zu schwierig zu deutenden, verschachtelten mehrglied­ rigen Bildungen entwickeln, weisen darauf hin, dass sie in erster Linie eher als eine Stilfigur der dichterischen Kunstsprache anzusehen sind denn als eine kognitive Kon­ zeptualisierung.

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2 Metaphern und ästhetische Prozesse Die besondere Stellung der Metapher in literarischen Texten erklärt sich dadurch, dass sie auf Prinzipien beruht, die als grundlegend sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption poetischer Texte gelten: Zum einen steht sie als Verbalisierung analogisch erfolgter kognitiver Operationen alternativ zum logischen Denken, zum anderen sind die ihr zugrundeliegenden Bildspender mit sinnlichen Wahrnehmun­ gen verbunden. Auf diese Weise kann sie das abstrakt-logische Denken ergänzen. Neuere neurowissenschaftlich ausgerichtete Studien zum Verständnis von Meta­ phern betonen die Aktivierung sensomotorischer Gehirnareale im Laufe des Rezepti­ onsprozesses. Dies hat zu Hypothesen geführt, nach denen bei der Person, die einen Text liest bzw. hört, als besonders lebendig empfundene metaphorische Formulie­ rungen durch Simulationsprozesse unmittelbar sinnliche Wahrnehmungen auslö­ sen können, welche mit Gefühlen verbunden sind (vgl. Cuccio/Carapezza/Gallese 2013, 79; zur Rolle von Gefühlen und Emotionen in der Produktion und Rezeption von Metaphern aus linguistischer Perspektive vgl. insbes. Schwarz-Friesel 2013 und Schwarz-Friesel in diesem Band). Dieser emotiv geladene Vorgang trägt offenbar ent­ scheidend zum ästhetischen Erlebnis bei.

2.1 Zum kreativen Umgang mit Metaphern Aus dem unter 1.1 Angeführten geht hervor, dass nach der Auffassung der Kognitiven Linguistik auch konventionalisierte, lexikalisierte Metaphern keine ‚toten‘ Metaphern sind (als solche gelten lediglich diejenigen, deren metaphorische Konzeptualisie­ rung ohne sprachgeschichtliches Wissen nicht greifbar ist, wie z. B. dt. Dolmetscher, das auf das türkisch-osmanische tilmac/dilmaç ‚Vermittler‘ zurückgeht), denn selbst wenn ihre metaphorische Übertragung längst konventionell ist, können die Ange­ hörigen einer Sprachgemeinschaft die zugrunde liegenden Konzeptualisierungen erkennen. Wie lässt sich aber dieser Befund mit der oben skizzierten ästhetischen Wirkung vereinbaren, die nur bei lebendigen Metaphern angenommen wird? Autorinnen und Autoren können zu diversen Mitteln greifen, um lexikalisierte metaphorische Formulierungen stilistisch hervorzuheben und dadurch die Wendun­ gen aus der gewohnten Konvention so zu lösen, dass die ursprüngliche sinnlich fun­ dierte metaphorische Konzeptualisierung wiederbelebt wird. Die sogenannte Reme­ taphorisierung (vgl. Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 29) ist eine dafür häufig benutzte Strategie: (5) […] man sagt ja, die Zeit flieht, na, eigens vor mir wird sie nicht fliehen, sie wird eine Mas­ senflucht einleiten, in der ich nicht weiter auffalle, die Zeit flieht ja vor allem, ohne Angst, sie flieht, ohne Eifer, ohne Furcht. (Elfriede Jelinek 2011, Winterreise, 11)

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Dem traditionsreichen Phraseologismus Zeit flieht (vgl. tempus fugit, Vergil, Georgica, iii, 284) liegt die metaphorische Konzeptualisierung der Zeit als Dieb (Lakoff/Turner 1989, 35 ff.) zugrunde. Jelinek remetaphorisiert die verblasste Metapher, indem sie zuerst den Phraseologismus in der üblichen Form verwendet und dann daran ver­ schiedene Variationen vornimmt, die die ursprüngliche  – aber erstarrte  – Personi­ fizierung wiederaufleben lassen: sie erweitert die Formulierung mit sonst nicht vor­ handenen Ergänzungen („eigens vor mir“, „vor allem“) und Angaben („ohne Angst“; „ohne Eifer“, „ohne Furcht“), sie ändert das Tempus von Präsens in Futur und setzt eine Negation ein („wird sie nicht fliehen“), sie paraphrasiert schließlich in einer Form („sie wird eine Massenflucht einleiten“), die eine innovative (s. u.), unerwartete Konzeptualisierung vorschlägt, die der Zeit als Flüchtling. Die Wiederholung kann viel sowohl zum stilistischen Effekt als auch zur beson­ deren Auffälligkeit einer phraseologischen Wendung beitragen. Ein berühmtes Bei­ spiel ist die Wiederkehr des metaphorischen Syntagmas „ein weites Feld/ein zu weites Feld“ in Fontanes Effi Briest, das im Roman siebenfach belegt ist  – u. a. als letzter Satz des Textes, wodurch ihm eine besondere Bedeutung zukommt: (6a) Nein gewiß nicht; jedenfalls wollen wir darüber nicht streiten; es ist ein weites Feld. (Theodor Fontane 1896, 37; diese und alle weiteren Hervorh.: S. L.) (6b) Ein weites Feld, Luise. (Ebd., 40) (6c) Aber wozu das jetzt. Das ist wirklich ein zu weites Feld. (Ebd., 42) (6d) Glaube mir Effi, das ist auch ein weites Feld. (Ebd., 120) (6e) Es ist so schwer, was man tun und lassen soll. Das ist auch ein weites Feld. (Ebd., 121) (6f) [Innstetten:] Aber lassen wir das, oder wie dein Papa immer sagte, „Das ist ein zu weites Feld.“ (Ebd., 187) (6g) Ach, Luise, laß, das ist ein zu weites Feld. (Ebd., 296)

Zu beachten ist ferner, dass in diesen Fällen all die Belege dieselbe Origo haben, denn alle, bis auf (6f) stammen aus Redebeiträgen von Effis Vater; wenn Instetten im Gespräch mit Effi, seiner Frau, die Metapher verwendet (6f), weist er darauf hin, dass er dabei eine beliebte Wendung ihres Vaters benutzt („oder wie dein Papa immer sagte“). Aus narratologischer Perspektive ist es nämlich wichtig, die Origo einer meta­ phorischen Wendung zu bestimmen, d. h. zu klären, ob sie auf die Erzähler- oder auf eine Figurenstimme zurückzuführen ist (Fludernik 2009, 73 f.). Als kreative Metaphern gelten solche, die auf geläufige metaphorisch fundierte Konzeptkombinationen zurückgehen, diese aber sprachlich in einer bisher unbe­ kannten Form gestalten (Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 30). Wie schon erwähnt, zeigt sich anhand des Gedichts Lebensgruß (vgl. (1)) der kreative Umgang Heines mit der metaphorischen Konzeptualisierung Das Leben ist eine Reise. Die Konzeptualisierung Zeit als Änderungsagens (time as a changer, vgl. Lakoff/Turner 1989, 40 f.) schlägt sich in zahlreichen literarischen Texten nieder; Hof­ mannsthal verwendet sie sowohl in seinem lyrischen Werk, in Über Vergänglichkeit (7), als auch im Rosenkavalier (8):

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(7) Wie kann es sein […] daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, Herüberglitt aus einem kleinen Kind, Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd. (Hugo von Hofmannsthal 1896, 45, Vv. 2; 7–9) (8) Marschallin: […] Kann mich auch an ein Mädel erinnern, die frisch aus dem Kloster ist in den heiligen Ehestand kommandiert wordn. Nimmt den Handspiegel Wo ist die jetzt? Ja, such dir den Schnee vom vergangenem Jahr. (Hugo von Hofmannsthal 1911, 38)

In diesen beiden Textstellen ist nicht nur die zugrundeliegende Konzeptualisierung dieselbe, sondern auch das Bild, an dem die von der Zeit vorgenommenen Änderun­ gen sichtbar werden, d. h. das Ich, dem sein eigenes früheres Selbst fremd erscheint. Und dennoch ist das Ergebnis verschieden, u. a., weil die Textsorten sich unterschei­ den, weil die jeweilige Origo (lyrisches Ich bzw. Figur der Marschallin im theatrali­ schen Text) eine andere ist, weil in (7) die Fremdheit im Selbst mit einem Hund vergli­ chen wird, in (8) sie durch den Blick in einen Spiegel zurückgeworfen wird. Innovative Metaphern gehen schließlich auf nicht-konventionelle Konzeptkoppe­ lungen zurück (Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 31), wobei die Grenzen zwischen kreativen und innovativen Metaphern fließend sind, denn als Mitglieder einer Sprachgemein­ schaft können wir nur eine eher subjektive Wahrnehmung von Innovationen im heu­ tigen Sprachgebrauch haben. Hans Blumenberg (2012, 205 ff.) beschreibt die Verbreitung des Eisberg-Motivs in den psychologischen Studien des frühen 20.  Jahrhunderts als Ausdruck für die menschliche Psyche. Bei dieser Kombination von Bildbereichen, die unter der Kon­ zeptualisierung Die menschliche Psyche ist ein Eisberg zusammengefasst werden kann, entspricht das Bewusstsein dem kleineren, sichtbaren Stück des Eisbergs, während das Unbewusste dem viel größeren, unter Wasser befindlichen Teil gleich­ gesetzt ist. Dabei beruht nach Blumenberg die Stärke dieser Metapher sicher nicht auf unserer praktischen Erfahrung (denn nur wenige haben einen Eisberg in der Wirk­ lichkeit gesehen, geschweige denn den Teil unter Wasser); sie entspringt vielmehr der Erkenntnis, dass es sich um ein allgemeines Naturgesetz handelt. Aus Blumenbergs Karteikarten (Blumenberg 2012, Abb. 21/2) stammt auch ein lite­ rarisches Beispiel für eine Eisberg-Metapher, die „eine paranoide Vorstellung“ versinn­ bildlicht. Es sind folgende Verse aus dem Gedicht Auf Besuch von Hans Georg Bulla: (9) Hinterm hohen Schrank stehen die Eisberge, glitzern weiß, tief im Wasser. Schließen plötzlich den Kreis, treiben schneller auf uns beide ein, riesengroß. Ich sehe sie auch, Mutter, kalt wird mir. (Hans Georg Bulla 1980, 55, Vv. 11–15)

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2.2 Kühne Metaphern und absolute Metaphern Die semantischen Eigenschaften einer kühnen Metapher werden von Weinrich (1963) grundlegend anhand der Bildspanne untersucht, die die Entfernung vom Bildempfänger zum Bildspender misst: je größer die Entfernung, desto breiter die Bildspanne. Entgegen der traditionellen, v. a. auf Cicero zurückgehenden Auffassung, nach der eine kühne Metapher (metaphora audax) eine breite Bildspanne zwischen den Berei­ chen voraussetzt, vertritt Weinrich die Ansicht, dass die Kühnheit einer Metapher in einer geringen Bildspanne liege. Dies veranschaulicht er anhand des ersten Verses aus Celans Todesfuge: (10) Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends (Paul Celan 1948, 41).

Aus unserer Alltagserfahrung wissen wir, dass Milch etwas Stoffliches, Flüssiges, Weißes ist. Wenn sie z. B. durch das Adjektiv traurig modifiziert wird, das gewöhnlich nicht für etwas Stoffliches verwendet wird, ist die Bildspanne zwischen den Berei­ chen so breit, dass eine übertragene Interpretation der Wortfügung, die diese Spanne überbrücken kann, eingeschaltet wird. Die Verwendung des Adjektivs „schwarz“ widerspricht aber in solchem Maße unserer Alltagserfahrung von Milch, dass wir uns der semantischen Inkongruenz der Kombination bewusst werden: sie wird als kühn empfunden. Eine Metapher ist dementsprechend umso kühner, je stärker zwischen den semantischen Merkmalen von Bildspender und -empfänger ein Widerspruch ent­ steht; bei minimal abweichenden Bereichen lässt sich die Widersprüchlichkeit der Prädikation deutlicher erkennen. Diese Auffassung hebt die kognitive Leistung der Metapher hervor, da sich durch die Übertragung neuer semantischer Merkmale vom Bildspender auf den Bildemp­ fänger neue Perspektiven zum bereits Bekannten und Gewohnten eröffnen können. Die Lyrik Celans gilt auch als Paradebeispiel für absolute Metaphern (vgl. hierzu auch Schwarz-Friesel in diesem Band, mit Textbeispielen aus Celans Werk). Dieser Begriff wurde zuerst für die Literaturwissenschaft von Hugo Friedrich (1956) am Beispiel der Schifffahrtsmetaphorik im Rimbauds Bateau Ivre (Das trunkene Schiff) geprägt und später u. a. von Blumenberg (1960) philosophisch weiterentwickelt. Nach Friedrich ist eine absolute Metapher eine, deren ‚Basisbedeutung‘ nicht gegeben ist – mit anderen Worten: eine Metapher, in der sich der Bildspender so verselbstän­ digt hat, dass der Bildempfänger in den Hintergrund getreten ist. Folgende Verse aus Rilkes Gedicht Fortschritt können dies veranschaulichen: (11) Dem Namenlosen fühl ich mich vertrauter: Mit meinen Sinnen, wie mit Vögeln, reiche ich in die windigen Himmel aus der Eiche, und in den abgebrochnen Tag der Teiche sinkt, wie auf Fischen stehend, mein Gefühl. (Rainer Maria Rilke 1902, I, 402, Vv. 5–9)

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Hier lassen sich in den innovativen Konzeptkoppelungen vom „abgebrochnen Tag der Teiche“ und vom „Gefühl“, das in ihn „sinkt“, keine klar zu deutenden Bildspen­ der erkennen. Ein Verstehen eines solchen Textes muss über die wörtlich-textuelle Ebene hinausgehen und zu einer Interpretation des gesamten Textsinns fortgeführt werden (vgl. Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 95). Als absolute Metaphern bezeichnet Blumenberg (1960) diejenigen, dank derer Phänomene erschlossen – und verbalisiert – werden können, die sich einer begriff­ lichen Erkenntnis entziehen, weil Metaphern ein „Mehr an Aussageleistung“ (ebd., 9) erbringen. Sie gehören demnach zu unseren kognitiven Grundbeständen und sind deswegen in der philosophischen und wissenschaftlichen Sprache unentbehrlich. Ein Beispiel dafür ist die Vorstellung der nackten Wahrheit, die auch dem Bild der Verkleidungen der Wahrheit zugrunde liegt; ein weiteres Beispiel ist das des Lebens als Schifffahrt.

3 Funktionen von Metaphern Aus dem bisher Angeführten geht hervor, dass sowohl in der alltäglichen Sprache als auch in literarischen Texten Metaphern besonders häufig eingesetzt werden, wenn es darum geht, schwer in Worte zu fassenden subjektiven Erfahrungen und Wahrneh­ mungen einen Ausdruck zu geben. Dazu gehört in erster Linie die Verbalisierung von Emotionen und inneren Zuständen (vgl. Schwarz-Friesel 2013 sowie Schwarz-Friesel in diesem Band): (12) Die Angst beschreibt merkwürdige und unberechenbare Kurven. Packt zu, läßt los. Angst als Zange. (Christa Wolf 1976, Kindheitsmuster, 353) (13) Und während Kornitzer dieses gutgemeinte Plädoyer in der ehrenwerten Zeitschrift immer wieder las, spürte er einen tiefen Schmerz im Oberkörper, der bis in den Arm ausstrahlte. (Ursula Krechel 2012, Landgericht, 189)

Den emotionalen Zustand der Angst von Nelly, der Hauptfigur ihres Romans Kindheitsmuster, gibt Christa Wolf in (12) durch eine Reihe von Metaphern wieder: zuerst als etwas Dynamisches, das sich im Körper bewegt, dann als etwas Lebendiges und Angreifendes („packt zu“), das sich aber wieder beruhigen kann („läßt los“), schließ­ lich als ein Gegenstand, Werkzeug („als Zange“). Das Vorkommen mehrerer Meta­ phern (vgl. hierzu Kap. 4), denen verschiedene Bildspender zugrunde liegen, trägt dazu bei, die Schwierigkeit bei der Verbalisierung dieses Gefühls auszudrücken. Im Textbeispiel (13) geht es um die Beschreibung des Eindrucks des körperlichen Schmerzes: der Schmerz wird zuerst als tief präzisiert, d. h. durch ein Adjektiv, das eigentlich auf die senkrechte Ausdehnung nach unten von etwas Physischem, Erfass­ barem, hinweist. Dass dieser Schmerz nicht statisch, sondern dynamisch ist, besagt

Metaphern in literarischen Texten 

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das Verb „ausstrahlt“, das nicht nur auf eine Verbreitung nach allen Seiten hindeutet, sondern auch mit einem Gefühl der (hier negativen) Wärme gekoppelt ist. Auch Sinneswahrnehmungen werden häufig metaphorisch dargestellt: (14) Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. Sturm, Hagel und Donner, täglich und nächtlich, Anflug und Abflug […]. (Wolfgang Koeppen 1951, Tauben im Gras, 9)

Hier wird die Wahrnehmung der Kriegsflugzeuge beschrieben: zuerst visuell, wobei als Bildspender „unheilkündende Vögel“ dienen, dann v. a. akustisch, indem Natur­ erscheinungen erwähnt werden, die mit lauten Geräuschen verbunden sind. Dass solche extremen Naturerscheinungen Gefühle der Angst und Hilflosigkeit auslösen können, hat sicher bei der Wahl einer solchen metaphorischen Formulierung eine erhebliche Rolle gespielt, denn sie enthält implizit eine negative, emotionsbeladene Wertung. Metaphern können tatsächlich viel zur Evaluierung und Perspektivierung beitragen (vgl. Schwarz-Friesel 2013, 214 f. und Schwarz-Friesel in diesem Band): (15) Der Himmel war eitrig gelb an diesem Tag. (Ursula Krechel 2008, Shanghai fern von wo, 327)

Eitrig wird nicht nur verwendet, um die Farbnuance genauer zu beschreiben, sondern um die visuelle Wahrnehmung mit dem Eindruck vom Ekel zu koppeln, der mit Eiter verbunden ist. (16) Er sah aus dem Fenster, sah den Zwiebelkirchturm, dahinter ging eine mächtige Sonne unter, eine pralle Frucht, Südfrucht, die Berge glühten, und etwas glühte in ihm. (Landgericht, 18)

Die Assoziation von „Sonne“ und „Südfrucht“ erklärt sich aus der in (16) wiedergege­ benen Perspektive, nämlich der der Hauptfigur Richard Kornitzer, der gerade aus dem langjährigen kubanischen Exil nach Deutschland zurückgekommen ist. Ein mit einem bestimmten Sinnesorgan assoziierter Eindruck kann als Bildspen­ der für eine mit einem anderen Sinn verbundene Wahrnehmung dienen: (17) Der scharfe Geruch der Essigfabrik, der beißende der Schuhwerkfabrik waren von der kalten Winterluft „wie verschluckt“, warum das so war, wußte er selber nicht. (Ebd., 120) (18) Jetzt, im neuen Tonfilm, konnte eine Stimme den Firmennamen interpretieren, ihn sich auf der Zunge zergehen lassen oder dramatisch hinausposaunen, was das Simpelste war. (Ebd., 220)

In (17) werden die olfaktorischen Eindrücke durch die Adjektive „scharfe“ bzw. „bei­ ßende“ charakterisiert, die beide eine taktile, epidermische Erfahrung voraussetzen, denn die Grundbedeutung von scharf geht auf ‚schneidend, spitz‘ zurück, während

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beißend mit der Vorstellung von beißen, d. h. ‚mit den Zähnen packen‘ (DWDS) ver­ bunden ist. Die Wendung „auf der Zunge zergehen lassen“ in (18), die einen akusti­ schen Eindruck in Worte fasst, weist eigentlich auf eine gustatorische Wahrnehmung hin. Eine Formulierung, die physisch getrennte Wahrnehmungsbereiche koppelt, wie Tast- und Geruchssinn in (17) oder Geschmacks- und Gehörssinn in (18), wird als Synästhesie bezeichnet. Die metaphorischen Übertragungen in (17) und (18) entsprechen den Befun­ den der Kognitionswissenschaften (vgl. Cacciari 2008), nach denen Tast- und Geschmackssinn eine höhere kognitive Salienz besitzen, so dass sie häufiger als Bild­ spender auftreten, während Geruchs- und Gehörsinn meistens Bildempfänger sind. Visuelle Eindrücke werden auch oft synästhetisch durch Übertragungen aus den tak­ tilen und auditiven Bereichen kodiert (vgl. 19). In der Lyrik finden sich synästhetische Formulierungen in besonders verdichteter Form: (19) dein Finger die Eisgrotte bemalte mit der singenden Landkarte eines verborgenen Meeres das sammelte in der Muschel deines Ohres die Noten (Nelly Sachs 1988, 333, Vv. 5–7).

3.1 Poetologische Metaphern Die alternative Logik metaphorischer Formulierungen, die schwer in Worte zu fassen­ den Komplexen einen Ausdruck gibt, offenbart sich auch in poetologischen Aussa­ gen, die keine analytische Definition von Literatur beabsichtigen, sondern anhand von Metaphern „die Veränderung herkömmlicher Vorstellungen von Literatur“ (Kohl 2007, 190) veranschaulichen wollen. Poetologische Äußerungen, d. h. Aussagen, die Reflexionen über Dichtung bzw. Literatur vermitteln, finden sich nicht nur separat vom fiktionalen, dichterischen Werk, sie können auch ins Werk eingegliedert sein. Als prototypische Gattungen dafür gelten der Prolog und das poetologische Gedicht (Kohl 2007, 192, 206). In Eichendorffs Gedicht Wünschelrute werden bildlich die titel­ gebende Hauptmetapher Wünschelrute und das Zauberwort des letzten Verses mit der Kraft der Dichtung verbunden: (20) Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort. (Joseph von Eichendorff 1838, 328)

Die romantische Vorstellung der beseelten Natur erscheint in den Verben „schläft“, „träumen“ und „singen“  – Verben, die, wenn nicht unbedingt ein menschliches, so doch ein lebendiges Agens voraussetzen. Die im Text suggerierte intertextuelle

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Beziehung zur Gattung Märchen (vgl. die Lexeme „Wünschelrute“ und „Zauberwort“, ferner die „schlafenden“ Lieder) zeigt den Dichter als einen, der dank seiner magi­ schen Kräfte die sonst schlafenden Lieder wecken und dadurch die ganze Welt zum Singen bringen kann. Im Gedicht Erklärte Nacht fasst Durs Grünbein seine Poetik zusammen: (21) Oder Dichtung, was war das noch? Entführung in alte Gefühle … Stimmenfang, Silbenzauber, ars magna im elaboriertesten Stil. […] Der Vers ist ein Taucher, er zieht in die Tiefe, sucht nach den Schätzen Am Meeresgrund, draußen im Hirn. Er konspiriert mit den Sternen. Metaphern sind diese flachen Steine, die man aufs offene Meer Schleudert vom Ufer aus. Die trippelnd die Wasserfläche berühren, Drei, vier, fünf, sechs Mal im Glücksfall, bevor sie bleischwer Den Spiegel durchbrechen als Lot. Risse, die durch die Zeiten führen. Philosophie in Metren, Musik der Freudensprünge von Wort zu Ding. Geschenkt, sagt der eine, der andre: vom Scharfsinn gemacht. Was bleibt, sind Gedichte. Lieder, wie sie die Sterblichkeit singt. Ein Reiseführer, der beste, beim Exodus aus der menschlichen Nacht. (Durs Grünbein 2002, 145, Vv. 1–2; 15–24)

Als Antwort auf die Frage im ersten Vers werden zunächst, meistens metaphorisch angedeutet, verschiedene poetische Traditionen aufgelistet (Vv. 1–14 – oben in (21) nur Vv. 1–2 wiedergegeben): die „Entführung in alte Gefühle“ gilt der Poesie der Antike, „Stimmenfang“, „Silbenzauber“ betonen die akustische Komponente der Dichtung, wobei „Stimmenfang“ mehr die Eingliederung gesprochener (oder besser: gehörter, gelauschter) Sprache hervorhebt, „Silbenzauber“ den magischen Aspekt. Ab V. 15 stellt Grünbein sein Verständnis von Dichtung dar, wieder anhand einer Kette inno­ vativer Metaphern; Vv. 17–20 sind ausdrücklich der Metapher gewidmet, die offenbar in seinem Lyrikkonzept eine zentrale Stellung einnimmt und die ihrerseits metapho­ risch erklärt wird.

4 Metaphern im Text In den Belegen aus der Ilias (3, ὕφαινον, ‚Sprechen‘ als ‚Weben‘) und aus dem Hilde­ brandslied (4, staimbort, ‚laut dröhnende Bretter‘ als ‚Kampfbretter‘) entsprechen die Metaphern genau einem Tropus im traditionellen Sinne, d. h. einer Einwortfigur (vgl. Gévaudan 2008, 729), während aus der Mehrzahl der bisher angeführten Textbei­ spiele gerade hervor geht, dass Metaphern weit über die Wortgrenze hinausreichen können, denn die metaphorischen Formulierungen können sich satzübergreifend erstrecken.

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Schon Weinrich (1967, 5) hat darauf hingewiesen, dass eine Metapher „nie ein einfaches Wort“, sondern „immer ein – wenn auch kleines – Stück Text“ ist. Die Meta­ pher entsteht nämlich aus dem Zusammenwirken von Wort und Kontext, weil eine metaphorische Formulierung, wenn wortwörtlich erfasst, in den Erwartungshorizont des Kontextes nicht passt, so dass sich zwischen der eigentlichen Wortbedeutung und der vom Kontext determinierten Bedeutung eine Spannung ergibt, die als Kon­ terdetermination wirkt (Weinrich 1967, 6). Metaphern haben in literarischen Texten auch eine herausragende textuelle Funktion, denn sie können entscheidend zur Etablierung von Kohäsion und Kohä­ renz beitragen (Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 65 ff.). Das geschieht z. B., indem sich Metaphern als fortgesetzte Metaphern, als Metaphernkomplex entwickeln, dem eine gemeinsame Konzeptualisierung zugrunde liegt, wie das folgende Textbeispiel aus Das Treibhaus verdeutlicht: (22) An jeder Entscheidung hingen tausendfache Für und Wider, Lianen gleich, Lianen des Urwalds, ein Dschungel war die praktische Politik, Raubtiere begegneten einem, man konnte mutig sein, man konnte die Taube gegen den Löwen verteidigen, aber hinterrücks biß einen die Schlange. Übrigens waren die Löwen dieses Waldes zahnlos und die Tauben nicht so unschuldig wie sie girrten, nur das Gift der Schlangen war noch stark und gut, und sie wußten auch im richtigen Moment zu töten. Hier kämpfte er sich durch, hier irrte er. (Wolfgang Koeppen 1953, 20)

In diesem Beispiel reihen sich verschiedene Manifestationen der Konzeptverbindun­ gen von Dschungel (Bildspender) und Politik (Bildempfänger), und dementsprechend der Konzeptualisierung Politik ist ein Dschungel aneinander: die „Für und Wider“ werden mit „Lianen“ verglichen, die Gegenspieler sind „Raubtiere“, es gibt „Löwen“, deren harmlose Antagonisten gemäß traditioneller christlicher Symbolik „Tauben“ (vgl. Mt. 10, 16) sind, und giftige „Schlangen“. In dieser unheimlichen und gefährli­ chen Umgebung gestaltet sich das Leben und Schaffen der Hauptfigur des Romans, Felix Keetenheuve, der ein SPD-Abgeordneter ist, als Kampf („kämpfte er sich durch“), auch sind im Dschungel die Wege schlecht zu erkennen: deswegen „irrte er“. Die Metaphernkette wird hier durch einen Vergleich eingeführt („Lianen gleich“); eine enge Verbindung zwischen Metapher und Vergleich wurde schon von der klas­ sischen Rhetorik erkannt (vgl. Lausberg 1960, 558 ff.; Rolf 2005, 21 ff.; Kohl 2007, 109 ff.). Auch wenn Metaphern und Vergleichen kognitiv die gleiche Konzeptualisie­ rung zugrunde liegen kann, handelt es sich dabei dennoch auf sprachlicher Ebene um zwei unterschiedliche Prozesse (vgl. Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 12). Bei Verglei­ chen geht es um eine Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Konzepten, die keinen logi­ schen Widerspruch in der Aussage entstehen lässt und die explizit meist durch wie eingeführt wird, während Metaphern eine Identitätsrelation ausdrücken, die eine logische Inkonsistenz zwischen den beiden Bereichen spüren lässt. Darüber hinaus werden Metaphern durch keine Partikel o. Ä. eingeleitet. Eine metaphorische Äuße­ rung kann zum einen komplexer zu deuten, zum anderen ausdrucksstärker als ein

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Vergleich sein. (Auch) aus diesem Grund kommt es nicht selten vor, dass in Texten Bildspender zuerst durch Vergleiche eingeführt werden, die dann metaphorisch fort­ geführt werden (vgl. Skirl/Schwarz-Friesel 2013, 13) wie eben bei Textbeispiel (22) (s. auch (1), V. 4). Der Kotext kann ebenfalls eine erhebliche Rolle in der Ausformung der Bildbereiche spielen: (23) Aber wo schoß er Leoparden, welche Verbindungen hatte er? Nerze, Leoparden, Kaninchen, Wölfe, Robbenfelle, ein unheimlicher Mann, daß sie keine gemeinsame Sprache hatten, machte ihn noch unheimlicher. Die Sprache hätte ein Faden sein müssen, mit einer Leder­ nadel in die vorgestanzten Löcher zu platzieren: Wörter wie Hochachtung und Konkurrenz, ein Wort, bei dem möglicherweise die Nadel abbrach, Knoten im Garn, Ungeschicklichkei­ ten, ein Fehler. Die Sprache heftete zusammen und machte aus verschiedenartigen Teilen etwas Unerwartetes, Handwerk des Sprechens, ein begabtes Mundwerk, ein staunenswerter Gegenstand. (Shanghai fern von wo, 188)

Das Textbeispiel bezieht sich auf ein offenbar schwieriges Gespräch zwischen dem in Shanghai exilierten Paar Amy und Max Rosenbaum, das ein Handschuhgeschäft eröffnet hat, und einem russischen Pelzhändler. Im Text entwickelt sich ausgehend von der Metapher „Die Sprache hätte ein Faden sein müssen“ ein umfangreicher Metaphernkomplex. Der Ausgangsmetapher liegt auf den ersten Blick die Konzep­ tualisierung Sprechen als Spinnen/Weben zugrunde, die mehreren lexikalisierten metaphorischen Wendungen gemeinsam ist, wie z. B. ich habe den Faden verloren. Da die Formulierung aber mit „mit einer Ledernadel in die vorgestanzten Löcher zu plat­ zieren“ fortgesetzt wird, wird klar, dass es sich um eine Variation des Grundmusters handelt, was mit dem Kotext zusammenhängt. Die der kreativen Metapher zugrunde­ liegende handwerkliche Tätigkeit, in der „Ledernadel“ und „vorgestanzte[ ] Löcher“ vorkommen, ist nämlich die des Kürschners, und damit die vom Paar Rosenbaum ausgeübte. Dies trägt zur Perspektivierung des Erzählten bei. Auch Kommunikati­ onsprobleme werden auf der Grundlage dieses Handwerks beschrieben („die Nadel abbrach“, „Knoten im Garn“), die Sprache selbst wird dann zum Handwerker. Wenn Metaphern fortgesetzt werden, heißt es nicht immer, dass die Bildspender und -empfänger im Laufe der fortgesetzten Metapher dieselben bleiben: (24) […] und Claire und er hatten recht mit dem Wunsch, die Lücke der Trennung zu schließen, die Wunde, die ihnen geschlagen worden war, zu heilen. (Landgericht, 166)

Bei (24) ist der Bildempfänger derselbe, die langjährige Trennung der Mitglieder der Familie Kornitzer (der jüdische Mann, Richard Kornitzer, zum Exil gezwungen, die halbjüdischen Kinder einem Kindertransport nach England anvertraut, die nichtjü­ dische Frau, Claire Kornitzer, in Deutschland geblieben), der aber durch zwei ver­ schiedene Bildspender verbalisiert wird, zuerst als Lücke, die zu schließen ist, dann als Wunde, die zu heilen ist. Die fortgesetzte Metapher deutet auf die Schwierigkeit hin, eine solch tragische Erfahrung in Worte zu fassen, wobei der erste Ausdruck eher deskriptiv ist, der zweite mehr emotional beladen.

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In einem Text können auch metaphorische Ausdrücke aus verschiedenen Bild­ spendern und Bildempfängern in enger Abfolge vorkommen: eine solche metapho­ rische Verdichtung nennt man (metaphorisches) Cluster (vgl. Koller 2003; Semino 2008, 24 ff.). Im folgenden Textausschnitt wird die Situation von Richard Kornitzer aus seiner Perspektive wiedergeben: (25) Sein Herz ausschütten, das war nicht, was er wollte. Das Herz mußte versteinern. Nun war die Aufarbeitung schlecht und recht getan, war ein Torso geblieben, und alles, was ihn freute an seiner Arbeit, am Fortschritt beim Zusammenflicken seiner Familie, bei den per­ sönlichen Angelegenheiten, schien plötzlich im Sumpf zu stecken. Da blühten sie, Sumpf­ dotterblüten über den Bombentrichtern auf den Wiesen am Rhein […]. (Landgericht, 194)

Einem metaphorisch basierten Phraseologismus („Herz ausschütten“) folgt eine weitere lexikalisierte Wendung („Das Herz mußte versteinern“): beide drücken Kor­ nitzers emotionale Lage aus, beide sind auf das Herz fokussierte Somatismen, die aber das Herz unterschiedlich konzeptualisieren. Dann geht es um seine Arbeit: die unvollendete, ungenügende „Aufarbeitung“ wird als „Torso“ beschrieben, im Weite­ ren um die Familie, deren Zusammenkunft als „Zusammenflicken“ (das sein mühse­ liges Interesse und seine Kräfte benötigt hat), und: Alles scheint zu stocken, steckt „im Sumpf“. Aus dem metaphorischen „Sumpf“ geht es wieder zum eigentlichen Textsinn, denn dieser führt zum tatsächlichen Sumpfgebiet entlang des Rheins, wo „Sumpfdotterblüten“ blühen. Metaphorische Formulierungen können ferner zur globalen Kohärenz eines Textes beitragen, indem sie auf ein übergeordnetes Thema Bezug nehmen (Skirl/ Schwarz-Friesel 2013, 67). In Shanghai fern von wo durchzieht das Konzept vom Schiffbruch als Bildspender für das von der Austreibung und vom Exil zerstörte Leben den ganzen Roman: (26a) Wenn die ganze bürgerliche Existenz Schiffbruch erlitten hatte […]. (Shanghai fern von wo, 31; diese und alle weiteren Hervorhebungen: S. L.) (26b) Ich [Franziska Tausig] backe, damit er nicht im Männerschlafsaal versauert unter den Gestrandeten, an ihr eigenes Gestrandetsein dachte sie in diesem Augenblick nicht. (Ebd., 34) (26c) […] so erzählte er [Lothar Brieger] ihr [Franziska Tausig] von seiner Aquarellmalerei, erzählte von Berlin, von einem versunkenen, abgesunkenen, vom Schreien und Marschie­ ren betörten Berlin. (Ebd., 134) (26d) Es kamen immer noch neue Flüchtlinge […], gestrandete Leute, die in aller Unschuld längst verfallene Visa vorzeigten, die nirgendwohin mehr führten. (Ebd., 176) (26e) Und wie wirkten sie, die Rosenbaums, auf ihn in ihrer unschuldigen Gestrandetheit, wehrlos, tapfer und nett? (Ebd., 188) (26f) Es kam darauf an, eine Existenz zu führen, die eher der eines Fisches im trüben Wasser glich als der eines Flüchtlings auf fremdem Land. (Ebd., 213) (26g) Die Zahlen waren eine wehrhafte Maßnahme gegen die Überflutung durch Erinnern. (Ebd., 215) (26h) […] oder war ein Wissen versunken, weil es keinen Boden mehr dafür gab? (Ebd., 220)

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(26i) Das Handeln war eine Arbeit unter den Bedingungen der Konspiration, es war kein Trockenschwimmkurs für den Fall, daß das Wasser steigt. Das Wasser stand längst bis zum Hals. (Ebd., 235) (26j) Aber Franziska Tausig in der Backstube, sie denkt, sie backt, sie schwitzt. Sie hat Sehn­ süchte, die sie weit wegdriften lassen. (Ebd., 375) (26k) Jede eigene Tätigkeit war jetzt von Übel, sie störte die Verwaltung, die die großen Menschenströme ordnete, Menschenströme, die „abfließen“ sollten aus Shanghai, so hieß es in den Kommuniqués. Lazarus schwamm nicht im großen Strom, aber er schwamm auch nicht gegen den Strom. (Ebd., 399)

Das Bild wird zuerst explizit als „Schiffbruch“ eingeführt (26a), es kommt dann wie­ derholt das damit verbundene Bild des Gestrandetseins (26b, 26d, 26e) bzw. des Weg­ driftens (26j) vor, außerdem die Bilder des Ver- und Absinkens (26c, 26h), die der Zeit vor der Emigration gelten. Es kommt auch zu Variationen, in denen jedoch das Wasser als gefährliches Element beibehalten wird, wie in (26f), in dem der Flüchtling, um „im trüben Wasser“ zu überleben, sich zum Fisch verwandelt, oder in (26g), wo die Erinnerung an die frühere Zeit mit der Vorstellung einer zerstörenden Wassermasse gekoppelt wird. Die schwierige Situation wird in (26i) durch das Wasser, das „bis zum Hals“ reicht, dargestellt. In (26k) ist zuerst von „Menschenströme[n]“ die Rede, um auf die zahlreichen Menschen hinzuweisen, die nach dem Krieg Shanghai verlassen sollen. Im Lauf des Textes werden aus den Strömen von Menschen Ströme, in denen Menschen schwimmen, wie die Romanfigur Lazarus: auch die Rückkehr in die alte Heimat trägt Merkmale vom Schiffbruch. Um sich zu retten, muss man schwimmen können. Metaphorische Wendungen können somit eine entscheidende Rolle für die inhaltliche Kontinuität eines Textes spielen, sowohl auf lokaler (vgl. 22–25) als auch auf globaler Ebene (26), indem sich verschiedene Textelemente metaphorisch auf dieselbe übergeordnete Konzeptualisierung (Bildspender) beziehen. Auf denselben Bildspender kann ferner durch Vergleiche hingewiesen werden. Auch wenn es sich in diesem Fall nicht um eine Identitätsrelation, sondern um eine Ähnlichkeitsrelation handelt, tragen auch Vergleiche zur Etablierung von Kohärenz bei, da sich die seman­ tischen Merkmale des Bildspenders über mehrere Sätze mittels Metaphern oder auch Vergleichen erstrecken können (vgl. (1) und (22)).

5 Metaphorologie Aus den metaphorologischen Studien, die von Hans Blumenberg (vgl. z. B. Blumen­ berg 1960, 1979, 2012) begründet wurden, geht hervor, dass Metaphern als herme­ neutisches Paradigma dienen können, denn die Verwandlungen, die eine Metapher im Lauf der Zeit bzw. der Jahrhunderte durchlaufen kann, lassen die „Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen“ (Blumenberg 1960, 11) durchschei­ nen, im Rahmen derer sich die Begriffe selbst historisch wandeln. Von der Begriffsge­

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schichte unterscheidet sich die Metaphorologie, weil sie einen Einblick in die „Sub­ struktur des Denkens“, in die „Nährlösung der systematischen Kristallisationen“ ermöglicht, denn die absoluten Metaphern (s. 2.2) lassen sich zwar auslegen, aber nicht begrifflich umdeuten. Ein Beispiel für solche metaphorologischen Untersuchungen aus philosophi­ scher Perspektive liefert Blumenberg (1979), indem er verschiedene Ausformungen des Bildes Schiffbruch mit Zuschauer interpretiert: Ausgehend von den unter (27a) wiedergegebenen Versen aus Lukrez’ Buch der Natur entwickelt Blumenberg (1979, bes. 28 ff.) z. B. im dritten Kapitel seines Essays die ‚Konfiguration‘ des Betrachters (ebd.), der von einem sicheren Standpunkt an Land ein Schiff in Seenot beobachtet. (Die Übersetzung ins Deutsche von Knebel wurde von Blumenberg 1979, 47, Fn. 56, ebenfalls zitiert und wird auch hier, vgl. (27b), aufgrund ihrer rezeptionsgeschichtli­ chen Rolle wiedergegeben): (27a) Suave, mari magno turbantibus aequora ventis e terra magnum alterius spectare laborem; non quia vexari quemquamst iucunda voluptas, sed quibus ipse malis careas quia cernere suave est. (Lukrez 1953, II, Vv. 1–4) (27b) Süß ist’s, anderer Noth bei tobendem Kampfe der Winde Auf hochwogigem Meer, vom fernen Ufer zu schauen; Nicht als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen, Sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängniß man frei ist. (Lukrez 1831, II, Vv. 1–4)

Lukrez stellt die Ansicht des Denkers dar, der dank der Philosophie Epikurs gegen die feindlichen Elemente der physischen Wirklichkeit abgesichert ist  – aus diesem Bewusstsein entspringt seine Freude. Blumenberg verfolgt dann weitere Verwand­ lungen dieser Konfiguration, z. B. bei Horaz, Fontanelle, Voltaire, Mme du Châtelet, Galiani, bis zum ersten deutschsprachigen Beleg, dem Gedicht Der Sturm von Johann Joachim Ewald (Blumenberg 1979, 41): (28) Es wird auf einmal Nacht, die Winde heulen laut Und Himmel, Meer und Grund wird wie vermengt geschaut. Das Schiff fliegt Sternen zu, stürzt wieder tief herab, Läufft [sic!] unter Wellen fort, sieht um sich nichts als Grab, Hier blitzt, dort donnert es, der ganze Aether stürmt, Die Fluten sind auf Flut, und Wolk auf Wolk getürmt, Das Schiff zerscheitert itzt, und mir … ist nichts geschehn, Weil ich dem Sturme nur vom Ufer zugesehn. (Johann Joachim Ewald 1755, 12)

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Ganz im Gegensatz zu Lukrez’ Darstellung betont hier der Dichter nicht die emotio­ nale Distanz zum Sturm, sondern das dramatische Miterleben des Schiffbruchs; erst im letzten Vers erklärt er, dass er den Sturm aus der Zuschauerperspektive beobachtet hat. Nach Blumenberg (1979, 43) lässt das Gedicht, das 1755, im Jahr des Erdbebens von Lissabon entstand, die Unsicherheit durchschimmern, die sich infolge dieser Naturkatastrophe in ganz Europa ausbreitete und die dem „Optimismus […] der deut­ schen Leibniz-Schule ein Ende“ setzte. Auf der Grundlage von Blumenbergs weiteren Analysen hat sich eine ganze Tra­ dition metaphorologischer Studien entwickelt (vgl. diesbezüglich die Bibliographie in Schumacher (o. J.)). Aus kultur- bzw. literaturwissenschaftlicher Perspektive hat z. B. Monika Schmitz-Emans zahlreiche Arbeiten in dieser Richtung veröffentlicht; exemplarisch erwähne ich hier die Untersuchung, die die literarischen Belege (Schil­ ler, Der Geisterseher; Klingemann, Nachtwachen. Von Bonaventura; E. T. A. Hoffmann, Des Vetters Eckfenster, Meister Floh u. a.; Strindberg, Tschandala; Proust, Jean Santeuil und À la Recherche du temps perdu) für die laterna magica als Bildspender ver­ folgt (Schmitz-Emans 2010). Anhand dieser Belege zeigt sich, wie die Literatur neue Medien aufnimmt, um die Modelle zur Selbstreflexion und -darstellung zu erweitern, da diesen metaphorischen Formulierungen um die Zauberlaterne eine poetologische Funktion (vgl. 3.2) unterstellt werden kann.

5.1 Metaphorologie und Intertextualität Die Verwendung bestimmter Metaphern lässt intertextuelle Bezüge besonders deut­ lich erkennen: so geht die unter (8) schon angeführte Stelle aus Hofmannsthals Rosenkavalier „such dir den Schnee vom vergangenem Jahr“ als Vanitas-Motiv auf den Refrain von François Villons Ballade des dames du temps jadis (‚Ballade der Frauen von einst‘) zurück (29): (29) Mais où sont les neiges d’antan? (François Villon 1461, 79–80, Vv. 336; 344; 352; 356; ‚Doch wo ist der Schnee vom letzten Jahr‘)

Dieser Vers wurde v. a. im Laufe des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Litera­ tur hin und wieder aufgenommen, so außer von Hofmannsthal z. B. auch von Brecht (30a) oder von Fritz Rudolf Fries, der den Vers auf Französisch in seinen Roman Oobliadooh einfügt (30b): (30a) Wo sind die Tränen von gestern abend? Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr? (Bertolt Brecht 1938, 334, Nannas Lied, Vv. 12–13; Hervorh. S. L.)

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(30b) Die deutsche Kabine, die Leitkabine, stockte vor den Folgen dieses Satzes. Aber die unga­ rischen Ereignisse haben gezeigt, où sont les neiges d’antan, daß unsere Wachsamkeit gegen die Konterrevolution. Das Wort Wachsamkeit ging glatt durch alle Mikrofone […]. (Fritz Rudolf Fries 1966, 265; Hervorh. S. L.)

Mittlerweile sind Wendungen wie Schnee von gestern/von vorgestern/vom letzten Jahr/ vom vergangenen Jahr im Deutschen als metaphorisch basierte idiomatische Phraseo­ logismen lexikalisiert, die auf „Dinge, Tatsachen, die niemanden mehr interessieren“ (Duden, s. u. Schnee) hinweisen. Es lassen sich aber weiterhin literarische Ausfor­ mungen dieser Metapher feststellen, wie aus den folgenden Textstellen aus Ursula Krechels Werk hervorgeht: (31a) Von heut an stell ich meine alten Schuhe
 nicht mehr ordentlich neben die Fußnoten
 häng den Kopf beim Denken
 nicht mehr an den Haken
 freß keine Kreide. Hier die Fußstapfen
 im Schnee von gestern, vergeßt sie
 ich hust nicht mehr mit Schalldämpfer […] (Ursula Krechel 1977, Umsturz, 12, Vv. 1–7; Hervorh. S. L.) (31b) Die Schrift war eng, hohe, steile Buchstaben, aus einer Handschrift entwickelt, das war nicht mehr der Bauhaus-Stil, etwas wollte zur Ruhe kommen, die dann nicht eintrat, Stil 1930, aus einer vergangenen Vergangenheit, das Frauengesicht der Gegenwart, also Schnee von gestern auf großformatigen Abbildungen. Aber ein wunderbarer Schnee, wie frisch gefallen, die glatten kühlen Gesichter, kein Lächeln, kein Zähneblecken, bebend vor Energie […]. (Shanghai fern von wo, 127 f.; Hervorh. S. L.)

Obwohl die intertextuellen Bezüge der Wendung Schnee von gestern der Autorin vermutlich bekannt sind, spielen diese für die Funktion der Metapher in (31a) nur eine geringe Rolle. Krechel geht es vielmehr darum, den existentiellen Umsturz des Titels sprachlich zu gestalten, indem eine Abkehr vom Gewohnten bekundet wird, was durch buchstäblich aufgefasste – und darum wiederbelebte (vgl. 2.1) – Phraseo­ logismen und lexikalisierte Wendungen ausgedrückt wird. Die Remetaphorisierung des Ausdrucks Schnee von gestern erfolgt durch die Ergänzung „Fußstapfen“, die sich im Schnee zeigen. Im Beispiel (31b) geht es um die Gestaltung des Kunstbuchs Das Frauengesicht der Gegenwart, das 1930 von Lothar Brieger, einer der Hauptfigu­ ren des Romans Shanghai fern von wo, veröffentlicht wurde. Aus der Perspektive des Shanghai-Exils ist ein Hinweis auf das Vanitas-Motiv wahrscheinlich; die Autorin legt aber auch in diesem Fall besonderen Wert auf eine Wiederbelebung der Wendung: Der Schnee wird „ein wunderbarer Schnee“, sogar „frisch gefallen“ – er wirkt gleich auf die Bilder: die „Gesichter“ sind „kühl[ ]“. Diese Beispiele sollen zeigen, dass die traditionell eher philosophisch bzw. kulturund literaturwissenschaftlich orientierte Metaphorologie fruchtbar mit sprachwis­ senschaftlichen, textlinguistischen Ansätzen verbunden werden kann.

Metaphern in literarischen Texten 

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 Simona Leonardi

6.2 Sekundärliteratur Blumenberg, Hans (1960): Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. Blumenberg, Hans (1979): Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. Blumenberg, Hans (2012): Quellen, Ströme, Eisberge. Hg. von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche. Frankfurt a. M. Brown, Donald E. (1991): Human Universals. New York/St. Louis u. a. Cacciari, Cristina (2008): Crossing the senses in metaphorical language. In: Raymond W. Gibbs (Hg.): The Cambridge Handbook of Metaphor and Thought. New York, 425–443. Cuccio, Valentina/Marco Carapezza/Vittorio Gallese (2013): Metafore che risuonano. Linguaggio e corpo tra filosofia e neuroscienze. In: EC, Rivista dell’Associazione Italiana Studi Semiotici, VII (XVII), 69–74. Fludernik, Monika (2009): An Introduction to Narratology. London/New York. Friedrich, Hugo (1956): Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart. Hamburg. Erw. Neuausgabe: Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg 1985. Gévaudan, Paul (2008): Tropen und Figuren. In: Ulla Fix/Andreas Gardt/Joachim Knape (Hg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. Bd. 1. Berlin/New York , 728–742. Haubrichs, Wolfgang (1995): Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1, Von den Anfängen zum hohen Mittelalter. Teil 1. Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). 2., durchges. Aufl. Tübingen. Haverkamp, Anselm (Hg.) (1996): Theorie der Metapher. Darmstadt. Jakobson, Roman (1956): Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances. In Roman Jakobson/Morris Halle, Fundamentals of Language. ’s Gravenhage, 55–82. Kohl, Katrin (2007): Poetologische Metaphern: Formen und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin/New York. Koller, Veronika (2003): Metaphor Clusters, Metaphor Chains: Analysing the Multifunctionality of Metaphor in Text. In: metaphorik.de 5, 115–134. Lakoff, George/Mark Johnson (1980/2003): Metaphors We Live By. 2. Aufl. With a new afterword. Chicago/London. Lakoff, George/Mark Turner (1989): More than Cool Reason. A Field Guide to Poetic Metaphor. Chicago/London. Lausberg, Heinrich (1960): Handbuch der Literarischen Rhetorik: Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München. Letzte Aufl.: Stuttgart 2008. Liebert, Wolf-Andreas (2008): Metaphernforschung. In: Fix/Gardt/Knape (Hg.), 743–757. Rolf, Eckard (2005): Metaphertheorien. Typologie. Darstellung. Bibliographie. Berlin/New York. Schmitz-Emans, Monika (2010): Die Laterna magica der Erzählung. Zur Semantik eines Bilderzeugungsverfahrens und seiner poetologischen Funktion. In: Monatshefte, 102(3), 300–325. Schumacher, Meinolf (o. J.): Historische Metaphorologie und Bedeutungsforschung. Arbeitsbibliographie. http://www.uni-bielefeld.de/lili/personen/mschumacher/downloads/ Schumacher_Metaphorologie.pdf (letzter Zugriff: 20.05.2017). Schwarz, Monika (2008): Einführung in die Kognitive Linguistik. 3. Aufl. Tübingen. Schwarz-Friesel, Monika (2013): Sprache und Emotion. 2. Aufl. Tübingen/Basel. Semino, Elena (2008): Metaphor in Discourse. Cambridge. Skirl, Helge/Monika Schwarz-Friesel (2013): Metapher. 2. Aufl. Heidelberg.

Metaphern in literarischen Texten 

Weinrich, Harald (1963): Semantik der kühnen Metapher. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37, 325–344. Weinrich, Harald (1967): Semantik der Metapher. In: Folia Linguistica 1, 3–17.

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Martina Wörgötter

8. Satz und Zeichensetzung: Formen, Variationen, Entgrenzungen Abstract: In Verbindung mit anderen Ebenen sprachlicher und narrativer Gestaltung leisten Syntax und Interpunktion in literarischen Texten einen nicht zu unterschät­ zenden Beitrag als Stilmittel. Anhand ausgewählter Beispiele, orientiert an Etappen der Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, wird gezeigt, wie groß die Auf­ merksamkeit ist, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller diesen speziellen formalen Gestaltungsaspekten widmen. In den Mittelpunkt rücken dabei sowohl die Variati­ onsbreite der stilistischen Mittel als auch die vielfältigen Funktionen, die Elemente der formalen Ebene haben können. 1 Satz und Zeichensetzung: Stilwerte und Stileffekte 2 Vom Klassizismus in die Moderne 3 Die Jahrhundertwende und ihre syntaktisch-stilistischen Folgen 4 Explosion von Formen, Variationen und Entgrenzungen ab 1950 5 Schluss 6 Literatur

1 Satz und Zeichensetzung: Stilwerte und Stileffekte Der kunstvolle Gebrauch der Hypotaxe bei Heinrich von Kleist zeigt, dass die Art und Weise, mit der ein Autor auf der Ebene des Satzes agiert, maßgebend für den stilistischen Gesamteindruck eines Werkes ist. Von Satzarten, Satzbauplänen (Satz­ modellen) und Satzumfang über Wortstellung bis hin zu Diathesen und Stilfiguren (vgl. Eroms 1995)  – die verschiedensten syntaktischen Phänomene, die sich auf unterschiedliche Art und Weise stilistisch nutzen lassen, stehen ihm zur Verfügung. Begriff und Kategorie des ‚Satzes‘ sind jedoch nicht unbelastet (vgl. die Diskussion im Kontext der Gesprochene-Sprache-Forschung) und Definitionen deshalb nicht unmit­ telbar auf den literarischen Text zu übertragen, insbesondere nicht im Falle literatur­ sprachlicher Tendenzen im 20. Jahrhundert, denen es vielfach um bewusste ‚Entgren­ zungen‘ konventionalisierter grammatischer Konzeptionen geht. Damit offenbaren avantgardistische Ansätze in der modernen Literatur außerdem ein weiteres (schrift-) sprachliches Phänomen in seiner stilistischen Relevanz: die Zeichensetzung, die in unmittelbarer Verbindung mit dem Satz steht. Zeichen übernehmen aber keineswegs nur eine syntaktisch-grammatische Ordnungsfunktion; sie wirken sich u. a. auf die rhetorischen, prosodischen sowie semantischen Dimensionen eines Textes aus und sind schließlich auch für das Textverständnis ausschlaggebend. Wie die Syntax hat DOI 10.1515/9783110297898-008

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die Interpunktion das Potential, stilistische Effekte zu erzielen. Besonders die poeti­ sche Zeichensetzung wurde bis ins 19. Jahrhundert recht frei gehandhabt. Bestrebun­ gen, eine für den gesamten deutschsprachigen Raum verbindliche Norm zu etablie­ ren, setzten sich erst mit der Wende zum 20. Jahrhundert durch. Daher ist auch die Originalität der Interpunktion, v. a. im Falle von nicht rekonstruierbaren Publikati­ onswegen, in Frage zu stellen (vgl. Nebrig/Spoerhase 2012). Den Ausgangspunkt für die folgende Betrachtung verschiedener Erscheinungs­ formen von Satz und Satzzeichen in der Literatur bildet die nicht zuletzt stilistisch und literatursprachlich einschneidende Epoche des Klassizismus. Es ist jene ver­ gleichsweise kurze Zeitspanne, die den Höhepunkt einer Entwicklung darstellt, in der an der Ausbildung einer (literatur-)sprachlichen Norm gearbeitet wird (vgl. Betten 2004a, Kaempfert 2004). Von den klassischen Formen geht dann der wohl „am längs­ ten anhaltende, Nachahmung und Gegenreaktionen bewirkende Einfluß“ (Betten 2004a, 3013) aus: Können sie einerseits noch lange Zeit, bis tief ins 20. Jahrhundert hinein, im standard- und insbesondere im bildungssprachlichen Bereich ihre Vorbild­ funktion behalten, fordern die sprachliche Elaboriertheit und Perfektion, da „eine weitere Kultivierung kaum mehr möglich erscheint“ (Kaempfert 2004, 3061), anderer­ seits auch verschiedene Gegenkonzepte und literatursprachliche Innovationen bzw. Revolutionen heraus (vgl. Roelcke 2004). Davon ausgehend konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf verschiedene Formen, Variationen und Entgrenzungen von Syntax und Interpunktion seit dem Klassizismus bzw. im Verhältnis dazu, aller­ dings nicht im Sinne einer konsistenten literarischen Sprach- oder Stilgeschichte, sondern anhand von punktuellen ‚Stilproben‘, die zeigen, wie vielfältig in der Lite­ ratur seit 1800 mit Satz und Satzzeichen operiert wird und inwiefern diese Ebene des sprachlichen Ausdrucks stilistisch genutzt wird.

2 Vom Klassizismus in die Moderne ‚Klarheit‘ und ‚Anschaulichkeit‘ sind die etablierten Begriffe, um die Stilideale der Klassik zu benennen, was Roelcke (2004, 3097) hinsichtlich der Syntax in einer „recht ausgewogenen Satzbildung“ bei einer „Tendenz zur Idealisierung und Veredelung durch syntaktische wie lexikalische Mittel“ umgesetzt sieht und Kaempfert (2004, 3058) mit konkretem Bezug auf die beiden wichtigsten Autoren zu veranschaulichen sucht: Schillers „Hochstilisierung“ und der „Eindruck des Hochgespannten, des Pathetischen“ seien insbesondere auf sprachliche Mittel wie „Antithese, Chiasmus, Parallelismus, Anaphora, Prolepse des Subjekts durch es, Inversion, poetischer (vor­ angestellter) Genitiv u. a.“ zurückzuführen, während bei Goethe in der ‚klassischen‘ Periode eine „explizitere und korrektere Formulierung von unübersichtlichen und lässigen Satzkonstruktionen“ sowie die Vermeidung komplexer Hypotaxen zuguns­ ten verstärkter Reihung und syndetischer Parataxe (vgl. ebd.; Hervorh. im Orig.)

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gegenüber dem früheren Werk zu beobachten sei. Vor diesem Hintergrund und im Bewusstsein der verschiedenen Reaktionen von Epigonentum bis Innovation im Laufe des 19. Jahrhunderts wird mit Kleists Michael Kohlhaas nun ein erstes Beispiel hinsichtlich Satz und Zeichensetzung näher betrachtet.

2.1 Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas Mit den vielschichtigen Hypotaxen wie auch parataktischen Fügungen, jedenfalls ausladenden Strukturen, deren Umfang und Komplexität durch verschiedene Varian­ ten der Satzgliederweiterung noch verstärkt werden, ist die Syntax das wohl auffäl­ ligste Merkmal des Kleist’schen Schreibstils: Spornstreichs auf dem Wege nach Dresden war er schon, als er, bei dem Gedanken an den Knecht, und an die Klage, die man auf der Burg gegen ihn führte, schrittweis zu reiten anfieng, sein Pferd, ehe er noch tausend Schritt gemacht hatte, wieder wandte, und zur vorgängigen Ver­ nehmung des Knechts, wie es ihm klug und gerecht schien, nach Kohlhaasenbrück einbog. Denn ein richtiges, mit der gebrechlichen Einrichtung der Welt schon bekanntes Gefühl machte ihn, trotz der erlittenen Beleidigungen, geneigt, falls nur wirklich dem Knecht, wie der Schloßvoigt behauptete, eine Art von Schuld beizumessen sey, den Verlust der Pferde, als eine gerechte Folge davon, zu verschmerzen. Dagegen sagte ihm ein eben so vortreffliches Gefühl, und dies Gefühl faßte tiefere und tiefere Wurzeln, in dem Maaße, als er weiter ritt, und überall, wo er einkehrte, von den Ungerechtigkeiten hörte, die täglich auf der Tronkenburg gegen die Reisenden verübt wurden: daß wenn der ganze Vorfall, wie es allen Anschein habe, bloß abgekartet seyn sollte, er mit seinen Kräften der Welt in der Pflicht verfallen sey, sich Genugthuung für die erlittene Kränkung, und Sicherheit für zukünftige seinen Mitbürgern zu verschaffen. (Heinrich v. Kleist 1810, 79 f.)

Es sind lediglich drei Sätze bzw. zwischen zwei Punkten stehende Einheiten, die diese Textpassage ausmachen und an denen einige der für Kleist so charakteristischen Strategien syntaktischer Ausdehnung nachvollziehbar werden. Kurz und kompakt präsentiert sich der Matrixsatz, „Spornstreichs auf dem Wege nach Dresden war er schon“, während es sich bei allem, was folgt, um einen davon abhängigen Tempo­ ralsatz handelt. Seine Länge hat dieser insbesondere adverbialen Erweiterungen zu verdanken, und zwar in verschiedenen syntaktischen Kategorien und Komplexitäts­ graden. Hingewiesen sei etwa auf die Präpositionalphrase „bei dem Gedanken an den Knecht, und an die Klage“, die zusätzlich durch den Relativsatz „die man auf der Burg gegen ihn führte“ Erweiterung findet. Entsprechend seinem Umfang enthält der Temporalsatz die wohl ‚gewichtigeren‘ Schilderungen, treibt nicht nur das Gesche­ hen voran, sondern vermag  – nicht zuletzt mithilfe der adverbialen Erweiterung  – sogar Einblick in die Gedankenwelt Kohlhaas’ zu geben. Auch diese Verlagerung des Bedeutsamen auf den Nebensatz ist ein bei Kleist häufig zu findendes Verfahren, das das Erfassen von syntaktischer Über- und Unterordnung zusätzlich erschwert. Für Ambivalenzen sorgt die syntaktische Gestaltung außerdem hinsichtlich des Tempos.

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Provoziert die Ausdehnung der Konstruktionen den Eindruck des Nichtabsetzenkön­ nens, einer gewissen Getriebenheit, wird die so erzeugte Geschwindigkeit gleichzei­ tig gebremst, wenn immer neue Einschübe und Spezifizierungen das Fortschreiten der Handlung hemmen und dem „stürmischen, vorwärtsdrängenden Erzähltempo“ (Admoni 1987, 82) den Schwung nehmen. Eine zentrale Rolle spielt hier das Komma, und zwar für beide Effekte: Es markiert die Grenzen kleinster syntaktischer Einheiten und verleiht dem Text einen ‚asthmatischen‘ Duktus, taucht bisweilen aber auch dort auf, wo es keine Strukturierungsfunktion übernimmt. Insofern das Komma aber auch ermöglicht, die Zäsur des Punktes zu vermeiden, wird es gleichzeitig in seiner verbin­ denden Funktion genützt. Zusammenhang stiftet auch der Anschluss der nächsten Satzsequenz durch die Konjunktion denn. Sie leitet einen neuen Nebensatz ein, der – ebenfalls abhängig vom Temporalsatz – auf eine neue syntaktische Hierarchieebene führt. Der letzte Satz ist wieder eine selbstständige Konstruktion mit eigenem Matrix­ satz, wobei auch hier – mit der Konjunktion dagegen im Vorfeld – eine enge Anbin­ dung an den Vorgängersatz besteht. Abgesehen davon zeichnet sich die gesamte Konstruktion durch das Prinzip der Ausdehnung und eine spezielle Zeichensetzung aus: Mit dem Segment „und dies Gefühl […] verübt wurden“ findet sich zunächst eine umfangreiche Parenthese zwischen Matrix- und Nebensatz, worauf ein Doppelpunkt die Spannung, was folgen mag, zusätzlich steigert. Hebt der Anschluss mit der Kon­ junktion „daß“ zur Fortsetzung an, erfolgt mit dem Adverbialsatz „wenn der ganze Vorfall […] bloß abgekartet seyn sollte“ eine weitere Verzögerung, bevor der Neben­ satz schließlich vervollständigt wird. Kleists Satzgebilde lassen sich durchaus als eine literarische Manifestation seiner Reflexionen Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden ver­ stehen, insofern dieses Prinzip auch in direktem funktionalem Zusammenhang mit dem Inhalt der Szene zu stehen bzw. die Wahl der narrativen Gestaltung inspiriert zu haben scheint. Schnell, sprunghaft und von Gefühlen gelenkt laufen Kohlhaas’ Gedanken im Versuch, das Geschehene zu verarbeiten und gleichzeitig das weitere Vorgehen zu planen. Die Sprache, insbesondere die Syntax, führt den Leser also dicht an die Figur und deren Wahrnehmungswelt heran. Eine andere Assoziation, die von Kleists ausufernden Satzkonstruktionen hervorgerufen wird, ist jene zur „juristi­ schen Syntax, die in konditionierter Weise Angaben über Zustände und Vorgänge in einen Satz unterzubringen hatte“ (Klausnitzer 2012, 233; Hervorh. im. Orig.), deren Funktion angesichts des zentralen Motivs der Verhandlung verschiedener Rechtsauf­ fassungen evident ist. Kleist imitiert nicht, sondern macht Anleihen, spielt mit der sachlichen Eindeutigkeit des amtlichen Sprechens, das in der syntaktischen Über­ steigerung mehrfach gebrochen wird, um zu demonstrieren, „dass die jeweils darge­ stellte Welt aus den Fugen ist“ (ebd.). Die ‚Entgrenzung‘ der Sätze ist damit nicht nur im Verhältnis zu den ‚klassischen‘ Stilidealen zu sehen, sondern zugleich ‚Variation‘ einer nicht-literarischen Stilform. Die Ästhetik der Stilmischung und die künstlerische Aneignung nicht-literari­ scher Stile pflegt auch der zwanzig Jahre jüngere Heinrich Heine, dessen Œuvre satz­

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stilistisch viele Facetten zeigt. Im Buch der Lieder stehen Heines syntaktische Vorlie­ ben ganz im Gegensatz zu Kleists Langsätzen.

2.2 Heinrich Heine: Buch der Lieder Die Inspiration durch das Volkslied, wie sie insbesondere Heines frühe Lyrik im Buch der Lieder (1827) prägt und die formalen Grundlagen für das Oszillieren zwischen romantischer Sentimentalität und Ironie schafft, manifestiert sich auf der syntakti­ schen Ebene in relativ kurzen Sätzen einfacher Konstruktionsart, durchaus im Sinne des im Biedermeier allgemein beliebten ‚kurzen Stils‘ (vgl. Sengle 1980, 515) und bei gegenseitiger Unterstützung von Metrik und Syntax und weitestgehender Vermei­ dung einer Spannung zwischen Vers und Satz: „Das ist ein Flöten und Geigen, / Trom­ peten schmettern drein; / Da tanzt den Hochzeitreigen / Die Herzallerliebste mein.“ (Heinrich Heine 1827, 99) – So lautet die erste der beiden Strophen des 20. Liedes im Zyklus Lyrisches Intermezzo, in der syntaktisch bündig und metrisch ausgewogen in romantischer Empfindsamkeit die Liebe besungen wird. Mit der zweiten Strophe ver­ düstert sich die eben noch so gute Stimmung: „Das ist ein Klingen und Dröhnen / Von Pauken und Schallmein;  / Dazwischen schluchzen und stöhnen  / Die guten Enge­ lein.“ (Ebd.) Die Musik wird zu Lärm, Euphorie verwandelt sich in Klage, während die zuvor etablierte Form ‚unbeschadet‘ bleibt und als (scheinbar) naiv-sentimentali­ scher Ton in ein Spannungsverhältnis zum Inhalt gerät. Dennoch macht sich auch auf formal-syntaktischer Ebene ein gewisser Bruch bemerkbar, indem der Nominalstil im vorletzten Vers zugunsten zweier Verbformen aufgegeben wird: Wenn die „Engelein“ hier „schluchzen und stöhnen“, sorgt nicht der Bildinhalt per se, sondern auch der die Pointe markierende und intensivierende Stilwechsel für eine ironische Distanzie­ rung von der romantisch-biedermeierlichen Tradition. Eine weniger widerspenstige Auseinandersetzung mit dem Biedermeier prägt das Werk von Adalbert Stifter, dessen literarische Sprache sich ähnlich wie jene von Kleist durch starke Anleihen und Variationen klassischer Formen auszeichnet und der zugleich seinen Stil speziell syntaktisch immer wieder variiert hat. Im Gegensatz zur temporeichen ‚Atemlosigkeit‘ des Heinrich von Kleist ist er allerdings v. a. für die besondere ‚Langsamkeit‘ seines Erzählens bekannt.

2.3 Adalbert Stifter: Der Nachsommer So umfangreich Stifters 1857 erschienenes Werk Der Nachsommer ist, so reduziert bleibt seine Handlungsebene. Die Geschichte des Protagonisten Drendorf ist schnell umrissen; allerdings scheint dem Autor weniger an der dynamischen Strategie des ‚Erzählens‘ gelegen zu sein als an einem ‚Beschreiben‘ im Sinne einer achronischen Darstellung von Welteindrücken (vgl. Sengle 1980, 964 ff.):

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Alles war recht lieb und freundlich auf dieser Reise, die Gespräche waren traulich und ange­ nehm, und jedes Ding, eine kleine alte Kirche, in der einst Gläubige gebethet, eine Mauertrümmer auf einem Berge, wo einst mächtige und gebiethende Menschen gehaust hatten, ein Baum auf einer Anhöhe, der allein stand, ein Häuschen an dem Wege, auf das die Sonne schien, alles gewann einen eigenthümlichen sanften Reiz und eine Bedeutung. (Adalbert Stifter 1857b, 148)

Trotz ihrer Länge erweist sich diese Sequenz als im Grunde recht einfach gebaut. Drei selbstständige Sätze reihen sich parataktisch aneinander, wobei der dritte für den Umfang der Konstruktion verantwortlich ist. Sein Subjekt „jedes Ding“ wird nicht nur appositiv durch Nominalphrasen, sondern jede einzelne von ihnen durch einen expli­ kativen Relativsatz erweitert, bevor mittels Neuanfang  – die Subjektstelle wird mit dem synthetisierenden „alles“ neu besetzt – der Satz zu Ende geführt wird. Exempla­ risch ist diese Textstelle v. a. in Hinblick auf die Relativsätze, die insbesondere wenn sie gehäuft auftreten für eine gewisse Monotonie sorgen. Als syntaktische Form sind sie prädestiniert für den Modus des bedächtigen und minutiösen Erfassens von Welt und die entsprechende ‚Syntax der Langsamkeit‘ (vgl. Eichinger 1996). Trotz dieser im Vergleich mit früheren Werken Stifters zu bemerkenden syntaktischen ‚Beruhigung‘ (vgl. Sengle 1980, 978) nehmen die Sätze in Der Nachsommer durchaus auch komple­ xere Formen an: Da dort der Werth der Zeit sehr hoch angeschlagen, und dieses Gut sehr sorgfältig angewen­ det wurde, so fing ich, wenn ich mir auch bisher einen großen Vorwurf nicht hatte machen können, dennoch an, mit viel mehr Ordnung als bisher nach einem einzigen Ziele während einer bestimmten Zeit hinzuarbeiten, während ich früher durch augenblickliche Eindrücke bestimmt mit den Zielen öfter wechselte, und, obwohl ich eifrig strebte, doch eine dem Streben entspre­ chende Wirkung nicht jederzeit erreichte. (Adalbert Stifter 1857a, 230)

Nebensätze auf verschiedenen syntaktischen Hierarchieebenen sowie Attribute und Adverbiale sorgen für Erweiterungen, die durchaus an das Kleist’sche Prinzip erinnern. Jene Ruhe, die das erste Textbeispiel aufgrund der gleichförmigen Syntax vermittelt, ist nicht mehr zu spüren. Dies steht aber nicht im Widerspruch zum ästhetisch-stilistischen Konzept; vielmehr offenbart sich hier wieder die thematischfunktionelle Bedeutung der syntaktischen Gestaltung. In der Syntax scheint sich das „Streben“ nach „Ordnung“ unmittelbar abzubilden – hier in seiner Prozesshaftigkeit, als Versuch, der noch nicht ganz gelingen mag. Der Ordnungstrieb manifestiert sich aber auch auf ganz andere Weise: in Aufzählungen, Listen und Verzeichnissen. Dass sich dabei die Tendenz zur Aussparung konventioneller Kommata als bedeutungs­ voll erweist, sei anhand der folgenden, hier nur in Ausschnitten wiedergegebenen Sequenz gezeigt: Da ist der schneeige glatte Bergahorn der Ringelahorn die Blätter der Knollen von dunkeln Ahorn […] die Birke von den Wänden und Klippen der Aliz […] die Esche die Eberesche die Eibe die Ulme selbst Knorren von der Tanne der Haselstrauch […] der Walnußbaum die Pflaume der Pfirsich der Birnbaum die Rose. (Ebd., 295)

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Im Anschluss an Vogl (2012) lässt sich die Ausblendung des Kommas in derlei Kon­ struktionen als eine Problematisierung der Zuordnung von Wörtern und Dingen lesen, insofern es zu einer Akzentuierung der Signifikanten komme und diese „scheinbar […] in ihrer referentiellen Dimension ausgestellt“ (Vogl 2012, 291) werden. Demgemäß kommt dem Akt des Benennens auf der Handlungsebene große Bedeutung zu, wenn sämtliche ‚Dinge‘ wie Mineralien, Blumen oder Obstbäume mit Namenstafeln verse­ hen werden. Die Natur gerät zum Museum und der Name verweist letztlich auf die Beschriftung, der Signifikant selbst wiederum auf einen weiteren Signifikanten (vgl. ebd., 293). Unter diesem Blickwinkel zeichnen sich in der Aussparung der Interpunktion und der so ‚entgrenzten‘ Syntax bereits jene sprachphilosophischen Motive ab, die um die Jahrhundertwende virulent werden und die Moderne intensiv beschäftigen werden. Von Stifters systematischer Aufarbeitung der Wirklichkeit wird zunächst aber noch ein Blick auf Gerhart Hauptmanns naturalistisches Konzept der Wirklich­ keitsabbildung und ihre syntaktischen Manifestationen geworfen.

2.4 Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang Mit Hauptmanns 1889 uraufgeführtem Skandalstück Vor Sonnenaufgang steht als Beispiel für den Naturalismus – gemäß der epochenspezifischen Hinwendung zum Medium Theater – ein dramatisches Werk im Mittelpunkt. Stärker noch als dem Rea­ lismus geht es dem als revolutionär propagierten ästhetischen Konzept des Natura­ lismus darum, sich von klassizistischen Stilisierungstugenden abzuwenden, um im Streben nach größtmöglicher Wirklichkeitsnähe an einer naturgetreuen Abbildung der gesprochenen Alltagssprache zu arbeiten (vgl. Kaempfert 2004, 3063 f.). Drehsatz („Ich muß mich zuerscht muß ich mich vor Ihn’n vertefentieren […]“; Gerhart Haupt­ mann 1889, 29), Linksversetzung („Asu enner, dar maust akrat wie a Ilster.“; ebd., 30) und doppelte Verneinung („kenn Toaler nich“; ebd.) sind ebenso wie Interjektionen, Ellipsen und Satzabbrüche etc. syntaktische Strukturen, die als charakteristisch für die gesprochene Sprache gelten und in Vor Sonnenaufgang zusätzlich zur dialekta­ len Lautung der Rede in den Dienst der Abbildung sprachlicher Realität(en) gestellt werden. Dass es bei der mikrostilistischen Gestaltung auch um die Illustration von Charakteren bzw. die Differenzierung sozialer Milieus geht, offenbart sich im Ver­ gleich von zwei extremen Figuren bzw. deren Sprechweisen: Glänzt die Gesellschafte­ rin der Bauersfrau in dialektalem, graphisch durch eine Flut von Zeichen markiertem Gestammel mit Kasusfehlern („… sie ist […] mit Sie verlobt“; ebd., 72), bevorzugt der Ingenieur Hoffmann eine standardsprachliche Ausdrucksweise, zeigt sich kompetent im Umgang mit komplexen Satzstrukturen (vgl. ebd., 19 f.) und beweist eine gewisse Souveränität, wenn er mit vorangestelltem Genitiv eine Gesellschaft, „die trockenen Gaumens beisammenhockt“ (ebd., 33), als „verzweifelt“ bezeichnet.

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Die Sprache des naturalistischen Theaters ist damit denkbar weit entfernt von jenen klassizistischen Versdramen, die noch im Realismus verbreitet waren. Ihre revolutionäre Kraft verdankt sie nicht zuletzt der Syntax, die Entscheidendes leistet, um den Kunstcharakter der Sprache zu überwinden und die literarische Sprache viel­ mehr authentischer Mündlichkeit bzw. den Sprechweisen spezieller Milieus anzu­ nähern. Ganz andere Ziele verfolgen hingegen jene Strömungen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in bewusste Opposition zur Ästhetik des Naturalismus stellen, wie das Beispiel von Stefan George, einem der bedeutendsten Vertreter des in Frankreich entstandenen literarischen Symbolismus, zeigt.

2.5 Stefan George: Ein Hingang Mit der symbolistischen Ablehnung des Alltäglichen bzw. der wirklichkeitsgetreuen Sprechweisen und dem neuen Interesse an den Bilderwelten des Traum- und Mär­ chenhaften gewinnen stilistische Mittel wie Klangmalerei, Assonanzen, Rhythmen, Reime etc. an Bedeutung, wofür sich die Lyrik als die bevorzugte Gattung erweist. Die erste Strophe des Gedichts Ein Hingang aus dem Band Hymnen weist die wesentlichen Merkmale von Satzbau und Zeichensetzung von Stefan Georges lyrischem Frühwerk auf: Die grauen buchen sich die hände reichen Den strand entlang · vom wellendrang beleckt Dem gelben saatfeld grüne wiesen weichen · Das landhaus unter gärten sich verdeckt. (Stefan George 1890, 19)

Auffällig ist, von der Kleinschreibung der Substantive abgesehen, zunächst die Zei­ chensetzung, die sich auf drei Punkte beschränkt. Von den drei Punkten entspricht allerdings nur der letzte dem konventionellen Abschlusssignal; bei den beiden Hoch­ punkten stellt sich die Frage, welche Funktion sie erfüllen: die eines Anknüpfungs­ zeichens im Sinne des Kommas oder die eines Schlusszeichens wie der Punkt auf dem Zeilengrund? Hinzu kommt, dass syntaktische Einheiten ausgerechnet an diesen Stellen markiert werden, während ansonsten auf Zeichen verzichtet wird. Ein sorgfäl­ tiger Umgang mit der Interpunktion bzw. eine allgemeine Reduktion der Zeichen mit einer deutlichen Vorliebe für den Punkt – insbesondere den Hochpunkt und die auf zwei Punkte verkürzte Dreipunktreihe – sind jedenfalls charakteristisch für George, der auf diese Weise nicht nur seine Distanz zur Alltagssprache signalisiert, sondern v. a. die Aufmerksamkeit der Leser radikal herausfordert und die Verrätselung seiner Lyrik forciert (vgl. Martus 2012). Bei den syntaktischen Strukturen selbst handelt es sich jedoch um völlig intakte Sätze, an denen allenfalls die Verbletztstellung über­ rascht. Sie steht im Dienste von Reim und Rhythmus und verleiht dem Gedicht seinen hymnisch-pathetischen Ton bzw. eine traditionell-klassizistische Ästhetisierung. Das

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innovative Moment dieser literatursprachlichen ‚Variation‘ geht also von der Zeichen­ setzung aus, die Georges Sprachstil ‚entgrenzt‘, und zwar in mehrfacher Hinsicht, über den bereits erwähnten rezeptionsästhetischen Effekt einer massiven Irritation von Lesegewohnheiten und Normvorstellungen hinaus. So ist etwa der Punkt selbst ein Grenzgänger: Multifunktionell einsetzbar (als Abschlusssignal am Satzende, als Verbindungselement in vertikaler Aufzählungsreihe), ist er ferner mit anderen Zeichen (zu Semikolon, Frage- oder Ausrufezeichen) kombinierbar und außerdem Teil verschiedener Notationssysteme (vgl. ebd., 305). Hingewiesen sei schließlich noch auf die in Georges poetischer Zeichensetzung manifeste Verbindung von Tradi­ tion und Avantgarde. Es werden durchaus historische Formen (etwa der in Antike und Mittelalter gebräuchliche Hochpunkt) und konventionelle Zeichen aufgegriffen, um die Konvention im individuellen literarischen Gebrauch zu subvertieren (vgl. ebd., 308; 316). George, von Mallarmé in seiner Kunstauffassung des l’art pour l’art beein­ flusst, baut also bereits auf jenes Prinzip, das die literarischen Experimente im frühen 20. Jahrhundert für sich entdecken werden, wenn es darum geht, Lösungen für die ‚Sprachkrise‘ der Moderne zu erarbeiten.

3 Die Jahrhundertwende und ihre syntaktisch-­ stilistischen Folgen Mit der Empfindung eines Bruchs zwischen Sprache und Subjekt erreicht die Tra­ dition der kritischen Reflexion über Sprache um 1900 einen Höhepunkt. Eine tiefe Skepsis an den Möglichkeiten der Sprache in ihrer Funktion des Verweisens auf die Welt und als Vermittlerin zwischen sprechendem Ich und zu bezeichnenden Dingen lässt die Sprache zum bevorzugten Thema in der Literatur avancieren und löst eine enorme Erweiterung des literatursprachlichen Formenrepertoires aus. Dabei intensi­ viert sich die Affinität zum experimentellen Spiel, wofür sich die syntaktische Ebene als besonders attraktiv und geeignet erweist. Frühe satzstilistische Experimente, die das futuristische Postulat der Zerstörung der Syntax aufgreifen, findet man in der expressionistischen Lyrik, etwa bei August Stramm, der den epochenspezifi­ schen Ausdruckswillen – Intensität, Dynamik, Vision und Schrei lauten die zentra­ len Begriffe – in radikal verknappten Verszeilen umzusetzen sucht. Es sind Ansätze einer „Durchbrechung sprachlicher Normen und Regeln sowohl unter semantischen als auch unter grammatischen Gesichtspunkten“ (Roelcke 2004, 3102), die im Dada­ ismus schließlich noch einmal überboten wird. Das insbesondere durch Hugo Ball berühmt gewordene Lautgedicht führt dies eindrücklich vor, indem unübliche Laut­ kombinationen an die Stelle von lexikalischen Einheiten gesetzt und damit sämtli­ che Konventionen des Sprachgebrauchs desavouiert werden. In dieser Tradition steht auch die Lyrik von Kurt Schwitters.

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3.1 Kurt Schwitters: Himbeerbonbon „Konfitüren sinken Nächte die elegante Frau“ (Kurt Schwitters 1921, 82). Bereits der erste Vers des Gedichts Himbeerbonbon präsentiert die syntaktische Nonchalance des Merz-Künstlers Schwitters. Abgesehen davon, dass die sechs Wörter in einer Zeile stehen, sind sie in keinen Zusammenhang zu bringen. Schwierig ist zunächst die Suche nach dem Subjekt: „Konfitüren“ oder „Nächte“? Beide Varianten erscheinen semantisch gleichermaßen zweifelhaft. Dass das Verb hier im Infinitiv steht und die Keimzelle der aufgelösten syntaktischen Beziehungen bildet, scheint sich mit Blick auf die Einheit „die elegante Frau“ zu bestätigen. Sie ist ebenso wenig als Satzglied zu bestimmen, selbst wenn man den nächsten Vers zu Hilfe ruft, d. h. ihr die Präpositio­ nalphrase „In Pulverform“ (ebd.) im Sinne einer Ellipse prädiziert, zumal auch diese Lösung semantisch wenig Überzeugungskraft hat. Wenn es in Schwitters’ Gedicht auf diese Weise immer wieder zu fragen gilt, ob und inwiefern zwischen dem miteinander kombinierten Wortmaterial syntaktische Beziehungen bestehen, wird deutlich, dass es um eben dieses Irritationsmoment geht und die spielerische Unterwanderung bzw. Verhinderung des satzgrammatischen Einklangs das eigentliche Ziel ist. Ab der Jahrhundertmitte werden diese Mechanismen syntaktischer Entgrenzung von der Konkreten Poesie in „sprachunüblichen Segmentierungen, Substitutionen und Transformationen“ (Roelcke 2004, 3103) radikalisiert, um das ‚konkrete‘ Wort und den Materialcharakter der Sprache auszustellen. Seit den frühen Ansätzen sind es allerdings äußerst exklusive Kreise, die in dieser experimentellen (lyrischen) Tradition schreiben, während sprachlich-konservative Tendenzen weiterhin vorherrschen und die moderne Literatur abseits der Lyrik vielmehr „innerhalb der seit der Goethezeit abgesteckten Grenzen der Literatursprache“ (Kaempfert 2004, 3065) bleibt. Dass aber auch jene Autoren, die sich nicht der avantgardistischen Ablehnung sprachlicher Kon­ ventionen anschließen, stilistisch insbesondere auf der Satzebene operieren und bis­ weilen auch (Stil-)Konven­ti­onen überschreiten, zeigt etwa das Werk von Thomas Mann.

3.2 Thomas Mann: Der Tod in Venedig Im Gegensatz zur experimentellen Reduktion und Auflösung des Satzes steht Thomas Manns Affinität zu komplexen Formen und einer elaborierten Sprache, wie sie insbe­ sondere die 1911 entstandene Novelle Der Tod in Venedig prägt: Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden, hatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden Triebwerkes in seinem Innern, jenem „motus animi continuus“, worin nach Cicero das Wesen der Beredsamkeit besteht, auch nach der Mittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun vermocht und den entlastenden Schlummer nicht gefunden, der ihm, bei zunehmender Abnutzbarkeit seiner Kräfte, einmal untertags so nötig war. (Thomas Mann 1912, 444)

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Es handelt sich hier um den zweiten Satz der Erzählung, der in die Situation des Pro­ tagonisten Gustav von Aschenbach einführt und der in Umfang und struktureller Komplexität den Kleist’schen Formen in nichts nachsteht, vielmehr Manns Faszina­ tion von diesem Stil vor Augen führt (vgl. Mann 1954). Markant ist hier die aufwändige Vorfeldbesetzung durch die selbst attributiv stark erweiterte Partizipgruppe „Über­ reizt von der schwierigen und gefährlichen […] Arbeit der Vormittagsstunden“ – eine syntaktische Überladung, die der Illustration des Geschehens dient. Berichtet wird von einem Schriftsteller, der ‚überreizt‘ von seinem eigenen Arbeitseifer nicht zur Ruhe kommt und nun  – so erfährt man im vorhergehenden Satz  – bei einem Spa­ ziergang Ausgleich sucht. Der hohe Stil dieser Passage ist überdies ganz und gar auf Aschenbach und seine ästhetischen Ansprüche abgestimmt: Wenn man im zweiten Kapitel näher mit ihm und seiner Arbeit vertraut gemacht wird, ist u. a. die Rede von einer „adelige[n] Reinheit, Einfachheit und Ebenmäßigkeit der Formgebung“, die seinem Werk ein „Gepräge der Meisterlichkeit und Klassizität“ (Thomas Mann 1912, 455) verleihe. Entsprechende formale Reflexe sind indes nicht nur in der Syntax zu finden, sondern auch in der Struktur der fünf Kapitel, die sich am Aufbau der klas­ sischen Tragödie orientiert, sowie in der Anlehnung an den Mythos der griechischen Antike. Dieses (neu-)­klassische Formbewusstsein gewinnt eine weitere Ausdrucks­ dimension, wenn Aschenbach im vierten Kapitel seinen Gefühlen für den schönen Jüngling Tadzio gänzlich zu erliegen scheint. Der Novellentext gerät zu einem hymni­ schen ‚Gesang‘, indem der Prosarhythmus wiederholt in einen hexametrischen über­ geht. Galvan (2008) zeigt dies u. a. anhand der folgenden Sätze, die hier zur Verdeut­ lichung in Versform, die betreffenden Stellen kursiv gesetzt, umgewandelt sind: Nun lenkte Tag für Tag der Gott mit den hitzigen Wangen nackend sein gluthauchendes Viergespann durch die Räume des Himmels, und sein gelbes Gelock flatterte im zugleich ausstürmenden Ostwind. Weißlich seidiger Glanz lag auf den Weiten des träge wallenden Pontos. (Thomas Mann 1912, 486)

Durch die Verssetzung offenbart sich der Text in einer eigenen Struktur, die unab­ hängig von der syntaktischen existiert. Das Sprachmaterial wird nach einer neuen, dem Rhythmus verpflichteten Ordnung arrangiert und überwindet dabei den Satz bzw. löst seine Grenzen auf. Eine Analogie zur sprachphilosophisch inspirierten Zer­ störung der Syntax in den avantgardistischen Sprachexperimenten zu sehen, wäre hier aber verfehlt. Das versteckte Versmaß des antiken Epos ist Teil eines umfassen­ den klassizistischen Ästhetikprogramms, dessen Funktionalität v. a. der inhaltlichen Ebene gilt. In der stilistischen Überhöhung des vierten Kapitels erhält die sprach­ liche Gestaltung – nicht zuletzt die syntaktische Ebene – sogar erzählstrukturellen Wert. Paradoxerweise ist es ausgerechnet das strenge klassische Formenrepertoire, das für Unmittelbarkeit zu sorgen vermag, wenn sich darin eine interne Fokalisie­ rung manifestiert und der Erzähltext immer stärker in Aschenbachs Erleben aufzu­ gehen scheint. Gelegentliche Wechsel hinsichtlich Satzmodus und -umfang in Form

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von Frage- und Ausrufesätzen erzeugen weniger Brüche als vielmehr Unmittelbar­ keit. Ein Bruch erfolgt jedoch im letzten Absatz, wenn Syntax und Interpunktion die Innensicht beenden, als Tadzio Aschenbach ein Lächeln schenkt: „Der, welcher dies Lächeln empfangen, enteilte damit wie mit einem verhängnisvollen Geschenk.“ (Ebd., 498) Die Aufspaltung des Subjekts in Demonstrativpronomen und Relativsatz schafft Distanz, ebenso wie die explizite Kennzeichnung der direkten Rede, wenn Aschenbach den Jüngling mit den Worten „‚Du darfst so nicht lächeln! […]‘“ (ebd.) anfleht und das Kapitel schließlich in dem Liebesgeständnis „‚Ich liebe dich!‘“ (ebd.) mündet. Syntax und Zeichen können damit als Manifestationen jener Ironie gelesen werden, die der Figur Aschenbach als dem Typus des alternden, in homoerotischen Sehnsüchten schwelgenden Schriftstellers und nicht zuletzt Repräsentanten einer rigorosen Neuklassik eingeschrieben ist (vgl. Kurzke 1985, 119 f.). Thomas Manns Umgang mit der Syntax markiert einen Gegenpol zu den expres­ sionistischen und dadaistischen Experimenten. Die Vielfalt sprachlicher bzw. syntak­ tischer Formen, die im ‚Dazwischen‘ anzusiedeln sind, darf deshalb nicht unerwähnt bleiben. Trakl, Kafka, Musil, Horváth und Brecht – stellvertretend für so viele andere genannt  – reagieren alle auf ihre Weise auf die moderne Krisenerfahrung und ver­ leihen den Spielarten in der modernen Literatur schon in ihren Anfängen eine (syn­ taktisch-)stilistische Breite, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch einmal steigern wird.

4 Explosion von Formen, Variationen und ­Entgrenzungen ab 1950 Wenn sich die moderne Vielfalt der literarischen Stile in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts ins Unüberschaubare auffächert, wird die Suche nach einem gemeinsamen Nenner umso schwieriger. Bettens umfassender „Überblick über die wichtigsten Erscheinungsformen der Literatursprache nach 1945“ (Betten 2004b, 3118) zeigt u. a., welche Bedeutung der Syntax in sämtlichen literarischen Gattun­ gen als Stilmittel zukommt. Stellvertretend genannt seien Paul Celan und die nicht zuletzt auf einer syntaktischen Auflösung von Versen beruhende ‚Hermetik‘ seiner Lyrik, oder Uwe Johnson, der in seinem Debütroman Mutmaßungen über Jakob v. a. mit Sprecherperspektiven und Stilzügen experimentiert, was sich auf der Satzebene etwa in einer sich den gängigen Stilkonventionen widersetzenden Bevorzugung der Parataxe und in einer freien Interpunktion (Wortketten ohne Kommatrennung) nie­ derschlägt. Für die Dramensprache ist z. B. auf Friedrich Dürrenmatt und das Prinzip der Verknappung als zentrales Kunstmittel hinzuweisen. Als Repräsentantin der DDR-Literatur sei Christa Wolf genannt, deren Bemühen um eine Emanzipation von der Kulturpolitik des sozialistischen Realismus sich sprachlich und auch syntaktisch in einer Entwicklung hin zu immer komplizierteren Formen manifestiert. Im Zuge der

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allgemeinen Politisierung von Gesellschaft und Literatur bringt außerdem das Drama neue, satzstilistisch interessante Formen hervor, wie Kroetz’ speziellen ‚Realismus‘ im Neuen Volksstück, basierend auf dem Arrangement von Mitteln der Mündlichkeit zu einem höchst artifiziellen Code. Ebenso kursorisch hingewiesen sei schließlich auf die Lyrik der 70er und 80er Jahre, deren stilistische Vielfalt zwischen „Alltagslyrik […] in Alltagssprache (einschließlich aller Formen von Dialekten und Jargons)“ und „postmoderne[n] Wort- und Schreibspiele[n]“ (ebd., 3151) weiter fortschreitet. Die stilistische Spannbreite ist groß, weshalb für die folgenden Betrachtungen ein spezieller Fokus gesetzt wird. Im Mittelpunkt stehen vier Prosabeispiele der öster­ reichischen Literatur, die sich, wie häufig betont wird, durch eine besondere Kon­ zentration auf die Sprache auszeichnet (vgl. etwa Schmidt-Dengler 1995, 234 ff.) und in der deshalb auch besonders charakteristische Formen syntaktischer Gestaltung aufzufinden sind. In unmittelbarem Zusammenhang steht dies mit dem großen Ein­ fluss, den die bereits erwähnte Konkrete Poesie ab den 1950er Jahren, als avantgar­ distisches Gegenprogramm zur Restauration der Nachkriegszeit an frühere Experi­ mentalstile anschließend, auf die weiteren literatursprachlichen Entwicklungen in Österreich genommen hat. Zu nennen sind hier v. a. die Arbeiten der ‚Wiener Gruppe‘ um Artmann, Achleitner, Rühm, Wiener und Bayer, in deren Umkreis sich auch Frie­ derike Mayröcker bewegt hat.

4.1 Friederike Mayröcker: Minimonsters Traumlexikon Das frühe literarische Schaffen Friederike Mayröckers – neben Prosa und Lyrik ent­ stehen (z. T. gemeinsam mit Ernst Jandl verfasste) Hörspiele  – ist ganz dem forma­ len Experimentieren mit der Sprache gewidmet; so auch Minimonsters Traumlexikon, 1968 erschienen, das insgesamt 29 kürzere Texte in Prosa versammelt. Aus einem von ihnen stammt das hier ausgewählte Textstück: Traum’as Nachträge: alles bindend, wenn auch heikel in Vertrautheit (fraunhaar), trockne Fie­ derung. Determination »stelz«, jetzt hier, jetzt dort & einmal aus dem Haus, wars ein herrlicher Weg. weiterwelken und deren Formen: Malaya, Java Baumlieb. hörn gut, trippeln Zähne. Panama als Unterholz. wenn Sternschild gatt. ampelmenschen für die Heimat als liebt, als willig als flor als Eugenie. (Friederike Mayröcker 1968, 83)

Der Einfluss der sprachexperimentellen Avantgarde ist mehr als augenfällig, wenn der Satzbau hier in Verbindung mit einer bisweilen befremdlichen Lexik, einer will­ kürlich erscheinenden Groß- und Kleinschreibung und nicht zuletzt der unortho­ doxen Zeichensetzung zum Experimentierfeld gerät. Das Prinzip der syntaktischen Reduktion ist offensichtlich, aber nicht so radikal, dass man behaupten könnte, es handle sich um eine Aneinanderreihung isolierter bzw. ‚konkretisierter‘ Wörter. Zu erkennen sind neben kleineren Einheiten wie der Nominalgruppe „trockne Fiede­ rung“ oder der Präpositionalphrase „für die Heimat“ durchaus auch satzwertige Kon­

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struktionen: „jetzt hier, jetzt dort & einmal aus dem Haus, wars ein herrlicher Weg“ ist z. B. eine satzgrammatisch intakte Sequenz. Dass hinsichtlich der ‚Botschaft‘ Fragen offen bleiben, ist indes Programm: Die Autorin selbst erklärt, dass sie „in der experi­ mentellen Phase eben nichts ‚ausdrücken‘ wollte“, dass vielmehr eine „große Lust am Manipulieren“ (Schmidt 1984, 273) ihr Schreiben bestimmt habe. Ein konventionel­ les, auf eine ‚Mitteilung‘ ausgerichtetes Lektürebedürfnis wird damit enttäuscht bzw. massiven Irritationen ausgesetzt, v. a. wenn das Sprachmaterial strukturelle Bezie­ hungen andeutet, diese sich jedoch als syntaktisch-semantische Sackgassen entpup­ pen. So wird etwa das Element „wenn“ in „wenn Sternschild gatt.“ dazu verleiten, die Sequenz als Nebensatz zu lesen, um ihn in einen größeren Strukturzusammenhang einzubetten. Im gegebenen Kontext kann dies allerdings nicht gelingen, zumindest nicht, wenn auch das Bedürfnis nach einer ‚sinnvollen‘ Aussage befriedigt werden soll. Obgleich sich die Autorin Anfang der 1970er Jahre größeren Prosaformen und dabei verstärkt dem Problem des ‚Erzählverhaltens‘ zuwendet, gibt sie das mikro­ stilistische Spiel mit (satz-)grammatischen Konventionen nicht ganz auf, wie Bettens (2008) linguistische Analyse von Reise durch die Nacht (1984) u. a. zeigt. Es sind nicht zuletzt Syntax und Interpunktion, die Mayröckers vielzitiertes Diktum der ‚Vermei­ dung‘ einer ‚Story‘ unterstützen. Gegen traditionelle Formen des Erzählens wendet sich auch der ‚Geschichtenzerstörer‘ Thomas Bernhard.

4.2 Thomas Bernhard: Das Kalkwerk Unverwechselbar ist Thomas Bernhards Schreibstil, v. a. die Vorliebe für verschach­ telte und Motive förmlich ‚einkreisende‘ Sätze. In der Vielfalt der stilistischen Mittel, deren er sich bedient, hat die Satzebene einen besonderen Stellenwert (vgl. Betten 1998). Ein kleiner Ausschnitt aus dem syntaktischen Formenrepertoire und dem mimetischen Charakter sei anhand von Das Kalkwerk gezeigt. Im Mittelpunkt des 1970 erschienenen Romans steht die Figur Konrad und seine durch jahrzehntelange falsche Medikamentenbehandlung schon beinahe gänzlich ver­ krüppelte, die Hälfte ihres Lebens in einem speziell für sie konstruierten französischen Kranken­ sessel hockende Frau, eine geborene Zryd, der jetzt, wie Wieser sagt, nichts mehr weh tue […]. (Thomas Bernhard 1970, 7)

Es ist das für Bernhard typische Verfahren der Nominalattribution, mit der er Konrads Frau hier einführt und umfassend vorstellt: zunächst mittels linksversetztem Attri­ but, bestehend aus zwei in sich durch Adverbiale angereicherte Partizipialkonstruk­ tionen, dann mit einer Apposition, die ihrerseits durch einen Relativsatz erweitert ist. Mit dem Konjunktiv der indirekten Rede und der eingeschalteten Inquitformel, die das Gesagte als Information aus anderer Hand ausweisen, begegnet man hier

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außerdem einem charakteristischen Merkmal des Bernhard’schen Erzählstils. Dass der zitierte Ausschnitt einer einzigen Satzgliedeinheit entspricht, macht der ‚Satzrest‘ deutlich, der darüber aufklärt, dass Konrad „seine […] Frau […] im Umgang mit einem Mannlicher-Karabiner angelernt“ (ebd., 7 f.) und sie damit erschossen habe. In der Rekonstruktion der Geschichte zeigt sich schließlich, dass das Experimentieren mit Sätzen auch inhaltlich eine zentrale Rolle spielt: Vor ihrem Tod hat Konrad an seiner wehrlosen Frau für eine Studie über das Gehör Sprechexperimente durchgeführt und ihr unablässig Sätze vorgesagt. Kommentiert wird diese Leidenschaft folgenderma­ ßen: Man könne auch sagen, das alles sei verrückt, aber dann müsse man auch sagen, daß alles ver­ rückt sei, in Wahrheit sei auch alles verrückt, aber kein Mensch getraue sich zu behaupten, alles sei verrückt, denn dann behaupteten alle, er, der das behaupte, sei verrückt und in der Folge würde sich alles von selbst aufhören, nach und nach von selbst aufhören, soll Konrad gesagt haben. (Ebd., 101)

Die Prinzipien Wiederholung und Variation lassen diesen Satz um das Motiv der Ver­ rücktheit kreisen und insofern es sich um eine indirekte Redewiedergabe handelt, offenbart sich umso mehr die mimetische Funktion: Konrad ist ein Besessener und in der syntaktischen Gestaltung wird dies überdeutlich spürbar. So sehr Bernhards Texte die Leserschaft bisweilen an ihre stilistischen Schmerz­ grenzen treiben, Sprachmaterial bzw. grammatische Regeln bleiben jedenfalls unver­ letzt (vgl. Betten 2006, 343 f.). Es ist ein individueller Stil, der aus verschiedenen Richtungen – von klassischen Formen bis zu zeitgenössischen sprachexperimentel­ len Tendenzen – Impulse bekommen haben mag, der sich aber keinem Konzept ver­ pflichtet. Dies verbindet Bernhards Schreibweisen mit Marie-Thérèse Kerschbaumer, die sich auf wiederum eigene (satz-)stilistische Weise zwischen Avantgarde und Tra­ dition bewegt.

4.3 Marie-Thérèse Kerschbaumer: Versuchung Es mag kaum ein literarisches Werk geben, in das sich die Tradition der Sprachrefle­ xion so intensiv eingeschrieben findet, wie jenes von Marie-Thérèse Kerschbaumer. Neben zeitgenössischen Experimentalstilen ist es ein spezielles wissenschaftliches Interesse an der Sprache – sie hat mit einer Dissertation über syntaktische Phäno­ mene im Rumänisch promoviert  –, die ihre Schreibweisen maßgeblich beeinflusst haben. Als eine Reihe stilistischer ‚Etüden‘ präsentiert sich das Œuvre (vgl. Wörgöt­ ter 2016), wobei Satz und Zeichen stets große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ver­ bunden mit typografischen Variationen zeigt sich dies insbesondere in Versuchung (1990):

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Macht und Ohnmacht (Welt) aus Sprache/(Welt) der Sprache: blockade: Kuba (erinnerst du) Berlin (erinnerst du) Nicaragua (erinnerst du). Waffen: blockade (an Spaniens Grenzen) nur im Norden/seewärts (und über Lusitanien (stahl/gewitter(t)/und) Spaniens Gold blockiert in Frankreich/die Inter brigaden blockiert in Frankreichs (Schlamm)/bewacht von moros (erin­ nerst du) […]. (Marie-Thérèse Kerschbaumer 1990, 28)

Das Sprachmaterial wird in avantgardistischer Manier segmentiert, Zeichen zerha­ cken den Text förmlich in Satzfragmente und Wortfetzen. Dabei geht es zum einen um den poetologischen Aspekt einer kritischen Auseinandersetzung mit der Mittei­ lungsfunktion der Sprache; zum anderen manifestiert sich darin das für Kerschbau­ mers Schreiben so zentrale Prinzip der Kongruenz von Form und Inhalt: Das Thema Krieg – eine österreichische Frau begibt sich auf Spurensuche nach den Internatio­ nalen Brigaden des Spanischen Bürgerkriegs – scheint sich in dem ‚versehrten‘ Text unmittelbar abzubilden. Die Zeichenflut hinterlässt jedoch nicht zwingend eine zer­ störte Syntax: […] und da man die Autorität des haager Gerichtshofs schon seit Jahren nicht mehr anerkenne sieht (washington) der Vernichtung der (praktisch lahmgelegten) Wirtschaft des aggressiven kleinen Landes (nicaragua) gelassen entgegen – (Ebd.)

Der nicht nur vollständige, sondern auch relativ komplex gebaute Satz weist darauf hin, dass Kerschbaumer dem avantgardistischen Konzept nicht bedingungslos folgt. Rückbezüge auf die ‚klassische Moderne‘ oder die griechische Antike prägen das gesamte Werk, auch und v. a. sprachlich. Im Falle von Versuchung zeigt sich dies u. a. an der Zeichensetzung, wenn die Verwendung des Schrägstrichs die historische Inter­ punktionsform der Virgel in Erinnerung ruft. So vielfältig die literarischen Bezugspunkte sind, so variationsreich präsentiert sich Kerschbaumers literarische Sprache. Satzstilistisch evident wird dies etwa in der Gegenüberstellung von Versuchung und dem völlig interpunktionslosen und damit syntaktisch buchstäblich ‚entgrenzten‘ Debütroman Der Schwimmer. In der thematisch-funktionellen Bedingtheit der Stilentscheidungen und in der bewussten Vermeidung stilistischer Kontinuität überrascht Kerschbaumers Werk durch ständige Formvariation und unvorhersehbare Richtungswechsel. Überschaubarer, zumindest auf den ersten Blick, präsentiert sich diesbezüglich das Œuvre von Peter Handke mit der um 1980 vollzogenen Wende vom avantgardistischen Sprach-Spiel zu einer neo­ klassischen Sprachhaltung.

4.4 Peter Handke: Die Wiederholung Erzähler des Buchs Die Wiederholung (1986) ist Filip Kobal. Er erinnert sich an seine Kindheit sowie an eine Jugoslawienreise, die er als junger Erwachsener unternommen hat, um nach seinem verschollenen Bruder zu suchen:

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Hatte ich, vor dieser Reise, zuhause bei klarem Wetter südwärts geblickt, so konnten unter dem blauenden Himmel jenseits des Grenzkamms nur die farbenprächtigsten Städte liegen, von kleinem Hügelzug behindert sich ausbreitend in einer weiten Ebene und ineinander übergehend bis hinunter ans Ufer des Meers. (Peter Handke 1986, 126)

Anspruchsvolle syntaktische Mittel erzeugen  – neben anderen  – jenen hohen Ton, der Leserinnen und Leser des ‚frühen Handke‘ überraschen mag. Neben den hier dominanten kunstvollen adverbialen und attributiven Erweiterungen begegnet man häufig auch komplexen Verschachtelungen, rhetorischen Figuren etc. Ein gewisses Pathos stellt sich in der Elaboriertheit der Sprachverwendung ein, darf jedoch nicht als restaurative ‚Pose‘ missverstanden werden (vgl. Schmidt-Dengler 1995, 503 f.). Und obgleich es über Handkes Text viel mehr zu sagen gibt, als ihn hinsichtlich seiner syntaktischen Mittel auf klassizistisch Anmutendes zu reduzieren, ist die Form doch mehr als nur ein Detail am Rande. Es ist ein explizites ‚Bemühen‘ um ‚Schön­ heit‘ und ‚Klassisches‘ (vgl. Handke 1980, 157 f.), das eine wichtige Wende in Handkes Werk markiert (vgl. Höller 2013) und dem es nicht zuletzt um eine Emanzipation von der radikalen Skepsis an der Sprache (wie etwa 1968 im Sprechstück Kaspar) und am Erzählen (wie in Der Hausierer von 1967) geht. Als Repräsentantin dieser neuen Klassik ist Die Wiederholung sprachlich-stilistisch besonders anspruchsvoll. Trotzdem scheint das Misstrauen früherer Zeiten nicht ganz überwunden, wenn die Erzählung „[i]m Schlaf“ zur gewalttätigen Angreiferin personifiziert wird, derentwegen „alle Sätze mittendrin abgebrochen, verworfen, verstümmelt, verballhornt, für ungültig erklärt“ (Peter Handke 1986, 109) werden müssen. Kobal ringt mit dem Erzählen und der Sprache, wovon in seinem Bericht allerdings nichts zu bemerken ist, im Gegen­ teil, seine Sätze sind rhetorisch ausgefeilt und alles andere als verstümmelt; verschie­ dene Formen der Attribution sorgen für syntaktische Erweiterung und Komplexität: Der Erzähler in mir, eben noch wahrgenommen als der heimliche König, schuftete, ins Traum­ licht gezerrt, dort als stammelnder Zwangsarbeiter, aus dem kein brauchbarer Satz herauskam, in der nur mit dem Tod zu beendenden Umklammerung der zum Ungeheuer aufgewachsenen Erzählung, mit wachen Sinnen doch empfunden als die Sanftheit selbst. Der Geist der Erzäh­ lung – wie böse konnte er werden! (Ebd., 109 f.)

Größer könnte die Diskrepanz zwischen dem Gesagten und der dafür gewählten Form wohl kaum sein, was sich durchaus als Vorbote auf das versöhnliche Ende verste­ hen lässt: „Es lebe die Erzählung. Die Erzählung muß weitergehen.“ (Ebd., 333) Am Ende hat das Vertrauen in Sprache und Erzählen – ganz im Sinne der klassizistischen Wende des Autors – die Oberhand gewonnen.

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5 Schluss Handke ist hier bewusst Endpunkt einer Reihe von Beispielen, die bereits zum all­ gemeinen Kanon gezählt oder gar als sogenannte ‚Klassiker‘ geführt werden. Seine programmatische Rückkehr zur Klassik führt außerdem den Blick auf Formen, Vari­ ationen und Entgrenzungen von Satz und Satzzeichen in der Literatur wieder zu seinem Ausgangspunkt und darin manifestiert sich noch einmal verdichtet, was die ausgewählten ‚Stilproben‘ gezeigt haben: die anhaltende Bedeutung des Klassi­ zismus als formaler Bezugspunkt für nachfolgende Generationen. So innovatorisch und revolutionär die verschiedenen literarischen  – epochenspezifischen oder indi­ vidualstilistischen – Ansätze hinsichtlich Satz und Satzzeichen sein mögen, speisen sie sich doch stets aus einer unmittelbaren oder aber indirekten Rückbesinnung auf die klassizistischen Formen. Insbesondere Kleists Affinität zu komplexen, bisweilen durch enorme Satzgliederweiterungen überladenen Satzstrukturen hat sich als eine Konstante herauskristallisiert, die verschiedene Interpretationsentwürfe nach sich gezogen hat – von Stifters moderateren Variationen und Georges lyrischen Adapta­ tionen über Manns hochstilisierte Wiederentdeckung bis zu Bernhards stilistischen Grenzgängen und Handkes ‚Wiederholung‘ des klassisch Schönen. Damit scheinen Hauptmanns syntaktische Formen zunächst gar nichts zu tun zu haben, zumal sie als Manifestationen des naturalistischen Konzepts vorderhand als Deviationsbestre­ bungen im Sinne einer Abgrenzung gegenüber dem Realismus motiviert gelten. Dass bei den innovativen und revolutionären Formen dennoch stets der Klassizismus als Folie dient, wird mit den Experimenten des 20.  Jahrhunderts evident, wenn es bei der literarischen Zerstörung der Syntax und dem Sätze entgrenzenden Umgang mit den Zeichen nicht zuletzt um eine Zerschlagung der ‚klassischen‘ bildungsbürgerli­ chen Normen und Stilideale – an sich und in der Literatur – geht. Darüber hinaus ergibt sich von Hauptmanns naturalistischem Bemühen um wirklichkeitsgetreue Sprechweisen eine überraschende Querverbindung zu Handkes ‚neuer Klassik‘. Im Bestreben, eine neue Form des Epos zu schaffen, basiert Handkes Konzept des Erzählens ebenfalls auf einer Faszination von Mündlichkeit, hier im Sinne der münd­ lichen Überlieferung, von wo aus sich wiederum Korrespondenzen mit Heines Lei­ denschaft für den Volksliedton ergeben. Mit dem Hinweis darauf, dass es wert wäre, weiter nach derlei Spannungsverhältnissen zwischen den genannten Beispielen zu fragen, sei abschließend eine Besonderheit erwähnt, die speziell die für die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts ausgewählten Autorinnen und Autoren auszeichnet, obgleich sie sich bereits bei George vorbereitet findet: die stilistische Manifestation einer bewussten Auseinandersetzung mit der Simultaneität von Avantgarde und Tra­ dition. So individuell die Schreibweisen im konkreten Text sind und so unterschied­ lich die stilistischen Entwicklungswege von Mayröcker, Bernhard, Kerschbaumer und Handke verlaufen  – Avantgarde und Tradition beeinflussen einander wechselseitig und gehen in der Arbeit an Formen, Variationen und Entgrenzungen von Satz und Zeichensetzung jeweils eine künstlerisch produktive Verbindung ein.

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6 Literatur 6.1 Primärliteratur Bernhard, Thomas (1970): Das Kalkwerk. Roman. In: Ders.: Werke in 22 Bänden. Bd. 3. Hg. v. Renate Langer. Frankfurt a. M. 2004. George, Stefan (1890): Ein Hingang. In: Ders.: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Bd. 2. Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal. Stuttgart 1987, 19. Handke, Peter (1980): Das Ende des Flanierens. Frankfurt a. M. Handke, Peter (1986): Die Wiederholung. Frankfurt a. M. 1999. Hauptmann, Gerhart (1889): Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Dramen. Hg. v. Hans-Egon Hass. Berlin 1996, 9–98. Heine, Heinrich (1827): Buch der Lieder. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Band 15. Dichtungen von Heinrich Heine. Erster Theil. Hamburg 1868. Kerschbaumer, Marie-Thérèse (1990): Versuchung. Prosapoem. Werke IV. Klagenfurt u. a. 2002. Kleist, Heinrich von (1810): Michael Kohlhaas. In: Ders.: Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe. Bd. II/1. Hg. v. Roland Reuß. Basel/Frankfurt a. M. 1990. Mann, Thomas (1912): Der Tod in Venedig. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. VIII. Erzählungen, Fiorenza, Dichtungen. Frankfurt a. M. 1974, 444–525. Mann, Thomas (1954): Heinrich von Kleist und seine Erzählungen. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. IX. Reden und Aufsätze 1. Frankfurt a. M. 1974, 823–842. Mayröcker, Friederike (1968): Minimonsters Traumlexikon. Texte in Prosa. In: Dies.: Gesammelte Prosa I. 1949–1977. Hg. v. Marcel Beyer. Frankfurt a. M. 2001, 37–90. Schwitters, Kurt (1921): Himbeerbonbon. In: Ders.: Das literarische Werk. Bd. 1. Lyrik. Hg. v. Friedhelm Lach. Köln 1998, 82. Stifter, Adalbert (1857a): Der Nachsommer. Eine Erzählung. Erster Band. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 4,1. Hg. v. Wolfgang Frühwald und Walter Hettche. Stuttgart/Berlin/Köln 1997. Stifter, Adalbert (1857b): Der Nachsommer. Eine Erzählung. Zweiter Band. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 4,2. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. Walter Hettche. Stuttgart/Berlin/Köln 1999.

6.2 Sekundärliteratur Admoni, Wladimir G. (1987): Die Entwicklung des Satzbaus der deutschen Literatursprache im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin. Besch, Werner u. a. (Hg.) (2004): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. 4. Teilbd. Berlin/New York. Betten, Anne (1998): Thomas Bernhards Syntax: keine Wiederholung des immer Gleichen. In: Karin Donhauser/Ludwig M. Eichinger (Hg.): Deutsche Grammatik – Thema in Variationen. Heidelberg, 169–190. Betten, Anne (2004a): Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte. In: Besch u. a., 3002–3017. Betten, Anne (2004b): Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945. In: Besch u. a., 3117–3159. Betten, Anne (2006): Sprachstile literarischer Texte. In: Eva Neuland (Hg.): Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Sprachunterricht. Frankfurt a. M., 335–348.

Satz und Zeichensetzung: Formen, Variationen, Entgrenzungen 

 201

Betten, Anne (2008): Vom Satz zum Text zum Text ohne Satz. Linguistische und literarische Revolten der Siebziger Jahre, am Beispiel von Friederike Mayröckers und Marie-Thérèse Kerschbaumers Prosa. In: Thomas A. Fritz u. a. (Hg.): Literaturstil – sprachwissenschaftlich. Heidelberg, 195–226. Eichinger, Ludwig M. (1996): Beispiele einer Syntax der Langsamkeit. Aus Adalbert Stifters Erzählungen. In: Hartmut Laufhütte/Karl Möseneder (Hg.): Adalbert Stifter. Dichter und Maler, Denkmalpfleger und Schulmann. Neue Zugänge zu seinem Werk. Tübingen, 246–260. Eroms, Hans-Werner (1995): Syntax und Stilistik. In: Joachim Jacobs u. a. (Hg.): Syntax. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2. Halbbd. Berlin/New York, 1528–1545. Galvan, Elisabeth (2008): Aschenbachs letztes Werk. Thomas Manns Der Tod in Venedig und Gabriele d’Annunzios Il Fuoco. In: Thomas Sprecher/Ruprecht Wimmer (Hg.): Thomas Mann Jahrbuch. Bd. 20. 2007. Frankfurt a. M., 261–285. Höller, Hans (2013): Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes. Frankfurt a. M. Kaempfert, Manfred (2004): Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in neuhochdeutscher Zeit. In: Besch u. a., 3042–3070. Klausnitzer, Ralf (2012): „(die Schriftgelehrten mögen ihn erklären)“. Zum Kommagebrauch des Heinrich von Kleist. In: Nebrig/Spoerhase, 203–238. Kurzke, Hermann (1985): Thomas Mann. Epoche, Werk, Wirkung. München. Martus, Steffen (2012): Stefan Georges Punkte. In: Nebrig/Spoerhase, 295–327. Nebrig, Alexander/Carlos Spoerhase (Hg.) (2012): Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion. Bern (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, 25). Roelcke, Thorsten (2004): Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert. In: Besch u. a., 3092–3110. Schmidt, Siegfried J. (1984): „Es schießt zusammen“. Gespräch mit Friederike Mayröcker (März 1983). In: Ders. (Hg.): Friederike Mayröcker. Frankfurt a. M. (st 2043), 260–283. Schmidt-Dengler, Wendelin (1995): Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg/Wien. Sengle, Friedrich (1980): Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 3. Stuttgart. Vogl, Joseph (2012): Der Gedankenstrich bei Stifter. In: Nebrig/Spoerhase, 275–294. Wörgötter, Martina (2016): Poetik und Linguistik. Die literarische Sprache Marie-Thérèse Kerschbaumers. Freiburg i. Br.

III. Textproduktion

Monika Schmitz-Emans

9. Entwürfe und Revisionen der Dichterinstanz – poeta vates, poeta imitator, poeta creator Abstract: Vorstellungen darüber, wer den literarisch-poetischen Text hervorbringt, und unter welchen Bedingungen dies geschieht, unterliegen wechselnden histori­ schen Ausprägungen, die sich sowohl in theoretischen Texten (insbesondere in phi­ losophischen, ästhetisch-poetologischen, juristischen und philologischen) als auch in der Literatur selbst artikulieren. So kann der Grund poetischer Produktivität bei transzendenten Instanzen gesucht, aber auch als immanent begriffen werden, wobei es im letzteren Fall wiederum zu differenzieren gilt; Vorgängertexte, Überlieferungen, Normen und Regeln können entsprechende Begründungsfunktionen übernehmen, aber auch das als schöpferisch verstandene Individuum. Skizziert werden im Folgen­ den differente Entwürfe der Dichterinstanz: der inspirierte Dichter, insbesondere in seiner Rolle als poeta vates; der belesene, an Überlieferungen bzw. Regeln orientierte Dichter als poeta doctus und poeta imitator; der Autor im neuzeitlichen Sinn als poeta creator, vor allem in seinen Ausprägungen als Genie und als methodisch-planvoller Konstrukteur  – sowie schließlich das postauktoriale Schreibersubjekt, das sich von Wörtern, von der Sprache, von ‚Schreibbarem‘ leiten lässt. Die Beziehung des Schrift­ stellers zur Sprache, zu Vokabeln und Wörterbüchern steht im Zentrum vieler und verschieden akzentuierter literarisch-poetologischer Texte jüngerer Zeit; als neues Dichtermodell profiliert sich dabei der poeta linguisticus. 1 poeta vates: Der Dichter als Medium, Begeisterter und Seher 2 Der poeta doctus als poeta imitator 3 Der Autor als poeta creator 4 Der Autor als Phantom: Subjektkritik und Dekonstruktion auktorialer Begründungsmodelle 5 poeta linguisticus – Entwürfe des Dichters in seiner Rolle gegenüber Wörtern und Sprache 6 Literatur

DOI 10.1515/9783110297898-009

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1 poeta vates: Der Dichter als Medium, Begeisterter und Seher 1.1 Dichtung als Gabe Antiken Vorstellungen zufolge ist Dichtung mehr als das Produkt menschlicher Arbeit und Mühe (obwohl es dieser auch bedarf, um ein gelungenes Werk zu schaf­ fen); vielmehr geht der schöpferische Impuls vom Göttlichen selbst aus. Demokrit deutet Dichtung explizit als Produkt göttlicher Eingebung. Das Inspirationsmodell impliziert nicht nur eine Kommunikation zwischen Menschlichem und Göttlichem, es suggeriert auch, menschliche Rede könne Offenbarung einer Wahrheit sein, die mit rein immanenten menschlichen Kräften nicht erfassbar und artikulierbar würde. Schon die ersten Zeugnisse abendländischer Dichtung interpretieren das poetische Werk als Gabe transzendenter Mächte. Musenanrufe, mit denen sich der Dichter des Beistandes von oben versichert, sind wichtige Bestandteile der Werke. Verzichtet so der Dichter auf das, was man aus neuzeitlicher Sicht die ‚Autorität‘ über den Text nennen würde, so wird dies aber mehr als ausgeglichen durch die dadurch erfolgende Legitimierung und Nobilitierung des Werks, das als Produkt der Eingebung dem Ver­ dacht der Beliebigkeit, Unzuverlässigkeit oder Unwahrheit entzogen ist.

1.2 Inspirationstopik und poetischer Enthusiasmus Schon in den vorderorientalischen Religionen kennt man die Vorstellung, dass Gott­ heiten zu den Menschen und durch sie sprechen, und zwar durch auserwählte Ein­ zelne; auch die Griechen glauben an solch göttliche Offenbarungen durch mediale Sprecher. Der Begriff Inspiration, abgeleitet von inspiratio (griech. epipnoia), Ein­ hauchung, Eingebung, zur Bezeichnung von Mitteilungen jenseitiger Provenienz verwendet, meint zunächst die Ergriffenheit des Menschen unter dem Einfluss einer göttlichen Macht. In Judentum, Christentum und Islam entstehen durch Inspiration und Diktat insbesondere die Heiligen Texte. – In der Geschichte dichterischer Auto­ reflexion spielt der Inspirationstopos eine wichtige Rolle. Hesiod berichtet in seiner Theogonie, wie ihn die Musen zum Dichter berufen haben; Pindar artikuliert das Bewusstsein seiner Ohnmacht als Dichter und bittet die Musen um ihren Beistand; auch in Homers Odyssee findet sich die Vorstellung, auf der Grundlage von Inspira­ tionen zu dichten. – In besonderen Fällen führte die göttliche Inspiration zu ekstati­ schen Zuständen des Mediums. Laut Platon ist die Ekstase ein Zustand, bei dem der menschliche Leib um der göttlichen Eingebung willen zur Wohnstatt Gottes wird und das menschliche Bewusstsein gänzlich weicht. Aus dem Topos vom bewusstlosen furor poeticus leiten sich spätere Vorstellungen über die Affinität zwischen künstleri­ scher Kreativität, Exzentrizität und Wahnsinn ab. – Eng verknüpft mit Inspirations­

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vorstellungen ist vor allem in der Geschichte der Ästhetik die Lehre vom poetischen Enthusiasmus, wie sie etwa bei Horaz (Ars poetica) erörtert wird. Mit den zwei Göttern Apoll und Dionysos assoziiert ist dabei die Vorstellung zweier Spielarten göttlicher Begeisterung. Demokrit scheint an ein ekstatisches Erleben zu denken, wenn er von göttlicher Dichterbegeisterung spricht. – Schon bei Platon finden sich unterschiedlich akzentuierte Reflexionen zur Inspirationsidee; er zitiert die Vorstellung vom göttlich inspirierten Dichter nicht einfach affirmativ, sondern um ihre Implikationen deutlich zu machen, darunter auch solche, die aus seiner Sicht kritikwürdig erscheinen (vgl. insbesondere den frühen Dialog Ion). Nachgewirkt hat aber eher Platons Beschrei­ bung des Modells als seine Kritik. Im Phaidros hebt Platon hervor, wie wenig allein der Wille zum Dichtertum und der Erwerb lehrbarer Kunstfertigkeit ausrichten; auch in Platons Apologie wird der Dichter als Empfänger von Gaben charakterisiert. Betont wird dabei u. a., dass nicht theoretisch fassbares Wissen die Grundlage der Dichtung bilde; mit solchen Hinweisen auf die Nicht-Lernbarkeit von Dichtung wird das von der Philosophie verwaltete Erkenntniswissen gegen ein spezifisch dichterisches Wissen abgegrenzt. Platon unterscheidet also bereits auf eine zuvor nicht selbstverständli­ che, rezeptionsgeschichtlich aber folgenreiche Weise zwischen philosophisch-wis­ senschaftlicher und dichterischer Rede.

1.3 Musen, Wissen und Überlieferung Die Musen (deren Zahl in der Antike nicht festgelegt ist) wirken als Schutzgotthei­ ten der Dichter, denen sie dabei helfen, ihre Werke zu schaffen. Zentrale Funktion dieser Werke ist die Überlieferung (die Idee, man müsse neue und immer andere Geschichten erfinden, liegt der Antike fern); die Musen als Hüterinnen der Tradition verwalten einen Bestand kollektiven kulturellen Wissens (zu dem auch die bereits bestehenden dichterischen Werke gehören) und geben dem Dichter das ein, worauf seine Kunst beruht. Sie gestatten den Dichtern, auf dem Fundament des überliefer­ ten Wissens diesem Wissen eine neue Form zu geben, und helfen dem Rhapsoden dabei, zu memorieren, was er vortragen will. Die frühesten überlieferten Texte mit Musenanrufungen (so Hesiods Theogonie und Homers Ilias) sind zugleich die ältesten erhaltenen Werke der abendländischen Literatur. Wird hier um die Wahrheit des zu Sagenden gebeten, so geht es dabei nicht um formale oder ästhetische, sondern um inhaltliche Qualitäten der poetischen Rede. Inwiefern frühe Musenanrufe Ausdruck eines authentischen Glaubens an eine übermenschliche Provenienz der Dichtung oder aber metaphorische Rede gewesen sind, wird in der Forschung diskutiert (vgl. Gellhaus 1995, 33). In jedem Fall differenziert sich der Inspirationstopos schon in der Antike aus: Der Dichter der Ilias tritt weitgehend hinter seinen Gesang zurück, nimmt nur ansatzweise als Sprechender Profil an, und dies fast nur im Zusammenhang mit dem Musenanruf oder durch Hinweise darauf, dass sein Text weit von einem gedach­ ten Idealtext abweicht; der Dichter der Odyssee artikuliert sich demgegenüber schon

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mit einem ausgeprägteren Selbstbewusstsein. Hesiod schließlich spricht explizit über sich, seine Geschichte, seine Berufung. Pindar stellt die Musenanrufung mit Ausdrü­ cken dar, die dem Bereich des Delphischen Kultes entstammen, sodass Dichtung und Weissagung analogisiert werden. Während im Zustand der „enthusiastischen“ Entrü­ ckung die Grenze zwischen dem Göttlichen und dem Menschen (als dem „Medium“ des Göttlichen) aufgehoben ist, impliziert die Musenanrufung stets das Wissen um eine Grenze zwischen dem, der spricht, und der Quelle, aus welcher er schöpft (vgl. Dodds 1951, 52).

1.4 Varianten des Inspirationstopos in Mittelalter und Neuzeit Dem lateinischen Mittelalter ist die Enthusiasmus-Lehre nur in vermittelter Form (durch Horaz’ Ars poetica) bekannt. Dem Musenanruf steht die zu weiten Teilen christ­ lich geprägte Dichtung des Mittelalters kritisch gegenüber, vielleicht weil er im heid­ nischen Kulturkreis eine solche Bedeutung besaß (vgl. Curtius 1948, 241); als Inspira­ tionsinstanzen treten Musen nur gelegentlich auf. Dafür erprobt man Ersatzmodelle poetischer Eingebung. Autoren wie Juvencus und Sedulius versuchen, christliche Vorstellungen und antike Topoi miteinander zu verknüpfen (ebd., 242), und als Ins­ tanzen der Eingebung werden Christus oder der Heilige Geist angerufen (vgl. Wehrli 1984, 109), nachdem die Spätantike bereits den Heiligen Geist als poetisch-inspirie­ rende Instanz gedeutet hatte. Im dichterischen Begeisterungsprozess wiederholt sich gleichsam das Pfingstwunder. Auch erinnert man sich der göttlichen Begeisterung der alttestamentarischen Propheten. Noch Dante erinnert in seiner ansonsten stark dem mittelalterlich-christlichen Vorstellungshorizont verbundenen Jenseitsvision an die Musen als die Ammen der Dichter (Divina Commedia, zwischen 1307 und 1321); hier handelt es sich um ein reflektiertes Zitat tradierter Vorstellungswelten. Tendenziell rückt zwar in neuzeitlich-ästhetischen Kontexten der Dichter selbst in die Rolle des Schöpfers, dennoch wird in der Renaissance die Idee der dichteri­ schen Inspiration als Grund poetischer Produktivität gelegentlich rehabilitiert – dann nämlich, wenn man die antiken Dichter als Leitbilder enthusiastischen Dichtertums deutet, um den Unterschied zwischen schöpferischem Genius und bloßem Verse­ schmied zu betonen. Shaftesbury entwickelt aus diesen Ansätzen das Konzept des „noble enthusiasm“. Für ihn ist der wahre Dichter ein „second maker“, der von seiner Passion für das Gute zur Arbeit motiviert wird (Letter Concerning Enthusiasm, 1707). Noch Johann Georg Sulzer nimmt Bezug auf die Inspirationslehre (Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 1786, Artikel „Begeisterung“), wobei er die Dichter selbst als Zeugen aufruft, also auf den Selbstlegitimationscharakter des Topos hinweist. Dem­ gegenüber stehen aber deutliche Vorbehalte gegen den Topos vom Enthusiasmus als einem Zustand der Unverständigkeit. So umschreibt Charles Batteux in seinem Cours de belles lettres ou principes de la littérature (1747–1750) die poetische Begeisterung als eine Raserei, bei welcher die dichterische Seele sich dem Gegenstand überlasse.

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Goethe kritisiert das tradierte Inspirationsmodell als Simplifikation. Zwar betont auch er, dichterische Produktivität sei nicht durch bloße Willensentschlüsse oder durch gründliches Studium erzwingbar, doch sei Kreativität nicht als Wirken über­ menschlicher Mächte, sondern psychologisch zu begründen. In der Literatur um 1800, die sich dem zuwendet, was später das Unbewusste genannt wird, erfährt das Inspirationsmodell eine weitere Umcodierung. Es verbin­ det sich mit der Vorstellung, der Mensch sei vielleicht nicht Herr seiner selbst; sein bewusstes und selbstkontrolliertes (und d. h. auch: sein sprechendes und schrei­ bendes) Ich sei vielleicht nur ein Teil seiner Persönlichkeit; in ihm seien Instanzen wirksam, die es nicht kontrolliere, ja nicht einmal kenne. Gleichermaßen zweifelhaft werden so die Autonomie und Selbsttransparenz des Ichs sowie seine Verfügungsge­ walt über die eigenen Bekundungen. In romantischen Texten wird vor allem aus zwei Gründen an Inspirationstopoi angeknüpft: erstens, um die Idee durchzuspielen, das sprechende und schreibende Ich verstehe weder seine eigenen Texte noch sich selbst richtig (vgl. E. T. A. Hoffmann 1816, Der Sandmann), zweitens aber auch, um für das künstlerische Werk eine höhere Wahrheit zu reklamieren, als sie von einem individu­ ellen Ich gewährleistet werden kann.

1.5 Moderne Positionen In der Moderne lassen sich bei theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Inspira­ tionsbegriff zwei entgegensetzte, dabei aber komplementäre Tendenzen beobachten: zum einen eine kritische Tendenz, die zur radikalen Abkehr vom Inspirationskonzept führt, zum anderen dessen Bekräftigung unter verschobenem Vorzeichen. Die Kri­ tiker des Inspirationskonzepts, vor allem Nietzsche, betrachten es als künstlerische Fiktion (vgl. Also sprach Zarathustra, 1883–1885). Aber auch Dichter, die ihre Werke nicht als Produkt ihrer beschränkten empirischen Person betrachtet wissen wollen, sondern sich selbst als Ausdrucksmedium im Dienst des Poetischen konzipieren, rekurrieren gern auf den Inspirationstopos, so etwa Stéphane Mallarmé, der u. a. schreibt, nicht in seiner Person liege seine dichterische Identität begründet, sondern darin, dass er sich bereit halte, dem „Geistigen Universum“ („Univers Spirituel“) als Artikulationsorgan zu dienen (Brief an Henri Cazalis vom 14. Mai 1867). Vor allem im 20.  Jahrhundert wird der Inspirationstopos aus verschiedenen Motiven wieder aufgegriffen: Die Surrealisten knüpften an den alten Topos der Inspiration an und verwendeten ihn erneut – allerdings unausweichlich als Zitat. Paul Celan bemerkt in Anspielung auf den Topos vom Dichter als Medium immerhin, dieser werde, sobald sein Gedicht fertig sei, „aus seiner ursprünglichen Mitwisserschaft entlassen“ (Brief an Hans Bender). Noch 1965 greift Octavio Paz in seinem poetologischen Essay El arco y la lira das Modell der Inspiration explizit auf; er spricht von dem Dichter zuteilwer­ denden Enthüllungen und beruft sich auf dichterische Selbstzeugnisse, die von einer fremden Mitwirkung am Werk berichten – und davon, nicht gänzlich Herr der eigenen

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Stimme und Sprache zu sein. Wie eher inspirationskritische Autoren andeuten, ist die Vorstellung einer zumindest partiellen Fremdsteuerung des Dichters im Schreibpro­ zess aber auch oft besetzt mit Beklemmung und Angst. Die Motive, Dichtung in Anlehnung an die Inspirationstopik zu begründen, sind unterschiedlich. Oftmals geht es um eine Argumentation zuungunsten des ‚sub­ jektiven‘ Anteils an der Dichtung, manchmal auch darum, die Bedeutung des tech­ nisch-handwerklichen Moments dichterischer Arbeit zu relativieren. In dem Moment allerdings, da ein Dichter über seine ‚Inspiration‘ spricht, tritt er zu ihr stets schon in reflexive Distanz. Deren Pendant ist ein Moment der Beschwörung, welches dem Musenanruf nebst seinen späten Echos stets inhärent bleibt: In der Rede von überper­ sönlichen Autorisierungen äußert sich – gleichsam performativ – zwar nicht immer die Gewissheit, stets aber das Streben des Dichters, eine Wahrheit auszusprechen, die im Einzel-Ich allein nicht begründet sein kann.

2 Der poeta doctus als poeta imitator 2.1 poeta vates und poeta doctus Zwei einander spannungsvoll gegenüberstehende Konzepte des Dichters prägen von der Spätantike bis zur Gegenwart die Geschichte produktionsästhetischer Reflexion: die des Dichter-Sehers (poeta vates) und die des gelehrten Dichters (poeta doctus). Letzterer kann Profil annehmen, wenn es ein lernbares Wissen über Dichtung gibt, bestehe dieses nun aus der Kenntnis kanonischer Texte, der Kenntnis von Regeln oder aus anderen Formen des Weltwissens. Studium und systematische Ausbildung, theoretische Fundierung und methodische Anwendung des Gelernten, Anstrengung, Selbstreflexion und Bereitschaft zur Selbstkorrektur werden zu prägenden Faktoren dichterischer Arbeit. Zielstrebig arbeitet der poeta doctus an seinem Werk, doch auch er ist abhängig, insbesondere von den zu befolgenden Regeln und von der gelehrten Tradition. Während man sich den poeta vates vielfach eher als oralen Dichter (oder Sänger) vorstellt, bestehen Affinitäten zwischen dem Konzept des poeta doctus und einer Hochschätzung des Geschriebenen und der Literalität.

2.2 Mittelalterliche Dichter als Verwalter von Tradiertem Hinweise mittelalterlicher Dichter auf die eigene Arbeit gelten insbesondere der Text­ welt, durch die sie geprägt sind, also den Gegenständen ihres Studiums. Die klerika­ len Schriftsteller haben dabei noch am ehesten Anlass und Rechtfertigung, von sich selbst zu sprechen – etwa, indem sie ihre eigene kontemplative Bemühung um die heilsgeschichtlich wichtigen Textbestände als musterhaft deuten. Anders liegen die

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Dinge außerhalb des klerikalen Bereichs  – dort, wo der dichterisch zu gestaltende Stoff als solcher präsentiert werden soll und es nicht primär um Kontemplation geht, sondern um Mitteilung von Inhalten. Hier bleibt der Dichter lange namen- und weit­ gehend profillos; seine Haltung gegenüber seinem Werk versteht sich als eine eher dienende (vgl. Wehrli 1984, 75 f.). In vielen volkssprachlichen Dichtungen kommt es den Verfassern wohl gar nicht in den Sinn, sich selbst ein Denkmal zu setzen (Wehrli 1984, 76); wo Namen fallen, ist dies entweder eine Ausnahme oder ein nachträglicher Zusatz. Die Anonymität des Dichters in der Heldendichtung, die in der volkssprach­ lichen mündlichen Tradition wurzelt, ist gattungsbedingt. Hier ist der Dichter nicht mehr als ein Medium zwischen Stoff und Publikum, es besteht ein Bedeutungsgefälle zwischen Mitzuteilendem und Mitteilendem, und gerade der Anspruch, der sich mit der Weitergabe der großen Stoffe verbindet, bedingt ein Zurücktreten des Dichters als Person. – Wie die Anonymität so ist auch die explizite Berufung auf Quellen nicht einfach Ausdruck der Bescheidenheit, sondern Insistenz auf der Bedeutsamkeit des Tradierten und seiner Medien. „Uns ist in alten maeren / wunders vil geseit“ – so beginnt das Nibelungenlied (Strophe 1); der restliche, aus über 2300 Strophen bestehende Text spricht mit Aus­ nahme der letzten Strophe nicht mehr von einem „wir“ oder „uns“. Präsentiert wird die Fabel als solche, und erst als sie abbricht, meldet sich nochmals ein Erzähler als ein „Ich“ zu Wort. Wenn „daz mare ein ende“ hat, ist alles gesagt; die Idee, der Erzäh­ ler könne sich selbst weitere Ereignisse ausdenken, hat hier keinen Platz.

2.3 Verbürgungsmuster Inbegriff aller Tradition bildet aus mittelalterlicher Sicht die göttliche Offenbarung. Was immer neu geschrieben wird, sollte daran teilhaben und versteht sich insofern als Fortsetzung, Erweiterung, Variation des Vorgegebenen. Eine klare Trennlinie zwi­ schen Produktion und Rezeption besteht nicht, denn wenn jeder Schreibende primär Fortsetzer des Tradierten ist, so beginnt ja sein Schreiben mit dem Lesen. – Manchmal führt gerade die Bedeutung von Verbürgungen, Autoritäten, Quellen, Vorlagen dazu, dass diese erfunden wurden, und man könnte dies für paradox halten, wenn man außer Acht ließe, dass auf der Basis des Glaubens an die innere Kohärenz der natürli­ chen, geschichtlichen und spirituellen Wirklichkeit das Erfundene keinen Gegensatz zum Gefundenen darstellt. ‚Wahrheitsgemäße‘ Quellen können fingiert werden, wenn sie kraft ihrer Wahrheit nicht in Widerspruch zum tatsächlich Überlieferten treten. Allerdings ist der Wahrheitsbeweis hier zirkulär: Quellen sind wahr, und Wahres wird zur Quelle erklärt (Wehrli 1984, 100 f.). Mit der grundlegenden Bedeutung der zu studierenden Tradition erklärbar sind auch die vorrangigen stofflich-inhaltlichen Interessen des Mittelalters. Der Roman des Hochmittelalters widmet sich als historisch geltenden Stoffen; auch die Artus­ stoffe werden dabei als historisch betrachtet. Dichter sind auch diesem Modell

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zufolge Mittler unter anderen Mittlern: einerseits abgesichert, andererseits nach modernen Begriffen unfrei. Der Schriftsteller will nicht verantwortlich sein, da diese Last – angesichts des Verdachts der Lügenhaftigkeit – zu groß ist und seinem Werk, von dem man anderes erwartet als Originalität, nicht zugutekommt. Daher sind die Dichter auch nicht genötigt, ihre Stoffe zu interpretieren und für erzählte Geschich­ ten eindeutige Interpretationen zu bieten. Sie können nicht einmal darauf verpflich­ tet werden, in sich stimmige Geschichten mit eindeutiger Botschaft zu erzählen. Die Frage, wie eine Geschichte gemeint sei (etwa, ob der Protagonist als schuldig darge­ stellt werden soll oder nicht) ist nicht virulent. – Die Erscheinungsform schlechthin, in der sich Überlieferung manifestiert, ist die Literatur-Sprache der kanonisierten Schriften. Rhetorische Formen und Topoi wirken traditionssichernd und kontextstif­ tend; die entsprechende Schultradition deutet Kunst als lehr- und lernbar. Gerade diese handwerkliche Auffassung des Schriftstellertums bindet das Einzelwerk in die Tradition ein, deren es als Begründung bedarf, denn poetische Autorität besitzt ja nicht der Einzelne, sondern die Überlieferung (vgl. Wehrli 1984, 95).

2.4 Kanon und Innovationstendenzen Schon seit der Antike ist das Konzept eines (sich historisch dann jeweils modifizie­ renden) Kanons von Autoren geläufig, die als mustergültig gelten und an denen man sich zu orientieren hat. Autoritäten wie Aristoteles und Horaz bieten Leitlinien für die Produktion wie für die Beurteilung der Werke. Das einzelne Werk wird tendenziell eher im Kontext seiner Gattungszugehörigkeit als in dem eines persönlichen Œuvres gesehen – wenn es natürlich auch Dichter gibt, deren Name allein schon als Empfeh­ lung gilt. Dies trifft aber meist auf antike Dichter zu, die den Kanon der maßstabset­ zenden Werke begründen. Schrittweise bedeutsamer wird seit dem späteren Mittelal­ ter der Gedanke der Innovation, ohne dass der Rang kanonischer Werke damit schon bestritten würde. In der gelehrten Auseinandersetzung mit Tradiertem artikuliert sich aber nachdrücklicher ein Anspruch, dieses kritisch zu beurteilen, und in litera­ rischen Texten dokumentiert sich allmählich das Bedürfnis nach Erschließung von neuem. Betont wird die Dichotomie zwischen dem technisch-handwerklich Erlernba­ ren, das man sich durch Lektüre des Überlieferten selbst erarbeiten kann, und dem, was nur als Geschenk zu haben ist – zwischen dem Dichter als gelehrtem Könner und dem ‚Begabten‘. Schon seit dem 12. Jahrhundert wird die dichterische Begabung in modifizierender Rezeption antiker Topoi als Gnade gedeutet, die sich als Begeiste­ rung manifestiert (vgl. Wehrli 1984, 108).

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2.5 Regelpoetik und poeta doctus Ein über das Mittelalter hinaus an die Neuzeit übermitteltes Grundkonzept von Dich­ tung versteht diese als durch Lehre vermittelbare handwerkliche Kunst. Das poeti­ sche Werk wird auf der Basis dieses Ansatzes bis weit ins 18. Jahrhundert hinein als etwas betrachtet, das in Poetiken explizierbar ist, nach bestimmten verbindlichen Regeln produziert wird, entsprechend dem Beispiel kanonischer Werke. Theorie der Dichtung ist nicht deskriptiv, sondern präskriptiv; Poetik profiliert sich als Regelpoe­ tik. Ihre Hauptgegenstände sind Gattungsregeln, Stilniveaus und stilistische Normen, Ausführungen zur dichterischen Formensprache, zu Metrik, Reim, Mikro- und Makro­ strukturen von Texten, ferner Erörterungen angemessener Darstellungsgegenstände sowie Hinweise auf verbindliche Muster. Bei der Beurteilung poetischer Werke rele­ vant war ihre Konformität zu den gültigen Gattungsregeln und Stilkonventionen. Dies lässt zwar dem einzelnen Dichter Freiräume zur Ausgestaltung, und eine gewisse Überbietung des Gewohnten wird sogar erwartet, aber die Regeln des eigenen Metiers zu kennen, macht im Horizont der Regelpoetik doch die entscheidende Qualifikation des Dichters aus. Als poeta doctus konzipiert, ist der Dichter aber nicht allein versier­ ter Spezialist für das dichterische Handwerk, sondern auch Teilhaber am gelehrten Wissen seiner Zeit, Vermittler philosophischer und naturkundlicher Lehren, Kenner der Natur und des Menschen. Seine Aufgabe besteht in der Vermittlung von Wissen, dem die poetischen Formen dienen. Als Kriterium gelingender Dichtkunst fungiert in der Ära der Norm- und Regelpo­ etiken insbesondere das (interpretationsbedürftige) Postulat, Dichtung solle Nachahmung sein – wobei hier lange Zeit eher die Nachahmung vorbildlicher Muster gemeint ist als die Abbildung äußerer Erfahrungswirklichkeiten. Erst in dem Maße, in dem in der Aufklärung die Bedeutung des Individuums gewürdigt wird, tritt die Bedeutung der Regeln zurück, wenn es um die Beurteilung poetischer Werke geht. Aber bis weit ins 18. Jahrhundert hinein werden präskriptive Poetiken verfasst, die neben anderen Parametern dichterischer Gestaltung auch den Gebrauch bzw. die Gestaltung dichte­ rischer Sprache regulieren.

2.6 Varianten der Mimesisästhetik: vom poeta imitator zum Weltschöpfer In der Neuzeit wandelt sich gegenüber der Antike das Selbstverständnis des Men­ schen innerhalb und gegenüber der Natur grundlegend. Davon betroffen ist auch das Verständnis künstlerischer Produktion. Das durch Kunst Geschaffene wird nicht mehr notwendig als dem von der Natur Hervorgebrachten homolog verstanden wie bei Aristoteles; denkbar wird vielmehr, dass Kunst über die Natur hinausgeht. Der Mensch dokumentiert seine Herrschaft über die Dinge gerade dadurch, dass er dem Natürlichen das Künstlerische gegenüberstellt (vgl. Blumenberg 1957, 269 f.). In der

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Ästhetik der Renaissance ist der Begriff der Naturnachahmung gleichwohl von zent­ raler Bedeutung, wozu mindestens zweierlei beiträgt: die Aufwertung der empirisch erfahrbaren Welt (nach langen Zeiten platonisch-christlicher Verurteilung) sowie die Wiederentdeckung der Antike, welche besonders ein Wiederanknüpfen an die Aris­ totelische Poetik nahelegt. Die Renaissancepoetiker Ninturno und Scaliger erheben den Nachahmungsbegriff unter diesem Vorzeichen zum Programm; zugleich bemüht man sich um eine Synthese von Aristotelischem Mimesisbegriff und neuplatonischer Schönheitslehre. Entspricht es letzterer, dem Kunstschönen eine mögliche Überlegen­ heit über das Naturschöne zuzugestehen und es zugleich als Darstellung des Wahren zu deuten, so kommt dem der Aristotelische Ansatz entgegen, demzufolge Dichtung Darstellung des Allgemeinen und Typischen ist. Da zugleich die antike Kunst und Dichtung als musterhaft betrachtet wird, sieht man Naturnachahmung und Nachah­ mung der Alten als vereinbar, ja, als gleich an. Im Nachahmungsgedanken impliziert ist – bei unterschiedlichen Akzentuierun­ gen – fast immer die Idee einer Selektion, Idealisierung oder Stilisierung. Liegt bei der Interpretation des Mimesis-Postulats der Akzent teilweise auf der das Natürliche übertreffenden Schönheit des Werks, so steht für andere Poetiker der Anspruch auf eine erkenntnisfördernde Darstellung des Allgemeinen im Vordergrund. Dass sich der Dichter an der Natur der Sachen orientieren soll, bedeutet vielfach aber vor allem, dass er seine Sprechweise dem Gegenstand anzumessen hat. Oft dominiert der Wirkungs­ gesichtspunkt; eine Orientierung an der Natur dient demnach der Überzeugungskraft des Textes am besten. Zielt ein erster Nachahmungsbegriff auf eine Nachahmung der als musterhaft begriffenen Alten, so zielt ein anderer spätestens seit dem 18. Jahrhun­ dert auf eine von der Tradition unbelastete Orientierung an der Erscheinungswelt; gelegentlich kollidieren die beiden Auslegungen. Und so verknüpft sich der Diskurs über ästhetische Nachahmung mit der das 17. und 18. Jahrhundert beschäftigenden Querelle des Anciens et des Modernes, also dem Streit darüber, ob die ‚moderne‘ Kunst und Literatur in der antiken ein unübertroffenes und prinzipiell unübertreffbares Vorbild besitze, oder ob sie ihrer eigenen Wege gehen, ihre eigenen Themen und Dar­ stellungsmodi finden müsse, weil sie ja Produkt und Ausdruck einer neuen Zeit sei.

2.7 Poetische ‚Schöpfung‘ und ihre Spielräume Insgesamt prägt der Nachahmungsbegriff die Poetik des Barock wie die der Aufklä­ rung zu weiten Teilen. Die allmähliche Abwendung von einschlägigen Mimesis-For­ derungen vollzieht sich zunächst nicht über deren Negation, sondern vielmehr über eine Uminterpretation: durch Entwicklung des Vorstellungsbildes vom Dichter als einem Nachahmer des Schöpfergottes oder aber der produktiven Natur (natura natu­ rans). Die Formel vom Poeten als creator geht in erster Linie auf Scaliger zurück, der das dichterische Werk in Analogie zum göttlichen Schöpfungswerk stehen sieht. Gott hat die Natur geschaffen; der Dichter schafft eine altera natura, in der eigene Gesetze

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gelten, eigene Proportionen der Dinge bestehen. Allerdings ist Scaligers Ansatz von dem des jüngeren Geniedenkens noch weit entfernt; der Gedanke einer Konkurrenz der vom Dichter geschaffenen Fiktionen mit der Natur wird hier noch nicht entfaltet. – Gottscheds Critische Dichtkunst (1730) beschreibt das Werk des Dichters als Nach­ ahmung natürlicher Dinge, erweitert den Gegenstandsbereich der Darstellung aber auf das Wahrscheinliche und Mögliche, da Gottsched unter Rekurs auf Aristoteles den Dichter nicht allein auf das verpflichten möchte, was sich wirklich ereignet hat, sondern ihm die Freiheit zu Erfindungen zugesteht. So gelingt es ihm, Nachahmung und Fiktion zu vereinbaren, wobei letztere sich dem Wahrscheinlichkeitskriterium unterwerfen muss. Als Natur-Nachahmung kann das poetische Werk gelten, sofern es der Natur ähnlich ist. Charakteristisch für Gottsched ist zudem seine Forderung nach einer vernünftigen Nachahmung der Natur (Vorrede zur ersten Ausgabe der Critischen Dichtkunst). Zwischen dem Programm des Nachahmens und des Erfindens besteht in der rationalistischen Poetik insgesamt eine Spannung, die noch nicht in ihrer ganzen Bedeutung erfasst wird. Mindestens ebenso wichtig wie eine moderate Legitimierung der Einbildungskraft ist Gottsched die Warnung vor allzu ausufernden, funktionslosen und überflüssigen Erfindungen. Insgesamt bleibt die Orientierung an Vorbildern wichtiger als die Eigenständigkeit individueller Kreationen; unabdingbar ist die Geschmacksbildung durch Lektüre.

2.8 Primat der Einbildungskraft und Legitimität des Erfindens: Von der Nachahmungs- zur Autonomieästhetik Erst gegen Mitte des 18.  Jahrhunderts wird dem Dichter das Recht, ja die Aufgabe zugeschrieben, sich Neuartiges, bislang Unerhörtes auszudenken. Nur ein Jahrzehnt nach Gottsched betrachten Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger das „Neue“ und das „Wunderbare“ (also sogar das „Übernatürliche“) als die wahre Domäne des Dichters. Symptomatisch ist die Auseinandersetzung der beiden Schwei­ zer mit Gottsched über die Grenzen des dichterisch Darzustellenden sowie insbeson­ dere der (sich u. a. an Miltons Paradise Lost entzündende) ästhetische Disput um die Legitimität des „Wunderbaren“ als poetischer Gegenstand. Gelungene Dichtungen sind „Historie[n] aus einer andern möglichen Welt“, so Breitinger (1740, 60), d. h.: aus einer vom Dichter geschaffenen Welt. Die Einbildungskraft wird zum zentralen poe­ tischen Organ; gleichzeitig werden die Leidenschaften als motivierende Instanzen gerechtfertigt. Sie stimulieren eine in der Dichtung legitime, innovative Ausdrucks­ weise. Hier beginnt der Siegeszug des Irrationalen als poetischer Impulsgeber. Wich­ tige Vorläufer der Schweizer Poetiker sind englische Ästhetiker der ersten Jahrhun­ derthälfte, unter ihnen Shaftesbury. In Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (1771/1774) verliert der Begriff der Naturnachahmung, wenn er auch noch als geläufige Formel verwendet wird, seine zentrale Stellung; zur Charakteristik des Wesens der Kunst genügt er allein nicht mehr.

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In der weiteren Geschichte der philosophischen Ästhetik verlagert sich der Akzent tendenziell immer mehr vom Nachahmungspostulat auf die Erörterung des Schönen und des Erhabenen. In Kants Kritik der Urteilskraft (1790) ist abwertend von einem „Mechanism der Nachahmung“ (§ 32) die Rede (ebd., 197). Auch differenziert Kant zwischen „Nachmachung“ und „Nachahmung“, wobei er bezogen auf letztere fordert, die „Naturgabe“ müsse „der Kunst (als schönen Kunst) die Regel geben“, dabei aber hinzufügt: „Wie dieses möglich sei, ist schwer zu erklären“ (§ 47; ebd., 239). Der Autonomieästhetik zufolge sind poetischer Schaffensprozess und poetisches Werk nicht aus Regeln ableitbar, nicht erschöpfend theoretisch begründbar und nicht begrifflich explizierbar.

2.9 Der Dichter als Übersetzer, Kopist und Nachschreiber: Zur poetologischen Funktionalisierung des poeta doctus und des poeta imitator in literarischen Texten Das Modell der Berufung auf einen Vorgängertext, der angeblich dem eigenen Werk als Vorlage gedient hat, bleibt als fiktives Begründungskonstrukt auch in der jünge­ ren Literatur wichtig. Allerdings wird dabei der Fiktions- und Spiel-Charakter dieser Konstruktion in der Regel deutlicher akzentuiert. Schon Cervantes präsentiert seinen Don Quijote als Nacherzählung eines über mehrere Schritte vermittelten Manuskripts. Herausgeberfiktionen sind für ganze Romangattungen nahezu selbstverständlich; in vielfältigen Varianten finden sie sich in der Gothic Novel, im Briefroman, in der fik­ tiven Autobiographie, im historischen Roman. Der Topos „natürlich eine alte Hand­ schrift“ (Umberto Eco, Nachschrift zum Namen der Rose (1980/1984) macht Literatur­ geschichte; seine Funktion ist dabei nur vordergründig die Suggestion von (fingierter) Authentizität des Mitgeteilten. Vielmehr dient er dazu, durch Rahmung der erzählten Geschichten die Rezeptionsbedingungen zu steuern, oft auch (wie schon bei Cervan­ tes) Reflexionen über Fiktionalität auszulösen, vor allem aber auch dazu, die Situie­ rung des Textes in einem Netzwerk von Texten anzudeuten – also die Abhängigkeit des einzelnen Werks von einer prägenden Tradition, von Gattungskonventionen und codifizierten Schreibweisen, von Stilen, tradierten Stoffen und prägenden Vorgän­ gerwerken. Angebliche Herausgeber, Übersetzer, Abschreiber, Dokumentensammler und philologische Kommentatoren fingierter Urtexte signalisieren so, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen, dass jeder Schreibende sich in einem intertex­ tuellen Raum bewegt und das einzelne Werk zu einem Schriftuniversum gehört, von dem sein Verfasser ebenso abhängig war wie jeder seiner Rezipienten es ist.

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3 Der Autor als poeta creator 3.1 Der Autor als Urheber Unter einem Autor versteht man alltagssprachlich den, der einen Text verfasst hat, für das Geschriebene verantwortlich ist und kausal wie ethisch-ideologisch ‚dahin­ tersteht‘ – als maßgebliche Begründungsinstanz des Textes. Zugleich geht es mit der Urheberschaft und der Verantwortung um Herrschaft über den Text in einem mate­ riellen und einem immateriellen Sinn, um die Idee der Nutzungsrechte wie des geis­ tigen Eigentums. Ein Autor bestimmt, so die weiteren Implikationen konventioneller Autor-Diskurse, darüber, was sein Text sagen und bewirken soll; einen Text liest man im Zeichen der Frage nach der Autorintention. Dass diese und verwandte Implikati­ onen historisch-kulturell bedingt sind, hat im 20. Jahrhundert zu kritischen Reflexi­ onen Anlass gegeben (s. u.).  – Der Begriff Autor entsteht aus dem Wort auctor, das seinerseits aus dem Verb augeo (etwas entstehen lassen) bzw. aus augere (vermehren, fördern) abgeleitet ist. Der Ausdruck gehört zunächst der juristischen Sphäre an; auctoritas besitzt der auctor als Inhaber eines Rechts in Verwaltungs-, Regierungs- und Rechtsgeschäften. Bezeichnet wird der Träger von Autorität (im Sinne von Sachkom­ petenz und Verfügungsgewalt), dann auch die Verfasserschaft an Texten (als eine besondere Form der Manifestation von Autorität), schließlich ein Beruf. Im deutschen Sprachraum ist das Wort als Bezeichnung literarischer Verfasserschaft zuerst 1473 in einer Boccaccio-Übersetzung Heinrich Steinhöwels belegt (der vom „auctor dieses büchlins“ spricht).

3.2 Der Autor als Subjekt Die seit der Renaissance mit Autor-Diskursen verbundene Vorstellung, die ein­ zelne Autorpersönlichkeit präge den Text, gewinnt im Lauf der Neuzeit an Gewicht. Autoren produzieren demnach Texte, aus denen man ablesen kann, was sie wissen und denken, wie sie denken, wo ihre Stärken und ihre Fehler liegen. Die Geschichte des Autor-Begriffs ist eng verknüpft mit der Entdeckung und Aufwertung des Indi­ viduellen, Persönlich-Charakteristischen. Indem diskursgeschichtlich die individu­ elle Einzelperson als verantwortliches und selbstbewusstes Subjekt sukzessive ins Zentrum des Interesses rückt und dabei gerade der Einzelne in seiner Besonderheit zu zählen beginnt, wird der Autor zum Repräsentanten und Inbegriff des sinnstiften­ den Subjekts. Autor heißt nun vor allem der, der etwas Besonderes zu sagen hat. Dass auch und gerade Dichter Autoren sind, setzt die Idee der Eigenständigkeit ihres Schaf­ fens in mehrfacher Hinsicht voraus; sie heißen zunächst Autoren, insofern ihre Werke nicht primär als Dienstleistungen im Auftrag anderer verstanden werden, dann aber auch, weil sie sich etwas Neues und Eigenes einfallen lassen. Insofern konvergiert in

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der Geschichte des Autor-Begriffs der juristische und subjekttheoretische Aspekt mit einem poetologischen: mit der Autorisierung des Schriftstellers, die Konventionen seines Metiers und die eingespurten Bahnen der Tradition zumindest ein Stück weit hinter sich zu lassen, konkreter und prägnanter dann etwas zu erfinden und inno­ vativ zu schreiben. Die große Zeit des Autors (im Sinn des begründenden Urhebers von Texten, des Stifters von Bedeutung) liegt nicht zufällig im 18. Jahrhundert, also in einer Zeit, da man dem Menschen die Fähigkeit zuschreibt, die Welt souverän zu gestalten und sein Denken souverän zu artikulieren.

3.3 Sozialgeschichtliche und ökonomische Aspekte von Autorschaft Die Entstehung des Autors im modernen Sinn vollzieht sich vor sozialgeschichtlichem Hintergrund, bedingt insbesondere durch die Ablösung der höfischen und ständi­ schen durch die bürgerliche Gesellschaft sowie eine damit einhergehende Entmach­ tung einstiger Autoritäten. Das neue Selbstbewusstsein des Dichters als Autor im Sinne von Schöpfer und Souverän hat zwei Seiten: Einerseits braucht der Schreibende niemandem mehr zu dienen, andererseits muss er sich seinen gesellschaftlichen Platz erst erarbeiten, und ein Konflikt mit der Gesellschaft erscheint fast vorprogram­ miert, sobald Schriftsteller sich nicht mehr primär als Diener und Funktionsträger verstehen (etwa im Zeichen einer nützlichen oder repräsentativen Arbeit für einen Herrn). Die äußeren Existenz- und Arbeitsbedingungen der Schriftsteller im 18. Jahr­ hundert (und danach) entsprechen keineswegs ihrem Selbstbewusstsein; Armut und Abhängigkeit sind verbreitet. Es bedarf eines bürgerlichen Kauf- und Lesepublikums; dessen Gunst ist aber keineswegs selbstverständlich. Je innovatorischer und gewag­ ter das Werk, desto größer die Gefahr, dass Erfolg und Käufer ausbleiben. – Die Profi­ lierung des Autorbegriffs im 18. Jahrhundert steht in engem Zusammenhang mit der Entstehung eines literarischen Marktes. Als Literatur zur Ware wird, wird es entschei­ dend, wem das Verfügungs- und Vermarktungsrecht über sie zusteht. Die individuelle Persönlichkeit des im modernen Sinn verstandenen Autors hat als Autor ein Recht am Text; dieser ‚gehört‘ ihr – das ist eine juristische Dimension dieses Diskurses. Auf der Grundlage des Diskurses über Autoren kann erst ein Eigentumsverständnis entste­ hen, wie es sich im Copyright manifestiert. Erst im 18. Jahrhundert etabliert sich eine entsprechende Gesetzgebung, auch wenn man früher bereits Vorstellungen von geis­ tigem Besitz entwickelt hatte. Der unautorisierte Büchernachdruck war ein wichtiger Anlass, Urheberschaftsdiskussionen zu führen (dazu Bosse 1981; Plumpe 1979).  – Eine weitere juristische Dimension besitzt der Autor-Begriff mit Blick auf die Haftbar­ keit: Wer der Urheber einer Äußerung ist, kann auch für sie haftbar gemacht werden. Wer als Schriftsteller einen Normverstoß oder gar einen Gesetzesbruch verübt (üble Nachrede, Beleidigung, Verbreitung falscher Tatsachen, Volksverhetzung, Diebstahl

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geistigen Eigentums bzw. Plagiat) kann dafür bestraft werden. Die Zensur kann auch anonyme Werke treffen. Sanktionen dagegen treffen den Autor.

3.4 Poetik des Autors Der Autor, wie er im 18.  Jahrhundert verstanden wird, entspricht insgesamt einem neuen (Selbst-)Verständnis von Dichtung; diese löst sich von externen Maßstäben der Nützlichkeit oder Moralität, von der Funktion einer bloßen Vermittlungsinstanz vor­ gegebener Inhalte oder Werte. Die Geschichte des Autors ist vor diesem Hintergrund insbesondere die einer Emanzipation literarischer Produktivität von Normen und Konventionen. In dieser Hinsicht betrachtet, ist sie insbesondere die Geschichte der Emanzipation der Einbildungskraft, welche im Laufe des 18. Jahrhunderts zum zen­ tralen poetischen Vermögen avanciert (s. o.). Dies schließt Gelehrsamkeit (also Züge des poeta doctus) nicht aus, aber es impliziert doch die Erwartung, über bloße Repro­ duktion hinaus produktiv zu schaffen. Der Begriff Autor, wiewohl weiterhin auch im philosophischen, theologischen und publizistischen Bereich signifikant, tritt im Lauf des 18. Jahrhunderts insbesondere neben den des Dichters und des Schriftstellers und gibt dem Selbstbewusstsein des Schreibenden als des für Inhalt und Form verant­ wortlichen Subjektes der Aussage prägnanten Ausdruck. Die Akzentuierung der Idee des Eigenen ist eng verbunden mit der Erwartung von Zuvor-noch-nicht-Gesagtem, von Innovatorischem.

3.5 Der Text als Selbstporträt oder Selbstentwurf des Autors Schon für Michel de Montaigne (Essais, 1572–1592) gehören Text und Autor so eng zusammen, dass der Text als eine zweite Erscheinungsform der Autorpersönlich­ keit (neben der körperlich-sichtbaren) gelten kann, vielleicht sogar die eigentliche, adäquateste, authentischste Erscheinung ist. Die Vorstellung vom Buch als dem Double seines Autors findet sich in Rousseaus Confessions (1765–1770) wieder aufge­ griffen. Der Vorredner dieser autobiographischen Bekenntnisse ist ein pathetischer Exhibitionist, und er leidet unter einem gewissen paradoxalen Verfolgungswahn: Einerseits möchte er sich in seinem Buch nur allzu gern selbst darstellen, anderer­ seits fürchtet er, sich damit seinen Feinden preiszugeben; jedenfalls wird das der Öffentlichkeit präsentierte Buch als naturgetreues Abbild des Autors vorgestellt. Die Frage, ob und inwiefern gerade literarische Texte die Signatur ihrer Autorpersön­ lichkeit tragen, verbindet sich seit dem 18. Jahrhundert eng mit Reflexionen über die Möglichkeit sprachlicher Selbstdarstellung. Dabei geraten neben autobiographischen Texten auch Briefe als Medien empfindsam-subjektiver Kommunikation, Gedichte als Formen (angeblich) subjektiver Selbstaussprache sowie andere Textformen und Schreibweisen in den Blick. Auch konkrete Aspekte des Sprechens und Schreibens

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(Sprechgestus, Stimme, Handschrift etc.) finden zunehmendes Interesse. Die Frage nach der Authentizität sprachlicher und schriftlicher Bekundung von Subjektivität wird im Horizont des Autordiskurses aber kontrovers beantwortet: Einerseits erheben Texte immer wieder den Anspruch, ihren Autor prägnant darzustellen, andererseits werden Sprechen und Schreiben als Rollen- und Maskenspiele reflektiert – wobei der souveräne Umgang mit solchen Masken wiederum als Signatur von Autorkompetenz erscheinen kann. In autofiktionalen literarischen Projekten, wie sie in der Nachfolge Rousseaus u. a. die Werke Jean Pauls prägen, erscheint der poeta creator dezidiert als creator poetae – als jemand, der sich selbst schreibend profiliert und insofern hervor­ bringt, im Arbeiten mit Sprache also sein Profil erarbeitet.

3.6 Individualität, Stil, Intention Die Idee der Autorschaft korrespondiert mit der Annahme, dass Texte Bedeutungs­ spielräume eröffnen, welche an den Willen, die Absichten und Planungen des Schrei­ benden gebunden sind; das Konzept der Individualität hat unter diesem Vorzeichen im modernen Autorschaftsdiskurs seit dem 18.  Jahrhundert zentrale Bedeutung. Der Autor ist jemand, der etwas Besonderes und Einzigartiges schafft, weil er selbst einzigartig ist. In seinem Personalstil bildet sich seine Persönlichkeit ab. Ein enger Bedingungszusammenhang besteht schon darum zwischen Inhalten, Ideen und Intentionen hier, individuellem Stil dort. Es gilt, so die mit diesem Autorkonzept kor­ respondierende Hermeneutik, den Zusammenhang von Textaussage, Intention und Stil bei der Rezeption nachzuvollziehen. Die romantische Hermeneutik (insbesondere Schleiermachers) setzt hier an: bei der Herausforderung, die darin liegt, die individu­ elle Intention eines Textautors nachzuvollziehen, die sich im individuell geprägten Ausdruck artikuliert. Das Ineffabile, das Inkommensurable des Individuellen wird zur zentralen hermeneutischen Herausforderung, zumal in poetischen Texten, die der Ausgangshypothese zufolge eben jenes Inkommensurable artikulieren. Eng ver­ knüpft sind im Zeichen der Frage nach der Relation zwischen Allgemein-Verständli­ chem und Singulärem Hermeneutik und Sprachreflexion (vgl. Birus 1987).

3.7 Autorkonzepte und Sprachreflexion Seit Hamann und Herder ist der Diskurs über Autorschaft implizit oder explizit auch ein Diskurs über den Autor qua Subjekt der Rede, wobei Hamann bereits die Span­ nung zwischen Individualität und sprachlich Kommunizierbarem pointiert zum Aus­ druck bringt. Herder verweist auf eine konsequente Radikalisierung des Autorkon­ zepts:

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Jeder Mensch muß sich eigentlich seine Sprache erfinden, und jeden Begrif in jedem Wort so verstehen, als wenn er ihn erfunden hätte. Eine Schule des Sprachunterrichts muß kein Wort hören lassen, was man nicht versteht, als wenn mans denselben Augenblick erführe. (Johann Gottfried Herder 1846, 451)

Doch die Sprachtheoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts entdecken auch die Sprache als transzendentales Apriori (unter ihnen Hamann und Herder sowie Wilhelm von Humboldt), verweisen also auf die Prägung des erfahrenden Subjekts durch seine Sprache. Zwischen Autorschaftsmodellen, die den produktiven Anteil der Dichterper­ sönlichkeit an der Gestaltung seiner Sprache betonen und die Möglichkeiten indi­ vidualisierender Sprachverwendung akzentuieren, und Komplementärmodellen, welche die Prägung des schreibenden Ichs selbst durch die Wörter, die Sprache und die Texte hervorheben und demonstrieren, besteht insofern eine (fruchtbare) Span­ nung – bereits bei Hamann, der einerseits seine Abhängigkeit von der Sprache betont, dies aber andererseits zum Anlass nimmt, ein sehr eigenständiges und eigenwilliges literarisches Idiom zu entwickeln.

3.8 Problematische Aspekte und Schwachstellen des Autorkonzepts Zu den wesentlichen Schwachstellen des Begründungsmodells, das mit den Stichwor­ ten Autor und Genie charakterisiert ist, gehört das so genannte Kommunikationspara­ dox (vgl. Plumpe 1992). Denn in eben dem Maße, in dem die literarisch-künstlerische Leistung als etwas Individuell-Einzigartiges verstanden wird, stellt sich die Frage nach der Verständlichkeit dieses Einzigartigen für andere. Kommunikation setzt voraus, dass die Partner sich auf einen gemeinsamen Code beziehen. Was jenseits der Codes liegt, bleibt inkommunikabel. Sind die Impulse, welche im Menschen schöp­ ferisch wirken, etwas Individuelles und Besonderes, so erscheint ihre Mitteilung im Rahmen codierter Sprache immer schon als ein Akt der Verfremdung. Schillers viel­ zitiertes Diktum: „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr“ aus den Xenien und Votivtafeln (1797) verweist auf die immanente Paradoxie einer Selbst­ mitteilung, deren Authentizität in ihrer Unvermitteltheit durch Codes gesehen wird, sowie auf die Enteignung des individuellen Sprechers durch seine eigene Rede. Zweifel an der Autorität des Schreibenden über das, was er mitteilt, können bereits im Zeitalter des Autors unterschiedlich akzentuiert sein: Erstens kann daran gezweifelt werden, ob der Text wirklich vom Schreibenden in dem Sinne abzuleiten ist, dass er allein dessen bewusster Absicht, seinem freien Willen, entspringt. Das späte 18.  Jahrhundert wendet sich im Zeichen seiner anthropologischen Interessen am Menschen insgesamt der Modellierung und Erforschung des Vor- und Unbewuss­ ten zu; für die Interpretation sprachlicher und schriftlicher Bekundungen kann dies nicht folgenlos bleiben. Entsprechend entwerfen romantische Schriftsteller in der

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Nachfolge irrationalistischer und empfindsamer Vorgänger Modelle literarischer Pro­ duktion, denen zufolge diese sich aus Sphären jenseits der Bewusstseinsschwelle und jenseits auktorialer Kontrolle speisen. – Zweitens stellt sich die Frage, ob das, was ein Schreibender kommunizieren will, beim Leser dieselben Ideen weckt, ob diesem also der Text eben das sagt, was der Verfasser meinte. Philosophische Hermeneutiker wie Friedrich Schleiermacher betonen die Produktivität der Interpretation. Der individu­ elle Leser entdeckt im Text gemäß seiner eigenen Disposition Bedeutungspotenziale; strikt genommen, verliert insofern der Schreibende seine Verfügungsgewalt über das, was der Text ‚sagt‘. Konzediert wird dem Interpreten sogar die Möglichkeit, einen Text besser zu verstehen als der Schreibende selbst ihn verstanden hat. Der Leser wird für die Dauer der Lektüre und Interpretation zum Autor, allerdings auch nicht zum abso­ luten Herrscher über den Text.

3.9 Spielformen des poeta creator I: Das Genie Inbegriff des schöpferischen, von keiner äußeren Regel gebundenen, keinen exter­ nen Zwecken unterworfenen Autors ist das Genie. Dieses Zentralkonzept ästhetischer Reflexion in der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts ist in Deutschland vor allem prägend für die Literatur und Poetik des Sturm und Drang, stark nachwirkend aber auch in vielen klassisch-romantischen Texten. Auch und gerade die Profilierung des Genies erfolgt im Rekurs auf religiös fundierte Topoi, der zugleich aber eine Distan­ zierung von diesen impliziert. Modelle der Eingebung ‚von oben‘ verlieren unter dem Einfluss psychologischer Diskurse ihre Tragfähigkeit. Wo auf den Inspirationstopos zurückgegriffen wird, da wird die Quelle der Inspiration ins Innere des Dichters ver­ lagert. Eine den Geniediskurs vorbereitende Aufwertung des Einzigartigen und Eigen­ artigen dokumentiert sich schon in Charles Perraults fünf Dialogen Parallèle des Anciens et des Modernes (erschienen 1688–1697) und mit Montesquieus De l’esprit des lois (1748). Das Genie gilt vielfach zwar als Ursprungsinstanz, aber nicht als regelloswillkürlich verfahrende. Als Regulativ betrachtete man u. a. den „Geschmack“: so Ale­ xander Gerard in seinem Essay on Taste (1774) und Herder (Ursachen des gesunkenen Geschmacks, 1775). Für Lessing ist das Genie ein Stück vernunftgemäßer Natur; ihm zufolge setzt sich das Genie nicht über alle Regeln hinweg – sondern, was es macht, ist selbst regelhaft (Hamburgische Dramaturgie, ab 1767, publ. 1768/1769). Klopstock betrachtet die Sprache wahrer Dichtung als eigengesetzlich (er differenziert dabei wertend zwischen Poesie und Prosa). Für den Verfasser des Messias ist der Dichter ein Berufener, eine Art Priester und Prophet, ein poeta vates in modifizierter, dem Diskurs des 18. Jahrhunderts, insbesondere der Empfindsamkeitskultur angepasster Gestalt. Seine Hauptaufgabe besteht in der Übertragung eigener Empfindungen auf den Rezipienten – in dessen Rührung (Friedrich Gottlieb Klopstock 1755, Von der heiligen Poesie). Dichtung wird vorrangig zur Rede des seherischen, begeisterten Ichs –

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zu dessen Selbstaussprache. Unter dieser Prämisse rückt bei und nach Klopstock die Lyrik, als paradigmatische Rede des poetischen Ichs verstanden, in den Mittelpunkt des Interesses.

3.9.1 Säkularisierung und Geniekonzept Dichtung beginnt im Zeitalter der Autonomieästhetik, sich als Artikulationsform sui generis zu begreifen, die anderen überlegen ist und einen so hohen Rang besitzt, dass sie – vor dem Hintergrund allgemeiner Säkularisierungstendenzen – schließlich sogar an die Stelle des religiösen Diskurses treten kann. Der Dichter – qua Autor – wird zum Schöpfer. Die Aufwertung menschlicher Kreativität im Kontext der Autono­ mieästhetik kann unter anderem als eine Säkularisierungsfolge interpretiert werden (vgl. Kleinschmidt 1998, 33). Frühromantische Dichter wie Wackenroder und Tieck beschreiben den Künstler als Schöpfer, der dem Göttlichen schaffend nahesteht, und bieten damit gezielt einen vielfach variierten Topos an; Schelling knüpft hier unter Betonung der bewusstlosen Anteile an künstlerischer Produktivität an. Für Hegel bedarf es einerseits der künstlerischen Begeisterung, andererseits aber der Reflexion und der Übung. Er vertritt zudem ein Konzept künstlerischer „Begeisterung“, das von der Idee der besinnungslosen Raserei weit entfernt ist (Georg W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, gehalten zwischen 1817 und 1829).

3.9.2 Konzepte und Implikationen genialer Produktivität Das Besondere und Charakteristische der Autor-Persönlichkeit, die sich in der Beson­ derheit und der charakteristischen Eigenart eines Werks ausdrückt, schließt auch Irrationales mit ein. Klopstocks Konzept der Poesie und ihrer Genese hat auf die Dich­ tung selbst (auf seine eigene und in der Folge auf die Dichtersprache seiner Zeit bzw. der Folgegeneration) nachhaltig zurückgewirkt. Emotionalität, Differenziertheit, Mut zur Erfindung und Umgestaltung sprachlicher Bestände charakterisieren diese Dich­ tersprache in der Folge, teilweise bis zum Exaltierten und Exzentrischen. Beschrieben wird die Produktionsweise des Genies gern durch organologische Metaphern: Bilder des Keimens, Wachsens, Blühens, Reifens gewinnen poetologischen Sinn. Vielfach beschworene Vorbilder sind einzelne Originalgenies, welche die Namen histori­ scher Dichterpersönlichkeiten tragen, dabei aber auf zeitspezifische Weise profiliert werden: Im Bereich der dramatischen Dichtung ist dies Shakespeare, im Bereich der Lyrik Pindar. Gerade der Diskurs über das Genie findet zu wesentlichen Teilen im literarischpoetischen Medium selbst statt; das Genie ist Zentralfigur programmatischer lyri­ scher Texte (vgl. etwa Johann Wolfgang v. Goethe 1772, Wandrers Sturmlied), und es bekommt in dieser Eigenschaft auch einen mythischen Vorfahren zugeschrieben: den

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Rebellen, Feuerbringer und Menschenschöpfer Prometheus, wie er in einer Hymne Goethes zu Wort kommt (Prometheus, 1772–1774). Der Künstler als Prometheus erhebt programmatischen Anspruch darauf, keine sekundäre, der Natur nachgeschaffene, sondern eine primäre Realität zu produzieren.

3.10 Spielformen des poeta creator II: Der Konstrukteur Als konzeptuelles Pendant des Genies, das in modifizierter Anlehnung an das Konzept des poeta vates modelliert wird, kann im Horizont des modernen Autorschaftsdis­ kurses ein modernespezifisches Nachfolgemodell des poeta doctus gelten: der Poet als Methodiker, Ingenieur, Konstrukteur, planvoller Bastler und Arrangeur. Prototy­ pische Konturen gewinnt dieser Dichtertypus in Edgar Allan Poes Essay The Philosophy of Composition (1846). Hier spricht Poe darüber, wie sein Gedicht The Raven ent­ stand, schildert die Planung und Realisierung des Textes und kommentiert, warum es zu den einzelnen gestalterischen Entscheidungen kam: zur Wahl des Sujets und der Stimmung des Textes, zur Festlegung des Textumfangs, zur Entscheidung für ein Reimwort, zur Kalkulation spezifischer Effekte von Klängen, Formen und Strukturen. Alle diese Entscheidungen sind dem Essay zufolge aufeinander abgestimmt. Motiv dieser Erläuterungen ist der Anstoß, den Poe an geläufigen Konzepten eines bewusst­ losen oder doch planlosen dichterischen Schaffens nimmt; er möchte im Gegenzug dazu das Publikum einen Blick hinter die Kulissen poetischer Arbeit werfen lassen, die er in Bildern einer komplizierten Theatermaschinerie beschreibt, welche bewusst und planvoll in Gang gesetzt wird. Poe interpretiert den Dichter als Mechaniker, der seine Effekte genau kalkuliert. Damit gibt er der Autorenpoetik der Moderne wichtige Impulse.

3.10.1 Dichtung als methodische Praxis Poes Abhandlung muss nicht buchstäblich genommen werden, wohl aber ist sie ernst zu nehmen als Konzeptualisierung eines methodisch verfahrenden poetischen Inge­ nieurs, eines planvollen Konstrukteurs, der souverän über sein Material und seine Mittel verfügt – auch und gerade über seine sprachlichen Mittel – , sein Gedicht als eine in sich stimmige Apparatur konstruiert und darüber auch Rechenschaft geben will. Auch für Paul Valéry ist Dichtung etwas planvoll Hervorgebrachtes, die Rolle des Dichters die eines bewusst arbeitenden Konstrukteurs (vgl. Paul Valéry 1991, Rede über die Dichtkunst (44–64), Über die literarische Technik (12–16), Dichtkunst und abstraktes Denken (141–171)). Er weist auf die problematischen Seiten des Ins­ pirationstopos hin und optiert demgegenüber für ein Modell, das die Kompetenzen des poeta doctus würdigt. Dichtung ist eine intellektuelle Leistung, das Gedicht eine ‚Maschine‘ zur Erzeugung von Wirkungen. Dichter sind keine verwirrten Träumer,

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sondern sie arbeiten kalkuliert und mit wissenschaftlicher Präzision. Klarheit und Selbsttransparenz der Entscheidungen prägen den poetischen Umgang mit Vorge­ fundenem. Thomas Stearns Eliot sieht die Bedeutung von Poes Philosophy weniger in ihrem Inhalt als in der Haltung, die sich in ihr ausdrückt und die Valéry von Poe übernommen habe; er nennt Coleridge als Vorläufer Poes und akzentuiert so die Kon­ tinuität, mit der sich die Idee einer poetischen Methodik entwickelt hat (Von Poe zu Valéry/From Poe to Valéry [1949], in: Allemann 1966, 1–4). Das Kalkül des Dichters ist nicht nur ein Lieblingsthema moderner Poetik, die explizite Poetik wird dabei selbst zum Bestandteil des Kalküls. In Anknüpfung an Poe spricht auch Hans Magnus Enzensberger von der Technologie des Gedichts und verweist auf die Bedeutung der Inspirations-Kritik für die Geschichte moderner Poetik (vgl. Wie entsteht ein Gedicht? [1961], in: Allemann 1966, 5–9). Dem Dichter als einem Kalkulator poetischer Effekte ist der Dichter als Sprachartist eng affin, der die Effektpotenziale seines Mediums, der Wörter, der Wortklänge, der Rhythmen und anderer Strukturen kennt und den Rezipienten damit in seinen Bann schlägt.

3.10.2 Autorenpoetiken als Selbstentwürfe Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ist eine Pluralisierung der Spielformen und Themen poetologischer Reflexion zu beobachten. Vertreter der literarischen Moderne haben in vielen Fällen ein umfangreiches Œuvre an literaturtheoretischen und lite­ raturtheoretisch relevanten Schriften hinterlassen. Im 20. Jahrhundert ist es fast zur Regel geworden, das eigene literarische Schaffen theoretisch-reflektierend zu beglei­ ten. Diese poetologische Reflexion ist an keine spezifische Textsorte gebunden, sie unterhält jedoch Affinitäten zu bestimmten Textformen wie Abhandlung, Essay, Vortrag oder Vorlesung sowie zu paratextuellen Formen wie Vor- und Nachwort. Quantitativ und hinsichtlich ihrer Bedeutung für den literarischen Kommunikations­ prozess gewinnt die Textform der Autorenpoetik vor allem in jüngerer Zeit an Gewicht; Poetikvorlesungen etablieren sich als feste Institutionen. Dabei wird vielfach auf tra­ dierte poeta-Konzepte zurückgegriffen, vielfach aber im Zeichen der Ambiguisierung. Die Bereitschaft, über das eigene Tun Auskunft zu geben, findet sich innerhalb der Autorenpoetiken selbst vielfach relativiert  – so etwa durch das Geständnis, keine Poetik zu besitzen, ja, gar nicht zu wissen, was Poetik sei, durch die Betonung, nichts Repräsentatives über Literatur und literarische Produktion sagen zu können, oder auch durch bewusste Ambiguisierung der eigenen Rede. Das Spektrum einschlägiger Strategien reicht von Selbstironisierungen und Selbststilisierungen über die Erfin­ dung von Pseudomotiven und Scheinbegründungen bis hin zur (vorgeblichen) Ver­ weigerung der Auskunft. Unter wechselnden Akzentuierungen wird der Texttypus der Autorenpoetik zum Anlass und zum Medium dichterischer Selbstbeschreibun­ gen und Selbstentwürfe. Bei Poetikvorlesungen, die in Gegenwart eines Auditoriums gehalten werden, haben performative Aspekte dabei manchmal erheblichen Anteil,

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wie etwa die Frankfurter Poetikvorlesungen von Ernst Jandl (1984/85) und Juli Zeh (2013) illustrieren. Ein Kernthema moderner und zeitgenössischer Autorenpoetiken ist immer wieder die Sprache, ist ihre emphatische Affirmation und ihre Kritik, sind Wörter und Ausdrucksweisen, Sprachregeln und Praktiken des Sprachgebrauchs. Dies gilt insbesondere für die (selbst-)kritische Diskussion um die Frage, ob und wie sich Gewalt und sprachliche Manipulation (etwa in totalitären Gesellschaften) kri­ tisch reflektieren lassen.

3.11 Metaliterarische Autoren-Geschichten In der Literatur werden die Geschichte des Autors seit dem späteren 18. Jahrhundert sowie das Modell Autorschaft in seinen diversen Spielformen ausgiebig reflektiert. Einerseits stehen dabei erwartungsgemäß viele Texte im Zeichen der Profilierung und Affirmation von Autorschaft; andererseits werden oft auch problematische Aspekte von Autorschaft, ‚Autoren‘ von fragwürdiger Autorität sowie innere Brüche des Autor­ diskurses bespiegelt. – Erzählt werden Geschichten über von Isolierung und ökono­ mischer Not bedrohte Einzelgänger, tragische aber auch komische Geschichten über die große Diskrepanz zwischen literarischem Anspruch und den Möglichkeiten seiner Verwirklichung. Auch fingierte Hinweise auf Vorgängertexte, von denen der Verfasser angeblich abhängig ist, dienen der kritischen Revision auktorialer Ansprüche, des­ gleichen der ostentative Einsatz von Zitaten sowie andere Strategien intertextueller Vernetzung.  – Kontrastiv zum Konzept des kreativen Autors werden verschiedene andere poeta-Enwürfe in Erinnerung gerufen und literarisch ausgestaltet. So steht Jean Pauls Satirensammlung Auswahl aus des Teufels Papieren (1789) im Zeichen der Modifikation des Inspirationsmodells: Der fiktive Verfasser der Texte ist von einem Teufel besessen und fungiert als dessen Schreibmaschine. Und Jean Pauls Leben Fibels (1811) handelt von einer kuriosen Autor-Figur, die ihre eigene Autorschaft so konsequent und radikal konzipiert, dass sie das Modell als solches ad absurdum führt, insbesondere durch pseudo-auktoriale Aneignung der Ideen und Werke anderer. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr (1819/1821) präsentieren als Verfasser einer Autobiographie parodistisch einen Kater, der sich als Autor selbst inszeniert und dabei erkennbar eine Rolle spielt; zu dieser gehört insbesondere das souveräne Verfügen über den Autor-Diskurs und seinen spezifischen Code. Der Bogen einfalls­ reicher Spiele mit wechselnden Typen literarischer Verfasserschaft spannt sich vom 18. Jahrhundert bis zur Postmoderne. Spiele mit Pseudo-Quellen und fingierten Refe­ renzen sind gerade in jüngerer Zeit beliebt; Autorschaft und ihre Konzeptvarianten bilden ein vielthematisiertes Sujet. Italo Calvino lässt in seinem Meta-Roman Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) ganz verschiedene Autor-Typen auftreten, unter anderem Spielformen des poeta vates und des poeta doctus, des selbstbewusst und souverän auftretenden Autors und des Schriftstellers, der die Autorrolle nicht akzep­

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tiert, des einfallsreichen Schriftstellers und des Plagiators, des Autor-Individuums und des anonymen Sprechers oder Publizisten.

4 Der Autor als Phantom: Subjektkritik und ­Dekonstruktion auktorialer Begründungsmodelle 4.1 Wer schreibt? Schon mit der Romantik setzt ein Prozess der reflexiven Auflösung des Subjekts ein, insofern dieses als identische, ihrer selbst gewisse Instanz begriffen worden ist. Die Vorstellung von der inneren Gespaltenheit und Vielheit des Ichs gewinnt an Einfluss und wird im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts weiter ausgearbeitet. Davon betrof­ fen ist auch die Idee der Autorschaft. Versuchsweise wird gerade in literarischen Texten das Schreiben nicht mehr als die Tätigkeit eines bewussten und planenden Ichs gedacht, sondern als ein Prozess, bei dem sich un- und vorbewusste Instan­ zen geltend machen. Nietzsche unterzieht die Konzeption des einheitlichen, mit sich selbst identischen Subjekts einer radikalen Kritik; das vermeintlich identische Subjekt sei eine Vielheit widerstreitender Kräfte und sich selbst nicht transparent. Suggeriert werde, so Nietzsche, der irrige Glaube an identische Subjekte durch die Sprache: durch eine Grammatik, welche alle sprachlich bezeichneten Dinge der Logik von Subjekt, Objekt und Prädikat unterwerfe (Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn, 1873). Das u. a. von der Psychoanalyse bekräftigte Vorstellungsbild eines multiplen Ichs, in dem undurchschaubare Impulse wirken, ist mit dem Konzept souveräner Autorschaft nicht vereinbar. Wer also schreibt? Nietzsches und Freuds Subjekt-Kritik bildet einen wichtigen Ausgangspunkt für die Demontage des Autors in poststrukturalistischen Diskursen des späteren 20. Jahrhunderts. Kritisch dekons­ truiert wird im Zusammenhang damit auch die hermeneutische Hypothese eines vor­ gegebenen und zu erschließenden Sinnes von Texten; dekonstruktivische Lektüren suchen die These von der Kohärenz und Geschlossenheit des Textes ebenso zu unter­ minieren wie die von seiner inneren Stimmigkeit und Widerspruchsfreiheit. – Gerade das literarische Schreiben erscheint dabei aus poststrukturalistischer wie auch aus hermeneutischer Perspektive als Musterbeispiel nicht-auktorialer respektive aukto­ rialer Praxis.

4.2 Was für ein Konstrukt ist eigentlich der Autor? Die in den 1960er Jahren einsetzende dekonstruktive Kritik am Modell des sinnstif­ tenden Autors wird in Theoriediskursen des 20. Jahrhunderts langfristig vorbereitet,

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wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten (vgl. zum Folgenden Jannidis u. a. 1999). In Theorien literarischer Texte werden dabei verschiedene und verschieden radikale Fragen zum Ausgangspunkt der Kritik, u. a. die folgenden: Was erfahren wir als Leser eigentlich vom Autor? Schließlich haben wir es etwa bei Erzähltexten mit einem Erzähler zu tun, der zu uns spricht – und der darf keineswegs mit dem Autor verwech­ selt werden; auch ein unmittelbarer Rückschluss auf Autorintentionen ist nicht statt­ haft (vgl. etwa Wolfgang Kayser 1957, Wer erzählt den Roman?). Warum sollte sich der Leser überhaupt für die Aussageintentionen des Autors interessieren? Ist nicht der entscheidende Partner des Lesers der Text selbst? (vgl. William K. Wimsatt/Monroe C. Beardsley 1954, The Intentional Fallacy). – Wenn wir schon unterstellen, der Text ver­ weise zurück auf einen Autor als die Instanz, welche sich durch diesen Text äußert – mit welchem Recht identifizieren wir diesen im Text zur Sprache kommenden Autor mit einer bestimmten empirischen Person? (Für Theoretiker wie Wayne C. Booth ist dem Text ein ‚implizierter Autor‘ zugeordnet, der vom empirischen Schriftsteller kate­ gorial unterschieden werden muss; vgl. Booth 1961, The Rhetoric of Fiction.)

4.3 „Wen kümmert’s, wer spricht?“ Vor allem Michel Foucault und Roland Barthes setzen sich kritisch mit dem Begrün­ dungsmodell Autorschaft auseinander; Barthes prägt die vielzitierte Formel vom Tod des Autors (La mort de l‘auteur, 1968). – Foucault analysiert 1969 (in Qu’est-ce qu‘un auteur?) den Autor-Diskurs hinsichtlich seiner Implikationen. Er konstatiert, dass die Institution dessen, der spricht, also des Autors von Texten, inzwischen nicht mehr als bedeutsam betrachtet werde, erhebt also nicht den Anspruch, mit dem Gedanken einer Abdankung des Autors als Begründungsinstanz von Texten selbst der Urheber einer originellen Idee zu sein. Am Anfang seiner Erörterungen steht keine eigene For­ mulierung, sondern programmatischerweise ein Zitat (von Samuel Beckett): „Wen kümmert’s, wer spricht?“ Foucaults Analysen zufolge hat das Konzept des Autors, des persönlichen Urhebers von Werken, eine Reihe von Funktionen innerhalb des die lite­ rarischen Texte umgebenden Geflechts von Theorien und Interpretationen gehabt; er analysiert die Diskursivierungen des Autors – der damit als ein Produkt sprachli­ cher Operationen erscheint! Autornamen dienen laut Foucault dazu, Gruppierungen vorzunehmen, Einheiten und Ordnungsmuster in die Welt der Texte hineinzulesen; dass Leser nach einer Autor-Person ‚hinter‘ dem Text suchen, ist das Ergebnis diskur­ siver Konditionierung innerhalb einer Gesellschaft in einer begrenzten historischen Epoche. Die Preisgabe des Konzepts vom subjektiven Autor samt seinen Implikati­ onen wird von Foucault als befreiend betrachtet  – als Befreiung etwa vom Verbot, sich zu widersprechen, also von der Forderung, schreibend auch von Text zu Text mit ‚sich‘ identisch zu bleiben, als Befreiung ferner von der Erwartung, durch Abgrenzung von anderen Autor-Subjekten individuelle ‚Besonderheit‘ demonstrieren zu müssen.

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Für den Schriftsteller post-auktorialen Zuschnitts sind, wie Ingold in Erinnerung ruft, viele metaphorische Beschreibungen gefunden worden, die literarische Autoren teilweise selbst erfanden, um den abgeleiteten Charakter der eigenen Arbeit – oftmals unter Hervorhebung konkreter Schreibpraktiken – zu betonen: „Plagiator“, „Kopist“, „Veranlasser“, „Nichtkünstler“, „Skribent“, „Sekretär“, „Übersetzer“, „Epigone“ (Ingold 1992, 425 f.).

4.4 Literarische Reflexionen über den post-auktorialen Diskurs Nicht nur in Theoriediskursen, sondern auch in literarischen Werken hat die dekon­ struktive Kritik des Autormodells ein vielfältiges Echo gefunden; gelegentlich ist sie zum Ausgangspunkt zitathafter Modellierungen von ‚Nicht-Autoren‘ geworden. Zu den vielen Gestalten, die in Italo Calvinos Roman „Se una notte d’inverno un viag­ giatore“ (ital. 1979, dt. 1983) die unterschiedlichen am literarischen Prozess beteilig­ ten Instanzen repräsentieren, gehört auch ein Literaturagent namens Ermes Marana, der letztlich nichts anderes als eine gehobene Kunst der Fälschung betreibt. Marana vermittelt seinen Kontaktverlagen Manuskripte, die durch Übersetzungen von Ori­ ginaltexten in andere Sprachen zustande gekommen sind, und er gibt die Überset­ zungen als Originale aus, wobei er die Verdunkelung der Urheberschaft theoretisch mit Argumenten rechtfertigt, die dem Diskurs über den Tod des Autors entstammen. Und die Figur des Schriftstellers Silas Flannery spielt in Calvinos Roman  – wiede­ rum zitatweise – den Gedanken durch, welche Erleichterung es bedeuten würde, kein Autor sein zu müssen. Anstelle des sich als individuelles Subjekt begreifenden Ichs solle lieber ein unpersönliches „Es“ schreiben, dann wäre der Text wenigstens jener Beliebigkeit entzogen, die mit der Bindung an einen kontingenten Urheber stets ein­ hergehe. Flannery möchte sich als Medium in den Dienst potenzieller Texte stellen, die er aber nicht als die eigenen begreift (Italo Calvino 1983, 205 f.).

4.5 „Wer liest?“ Zusammen mit dem Konzept der Autorschaft wird das der Identität des Textes einer kritischen Destruktion unterzogen. Texte ‚haben‘ keinen Sinn, so eine Formel, auf die sich viele einschlägige Überlegungen bringen lassen, sie ‚generieren‘ Sinn; Ort der Genese ist das Bewusstsein des Lesers. Schon Valéry hatte vom Text als einer Maschine gesprochen, die im Leser Bedeutungen produziert. Der Leser wird (in diesem Punkt konvergieren Rezeptionsästhetik und Dekonstruktion) zum Ersatz-Autor – allerdings zu einem Autor mit temporärer Autorität. Felix Philipp Ingold formuliert die Konse­ quenz:

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Meines Erachtens ist es so, daß Sie meinen Text anreichern. Denn letztlich ist doch die Lektüre eine schöpferische Tat, wie auch die Erfahrung etwas Schöpferisches ist. Jedesmal, wenn ich einen Text lese, verändere ich ihn. Und jedesmal, wenn ich einen Text schreibe, wird jeder seiner Leser ihn verändern. (Ingold 1988, 347)

Die Literatur brauche keine Autoren, wohl aber Leser, so auch Calvinos autorschafts­ überdrüssiger Schriftsteller Flannery; ihm erscheint es undenkbar, den Prozess der Lektüre an ein anonymes „Es“ zu delegieren (Italo Calvino 1983, 211). Literarische Texte, die wie Calvinos Roman auf die Kritik des Autorkonzepts Bezug nehmen, lassen sich allerdings nicht im Sinn einer eindeutigen theoretischen Positionierung für den post-auktorialen Diskurs vereinnahmen. Insofern der jeweilige Verfasser die Thesen und Modelle des letzteren zitiert, lässt sich sein Verfahren im Horizont einer aukto­ rialen Poetik ja auch als ein intentionales und souveränes Verfügen über Sprechwei­ sen beschreiben. Die Diagnose vom „Tod des Autors“ hat insgesamt viel Bewegung in die literarischen und theoretischen Entwürfe der Schreibinstanz gebracht; schon im endenden 20. Jahrhundert hat sich aber dann auch die Formel von der „Rückkehr des Autors“ etabliert (vgl. Jannidis u. a. 1999).

5 poeta linguisticus – Entwürfe des Dichters in seiner Rolle gegenüber Wörtern und Sprache 5.1 „Arbeit mit Wörtern“ Literatur und Poetik der Moderne sind zu weiten Teilen durch ein ausgeprägtes Bewusstsein von der Sprachgebundenheit des literarischen Arbeitsprozesses cha­ rakterisiert. Ein viel zitiertes Diktum Mallarmés akzentuiert die förmliche Gleichset­ zung der Dichtung mit einer „Arbeit mit Wörtern“: „nicht aus Ideen macht man Verse, sondern aus Wörtern“, und Valéry kommentiert dies mit den Worten, darin liege „eine gewaltige Lehre“ (Valéry 1989, 438). Auch Helmut Heißenbüttel betont, daß Literatur nicht aus Vorstellungen, Bildern, Empfindungen, Meinungen, Thesen, Streitobjek­ ten, ‚geistigen Gebrauchsgegenständen‘ usw. besteht, sondern aus Sprache, daß sie es mit nichts anderem als mit Sprache zu tun hat. (Heißenbüttel 1966, 219)

Im Zentrum poetologischer Reflexionen der Moderne, insbesondere auch der Avant­ garden, sowie der Postmoderne stehen die Voraussetzungen, Implikationen und Wirkungen solcher Arbeit an und mit Sprache. Für die intensive, aspektreiche, aber auch kontroverse Auseinandersetzung der Schriftsteller des 19. Jahrhunderts mit der Sprache gibt es seit Hofmannsthals Chandosbrief (1902) eine Fülle von Zeugnissen,

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die belegen, dass sich diese Dichter maßgeblich über ihren Bezug zu Sprachlichem entwerfen.

5.2 „Monolog“ Bereits im Monolog des Novalis (1798) wird der wechselseitig prägende Bezug von Sprache und Sprachbenutzer als poetologisches Kernthema nicht allein thematisiert, sondern durch die Textstruktur selbst bespiegelt. Kritisiert wird zunächst ein Ansatz, der die Wörter zu beliebig handhabbaren Instrumenten der Bezeichnung degradiert; an seine Stelle tritt die Idee eines Sprechens, bei dem sich die Sprachbenutzer der Sprache überlassen, indem sie deren Vorgaben statt dem eigenen Willen folgen. Dass sich die Sprache durch die Sprecher nicht eigentlich funktionalisieren lässt, muss konsequenterweise auch für den gelten, der über Sprache etwas sagen will, also für den Verfasser des Monologs selbst. Als Modifikation des poeta-vates-Modells kommt die Idee eines von der Sprache inspirierten Sprechers (eines „Sprachbegeisterten“) ins Spiel; von der Sprache getragen, könnte der Sprecher mit seinen Intentionen zugleich Botschaften der Sprache selbst artikulieren, wobei die implikationsreiche Idee sprachgegründeter Botschaften weiter zu erörtern wäre. Doch nicht immer münden Reflexionen über die mediale Rolle des Sprachbenutzers gegenüber der Sprache in Bilder der Vermittlung; in anderen poetologischen Kontexten werden eher unvermittelbare Spannungen akzentuiert oder Hierarchien statuiert. So bezieht sich Felix Philipp Ingold zwar auf Novalis’ Monolog, spricht anlässlich einer Charakteris­ tik einschlägiger Ansätze (als deren Vorbereiter und Repräsentanten er Mallarmé, Benjamin, Blanchot und Heidegger betrachtet) aber von einer Unterwerfung des Schreibenden unter die Sprache (Ingold 1992, 359).

5.3 Moderne Poetik als Sprachreflexion Die Akzentuierung der prägenden Macht der Sprache über den Sprachbenutzer, vor­ bereitet durch die sprachphilosophischen Erörterungen Humboldts, Gustav Gerbers, Nietzsches und anderer, erfolgt in sprachtheoretischen und poetologischen Kontex­ ten mit unterschiedlicher Radikalität – mit jeweils unterschiedlichen Konsequenzen für die Interpretation der dichterischen Arbeit und des literarisch-poetischen Textes. Moderatere Vertreter dieses Ansatzes bestreiten die Autonomie des Sprachbenut­ zers gegenüber der Sprache qua Struktur, betonen zugleich aber auch die Rolle des Sprachbenutzers als eines Subjekts, dessen die Wörter als ihres Trägers bedürfen (Gauger 1995, 107 u. 111). Eine solche Position verhält sich affin zu Selbstinterpretatio­ nen von Schriftstellern, die sich für die von ihnen verwendete Sprache verantwortlich fühlen oder unter anderer Akzentuierung die ethisch-politischen Dimensionen des Umgangs mit Wörtern und Sprechweisen auch und gerade in der Literatur hervorhe­

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ben: sei es im Sinne der Kritik an Formen gesellschaftlicher Sprachverwendung, an einer durch die technisierte und verwissenschaftlichte Welt reduzierten ‚verformel­ ten‘ Sprache (Ingeborg Bachmann 1959/1960, Frankfurter Poetikvorlesungen), sei es im Sinn einer Klage über die Folgen totalitaristischer Sprachkontrolle, insbesondere in der NS-Zeit, sei es im Sinn der programmatischen Idee, literarische Arbeit stehe im Dienst der intentionalen Sprachpflege, der Spracherneuerung und -bereicherung. Die Auseinandersetzung zwischen poststrukturalistischen und hermeneutischen Positionen kreist um die Frage nach dem Primat von Zeichenbenutzern und Codes. Alternativ stehen die These von der Unhintergehbarkeit der Struktur durch das spre­ chende Subjekt und die Gegenthese von der Unhintergehbarkeit des Subjekts durch die Struktur im Raum (Frank 1984; Behler 1988). Wichtigstes Paradigma der ZeichenOrdnungen ist die Sprache. Die Überzeugung von der Apriorität der Ordnungen über das Subjekt führt dabei zur These einer Sprache, die sich selbst spricht, einer Schrift, die sich selbst schreibt, statt für die Intentionen eines Autors verfügbar zu sein; gern wird auf einschlägige Ideen Mallarmés verwiesen. Kritiker dieses Ansatzes betrachten die „Liquidierung des Subjekts in der Ordnung der Zeichen“ als erkenntnistheoreti­ sche Legitimation für den Autonomieverlust des Einzelnen in der modernen Zivilisa­ tion und ihrer Systeme; deren Macht sei zwar zu konstatieren, dürfe aber nicht „the­ oretisch besiegelt werden“ (Frank 1980, 11). Ganz anders akzentuieren Theoretiker wie Michel Leiris die Konsequenzen aus der Entmächtigung des Einzelnen gegenüber der Sprache: als deren Befreiung von einer angemaßten Herrschaft, als Verwandlung des Autors in ein Medium der Wörter, das im Dienst von deren Sinnpotenzialen steht („Mögest du das Sprachrohr der Worte sein und nicht ihr dürftiger Benutzer!“, Leiris 1981/83, 11).

5.4 Spielformen poetischer Sprachreflexion: Unterwerfung oder Absicherung des Sprachbenutzers? Ansätze, welche der Sprache allein die Rolle zuweisen, die im Horizont des Autordis­ kurses der Schriftsteller eingenommen hatte, finden sich in unterschiedlicher Akzen­ tuierung. So spricht etwa Ingold nicht nur von der Unterwerfung der Schreibenden unter die Sprache, sondern auch von deren Sprachvertrauen; der russische Philosoph und Sprachwissenschaftler Aleksandr Potebnja und Gottfried Benn als Verfasser des Aufsatzes Probleme der Lyrik gelten ihm als Repräsentanten eines solchen Bewusst­ seins, schreibend von der Sprache selbst bestimmt, aber auch getragen zu werden (Ingold 1992, 356 f.). Rekurriert wird im Kontext solch sprachzentrierter Poetik nicht zuletzt auf das Modell der Glossolalie; der Dichter erscheint als jemand, der in Zungen redet – in fremden Zungen, auf oft irritierende Weise. Ernst Jandls medial und gestalterisch facettenreiches Werk steht ganz im Zeichen der Erkundung von Sprache; der Bezug dichterischer Texte zur Wirklichkeit ist für ihn kongruent mit dem zur Wirklichkeit gesellschaftlicher Sprechpraxis, und er

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inszeniert sich selbst in Texten und Performanzen als ein Dichter, der sich ganz den Möglichkeiten der Sprache überlässt, an konkreten Phänomenen sprachlicher Praxis dabei auch Kritik übt, im Grundsätzlichen aber keine Zweifel an der Sprache kennt (vgl. Jandl 1973). Nicht die Sprache sei für das verantwortlich zu machen, was mittels ihrer in der Geschichte angerichtet worden sei, sondern deren Benutzer, so Jandl. In seinem Œuvre wird variantenreich durchgespielt, was es bedeuten kann, schreibend die Sprache zu erkunden: Wörter werden zerlegt, Redensarten ausgestellt, neue Son­ dersprachen wie die sogenannte „heruntergekommene Sprache“ entwickelt. Diverse Texte entstehen, dem Selbstzeugnis Jandls zufolge, in produktiver Auseinanderset­ zung mit Wörterbuch und Grammatik.

5.5 Wörterbuchleser, Wörterbuchschreiber, Wort-Spieler Neuere Schriftsteller verschiedener Sprachräume bekunden ihre Passion für Lexika, Glossarien, Wörterbücher und ähnliche Sammlungen sprachlichen Materials. So hat Seamus Heaney seine Anfänge als Dichter in der Erinnerung an frühe Beeindruckun­ gen durch Sprachliches rekonstruiert; das „Handwerk des Findens von Wörtern“ habe bei Wortreihungen seinen Ausgang genommen, wie sie sich in Litaneien und anderen Namenslisten finden (Heaney 1980, 13). Ingold hat von „intralingualer“ Übersetzung gesprochen, wo Schriftsteller wie Michel Leiris’ (Wörter ohne Gedächtnis) ihre sprach­ lichen Materialien einer Analyse und Transformation unterwerfen, bei der zutage treten soll, was ‚in den Wörtern‘, ‚in der Sprache‘ selbst steckt. Der Schriftsteller selbst übernimmt dabei, diesem Modell zufolge, die Rolle eines Arrangeurs oder Laboras­ sistenten bei einem Experiment. Durch poetische Praktiken wie sie Leiris, Michel Tournier, Oskar Pastior und andere Dichter entwickeln, wird die Existenz verborgener Sprachschätze suggeriert, die man aus den konventionellen Sprachbeständen her­ ausholen kann, etwa durch Anagramme, Palindrome, Manipulationen an Wort- und Text-Material etc. Bei diversen Schriftstellern, die sich damit vor allem über ihre Beziehung zum Wörterbestand ihrer Sprache profilieren, werden vor allem die Formate des Lexikon­ eintrags und des Wörterbuchartikels modellbildend für sprachreflexive literarische Schreibweisen (Leiris, Ingold, Tournier, Ponge). Durch das ‚Abklopfen‘ geläufiger Wörter auf mögliche Bedeutungen – so die Leitidee – reichern diese sich semantisch an; durch Zerlegung von Vokabeln in ihre Einzelteile (also einen reduktiven Prozess) werden Neubildungen möglich, die gegenüber dem sprachlichen Ausgangssubst­ rat komplexere Bedeutungen tragen; durch die Erfindung neuer Vokabeln tritt der Sprachbenutzer in einen kreativen Bezug zur Sprache. Einer Poetik des Wortes verpflichtet sind auch solche Texte, in denen das Wörter­ buch als verdichtete Repräsentation von Sprach- und von Weltwissen eine thematisch tragende Rolle spielt. Peter Handke bietet ein Beispiel für die Konzeptualisierung des Wörterbuchs als gleichsam eingefaltete und wieder entfaltbare Komplexität von Welt­

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wissen. Als poetologisches Zentralmotiv fungiert in Die Wiederholung (1986) ein altes Wörterbuch, beschrieben „als Sammlung von Ein-Wort-Märchen“ mit der „Kraft von Weltbildern“, wobei den Vokabeln dieses Wörterbuchs zudem die Kraft zugeschrie­ ben wird, den Leser selbst zu befragen und insofern auch künftige Aussagen noch unbestimmten Inhalts zu evozieren (Peter Handke 1989, 205). Hermann Burger hin­ gegen lässt in Blankenburg (1986) seinen durch literarische Kanonlektüren komplexi­ tätsgeschädigten Protagonisten mithilfe des Grimmschen Wörterbuchs genesen; die in einen erläuternden Artikel eingehegte Vokabel erscheint hier als Remedium gegen eine allgegenwärtige Proliferation der Korrespondenzen und Bedeutungspotenziale. Günter Grass schreibt in Grimms Wörter (2010) ein Stück deutscher Geschichte als Sprach-Geschichte, und zwar am Leitfaden von Vokabeln, die zum einen dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, zum anderen neueren Phasen der Sprach- und Kulturgeschichte entstammen. Hier und in anderen Beispielen jüngerer Literatur erscheint das Wörterbuch als die literarische Arbeit grundierende Instanz – als Liefe­ rant von Vokabeln, als Gegenüber und als Dialogpartner des Schriftstellers, manch­ mal gar als sein Double.

6 Literatur 6.1 Primärliteratur Allemann, Beda (Hg.) (1966): ars poetica. Texte von Dichtern des 20. Jahrhunderts zur Poetik. Darmstadt. Calvino, Italo (1983): Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Übers. v. Burkhart Kroeber. München. Handke, Peter (1989): Die Wiederholung. Frankfurt a. M. Herder, Johann Gottfried (1846): Journal meiner Reise im Jahre 1769. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 4. Hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1878, 343–461. Heaney, Seamus (1980): Vom Fühlen in die Wörter. In: Ders.: Die Herrschaft der Sprache. Essays und Vorlesungen. München/Wien 1992. Heißenbüttel, Helmut (1966): Voraussetzungen. In: Ders.: Über Literatur. Stuttgart, 219–223. Ingold, Felix Philipp (1988): Das Buch im Buch. Berlin. Ingold, Felix Philipp (1992): Der Autor am Werk. Versuch über literarische Kreativität. München/ Wien. Jandl, Ernst (1973): zweifel an der sprache. vortrag für ein literatursymposium gleichen titels. In: Ders.: für alle. Darmstadt/Neuwied 1974, 249–258. Krause, Markus/Stephan Speicher (Hg.) (1990): Absichten und Einsichten. Texte zum Selbstverständnis zeitgenössischer Autoren. Stuttgart. Leiris, Michel (1981/83): Das Band am Hals der Olympia. Hg. v. Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt a. M. 1989. Valéry, Paul (1989): Werke. Frankfurter Ausgabe. 7 Bde. Hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt. Bd. 3: Zur Literatur. Frankfurt a. M. Valéry, Paul (1991): Werke. Frankfurter Ausgabe. 7 Bde. Hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt. Bd. 5: Zur Theorie der Dichtkunst und vermischte Gedanken. Frankfurt a. M.

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6.2 Sekundärliteratur Barmeyer, Eike (1968): Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie. München. Barthes, Roland (2000): Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart, 185–193. Behler, Ernst (1988): Derrida-Nietzsche. Nietzsche-Derrida. München u. a. Birus, Hendrik (1987): Zum Verhältnis von Hermeneutik und Sprachtheorie im 18. Jahrhundert. In: Rainer Wimmer (Hg.): Sprachtheorie. Düsseldorf, 143–174. Blumenberg, Hans (1957): ‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Studium Generale, Bd. 10, Nr. 5, 266–283. Bosse, Heinrich (1981): Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn. Breitinger, Johann Jacob (1740/1966): Critische Dichtkunst. Bd. 1. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart. Curtius, Ernst Robert (1948/1993): Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen/ Basel. Dodds, Eric Robertson (1951/1970): Die Griechen und das Irrationale. Darmstadt. Foucault, Michel (1969/1986): Archäologie des Wissens. Dt. v. Ulrich Köppen. 2. Aufl. Frankfurt a. M. Foucault, Michel (1969/1988): Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Dt. v. Karin von Hofer/Anneliese Botond. Frankfurt a. M. Frank, Manfred (1980): Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie. Frankfurt a. M. Frank, Manfred (1984): Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a. M. Gauger, Hans-Martin (1995): Über Sprache und Stil. München. Gellhaus, Axel (1995): Enthusiasmos und Kalkül. Reflexionen über den Ursprung der Dichtung. München. Jannidis, Fotis u. a. (Hg.) (1999): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen. Kant, Immanuel (1790/1971): Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Gerhard Lehmann. Stuttgart. Kleinschmidt, Erich (1998): Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen/Basel. Plumpe, Gerhard (1979): Eigentum – Eigentümlichkeit. Über den Zusammenhang ästhetischer und juristischer Begriffe im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23, 175–196. Plumpe, Gerhard (1992): Autor und Publikum. In: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek, 380–391. Schmidt, Jochen (1985/2004): Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Heidelberg. Wehrli, Max (1984): Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung. Stuttgart.

Henrik Nikula

10. Das Problem der Ästhetizität von Texten Abstract: Literarische Texte können wegen ihres besonderen Weltbezugs nicht dieje­ nigen Textfunktionen erfüllen, die für Gebrauchstexte im Allgemeinen angenommen werden. Literarische oder ästhetische Kommunikation ist eine Konsequenz von Ent­ kontextualisierung, die es ermöglicht, Emotives in einer direkteren Weise zu vermit­ teln als dies bei nichtliterarischer Kommunikation der Fall ist. Ihr Ausdrucksdefizit gilt es zu überwinden. Unterschieden wird zudem zwischen literarischen Texten und literarischer Kommunikation. Dies bedeutet, dass auch Textsorten, die normaler­ weise in nichtliterarischer Kommunikation gebraucht werden, literarisch verwendet und interpretiert werden können. Als literarische Textsorten werden solche Klassen von Texten definiert, die konventionell bzw. prototypisch in literarischer Kommunika­ tion zum Einsatz kommen. Als Texttyp unterscheiden sich die literarischen Texte von Gebrauchstexten nicht durch eine besondere übergeordnete Textfunktion, sondern dadurch, dass sie ein offenes Angebot an Interpretationsmöglichkeiten darstellen. 1 Die Funktion literarischer Texte 2 Entkontextualisierung 3 Ausdrückbarkeit 4 Kognition bzw. Emotion 5 Ästhetisierung 6 Inhalt und Form 7 Funktion oder Angebot 8 Der literarische Text – ein Texttyp? 9 Literatur

1 Die Funktion literarischer Texte Warum schreibt man überhaupt einen literarischen Text? Wer die Mühe auf sich nimmt, einen Text zu schreiben, muss dafür eine Motivation haben, d. h. der Text müsste irgendeine Funktion erfüllen. Brinker (2010, 98) unterscheidet ausgehend von Searles Sprechakttheorie (1969; 1979) zwischen den folgenden textuellen Grundfunk­ tionen: Informationsfunktion, Appellfunktion, Obligationsfunktion, Kontaktfunktion und Deklarationsfunktion. Ähnliche Beschreibungen von Textfunktionen finden sich auch bei anderen Sprachwissenschaftlern, vgl. etwa Rolf (2000, 432). Für Brinker wie auch für viele andere Textlinguisten bilden die Textfunktionen das Basiskriterium für die Unterscheidung zwischen den grundlegenden Texttypen. Ausgehend von den erwähnten textuellen Grundfunktionen unterscheidet Brinker (2010, 126; Hervorh. im Orig.) somit die folgenden fünf Textklassen: DOI 10.1515/9783110297898-010

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Informationstexte (Nachricht, Bericht, Sachbuch, Rezension …) Appelltexte (Werbeanzeige, Kommentar, Gesetz, Antrag …) Obligationstexte (Vertrag, Garantieschein, Gelöbnis …) Kontakttexte (Danksagung, Kondolenzschreiben, Ansichtskarte …) Deklarationstexte (Testament, Ernennungsurkunde …)

Mit Hilfe von Informationstexten versucht man, Wissen zu vermitteln. Durch Appell­ texte wird versucht, Einstellungen oder Verhalten des Rezipienten zu beeinflussen. Texte mit Obligationsfunktion dienen dazu, den Rezipienten verstehen zu lassen, dass man sich ihm gegenüber verpflichtet, eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Kontakttexte dienen der Herstellung und Erhaltung persönlicher Kontakte, während man mit Hilfe von Texten mit Deklarationsfunktion dem Rezipienten zu verstehen gibt, dass die erfolgreiche Äußerung des Textes eine neue Realität schafft bzw. die Einführung eines bestimmten Faktums bedeutet, vgl. Brinker (2010, 98–112). Wir können festhalten, dass in der Aufzählung oben keine literarische Textsorte vor­ kommt. Brinker (2010, 121; Hervorh. im Orig.) schreibt: Es ist aber klar, dass eine allgemeine Texttypologie die literarischen Gattungen mit umfassen muss. Beim augenblicklichen Stand der Forschung kann darüber jedoch nichts Genaueres gesagt werden. Wir beschränken uns auch hier auf die nichtliterarischen Texte, die sog. Gebrauchstexte.

Die bekannte von Roman Jakobson vorgeschlagene poetische Funktion, die ihm nach bei allen Texttypen vorkommen würde, bei literarischen Texten aber dominierend sei, vgl. etwa Jakobson (1987, 66 ff.), bietet nur scheinbar eine Lösung, und zwar vor allem, weil sie sich ausschließlich auf die Ebene der Formulierung bezieht. Literari­ sche Texte, die primär zum Zweck geschrieben sind, mit der Form zu spielen, kommen eher ausnahmsweise vor, aber Jakobsons Gedanken bieten zweifellos Ansatzpunkte für sprachwissenschaftliche Untersuchungen literarischer Texte. Heinemann/Vieh­ weger (1991, 148–151), die die Funktion ÄSTHETISCH WIRKEN vorschlagen, scheinen einen Ausweg zu bieten. Diese Funktion wird folgendermaßen beschrieben (Heine­ mann/Viehweger 1991, 149; Hervorh. im Orig.): Eine Sonderstellung nimmt bei den kommunikativen Textfunktionen das Bemühen von Kom­ munizierenden ein, bei Partnern mit Hilfe von Texten ÄSTHETISCHE WIRKUNGEN zu erzielen. Das erfolgt vor allem dadurch, daß der Textproduzent mit Hilfe des Textes eine fiktive Realität schafft, auf diese Weise dem Rezipienten pragmatische Informationen vermittelt und insbeson­ dere „emotionale Bewußtseinsprozesse“ auslöst.

Die Funktion ÄSTHETISCH WIRKEN bezieht sich in ästhetischen Texten auf sämtliche Grundfunktionen des Kommunizierens: SICH AUSDRÜCKEN, KONTAKTIEREN, INFOR­ MIEREN und STEUERN. Ein Problem besteht allerdings darin, dass der Begriff des Ästhetischen recht unklar bleibt. Es gibt aber deutliche Berührungspunkte zwischen Heinemann/Vieh­ wegers Vorschlag und der Beschreibung literarischer Kommunikation, wie sie weiter

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unten vorgestellt wird. Dies betrifft vor allem die Fiktivität oder Fiktionalität – und zwar im Sinne von Entkontextualisierung  –, die „emotionale Bewussteinsprozesse auslöst“ und darüber hinaus das Foregrounding des Textes selbst. Es ist aber zwei­ felhaft, ob ÄSTHETISCH WIRKEN als Textfunktion im eigentlichen Sinne betrachtet werden kann, d. h. ob ästhetische Wirkung generell das Hauptziel literarischer Kom­ munikation darstellen kann? Wenn ein Autor die Form einer literarischen Textsorte, etwa die Textsorte Roman wählt, tut er dies normalerweise, damit der Text ästhetischliterarisch rezipiert wird. Kann aber die Art und Weise, wie der Text kommunikativ rezipiert werden soll, als Verfasserintention im eigentlichen Sinne betrachtet werden? Möglicherweise in solchen Fällen, wo man eher von l’art pour l’art sprechen würde. In anderen Fällen dürfte die Ästhetisierung eher ein Mittel zur Erreichung anderer Ziele darstellen. Es scheint jedenfalls klar, dass literarische Texte Textfunktionen wie die oben von Brinker aufgeführten höchstens ‚nebenbei‘, nicht aber als Hauptfunktion erfül­ len können. Kann z. B. mit Hilfe von literarischen Texten Wissen vermittelt, also die Informationsfunktion erfüllt werden? Dies scheint der Fall zu sein. Das Hintergrunds­ wissen, das z. B. in historischen Romanen vermittelt wird, stimmt im Allgemeinen wenigstens größtenteils mit historisch gegebenen Fakten überein. Überhaupt lässt sich in den verschiedensten literarischen Texten sehr vieles mit konkreten und vor allem allgemein bekannten bzw. leicht nachprüfbaren Fakten übereinbringen. Es gibt natürlich auch viele Abweichungen davon, aber ein Verbreiten von offenbar falschem empirischem Wissen kann sich natürlich sehr negativ auf die Glaubwürdigkeit des Textes auswirken. Da aber der Leser sich nicht wirklich darauf verlassen kann, dass im literarischen Text vorkommendes ‚Wissen‘ auch faktisch richtig ist bzw. dass der Autor sich bemüht, nicht unnötigerweise falsches Wissen zu verbreiten, kann die Informationsfunktion wenigstens keine dominierende Funktion eines literarischen Textes sein. Der Leser eines literarischen Textes muss akzeptieren, dass der Autor den Inhalt ‚kreativ‘ und mit künstlerischer Freiheit gestaltet hat, sonst kann er den Text nicht in sinnvoller Weise rezipieren. Dies ist selten ein Problem, denn der Nor­ malleser identifiziert leicht einen Text als Roman, Kurzgeschichte, Gedicht usw. und zwar vor allem dadurch, dass der Text explizit als Roman, Kurzgeschichte, Gedicht usw. veröffentlicht worden ist. Auch verschiedene formale und sprachliche Merk­ male können dabei Hinweise geben, wie ganz offensichtlich in der realen Welt nicht mögliche dargestellte Ereignisse, Phänomene usw. etwa in Märchen oder Texten der Fantasyliteratur. Wenn es aber auch dem ‚Normalleser‘ keine Schwierigkeiten bringen mag, einen Text als literarisch zu begreifen, ist es dennoch keine leichte Aufgabe für einen Sprach- oder Literaturwissenschaftler eine eindeutige Definition zu geben, was literarische Texte generell von nichtliterarischen unterscheidet. Warum lesen Menschen überhaupt literarische Texte, wenn sie durch sie nicht zuverlässig informiert werden können und wenn diese auch nicht, wenigstens nicht in einer so deutlichen Weise wie Gebrauchstexte, die übrigen anfangs erwähn­ ten Funktionen erfüllen können? Unter anderem wohl, weil sie unterhaltend sein

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können, spannend, romantisch, weil man durch sie Welten erleben kann, die einem im Alltagsleben verwehrt bleiben. Und wie ist das möglich? Offenbar eben weil vom Verfasser nicht erwartet wird, dass alles, was er schreibt, mit dem Faktischen überein­ stimmen muss, d. h. dass er frei erfinden kann, ohne dass er der Lüge oder Täuschung angeklagt werden muss. Man spricht ja deshalb im Zusammenhang mit literarischen Texten von Fiktion und Fiktionalität. Die Definitionen von Textfunktionen wie die anfangs angeführten gehen von dem aus, was der Autor bewirken möchte bzw. von der intendierten Wirkung beim Leser. Es stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine entsprechende literarische oder ‚ästheti­ sche‘ Funktion von Texten geben kann.

2 Entkontextualisierung Wie oben festgehalten wurde, braucht der Inhalt eines literarischen Textes nicht mit einem bestimmten Zustand der realen Welt übereinzustimmen, kann es aber zum Teil, oder sogar vollständig tun. Als konkretes Beispiel wird hier das Gedicht Tiermarkt / Ankauf von Erich Fried (1970, 3) kurz analysiert. Dieser Text ist recht häufig wegen der Anschaulichkeit in ähnlichen Zusammenhängen analysiert worden, vgl. etwa Kelletat (1991, 17 f.), Nikula (2001, 126 f.; 2012, 152–154), Sandig (2006, 319 f., 424). Tiermarkt / Ankauf Der Polizeipräsident in Berlin sucht: Schäferhundrüden. Alter ein bis vier Jahre, mit und ohne Ahnentafel. Voraussetzungen: Einwandfreies Wesen rücksichtslose Schärfe ausgeprägter Verfolgungstrieb schußgleichgültig und gesund Überprüfung am ungeschützten Scheintäter Hund mit Beißkorb

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Gezahlt werden bis zu 750,- DM Angebote an: Der Polizeipräsident in Berlin, W-F 1 1 Berlin 42 Tempelhofer Damm 1–7 Tel.: 69 10 91 Apparat 2761 Strich 64

Die Form des Textes und die Tatsache, dass er in einem Gedichtband veröffentlicht worden ist, gibt dem Leser einen deutlichen Hinweis, dass er den Text literarisch rezi­ pieren soll und sich nicht aufgefordert fühlen muss, Schäferhundrüden zu verkau­ fen. Das Gedicht von Fried stellt aber eine äußerlich nur leicht bearbeitete Version einer Anzeige in der Berliner Zeitung Tagesspiegel vom 7. März 1970 dar, die unter dem Gedicht abgedruckt wurde. Tiermarkt / Ankauf Der Polizeipräsident in Berlin sucht: Schäferhundrüden. Alter ein bis vier Jahre, mit und ohne Ahnentafel. Voraussetzungen: Einwandfreies Wesen, rücksichtslose Schärfe, ausgeprägter Verfolgungstrieb, schußgleichgültig und gesund. Überprüfung am ungeschützten Scheintäter, Hund mit Beißkorb. Gezahlt werden bis zu 750,- DM. Angebote an: Der Polizeipräsident in Berlin, W-F 1, 1 Berlin 42, Tempelhofer Damm 1–7, Tel.: 69 10 91, App. 2761/64.

Fried hätte wohl alternativ die ursprüngliche Anzeige ohne Veränderungen als Gedicht im Gedichtband veröffentlichen können. Die dominierende Funktion dieser Anzeige ist jedenfalls die Appellfunktion, wobei die Informationsfunktion als unter­ stützende Funktion dient. Im Gedicht wird, wie es scheint, dieselbe Information wie in der Anzeige vermittelt, während aber keine deutliche Appellfunktion zu erkennen ist. Der Inhalt des Gedichts ist aus dem Kontext der ursprünglichen Anzeige geris­ sen, er ist entkontextualisiert. Es kann deshalb eben nicht durch diesen Text zum Verkauf von Schäferhundrüden aufgefordert werden. Der entkontextualisierte Text stellt lediglich ein Angebot dar, sich in die durch den Text vorausgesetzte Situation zu versetzen, um erlebend darüber nachdenken zu können, was alles eine Botschaft wie diese bedeuten kann. Die ursprüngliche Informationsfunktion tritt in den Hin­ tergrund, da durch die Entkontextualisierung der Text nicht an eine bestimmte Situ­

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ation oder einen bestimmten Kontext gebunden ist. Dies bedeutet u. a., dass der Text von Fried immer noch als in irgendeiner Weise aktuell gelesen werden kann, er kann immer noch eine Funktion haben, während die ursprüngliche Anzeige heute nur von historischem Interesse ist und ihre Appellfunktion nicht mehr erfüllen kann. Es muss hervorgehoben werden, dass die Entkontextualisierung die ganze Kom­ munikationssituation betrifft, denn ein Text ist nur in der Interpretation von Kommu­ nizierenden ein Text. In diesem Falle werden in der literarischen Lesart sowohl der Polizeipräsident als auch die angesprochenen Leser der Anzeige entkontextualisiert, Autor und Leser können also nicht mit dem realen Textproduzenten und Rezipienten gleichgesetzt werden. Damit ist die ursprüngliche instrumentelle Verwendung wie in der Anzeige ausgeschlossen. Warum funktioniert Erich Fried einen nichtliterarischen Text in einen literari­ schen um, statt etwa einen gesellschaftskritischen nichtliterarischen Text zu schrei­ ben. Wahrscheinlich, weil er in dieser Weise sein Ziel effektiver zu erreichen hofft. Mit Hilfe eines nichtliterarischen Textes hätte er in einer direkten Weise die Gedan­ ken der Leser beeinflussen können, während er literarisch eher auf die Gefühle der Leser einwirken kann und dadurch höchstens indirekt die Gedankenwelt der Leser beeinflussen kann. Die mit der literarischen Rezeption verknüpfte Entkontextualisie­ rung zwingt den Leser sich mit der durch den Text evozierten Textwelt in einer ganz anderen Weise auseinanderzusetzen und sie zu erleben als bei nichtliterarischer Kom­ munikation. Da die literarische Textwelt als Ergebnis der Entkontextualisierung nicht mit einem besonderen Ausschnitt der realen Welt verknüpft ist, wird sie zu der Welt. In dieser aus Vorstellungen bestehenden Welt können Ausdrücke wie „rücksichtslose Schärfe, ausgeprägter Verfolgungstrieb, schußgleichgültig und gesund, Überprüfung am ungeschützten Scheintäter, Hund mit Beißkorb“ auf die Gefühle des Rezipienten in einer stärkeren und unmittelbareren Weise einwirken als im Falle der Anzeige, und zwar weil im Gedicht ihre instrumentelle Funktion fehlt, d. h. im Gedicht geht es nicht darum, den Leser darüber zu informieren, welche Eigenschaften sein Hund besitzen muss, wenn er ihn an die Berliner Polizeibehörde verkaufen möchte. Es wird ihm lediglich angeboten, ausgehend vom Text sich eine bestimmte Situation vorzustellen und dazu Stellung zu nehmen. Er kann darauf in einer vom Verfasser erhofften Weise reagieren oder auch nicht, und zwar davon abhängig, wie er das erlebt, was durch den Text angeboten wird. Der Leser kann natürlich alternativ das Gedicht nur als ein unterhaltendes Spiel mit der Sprache rezipieren. Die durch sprachliche Ausdrücke evozierten Vorstellungen dienen in literari­ scher Kommunikation also nicht primär der Identifizierung von Erscheinungen in der realen Welt. Sie schaffen stattdessen eine von der realen Welt zwar nicht unabhän­ gige, jedoch von ihr losgelöste Parallelwelt, wobei die, in diesem Fall ursprünglichen, Textfunktionen in den Hintergrund treten. Durch die Entkontextualisierung wird jede Forderung der Übereinstimmung mit einem beliebigen Ausschnitt der realen Welt außer Kraft gesetzt. Die Frage der Fiktivität oder Fiktionalität des Inhalts ist somit bei literarischer Kommunikation irrelevant.

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3 Ausdrückbarkeit John R. Searle schreibt in seinem Buch Speech Acts (1969, 19) Folgendes: The principle that whatever can be meant can be said, which I shall refer to as the ‘principle of expressibility’, is important for the subsequent argument of this book and I shall expand on it briefly, especially since it is possible to misconstrue it in ways which would render it false. […] To avoid two sorts of misunderstandings, it should be emphasized that the principle of expressibility does not imply that it is always possible to find or invent a form of expression that will produce all the effects in hearers that one means to produce; for example literary or poetic effects, emotions, beliefs, and so on. We need to distinguish what a speaker means from certain kinds of effects he intends to produce in his hearers.

The principle of expressibility, das Prinzip der Ausdrückbarkeit, ist natürlich eine grundlegende Voraussetzung für Kommunikation durch Sprache. Allerdings ist Searle der Meinung, dass „for example literary or poetic effects, emotions, beliefs, and so on“ eine Ausnahme darstellen könnten. Davon ausgehend scheint es logisch zu sein anzunehmen, dass literarische Kommunikation einen Versuch darstellt, das von Searle angesprochene „Ausdrucksdefizit“ (Koppe 1983, 127) der Sprache zu über­ winden (Nikula 2012, 27 f.). Foolen (1997, 19) schreibt: Ideas are communicated through the digital channel of human language, be it spoken or signed, whereas emotions are typically expressed in an analogical way, be it by the face, the voice, the hands, or other body parts. […] The thesis that emotion and cognition each have their own channel of externalization should not lead to the misunderstanding that emotions are not acces­ sible of verbalizations. Children, and certainly adults, can talk about their feelings and tell what they feel.

Bei Foolen (1997) wird die Kommunikation von Emotionen (Gefühlen) mit der Analogizität der Kommunikationsmittel, die von Kognition (Gedanken) dagegen mit der Digitalität der menschlichen Sprache verknüpft. Durch Sprache kann zwar über Gefühle gesprochen werden, sie können thematisiert werden, aber sie können wegen der Digi­ talität der menschlichen Sprache nicht im eigentlichen Sinne ausgedrückt werden, wenigstens nicht direkt. Die Digitalität der Sprache kommt z. B. darin zum Ausdruck, dass sie sich wie etwa in der strukturellen Sprachwissenschaft weitgehend als ein System von Oppositionen, also von Ähnlichkeiten und Unterschieden, beschreiben lässt. Die Digitalität ermöglicht Abstraktion und stellt somit die große Stärke der Sprache dar, bedeutet aber zugleich eine Schwäche, da Wertungen, Gefühle, Sin­ neseindrücke usw. nicht abstrakt bzw. abstrahierbar sind, sondern persönlich und Elemente des episodischen Gedächtnisses. Auch wenn Sprache als System grundsätz­ lich digital ist, ist sie es aber nicht ausschließlich, u. a. weil sie ohne unsere Sinnes­ wahrnehmungen und die mit diesen verknüpften Vorstellungen nicht funktionieren kann. Ohne uns vorstellen zu können, wie ein Stuhl aussieht, können wir das Wort Stuhl nicht richtig verwenden. Die Vorstellung von einem prototypischen Stuhl ist

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als Bedeutungsregel in abstrahierter bzw. digitalisierter Form im mentalen Lexikon gespeichert (vgl. unten Abschn. 4). dienen Vorstellungen sind zwangsläufig analog und dienen als Brücke zwischen Sprache (Wörtern, Sätzen, Texten) und außersprachlicher Welt. Sie haben in diesem Sinne eine vermittelnde Funktion. Wenn z. B. der Rezipient der oben angeführten Anzeige verstanden hat, was der Verfasser gemeint hat, haben auch die damit verknüpften Vorstellungen ihre Funktion erfüllt und können im Prinzip gelöscht werden. ‚Im Prinzip‘, weil die mit den Vorstellungen verknüpften Gefühle des Rezipienten sein Verhalten beeinflussen können. Im Falle des ‚entsprechenden‘ Gedichts kann es aber wegen der Entkontextualisierung nicht mehr um ein Verstehen dessen gehen, was der Verfasser dieses Gedichts meint. Die evozierten Vorstellungen haben nicht mehr eine vermittelnde Funktion als Brücke zwischen Sprache und Welt, eben weil diese Vorstellungen jetzt die Welt konstituieren. Der Verfasser bietet dem Leser eine Welt an, die es ihm ermöglichen soll, das im Text Dargestellte zunächst zu erleben und nicht primär kognitiv zu verstehen. Die Gedichtform der ursprünglichen Anzeige stellt somit eine Aufforderung an den Leser dar, die durch den Textinhalt evozierten Vorstellungen nicht zu löschen, sondern sie voll zu erleben. Auf diese Weise kann der Verfasser unmittelbar die Gefühle und Wertungen des Lesers beeinflussen, statt dies indirekt durch rationale Argumentation zu versuchen. Gefühle und Wertungen sind eben nicht rational. Das Ausdrucksdefizit der Sprache bedeutet nicht, dass der Verfasser eines Gebrauchstexts nicht gezielt Gefühle beim Rezipienten evozieren könnte. Mit Hilfe eines Kondolenzschreibens kann es z. B. dem Verfasser gelingen, den oder die Trau­ ernde zu trösten (Kontaktfunktion), und zwar häufig durch mehr oder weniger kon­ ventionelle Formulierungen wie etwa Tief erschüttert habe ich vom schrecklichen Unfall deines Bruders gehört oder Die Nachricht vom Tod deines Vaters hat mich sehr bewegt. Es geht ja hier eigentlich um Behauptungen mit Wahrheitsanspruch (Infor­ mationsfunktion), die ausgehend von den Vorstellungen, die sie hervorrufen, oder schon durch die reine Tatsache, dass durch den Text Kontakt aufgenommen worden ist, tröstend wirken können. Aber dadurch, dass die eigenen Emotionen thematisiert werden, können sie nicht im hier gemeinten Sinne als Erlebnis des Verfassers ver­ mittelt werden. Auch kann ein Zeitungsbericht über hungernde Kinder in Afrika ein starkes Gefühl von Mitleid bei Lesern hervorrufen. Wenn dies vom Verfasser gemeint war, dominiert die Appellfunktion über die Informationsfunktion. Es wird aber auch hier nicht unmittelbar das Gefühl vom Mitleid des Verfassers selbst ausgedrückt und vermittelt. Das Gefühl von potenziellem Mitleid entsteht als Ergebnis der Vorstel­ lungen, die durch das im Text thematisierte Leid bei den Lesern entstehen, d. h. sie stellen sich die Situation vor, wobei diese der eigentliche Grund für das Mitleid ist.

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4 Kognition bzw. Emotion Das im vorangegangenen Abschnitt Gesagte deutet darauf hin, dass bei Produktion und Rezeption von Texten zwei interagierende Kenntnissysteme gleichzeitig aktiviert werden, d. h. Kognition und Emotion. Dabei würde der Schwerpunkt bei nichtlitera­ rischer Kommunikation im kognitiven Kenntnissystem, der Schwerpunkt bei literari­ scher Kommunikation dagegen im emotionalen liegen. Cherubim (2005, 8; Hervorh. im Orig.) beschreibt die Beziehung zwischen Kognition und Emotion in folgender Weise: Gefühle sind für mich […] mentale Techniken der Verarbeitung von Wirklichkeit, die mit anderen Techniken eng zusammenarbeiten. Man hat sich daran gewöhnt, hauptsächlich zwei Techni­ ken zu unterscheiden, die mit den Stichworten „Kognition“ und „Emotion“ aufzurufen sind und unterschiedlich funktionieren. Sehr vereinfacht möchte ich diese Funktionsweise einerseits als analytisches (zerlegendes und klassifizierendes) [= Kognition], andererseits als synthetisches (bewertendes) Verfahren [= Emotion] charakterisieren. Die Motivation, etwas zu tun, ist immer emotional begründet.

Schwarz-Friesel (2007, 98 f.), die nicht nur zwischen Kognition und Emotion, sondern auch zwischen Kognition und Gedanken bzw. zwischen Emotion und Gefühl unter­ scheidet, schreibt: Bewusstes ist immer bezogen auf etwas, eine Körperempfindung, eine Vorstellung, einen konkre­ ten oder abstrakten Gedanken oder ein Gefühl. Ein Gefühl als bewussten emotionalen Zustand oder Prozess zu erleben, bedeutet, die Emotion zu empfinden und gleichzeitig diese Emotion als konzeptuell klassifizierte Emotion zu erfahren […] Gedanken aber lassen sich zusätzlich in spezifische konzeptuelle Bausteine zerlegen, was bei Gefühlen in dieser Form nicht möglich ist. Gefühle analytisch beschreiben kann man nur auf einer Meta-Gefühlsebene.

Die Sinneswahrnehmungen (visuell, auditiv, haptisch, olfaktorisch, gustatorisch, motorisch) bzw. Wahrnehmungserlebnisse (Perzepte) werden durch das kogni­ tive und das emotive Kenntnissystem verarbeitet und gespeichert (vgl. Nikula 2012, 29 ff.). Die Sinneswahrnehmungen sind ‚konkret‘, während die Verarbeitung durch die Kognition eine Abstraktion bedeutet: zerlegen, klassifizieren, strukturieren. Die digitale Bedeutung von Stuhl könnte durch das Merkmalbündel [, , ] erfasst werden, das seine Interpretation dadurch erhält, dass es auf Vorstellungen von konkreten (prototypischen) Stühlen bezogen wird. Auch die Sinneswahrnehmungen sind konkret, weshalb man eine unmittelbare Vorstellung von ihnen haben kann, etwa von Gestank. Allerdings sind Sinneswahr­ nehmungen im Allgemeinen wohl leichter vorstellbar, wenn sie auf konkrete Fälle, auf episodisches Wissen bezogen werden, in diesem Falle z. B. auf eine Vorstellung von schlechtem Mundgeruch oder verfaulendem Fisch. Die digitale Bedeutung von stinken könnte durch [, ] beschrieben werden.

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Emotionen sind inhärent wertend, Wahrnehmungserlebnisse aber nicht, auch wenn sie an sich angenehm bzw. unangenehm usw. sein und so bewertet werden können. Kälte im Sinne einer bewusst erlebten Emotion ist inhärent mit einer negati­ ven Bewertung verknüpft, während Kälte im Sinne eines bewusst wahrgenommenen physischen Reizes zwar bewertet werden kann, nicht aber inhärent mit Wertungen verknüpft ist. Da Gefühle im Sinne von Emotionen im Gegensatz zu Gefühlen im Sinne von reinen Wahrnehmungserlebnissen keine unmittelbare konkrete Entsprechung in der außersprachlichen Wirklichkeit haben, da also nichts vorliegt, was durch unsere Sinneswahrnehmungen direkt erfassbar wäre, stellen sie eine besondere Herausfor­ derung für die Kommunikation durch Sprache dar. Das Wort Hass z. B. bezeichnet keine konkrete Sinneswahrnehmung und ist als Gefühl nicht analytisch erfassbar. Es kann Hass nicht ausdrücken. Wir können zwar mit Hilfe von Hass das Gefühl themati­ sieren, aber nur interpretieren, indem wir uns auf episodisches Wissen beziehen, z. B. auf die Vorstellung einer verhassten Person, was ein Element der Bedeutung von Hass in unserem individuellen mentalen Lexikon darstellen würde. Die digitale Bedeu­ tung, durch die die Vorstellung von Hass thematisiert und in das mentale Lexikon integriert wird, könnte durch das Merkmalbündel [, , ] beschrieben werden. Die Aufgabe dieser Merkmale ist es, der Bedeutung von Hass einen Platz im mentalen lexikalischen System zu geben und sie von anderen Bedeu­ tungen abzugrenzen. Die Emotionen wären somit als gespeicherte, mit Wertungen verknüpfte Vor­ stellungen von persönlichen Erlebnissen zu betrachten. Vorstellungen sind immer mehr oder weniger subjektiv strukturiert, aber in diesem Falle sind auch ihre Inhalte persönlich, d. h. der Inhalt bezieht sich auf rein persönliche Erfahrungen, auf episodisches Wissen. Emotionen sind zwar nicht abstrakt, aber sie sind auch nicht ohne Bezug auf etwas ‚vorstellbar‘. Hass, Liebe, Ekel usw., sogar ‚leere‘, existenzielle Angst haben immer irgendeinen Gegenstand oder Grund, aber worin genau dieser besteht, bleibt ‚episodisch‘, d. h. rein persönlich und subjektiv. Auch wenn die Subjektivität dadurch relativiert wird, dass die Menschen und ihre grundlegenden Erfahrungen – trotz unterschiedlicher Charaktere – recht ähnlich sein dürften, ist dies eine weitere Erklärung dafür, warum es so schwierig ist, Emotives sprachlich zu vermitteln. Sowohl Kognition als auch Emotion stellen also Kenntnissysteme dar, die in verschiedener Weise Wahrnehmungen verarbeiten und speichern, vgl. auch Piecha (2002, 42 ff.). Das kognitive System ist zerlegend, klassifizierend, analytisch und ‚digital‘. Das emotive System dagegen ist wertend, emergent, synthetisch und ‚analog‘. Sprache als System ist eng mit der Kognition verknüpft, was Abstraktion ermöglicht, gleichzeitig aber zu dem im Abschnitt 3 angesprochenen ‚Ausdrucksdefizit‘ führt.

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5 Ästhetisierung In vielen linguistischen Arbeiten, die Eigenschaften literarischer Texte beschreiben, wird der Begriff des Ästhetischen verwendet. Dies ist an sich ganz natürlich, denn offenbar geht es im Falle der literarischen Texte um Kunst, um sprachliche Kunstwerke und deshalb kommt auch neben dem Begriff des literarischen Textes der Begriff des ästhetischen Textes vor. Auch findet man zuweilen den Begriff des ästhetischen Genusses, wobei aber der Begriff des Genusses zunächst noch schwieriger linguis­ tisch fassbar zu sein scheint als der Begriff des Ästhetischen. Wenn man aber davon ausgeht, dass durch den Begriff ‚Genuss‘ etwas erfasst werden soll, das nur erlebt werden kann, das also eng mit unseren Sinneswahrnehmungen verknüpft ist, kann er ein wenig weiter führen. Es würde dabei um das Ästhetische im ursprünglichen Sinne des Begriffs gehen, d. h. um das Aisthetische, also um eine Gegenüberstellung von sinnlich Erlebtem und abstraktem Denken. Wie aus den vorangehenden Abschnitten schon hervorgehen dürfte, besteht die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens immer aus einem digitalen, strukturierenden und einem analogen, interpretierenden Teil. Die digitale Bedeutung oder Systembedeutung stellt den strukturierenden, Kohärenz und Ordnung schaffenden Teil dar – man könnte dies den ästhetischen Aspekt im engeren Sinne nennen. Die analoge Bedeutung dagegen bildet den mit Wahrnehmen und Erleben verknüpften, d. h. aisthetischen Aspekt des sprachlichen Zeichens. Zwischen dem Ästhetischen und dem Aisthetischen gibt es einen Zusammenhang, der parallel mit dem Zusammenhang zwischen Kognition und Emotion verläuft. Das Ästhetische stellt die Strukturierung des aisthetisch Erfahrenen dar, und zwar nicht nur von konkreten Wahrnehmungs­ erlebnissen, sondern auch von Emotionen. Das Ästhetische ist deshalb in diesem Sinne immer auch aisthetisch, das Aisthetische, das durch die Sinneswahrnehmung Erlebte, ist ganz offenbar nicht generell ästhetischw, d. h. strukturiert, kognitiv greif­ bar. Aus eben diesem Grund entsteht das Ausdrucksdefizit der Sprache. Die Entkontextualisierung stellt einen Versuch dar, die Textwelt als erlebte Welt zu erfassen, d. h. aisthetisch. In diesem Sinne kann gesagt werden, dass Entkontex­ tualisierung als Strategie der Interpretation zu einer Ästhetisierung führt, und zwar indem der analoge Aspekt der Sprache in den Vordergrund tritt, foregrounded wird. Der Schwerpunkt der Interpretation wird, wenigstens vorläufig, vom Kognitiven ins emotive Kenntnissystem verlagert.

6 Inhalt und Form Die im Abschnitt 2 behandelte Entkontextualisierung bei literarischer Kommunika­ tion führt zu einer Art ‚Selbstreferenzialität‘, nämlich dazu, dass das Wie von dem Was nicht unterscheidbar ist. Die durch literarische Rezeption eines Textes evozierten

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Vorstellungen sind weder Vorstellungen von der realen noch von einer fiktiven Welt, sondern stellen eine aktualisierte Welt dar, die eine erlebte Welt ist. Die Referenzbe­ ziehungen bleiben in der als Ergebnis der Interpretation des Textes geschaffenen Welt, d. h. in der vorausgesetzten und der erzählten Textwelt. Diese aus Vorstellungen beste­ hende Welt ist zwangsläufig in einer viel stärkeren Art und Weise von dem Text selbst abhängig als es bei nichtliterarischen Texten der Fall ist, da diese Referenz auf die reale Welt voraussetzen. Die unmittelbare Abhängigkeit der Textwelt vom Text selbst bei literarischer Interpretation führt zwangsläufig zu einer größeren Formgebun­ denheit als dies im Allgemeinen bei nichtliterarischen Texten der Fall ist. Für einen nichtliterarischen Text gibt es deshalb immer alternative Formulierungen, für einen literarischen Text dagegen grundsätzlich nicht. Dies bedeutet natürlich eine Heraus­ forderung für die Übersetzung von literarischen Texten, d. h. von Texten als Mittel literarischer Kommunikation (vgl. Nikula 2013). Wir können nichtliterarisch etwa über denselben Verkehrsunfall in sehr verschiedener Weise berichten, auch was den Stil betrifft, und sagen, es gehe um denselben Unfall. Wenn aber über einen Unfall – wiederum auf verschiedene Weise  – literarisch erzählt wird, geht es nie genau um denselben Unfall, weil in literarischer Kommunikation das Erzählte ein Ergebnis des Erzählens selbst ist (vgl. Nikula 2012, 157–160). Die Formgebundenheit literarischer Texte als ein Ergebnis der Ästhetisierung durch Entkontextualisierung führt auch dazu, dass man nicht vom Stil eines litera­ rischen Textes sprechen kann, ohne zugleich den Inhalt zu meinen. Man kann z. B. den Stil der Anzeige im Abschnitt 2 oben als einen recht typischen Anzeigen- und Behördenstil beschreiben, der sich u. a. in Nominalisierungen und vielen Abkürzun­ gen zeigt. Wie Fix (2006a, 253; Hervorh. im Orig.) es ausdrückt: man vermittelt durch den Stil seiner Äußerungen […] einen ‚Zweitsinn‘, d. h. eine über die Form vermittelte Information darüber, wie man sich selbst sieht bzw. wie man von anderen gesehen werden möchte.

Man kann natürlich das entsprechende Gedicht von Fried in ähnlicher Weise wie die Anzeige beschreiben, aber bei einer literarischen Rezeption kann nicht zwischen einem Primär- und einem Zweitsinn unterschieden werden. Das heißt, bei literari­ scher Rezeption stellen die in der ursprünglichen Anzeige vorkommenden Stilzüge integrierte Bedeutungselemente des Texts dar. Von einem Gebrauchstext kann gesagt werden, er hat einen bestimmten Stil, ein literarischer Text dagegen ist Stil, er hat aber keinen (vgl. Nikula 2012, 186 f.).

7 Funktion oder Angebot Die Strategie der Entkontextualisierung bei literarischer Kommunikation führt dazu, dass literarische Texte, d. h. Texte als Mittel literarischer Kommunikation, Textfunk­

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tionen wie die anfangs erwähnten nicht erfüllen können. Dies kommt u. a. darin zum Ausdruck, dass normalerweise keine bestimmten Reaktionen vom Rezipienten erwartet werden, während aber die Nichtbeachtung des im Gebrauchstext Mitgeteil­ ten u. U. sogar mehr oder weniger unangenehme Konsequenzen für den Rezipienten nach sich ziehen kann. Vergleichbare Konsequenzen sind bei der Lektüre von litera­ rischen Texten kaum zu befürchten. Man kann mit dem Schriftsteller Siegfried Lenz den literarischen Text somit eher als ein Angebot auffassen, das man akzeptieren, zurückweisen oder dem gegenüber man sich gleichgütig verhalten kann, Lenz (2003): Das ist mein Standpunkt. Ich habe immer geglaubt, dass Bücher Angebote sind, die wir dem Leser machen. Er muss sich selbst entscheiden, er kann sich das nehmen, was sich auf ihn bezieht – oder auch nicht. Wie er will. Er kann das Buch auch zurückweisen.

Schlieben-Lange (1975, 194) schreibt: „Jede sprachliche Äußerung enthält implizit ein Interpretationsangebot.“ Der Begriff Angebot wird hier recht weit gefasst und betrifft sowohl literarische als auch nichtliterarische Texte. In dem Sinne können Leser des Gedichts Tiermarkt  / Ankauf und der entsprechenden Anzeige in derselben Weise interpretieren, dass sie verstehen, dass jemand Schäferhundrüden kaufen möchte. Im Falle der Anzeige gelingt die Kommunikation, wenn ein Leser davon ausgehend seinen Rüden zum Verkauf anbietet oder feststellt, dass er seinen Rüden nicht ver­ kaufen möchte bzw. keinen Rüden hat. Wenn die Anzeige nach einiger Zeit nicht mehr aktuell ist, kann sie nicht mehr ihre ursprüngliche Funktion erfüllen, auch wenn diese noch festgestellt werden kann. Es geht hier um ein ‚festgelegtes Angebot‘, um eine Art ‚Offerte‘. Literarische Texte sind offensichtlich ‚robuster‘, da sie eben wegen der Entkontextualisierung nicht in derselben Weise wie Gebrauchstexte kontextab­ hängig sind. Das Verstehen im Sinne des Autors ist also das Ziel der Interpretation von Gebrauchstexten, während das Ziel der Kommunikation die Beeinflussung des Lesers über das Verstehen ist. Das Verstehen ist ein Mittel, nicht das Ziel der Kom­ munikation (vgl. Nikula 2012, 45 f.). Da aber bei literarischer Interpretation Autor und Leser des Textes in der entkontextualisierten Textwelt nicht mit dem realen Autor und Leser identifiziert werden können, bleibt die Autorintention offen bzw. schwe­ bend. In welcher Weise möchte der Verfasser eines literarischen Textes seine Leser beeinflussen, zu welchen Handlungen möchte er sie bewegen? Was etwa politisch engagierte Literatur betrifft, können solche Intentionen festgestellt oder wenigstens vermutet werden, aber auch in diesem Falle lassen sich die Texte so lesen, dass der Leser sich nicht aufgefordert fühlen muss, politisch zu reagieren. Dies betrifft z. B. Tiermarkt / Ankauf. Der literarische Text stellt im Gegensatz zum Gebrauchstext ein offenes Angebot dar. Ein junger Leser könnte Kafkas Erzählung In der Strafkolonie bei der ersten Lektüre als eine spannende und grausame Geschichte, also als reine Unterhaltung rezipieren, aber später in etwas reiferem Alter bei wiederholter Lektüre das Erlebte

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auf seine mit der Zeit erworbenen Erfahrungen und historischen Kenntnisse bezie­ hen, d. h. den Text mit Erkenntnisgewinn rekontextualisieren. Die Rekontextualisie­ rung bedeutet zugleich eine Verschiebung des Schwerpunktes der Interpretation vom Emotiven zurück zum Kognitiven. Bei der Lektüre ‚reiner‚ Trivialliteratur wird eine derartige Rekontextualisierung nicht erwartet, ist aber sicherlich in vielen Fällen möglich. Es werden ja in der Tat sehr viele, vielleicht sogar die meisten literarischen Texte in der Absicht geschrieben, die Leser zu unterhalten, und die meisten können so rezipiert werden, wenigstens wenn der Begriff unterhalten recht weit als Zeitvertreib irgendeiner Art verstanden wird. Vielleicht könnte man deshalb eine Unterhaltungs­ funktion als definierendes Merkmal von Literatur betrachten, wobei die Möglichkeit zur Rekontextualisierung nichttriviale Literatur von Trivialliteratur unterscheiden würde. Dies ist aber u. a. deshalb kein Ausweg, weil ein sehr großer Teil informativer Gebrauchstexte mit dem Ziel veröffentlicht wird, die Leser zu unterhalten und ein wohl noch größerer Teil vornehmlich als Unterhaltung gelesen wird, z. B. Zeitungsund Zeitschriftenartikel verschiedener Art wie Berichte über Mode, über Testfahrten mit neuen Automodellen, über das Leben von Prominenten, Kochrezepte usw. Damit man überhaupt willens ist, einen Text ohne äußeren Zwang zu rezipieren, muss der Text für einen Leser irgendwie ‚ansprechend‘ sein.

8 Der literarische Text – ein Texttyp? Es wurde im Abschnitt 1 am Beispiel von Brinker auf den Unwillen von Linguisten hingewiesen, sich mit der Klassifizierung von literarischen Texten zu befassen und diese eher den Literaturwissenschaftlern zu überlassen. Dies ist natürlich linguis­ tisch gesehen nicht befriedigend, denn als Texte müssen sich auch literarische Texte mit linguistischen Methoden beschreiben lassen. Es wurde weiter zwischen literari­ schen Texten und literarischer Kommunikation unterschieden, wobei anhand eines Gedichts von Erich Fried angedeutet wurde, dass dieselbe Textstruktur sowohl lite­ rarisch als auch nichtliterarisch interpretierbar sein kann. Außerdem wurde gezeigt, dass Gebrauchstexte häufig partiell entkontextualisiert interpretierbar sind, häufig handelt es sich um Werbetexte, Reportagen, Reiseberichte usw., d. h. es werden dabei partiell keine Wahrheitsansprüche erhoben. Wenn zwischen literarischer Kommunikation und literarischem Text unterschie­ den wird, könnten solche Textsorten, die prototypisch und/oder konventionell als Mittel literarischer Kommunikation verwendet werden, als literarische Textsorten klassifiziert werden. Als Textsorten würden dabei in der Kommunikation relevante Klassen von Texten betrachtet, die durch bestimmte kommunikativ relevante Eigen­ schaften oder Merkmale gekennzeichnet sind. Sowohl die literarischen als auch die nichtliterarischen Textsorten wären kulturgebundene, historische und zum Teil mehr oder weniger deutlich institutionalisierte Erscheinungen, die also mehr oder weniger

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deutlich durch Konventionen und gesellschaftlich festgelegte Normen gekennzeich­ net wären. Die Möglichkeit, literarisch oder nichtliterarisch zu kommunizieren, wie auch die Textfunktionen, wären dagegen von generellerer, von allgemeiner Natur. Es gibt Textsorten, die sich nicht ganz eindeutig als literarisch bzw. nichtlite­ rarisch klassifizieren lassen. Nickisch (1996) z. B. beschreibt die Textsorten Brief, Essay, Feuilleton und Autobiographie als Beispiele von Textsorten im „Grenzbereich der Literatur“. Offenbar wird in diesen Textsorten häufig zum Teil literarisch durch Entkontextualisierung kommuniziert, aber sie haben normalerweise eine deutliche textuelle Hauptfunktion, in den erwähnten Fällen vor allem die der Information, d. h. es geht letztendlich um nichtliterarische Kommunikation (vgl. Nikula 2012, 89–99; 163–167). Die nichtliterarischen Textsorten können ausgehend von ihren textuellen Grund­ funktionen in Texttypen eingeteilt werden, die literarischen aber nicht. Es ist natür­ lich auch möglich, Textsorten davon ausgehend, ob sie konventionell und/oder pro­ totypisch in literarischer bzw. nichtliterarischer Kommunikation verwendet werden, als zwei Texttypen zu betrachten, wobei aber diese Einteilung auf ganz anderen Kri­ terien basiert, als die der Klassifizierung nach Textfunktionen. Die Einteilung der literarischen Texte in Textsortenklassen und Textsorten (Gattungen, Genres usw.) ist primär die Aufgabe der Literaturwissenschaft. Die Aufgabe der Linguistik wäre es, ausgehend von den Beschreibungen der Literaturwissenschaft, zu versuchen, mit lin­ guistischen Mitteln die literarischen Textsorten zu beschreiben. Eine Textlinguistik, die keine literarischen Texte erfassen kann, ist unvollständig.

9 Literatur 9.1 Primärliteratur Fried, Erich (1970): Unter Nebenfeinden. Fünfzig Gedichte. Berlin.

9.2 Sekundärliteratur Brinker, Klaus (2010): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 7. Aufl., bearbeitet von Sandra Ausborn-Brinker. Berlin. Fix, Ulla (2006): Stil gibt immer etwas zu verstehen – Sprachstile aus pragmatischer Perspektive. In: Eva Neuland (Hg.): Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Sprachunterricht. Frankfurt a. M., 245–258. Cherubim, Dieter (2005): Gefühl und Sprache. Wahlverwandtschaft oder ungleiche Vettern. In: Sprachreport 21: 4, 5–14. Foolen, Ad (1997): The expressive function of language: Towards a cognitive semantic approach. In: Susanne Niemeier/René Dirven (Hg.): The Language of Emotions. Conceptualization, Expression, and Theoretical Foundation. Amsterdam/Philadelphia, 15–31.

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Jakobson, Roman (1987): Linguistics and poetics. In: Kristina Pomorska/Stephen Rudy (Hg.): Language in Literature. Cambridge, Massachusetts/London, England, 62–94. Kelletat, Andreas F. (1991): Aus der Wortschatztruhe des Richard Pietraß. Frankfurt a. M. Koppe, Franz (1983): Grundbegriffe der Ästhetik. Frankfurt a. M. Lenz, Siegfried (2003): Manchmal muss man zuschlagen. (Spiegel-Interview mit Siegfried Lenz von Martin Doerry und Volker Hage.) Der Spiegel (online) 27, 30. Juni 2003. http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-27497210.html [13.4.2017]. Nickisch, Reinhard M. G. (1996): Der Brief und andere Textsorten im Grenzbereich der Literatur. In: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München, 357–364. Nikula, Henrik (2008): Der „Stil“ des literarischen Textes – gibt es ihn überhaupt? In: Thomas A. Fritz/Günter Koch/Igor Trost (Hg.): Literaturstil – sprachwissenschaftlich. Festschrift für Hans-Werner Eroms zum 70. Geburtstag. Heidelberg, 1–17. Nikula, Henrik (2012): Der literarische Text – eine Fiktion. Aspekte der ästhetischen Kommunikation durch Sprache. Tübingen. Nikula, Henrik (2013): Aspekte des literarischen Übersetzens – linguistisch gesehen. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 2012: 38, 97–107. Piecha, Alexander (2002): Die Begründbarkeit ästhetischer Werturteile. Paderborn. Rolf, Eckard (2000): Textuelle Grundfunktionen. In: Klaus Brinker u. a. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein Handbuch zeitgenössischer Forschung. Halbband 1. Berlin/New York, 422–435. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. 2., völlig neubearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin/New York. Schlieben-Lange, Brigitte (1975): Metasprache und Metakommunikation. Zur Überführung eines sprachphilosophischen Problems in die Sprachtheorie und in die sprachwissenschaftliche Praxis. In: Brigitte Schlieben-Lange (Hg.): Sprachtheorie. Hamburg, 189–205. Schwarz-Friesel, Monika (2007): Sprache und Emotion. Tübingen/Basel. Searle, John R. (1969): Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge. Searle, John R. (1979/1981): Expression and Meaning: Studies in the Theory of Speech Acts. Cambridge.

Angelika Redder

11. Dialogizität und Intertextualität Abstract: Die beiden Kategorien Dialogizität und Intertextualität sind als außeror­ dentlich vielschichtig anerkannt und dementsprechend vielfältig diskutiert. Der vor­ liegende Beitrag konzentriert sich  – dem thematischen Kontext von „Sprache und Literatur“ gemäß – auf einen sprachanalytischen Zugriff mit Bezug auf literarische Texte. Ein solcher Zugriff erfordert eine Klärung des Sprachbegriffs, der für die beiden Kategorien einschlägig wird. Dazu ist eine wissenschaftsgeschichtliche und eine sys­ tematische Darstellung vorzunehmen. Die Ausführungen werden zeigen: Dialogizität und Textualität sind Ausdruck von wissenschaftsgeschichtlich sukzessiven Kritikver­ suchen, die eine heuristische Aufnahme zuvor ausgeblendeter Aspekte erlauben. 1 Wissenschaftsgeschichtliches 2 Systematisches 3 Fazit 4 Literatur

1 Wissenschaftsgeschichtliches Dem Begriff der „Intertextualität“ ist es, seit er in die Welt gesetzt wurde, nicht viel anders ergan­ gen als ähnlich attraktiven Termini: in einem besonderen theoretischen Argumentationszusam­ menhang konzipiert, hat er sich in der Folgezeit in einer Weise verallgemeinert, dass es mittler­ weile schwerfällt, sich anhand der heutigen Verwendungsweisen seiner begrifflichen Identität zu ver-wissern [sic!], ja in manchen Fällen selbst den Gewinn noch zu erkennen, der sich mit ihm verbinden sollte.

So formulieren bereits 1983 Wolf Schmid und Wolf-Dieter Stempel in ihrem Vorwort (S. 5) zum Tagungsband „Dialog der Texte“. Die angeführte Konstellation hat sich bis heute nicht aufgelöst, sondern eher potenziert, indem nun auch die Textlinguistik die Termini Intertextualität und Dialogizität für sich entdeckt hat. Insofern besteht die Herausforderung einer kritischen Klärung von Trefflichkeit und Reichweite dieser semiotisch grundierten Termini unverändert fort. Kategoriale Kritik und Kategorien­ kritik greifen hierzu ineinander. Zahlreiche Überblicke (z. B. Broich/Pfister 1985, Fix 2001) verdeutlichen: Die beiden thematischen Konzepte Dialogizität und Intertextualität gehen in der moder­ nen Forschungsdiskussion auf Schriften von Bachtin zurück und wurden über den französischen Poststrukturalismus in die Europäische sowie US-amerikanische Dis­ kussion aufgenommen; gegenwärtig haben sie insbesondere in textanalytischer Lin­ guistik und Theologie Konjunktur. DOI 10.1515/9783110297898-011

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Bachtin benutzt weniger Dialogizität als Terminus als vielmehr ‚Polyphonie‘. Gleichermaßen spricht er nicht von Intertextualität, sondern von der wechselseiti­ gen Beziehung zwischen konkret genutzten sprachlichen Zeichen, ausgedrückt als Wort (slovo), im sprachlichen Kontext wie relativ zu den usuellen Wortverwendun­ gen. Insofern thematisiert er den aus Interrelationen resultierenden Differenzwert von Einzelzeichen in größeren sprachlichen Zeichenketten, aus denen auch die Wort­ kunst konstituiert ist. Ihn interessiert, mit de Saussure gesprochen, nicht Sprache im abstrakten Sinne eines Sprachsystems, der langue (russ. jazyk), das er als linguisti­ schen Gegenstand in dieser Abstraktheit unkritisch akzeptiert, sondern das ästhe­ tisch besondere Setzen eines Wortes im „Wortkunstschaffen“ (1979/russ. 1924), mithin die in all ihren Varietäten kunstvoll genutzte, komponierte Sprache und insofern ein ausgewählter Teilbereich der parole (russ. reč’, d. h. Rede). Insbesondere entwi­ ckelt Bachtin seine Argumentation im Rahmen einer semiotisch basierten Poetik der Romane von Dostoevskij (1971/russ. 1929), führt sie im Laufe der dreißiger Jahre kul­ tursemiotisch weiter und fügt in den fünfziger Jahren eine Diskussion sprachlicher Gattungen hinzu. Poetologischer Anlass ist Dostevskijs neuartige Integration sozial und ideologisch differenter Redeweisen und Redewiedergaben in narrativen Struk­ turen sowie die Gewinnung karnevalesker sprachlicher Freiheitsgrade, welche die traditionellen russischen Rezeptionsgewohnheiten und kanonischen literarischen Wertungen herausfordern. Als Spiegel der sozialistisch inspirierten Umbrüche im Zarenreich (Dostoevskij wurde 1849 inhaftiert und scheinexekutiert) bildet dessen poetische Darstellung aus Sicht von Bachtin eine Orientierungsgrundlage auch für den Reflex der gesellschaftlichen Veränderungen im Kontext von Oktoberrevolution und Stalin’scher Wende (Bachtin muss 1930 ins kasachische Exil gehen). Eine sys­ tematische Sprachanalyse im Sinne linguistischer Theoriebildung ist nicht Bachtins Anliegen  – und auch nicht seine Leistung (vgl. Meng 2004a, 161). Seinen Denkho­ rizont bezieht er nicht zuletzt aus der interdisziplinären Forschungsdiskussion des sogenannten „Bachtin-Kreises“ in Petersburg/Leningrad, dem vor allem auch Jaku­ binskij und Vološinov zugehören. Diese Diskussion bedarf  – angesichts der dominant übersetzungsbezogenen Rezeptionen und vor dem Hintergrund immens schwieriger editionsphilologischer Konstellationen – einiger Ausführung. In Ergänzung der bekannten Darstellungen in den Editionen und Referierungen seien für den wissensanalytischen Kontext dieses Bandes eher verdrängte sprachkritische und sprachtheoretische Aspekte dargelegt.

1.1 Der Bachtin-Kreis Bei Bachtin sind die „dialogische“ Beziehung zwischen Wörtern mit ihrem polypho­ nen Bedeutungseffekt und die „dialogische“ versus „monologische“ Wortkunst dezi­ diert metaphorisch zu verstehen (1971, 28) und betreffen sehr differente Form- und Funktionskonstellationen auf verschiedenen Abstraktionsstufen. Demgegenüber

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erkennt zuvor Jakubinskij unter dem Terminus des Dialogischen die wesentlich inter­ aktive Qualität von Sprache und somit ein systematisches Bestimmungsmoment. Mit einem tätigkeitstheoretischen Sprachkonzept, wie es in den dreißiger Jahren Vygotskij und sodann A. N. Leont’ev entfalten, unternimmt es Jakubinskij (2004), die sprachliche Tätigkeit nach soziologischen Faktoren wie „Kommunikationsbedingun­ gen“ (gewohnt, ungewohnt), „Kommunikationsformen“ und „Kommunikationszwe­ cken“ (praktisch oder künstlerisch, neutral oder persuasiv) zu differenzieren und für die Kommunikationsformen „unmittelbare“ (in Gegenwart von Sprecher und Hörer) von „mittelbarer“ (bei fehlender Kopräsenz) und (lediglich kurz- oder mittelfristig) „einseitige“ von „wechselseitiger“ Kommunikation zu unterscheiden – die Differen­ zierung von Diskurs und Text sowie Sprechhandlungsfolgen verkettender vs. sequen­ zierender Art in der Funktionalen Pragmatik sechzig Jahre später erfolgt vergleich­ bar (s. u. 2.1). Auch die Gegenüberstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird bei ihm bereits als quer zu Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit stehend erkannt. Die wechselseitige Kommunikation, seit der conversation analysis als durch turn-taking im Hin und Her organisierte Rede behandelt, gilt Jakubinskij als elementare Kom­ munikationsform, eben als (nicht im Sinne von dyo/zwei missverstandene) dialogi­ sche Sprache/Rede, und zwar unter den Bedingungen des Alltags. Konsequenter­ weise erfasst er im „Überlassen des Wortes“ und darüber hinaus im „Zuhören“ und im Abstimmen der Äußerung auf eine gemeinsame „Apperzeptionsmasse“ zugleich sprachliche Lernaufgaben der Ontogenese. Er konstatiert die „Vielgestaltigkeit“ menschlicher Rede als linguistische Herausforderung und kritisiert damit junggram­ matische Isolation von Zeichenformen und strukturalistische Abstraktheit in ihren jeweiligen Reduktionen. Die Sprachgestalten von Poesie, Wissenschaft und Rhetorik weisen lt. Jakubinskij ebenfalls, und zwar sozialsprachlich, kulturell und einzelspra­ chenübergreifend, dialogisches Format auf, welches insofern als „natürlich“ gilt; nicht aber sei monologische Rede ein unter allen Kommunikationsbedingungen not­ wendiges Format, vielmehr eine mögliche, „künstliche“ Besonderheit. Durch Wieder­ holung und Verfestigung ergäben sich in beiden Fällen Musterhaftigkeiten bis hin zu festen Phrasen. Jakubinskijs Argumentation nimmt, wie Naumova (2004) verdeutlicht, die bereits von Potebnja am Ende des neunzehnten Jahrhunderts umrissene Gegenstandsbe­ stimmung von Sprache auf, welche in Anknüpfung an Humboldts εργον-ενεργειαDialektik mentale, das Denken und das verstehende Bewusstsein betreffende sprach­ psychologische Tätigkeiten und interaktive kommunikative Redetätigkeit erfasst. Erst Jakubinskij versieht jedoch dieses Sprachkonzept mit dem Terminus Dialog. Eine solcherart interaktiv konzipierte und sprachpsychologisch integrale Innovation des linguistischen Denkens wird im Bachtin-Kreis des Weiteren durch Vološinov vorange­ trieben. Das bekannte Buch „Marxismus und Sprachphilosophie“ (russ. Erstauflage 1929) wird  – etwa in der französischen Ausgabe  – in der Forschung seit Mitte der siebziger Jahre teilweise als ein Werk von Bachtin behandelt, das, während dieser bereits verbannt ist, von Vološinov (gestorben 1936) redigiert und publiziert wurde.

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Dazu bedarf es einer editionsphilologischen Klärung, denn eine politische Opportu­ nität könnte zur Zeit der Publikation wie zur Zeit der Infragestellung der Autorschaft vorliegen. Der von Meng (2004) berichtete Archivfund der Buchskizze in einem Stu­ dienbericht zu den Jahren 1927/28 sowie die sonstigen Schriften von Vološinov spre­ chen in ihrer linguistischen Konsistenz eher für dessen eigene konzeptuelle Verant­ wortung – auch relativ zur zweifelsfrei von Bachtin verfassten Dostoevskij-Poetik. So sei auch hier getrennt referiert. Dialogizität ist bei Vološinov (wie bei Jakubinskij) eine Kategorie für die grundle­ gende Wechselseitigkeit sprachlicher Kommunikation. Diese Einsicht wird durch eine linguistische Gegenstandserweiterung auf das sprachliche Alltagshandeln, genauer: auf „alltägliche Redegenres“ fundiert. Methodologisch sucht Vološinov noch nach angemessenen hermeneutisch-empirischen Verfahren; Jakubinskij (2004, 433) hatte bereits die kollektive Aufgabe der „Aufzeichnung von Dialogen“ in der Wirklichkeit statt der Literatur als Erfordernis formuliert. Vološinov benennt fünf Lebensbereiche (Kommunikation in der Produktion, amtliche K., Alltagskommunikation, ideologi­ sche K., künstlerische K.), deren alltägliche Redegenres es vornehmlich strukturell zu analysieren gelte, da in ihnen die gesellschaftliche Psyche, das gesellschaftliche Bewusstsein, zum Ausdruck komme. Sprachliche Kommunikation vollziehe sich zwar konkret individuell, habe aber als solche eine soziale und geschichtliche Qua­ lität. Vološinov erkennt mithin – pointiert im Kapitel zur „sprachlichen Interaktion“ (Kap. 3/II, 1975) – die Gesellschaftlichkeit und Historizität von Sprache neben ihrer Interaktivität als wesentliche und also systematische Bestimmungen. Indem er für die Analyse alltäglicher sprachlicher Kommunikation die philosophische Methode der Dialektik anwendet, liefert er nicht nomenklatorisch, sondern sachbezogen und sachgemäß eine Systematik für die neue linguistische Theorie unter der Bezeichnung „marxistische Sprachphilosophie“. Sowohl seine Kritik an einer subjektiv-individua­ listisch orientierten Psychologie wie an einer simplifizierten Ideologiediskussion, die vor allem in den sogenannten Stalin-Thesen später zur dezidierten Herausnahme der Sprache aus der Basis-Überbau-Dichotomie führt, erfolgen außerordentlich sorgfäl­ tig und kenntnisreich bezogen auf westliche wie östliche Forschungen. Der Gesamt­ duktus ist den etwas späteren sozial- und sprachpsychologischen Ausführungen von Vygotskij vergleichbar. Ist nun seinerzeit Dialogizität auf der Höhe der sprachtheoretischen wie gesell­ schaftlichen Umbruchzeit begrifflich rekonstruiert, stellt sich die Frage: Wie steht es mit dem Wechselverhältnis zwischen (inter) sprachlichen Zeichen und dem Gewebe (textura) der Relation von Zeichenketten hinsichtlich ihrer Bedeutung bzw. ihres Sinns? Als ein semantisches Konzept ist mit Schmid (1983) Intertextualität avant la lettre – weder Bachtin noch Vološinov nutzen den Ausdruck – sinnvoll zu fassen. Für das Verständnis des alltäglichen wie des poetischen Worts macht aller­ dings Vološinov das Nichtgesagte, gleichwohl Mitgedachte geltend  – ein Gedanke, den Ducrot aufgreift (s. u. 1.2). Dieses Mitgedachte sei auch in literarischer Sprache auf die soziale Qualität des Bedeutungswissens, allgemeiner des Sprachwissens,

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zurückführbar; daher fordert Vološinov eine „Soziologie der Kunst“ (vgl. Meng 2004, 165 f.). Demgegenüber ist Sprache für Bachtin kein genuin soziales Phänomen, keine soziale Tätigkeit, sondern nur sozial bedingt, d. h. ein unter sozialem Einfluss ver­ ständliches und geformtes Redewort. So ist insbesondere das poetische Wort für Bachtin von den sozialen Strukturen geprägt. Demnach sei Poetik nach sozialge­ schichtlichen Epochen zu rekonstruieren. Die bei Dostoevskij zu poetischer Form gewordene Polyphonie stellt für Bachtin eine adäquate Antwort auf die Heterogenität der gesellschaftlichen Zeit dar. Im polyphonen Roman sei – nicht im dialektischen Sinne – das Einzelwort als Einzelstimme „aufgehoben“ (Bachtin 1971, 32, 52). Es sei die „Koexistenz“ und die „Wechselwirkung“ der Wörter bei Dostoevskij poetisch so erfasst, dass ein „Sich in der Welt zurechtfinden“ möglich werde (ebd., 35). Die „Viel­ falt gleichberechtigter Bewußtseine“ (ebd., 10) kommt nach Bachtins Bedeutungs­ konzept dadurch zustande, dass ein Wort im Gebrauch „von Mund zu Mund, von einem Kontext zum anderen, von einem sozialen Kollektiv zum anderen, von einer Generation zur anderen“ geht und dabei das jeweilige „Bewusstsein“ weiter in sich trage, denn es „kann sich bis zuletzt nicht von der Macht der konkreten Kontexte befreien, deren Bestandteil es jeweils war“ (ebd., 225). Was hier, semiotisch verfestigt, gleichsam in das sprachliche Zeichen hineinprojiziert wird, ist nicht zuletzt nach der Faschismuserfahrung, bezogen auf das Deutsche, erneut zum Thema geworden und bedarf bekanntlich bis heute detaillierter wissenssoziologisch basierter, funktionalsemantischer Rekonstruktion. Bachtin bemerkt zwar den Medium-Charakter von Sprache („Das Wort ist keine Sache, sondern das ewig bewegliche, ewig veränderliche Medium der dialogischen Kommunikation“, ebd.), führt jedoch keine Sprachkritik als dialektisch angelegte Handlungskritik durch, sondern spitzt das zunächst noch von v. Humboldt entlehnte Bedeutungsdenken während seiner Ausführungen in der Ver­ bannung zeichenfixiert zu, indem Sprache als „ideologisch gefüllte Sprache, Sprache als Weltanschauung und sogar als konkrete Meinung“ behandelt wird (1934/35; 1979, 164; Hervorh. im Orig.). Zwar lässt sich so literarisch wie wissenschaftlich subversiv sprachlich handeln. Aber als poetologische Aussage zur Wortkunst fällt diese Konzeption hinter die sozi­ alpsychologischen Ausführungen zum Bedeuten und Verstehen von Jakubinskij und Vološinov zurück und bleibt insgesamt sprachanalytisch eher deskriptiv. Dem ent­ spricht die pluralistische Inanspruchnahme karnevalesker Freiheit in der Aktion wie in der Versprachlichung. Bachtins „Metalinguistik“, d. h. die poetologische Sprach­ analyse jenseits der (als solche akzeptierten) Linguistik des abstrakten Sprachsys­ tems, hat insofern auch nur ein „Bild von Sprache“ zu rekonstruieren und die „dialogischen Blickwinkel“ freizulegen, welche die Komposition des Wortkunstwerks ausmachen – eine Komposition, die dann als „hybrid“ bestimmt wird (1934/35; 1979, 251; Hervorh. im Orig.). In Bachtins späteren Ausführungen zu sprachlichen Kommunikationsstruktu­ ren, Genre genannt, wird das Wort weiterhin als Basiskategorie behandelt, die eben – konform mit der additiv erweiterten Pragmalinguistik im Anschluss an de Saussure –

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in der Äußerung als Wortverwendung zur Geltung kommt. Das Spannungsverhältnis zwischen individueller und gesellschaftlicher Bedeutung wird von ihm gleichwohl kritisch gesehen und im Wesentlichen durch eine kontextuelle Bedeutungsbestim­ mung aufzulösen versucht (s. Bachtin 2004). So entfaltet er eine Jakubinskij und Vološinov geradezu nachholende Kommunikationsbetrachtung mit Kritik an Satz­ begriff und lexikologischer sowie Tropen-Analyse, lässt jedoch, vermutlich aufgrund seiner Konzentration auf literarische Äußerungen mit der ihnen eigenen kommuni­ kativen Brechung (s. u. 2.3), die sprachpsychologischen Prozesse der Verbalisierung und des Verstehens analytisch weitgehend außer Betracht. Gänzlich ausgeblendet werden derartige sprachliche Tätigkeiten dann in der Rezeption und Tradierung von Bachtins Ausführungen durch Kristeva, so dass die zeichentheoretische Fixiertheit von Bedeutung zentral wird.

1.2 Kristeva und der Poststrukturalismus Kristeva, in den sechziger Jahren aus der damaligen Volksrepublik Bulgarien nach Frankreich gegangen, dürfte nicht zuletzt aufgrund der dialektisch und somit ver­ meintlich marxistisch affizierten Methode der Tätigkeitstheorien von Sprache wenig Interesse an der Referierung von Bachtins diesbezüglichen Konzeptionen ausgeprägt haben. Vielmehr leitet sie aus Bachtins Dialogizität ihr eigenes Verständnis der Intertextualität ab und knüpft es an die dem Saussure’schen Strukturalismus verpflich­ tete psychoanalytische (Lacan) und semiotische Diskussion (v. a. der Gruppe um die Zeitschrift Tel Quel) in Paris an, zusammen mit ihrem Landsmann Todorov. Da die französische Diskussion des Poststrukturalismus bestens zugänglich und breit dis­ kutiert ist, verzichte ich auf einzelne Referierungen und konzentriere mich auf die sprachtheoretisch relevanten Momente. Wort und Äußerung, in Bachtins Metalinguistik als kommunikativ statt abstrakt und isoliert gedachte sprachliche Kategorien, werden in ihrer Rezeption faktisch durch die Kategorie des sprachlichen Zeichens ersetzt, das im Text seine gefügte Seinsweise findet (Kristeva 1967). Intertextualität wird als Beziehungsgeflecht zwi­ schen den Zeichen respektive Texten verdinglicht, und zwar im Cartesianischen Sinne der res extensae. Indem auch Kultur, Gesellschaft, Geschichte metaphorisch – nämlich in Entgrenzung des isolierten Bestimmungsmoments menschlicher Konsti­ tuierung – als Text konzipiert werden, erfahren Zeichen und Text im Poststruktura­ lismus eine über Sprache hinausgehende Ontologisierung. „Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.“ (Kristeva 1972, 348) Die Gemachtheit von Texten ist ihnen als ihr Sein selbst inhärent und als Produktionsprozess erledigt. Gesellschaftsanalyse wird – in weniger bedrängten Zeiten, als Bachtin sie vorfand  – durch Textanalyse ersetzt; pointiert: Revolution erfolgt in der Form poetischer Texte (Kristeva 1978).

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Sämtliche kritisch gewonnenen Bestimmungsmomente, die in der oben dargeleg­ ten östlichen Forschung zu einer Sprachtheorie geführt hatten, welche der Komple­ xität von Sprache zunehmend gerecht wurde, erfahren nun in der – auf literarische Texte konzentrierten – westlichen Forschung eine Eskamotierung und lassen einen vielfach reduktionistischen semiotischen Sprachbegriff Konjunktur bekommen. Der systematische Sprecher wird von Barthes (1968) zumindest literarisch begraben; anstelle des Lesers und seiner Rezeptionsprozesse öffnet Derrida (1967) jeden Text für unendliche, de-konstruktive Lektüren; vom Überschreiben zwecks sparsamem Wie­ dergebrauch einer Schreibunterlage verschiebt sich das Palimpsest bei Genette (1982) zu einem kreativen narrativen Verfahren. Zugleich unternimmt es Genette dabei, Text­ relationen unter dem Terminus Transtextualität binnenzustrukturieren und Intertextualität i. e. S. von Paratextualität (dem Beiwerk), Metatextualität (dem Kommentar), Hypertextualität (u. a. dem Palimpsest) und Architextualität (der Gattungsspezifik) zu differenzieren. Für diese engere Fassung des Intertextualtitätskonzepts werden im Einzelnen Zitat und Plagiat sowie Anspielung – eine zentrale Beziehung auch bei Barthes – als Formen diskutiert. Den Dekonstruktivismus aufgreifend, bindet Lachmann die Möglichkeit der intertextuellen Beziehung an das Gedächtnis zurück und gewinnt damit partiell wieder eine mentale Haftung – allerdings auf äußerst abstrakter und semiotisch ver­ dinglichter Stufe: „Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität“ (Lachmann 1990, 35). Ähnlich ist der Wissensbegriff von Foucault eine hochabstrakte Größe, die keineswegs einfach durch den discours vermittelt greifbar wird, sondern erheblicher dialektischer Vermittlungsschritte und handlungsanalytischer Dynamisierung der Semiose bedarf. Sie zu leisten bleibt bislang ein Forschungsdesiderat. Innerhalb der französischen Diskussion ist es das Verdienst von Ducrot, einige semiotische Reduktionen des Poststrukturalismus zu überwinden und eine sprach­ psychologische Semantik mit der interaktiv angelegten Sprechakttheorie zu verknüp­ fen. So führt er das bereits bei Vološinov (s. o.) angedeutete, parole-bezogene Konzept des vom Sprecher angebahnten, jedoch vom Hörer verantworteten Mitverständnisses als sous-entendu im Unterschied zur langue-bezogenen présupposition detailliert aus (Ducrot 1969), bindet Sprache in ein grundsätzlich argumentatives Denken ein und führt das literaturanalytische Konzept der Polyphonie linguistisch weiter, indem er sujet de parlant, locuteur und énonciateur differenziert (Ducrot 1984). Insbesondere Maingueneau (1990) knüpft pragmatisch daran an. Renommierte Kritik aus hermeneutischer Perspektive erfährt das französische Intertextualitätskonzept in Deutschland bei Stierle und Stempel. Stierle prüft aus lite­ raturtheoretischer Sicht Stringenz und Innovationspotential des Konzeptes, wie es dezentrierend und textideologisch von Kristeva vertreten wird – und erkennt es als unsystematisch, ja als Element einer Mythenbildung (Stierle 1983, 12, 21). Stattdessen fordert er zu einer Reanalyse des Terminus auf, welche einerseits die Autonomie eines einzelnen literarischen Textes kraft kompositorischer Spezifik zu erfassen erlaubt und andererseits die geeigneten hermeneutischen Verfahren zur Bestimmung ästhe­

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tischer Wirkung klärt, die eine kritische Überschreitung der werkimmanenten Inter­ pretation ermöglichen. Insofern wird bei Stierle eine bestimmte Abstraktionsstufe eingehalten und Intertextualität als ein Konzept der Literaturwissenschaft, genauer: der literaturtheoretischen Interpretation, verankert. In den äußerst feinsinnigen Aus­ führungen des Linguisten Stempel werden die Reichweiten von philologischer Ein­ flussforschung und Quellenkritik, von stilistisch bzw. rhetorischer Topos- und Motiv­ analyse, von hermeneutischen Kenntnissen über Primär- vs. Sekundärgattungen (poststrukturalistisch aufgegriffen bei Genette) sowie von produktions- und insbe­ sondere leserbezogener Rezeptionsanalyse (bis hin zu Riffaterre) relativ zur Leistung von Intertextualität ausgelotet. Wissensanalytisch macht Stempel den wesentlichen Unterschied zwischen „wissenschaftlichem Interpreten“ als professionellem Leser und (studentischem) „Lektürenovizen“ sowie „Amateurleser“ geltend (1983, 87, 90). Als Leistung intertextueller Forschung anerkennt Stempel zugleich pointierte Inter­ pretationen wie die vergleichende von Schmid (1983) oder rezeptionsgeschichtliche Funde wie die von Warning (1982)  – beide als glückliche Sonderfälle hermeneuti­ schen Geschäfts. Hinsichtlich der US-amerikanischen Diskussion, die das französische Intertextu­ alitätskonzept in Anbindung an den Literary Criticism aufnahm und tradierte, seien lediglich die Kritik von William Irwin (2004) und die germanistikgeschichtliche Ein­ ordnung des emigrierten Jost Hermand (1994) angeführt. Der wissenschaftsgeschicht­ liche Aspekt von terminologischen Konjunkturzyklen wird darin hinreichend deut­ lich.

1.3 (Text-)Linguistik Konjunkturzyklen dürften es denn nicht zuletzt auch sein, die eine relativ zur Lite­ raturwissenschaft „verspätete“ Aufnahme (Fix 2001) des Terminus Intertextualität in die linguistischen Textanalyse seit den neunziger Jahren in Deutschland  – nach der politischen ‚Wende‘ also – bedingen. Eine Konsequenz ist: War für die Literatur­ wissenschaft Sprache in ihrer Relevanz für poetische Texte zu entdecken, so werden diesen nunmehr alle nicht-poetischen Texte (sog. Sach-/Gebrauchstexte) als Gegen­ stand zur Seite gestellt. Die wissenschaftsgeschichtliche Voraussetzung ist freilich in der Linguistik eine eigene – demgemäß differieren terminologischer Stellenwert und Reichweite von Intertextualtiät und Dialogizität. Die Textlinguistik verdankt sich selbst einer doppelt kritischen Bewegung: der Überwindung selbstverständlicher Satzzentriertheit durch Blickerweiterung auf die Realität sprachlicher Äußerungsformen schriftlicher wie, in den siebziger Jahren, vor allem mündlicher Art und der qualitativen Entwicklung einer funktionalen, kom­ munikativen Sprachbetrachtung im Zuge der pragmatischen Wende. Insofern liegen Beziehungen zwischen sprachlichen Einheiten in größeren Zusammenhängen sowie die interaktive Qualität sprachlicher Kommunikation bei Aufnahme des Terminus

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Intertextualität bereits als disziplinäre Selbstverständlichkeiten vor. Die Theorieent­ wicklung zu gesprochener Sprache als Dialog/Diskurs/Gespräch/Konversation unter­ mauert dies – und evoziert terminologisch eher Interaktivität als allgemeines sprach­ liches Kennzeichen. Die Sprachwissenschaft verlangt eine mikroanalytische Sicht auf die sprachlichen Gegenstände und deren Vermittlung zu Meso- und Makroebene. Insofern differiert gewöhnlich die Granularität ihrer Kategorien im Vergleich zur Lite­ raturwissenschaft. Freilich sind auch hier Abstraktionen und deren Rücknahme zu beobachten, die terminologisch ausstrahlen. Einer der (auch terminologischen) Begründer der Textlinguistik, Harald Wein­ rich, macht im Anschluss an Karl Bühler die menschliche Dyade zur Grundlage seiner Textgrammatik des Französischen und Deutschen. Bereits zuvor anerkannte er sie als kommunikative Basis seiner innovativen Tempus-Interpretation (1964). In kritischer Fortführung des Europäischen Strukturalismus setzt er darin drei Größen miteinan­ der in Beziehung: kommunikative Haltung („Gespanntheit“ versus „Entspanntheit“); Sprecher/Autor und Hörer/Leser, dem sie nahegelegt wird; das, worüber geredet wird, der Gehalt („besprochene“ versus „erzählte Welt“). Die Tempuswahl (im Deutschen oder Französischen) erkennt er als ein sprachliches Mittel zur Bestimmung dieser Relation, so dass erstmals Textsorte mit Rezeptionserwartung und thematischer Ent­ faltung in Beziehung gesetzt und an grammatische Formen rückgebunden werden. Das Dialogische schlägt sich auch in Weinrichs „instruktionssemantischem“ Prinzip nieder, das gleichsam zwischen Zeichentheorie und Handlungstheorie von Sprache angesiedelt ist. Mithin ist dieser Art von Textlinguistik Dialogizität selbstverständ­ lich. Textuelle Beziehungen („Text-Text“, „Text-Textwelt“, „Text-Textsorte“ gemäß Fix 2001) sind gar miteinander relationiert, ohne dass der Terminus Intertextualität dazu benötigt wird. Es ist hier nicht der Ort, die weitere Entwicklung der Textlinguistik allgemein auszuführen. Bis zur Aufnahme von Intertextualität in die Textlinguistik sei ledig­ lich auf Dreierlei aufmerksam gemacht: Erstens werden die beiden systematisch an sprachlicher Kommunikation beteiligten Akteure – nicht zuletzt infolge der Sprecher­ zentriertheit von Searle versus Austin und der entsprechenden Intentionszentriert­ heit konventionalisiert gedachter Sprachspiele  – zunehmend, auch in der funktio­ nal-kommunikativen Textlinguistik von Brinker (1985), unifiziert zum „Sprecher/ Hörer“, so dass die Dialogizität von einer linguistischen zu einer empirischen gerät, die auf kontingenter Wirkung beim Hörer beruht. Zweitens wird die propositionale Dimension von Texten terminologisch als entfaltetes Thema oder kommunizierte Information(sstruktur) von ihrem Wechselverhältnis zur illokutiven Dimension abge­ koppelt und referenz-semantisch oder kognitiv-semantisch, später diskursrepräsen­ tationssemantisch, dominant gestellt, so dass Probleme von Kohäsion/Kohärenz/ cohesion (Halliday/Hasan 1976) im Vordergrund stehen. Die an der AI-Forschung orientierte Textlinguistik erkennt hinsichtlich der propositionalen Dimension immer­ hin konzeptuelle Tiefenstrukturen (Makro-Strukturen), die als script, schema, frame oder mental model das textuell aktivierte Wissen der Aktanten im Ansatz zu model­

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lieren erlauben. Bezogen auf diese Wissensaktualisierung wird Intertextualität bei de Beaugrande und Dressler (1981) bestimmt. Weitere psycholinguistische Forschungen erweisen die Komplexität der je eigens geprägten Prozesse Textrezeption und Textproduktion (Rickheit/Strohner 1985). Drittens versucht die kommunikativ orientierte Textlinguistik, welche die illokutive Dimension explizit einbezieht und nicht global dem Funktionsbegriff überlässt, recht unvermittelt, ja schematisch und nicht selten am Satzmodus orientiert, illokutive Hierarchien von Texten und Textsorten aufzustel­ len (Heinemann/Viehweger 1991). Sie gerät so an eine methodologische Grenze. Par­ allel dazu tritt zu dieser Zeit die merkmalsorientierte Bestimmung von Textsorten auf der Stelle (Antos/Tietz 1997). Wenn Linke und Nussbaumer (1997) die Reichweite des literaturwissenschaftli­ chen Intertextualitätskonzeptes kritisch einschätzen und demgegenüber eine prag­ matisch fundierte Textlinguistik als Forschungsfortschritt profilieren, worin besteht dann die Attraktivität der terminologischen Übernahme? Disziplingeschichtlich dürften eine Gegenstandsverschiebung innerhalb der empirisch basierten Linguistik auf Mega-Einheiten der politischen und medialen Kommunikation sowie eine metho­ dische Wendung von der strukturbezogenen Interpretation zur geradezu ethnogra­ phischen Deskription von Varianzen in Einzeltextbeschreibungen beteiligt sein. Der forschende Blick wird so auf immer wieder andere Faktoren der Kommunikation oder Kriterien der Textualität gelenkt, nicht selten unter Abschattung aller anderen. Der Terminus Intertextualität assoziiert „Textbeziehungen“ (Klein/Fix 1997) und ver­ spricht so die Verklammerung von Einzelnem zu einem kommunikativen Ganzen. Insofern wird er als Heuristik für eine Neuausrichtung der Textlinguistik in Anspruch genommen.

2 Systematisches Sprache sei von Texten her zu denken, „da eine natürliche Sprache nur in Texten gebraucht wird“ und „TEXTE sind sinnvolle Verknüpfungen sprachlicher Zeichen in zeitlich-linearer Abfolge“ (Weinrich 1993, 17; Hervorh. im Orig.) – so etwa lautet die Sprachbestimmung der frühen und bis heute im Grundsatz ähnlichen Textlinguis­ tik, einschließlich der systemischen Auffassung bei Halliday und seiner an Bachtin angelehnten Genretheorie. Das Zeichen bleibt fraglose Basiskategorie. Untersu­ chungsgegenstand ist aber nunmehr die Äußerung als Verwendung oder Gebrauch der langue-Zeichen. Die Kategorie Text wird zur Charakterisierung der Strukturiert­ heit von Äußerungen jedweder grammatischer Größenordnung eingesetzt; Texte sind demnach Sprachgebrauchsstrukturen. Ein solches um die parole erweitertes, addi­ tives Konzept von Pragmatik ist mit kulturwissenschaftlichen Kommunikationskon­ zepten kompatibel.

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2.1 Sprache, Diskurs, Text Bezogen auf die pragmatische Textlinguistik ist, gar als „Credo“, von einem Handeln mit Texten die Rede (z. B. Heinemann 1997, 34 mit Bezug auf Linke/Nussbaumer). Handeln und Text werden so instrumentell, hantierend gedacht. Die beiden Kate­ gorien stehen sich dabei zunächst als Seinsgrößen gegenüber und werden erst im empirischen Schritt der Verwendungsbestimmung funktional aufeinander bezogen. Sprache, Handeln und Text sind mithin nicht systematisch hergeleitet. Eine dialek­ tische Vermittlung, wie sie im funktional-pragmatischen Gedanken von Sprache als historisch-gesellschaftlicher Handlungsform für die Realisierung von historischgesellschaftlichen Zwecken (im Unterschied zu individuellen Zielen) angelegt ist, tritt nicht als Erfordernis für die Rekonstruktion von praktiziertem Sprachwissen, genauer: von Sprache als praktischem Bewusstsein, in Erscheinung. Text- und diskurslinguistisch werden gesellschaftliche Praxisstrukturen zumeist nicht in den sprachlichen Handlungsformen selbst aufgesucht  – der missing link wird eher (inter-)kulturanalytisch gefunden (Fix/Habscheid/Klein 2001). Stattdessen gilt Sprache als durch Konvention oder Norm gegeben, so dass erst in der Form ihres Gebrauchs (als Strategie oder ideologischer Durchsetzungsprozess gefasst) die Gesell­ schaftlichkeit des kommunizierten Wissens rekonstruierbar erscheint. Dazu wird u. a. der Terminus Intertextualität herangezogen. Dies gilt vor allem für die Diskurslingu­ istik und die Kritische Diskursanalyse (z. B. Fairclough 1992). Ihre Aufmerksamkeit ist kultursoziologisch auf den discours im Sinne von Foucault gerichtet, also auf das abstrakte Konstrukt gesellschaftlicher Kommunikation in ihrer Gesamtheit. Text stellt demgegenüber das kommunikative Einzelgeschehen dar, in dem sich dieser discours konkretisiert. Der discours besteht somit aus einer Menge oder Reihe von Texten. Für die archäologische Rekonstruktion des kollektiven Wissens in seinen kommunikati­ ven Traditionen und Transformationen (statt in den individuellen Bedeutungskon­ struktionen) ist daher die vergleichende Betrachtung von Texten, von Textganzem zu Textganzem, relevant (Felder 2009). Intertextualität bietet sich als Terminus dafür an. Die individualistisch konzipierte sprachliche Kommunikation im Einzelnen und die auf höherer Stufe kulturanalytisch eingeholte Gesellschaftlichkeit im kommuni­ kativ Vielen scheinen so im Wege der Ideologiekritik verbunden, wenn auch nicht vermittelt. Die Differenzierung von Besonderem und Allgemeinem, wie sie für herme­ neutisch verfahrende empirische Diskurs- und Textanalysen selbstverständlich ist, bleibt, soweit erkennbar, kategorial wenig genutzt. Die Intertextualitätsdiskussion ist aus einer solchen discours-analytischen Mega­ perspektive vor allem für die Bereiche Politik, Presse, Werbung, Medien und Wissen­ schaft aufgenommen worden. Damit rücken faktisch komplexe Institutionen mit dem Gesamt ihrer sprachlichen Kommunikation in den Blick. Dies Gesamt führt zur Beob­ achtung von „Verbünden“ von „Textsortennetzen“ und „Textsortenfeldern“ und zur Konstatierung von durch zwischentextliche Relation der Strukturoberflächen gewon­ nenen „Mustern“ und „Mustermischungen“ (Adamzik 2001) – nicht zu verwechseln

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mit gleichnamigen zweckbedingten Tiefenstrukturen in der Funktionalen Pragmatik. Mehrfachadressiertheit und Sprechsituationszerdehnungen der Diskurse/discours, die eigentlich eine Zweckanalyse verlangen, wie sie etwa in Form des Praxeogramms angeboten wird (Bührig/Redder 2013), evozieren discours-semiotisch eine Konzent­ ration auf die textuellen Instanzen als eigene Größen und eine Marginalisierung der funktionalen sprachlichen Kategorien des Sprechers, Hörers, der Handlungskonstel­ lation und ihrer Vor- und Nachgeschichte. Dialogizität wird nicht in der auch für Texte notwendigen hörerseitigen Rezeption gesehen, sondern in der expliziten oder impli­ ziten, jedenfalls geäußerten Bezugnahme eines Folgetextes auf den Vorgängertext. Type- und token-Bezug werden gleichermaßen verhandelt. Insbesondere in der gebrauchsbasierten Kognitiven Linguistik werden Bezüge zwischen den types rekurrenter, d. h. häufig als tokens auftretender, sprachlicher Konstruktionen und dem Sprachwissen sowie Weltwissen einerseits und Bezüge zwi­ schen konzeptuellen Strukturen und den Prozessen ihrer Ausbildung, Überblendung und Modifikation andererseits thematisiert. „Speech as intertextual collage“ ist der sprachtheoretische Schluss bei Gasparov (2010), den er angesichts der breiten angel­ sächsischen Tradition und gleichermaßen der originalen Polyphoniediskussion zieht und an „communicative fragments“ als Bausteinen der Alltagssprache aufzeigt. Es ist zu fragen, ob die derart relational modellierte kognitive Prozessierung tendenziell mit dem sprachlichen Handeln selbst identifiziert wird, so dass die Äußerung lediglich einer Theorie des Formulierens zuzuführen bleibt. Für eine konsequente Handlungstheorie von Sprache wie die Funktionale Pragmatik (vgl. Redder 2008) geht es sprachtheoretisch nicht um das Handeln mit Texten. Texte sind vielmehr sprachliche Handlungsformen. Und zwar sind es solche bestimmter Komplexität, denen Überlieferungsqualität eignet, um diatopisch und diachronisch „systematisch zerdehnte Sprechsituationen“ zu überbrücken (Ehlich 1984). Indem Sprecher (S) und Hörer (H) bei textuellem Handeln nicht kopräsent sind, werden die im Wechsel zusammengehörenden Prozesse der verbalen Produk­ tion und Rezeption in verschiedenen Situationen vollzogen, was spezifische Struk­ turerfordernisse von Texten begründet. Die Komplexität ist durch ein zweckmäßig zusammenwirkendes Ensemble von Sprechhandlungen bestimmt. Der Diskurs stellt, relativ zur abgeleiteten Qualität von Text, die genuine, durch Kopräsenz von S und H gekennzeichnete Großform sprachlichen Handelns dar. Sprechhandlungen (konstitu­ iert aus Äußerungsakt, propositionalem Akt und illokutivem Akt) sind Handlungsfor­ men mittlerer Komplexität, die sich aus zweckmäßiger Kombination von Prozeduren, den einfachsten Handlungseinheiten, konstituieren. All diese Formen sprachlichen Handelns gelten als gesellschaftlich-historische Problemlösungen, die einen Teil des Sprachwissens, das „Musterwissen“ (Ehlich/Rehbein 1977), ausmachen. So erklärt sich, inwiefern sprecher- und hörerseitige mentale Widerspiegelung der außersprach­ lichen Wirklichkeit durch sprachliche Äußerung vermittelt werden (visualisiert im sog. P-π-p-Modell). Das Verbalisieren und das Verstehen einer jeglichen sprachlichen

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Äußerung, eines sprachlichen Zeichens, besteht somit im mentalen und äußernden Vollzug von Prozeduren. Hierin liegt ein Berührungspunkt zu Potebnja (s. o. 1.1), der (1894; dt. zit. Naumova 2004, 213) formuliert: Das Wort „setzt im Hörer einen Prozess der Gedankenbildung in Gang, analog dem Prozess, der davor im Sprecher abgelaufen ist.“ So wird funktionalpragmatisch die nennende Prozedur, zu deren Vollzug Symbolfeldausdrücke (sog. Inhaltswörter) der Sprache dienen, als Aktivierung von gesellschaftlich mit diesem Ausdruck verknüpftem Wissen rekonstruiert. Fremdheiten, wie Bachtin sie zum Anlass seiner Polyphonie nimmt, terminologisch: Besonderungen gegenüber dieser Aktivierung von verallgemeinertem Wissen, lassen sich genau so analytisch erfas­ sen – seien sie im wissensmethodischen Sinne bildungs- oder wissenschaftssprach­ lich bedingt, seien sie im wissenssoziologischen Sinn gesellschaftlich transformiert oder aber poetisch ästhetisiert (Ehlich 2007/II, Kap. G2). Vor dem Hintergrund einer solchen Handlungstheorie von Sprache stellen sich Fragen der Textbeziehungen, wie sie der Terminus Intertextualität aufnimmt, offenkundig anders.

2.2 Problematik der Texttypologie Mit der linguistischen Übernahme des Terminus Intertextualität wird vor allem, paral­ lel zur literarischen Gattungsbestimmung, der Versuch einer allgemeinen Textsorten­ bestimmung, ja Typologie von Texten inklusive der Ermittlung von Textvernetzungen (Jakobs 1999) oder Textsortennetzen (s. o.) verknüpft. Dieser Aspekt wird meist als generische Intertextualität bezeichnet. Mit Petöfi und Olivi (1988) gilt Intertextualität als kognitives Phänomen bei der Textverarbeitung; demgemäß konstituiert sie sich erst „im Kontinuum der Rezeption“ (Holthuis 1993). Unterschieden von Text-Text-bezogener „referentieller Intertextuali­ tät“, wird „typologische Intertextualität“ an Wissen über kanonisierte Eigenschafts­ strukturen der Gattung, „Systemtexte“ genannt, und an entsprechende Rezepti­ onserwartung rückgebunden (ebd.). Diese Auffassung dürfte kompatibel sein mit Textproduktionsmodellen. Ungeachtet der klärungsbedürftigen psychischen Realität können sprachpsychologisch solch einfache, faktoriell verfahrende Taxonomien, die Raible (1996) mit Bezug auf Arten des Kommentierens bereits kritisiert, nicht genügen. Das zu rekonstruierende sprachliche Wissen ist komplexer. Auf handlungs­ theoretischer Basis formuliert Ehlich (1989) „Prolegomena zu einer pragmatischen Texttypologie“ und rekonstruiert die Genese von Textformen als gesellschaftliche Problemlösungen für veränderte Zwecke. Bezogen auf das gesamte Set institutionell erforderlicher Textsorten führt Rehbein (1998) Derartiges für die Verwaltung exem­ plarisch aus, bis hin zur Praxeogrammdarstellung. In ihrer Rekonstruktion der sys­ tematisch erforderlichen Verarbeitung von Originaldiskurs über Notiz bis zum Wis­ senschaftlichen Protokoll analysiert Moll (2001) faktisch Intertextualität über Genres hinweg; eine „textverarbeitende Textart“ wie das Exzerpt (Ehlich 1981) stellt ein ein­

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facheres, wissenstradierendes Beispiel dar. Kulturanalytisch orientiert, erkennt Linke (2001) in markanten Veränderungen von Todesanzeigen die Funktionalisierung des Offenen Briefs zur Realisierung eines veränderten gesellschaftlichen Selbstverständ­ nisses der Sprachteilhaber. Linguistische Analyse von Literatur, die im Sinne des LiLi-Konzeptes in den siebziger Jahren begann, dann aber eher von einer formalen Linguistik her anvisiert wurde, verlor bald an interdisziplinärer Konjunktur und läuft seitdem mehr oder minder am Rande mit. Betten und Schiewe (2011) müssen mit Bedauern eine Reser­ viertheit gegenüber sprachästhetisch geprägten Texten resümieren. Und doch findet sich eine vielfältige Befassung mit literarischen Texten, wenngleich überwiegend ohne die interessierende terminologische Bezugnahme.

2.3 Literarischer Text, literarische Kommunikation und der Literaturbetrieb Literarische Texte, pointiert: poetische Texte, faszinieren durch ihre Literarizität. Diese wird nicht zuletzt durch eine ästhetische Sprache bewirkt. Ästhetische Sprache bedeutet, dass die Grenzen der sprachlichen Handlungspotentiale ausgelotet und gegebenenfalls produktiv überschritten werden. Nicht-poetische, sog. alltägliche Sprache ist das Arsenal, aus dessen Handlungsreservoir kreativ geschöpft werden kann. Insofern ist dem literarischen Text immer das sprachlich Besondere eigen  – und dies weckt linguistisches Interesse mit Blick auf die Differenz. Literarische Texte lassen sich – ihrer Dialogizität gemäß – als sprachliche Hand­ lungsformen sui generis rekonstruieren. Insofern kann füglich von literarischer Kommunikation gesprochen werden. In Redder (2003) wird der Versuch unternom­ men, deren Besonderheit zu bestimmen. Sie besteht, knapp skizziert, darin, dass (a) grundsätzlich (schon oral, besonders aber in der literalen Gegenwart) eine zerdehnte Sprechsituation zwischen Autor und Rezipient vorliegt, insofern kategorial ein Text, und dass (b) die Kommunikationsstrukturen des P-π-p-Modells mindestens zwei­ fach (z. B. im Drama; mehrfach sogar in Narration oder Roman) geschachtelt sind (s. Abb. 3 und 4, Redder 2003, 190 f.). Daraus leitet sich die Relevanz von Formen der Rede und Redewiedergabe in der Literatur ab. Schließlich besteht (c) die handlungs­ angemessene („dialogische“) Lesertätigkeit aufgrund der illokutiven Suspendierung aller literarischer Äußerungen darin, bei gleichwohl fortlaufender Aktivierung von Musterwissen einen permanenten Vergleichsprozess in Gang zu setzen, der einen Reflexionszusammenhang bildet und insofern kritisches Verstehen nach sich zieht. Dies Verstehen vermag erst in der systematischen Nachgeschichte der literari­ schen Kommunikation und insofern in anderen, besonders in nicht-literarischen, Konstellationen handlungspraktisch zu werden; es setzt sich dann in leserseitige aktionale oder sprachliche Handlungen um. Darauf basieren insbesondere Ver­ fremdungsverfahren. Unmittelbar besteht das rezeptive Handeln in mittels literari­

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scher Sprache bestimmter, also bezweckter, mentaler Erregung  – hinsichtlich des Äußerungsaktes v. a. im mentalen Bereich (π) der (ästhetischen) Wahrnehmung, hinsichtlich des propositionalen und illokutiven Aktes v. a. im Bereich von Emotion und Wissen. Die illokutive Suspendierung begründet den Anschein einer Text-LeserKommunikation; nicht mit dem Autor im Sinne des systematischen Sprechers der lite­ rarischen Äußerungen (und seien sie auch an einen Erzähler delegiert), sondern mit dem Schriftsteller kann in der Nachgeschichte direkt kommuniziert werden. Die hohe Vermitteltheit literarischer Kommunikation schafft eine Distanz, welche für gemein­ schaftsstiftende Erfahrung im Wege der Ästhetik förderlich ist. Die Vorgeschichte der literarischen Kommunikation besteht in der Entscheidung zur Lektüre sowie in der Auswahl des literarischen Textes. Ein professioneller Schriftsteller nutzt als Autor, wie man nicht zuletzt aus Poe­ tikvorlesungen weiß, seine sprachlichen Mittel auf der Basis eines hochentwickelten handlungspraktischen, zuweilen gar linguistischen, Sprachwissens – sei es der all­ täglichen, sei es der literarischen Kommunikation in eigener Erfahrung geschuldet. Gleichermaßen ist die Einbettung der literarischen Kommunikation in den Literatur­ betrieb bekannt – und damit in das Bezugsnetz von Texten. Literarische Kommuni­ kation ist eine institutionelle Kommunikation. Kompetitivität des Geschäfts besteht nicht nur vor dem Hintergrund jedweder Geniekultur oder „Einflußangst“ (Bloom 1973), sondern auch von ökonomischem Kalkül des „what sells?“ All die genannten kommunikativen Elemente mögen als Beziehungsgrößen für Intertextualität hervor­ gehoben werden – oder sie werden in ihrem Zusammenwirken interpretiert. Polyphonie, Intertextualität oder Hybridität werden erst in den letzten Jahren in linguistischen Untersuchungen literarischer Kommunikation terminologisch genutzt. Während Bredel (1999) anhand von Alltagserzählungen Polyphonie, einge­ bunden in eine handlungstheoretische Herangehensweise, wissensanalytisch nutzt und so mentale Dimensionen der Verbalisierung von Wirklichkeitserfahrung im Umbruch erfasst, konzentriert sich Fix (2011) auf die Äußerungsseite der Verbalisie­ rung, genauer: auf den Äußerungsakt und seine Formulierung wie auch Artikulation, und legt so sprachliche Profile von Figuren theatralischer Texte dar. Betten (2007) diskutiert unter dem Terminus der Dekonstruktion syntaktische Besonderheiten der modernen Prosa, v. a. bei Jelinek und Bernhard; Betten (2011) hebt hervor, dass Poly­ phonie und Hybridität ein besonderes Kennzeichen gegenwärtiger, außerordentlich sprachreflektierter Literatur sind, und rekonstruiert an einer Reihe von Beispielen österreichischer Autorinnen und Autoren die Konstruktionsmechanismen mikround makrostrukturell. Pérennec (2011) zeigt die einzelnen sprachlichen Mittel auf, mit denen Kafka Polyphonie inszeniert und so Missverständnisse evoziert – zwischen den Figuren wie auch beim Leser. Detailanalysen zu formal und funktional sehr dif­ ferenten Insertionen des Arabischen im deutschsprachigen Roman „Bildverlust“ von Handke lassen eine spezifische Struktur erkennbar werden, die aktuelle und histori­ sche Wirklichkeitserfahrung hybrider Art zeigt und verstehbar werden lässt (Redder

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2015). Rigler (2013) diskutiert filmisch-literarische Intertextualität bei Woody Allen, vor allem mit Blick auf russische Literatur. Ohne terminologischen Bezug auf Bachtin ist Dialogizität eine geradezu zentrale Thematik linguistischer Literaturanalysen seit der sog. pragmatischen Wende. Mit Blick auf die Kennzeichen gesprochener Sprache werden in vergleichendem Zugriff grammatische, lexikalische und sprechhandlungsanalytische Studien vorgelegt. Ins­ besondere ziehen direkte Rede („Dialoge“) und das Spektrum der Redewiedergabe bis hin zur sog. erlebten Rede die Aufmerksamkeit auf sich. Sprachrealismus und lite­ rarische Brechungen werden so von der analytischen Erfahrung mit Alltagskommuni­ kation her beleuchtet. Dabei erfährt die Relation von Dialog und Monolog besondere Beachtung. Exemplarisch genannt seien die Untersuchungen von Betten (1985, 2005), Cherubim, Henne/Rehbock (1984), Hess-Lüttich (1984, 2005), Bührig (2000), Betten/ Dannerer (2005), Schwitalla (2005), Fix (2013) sowie Schwitalla/Tiittula (2009) mit einer komparatistischen Komponente. Dialogizität sowie Intertextualität sind zwar nicht explizit, aber von der Sache her in einer Reihe von Detailanalysen umgesetzt; sie betreffen verschiedene Aspekte der eingangs dargelegten literarischen Kommunikation. Durch eine prozedurale Gedicht­ analyse unternimmt es Ehlich (2007/II, Kap. G3), die Spezifik von Eichendorffs litera­ rischer Wirkung als leserseitigen sprachlichen Verstehensprozess zu rekonstruieren; auf der Basis zahlreicher Deixisanalysen auch erzählerischer Texte von Bernhard, Bichsel und Eichendorff (2007/II, Kap. D6, G1) führt Ehlich des Weiteren eine verglei­ chende Analyse durch, die Eichendorffs zeigenden Stil und Goethes nennenden Stil sprachpsychologisch und ästhetisch konfrontiert (ebd., G2). Riedner (1996) rekons­ truiert durch exemplarische prozedurale Analysen die Eigenart des Schreibens von Kronauer. Schiedermair (2004) wirft einen neuen Blick auf die Kategorie des lyrischen Ich, indem das Deixiskonzept fruchtbar gemacht wird. Die übliche Charakterisierung von Canetti (v. a. in „Die Stimmen von Marrakesch“) als anschaulich wird durch eine prozedurale Analyse fraglich; stattdessen erweisen sich nennende und operative Verfahren nach Art ethnographischer Registrierung, Prospektierung und Beschrei­ bung als prägend und als konservativ auf Wissensstrukturen des Typs Bild projiziert (Redder 1996). Literarische Kommunikation insgesamt dient Czezior (2008) als Folie für eine kri­ tische Analyse der Rolle des Lesers bei Hoffmannsthal und Immermann. Mit Blick auf Vorgeschichte und Nachgeschichte der literarischen Kommunikation sei auf zwei funktional-pragmatische Studien hingewiesen: Fontane wird anhand von sprachli­ chen Analysen durch Ehlich (2002) als „Seismograph“ der politischen Verhältnisse Preußens identifiziert, was bis heute seine Lektüre zu prägen vermag; Weiss erweist sich in der „Ästhetik des Widerstands“ nicht nur dadurch als Begründer einer innova­ tiven ästhetischen Form, dass er Dokumentarisches, Wissenschaftliches und diskur­ sive Erarbeitung von Wissen durch Wahrnehmung ineinander verschränkt, sondern direkt zu Romanbeginn Beschreibung, Wahrnehmungsbeschreibung, Bildbeschrei­ bung, Kommunikation der Wahrnehmung und Bericht  – motiviert durch Kunstbil­

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der – außergewöhnlich kunstvoll verwebt und so bereits das Spektrum der leserseiti­ gen Erregungen in Aktion setzt (Redder 2000a), was nicht ohne handlungspraktische Nachgeschichte bleiben kann. Man könnte diesen Roman als Beispiel für Intertex­ tualität par excellence heranziehen. Differente Darstellungsformate in Text vs. Film mit entsprechend ungleicher Nachgeschichte rekonstruiert von Kügelgen (2000) für Kafkas „Vor dem Gesetz“. Ein handlungsanalytischer Blick erlaubt es, in prozedural besonders kombinier­ ten, nicht-sententialen Strukturen eine eigene sprachliche Handlungseinheit mit eigenem Stellenwert an der Grenze von Satz- und Textsyntax zu entdecken, das „par­ tikulare sprachliche Handeln“, welches nicht nur in Alltagserzählungen genutzt wird, sondern insbesondere in literarischen Erzählungen ein „konstellatives Schildern“ zu inserieren erlaubt (z. B. bei Weiss und Handke); dadurch wird das „Paradox der sprachlich vermittelten Unmittelbarkeit“ bezweckt und so eine direkte Involvierung des Hörers/Lesers in ein noch nicht wissensmäßig bearbeitetes Geschehen bewirkt (Redder 2006) – Dialogizität par excellence. Diese besondere sprachliche Handlungs­ form erweist sich strukturell als Entlehnung aus der koperzeptiven Diskurs-/Textart der Reportage und, angesichts einer Distributionsanalyse im Gesamtroman „Bild­ verlust“ (Handke), als stilistische Funktionalisierung eines Handlungsmusters zur Bearbeitung von Schwellenübertritten der Figur (Redder 2011). Revisionen  – Über­ schreibungen also – verfolgen Engelen (1997) mit Bezug auf autorenseitige Textvor­ geschichte (Eichendorff) und Redder (2000b) anhand von phorischen Prozeduren an textuellen Montage-Nähten bei Weiss, was rezeptive Revision und nachhaltige Lektüre provoziert.

3 Fazit Wenn sprachliche Handlung als menschliche Tätigkeit auf der Basis minimaler Kooperation verstanden wird, erweist sich Dialogizität als metonymisches Verfah­ ren der begrifflichen Annäherung an das Wesen von Sprache. Indem Intertextualität als heuristisches Mittel brauchbar ist, um zu textuellen Klassifikationen jenseits merkmalsgestützter Zugänge zu gelangen und sprachliche Dimensionen in den ana­ lytischen Blick zu rücken, die, sei es aufgrund theoretischer Abstraktion, sei es auf­ grund erhöhter Partialisierung arbeitsteilig verfahrender Wissenschaft, ausgeblendet wurden, so hat der Terminus für die Textsortenlingustik seinen bereichernden Dienst getan. Als analytische Kategorie erscheint er linguistisch allerdings verzichtbar.

Dialogizität und Intertextualität 

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Ernest W. B. Hess-Lüttich

12. Medialität

Abstract: Nach einem kurzen Rückblick auf die Forschungsgeschichte der Reflexion auf die Medialität des (literarischen) Textes versichert sich der Beitrag zunächst des begrifflichen Fundamentes, indem er die Textbegriffe der Sprach- und Literaturwis­ senschaft rekonstruiert (Textlinguistik, Literaturtheorie, Intertextualitätstheorie), dann ihren Gebrauch in den Medien(text)wissenschaften betrachtet (Intermedialität, Hypertextualität) und – als Voraussetzung von Hyperfiction – die Entwicklung des Hypertext-Konzeptes in genetischer, struktureller und ästhetischer Perspektive nach­ zeichnet. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf Ansätze der Digitalen Poesie (Netzli­ teratur, Hyperfiction, Cyberfiction). 1 Sprache – das Medium der Literatur. Zur Entwicklung der Fragestellung 2 Text in der Sprach- und Literaturwissenschaft 3 Text in den Medien(text)wissenschaften 4 Zur Textualität von Hypertext 5 Digitale Poesie: Netzliteratur, Hyperfiction 6 Literatur

1 Sprache – das Medium der Literatur. Zur Entwicklung der Fragestellung Konzepte und Aspekte der Medialität sind Gegenstand zahlreicher Disziplinen, dar­ unter z. B. Sprach-, Literatur-, Text-, Medien-, Kommunikations-, Kultur-, Zeichen-, Technik-, Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Hess-Lüttich 1981, 289– 318; id. 2016 a). Entsprechend unübersichtlich ist die Literatur dazu geworden, was heute einen transdisziplinär-holistischen Zugang zum Thema erschwert. Für Leser eines Handbuchs zur Sprache in der Literatur bietet sich daher statt des theoretischsystematischen eher ein wissenschaftshistorischer Zugang an, der die Entwicklung und Ausdifferenzierung des Interesses an Medialität nachzuzeichnen und es für die Betrachtung medialer Aspekte von Literarizität (am Beispiel aktueller Phänomene etwa digitaler Poesie) fruchtbar zu machen strebt. Nachdem Norbert Wiener (1964) das „Zeitalter der Nachrichtentechnik“ ausgeru­ fen hatte, begannen Literarhistoriker über einen Paradigmenwechsel in ihrem Fach nachzudenken. Sie plädierten dafür, die sich abzeichnenden „Veränderungen des Literaturbegriffs“ im Umfeld der Medienkonkurrenzen systematisch zu reflektieren (cf. Kreuzer 1975). Walter Höllerer widmete ein Sonderheft der (Literatur-)Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter 1975 dem Thema „Multimediale Kommunikation“, DOI 10.1515/9783110297898-012

Medialität 

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und Ernest Hess-Lüttich rief eine Sektion dazu in der gleichzeitig gegründeten Deutschen Gesellschaft für Semiotik ins Leben, für die er ein entsprechendes Forschungs­ programm entwarf (Hess-Lüttich 1978) – lange bevor „multimedia“ als Werbebegriff der Computerindustrie in aller Munde war und ‚multimodale Partituren‘ zum Instru­ mentenbesteck empirischer Gesprächsanalyse avancierten. In den 1980er und 1990er Jahren widmeten sich dann zahlreiche Fachtagungen der Frage, welche Rolle künftig die „Germanistik in der Mediengesellschaft“ einzunehmen gedenke (Jäger & Switalla 1994). Man beobachtete, wie Autoren den primären Text „durch beliebig zu öffnende Fenster nach allen Seiten hin austiefen, ergänzen, umstellen – und vor allem auch verstellen und verändern“ (Lämmert 1995, 19) und wie die „Affinität von poiesis und techné“ in einer Weise wuchs, dass „ein exklusives Beharren auf natürlicher ‚Origina­ lität‘ zwangsläufig unter Ideologieverdacht“ zu geraten drohte (Söring 1997, 43). Intel­ lektuell vorausgedacht wurden die Veränderungen längst, wenn auch nicht im tech­ nischen Detail, so doch in ihren Strukturen, Tendenzen, Konsequenzen, Perspektiven etwa von Walter Benjamin, Marshall McLuhan, Lars Gustafsson, Roland Barthes, Jacques Derrida, Jean Baudrillard. Ihre theoretischen Überlegungen eröffneten im Zeichen der Digitalisierung gegen Ende des 20. Jahrhunderts Fragen nach der RückWirkung der ‚Automaten‘ auf Literatur und Sprache und neue Perspektiven auf die „Literatur im technischen Zeitalter“ (Elm & Hiebel 1991). Deshalb erforderte der Blick auf die neuen ‚Medientextarten‘ wie bei vergleichbar polysem gebrauchten Grund­ begriffen à la ‚Medium‘ (Posner 1985) oder ‚Code‘ (Hess-Lüttich 1994) eine genauere terminologische Bestimmung des linguistischen wie des literaturwissenschaftlichen Textbegriffs, ohne die Textwissenschaftler dem zeitgemäß neu zu justierenden Ver­ hältnis von Literatur und Medialität nicht gerecht werden (cf. Fix et al. 2002; Adamzik 2004; Grucza 2006; Wagner 2016). Text sei hier verstanden als „ein gebietskonstitu­ tiver Grundbegriff einer Kulturwissenschaft, die sich als allgemeine Kultursemiotik versteht. Sein Thema ist die (Un-)Wiederholbarkeit von Sinn“ (Knobloch 2005, 26; cf. Hess-Lüttich 2016 b).

2 Text in der Sprach- und Literaturwissenschaft Innerhalb dieses Rahmens kann zwischen linguistischen, literarästhetischen bzw. literarhistorischen und semiotischen Textbegriffen (neben anderen) unterschie­ den werden. Schon innerhalb der Linguistik ist die Bandbreite zwischen engen und weiten, alten und neuen Textbegriffen enorm (Coseriu 1981). Man hat ihn ursprüng­ lich verstanden als „die grundsätzliche Möglichkeit des Vorkommens von Sprache in manifestierter Erscheinungsform“, als „das originäre sprachliche Zeichen“ schlecht­ hin (Hartmann 1971, 10), oder als transphrastische Einheit einer Textgrammatik (cf. Schecker & Wunderli 1975), reserviert für schriftliche Zeugnisse überlieferten Wissens

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(Ehlich 1983) oder für die bei verschiedenen Übermittlungsformen gleichbleibenden lokutiven und illokutiven Konstanten (Ehlich 1984). Im ersten Falle könnten wir davon ausgehen, dass, „wenn überhaupt gesprochen wird, nur in Texten gesprochen wird“ (Hartmann 1968, 212). Im anderen Falle würden wir in der Tradition von Zelig Harris (1952) unser Augenmerk auf die trans-sententiellen Einheiten des Diskurses richten und die typologischen Kriterien der Klassifikation seiner Erscheinungsformen. Unter angelsächsischem und romanophonem Einfluss wurden die Begriffe ‚Text‘ und ‚Diskurs‘ oft synonym gebraucht oder ihre Abgrenzung voneinander blieb unklar (van Dijk 1980). Im Bezirk zwischen den damit markierten (linguistischen) Traditi­ onslinien wurden sprachliche Texte als materiale Substrate dialogischen Handelns in Form relationaler Strukturgefüge verbaler Elemente beschrieben und durch Katego­ rien wie Extension und Delimitation, Kotext und Kontext, Struktur und System defi­ niert (cf. Plett 2000). Von den seit de Beaugrande & Dressler (1981) als für Textualität konstitutiv genannten Kriterien (Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität, Intertextualität) hält Vater (2006, 65) das der themati­ schen Kohärenz für dominant, wobei er mit Schmidt (1980, 149) zwischen textbezüg­ lichen (Regeln der syntaktisch-semantischen Verkettung) und textnutzerbezogenen Kohärenzbedingungen (Sinnerstellungsoperationen und -prämissen der Rezipien­ ten) unterscheidet. Von textlinguistischem Interesse im engeren Sinne waren dabei besonders die allen Texten inhärenten referentiellen, temporalen, modalen, colliga­ tiven, collocativen und typologischen Relationen (van Dijk 1977; Halliday 1978; HessLüttich 1981). Der linguistische Textbegriff wurde jedoch schon früh zeichentheoretisch ela­ boriert und später auf Codes nahezu beliebiger semiotischer Struktur und Modalität bezogen. Das wiederum kam der schon in der Prager Schule geläufigen und in der Tartuer Schule systematisch ausgebauten Unterscheidung zwischen praktischen und poetischen Texten entgegen. Der poetische Text wurde dabei im Sinne der kulturse­ miotisch orientierten Studien von Lotman (1972; id. 1973) in der neueren Literaturthe­ orie als „semiotisch gesättigtes“ „System von Systemen“ aufgefasst, dessen Bedeu­ tung einerseits aus der Spannung zwischen seinen Subsystemen, durch Serien von Ähnlichkeiten, Oppositionen, Wiederholungen, Parallelismen etc. erwachse, ande­ rerseits durch Relationen zu anderen Texten, Codes, ästhetischen Normen, literari­ schen Konventionen, sozialen Prämissen im ‚Dialog‘ mit dem Leser entstehe (Bachtin 1981; id. 1986; Eagleton 1988, 79–109). Beide Komplexe werden heute im literaturtheoretischen Programm „semioti­ scher Diskursanalyse“ integriert, indem die Frage nach der semiotisch spezifischen Struktur des literarischen Textes mit der nach der Hierarchie seiner kulturellen Ein­ bettungskontexte und intertextuellen Verweisungsbezüge verbunden und Literarizi­ tät aus der Spannung zwischen immanenten (graphemischen, phonemischen, mor­ phemischen, lexemischen, syntaktischen, suprasegmentalen) (Sub-)Systemen und externen (diskursiven, sozialen, funktionalen, kulturellen, institutionellen) Faktoren abgeleitet wird (cf. Link & Parr 1990).

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Dem trägt eine texttheoretische Modellierung Rechnung, die den Text als ‚kon­ struktive Gestalt‘ bzw. als Zeichengefüge (oder ‚Superzeichen‘) bestimmt, nicht als lineare Kette von Zeichen (Hess-Lüttich 1981, 324; id. 2016 a). Eine solchermaßen im Prinzip bereits ‚holistische‘ Modellierung des Textes ist kategorial hinlänglich komplex für die Integration auch nicht-linearer, mehrfach-codierter, multi-medialer Texte in den Gegenstandbereich der Texttheorie. Sie kann die Zeichendimensio­ nen des Textes auf der Ebene des Superzeichens analytisch entfalten und sie etwa (primär) als syntagmatisch-colligatives Objekt der Textsyntaktik oder als referentiellsignifikatives Objekt der Textsemantik oder als dialogisch-funktionales Objekt der Textpragmatik thematisieren, solange bewusst bleibt, dass Textualität – als Manifes­ tationsmodus (als ontisches Strukturmerkmal) kommunikativer Prozesse zwischen (hypothetisch) handelnden sozialen Subjekten – sich erst im Zusammenwirken der semiotischen Dimensionen verwirklicht als kommunikative Sachverhalte vermit­ telnde Semiose, die im Falle poetischer Texte noch überlagert wird durch in der Litera­ turtheorie genauer beschriebene „sekundär modellbildende Systeme“ (Autofunktio­ nalität, Aktualisierung, Desautomatisation, Konnotativität, Polyisotopien, Ikonizität: Lotman 1973; Link & Parr 1990; Nöth 2000, 391 ff.). Im Rahmen eines solchermaßen grob skizzierten texttheoretischen Programms (als Voraussetzung textwissenschaftli­ cher Reflexion auf Medialität) lassen sich empirisch Alltagsklassifikationen, Systeme ästhetischer Gattungen, Textmusterbeschreibungen, Textsorten, Texttypologien mit­ einander vergleichen. Das Verhältnis zwischen Texten wird heute als Intertextualität beschrieben, verstanden als Summe der Relationen zwischen „dominant verbalen semiotischen relationalen Objekten“ (Holthuis 1993, 249). Ein semiotisch präzisierter Begriff von Intertextualität „merely indicates that one text refers to or is present in another one“ (Mai 1991, 51) und grenzt sich von dessen Globalverständnis in psychopoetologischpoststrukturalistischen Ansätzen (in der Nachfolge von Julia Kristeva) ebenso ab wie von linguistisch-reduktionistischen Konzepten, die Intertextualität als dem Text inhärente Eigenschaft zu bestimmen suchen, die durch explizite Merkmale intersub­ jektiv nachweisbare Verweisrelationen konstituiert: „Any merely inter-literary, interlinguistic taxonomic attempt will serve mainly archival purposes and even these in a slightly antiquated fashion“ (Mai 1991, 52). Die Instanz zur Herstellung dieser Bezüge ist der Leser, für den es nicht belanglos ist zu wissen, ob ein Autor einen Prätext gekannt hat, ob er über das gleiche Textrepertoire verfügt wie dieser, ob er dessen Verweis-Instruktionen im Text zu folgen weiß. Die traditionellen Skalierungen von Intertextualität (nach Maßgabe von Kriterien der Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität, Dialogizität: Pfister 1985; Plett 1991; de Beaugrande & Dressler 1981) und Typologi­ sierungen ihrer Transfer-Formen finden heute als Thema der Digital Humanities im ‚Hypertext‘-Konzept ihre logische Fortsetzung, Anwendung und Ausweitung. Denn die Herstellung intertextueller Bezüge ist das zentrale Kennzeichen von Hypertext, mittels dessen etwa ein Primärtext als digital gespeicherte Textbasis ergänzt wird

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durch weitere ‚Fenster‘ mit Textvarianten, Worterklärungen, Kommentaren, Litera­ tur- und Quellenverweisen, Bild- oder Tonmaterial, Inszenierungsbeispielen, Film­ versionen. Mai erachtet deshalb Hypertext-Systeme als prädestiniert für intertextuelle Analyse, denn sie repräsentierten „a viable technical solution for those intertextua­ lists interested in pointing out interconnections in large archives of diverse kinds of text (verbal, visual, aural) as it allows the construction of comprehensive informatio­ nal networks“ (Mai 1991, 50).

3 Text in den Medien(text)wissenschaften Aus dem bis hierher entwickelten Textbegriff konnte dann die Ausdehnung des Inter­ textualitätskonzeptes auf medial heterogene Texte abgleitet werden. Da moderne Kommunikationsverhältnisse sich zunehmend „durch mediale Verbundsysteme, intermediale Fusionen und Transformationen“ auszeichnen (Müller 1992, 18), war die Forderung nach einer Theorie der Intermedialität die logische Folge (Müller 1996). Ihre Aufgabe ist die Konstruktion des intermedialen Regelsystems, das den Übergang von Texten eines Mediums in Texte eines anderen mit ihren jeweils medienspezifi­ schen Coderelationen zu beschreiben erlaubt. Die Forderung einer systematischen Medienkomparatistik ist schon älter (Faulstich 1982, 46–58); eine Fülle von Fallstu­ dien und Überblicksarbeiten belegt seither ihre Berechtigung in den Textwissen­ schaften (Hess-Lüttich & Posner 1990; Paech 1994; Helbig 1998; Wolf 2002; Rajewski 2002; Wirth 2005; Paech & Schröter 2008; Genz & Gévaudan 2016). Vor dem Hintergrund der technischen Entwicklung im Bereich multimedialer Kommunikation gewinnt der Ansatz noch einmal an Zugkraft (Hess-Lüttich 1982; id. 2004). Wie kann die Repräsentation von Wissen in multimedial zusammenge­ setzten Texten kulturtypisch optimiert werden? Welchen Veränderungen unterliegt die Information beim Transfer von einem Medium ins andere? Welche Wirkungen hat die Transformation seriell-deduktiver Wissensverarbeitung in linear strukturier­ ten Texten zu assoziativ-konzeptueller Wissensverarbeitung in mehrfach-codierten Textensembles auf deren Rezeption (z. B. in Hypertext-Programmen autonomen Lernens)? Welche Folgen hat der Übergang von der linearen Textstruktur zur ‚holis­ tischen‘ für die Unterscheidung zwischen ‚Autor‘ und ‚Leser‘ im Falle von potenti­ ell beliebig expandierbaren, modifizierbaren, manipulierbaren Hyperdokumenten? Welche kognitiven Gefahren birgt intermediale Dauerreizung durch hypertextuelle Text-Räume (Spitzer 2015)? Theodor Holm Nelson definierte ‚Hypertext‘ bekanntlich als „non-linear text“ (Nelson 1967, 195). Was wäre demgegenüber ein ‚linearer Text‘? Als im traditionel­ len Sinne ‚linear‘ gelten Texte, deren Materialität eine feste Folge ihrer seriellen Elemente bedingt. Natürliche gesprochene Sprache etwa sei durch ihre zeitlichlineare Lautfolge (Phoneme) ohne räumliche Extension charakterisierbar, natürli­

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che geschriebene Sprache durch die räumlich-lineare Abfolge ihrer Segmente (Gra­ pheme, Moneme, Sätze, Paragraphen, Kapitel etc.) – und diesem Gliederungsprinzip unterliege zwangsläufig auch der Hörer/Leser von Texten (Nöth 1994). Das traf schon immer nur bedingt zu, Hypertexte heben es auf. Den nicht-linearen Aktivitäten des Text-Rezipienten wird der semiotische Textbegriff deshalb eher gerecht als der lingu­ istische. Wer den Text von vornherein als ‚konstruktive Gestalt‘, als Gefüge, Gewebe, Geflecht, eben als Netzwerk auffasst, statt nur als Kette, Linie, Sequenz von Zeichen, für den verliert der Übergang vom ‚analogen‘ zum ‚digitalen‘ Text, vom Text zum Hypertext, die heute oft behauptete Qualität des ‚Quantensprungs‘. Multimodal konzipierte Textbegriffe, die verbale, para-verbale und non-verbale Codes (Sprache, Graphik, Farbbilder, Bildanimation, Töne, Klangsynthese, Film etc.) textuell integrieren und intertextuelle Anschlussstellen in potentiell beliebiger Zahl bieten, reichen übrigens weit in vorelektronische Zeiten zurück. Vannevar Bush entwarf 1945 einen Text-Automaten (Memex), der nach dem Modell assoziativer Denk­ prozesse einzelne ‚Dokumente‘ zu einem netzartig verknüpften Informationssystem verbinden sollte: die Keimzelle des heutigen Internet und WorldWideWeb (cf. Krol 1992, 227–242) und ein zugleich semiotisches Konzept von Text-Netzwerken avant la lettre, das in der terminologischen Metaphorik das neuro-physiologische Modell des eher assoziativ-parallel als deduktiv-seriell funktionierenden Gedächtnisses antizi­ pierte und später von Douglas Engelbart und Theodor Holm Nelson fortentwickelt wurde. Engelbart konzentriert sich dabei auf die maschinelle Simulation heuristischen Problemlösungsverhaltens und verbindet Linguistik mit Kognitionspsychologie und Computerwissenschaft, während Theodor Holm Nelson von dort die Brücke zur Textwissenschaft schlägt, als er bereits in den 60er Jahren (unabhängig von Gérard Genette und mit ganz anderen Intentionen als dieser in seiner späteren Transtextua­ litätstheorie) den Begriff Hypertext prägt und in seinem Hauptwerk Literary Machines der Prämisse ausgeht, „that hypertext is fundamentally traditional and in the main­ stream of literature“ (Nelson 1987, 1/17). Literatur ist dabei für ihn der sich in his­ torischer Tradition entfaltende Umgang mit Texten fiktionaler oder nicht-fiktionaler Art. Was diese Texte jedoch von Hypertext unterscheide, sei ihre Struktur der linea­ ren Sequenz, der inhaltlichen Organisation des Darstellungsverlaufs und der semi­ otischen Modalität der Präsentation. Hypertext erweitere die Freiheit des Lesers im Umgang mit dem Text entscheidend (Nelson 1987, 1/195): elektronische Anschluss­ stellen („links“) erlaubten ihm (durch Verzweigung „into trees and networks“) den Zugriff auf andere (räumlich ggfs. weit entfernte) Texte, er bestimme den Detaillie­ rungsgrad der Darstellung („multiple levels of summary and detail“), er entscheide über die Darbietungsform der Information in Wort und Schrift, in Bild oder Ton, in Graphik oder Film oder allem zusammen, er werde vom passiv rezipierenden Leser zum aktiv in den Textprozess eingreifenden Co-Autor, der den Text in seinen Teilen ergänzt, verkürzt, verändert, manipuliert, destruiert nach seinem Gusto und Inter­

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esse. Hypertext werde so nachgerade zum methodischen Instrument der Dekonstruk­ tion schlechthin (cf. Landow 1992, 5). Dies wirft Fragen auf, die eine medienwissenschaftlich informierte Neukonzep­ tion der traditionellen Texttheorie erfordern. Welches ist die Einheit des Textes, wenn seine Gestalt frei manipulierbar ist? Welches sind seine Segmente, wenn der Wechsel zwischen den Codes semantisch Gewinne oder Verluste der Informationsstruktur bedingt? Was sind die ‚nuklearen‘, nicht weiter reduzierbaren oder transformierba­ ren Einheiten? Welches sind die Grenzen des Textes, die ihn von anderen Texten, Kontexten, Ko-Texten trennen? Verändert sich Textualität beim Übergang vom ana­ logen zum digitalen Medium? Welche Bedeutung transportiert ein Text, der sich im Prozess jeweiliger Lektüren erst konstituiert? Wie steuern die audio-visuellen Codes diesen Prozess? Welche Anwendungsperspektiven eröffnen die beliebige extensio­ nale Expandierbarkeit und plurimediale Transformierbarkeit des Konzeptes für die Textwissenschaft? Es ist kein Zufall, dass Poststrukturalisten wie Roland Barthes, Dekonstruktivis­ ten wie Jacques Derrida, Rezeptionstheoretiker wie Wolfgang Iser oder Semiotiker wie Umberto Eco die text- und diskurswissenschaftliche Tradition des Konzeptes gegen dessen Usurpation durch die Automaten-Ingenieure der Informationswissenschaften zu verteidigen suchten, zumal seine „praktische Umsetzung in Anwendungszusam­ menhängen […] bisher im wesentlichen dem Bereich der Ingenieur- und Naturwissen­ schaften zugute gekommen [sei und] von einer erfolgreichen Anwendung und Über­ tragung dieser Ansätze im Bereich der Geisteswissenschaften bisher nicht die Rede sein“ könne (Rieger 1994, 376 f.). Das hat sich seither im Zeichen von Digital Humanities in den letzten 20 Jahren gründlich geändert. Um Hyperfiction und Digitale Poesie wissenschaftshistorisch angemessen einordnen zu können, bedarf es daher einiger Vorüberlegungen zur ‚Textualität von Hypertext‘ in historischer, struktureller und ästhetischer Perspektive.

4 Zur Textualität von Hypertext Nach den Medien-Epochen der Oralität und der Literalität (Ong 2016) erreicht die Wissensgeschichte des Menschen die der Digitalität (Kaeser 2016, 27). Die HypertextHistoriographie (Kuhlen 1991; Nyce & Kahn 1991; Fendt 1995) unterscheidet Phasen der Mechanisierung (1932–1967), Digitalisierung (1961–1985), Spezialisierung und Kommerzialisierung (1985–?). Wie wäre die gegenwärtige Phase zu etikettieren? Ludi­ fizierung? Indifferenzialisierung? Infantilisierung? In seinen „Thesen zur Geburt der Hypermedien“ rekonstruiert der Informatiker Coy (1994) die historischen Bedingun­ gen der heute (im Zeichen von Google, Facebook, Twitter etc.) zur vollen Entfaltung gelangenden „kulturell subversiven“ Kommunikationsrevolution durch die Omniprä­ senz leistungsstarker Medienvernetzung. Den entscheidenden Schritt von Gutenbergs

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artificialiter scribere zur algorithmischen Programmierung der Automaten und damit zur „Maschinisierung der Kopfarbeit“ (Nake 1992, 181–201) vollzog der Mathematiker Alan M. Turing. Durch die mit der ‚Turing-Maschine‘ eröffnete Möglichkeit der digitalen Codie­ rung von Texten beliebiger semiotischer Struktur und Modalität finden die Umwand­ lung mechanischer, elektrischer, thermodynamischer, biochemischer Impulse und die sensuelle Kontingenz optischer, akustischer, gustatorischer, olfaktorischer, hap­ tischer Signalwerte qua Digitalisierung erstmals ein gemeinsames Medium ihrer ein­ heitlichen, präzis kopier- und reproduzierbaren maschinellen Speicherung, Über­ tragung und intermedialen Übersetzung. An den daraus folgenden Wandel unserer tradierten Kommunikationskultur (mit den entsprechenden Folgen für die überlie­ ferten Muster vertrauter Textstrukturen und Textsorten-Gliederungen, für die Sicher­ heit im Urteil über ‚Original‘ und ‚Kopie‘, über authentisches Bild und photographi­ sches Negativ) haben wir uns innerhalb mediengeschichtlich kürzester Zeit gewöhnt, wenn wir statt Briefen und Billetten e-mails oder sms-Notizen versenden und tweets ‚posten‘, wenn wir transkontinental statt telegraphische Depeschen zu übermitteln per skype mit Bild telefonieren, wenn wir Filme aus den Netzen laden statt klobige Disketten einzulegen, wenn wir online TV-Sendungen im lifestream verfolgen statt sie mit Videorecordern aufzuzeichnen, wenn wir Musik aus den i-pods im Ohr ste­ reoskopisch zum Klingen bringen statt Schallplatten aufzulegen und Tonbänder ein­ zufädeln, wenn wir bei Facebook schnell wachsende Listen von ‚Freunden‘ führen (die bei suboptimalem Einsatz genauso schnell wieder de-friended werden), wenn wir im Angebot von zig-Tausenden Apps (applications) im handlichen i-phone-Format die Übersicht verlieren, wenn wir via Twitter aus der global community allerlei news blogs aufschnappen über eine gleichzeitige (vermeintliche) Wirklichkeit, die real sein mag oder auch ‚virtuell‘, wenn wir in den social networks mit Identitäten kokettieren, wenn wir Bibliotheken im handlichen Kindle, i-pad oder Android Tablet gespeichert herumtragen, wenn wir in Werbe-, Fernseh- oder Kinofilmen (mit fließendem Über­ gang dazwischen) eintauchen in die fantasy world der durch 3D-Computeranimation technisch manipulierten Wahrnehmung. Die medientextintegrierenden Maschinen eröffnen „durch ihre algorithmische Programmierbarkeit neue Möglichkeiten der interaktiven Nutzung“ (Coy 1994, 73), aber eben auch des Missbrauchs. Unser Umgang im Alltag wird längst durch multi­ mediale Kommunikation bestimmt, unsere Wahrnehmung durch die Automaten ver­ ändert: „Die Geschichte der Medien ist eine Geschichte der Wahrnehmungsmuster“ (Bolz 1990, 134). Der ‚holistische‘ Zeichengebrauch im Umgang mit Konzepten wie Hypertext erfordert neue Seh-, Sprech-, Denkweisen. Sind wir dafür kognitiv gerüstet (kritisch, aber kontrovers: Spitzer 2015)? Wenn ja, werden wir dann auch politisch bald in den Bahnen denken, die die Bots und Botnets uns suggerieren? Voraussetzung für das genauere Verständnis des Systemaufbaus der multimedi­ alen Textintegration ist ein kurzer Seitenblick auf die technologisch bedingten Ver­ änderungen geltender Prinzipien der Textkonstitution, deren Rückwirkungen auf die

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kommunikativ-medialen Funktionen bzw. die sprachlich-textuellen Formen linearer Textkonstitution Kontur gewinnen. Der Systemaufbau von Hypertext basiert auf der Kombination weniger Elemente (cf. Rieger 1994, 390 ff.; Fendt 1995, 53–77). Die elek­ tronische Verknüpfung von Datenbasen unterschiedlicher Struktur und Funktion (Texte, Graphen, Tabellen, Bilder, Videos, Töne, Geräusche, musikalische Sequenzen) mit Bearbeitungsinstrumenten (Textverarbeitung, numerischer Kalkulation, Bild­ bearbeitung, Graphik- und Statistik-Programmen) durch Zeigerstrukturen (pointers bzw. anchors) oder Bildsymbole (icons) lässt sich durch die gängige ‚Fenstertechnik‘ herstellen, darstellen, verändern, wiederholen. Jedem ‚Fenster‘ auf dem Bildschirm korrespondiert ein ‚Knoten‘ (node) in der Datenbasis, der durch entsprechende Ver­ knüpfungen (links) aufgerufen, ‚geöffnet‘ und mit anderen Knoten verbunden werden kann. Die Kombination von Knoten und Verknüpfungen, also Texten (units of information) und intertextuellen Verweisfunktionen ermöglicht die Netzwerk-Struktur des Hypertextes, bei dessen ‚Lektüre‘ der ‚Leser‘ den vom ‚Autor‘ in den Text einge­ schriebenen Verknüpfungsinstruktionen folgen oder selbst zum ‚Autor‘ werden kann, indem er neue Verknüpfungen herstellt und Knoten der Datenbasis manipuliert oder ergänzt oder kreïert (cf. Suter 2000; Simanowski 2002). Verknüpfungen bzw. Verweis­ funktionen können über mehrere Ebenen hinweg erfolgen und zu einem assoziativ verzweigten Lektüreprozess, über den der ‚Leser‘ selbst entscheidet. Diese Freiheit wird einerseits erkauft mit der Gefahr der Redundanz, die die ‚Aktivität‘ des Lesers in Passivität umschlagen lässt, wenn ihm nicht wirksame Navigationshilfen die Orien­ tierung in der Netzwerk-Struktur von Hypertexten erleichtern und ihm in der Plura­ lität der Leserouten und Content-Varianten einen kohärenten Verstehenszusammen­ hang zu etablieren erlauben. Was an kontextueller Komplexität dabei potentiell verloren geht (durch die Begrenzung angeblich unendlicher Text-Räume auf programmierte Knoten und sele­ gierte Segmente), wird im Glücksfalle wieder gewonnen durch die Pluralität der Per­ spektiven auf den Text, d. h. der user wählt je nach Interesse zwischen den in einem Knoten angebotenen Alternativen und eröffnet sich damit immer neue Pfade (trails) durch das Labyrinth der Texte im ‚Rahmen‘ (frame) der durch das System vorgezeich­ neten Grenzen. Die Freiheit der Wahl zwischen den Verweisen (nach figurativen Regeln als Explikation des ‚Stils‘) ist also keineswegs unendlich, wie meist sugge­ riert; sie wird vielmehr begrenzt durch den ‚Rahmen‘ des Systems, innerhalb dessen die Such-Strategien der Textvernetzung figurieren nach limitativen Regeln als Expli­ kation des Mediums (Hess-Lüttich 1981, 120 ff.; cf. das textsemiotische Konzept der Szenographie bei Eco 1998). Solche Verfahren, Übersicht zu gewinnen (wie sie in der Buchkultur über Jahrhunderte hinweg entwickelt wurden), haben vom HypertextSystem inzwischen zurückgewirkt auf den Aufbau traditioneller Textstrukturen (das ‚Textdesign‘) der Presse, der Fernsehnachrichten, der Werbung usw. (Roth & Spitz­ müller eds. 2007).

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Als Nelsons Literary Machines (1987) erschien, gewannen mit dessen zunehmen­ der Rezeption in den Cultural Studies auch schnell die Stimmen an Gehör, die für eine dezidiert literaturtheoretische Fundierung des Hypertext-Konzepts plädierten (cf. Bolter 1991; Delany & Landow eds. 1991; Landow 1992). Der amerikanischen Literary Theory galt Hypertext bald als ein wesentlich literarisches Genre, das die avantgar­ distische Tendenz zur narrativen Delinearität fortführe und sich herleiten lasse aus dem Bestreben von Autoren, aus den medialen Begrenzungen des Buches auszu­ brechen und den Leser als aktiven Partner in ihr Schreiben einzubeziehen (Heibach 2000, 215). Landow verglich es mit der Poetik des Aristoteles und fand nichts mehr von „fixed sequence, definite beginning and ending, a story‘s ‚certain definite mag­ nitude‘, and the conception of unity or wholeness“ (Landow 1992, 102), dafür umso mehr Hypertext-Vorläufer: Laurence Sterne‘s Tristram Shandy mit seiner Kunst der Digression (cf. Iser 1984), James Joyce‘s Ulysses und Finnegans Wake mit seinen enzy­ klopädisch verzweigten Assoziationsketten und subtilen Verweisungsnetzen (cf. Eco 1987, 72; id. 1990, 138), Alain Robbe-Grillet oder Jorge Luis Borges oder Vladimir Nabokov. Literarische Texte dieses Typs seien Belege für den Versuch der Autoren, „to divorce themselves from imposing a particular reading of their texts on their readers, attempting to eliminate linearity of texts“ (Ledgerwood 1997, 550). Nicht-Linearität, Leser-Aktivität, Intertextualität, Pluralität der Lesarten und Offenheit der Lesewege: für jedes dieser fünf konstitutiven Merkmale von Hypertext wurden literarische Vorbilder gefunden, resümiert Fendt (1995, 108) die Bemühun­ gen von Autoren, „das Experimentieren mit literarisch-ästhetischen Mustern [und] Kriterien, die auch für Hypertext gelten, auf ihre Texte“ anzuwenden. Es war das literarästhetische Programm französischer Autoren wie Raymond Queneau und Julio Cortázar, Marc Saporta und Georges Perec und anderer, die sich in der Gruppe Oulipo (OUvroir de la LIttérature POtentielle) zusammengeschlossen hatten und Texte dar­ boten, deren Sinn sich dem Leser erst erschloss, wenn er die nicht-linearen Textteile selbst zu einem kohärenten Ganzen verschmolz. Queneaus Cent mille milliards de poèmes etwa bedürfe eines aktiven Lesers, der sich als Co-Autor verstünde (cf. Fendt 2001, 107). Im Rückblick stellt sich die Frage, ob den Jüngern der postmodernen Literary Theory im Spiel mit ihren Metaphern nicht auch die eine oder andere sachliche Unge­ nauigkeit unterlief, als sie mit Derrida oder Bataille die „unlimited semiosis in the semiotic web“ (Eco: cf. Chandler 2001) beschworen. Die chunks und links im Hyper­ textsystem sind immerhin berechen- und bezifferbar; die Zahl möglicher Verknüpfun­ gen stößt an physikalische Grenzen der Rechnerkapazität (und physische Grenzen der Perzipierbarkeit); der user (Leser, Autor) muss die Verbindungen herstellen zwischen von ihm definierten und selegierten Texteinheiten im ‚Rahmen‘ der Möglichkeiten des Programms; die Einheiten (Texte, Knoten, chunks of content) müssen sinnvolle (nicht notwendigerweise vom Erstautor als solche intendierte) Anschlussstellen für weitere Verknüpfungen enthalten; mit der Zahl der Verbindungen verliert die Rede

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vom Text als einer semantischen Funktionseinheit an Sinn; nicht alle Verbindungen sind von gleicher Plausibilität. Wären alle Verbindungen gleich gültig, würden sie gleichgültig gegenüber dem Anspruch ihrer Rechtfertigung. Gegen diese Indifferenz hat Umberto Eco (1990) die Grenzen der Interpretation markiert und Plausibilitätsansprüche geltend gemacht. Unter Rückgriff auf Peirce erinnerte er daran, dass auch bei theoretischer Unbegrenzt­ heit potentieller Verbindungen gegebener Interpretanten mit Zeichen(komplexen) die Zahl der faktisch gewählten Verbindungen endlich und begrenzt sei. Nicht alle Meta­ texte zu Texten seien gleich-wertig, einige setzten sich durch, andere würden mit Fug verworfen, bestimmte Verbindungen machten mehr Sinn als andere, manche Wege führten leider auch in Sackgassen. Sein Bedenken gilt es im Auge zu behalten, wenn die Textualität von Hypertext texttheoretisch als primär literarische ausgezeichnet wird, die jeden Bezug und jede Bewertung außerhalb argumentativer Plausibilitäts­ hierarchien gleich gewichtet.

5 Digitale Poesie: Netzliteratur, Hyperfiction Der Gegenstand der Literatur- und Textwissenschaften ist durch die kulturellen Konsequenzen der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung Veränderun­ gen unterworfen, denen text- und literaturtheoretisch Rechnung zu tragen ist. Die Anwendung post-strukturalistischer, psycholinguistischer, dekonstruktivistischer Ansätze auf Hypertext hat interessante Parallelen, aber auch signifikante Verände­ rungen der jeweils zugrundeliegenden Textauffassungen zutage gefördert. Wenn z. B. Roland Barthes‘ Text-Einheit der ‚Lexien‘ mit den Hypertext-Einheiten der ‚Knoten‘ verglichen wird, so exponiert dies das Problem der adäquaten (definierbaren, inter­ subjektiv prüfbaren) Textsegmentierung, das durch die multimediale Polycodierung noch an Schärfe gewinnt. Viele Formulierungen Derridas zum Text als Netz unendli­ cher Verweisstrukturen drängen sich geradezu auf für einen Vergleich mit Hypertext und gewinnen dadurch oft überhaupt erst ein gewisses Maß an Anschaulichkeit. Bei manchen flink formulierten Analogien zwischen Formen der Konnexität in Text und Hypertext erweist sich der Mangel linguistischer Kenntnisse indes als Nachteil. Da wird von der Linearität der materialen Zeichenfolge auf die der von ihr bezeichneten thematischen, semantischen, logischen, argumentativen oder ideatio­ nalen Struktur geschlossen, was bekanntlich ein Trugschluss ist (woran schon Halli­ day 1978 erinnerte). Umgekehrt vermag der kognitionspsychologisch und psycholin­ guistisch geschulte Blick auf Prozeduren der Textverknüpfung (linking of chunks) bei Hypertext möglicherweise zugleich das Verhältnis von Prozessen des Text-Verstehens auf den Ebenen von Propositionen, Propositionsclustern und Propositionssequenzen zu erhellen (cf. van Dijk 1980, 183).

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Wie beim Text-Verstehen die ihm eingeschriebenen Instruktionen des Autors und die Leistung des Lesers zusammenwirken, seine Selektion aus dem Potential der Verweise und seine je individuelle Sinnkonstruktion an den Leer-, Schnitt-, Gelenkoder Unbestimmtheitsstellen des Textes, hat ja schon die Rezeptionsästhetik (Michel Riffaterre, Wolfgang Iser usw.) hervorgehoben und damit den Boden bereitet für die Neu-Definition der aktiven Rolle des Hypertext-Rezipienten als user und Mitspieler in virtuellen Text-Welten. Die Spielregeln werden ihm dabei mit einigem technischem Nachdruck ins Bewusstsein gehoben, denn jeder Wechsel der Perspektive im Verste­ hen des Textes, seiner Ebenen und Verweispotentiale, ist mit der physischen Akti­ vierung eines ‚Fensters‘ verbunden, das ihm die gewählte Perspektive im Wort-Sinne ‚er-öffnet‘. Diese durch technische Restriktionen erzwungene neue Bewusstheit im Umgang mit Texten emanzipiert den Hypertext-Leser einerseits gegenüber der intentio auctoris, stärkt aber andererseits seinen Respekt gegenüber der intentio operis und viel­ leicht auch sein Misstrauen gegenüber der Beliebigkeit einer jeden nur behaupteten intentio lectoris. Denn anders als mancher trendige Literatur-Dekonstrukteur des aka­ demischen Betriebs oder angesagte Textzertrümmerer des Regietheaters, der sich von den Fesseln präziser Lektüre, historischer Kenntnis und plausibler Rechtfertigung seiner Interpretation befreit, muss sich der Hypertext-Leser die Brücken seiner Asso­ ziationen selber bauen – und die sollten tragen über die Leer-Stellen dazwischen. Zu den Aufgaben der Mediensemiotik gehört die Reflexion auf die ästhetische Dimension des Zeichenwandels unter dem Einfluss der typologischen Expansion und technologischen Innovation des Mediensystems (Schnell 2000; Gendolla & Schäfer 2007). Die Rolle der Autoren steht in Frage bei kollektiven Formen der Literaturpro­ duktion im Rechnerverbund; die Textur ihrer Werke und deren Perzeption verändern sich in multimedialen Textokkurrenzen. Die oben erwähnte Expansion des Medien­ systems und der alltägliche Umgang des Medienkonsumenten mit dem akzelerierten Medienwandel hat auch zu neuen literarischen Genres geführt, die heute unter ver­ schiedenen Etiketten (Netzliteratur, Cybertext, Hyperfiction, Computerspiel, Filma­ nimation, Applikationen für Rechner und smart-phones, e-book-novel, Twitter Poetry usw.) beschrieben werden. Dies führt zu der Forderung neuer Lektüre-Modelle, zu deren Entwurf und theoretischer Grundlegung es einer textwissenschaftlich systema­ tischen Erforschung der vielfältigen und sich wechselseitig befruchtenden Formen künstlerischen Ausdrucks in allen Medien und über die kulturellen Grenzen hinweg bedarf (Jäger et al. 2010). Was im deutschsprachigen Raum anfangs ‚Netzliteratur‘ genannt wurde, begann mit einem (von der Zeit und IBM) 1996 ausgerufenen Wettbewerb (Suter & Böhler 1999, 11–14). Etablierte Buchautoren wie Joseph von Westphalen, Matthias Politycki oder Ilija Trojanow beteiligten sich 1998 an dem vom ZDF- Kulturmagazin Aspekte angeregten Novel-in-progress-Projekt; Rainald Goetz ließ das Publikum via elektroni­ schem Tagebuch an seinem Leben teilhaben (sein Blog Abfall für alle. Mein tägliches Textgebet erschien 1999 als Buch). Im Netz gerate der Text „in Bewegung und inter­

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agiert mit anderen semiotischen Systemen“, die elektronisch vermittelte Verbindung führe „zu kooperativen Literaturprojekten, die durch Offenheit gekennzeichnet sind und sich die Transformation als konstitutive Existenzform zu eigen machen“ (Heibach 2000, 7). An solchen Gemeinschaftsprojekten wie Forum der Dreizehn oder Am Pool (Lager & Naters 2001) beteiligten sich zeitweilig Autoren wie Christian Kracht, Elke Naters, Georg M. Oswald, Moritz v. Uslar oder Alban Nikolai Herbst; Thomas Hettche betreute das Null-Projekt mit Autoren wie John v. Düffel, Burkhard Spinnen, Dagmar Leupold, Thomas Meinecke, Judith Kuckart oder Helmut Krausser, deren Text-Frag­ mente von den Herausgebern ‚vernetzt‘ wurden, obwohl sie kaum je („intertextuell“) aufeinander verwiesen. Bald beteiligten sich so viele Leser-Autoren an virtuellen ‚Schreibwerkstätten‘ (z. B. „Webring“), dass Oliver Gassner zur Jahrtausendwende mehr als 4000 Einträge bzw. Links zu Autoren von ‚Amman‘ bis ‚Zopfi‘ zu einem literarischen Reiseführer von über 800 Seiten versammeln konnte; alsbald wuchs die Sammlung mit dem Namen „Carpe“ zum größten deutschsprachigen Literaturverzeichnis im Internet heran. Die Leser-Autoren experimentierten mit den neuen Formen der Chats und Textbausteine, der Zitate und Verknüpfungen, der Text-Bild-Collagen und eingebauten Video-Anima­ tionen. Die neuen Möglichkeiten des polymedialen Spiels mit ästhetischen Formen werden auf vielen, oft kurzlebigen Plattformen diskutiert, aber anders als im Falle herkömmlicher Literatur wäre die Erörterung einzelner Textbeispiele für die Leser dieses Handbuches dysfunktional, da es sich immer nur um Momentaufnahmen handelt, die bei ihrem späteren Aufruf längst wieder verändert oder gelöscht sein können. Typischerweise zieht es die erfolgreicheren Autoren (z. B. Trojanow, Autopol) meist schnell wieder zu dem traditionellen Medium Buch, in dem dann freilich die im Netz wirksamen Texte oft seltsam trivial anmuten (z. B. Goetz, Abfall für alle). Abgesehen davon, dass Netzliteratur im strengeren Sinne gar „nicht druck­ bar“ sei, sondern „flüchtig wie die Pixel auf dem Schirm“ (Zopfi 2001, 1), würden solche Beispiele (soweit es sich nicht bloß um ins Netz gestellte herkömmliche Texte handelt) nicht nur die hier gesetzten Umfangsgrenzen überschreiten, sondern auch den genannten Kriterien und Prämissen multimedialer Literatur nicht gerecht. Denn ‚Netzliteratur‘ ist im Unterschied zur ‚Literatur im Netz‘ medienspezifisch konzipiert und strukturiert (Simanowski 2002, 13): „Schreiben im Netz bezeichnet nicht die Ver­ lagerung des üblichen Produktionsprozesses in ein neues Präsentationsmedium, es bezeichnet einen Vorgang, der auf den spezifischen ästhetischen Möglichkeiten der digitalen Medien aufsetzt“ – wie das sich aus kreisenden Buchstaben schälende Peel it (http://www.litart.ch/peel/) oder das fortlaufende Text-Band Lesarten zur Netzlite­ ratur von Regula Erni (http://www.litart.ch/lesarten.htm) [31.12.2016]: Sinnvoller scheint es, wenn sich der Leser selbst einen Überblick über die jeweils gerade aktuellen Projekte verschafft, wie sie zahlreiche Websites bieten, z. B. www. netzliteratur.net (ed. Auer, Heibach & Suter Suter, die auch eigene Websites betreuen: www.cyberfiction.ch [Suter], www.netzaesthetik.de [Heibach]), www.dichtung-digi­ tal.de (ed. Simanowski), www.hyperfiction.de (ed. Henning), www.p0es1s.net (ed.

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Block), oder aber die Homepages einschlägig aktiver Autor/inn/en direkt aufsucht und sich ggfs. sogar beteiligt an kollaborativen ‚Schreibprojekten‘ wie solchen von Alvar Freude/Dragan Espenschied (www.assoziations-blaster.de), Claudia Klinger (claudia-klinger.de) oder Regula Erni (www.litart.ch). Bei dem seit 1997 wachsenden Projekt „23:40“ von Guido Grigat (www.dreiundzwanzigvierzig.de) ist noch Raum zum Mitmachen: 1440 Minuten eines Tages sind mit ‚Erinnerungen‘ zu füllen, für jede Minute eine Webseite, die nach einer Minute erlischt und der nächsten Platz macht (am 31.12.2016 liegen in Phase I 902 Beiträge vor, in Phase II 339) [alle Adressen zuletzt geprüft am 31.12.2016]. Hinter Genre-Bezeichnungen wie ‚Hyperfiction‘ oder ‚Cyberfiction‘ oder auch ‚Interfiction‘ – in diesem Terminus sollen nach Simanowski (2002, 18 ff.) Merkmale der Interaktivität, der Intermedialität und des Internet verschmelzen mit solchen der medienübergreifenden ästhetischen Inszenierung einer Fiktion – verbirgt sich ja in noch laxer Redeweise durchaus Unterschiedliches: neben den genannten kollabora­ tiven (Mit-)Schreibprojekten, zu denen Autoren-Leser (writer & reader werden zuwei­ len graphemisch griffig zum „wreader“ vereint) gemeinsam ihre linear konzipierten Textbausteine zusammentragen, werden darunter oft auch noch die multilateralen Dialog-Rollenspiele der so genannten Chats gezählt, in denen im schnell geschriebe­ nen Gespräch so etwas wie ein gemeinsamer Text entsteht, der mit der dazu nötigen Geduld linear sich verfolgen ließe (cf. Beißwenger 2001; id. 2007). Die aber wären sinnvollerweise als eigene Text- oder Dialogsorte zu beschreiben (Hess-Lüttich 2002). Demgegenüber bilden die Mitschreibeprojekte ein Subgenre der Netzliteratur, das bereits in weitere Untergliederungen sich auszudifferenzieren beginnt: in solche, bei denen die Autoren sukzessive an einer linear erzählten Geschichte weiterbasteln (z. B. der Fraktalroman oder Claudia Klingers Beim Bäcker), solche, bei denen sie an einer multilinearen Geschichte schreiben mit verschiedenen Zweigen (z. B. Roger Nelkes Die Säulen von Llacaan) und solche, bei denen sie ihre Einfälle zu einem gegebe­ nen Stichwort beisteuern, die dann allenfalls (wie beim Assoziations-Blaster, s. o.) maschinell und automatisch in lockere Verbindung gebracht werden. Von ‚Hyperfiction‘ im engeren und strengeren Sinne dagegen kann eigentlich erst dann die Rede sein, wenn sie den medienspezifischen Regeln der hypertextuellen Textproduktion und Textkonstitution folgt (s. o.), also systematisch Gebrauch macht von den neuen Möglichkeiten des Mediums zur Vernetzung von Textblöcken durch entsprechend markierte digitale Hyperlinks. Sie sind die konstitutiven Einheiten von Hyperfiction, mittels deren die narrativen Pfade geschlagen werden durch die TextRäume der Server. Der Autor verwebt die Fäden der Textur und behält, im Glücksfalle, die Übersicht; der Leser knüpft sie neu, nach seinen individuellen Prämissen und Interessen, und montiert sich so den ihm vielleicht gemäßen Text. Die Montage bleibt freilich im vom Autor definierten Rahmen des Programms. Es ist zugleich eines der entscheidenden Kriterien für die Beurteilung einer literarischen Gattung, deren Qua­ lität sich durch Sprache und Stil allein nicht mehr verbürgt. Hinzu treten Kriterien des gefälligen Textdesigns und der stimmigen Integration polycodierter Textelemente

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wie Grafiken und Tabellen, Töne, Geräusche, musikalische Sequenzen, Photos, Bilder, Videos, multimodale Animationen. Aus der Summe solcher Kriterien ergibt sich das Spezifische des neuen Genres und der komplexere Maßstab seiner Beurtei­ lung, weshalb das klassische Instrumentarium zu seiner Beschreibung entsprechend zu erweitern wäre (Simanowski 2002, 146 f.): Die Ästhetik der digitalen Literatur ist in hohem Masse eine Ästhetik der Technik, denn die künstlerischen Ideen müssen in die Materialität des Stroms überführt werden, ehe sie auf der Ebene sinnlicher Vernehmbarkeit erscheinen können. Dies erfordert vom Autor eine weitere bisher nicht notwendige Qualifikation: neben der ästhetischen – und zwar multimedial – ist die technische nötig.

Sind die polycodierten Hypermedia noch Literatur? Wird das ästhetische Vergnügen an der Kunst sprachlicher Gestalt überlagert, ja verdrängt von dem am Raffinement der Text-Oberfläche? Das ‚Oberflächliche‘ so mancher Versuche digitaler Literatur ist nicht zufällig Gegenstand pointierter Kritik von am hergebrachten Kanon geschulten Experten (cf. Wirth 1997). ‚Net-Art‘, Netz-Kunst ist deshalb vielleicht in der Tat das unverfänglichere Gefäß für ‚Werke‘ wie die von Jenny Holzer oder Barbara Kruger, in denen Sprache, Bild und Ton sich vereinen, oder wie die von Lance Shields, dessen Tele-Phony Telefon, Radio und Computer im digitalen Tableau medienkritisch kombi­ niert und reflektiert, Werke also, die ein Terrain sondieren, auf dem wir das Gedeihen neuer Kunst-Formen beobachten können (cf. Simanowski et al. 2010).

6 Literatur Adamzik, Kirsten (2004): Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen. Bachtin, Michail M. (1981): The Dialogic Imagination. Austin. Bachtin, Michail M. (1986): Speech Genres and Other Late Essays. Austin. Bal, Mieke (1997): Narratology: Introduction to the Theory of Narrative. Buffalo. Beaugrande, Robert-Alain de/Wolfgang Dressler (1981): Einführung in die Textlinguistik. Tübingen. Beißwenger, Michael (Hg.) (2001): Chat-Kommunikation. Sprache, Interaktion, Sozialität & Identität in synchroner computervermittelter Kommunikation. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Stuttgart. Beißwenger, Michael (2007): Sprachhandlungskoordination in der Chat-Kommunikation. Berlin/New York. Bolter, Jay David (1991): Topographic Writing: Hypertext and the Electronic Writing Space. In: Delany/ Landow, 105–118 Bolz, Norbert (1990): Theorie der neuen Medien. München. Bush, Vannevar (1967): Science is Not Enough. New York. Chandler, Daniel (2001): Semiotics. The Basics. London/New York. Coseriu, Eugenio (1981): Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen. Coy, Wolfgang (1994): Gutenberg & Turing: Fünf Thesen zur Geburt der Hypermedien. In: Zeitschrift für Semiotik 16, 69–74 Delany, Paul/George P. Landow (Hg.) (1991): Hypermedia and Literary Studies. Cambridge/MA.

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Hanspeter Ortner

13. Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen in literarischen Texten Abstract: Deklaratives Wissen und Sprache verhalten sich hochaffin zueinander. Durch die Semantisierung, das ist die konventionelle Versprachlichung von Wissen, kommt es zur Erfahrungsreduktion, manchmal zum Erfahrungsverlust. Durch Semi­ otisierung, das ist die Neu-Etablierung von Zeichen- und Kommunikationsverhältnis­ sen, soll ein neuer, lebendiger Bezug zur Erfahrung hergestellt werden. Erfahrung ist u. a. das unbewusste Wissen, gleichsam die ‚Rückseite‘ des deklarativen Wissens. Gute Literatur ermöglicht Zugänge zu unbewussten Erfahrungen. Diese öffnet sie dadurch, dass sie etablierte Sprachverhältnisse aufbricht und/oder indem sie mit genuin literarischen Mitteln, z. B. der Einführung von Figuren, bisher unerschlossene Sektoren von Erfahrungsräumen nutzbar macht. Am Beispiel von Textausschnitten wird gezeigt, wie sie es tut, anhand einer Rekonstruktion des literaturkritischen Diskurses über Romane, deren Sprache als klischeehaft und deren Figuren als flach bewertet werden, wird gezeigt, dass sie es tun muss. 1 ‚Orte‘ und ‚Gegenstände‘ der Semiotisierung 2 Ästhetische Erfahrung durch Neu-Semiotisierung 3 Semiotisierungs- und Semantisierungskritik 4 Semiotisierung und Figureninventio 5 Zusammenfassung 6 Literatur

1 ‚Orte‘ und ‚Gegenstände‘ der Semiotisierung Verglichen mit der Karriere, die das Thema Wissen in den letzten 25 Jahren gemacht hat, ist die des Themas Erfahrung bescheiden geblieben. Zu einem Zentral- und Grundbegriff der Humanwissenschaften ist Erfahrung nicht avanciert. Der „Begriff der Erfahrung“, schrieb Gadamer vor mehr als fünfzig Jahren, „scheint mir – so paradox es klingt – zu den unaufgeklärtesten Begriffen zu gehören, die wir besitzen“ (zit. n. Maag 2001, 260). Gadamers Befund gilt auch heute noch. Unaufgeklärt ist vor allem das Verhältnis zu den verschiedenen Formen des Wissens. Wie Erfahrung und dekla­ ratives, ikonisches und prozedurales Wissen zusammenhängen, bleibt im Dunkeln, obwohl Erfahrung den größten Teil des Wissens im weiteren Sinn ausmacht und jedes Wissen fundiert. Dieses Wissen im weiteren Sinn soll hier pauschal als Erfahrungs­ wissen angesprochen und von anderen Wissensformen unterschieden werden. Es DOI 10.1515/9783110297898-013

Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen 

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ist insofern nicht-repräsentationales Wissen, als es nicht für Begriffe und Proposi­ tionen vorformatiert ist. Es konstituiert Erfahrungsräume und umgekehrt konstitu­ ieren Erfahrungsräume auch Erfahrungswissen. Searle nennt den Erfahrungsraum „Hintergrund“: Dieser umfasst das Wissen, „wie die Dinge sich verhalten“, und das Wissen, „wie man gewisse Sachen macht“ (Searle 1991, 182). Es ‚besteht‘ aus Fähig­ keiten, die dichte Netzwerke bilden, aber „vieles (vielleicht sogar das meiste) vom Netzwerk ist ins Unbewußte abgesunken“ (ebd., 181) und wirkt dort diffus weiter. Nichts ist wohldistinguiert, nichts „wohlindividuiert“ (ebd.), nichts begrifflich und/ oder propositional strukturiert. Die Funktion des Hintergrundwissens: Es ermöglicht Begriffe und behauptbare Aussagen, kognitive Konstruktionen und Positionierungen in der und gegenüber der Welt der Kognition sowie der Kommunikation. „Der Hinter­ grund besteht aus nicht-repräsentationalen geistigen Fähigkeiten, die alles Repräsen­ tieren ermöglichen.“ (Ebd.) Auf denselben Phänomenbereich ohne wohlindividuierte Größen, aber oft nur Einzelaspekte ansprechend zielen die Begriffe cognitive unconsciousness (s. u.), known unknown (Cohen 2011), implizites Wissen (Polanyi 1985), „expérience vécu“ (gelebte Erfahrung; Pontalis 1968, 23), „gnoseologica inferior“ (niedere Erkenntnis­ theorie) und „Wissenschaft der Sinneserkenntnis“ (Baumgarten zit. nach Frenzel 1962, 36). Aus evolutionären Gründen ist auch die Charakterisierung als gefühlt-geleb­ tes Wissen nicht abwegig, denn lange bevor der Mensch Bewusstsein hatte, bevor er denken und sprechen konnte, muss er bereits gewusst und sich an Erfahrungen orientiert haben. Mit den Gefühlen verbindet Erfahrung das Vage, das Nicht-begriff­ lich-Wohlindividuierte. Searles Bestimmung „ins Unbewußte abgesunken“ betont die Verwandtschaft mit dem Freud’schen Unbewussten (vgl. auch „das kommunikative Unbewusste“ (Welzer 2002, 208). Unaufgeklärt ist die Erfahrung als Phänomen und als Begriff, weil sie schwer zugänglich ist: Wie kann nicht-repräsentational Verfasstes repräsentiert/objek­tiviert werden, ohne es durch Repräsentation zu verfälschen? Unaufgeklärt heißt jedoch nicht: ‚nicht gebraucht‘. Wenn die Erklärungsnot groß ist und wo die Erklärung nicht an der Oberfläche bleiben soll, wird durchaus auf den Begriff Erfahrung als LetztErklärer zurückgegriffen. Zum Beispiel, wenn plausibel gemacht werden soll, warum es keinen weiblichen Dickens, Balzac, Tolstoj gibt. Einem von Marcel Reich-Ranicki gepflegten Dogma zufolge eignen sich Frauen nur bedingt für das Verfassen von Romanen. […] Was auf den ersten Blick den Eindruck einer patriarcha­ len Schrulle erweckt […], erweist sich auf den zweiten als nicht ganz falsch. Zumindest dann nicht, wenn man die Diagnose auf die Geschichte der Literatur bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bezieht. (März in Zeit 6/2011, 51)

Da gebe es […] einen bestimmten Romantypus in der Tat nicht: den des großen, in jeder Hinsicht ausladen­ den, episodisch wimmelnden, ein soziologisches Panorama umfassenden Gesellschaftsromans,

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 Hanspeter Ortner

der mit weniger als zehn Haupt- und fünfzig Nebenfiguren nicht auskommt. Die Tradition des realistischen Riesenwälzers, den das 19. Jahrhundert hervorbrachte, war Sache des männlichen Geschlechts. Aufseiten des weiblichen findet sich kein historisches Pendant zu Dickens, Balzac, Tolstoj. (März in Zeit 6/2011, 51)

Für diesen Sachverhalt gebe es neben literatursoziologischen Gründen auch einen ästhetischen Grund. Es fehlte den Schriftstellerinnen des 19., des frühen und mittle­ ren 20. Jahrhunderts nicht an Sprachkönnen, nicht an poetischer Kühnheit (Gertrude Stein!), an Intelligenz, Lebenserfahrung und Weltinteresse. Aber es fehlte Frauen […] an einer spezifischen Welterfahrung. Der Erfahrung regieführender Zuständigkeit für das große Ganze, für einen Staat, ein Heer oder auch nur eine Institution. Unmittelbar hat diese Erfahrung nichts mit Literatur zu tun; mittelbar jedoch insofern, als sie jenes existenzielle Bewusstsein gestaltet, aus dem künst­ lerisches abzweigt. (März in Zeit 6/2011, 51)

Ursula März hat etwas Wichtiges angesprochen. Aber was genau? – Dass der öffent­ liche Erfahrungsraum, die Lebenswelt ‚der‘ Frauen bis mindestens ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts – verglichen mit dem ‚der‘ Männer – reduziert waren – ja. Aber mehr noch: Auch der persönliche und geschlechtsspezifische Erfahrungsraum war reduziert: Es fehlte „das existenzielle Bewusstsein“, „die Erfahrung regieführender Zuständigkeit“. Das Rollenbild ‚der‘ Frau im nicht gegenderten kollektiven Gedächt­ nis war ein anderes, ein reduziertes, und zwar als Rollenselbst- und -fremdbild, sich manifestierend in einem Bündel spezifischer Wahrnehmungen und Wahrneh­ mungsinterpretationen, Einstellungen, Motive usw., in Bündeln von Erfahrungen. Die lebensweltliche „Erfahrung regieführender Zuständigkeit für das große Ganze, für einen Staat, ein Heer oder auch nur eine Institution“ konstituiert, wie März meint, eine spezifische Welterfahrung, was viel mehr ist als nur ein flächiges Welt-‚Bild‘; es ist eine „expérience vécue“ (Pontalis 1968, 23) mit Betonung auf vécue (= gelebt). Es ist gefühltes Wissen aus gefühlter Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeit sowie -Gestaltungs­zuständigkeit, basierend auf der gefühlten Symmetrie und Gleichwer­ tigkeit der Geschlechter auf den  – soziologisch gesprochen  – höchsten Ebenen; es ist Weltgestaltungserfahrung, die fassbar wird im Selbstverständnis ‚der‘ Frau. Das existenzielle Bewusstsein drückt sich im Autoren-Selbstbild und in den von Autoren gestalteten Welten aus. Es ist ein gelebtes, umfassendes Welt-Leben-Verhältnis, aus denen sich die Schreiberpositionen und -ein­stellungen ebenso ableiten wie das Verständnis von Autorenzuständigkeit im Autorenkonzept. Dieses Welt-Leben-Ver­ hältnis konstituiert einen Semiotisierungsraum und seine ‚Inhalte‘; einen Raum, in dem Erfahrung aufgerufen und verarbeitet wird und aus dem heraus gedacht und geschrieben wird. Aus ihm kommen Stoffe und Anlässe für die Produktion deklarati­ ven Wissens und (relativ diffuse) Muster für dessen sprachliche Verarbeitung ebenso wie Stoff und Anlass für die Bearbeitung im Modus der Literatur. Die Vermutung von Ursula März betreffend „die Erfahrung regieführender Zuständigkeit“ stützt sich nicht auf harte empirische Fakten. Sie resultiert selbst aus

Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen 

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Erfahrung, sie kann nicht bewiesen, nur plausibel gemacht werden – in einer Text­ sorte, die – wie das Feuilleton – die Artikulation von Erfahrung erlaubt, die es ermög­ licht im Namen der Erfahrung anzuschreiben gegen den „vereinfachenden Blick der Gewohnheit“ (Hugo v. Hofmannsthal 1902, 13), der von der Sprache wegen ihres affinen Verhältnisses zum deklarativen Wissen vorgegeben wird. Um dem Phänomen der Erfahrung nachzugehen, werde ich im Folgenden Texte auswerten, in denen – im literaturkritischen Rekurs auf Erfahrung – literarisch arti­ kulierte Erfahrung bewertet wird (Kapitel 3 und 4). In Kapitel 2 soll an zwei Textbei­ spielen gezeigt werden, wie sich Erfahrung im Feuilleton artikuliert, indem durch Semiotisierung konventionelle Semantisierung in Frage gestellt wird. Es soll deut­ lich werden, dass literarische Semiotisierung immer heißt ‚Zurückgehen hinter die Konventionalisierungen der Langue und der Literatur‘  – z. B. indem Sprache nicht einfach gebraucht/verwendet und der „vereinfachende Blick der Gewohnheit“ prob­ lematisiert wird.

2 Ästhetische Erfahrung durch Neu-Semiotisie­rung Semiotisierung und Semantisierung ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Evo­ kation und Entfaltung des Evozierten in Aussagen, Textteilen und Texten. Evokation steht am Anfang, ganz gleich, ob als sprachfreie Aktivation, als Vorstellung, Erin­ nerung, Wort, Begriff oder etwa als Arbeitstitel/-thema oder durch Setzung eines Namens (vgl. Ortner 2000, 234 f.); sie ist die nicht entfaltete, relativ punktuelle Ext­ remform in diesem Zusammenspiel. Der Text ist die Extremform am anderen Pol der Skala, die maximal entfaltete Form. Semiotisierung und Semantisierung sind Prozess und Ergebnis in sich überlagernden Interaktionen von Evokation und Entfaltung. „Mir fehlt ein Wort“, konstatiert das Feuilletonisten-Ich Tucholskys: Ich werde ins Grab sinken, ohne zu wissen, was die Birkenblätter tun. Ich weiß es, aber ich kann es nicht sagen. Der Wind weht durch die jungen Birken; ihre Blätter zittern so schnell, hin und her, daß sie … was? Flirren? Nein, auf ihnen flirrt das Licht; man kann vielleicht allenfalls sagen: die Blätter flimmern … aber es ist nicht das. Es ist eine nervöse Bewegung, aber was ist es? Wie sagt man das? Was man nicht sagen kann, bleibt unerlöst. […] Ich werde dahingehen und es nicht gesagt haben. (Kurt Tucholsky 1929b, 107)

Tucholsky hatte eine Phänomenerfahrung, die sich semiotisch gesehen nicht in einem klassischen res-verbum-Verhältnis unterbringen ließ, wohl aber in der Variante res-Text(= verba) und im Rahmen einer speziellen Textsorte. Diese ist u. a. dazu da, Persönliches hinter dem Sozialen zu Wort kommen zu lassen, d. h. auch: Erfahrung in ihrer ganzen Breite und Fülle zuzulassen/aufzurufen:

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Feuilleton als Darstellungsform […] schildert in betont persönlicher Weise die Kleinigkeiten, ja Nebensächlichkeiten des Lebens und versucht, ihnen eine menschlich bewegende, erbauliche Seite abzugewinnen, die das Alltägliche interessant macht. (Noelle-Neumann u. a. 1997, 114)

Die raison d’être des Textes ist in erster Linie: Öffnung; Öffnung gegenüber den Rou­ tinen des Alltags, den Seh-Routinen ebenso wie den Routinen des Sprechens über Phänomene; Öffnung zum Wissen, auch wo dies reichlich erworben wurde, und Öffnung zu diffusen Ahnungen, Erfahrungen, Vorstellungen usw. hinter dem deklara­ tiven Wissen. Geöffnet wird, was im sozialen Wissen in ein res-(Be­griff-)verbum- bzw. Sachverhalt-Aussage-Verhältnis gebracht worden ist und damit quasi in ein KimmeKorn-Verhältnis. Die Textsorte Feuilleton ist prädestiniert für diese Öffnung gegen­ über der ganzen Breite und Fülle der Erfahrung, wie sie im Wörterbuchinterpretament dieses bildungssprachlichen Begriffs angesprochen wird: „(Philos.) durch Anschau­ ung, Wahrnehmung, Empfindung gewonnenes Wissen als Grundlage der Erkenntnis“ (Duden Deutsches Universalwörterbuch). Die Öffnung geschieht durch Thematisie­ rung (im Rahmen der Textsorte). In der älteren Wortforschung hätte man gesagt, Tucholsky hatte das zu Bezeich­ nende – und eine Wortlücke. Letztere hatten andere Schreiber und Schreiberinnen nicht: Ja, so pflegen Tschechow-Stücke hierzulande gerne anzuheben […] Draußen vor den VerandaFenstern Birkengewisper […]. (Löffler in profil 22/1990, 92) Und ein Birkenwipfel […] war vom Wind geschüttelt worden, daß man meinte, die Blätter müßten klappern. (Martin Walser 1983, 39)

Doch Tucholskys semantische Not war eine rhetorische, seine Semiotisierung zielte auf einen Text im Rahmen einer Textsorte, die die Thematisierung einer besonderen Erfahrung erlaubt. Indem Tucholsky all sein schreiberisches Können aufbietet, ver­ sucht er mit seinen (beträchtlichen) sprachlichen Mitteln dem Gesehenen, Gefühlten, Erfahrenen und dessen gefühlter Besonderheit so viel sprachliche Substanz zu geben, dass ihm die Leser folgen können. Er entwickelt seinen Text um den „Unsagbarkeits­ topos“ (Sengle 1972, 682) herum: „mir fehlt ein Wort; ich kann es nicht sagen“; er probiert es mit Beschreibungen ex negativo („Flirren? Nein, auf ihnen flirrt das Licht; […] die Blätter flimmern … aber es ist nicht das.“), mit Synonymen, mit Metaphern und mit Goethe („mir fehlt kein Synonym“; „Steht bei Goethe ‚Blattgeriesel‘?“). Und immer wieder führt er einen Realitäts-Check durch, indem er sich sensorisch ähnliche Phänomene vergegenwärtigt und sie vom Gegebenen abgrenzt: Nur die Blätter der Birke tun dies; bei den andern Bäumen bewegen sie sich im Winde, zittern, rascheln, die Äste schwanken, mir fehlt kein Synonym, ich habe sie alle. Aber bei den Birken, da ist es etwas anderes […]. (Kurt Tucholsky 1929b, 107)

Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen 

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Metakommunizierend, rekonstruierend und reflektierend bewegt sich Tucholsky zwi­ schen dem speziellen Semiotisierungsanlass und den möglichen Semantisierungen hin und her. Die Semiotisierung besteht in der sprachlich-hypostasieren­den Postulie­ rung eines besonderen Wahrnehmungsphänomens und in dessen Thematisierung; sie setzt bei seiner Erfahrung an und prüft, was er dazu an Sprach- und Weltwissen aufrufen kann: „Es ist eine nervöse Bewegung, aber was ist es? Wie sagt man das? Was man nicht sagen kann, bleibt unerlöst.“ (Ebd.) Sogar Einblicke in das making of gewährt er: „Was tun die Birkenblätter? Während ich dies schreibe, stehe ich alle vier Zeilen auf und sehe nach, was sie tun. Sie tun es.“ (Ebd.) Es wäre eine Simplifikation, anzunehmen, das Birken-Feuilleton von Tucholsky ziele auf die Schließung einer Benennungslücke, und deshalb könne das kognitive Geschehen mit den Begriffen der traditionellen res-verbum-Seman­tik hinreichend beschrieben werden. Etwa so: Da für das Bezeichnete keine Bezeichnung existierte, musste ein Text an dessen Stelle treten. Als Bezeichnungsstellvertreter leiste der Text dasselbe wie eine allfällige Bezeichnung, denn er konstituiere einen Benennungs­ ersatz und mache so ein wohlindividuiertes und wohldistinguiertes Phänomen für sich und die Leser erfahrbar. Er etabliere damit einen Pol in der res-verba-Beziehung, wobei er sich mit seiner Elaboration ebenso an der res abarbeite wie am Text. Das ist Elaboration zwischen den Polen im Dienst der kognitiven Funktion von Sprache. Doch um die geht es nicht (zumindest nicht in erster Linie) – das zeigt der TucholskyText über „die fünfte Jahreszeit“: Die schönste Zeit im Jahr, im Leben, im Jahr? Lassen Sie mich nachfühlen. […] Es gibt eine fünfte [Jahreszeit]. – Hör zu: Wenn der Sommer vorbei ist und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt, wie ein ganz altes Pferd, das sich im Stall hinlegt, so müde ist es – wenn der späte Nachsommer im Verklingen ist und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat –: dann ist die fünfte Jahreszeit. (Kurt Tucholsky 1929a, 179 f.)

In diesem Fall existierte eine Benennung (Altweibersommer) und es stand sogar ein Fremdlexem zur Verfügung: indian summer. Das Phänomen war konstituiert, war in der Langue schon auf den Begriff gebracht, in/mit einem Lexem dingfest gemacht worden: Altweibersommer: ‚sonnige, warme Nachsommertage‘ (Duden Deutsches Universalwörterbuch). Doch diese Bedeutung war gegenüber der Erfahrung zu mager. Das sollte der Feuilletontext ändern  – durch Überschreitung, Öffnung in Richtung Erfahrungsraum, Auflösung/Bereicherung der Bedeutung; es ging Tucholsky um das Zur-Sprache-Bringen der spezifischen Zwischenjahreszeit-Erfahrung, um etwas, das in der quasi eingefrorenen Begrifflichkeit hinter dem Lexem Altweibersommer nicht (mehr) zum Ausdruck kommt. Nun sind da noch die Blätter und die Gräser und die Sträucher, aber im Augenblick dient das zu gar nichts; wenn überhaupt in der Natur ein Zweck verborgen ist: im Augenblick steht das Räderwerk still. […]

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 Hanspeter Ortner

Das Wunder hat vielleicht vier Tage gedauert, oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören. Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden – es ist nicht der Johan­ nistrieb, es ist etwas andres. Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes. Spätsommer, Frühherbst, und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre. Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit. (Ebd., 180 f.)

Die Öffnung des Erfahrungsraums und die Überprüfung der Modi der Erschließung seiner Inhalte sind die raisons d’être des Feuilletons; beide  – oft  – textgewordene Plausibilitätsprüfungen. Sie stellen gebrauchsfertiges Weltwissen, repro­duzierbares Wissen in Frage, indem sie es mit Erfahrungen konfrontieren. Solche Konfrontatio­ nen setzen oft bei der Sprache im weitesten Sinn an, sie zielen auf Gebrauchskritik, auf Benennungs-, Klischee-, Stereotyp-, Schematismuskritik usw. (s. u. 3.), auf Kritik an sozialisierten und tradierten Versprachlichungsgewohnheiten. Beide Textsor­ ten, das Feuilleton wie der Essay stehen nicht unter Wahrheits-, sondern ‚nur‘ unter Plausibilisierungspflicht. Für sie gilt die zu erweiternde Grice’sche Quality-Maxime (Grice 1975, 45): Was du nicht als wahr behaupten kannst, musst du wenigstens plausibilisieren. Erfahrung ist die Be­dingung der Möglichkeit der Plausibilitätsprüfung; auf sie rekurriert Tucholsky in seinem Birkenblatt-Gewisper-Text und in seiner späteren Antwort auf einen Leserbrief: Brunhild schreibt: sie ‚schauern‘. Na, schauern … vielleicht tut das der ganze Baum – aber er friert doch gar nicht, mir ist dies Wort zu schwer für das leichte Gezweig. […] Brunhild, komm her und stell dich unter einen Birkenbaum. Ich seh dich an – schauer mal. Fühlst du den Unter­ schied? Was tun sie? Ich werde dahingehen und es nicht gesagt haben. (Kurt Tu­cholsky 1929c, 131)

Wäre es Tucholsky in seinem Birken-Text um ein Benennungsproblem gegangen, hätte er sich mit den Möglichkeiten der hedgings behelfen können. Doch ihm ging es um Evokation und Explikation jenseits der Versprachlichungsroutinen. Thematisierung (statt Benennung, wie immer) ist ein Verfahren, ein etabliertes res-verba-Verhältnis zu öffnen. Tucholsky thematisierte, um seine Erfahrungen in die reduzierte Welt des (sozialen) Wissens einzubringen. Tucholsky hat mit den Mitteln der Literatur, also durch eine besondere Semio­ tisierung und Semantisierung, eine Erfahrung literarisch behandelt, die mehr als eine Generation später in der (Sprach-)Philosophie zur Destruktion der Illusion einer gegebenen ontologischen Basis führte. Konstruktivismus und radikaler Nominalis­ mus/Performatismus/Pragmatimus (Popularisierer und Propagandist: Richard Rorty) haben jeder res-verba-Illusion buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezo­ gen: Wirklichkeit, Wahrheit, adaequatio rei et intellectus, alles kognitive Fiktionen! Ebenso wie das Begriffspaar Bezeichnetes/Bezeichnendes. Rortys Thesen zusam­ menfassend schreibt Assheuer:

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Wer auf den Fußspuren von Descartes immer noch behaupte, menschliches Erkennen besitze ein außersprachliches Fundament und repräsentiere die reale Wirklichkeit, der sei nicht mehr zu retten. (Assheuer in Zeit 25/2007, 53; vgl. dazu auch Rorty 2000)

Entscheidend ist, so die radikalen Nominalisten, das Zurechtkommen mit dem Leben, mit der expérience vécue. Wissenschaft ist eine Möglichkeit, das Zurechtkom­ men zu verbessern, Literatur eine andere. Während die eine auf Empirie und wahre Sätze setzt, sind für die Literatur Erfahrung und Stimmigkeit kriterial: Nichts muss wahr sein, aber alles stimmig. (Die Plausibilitätserwartung gilt für beide Welterschlie­ ßungs-, Welterschaffungs-Modi.) Der Verlust der ontologischen Gewissheit betreffend die Gegebenheit einer nicht vom Menschen geschaffenen Realität fördert die Erkennt­ nis der Hauptfunktion der Literatur: Sie ist eine nützliche Redeweise. Nützlich ist sie, weil sie ein Verfahren ist, individuelle Kognitionen, vor allem auch unbewusste, mittels sozialer Kognitionen zu be- und zu verarbeiten und dadurch eine Welt hinter den wahren Sätzen der Wissenschaft und dem Geplauder und Wissen des Alltags zu erschaffen. Nützlich ist sie, weil sie ästhetischen Mehrwert produziert. Auch literari­ sche Schreiber arbeiten nicht nur „im Weinberg des Textes“ (Illich 1991), sie schuf­ ten vor allem auch auf dem Feld der so genannten Wirklichkeit, indem sie sich z. B. abmühen zu sagen, was die Birkenblätter tun. Das hat wohl schon Goethe aus seiner Erfahrung heraus gespürt, als er seinem autobiographischen Projekt den Titel „Dich­ tung und Wahrheit“ gab und mit diesem Verfahren das Konzept der autobiographi­ schen „Wirklichkeit“ in Frage stellte. Günter Eich hat es explizit gesagt: Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigo­ nometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren. Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Vorausset­ zung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erst herstellen. Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. (Günter Eich 1957, 19)

Nach der Destruktion der traditionellen Wirklichkeitskonzeption würde der Autor von heute allerdings sagen: Ich schreibe Literatur, um mich in den Welten der Kogni­ tion zu orientieren, der sensorisch gewonnenen wie der über deklaratives Wissen auf­ genommenen, in den Welten der individuellen Erfahrung und der kollektiven, die im Diskurs und im Wissensuniversum aufgehoben sind. Von einem Autor wird erwartet, dass er diese Welten produktiv zugänglich macht, was heißt: nicht durch Reproduk­ tion. Denn: „Ästhetische Erfahrung muss sich selbst überschreiten.“ (Adorno 1973, 519) Wo dies nicht gelingt, wird Reproduktionskritik geübt.

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3 Semiotisierungs- und Semantisierungskritik Die raison d’être von Kunst, von Literatur ist die ästhetische Erfahrung, das Vordrin­ gen in Erfahrungsräume, die Öffnung von Erfahrungsräumen, das Zulassen und Gewinnen von Erfahrung, deren Rezeption sowie die gelungene Bearbeitung und Expression von Erfahrung: die „Rechtfertigung im Vollbrachten“ (Adorno 1973, 508). Die Literaturkritik prüft, ob diese Rechtfertigung gegeben ist, indem sie das Geschaf­ fene sowohl unter dem res- wie auch dem verba-Aspekt prüft. Sprachliche Zu-wenigoder Nicht-Anstrengung sieht sie vor allem dort gegeben, wo Fertigteile reproduziert werden. Fertigfabrikate sind das Gegenteil von Originalität; sie sind als „Redensarten […] Kleider vom Trödelmarkt“ (Lichtenberg 1765 ff., 734) oder schlimmer: tot. […] wenn ich ein Buch aufschlage und erblicke Wendungen wie ‚Ihre Erscheinung war in der Tat schockierend‘, ‚Ich spürte den ersten Stich der Reue‘, ‚reiche, vollblütige Schönheit‘ usw. habe ich immer den Eindruck, daß ich eine tote Sprache lese […]. (Chandler 1975, 103)

„Lauter bekannte Verbindungen“ (Benn 1949, 77), Reproduktionen statt originaler Eigenleistung eines Autors durch Semiotisierung und Semantisierung. Was bedeuten vom Produktiven aus diese Verbindungen? Sie bedeuten eine konventionelle Sprache, eine Verwendung von grammatikalischen Fertigfabrikaten, auswärts entstandener Vorstellungspaarung, Aufbau mittels bewährten, gang und gäbe, aus dem öffentlichen Verkehr übernommenen Materials. (Gottfried Benn 1949, 77)

Die Kritik am bloß Reproduzierten setzt vor allem bei den kleinsten Aussage­einheiten an, an Attribut-Nomen-Verbindungen wie den obigen, „vorfabrizierten Sätzen“ (Inge­ borg Bachmann in Rudolph 1977, 18), „totgeborenen Sätzen“ (Handke in Zeit 49/1968, 17), verschlissenen Aussagen: Er wisse nicht, sagt er [Hildesheimer] zum Beispiel, wer als erster geschrieben habe: ‚Ein Schuß durchpeitschte die Nacht‘, oder ‚Ein müdes Lächeln spielte auf ihren Lippen.‘ Aber es sei schwer, sich solche Aussagen noch rein und unverschlissen vorzustellen. Not und Elend der Gegenwartsprosa beruhten nicht zuletzt auf der Tatsache, daß die Bilder erschöpft seien. (Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe 7.3.1980, 39)

Gelingendes Schreiben lässt das Reproduzierte hinter das Produzierte treten; bei misslungenem Schreiben ist es umgekehrt: Nein, es ist kein gutes Buch. Der Circle ist sogar ein in besonders offensichtlicher Weise schlech­ ter Roman. Er erfüllt bilderbuchmäßig die klassischen Kriterien für schlechte Romane: eine banale Sprache ohne ästhetischen Mehrwert, Vorhersehbarkeit der Handlung, klischeehafte Schwarz-Weiß-Kontraste von Gut und Böse, Dialoge, die didaktisch so auf­gebaut sind wie ein Besinnungsaufsatz […]. (Mangold in Zeit 33/2014, 36)

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Die Fertigteil-Kritik reicht über Schablonen-, Stereotyp- und Schemakritik bis zur Kritik an einem Manier gewordenen Verfahren: 2009 hat es noch geheißen, Judith Hermann, „treffe […] den ‚Sound‘ ihrer Generation“ (Zeit 36/2009, 49); fünf Jahre später wird ihr Verfahren aufs literaturkritische Korn genommen: Eigentlich sagt sie kaum etwas  – doch die unausgesprochene Bedeutung wabert wie Nebel zwischen den Zeilen. Ihre Sätze reklamieren durch rigorose Lakonie (nur kein Wort zuviel!) ein Maximum an Unschuld und scheinbarer Offenheit, in Wahrheit entsteht um sie herum eine Atmosphäre, die man freundlich ‚dicht‘ oder kritisch ‚penetrant‘ nennen muss. Die Lakonie wird so lakonisch, dass sie von Prätention nicht mehr zu unterscheiden ist. (Mangold in Zeit 34/2014, 39)

Nach nur fünf Jahren wird Hermanns „Poetologie des Alles-Zeigens“ als beengendes Korsett abqualifiziert: „Käfig dieser so absehbaren Ästhetik“; „Man würde gern die Form dieses Romans zerschlagen, damit seine Figuren und ihre Schöpferin wieder atmen können.“ (Mangold in Zeit 34/2014, 39) Natürlich braucht jede Literatur sprachliche Routinen und damit Fertigteile. Die Sprache ist sogar, da ein fait social (ein soziales Faktum), die Menge aller mündlich oder schriftlich artikulierbaren Fertigteile und aller wiederholbaren Verfahren. Sie ist die Menge aller res-verba-Zugänge zur Welt, aller Vorinterpretationen von Welt, die Menge aller Möglichkeiten, Redegegenstände zu schaffen, und aller Aussagen über diese (vgl. den Birken-Text von Tucholsky): „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ (ein Zitat von Gadamer, vgl. Bubner u. a. 2001). Sein, das verstanden worden ist, ‚existiert‘ nur in den durch das Verstehen gebahnten Zugängen, in den sozial etab­ lierten res-verba-, Sachverhalt-Aussage-Semiotisierungs- und -Semantisierungs-Sche­ mata für den Umgang mit Weltwissen aus allen Wissensuniversen. Auf diese muss auch zurückgreifen, wer individuelle Erfahrungen zum Thema macht. Denn: Ganz ohne Fertigteile geht es nicht: Das Gedächtnis […] hält zu unveränderlichen Fakten erstarrte und jederzeit abrufbare Informa­ tionen bereit. Sie sind gebrauchsfertig präsent, bezogen auf gewohnte, wiederholbare Situati­ onen, eine bekannte, verfügbare, beherrschte Welt. Sie verdanken sich dem Beobachten, dem raschen, praktischen Begreifen und haben sich abgelagert als Stereotyp. (Wellershoff 1980, 195 f.)

Das Sein, das verstanden worden ist, ist soziales Wissen – allgemeines, nicht indivi­ duelles. Für die über soziales Wissen gewonnenen Routinen gilt das Prinzip: Schaffe Neues aus den kleinen Einheiten, die musst du reproduzieren (Zum Beispiel heißt es Individuum, nicht Individium.). Die größeren Einheiten dagegen, ab der Aussage (die propositionale Verhältnisse zur Sprache bringt), dürfen nur als abstrakte Sche­ mata verwendet werden (syntaktische, Argumentations-, Textmuster-Schemata), und zwar immer so, dass sie im Hintergrund bleiben. Wortwörtliche Reproduktion von res-verba- oder Sachverhalt-Aussage-Paketen ist tabu. Im Vordergrund müssen Sache und Bedeutung stehen. Unter das Niveau des sprachkulturell erreichten Ver­

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stehens von Sein darf niemand gehen. Man muss von der Tradition lernen und über sie hinausgehen, um sie nicht zu unterschreiten und sich den Klischee-Vorwurf ein­ zuhandeln. Für das, was mit diesen Einheiten schon einmal gesagt worden ist, gilt ein strenges Wiederholungsverbot  – mit wenigen Einschränkungen (Zitate, Belege, Referiertes, zu dem Stellung genommen werden soll, usw.). Es gilt also ein Unterschreitungsverbot. Zweifaches Versagen konstatiert Isen­ schmid im zweiten Teil des Romans „14“ des Goncourt-Preisträgers Echenoz. Dieser hat „fast ganz so“ zu erzählen begonnen, „wie er es in seinen letzten Romanen immer [aufs Überzeugendste] getan hatte“. Und dann? Dann nichts! Jedenfalls nichts, was nicht jeder schon wüsste. Auch wer noch kein Buch über den Ersten Weltkrieg gelesen hat, wird aus Echenoz’ Roman nichts erfahren, was er nicht längst schon gewusst hätte. Schützengräben, Gasangriffe, Hunger, all das haspelt der Autor mit einer sachlichen und sprachlichen Einfallslosigkeit ab, als sei der zweite Teil des Buches von einem anderen Autor geschrieben als der erste. Natürlich ist die Kälte – Flaubert hätte sich im Grab gedreht – ‚bissig‘. Und was tut die Kanone? Sie ‚donnert‘, sogar als ‚Basso continuo‘. Da bleibt den Granaten natürlich nichts anderes übrig als zu ‚jaulen‘, die Kugeln müssen ‚pfeifen‘, die Skelette ‚bruzeln‘, die Schlachtfelder sind selbstredend ‚öde Mars-Landschaften‘, und ‚die Frühlingsoffensive verschlang eine gewaltige Menge Soldaten‘. (Isenschmid in Zeit 14/2014, 58)

Echenoz hat, so der Vorwurf des Kritikers, die res-verba-Standards unterschritten, die sprachlichen und die imaginativ-semiotischen, die im Wissensuniversum schon erarbeitet worden sind. Denn erst deren Überschreitung hätte gerechtfertigt, dass Echenoz das Thema aufgreift und darüber schreibt. Stattdessen: Keine Rede von Überschreitung der ästhetischen Erfahrung, nein: Unterschreitung! Von Stendhal über Jünger bis zu Simon, um nur drei von dreißig zu nennen, haben die europäi­ schen Kriegserfahrungen Mal für Mal zu einer Erneuerung der literarischen Darstellungsweisen und zu einer Verfeinerung der Sprache geführt. […] Sein Dutzendfranzösisch lässt […] vermu­ ten, dass er nicht eine dieser Beschreibungen wachen Geistes gelesen hat. (Isenschmid in Zeit 14/2014, 58)

Den zweiten Teil des Romans von Echenoz träfe das Verdikt von Kundera mit voller Härte: Wer als Romancier keinen ‚dauerhaften ästhetischen Wert‘ anstrebt, solle das Schreiben lassen. ‚Ein durchschnittlicher Romancier, der wissentlich vergängliche, gewöhnliche, konventionelle, also unnötige, also störende, also schädliche Bücher schreibt, ist verachtenswert‘, statuiert Kundera und setzt noch eins drauf: ‚Der Roman, der keine bislang unbekannte Parzelle der Exis­ tenz entdeckt, ist unmoralisch.‘ (Kundera zit. n. Isenschmid in Zeit 35/2005, 44)

Doch wie entdeckt man „bislang unbekannte Parzellen der Existenz“? – Indem man die genuinen Möglichkeiten der Literatur nutzt, z. B. die Einführung von Figuren.

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4 Semiotisierung und Figureninventio Was erwartet, „wer eine Fünfsternereportage nicht schon für Literatur und die Sprache der Romane nicht für ein Tablett hält, auf dem nahrhafte Geschichten ser­ viert werden“ (Radisch in Zeit 40/2010, 57)?  – Er erwartet von Literatur, dass sie  – sprachlich, d. h. im Medium und mit den Mitteln der Sprache und der Literatur – in Erfahrungsräume vorstößt, die jenseits der Grenzen von Alltagskommunikation und Alltagswissen liegen, jenseits dessen, „was wir den lieben Tag vor uns hinreden“. Wer der romantischen Idee vom Künstler als Fischer im Unbekannten anhängt, hat hohe Erwar­ tungen an die Sprache der Dichtung. Für ihn ist ein Buch nur so gut wie sein Stil. Die Sprache des Schriftstellers wünschen wir uns durchlässiger, empfänglicher und feinfühliger als das, was wir den lieben Tag vor uns hin reden. Die Welthaltigkeit der Romane […] ist nicht eine Frage des Plots und seiner unterstellten gesellschaftlichen Bedeutung, sondern eine Frage des Stils und seiner weltaufschließenden Kraft. (Radisch in Zeit 40/2010, 57)

Die Sprache ist nicht nur die Menge der für die Kommunikation geltenden Regeln, sie ist auch – als Medium, d. h. vor allem auch: als Biotop der Kommunikation – die Menge der Bedingungen der Möglichkeit, neues Wissen zu schaffen. Die Literatur nimmt die Sprache als Medium in den Dienst und „zerreißt“ so den „Vorhang der Vorinterpreta­ tionen […], den wir im Alltag so gern mit der Welt verwechseln“ (Kundera zit. n. Isen­ schmid in Zeit 35/2005, 44). Indem die Literatur lebendige Figuren schafft, kann sie in Bereiche der Erfahrung vordringen, deren Zentrum nicht im Schreiber-/ErzählerIch liegt. Nicht nur der Stil hat weltaufschließende Kraft, die Figuren haben sie noch viel mehr, falls sie „richtige Menschen, komplizierte Charaktere“ sind (Radisch in Zeit 35/1995, 43), keine „Pappkameraden“, nicht flach, „blass und blutleer“: Die Figuren [des Romans] bleiben blass und blutleer, die Sprache kommt über einen flachen, faktenbeflissenen Reportagestil nicht hinaus. […] Wenn sich die Wege der […] so schablonenhaf­ ten Helden endlich kreuzen, hat man längst das Interesse an ihnen verloren […]. (Maidt-Zinke in Zeit 26/2011, 54)

Wie haucht der creator mundi et personae literarischen Figuren Leben ein? – Indem er sie zur Person, zu einem Selbst, macht, das heißt, er lässt sie das entwickeln und leben, was die Psychologie als Theory of Mind beschreibt. Er gibt ihnen je einen Erfahrungsraum, dessen Partikel zwar dieselben sind wie die des eigenen, dessen Verarbeitung aber individuell, also figurenspezifisch ist – wie dies Kafka „mit seinen Figuren“ gemacht hat, sich einlassend auf das „verwickelte Spiel zwischen Erfahrung, Erinnerung und Erfindung“ (Stach 2008, 469). Die „Theory of Mind“ […] ist ein Konstrukt, das alle Kompetenzen zusammenfasst, die vonnöten sind, um fremdes und eigenes Verhalten und Erleben erkennen, verstehen, erklären, vorhersa­ gen und kommunizieren zu können […]. (Petermann/Niebank/Scheitauer 2004, 425); Frauen bei­

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spielsweise entwickelten eine ‚Theorie über den Geist von Männern‘, der sich von ihrer ‚Theorie des Geistes von Frauen‘ unterscheidet. (Buss 2004, 505)

Die „Theory of Mind“ ist eine Weiterentwicklung der Theorien der Perspektiven- und Rollenübernahme. Die Forschung hat sich intensiv mit den Stadien der Entwicklung der Perspektiven- und Rollenübernahme und der Theory of Mind beschäftigt. Was in der Psychologie als Stufe der Entwicklung klassifiziert wird, lässt sich auch als Auf­ listung prinzipiell möglicher Semiotisierungskonstellationen verstehen (von Erwach­ senen für Erwachsene), aus denen heraus ein Autor seine Figu­ren (inter-)agieren lässt und in denen er selbst seinen Figuren gegenübertritt. Wer z. B. die „subjektive oder differenzierte Perspektive“ einnimmt, entdeckt das Gegenüber […] als eigenständigen Menschen mit eigenen Wahrnehmungen und Gefüh­ len […], die mit den eigenen nicht unbedingt übereinstimmen müssen. (Petermann/Nie­bank/ Scheitauer 2004, 226)

Vgl. dazu: Jedesmal muß ich aufs neue in die Haut meiner Figur schlüpfen. […] Ich schlüpfe also in die Haut einer Figur, die ich nicht kenne, die ich erst im Laufe meiner Arbeit am Roman kennenlerne. Die Frage, die sich mir stellt, ist nicht, ob ich meinen Roman schreiben kann, sondern ob ich die Beziehung zu meiner Figur herstellen kann! (Simenon auf der Couch 1985, 88)

Perspektivenübernahme ist eine notwendige Voraussetzung für die Kreation leben­ diger Figuren, für Figuren, die aus ihrer von der Theory of Mind erfassten Erfahrung heraus agieren. Zielpersonen der Literatur sind Figuren, „die der Leser als atmende und fühlende We­sen und nicht nur als Platzhalter für Zeitdiagnosen ernst nimmt“ (Mangold in Zeit 33/2014, 36). Er gestaltet seine Figuren so platt und eindimensional […] Eggers kann keine Figuren mit inne­ rem Reichtum schaffen, der Holzschnitt ist das Maximum, das ihm an psychologischer Einfüh­ lung zur Hand ist. (Mangold in Zeit 33/2014, 36)

Shakespeare dagegen konnte Figuren mit inne­rem Reichtum schaffen; er hat uns „die vitalsten, tiefsten und abgründigsten Theaterfiguren der Weltliteratur hinterlassen“ (Kümmel in Zeit 16/2014, 45). Mit jeder Perspektive (Figur) wird ein Erfahrungsraum aufgetan oder  – mit der Kristallisationsmetapher Stendhals gesagt –: Im Erfahrungsraum des Autors wird mit jeder Fremdperspektive ein Ästchen für die Kristallisation von Erfahrungspartikeln ausgelegt. Für die Figurengestaltung muss er Sektoren von Erfahrungsräumen auf­ schließen, verschränken und zusammenführen, und er muss erzählen, was seinen Figuren im Konflikt oder in der Kooperation geschieht, wenn diese aus ihren Erfah­

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rungen heraus agieren – das ergibt Welthaltigkeit, die sogar ihren Autor überrascht. Eine in Autoreninterviews oft zu hörende Mitteilung bezieht sich darauf: profil: Sie wissen am Beginn noch nicht, was aus Ihren Figuren wird? Köhlmeier: Nein, das weiß ich noch nicht genau. Die Figur kommt auf einen zu, und es geht eine Faszination von ihr aus. Man will alles über sie wissen. Das ist, als ob man verliebt wäre: Da unterscheidet man am Anfang auch nicht zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem, weil einen alles interessiert. (profil 28/2009, 31)

Je mehr ein Autor seinen Figuren Bewegungs- und Gedankenfreiheit gibt, umso not­ wendiger wird seine Selbstpositionierung als Autoren- und Erzähler-Ich. Er muss seine Semiotisierungsperspektive klären. Das Modell dafür entnimmt er der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme. Diese Fähigkeit erreicht ihre vierte Stufe (nach Selman), wenn „die eigene Perspektive und die des anderen […] nicht nur abwechselnd, sondern gleichzeitig gesehen werden“ können – „sozusagen aus der Perspektive eines dritten Menschen“ (Petermann/Niebank/Scheitauer 2004, 226). Der dritte Mensch in der mehrfigurigen Literatur ist der Autor, das Autoren- und das Erzähler-Ich. In mei­nen Augen hinterlässt Sime­non seine Spuren artistisch. Es sind vor allem zwei Strate­ gien, die Simenon wie kein anderer beherrscht: Erstens tritt er als Autor ganz und gar hinter das Weltmodell seiner Romane zurück, und zweitens arbeitet er dementsprechend mit einem Stil ohne Eigenschaften. Dieser Stil hat eben nicht die spektakuläre Eigenschaft, keine Eigenschaft zu haben; er hält sich an eine nüchterne, unauffällig konstruierte Alltagssprache, die perfekt von sich ablenkt. (Schuh in Zeit 48/2001, 54)

Simenon tritt hinter das Weltmodell seiner Romane zurück und lässt seine Figuren ihren Weg gehen, aber er muss ihnen auf den Fersen bleiben: Die Arbeit muß kontinuierlich sein; ich kann keinen Tag mit dem Niederschreiben aussetzen, sonst ist der Faden abgerissen. […] Während ich das Buch schreibe, muß ich so schnell wie möglich schreiben und dabei so wenig wie möglich daran denken, so daß das Unbewußte in höchstem Maße selb­stän­dig arbeitet. (Simenon auf der Couch 1985, 12)

Das Verhalten seiner Figur(en) überrascht auch ihn, den Autor, es ist auch für ihn rätselhaft und weil es erklärungsbedürftig ist, muss er es erzählen. Erst die zu Ende geschriebene Erzählung liefert die Erklärung. […] nein, über das, was passie­ren wird, weiß ich noch nichts, wenn ich anfan­ge […] Was später passiert, davon habe ich bis dahin nicht die geringste Ah­nung. (Simenon in Cowley 1959, 174)

Die höchste Stufe in der Entwicklung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ist erreicht, wenn jemand „versteht, dass die Übernahme der Perspektive eines Dritten von einem oder mehreren Systemen mit höheren sozialen Werten be­einflusst werden kann“ (Berk 2005, 441). Ein solches System ist die Sprache, ein anderes das System der Gegenstandsbildung mittels Sprache, ein drittes die Erfahrung hinter dem Wissen,

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ein weiteres „die Erfahrung regieführender Zu­ständigkeit“ aus dem „existenziellen Bewusstsein“ des Autors. Literarisch genutzt hat dieses höchst entwickelte Semioti­ sierungsmodell Handke in „Wunschloses Unglück“. Natürlich ist es ein bißchen unbestimmt, was da über jemand Bestimmten geschrieben steht; aber nur die von meiner Mutter als einer möglicherweise einmaligen Hauptperson in einer viel­ leicht einzigartigen Geschichte ausdrücklich absehenden Verallgemeinerungen können jeman­ den außer mich selber betreffen – die bloße Nacherzählung eines wechselnden Lebenslaufs mit plötzlichem Ende wäre nichts als eine Zumutung. Das gefährliche [!] bei diesen Abstraktionen und Formulierungen ist freilich, daß sie dazu neigen, sich selbständig zu machen. Sie vergessen dann die Person, von der sie ausgegangen sind – eine Kettenreaktion von Wendungen und Sätzen wie Bilder im Traum, ein Literatur-Ritual, in dem ein individuelles Leben nur noch als Anlaß funktioniert. (Peter Handke 1972, 41 f.)

Handke hat das maximal genutzt, was das Medium Sprache im Personenverkehr im Lauf der Evolution zu leisten gelernt hat; er praktiziert den Perspektiven-Einsatz in wechselnden Konstellationen der Perspektivenübernahme und er geht dabei reflek­ tierend auf die Semiotisierungs- und Semantisierungsprobleme ein, auf die er beim Schreiben gestoßen ist – die er gefühlt hat. Anfangs ging ich deswegen auch noch von den Tatsachen aus und suchte nach Formulierungen für sie. Dann merkte ich, daß ich mich auf der Suche nach Formulierungen schon von den Tat­ sachen entfernte. Nun ging ich von den bereits verfügbaren Formulierungen, dem gesamtgesell­ schaftlichen Sprachfundus aus statt den Tatsachen und sortierte dazu aus dem Leben meiner Mutter die Vorkommnisse, die in diesen Formeln schon vorgesehen waren […] Ich vergleiche also den allgemeinen Formelvorrat für die Biographie eines Frauenlebens satz­ weise mit dem besonderen Leben meiner Mutter; aus den Übereinstimmungen und Wider­ sprüchlichkeiten ergibt sich dann die eigentliche Schreibtätigkeit. (Ebd., 42 f.)

Auch Handke hatte nur die Fertigteile der Sprache zur Verfügung, auch er war kon­ frontiert mit der Unmöglichkeit etwas Besonderes, das Leben seiner Mutter, mit allge­ meinen Sprachmitteln zu erfassen. Aber er hat literarisch einen Ausweg gefunden. Er ist nicht ins ‚Lorehafte‘ abgeglitten, wie ein anderer Text über das Leben einer Mutter: [Das Buch] ist gelungen in manchen dokumentarischen, vom Autor mehr oder weniger miter­ lebten Passagen und einigen Landschaftsbeschreibungen. Es wird schwach, wo er in fiktiven Episoden und Dialogen das Romanhafte anstrebt. Loreromanhaft wird es dann, dramaturgisch und sprachlich. Wie aus einem Textbaukasten für die Heimat-Heftchen der fünfziger Jahre zusammengeklaubt. Die Heldin ‚eilt schluchzend von dannen‘, ‚folgt frohen Mutes dem Ruf der Kirchenglocken‘, ‚weint bitterlich‘, später ‚noch bitterlicher‘. Da hüpfen Herzen vor Freude, tut’s in der Seele weh, herrscht stummes Entsetzen, sitzt der Schalk im Nacken, wird wie am Spieß geschrien, manch böser Streich gespielt, die Hölle heiß gemacht. Und kein Sprachklischee aus­ gelassen. (Dillo in Zeit 3/2002, 41). [Loreromane = trivialliterarische Serienromane, so genannte Heftchenliteratur.]

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‚Lorehaftigkeit‘ ist auch ein Semantisierungsfall, doch wer nur das Symptom sieht, sieht nicht alles. Das Hauptproblem der Fertigteile und der konventionelle Semioti­ sierungsverfahren reproduzierenden Literatur ist die weit verbreitete Flachheit und Gewöhnlichkeit, die sich daraus ergibt, die Nicht-Welthaftigkeit, so die häufigen Klagen aus dem literaturkritischen Diskurs, der übrigens selbst ein Erscheinungsmo­ dus eines jener oben genannten „Systeme mit höheren sozialen Werten“ hinter den literarischen Akteuren ist. Die Landschaften und die Städte, die seelischen Konflikte und die dramatischen Szenen werden so geschildert, dass ein jeder sie auf Anhieb wiedererkennt und selber ganz ähnlich erzählen könnte. Die Aura des Geheimnisvollen, Rätselhaften […] fehlt diesem Roman voll­kommen. (Greiner in Zeit 35/2014, 38)

Jeder könnte selber ganz ähnlich erzählen … weil er, der Nicht-Literat, dieselben alltäg­ lichen Routineverfahren der Semiotisierung anwendet und dabei nicht weiter kommt als die kritisierten Autoren. Seinen Gegenständen fehlt das, was zum Erzählen erst legitimiert, die semiotische Elaboration. Wenn es einem Autor nicht gelingt, Berei­ che in seinen Erfahrungsräumen mittels aller Möglichkeiten der Literatur zu öffnen, dann produziert er nicht mehr Literatur mit ästhetischem Mehrwert, sondern, streng genommen: keine Literatur mehr. Dafür aber sprachliche Mängel. Fast scheint es, als habe sich Günter Grass mit diesem form- und anschauungslosen Papierge­ rippe von der Literatur verabschiedet. Als habe er […] mit Bedacht seine letzte große Reise in die Wüste der totgeborenen Bücher geplant. Held Fonty […] ist ein literarischer Pappkamerad. […] eine flache […] Figur […] Grass macht aus seinen Figuren Marionetten […] Keine der zitierten Epochen […] wird anders denn in einer schlichten Trivialversion vorgestellt. […] grob verzerrte[s] Bild […;] variantenarme[s] Stammtischpalaver […;] als Erzählposition […] eine […] Sackgasse […;] gezierte[r] Sprachgestus [einer Figur …;] ein gestelztes Fontane-Deutsch [einer Figur …;] [… eine Figur] im Grassschen Spätstil plaudernd – ein wenig hausväterlich, ein wenig umständlich, ein wenig amtsdeutschartig, ziemlich humorlos und reichlich geschwollen […]. (Radisch in Zeit 35/1995, 43 f.)

Ästhetischer Mehrwert ist erst zu haben, wenn der „Vorhang der Vorinterpretationen“ zerrissen wird, wenn ein Autor den Doderer’schen „Grundsumpf“ erreicht: […] Grundsumpf unserer Eindrucksfähigkeit, freigelegt durch das Zerschlagen der ihn über­ wachsenden Decke von sprachlichen Erstarrungsformen  – die sich als bequeme Särge stets angeboten haben, in denen wir ein gut Teil unserer ungeborenen Sprachlichkeit bestatteten, diese[n] Grundsumpf aus noch nie berührten Erlebnissen und Zuständen unserer Vergangenheit […]. (Heimito v. Doderer zit. n. Lidén 1990, 166)

Nach Doderer kann Sprache vom Literaten als „hausmeisterische“ und „schulmäßige“ res-verba-Reproduktionsmaschine „gebraucht“ werden (instrumental) und damit Erfahrungswahrnehmung (Apperzeption) verhindern oder sie kann zum Medium der Befreiung von den Reprodukten und Reproduktionen werden und „dieses leichte

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Gehen in der Sprache“ ermöglichen, „wie losgebunden […] vom Pfahle des eigenen Ich“ (ebd., 93). Immer mehr erkenne ich die Sprache als selbständig wirkende Kraft im Leben und löse mich endlich bald ganz von der, in jedem von uns schulmäßig und hausmeisterisch steckenden Vor­ stellung, sie sei so was wie ein Mittel, Abdruck, Negativ. (Ebd., 65)

Lewitscharoff attestiert Doderer Apperzeptionsmeisterschaft, wenn sie schreibt, dass die Lektüre der „Dämonen“ „zeitgenössische Romane“ „für längere Zeit“ ungenieß­ bar mache. Weil: Weit und breit keiner in Sicht [ist], der auf derart vorgeschobenem Apperzeptionsposten stünde, der horcht, sieht, fühlt, schmeckt, riecht, denkt wie Doderer und das dabei Eingeheimste ohne Verlust zu Papier bringt. (Lewitscharoff in Zeit 30/2012, 49)

Die sich dem Bewusstseinsstrom anvertrauende inventio führt in Erfahrungsräume, indem sie die Sprache zum Medium macht – bestehend nicht nur aus den klassischen Sprachmitteln, sondern auch aus deren Über- und Unterbau. Zum Überbau gehört alles Situations- und Produktionspragmatische: Sprechakt, Text­sorte, Sprecherein­ stellung, Schreiberrolle; Planung, Korrektur usw. Der Unterbau besteht aus den Ele­ menten, die kleiner (und viel zahlreicher) sind als Wörter und Morpheme, aus den subsymbolischen Einheiten des kognitiven Unbewussten und ihren netzartigen Ver­ knüpfungen (vgl. Ortner 2014). Über-, Mittel- und Unterbau zusammen ergeben ein Medium, durch dessen Nutzung Erfahrungen und Erfahrungsräume in den Bereich des bewussten Wissens, auf die Bühne des Textes geholt werden können. Die poten­ testen Assistenten dabei sind die Figuren. Sie führen in nie betretene Erfahrungswel­ ten, indem sie besondere Neu-Semiotisierungen in den Text einbringen. Ästhetischer Mehrwert ist dann erreicht, wenn alltägliche Erfahrung überschrit­ ten wird – durch die Schaffung von (so) nie gesehenen Gegenständen, die Bekannt­ schaft mit nie gekannten Figuren, durch die Erschaffung einer Parallelwelt, wie dies Shakespeare gelungen ist. Der Respekt vor Shakespeare ist gewaltig; der Dramatiker gilt vielen als Schöpfer einer Paral­ lelwelt, die sich nicht der Realwelt anpasste, sondern die es schaffte, die Realwelt zu formen. (Kümmel in Zeit 8/2002, 35)

Kümmel attestiert, sich Ha­rold Bloom anschließend, Shakespeare, dass er (vielleicht wirklich) jener Mann sei, der den modernen Menschen erst ‚erfunden‘ habe: ‚Shakespeare wird immerfort uns erklären (…). Seine Dramen sind größer und mächtiger als mein Bewusstsein, und sie lesen mich besser als ich sie.‘ (Kümmel mit einem Zitat von Bloom in Zeit 16/2014, 45; vgl. auch „Shake­ speare – Der Mann, der uns erfunden hat“ (Kümmel in Zeit 8/2002, 35)).

Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen 

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Aber das ist eben Shakespeare, „the next mind to God“ (Kümmel in Zeit 8/2002, 35)! Und Gott, als literarische Figur oder wie immer, hat nicht nur „die Erfahrung regie­ führender Zuständigkeit“, sondern auch Zugang zu allen Erfahrungsräumen, auch den verborgensten mit den unbewusstesten Inhalten – ohne die Hilfsmittel der Semi­ otisierung und Semantisierung. Das muss auch Simenon so gespürt haben: „Der voll­ kommene Romancier müßte eine Art Gottvater sein […]“ (Simenon 1988, 21).

5 Zusammenfassung Rorty, der Pragmatizist, der ontologische Skeptizist und nominalistische Radikalist plädiert dafür, Epistemologie nur von der Nützlichkeit von Redeweisen her zu betrei­ ben. Am nützlichsten ist die Redeweise, die „Versprachlichung“, die  – weil sie am elaboriertesten ist, – am besten mit der Welterfahrung zurechtkommt, z. B. mit dem Gewisper der Birkenblätter  – wobei der nützliche Text von Tucholsky klar macht, dass es sich dabei um mehr als Gewisper handelt; nützlich ist der Text, weil er dem Leser hilft, Sein zu verstehen: Nach unserer Auffassung gibt es viele Möglichkeiten, über das Geschehen zu reden, und keine dieser Redeweisen kommt dem An-sich-Sein der Dinge näher als irgendeine andere. Wir haben keine Ahnung, was der Ausdruck »an sich« eigentlich bedeuten soll, wenn von »der Wirklichkeit an sich« die Rede ist. Daher schlagen wir vor, die Unterscheidung zwischen Schein und Wirk­ lichkeit zugunsten einer Unterscheidung zwischen nützlicheren und weniger nützlichen Rede­ weisen fallenzulassen. (Rorty 2000, 7)

Literatur entsteht, wo nach nützlichen Redeweisen gesucht wird und wo deren Nütz­ lichkeit augenfällig gemacht wird, auch wenn diese sich  – anders als in der Wis­ senschaft – nicht aus der ‚Wahrheit‘ ihrer Sätze ergibt. Gefunden werden nützliche Redeweisen in der Literatur auf verschiedene Weisen. Zwei wurden hier vorgestellt: Neu-Semiotisierung auf der Basis von Konventionalitäts- und Klischee-Kritik sowie Neu-Semiotisierung dadurch, dass literarische Figuren erfunden, d. h., dass ihnen Rederechte eingeräumt und Handlungsrechte zugestanden werden. Möglich sind Neu-Semiotisierungen durch den Rekurs auf Erfahrung, die den „vereinfachenden Blick der Gewohnheit“ (Hugo v. Hofmannsthal 1902, 13) in Frage stellt. Danksagung: Ich danke den Herausgeberinnen sowie Sophia Schleichardt und Lore­ lies Ortner für hilfreiche Assistenz beim gedanklichen und sprachlichen Feintuning.

308 

 Hanspeter Ortner

6 Literatur 6.1 Primärliteratur Benn, Gottfried (1949): Ausdruckswelt. Essays, Aphorismen und andere Prosa. Frank­furt a. M./Berlin 1964. Handke, Peter (1972): Wunschloses Unglück. Salzburg. Hofmannsthal, Hugo von (1902): Ein Brief. In: Hugo von Hofmannsthal: Prosa II. Frankfurt a. M. 1976 (= Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben), 7–20. Tucholsky, Kurt (1929a): Die fünfte Jahreszeit. In: Kurt Tucholsky: Zwischen Gestern und Morgen. Eine Auswahl aus seinen Schriften und Gedichten. Hg. v. Mary Gerold-Tucholsky. Reinbek bei Hamburg 1967, 179–181. Tucholsky, Kurt (1929b): Mir fehlt ein Wort. In: Kurt Tucholsky: Panter, Tiger & Co. Eine neue Auswahl aus seinen Schriften und Gedichten. Hg. v. Mary Gerold-Tucholsky. Reinbek bei Hamburg 1969, 106–107. Tucholsky, Kurt (1929c): Was tun die Birken? In: Kurt Tucholsky: Sprache ist eine Waffe. Sprachglossen. Reinbek bei Hamburg 1989, 131. Walser, Martin (1983): Seelenarbeit. Frankfurt a. M.

6.2 Sekundärliteratur Adorno, Theodor W. (1973): Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. Berk, Laura E. (2005): Entwicklungspsychologie. 3. Aufl. München u. a. Bubner, Rüdiger u. a. (2001): „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“. Hommage an Hans-Georg Gadamer. Frankfurt a. M. Buss, David M. (2004): Evolutionäre Psychologie. 2. Aufl. München. Chandler, Raymond (1975): Die simple Kunst des Mordes. Briefe, Essays, Notizen, eine Geschichte und ein Romanfragment. Hg. v. Dorothy Gardiner und Kathrine Sorley Walker. Neu übersetzt von Hans Wollschläger. Zürich. Cohen, Marvin S. (2011): Knowns, known unknowns and unknown unknowns. Time and uncertainty in naturalistic decision making. In: Kathleen L. Mosier/Ute M. Fischer (Hg.) (2011): Informed by Knowledge. Expert Performance in Complex Situations. New York/London, 371–396. Cowley, Malcolm (1959): Wie sie schreiben. Writers at Work. Sechzehn Gesprä­che mit Autoren der Gegenwart. Gütersloh. Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989): Hg. v. Günther Drosdowski. 2. Aufl. Mannheim u. a. Eich, Günter (1957/1970): Der Schriftsteller vor der Realität. In: Susanne Müller-Hanpft (Hg.) (1970): Über Günter Eich. Frankfurt a. M., 19–24. Frenzel, Ivo (1962): Ästhetik. In: Alwin Diemer/Ivo Frenzel (Hg.): Das Fischer Lexikon. Philosophie. Frankfurt a. M., 35–43. Grice, H. P. (1975): Logic and conversation. In: Peter Cole/Jerry L. Morgan (Hg.): Syntax and Semantics, vol. 3: Speech Acts. New York u. a., 41–58. Illich, Ivan (1991): Im Weinberg des Textes – als das Schriftbild der Moderne entstand; ein Kommentar zu Hugos „Didascalicon“. Frankfurt a. M. Lichtenberg, Georg Christoph (1765 ff./1968): Schriften und Briefe. Bd. 1: Sudelbücher. Hg. v. Wolfgang Promies. Darmstadt. Lidén, Ulla (1990): Der grammatische Tigersprung: Studien zu Heimito von Doderers Sprachterminologie. Stockholm.

Semiotisierung und Semantisierung von Erfahrung, Weltsicht und Wissen 

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Maag, Georg (2001): Erfahrung. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart/Weimar, 260–274. Neue Zürcher Zeitung. Tageszeitung. Zürich. Noelle-Neumann, Elisabeth/Winfried Schulz/Jürgen Wilke (Hg.) (1997): Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation. Frankfurt a. M. Ortner, Hanspeter (2000): Schreiben und Denken. Tübingen. Ortner, Hanspeter (2014): Das Vorbewusste und das kognitiv Unbewusste: die „Räume“, aus denen die konventionellen und die nicht-konventionellen Versprachlichungen kommen. In: Norbert Kruse u. a.: Unkonventionalität in Lernertexten. Zur Funktion von Divergenz und Mehrdeutigkeit beim Textschreiben. Berlin, 51–75. Petermann, Franz/Kay Niebank/Herbert Scheitauer (2004): Entwicklungswissenschaft. Entwicklungspsychologie – Genetik – Neuropsychologie. Berlin/Heidelberg. Polanyi, Michael (1985): Implizites Wissen. Frankfurt a. M. Pontalis, Jean-Bertrand (1968): Nach Freud. Frankfurt a. M. profil. Wochenmagazin. Wien. Rorty, Richard (2000): Wahrheit und Fortschritt. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. Rudolph, Ekkehart (1977): Aussagen zur Person. Zwölf deutsche Schriftsteller im Gespräch mit Ekkehart Rudolph. Tübingen/Basel. Searle, John R. (1991): Intentionalität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes. Übersetzt von Harvey P. Gavagai. Frankfurt a. M. Sengle, Friedrich (1972): Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Band 2: Die Formenwelt. Stuttgart. Simenon auf der Couch (1985): Fünf Ärzte verhören den Autor sieben Stunden lang. Mit einer Biblio­ graphie und Filmographie. Zürich. Simenon, Georges (1988): Der Romancier. In: Claudia Schmölders/Christian Strich (Hg.): Über Simenon. Zürich, 9–40. Stach, Reiner (2008): Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt a. M. Wellershoff, Dieter (1980): Das Verschwinden im Bild. Essays. Köln. Welzer, Harald (2002): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München. Zeit, Die: Wochenzeitung. Hamburg.

Britt-Marie Schuster

14. Abweichen als Prinzip Abstract: Das „Abweichen als Prinzip“ bezieht sich gleichermaßen auf das Sprachsys­ tem und den Sprachgebrauch, es ist intendiert und korrespondiert mit literarischen Arbeitstechniken, die eine intensive Bearbeitung von Sprachmaterial vorsehen. Abweichungen sind, wie eingangs an Beispielen aus den Werken von Kurt Schwitters und Arno Schmidt gezeigt wird, oft miteinander vernetzt und erfordern vom Rezipien­ ten, ihren Sinn vor dem Hintergrund eigener Erwartungen zu entschlüsseln (Kap. 2). Worauf sich Erwartungen beziehen können, wird dann ebenso geklärt wie die Frage, wodurch sich das herkömmliche Abweichen von literarischem unterscheidet (Kap. 3). Das „Abweichen als Prinzip“ ist dadurch gekennzeichnet, dass entweder sprachliche Einheiten, vom Phonem/Graphem bis zur Äußerung, aus ihren Bezugskontexten her­ ausgelöst, dekontextualisiert und anders als erwartbar kombiniert werden. Daneben können strukturelle Muster auf der Ebene des Wortes, der Wort(formen)bildung, des Satzes und Textmusters zwar angedeutet, dennoch verfremdet werden (Kap. 4). Zur Illustration werden prototypische Abweichungen im Bereich der Wort(formen) bildung und der Idiomatik vorgestellt (Kap. 5) und abschließend in ihren Sinndimen­ sionen erschlossen (Kap. 6). 1 Einführung 2 Zum Charakter des Abweichens 3 Das Abweichen in alltäglicher und literarischer Sprache 4 Verfahren des literarischen Abweichens 5 Fallstudien zum Abweichen 6 Fazit: Die zentralen Sinndimensionen des Abweichens 7 Literatur

1 Einführung Der literarische Sprachgebrauch weist gegenüber dem Sprachgebrauch in anderen Kommunikationsdomänen (etwa Alltag oder Wissenschaft) eine Reihe von Besonder­ heiten auf, die auf allen sprachlichen Ebenen sichtbar wird. Die unterschiedlichen Gattungen zeigen einerseits sprachliche Merkmale, die unauffällig sind, so etwa die Funktionalisierung der Personalpronomen der ersten und dritten Person zur Kenn­ zeichnung der Erzählperspektive in der Prosa (vgl. Jakobson/Pomorska 1982, 60). Andererseits zeigen sich in der Literatursprache der Moderne seit der Romantik gat­ tungsübergreifend auffällige Abweichungen von Sprachsystem und -gebrauch (vgl. Roelcke 2004). Die Abweichungen selbst können die allgemeine menschliche Sprach­ DOI 10.1515/9783110297898-014

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fähigkeit, die Einzelsprache mit ihren spezifischen Regularitäten und Besonderhei­ ten, den Sprachgebrauch und die entsprechenden Diskurs- und Texttraditionen in den Vordergrund rücken. Sie korrespondieren häufig mit individuellen Arbeitstech­ niken: Sprachmaterial wird deformiert, „entformelt“/„vermerzt“ (Kurt Schwitters) oder „verzettelt“ (Friederike Mayröcker) und im literarischen „Laboratorium“ (Gott­ fried Benn, vgl. Betten 2004, 3125) unerwartet miteinander kombiniert oder auf eine ursprüngliche „Grundsprache“ (Arno Schmidt) zurückgeführt. Sprachsystem und -gebrauch werden gerade wegen ihres sozial geformten Charakters als unzurei­ chende Werkzeuge betrachtet, um der Vielfalt und Heterogenität von Wahrnehmun­ gen und Erscheinungen gerecht zu werden oder als Medium von Erkenntnisgewinn und Selbstausdruck zu fungieren. Die literarische Sprachkritik setzt seit der Wende zum 20. Jahrhundert an der (vermeintlichen) Darstellungsfunktion von Sprache und an dem damit verbundenen Bedeutungsrealismus an und greift damit unterschiedli­ che erkenntnisphilosophische Diskurse auf (vgl. Eibl 1980, 746 ff., von Polenz 1983), die den konventionellen oder rhetorischen Charakter der Sprache betonen und mit Namen wie Fritz Mauthner und Friedrich Nietzsche verbunden sind. Herkömmliche Sprache erschließe nicht unverstellt das ‚Wesen‘ der Dinge, sondern sei Medium einer kontingenten, von Zwecken bestimmten kulturellen Übereinkunft. Die sog. „Sprach­ krise“ öffnet die Literatursprache für unterschiedliche Sprachexperimente/-verfrem­ dungen (vgl. Steger 1991). Das für Experimente konstitutive Abweichen ermöglicht es grundsätzlich, den sprachlichen Ausdruck aus seinen Bezügen zu lösen und/oder ihn zu modifizieren und dadurch eine neu- und andersartige Sprach-Welt entstehen zu lassen. Im Folgenden soll geklärt werden, was unter Abweichen zu verstehen ist (Kap. 2) und was das alltägliche Abweichen vom „Abweichen als Prinzip“ unterscheidet (Kap. 3). Es werden Grundoperationen des Abweichens vorgestellt (Kap. 4), von denen einige näher dargestellt (Kap. 5) und hinsichtlich ihres Sinns (Kap. 6) beleuch­ tet werden. Zwei Textbeispiele von Kurt Schwitters und Arno Schmidt sollen zunächst das Spektrum sprachlicher Abweichungen und ihren Charakter verdeutlichen (Kap. 1).

2 Zum Charakter des Abweichens Kurt Schwitters veröffentlicht 1919 zunächst in der Zeitschrift Sturm den heute zum Literaturkanon gehörigen Text An Anna Blume. Schon die ersten Zeilen zeigen sprach­ liche Abweichungen auf grammatischer, semantischer und pragmatischer Ebene: (1) An Anna Blume / Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir! / Du Deiner Dich Dir, ich Dir, Du mir, – wir? / Das gehört (beiläufig) nicht hierher! / Wer bist Du, ungezähltes Frauen­ zimmer, Du bist – / bist Du? – Die Leute sagen, du wärest – laß / […] (Kurt Schwitters 1919, 72).

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Neben dem Titel weisen sprachliche Ausdrücke und Verfahren wie die Apostrophe „Oh Du“ auf den Horizont der traditionellen Liebeslyrik hin. Die Formulierungen „meiner 27 Sinne“ und „ungezähltes Frauenzimmer“ sind zwar ungewöhnlich, ließen sich jedoch, interpretierte man sie als Hyperbeln, also als eine konventionalisierte Form des Abweichens (s. u.), mit einem Liebesgedicht vereinen. Die Formulierung „Ich liebe Dir!“ ist grammatisch abweichend; ihr Sinn lässt sich nur durch die Verknüp­ fung mit dem restlichen Text erschließen. Sie könnte als dialektale Markierung (etwa des Berlinischen) gedeutet und mit einem Stilebenenverstoß verbunden werden, dessen Sinn in der Parodie traditioneller Liebesgedichte liegen könnte. Allerdings würde eine derartige Interpretation außer Acht lassen, dass der syntaktische Rahmen „ich Dir, Du mir“ erneut aufgegriffen wird. Schwitters wählt nicht nur bewusst eine andere Konstruktion als die erwartbare, grammatisch ‚richtige‘, sondern spielt mit der unterschiedlichen Kasussemantik von Akkusativ und Dativ: Für den Akkusativ ist nach Weinrich (2007, 102) eine Subjekt-Objekt-Valenz mit dem semantischen Merkmal Verfügbarkeit, für den Dativ hingegen eine Subjekt-Partner-Valenz mit dem seman­ tischen Merkmal Zuwendung charakteristisch. Die Nutzung der Flexionsreihe („Du, Deiner, Dich, Dir“) greift dieses Spiel mit Grammatik und Kasussemantik noch einmal auf. Zwar verweist dies auf den gedanklichen Horizont eines interpersonale Bezie­ hungen thematisierenden Liebesgedichts, Schwitters geht es jedoch nicht darum, die Möglichkeiten des Miteinanders darzustellen, was auch der abweichende, sich selbst noch kommentierende metakommunikative Kommentar („Das gehört (beiläufig) nicht hierher!“) zeigt. Die Anadiplose „Du bist, / bist Du?“ zeigt vielmehr, dass „Anna Blume“ nicht auf eine authentische Person verweist, sondern dass Verfahren künst­ lerischer Kreativität sprachlich konstituiert werden. Diese werden hier ähnlich wie in den Gedichten Christian Morgensterns performativ vorgeführt, objektsprachlich aber nicht erörtert und gewinnen so eine „inszenatorische Qualität“ (Holzheid 2011, 61). Arno Schmidts Werk Zettel’s Traum zeigt nun andere Abweichungen, wie schon sein Beginn verdeutlicht: (2) Nebel schelmenzünftich. 1. DianenSchlag; (LerchenPrikkel). (Arno Schmidt 1970, 11) (3) Dän – Ich bin doch wirklich a woman, for whom the outside world exists. Aber verwichne Nacht …“: (brach ab; und musterDe Mich, / Den Ihr gefälligst den Draht aus’nander Haltn­ dän : - ? -/ […] (ebd., 11).

Die vielen nicht der Standardorthografie entsprechenden Schreibungen machen den Grad ihrer Normierung deutlich, indem sie zeigen, auf wie vielen Ebenen die Schrei­ bung auch hätte anders aussehen können. Schmidt führt historische mit nonkonfor­ men und diese wiederum mit akzeptablen Schreibungen zusammen und verschmilzt so zeitliche Schichten und kulturelle Horizonte miteinander (vgl. auch Henne 1993). Es finden sich sowohl ungewöhnliche Binnenmajuskelschreibungen, die, wie in der deutschen Sprachgeschichte ehemals üblich, an der Grenze zweier Basismorpheme erfolgen („DianenSchlag“, „LerchenPrikkel“), jedoch auch solche Schreibungen wie

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„musterDe“, die eine Binnenmajuskel zwischen Stamm und Flexionsmorphem auf­ weisen und keine historischen Vorläufer besitzen. Auf die im Text präsente historische Dimension weisen zudem Virgeln hin, die zu den ohnehin idiosynkratischen Inter­ pungierungen gehören. Darüber hinaus erinnert die Schreibung, wie es an „Haltn­dän“ oder „schelmenzünftich“, Elisionen und Apostrophierungen („aus’nander“) deutlich wird, an eine Transkription mündlichen Sprechens, was aber ebenso unsystema­ tisch wie das Code-Switching, der intrasententielle Wechsel von der deutschen in die englische Sprache, durchgeführt wird. Was die einzelnen, durch Interpunktion oder Zahlen segmentierten Teiläußerungen bedeuten, erschließt sich nur vor dem Hinter­ grund individueller Hypothesen, die im sprachlichen Material vage verankert werden: „Nebel“ könnte auf eine Wetterlage und/oder einen besonderen Geisteszustand hin­ deuten, wobei letzteres durch „schelmenzünftich“, eine mögliche Anspielung auf die Narren- und Schelmenliteratur des 16. Jahrhunderts, gestützt werden könnte. „Dia­ nenSchlag“ könnte durch seine Assoziation zum Schlagen einer Uhr einen Zeitpunkt andeuten, „LerchenPrikkel“ verweist ggfs. auf einen Vogelgesang. Bei Arno Schmidt wird ein radikales Dekontextualisieren sichtbar, da durch den Wechsel von einer Ein­ zelsprache oder einer Varietät zu einer anderen und durch lexikalische Neubildungen zunächst kein vertrauter Handlungsrahmen aufgebaut werden kann. Das Abweichen erfolgt vor einem Erwartungshintergrund, der sich, wie bei Schwitters und Schmidt gesehen, ausgelöst durch einen bestimmten Text, auf so unterschiedliche Ebenen wie orthografische Normen, grammatische Kategorien und Verknüpfungen, Formulierungsroutinen oder Textmuster bezieht. Dieser Hinter­ grund erlaubt es, die Abweichung und die davon betroffenen sprachlichen und/oder textlichen Ebenen zu identifizieren. Sprachliches Abweichen zwingt den Rezipien­ ten, gerade wenn es das Verständnis behindert, zur Aktivierung von Kenntnissen, auf deren Basis Hypothesen gebildet und Schlussfolgerungen gezogen werden, die über die Identifikation einer Abweichung hinaus auch zur Entschlüsselung ihres Sinns beitragen. Damit dem Abweichen ein Sinn zugewiesen werden kann, ist eine Art Bisoziation (vgl. Lenk 2007, 132) notwendig: Das Abweichen selbst muss ebenso wie der Hintergrund, vor dem das Abweichen erfolgt, erkennbar sein. Der Textproduzent gibt dem Rezipienten im Verweis auf ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘ kommentarlos Lektürehinweise, so dass Abweichen als eine Form des indirekten Kommunizierens verstanden werden kann (vgl. Sitta 1980, 211; Wilss 1989, 47), die Fix (2012, 33) folgen­ dermaßen paraphrasiert: „Ich sage jetzt etwas. Das Gesagte hat eine besondere Form. Nimm sie wahr. Versuche zu verstehen, was damit gemeint ist.“ Da das Abweichen in unterschiedlicher Hinsicht an Vorgeprägtes anknüpft, ist dem Abweichen ein Fort­ führen inhärent. Sowohl die Identifikation des Abweichens als auch die Zuweisung von Sinn betreffen den potentiellen, vom Text induzierten und von einem Rezipienten zu entfaltenden Horizont einer sprachlichen Abweichung. Dabei muss der Rezipient auch die Rekurrenz, Integrativität und Mehrdimensionalität des Abweichens berück­ sichtigen: Eine Gelegenheitsbildung wie „LerchenPrikkel“ ist durch die Schreibung markiert, die durch die Verwendung von Binnenmajuskeln gleichermaßen auf Verbin­

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dendes und Trennendes und damit auf die spontane ‚Gemachtheit‘ der Wortbildung hinweist. Zudem wird ein neuer Sachverhalt – zumindest transitorisch – sprachlich konstituiert, seine Existenz präsupponiert und eine andere Wirklichkeit angedeutet.

3 Das Abweichen in alltäglicher und literarischer Sprache Abweichen setzt eine Vorstellung davon voraus, wovon abgewichen wird. Normaler­ weise folgt die Kommunikation in unterschiedlichen Domänen Mustern. Diese sind nicht in allen Aspekten festgelegt und bilden einen Orientierungsrahmen dafür, welche sprachliche Handlung wann von wem in welcher Weise vollzogen werden kann. Muster, seien es Muster für die mündliche Interaktion oder Textmuster für den schriftlichen Verkehr, sind historisch gewachsen und besitzen zumeist einen hohen Grad an Verbindlichkeit. Sie werden häufig von Formulierungsroutinen begleitet, setzen jedoch nicht notwendig eine standardschriftliche Grammatik, doch aber Regel­ haftigkeit und – in der Schriftsprache – eine Orientierung an orthografischen Normen voraus; gleichzeitig sind sie an einem bestimmten Layout, an einer bestimmten Situ­ ierung oder einer bestimmten Typografie erkennbar. Die Muster und die mit Mustern verbundenen „erwartete[n] Gebrauchsweisen von Zeichen“ (Cherubim 1980, 127) werden in „Prozessen der Sozialisation“ erworben und in „Prozessen der Interaktion“ (ebd., 127) bestätigt. Die konventionelle Verknüpfung eines Ausdrucks mit seinen Bedeutungen erlaubt es, auf Gegenstände und Sachverhalte zu referieren, etwas zu prädizieren und damit Wirklichkeit(en) zu konstituieren. Sprachliche Handlungen zu vollziehen und damit auch sinnvolle Äußerungen zu tätigen, setzt eine grammatisch reguläre und semantisch konventionelle Verknüpfung von sprachlichen Ausdrücken voraus. Die Ausdrücke setzen sich wiederum regelhaft aus Verknüpfungen von Lauten (Phonemen) bzw. Buchstaben (Graphemen) und Silben zusammen, die sich ihrerseits wiederum zu größeren bedeutungstragenden Einheiten (Morphemen/Lexemen) ver­ binden. Abweichen kann sich somit auf die engeren phone-/graphematischen oder morphologischen Kontexte einer Wortform, die syntagmatischen Sprachkontexte, den Handlungs- und/oder den Situationskontext beziehen. Nicht nur Ausdrücken (Lexemen) und den Ausdrucksverknüpfungen haften Hinweise auf ihren üblichen Gebrauch an, sondern auch die Komponenten und ihre Verknüpfung lassen sich an Handlungen, Handlungsmuster und an die entsprechenden Verwendungssituatio­ nen rückkoppeln; sie bilden Kontextualisierungshinweise (vgl. Auer 1986). Die viel­ fältigen Kenntnisse, die schon zum reibungslosen Vollzug von einfachsten Alltagsin­ teraktionen notwendig sind, sind den Akteuren kaum bewusst: Die Orientierung an Mustern gleicht einem Automatismus und beruht auf „Erwartungen als verinnerlich­ tes Normen- und Musterwissen“ (Fix 2009, 1301), die einerseits „zwar relativ fixiert und objektiviert“ seien, andererseits „aber doch subjektiv, da sie an individuelles,

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d. h. unvollständiges und z. T. auch unsicheres Wissen sowie an Sprachgefühl und Sprachgeschmack der Erwartungsträger gebunden sind“ (Fix 2012, 30). Allerdings muss gemäß linguistischer Forschungen zu medialen, zu regionalen und sozialen Varietäten beachtet werden, dass der Sprachgebrauch heterogen ist und Sprecher/ Schreiber durchaus in der Lage sind zu entscheiden, wann die eine oder andere Vari­ etät angemessen ist (vgl. Günthner 2012, 64). Da die Grammatik der gesprochenen Sprache für die meisten Alltagsbedürfnisse durchaus funktional ist, bildet nicht nur eine standardschriftliche Norm den Horizont der Erwartungen. Angesichts der relativen Reichweite von Normen der Standardschriftsprache und auch angesichts der Tatsache, dass idiomatisierte Gebrauchsweisen von Sprache nicht immer grammatisch wohlgeformt sind (vgl. „auf gut Glück“), lässt sich das „Abweichen als Prinzip“ in der Literatur nicht nur vor dem Hintergrund der Stan­ dardschriftsprache bzw. eines starren Regelsystems begreifen. Da „Abweichungen […] auf allen Sprachebenen und in allen Sprachgebrauchsweisen möglich“ sind (Fix 2012, 25) und auch das Abweichen von globalen Mustern betreffen (vgl. Püschel 1985, 15), stellt sich grundsätzlich die Frage, vor welchem historischen Hintergrund in welchem Text das Abweichen erfolgt und ob sich das Abweichen auf die literari­ sche oder auf die nicht-literarische Sprache bezieht (vgl. Roelcke 2004, 3092): So ist etwa von Fall zu Fall zu entscheiden, ob eine Abweichung in einem schriftlichen Text Mündlichkeit evoziert, auf eine spezifische nur mündlich erscheinende Varietät des Deutschen hinweist oder gar als Weiterentwicklung von Strategien gedeutet werden kann, mit denen Mündlichkeit literarisch überformt und inszeniert wird. Zudem sind Sprache und Sprachgebrauch, wie in der Sprachtheorie schon seit Humboldt veran­ kert, selbst dynamisch, und abweichendes Handeln ist oft der Motor von Verände­ rungen. „Abweichen als Prinzip“ ist also vom alltäglichen Abweichen abzugrenzen, zumal das Abweichen v. a. in der Werbung nach Dittgen (1989) sogar so häufig sei, dass es Regeln für Abweichungen gebe, die sich auf alle sprachlichen Ebenen bezie­ hen. Alltägliche von literarischen Abweichungen zu unterscheiden ist m. E. nur dann möglich, wenn man sich dem Stellenwert von alltäglichen Abweichungen annähert. Menschliches Handeln besteht nach Joas (1996, 190) aus „unreflektierten Hand­ lungsgewohnheiten und kreativen Leistungen“, wobei „handlungsgenerierenden Gewohnheiten die grundsätzliche Offenheit der sozialen Situationen“ (Schäfer 2012, 36) gegenübergestellt werden kann, die „kreatives Handeln nicht nur möglich, sondern auch nötig macht“ (ebd.). Auch der Kontext, in dem sich unser sprachliches Handeln bewegt, ist ein „offen-begrenzter Kontext“ (vgl. Schuster 2010, 5 f.). Vielfach ist deshalb nicht nur auf die Musterhaftigkeit sprachlich-sozialen Handelns verwie­ sen worden, sondern auch auf die Adaptivität und Variabilität von Mustern, die vor dem Hintergrund einer aktuellen Aufgabe angepasst werden können (vgl. Fix 1991, 53): Muster sind somit Produkte von Zeit und auf Zeit. Abweichen ist

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ganz und gar nichts Defizitäres, sondern es stellt im Gegenteil eine Bereicherung sprachlichen Handelns dar. Etwas anders machen als üblich ist eine grundlegende Möglichkeit zur Kreativität, versteht man darunter die Fähigkeit, vor dem Hintergrund von Gegebenem, von Üblichem durch das Brechen von Konventionen etwas Neues zu schaffen. (Fix 2012, 23)

Dieses Wechselspiel zwischen Muster und Musterbruch kann mit Bunia (2009, 53) grundsätzlich darauf zurückgeführt werden, dass Sprache sich im „antagonisti­ schen Spiel einer rhetorisch kreativen und einer grammatischen konservativen Kraft“ bewegt, bei dem an den „Randbezirken des Regelhaften“ (ebd., 32) experi­ mentiert wird. Entsprechend sind in der rhetorischen Tradition auch Operationen des Abweichens verankert, die sich seit Quintilian bis heute auch in der alltäglichen Kommunikation bewährt haben (vgl. Knape 1992): adiectio (Hinzufügung, z. B. Pleo­ nasmus), detractio (Auslassung, z. B. Ellipse), immutatio (Vertauschung, z. B. Meta­ pher) und transmutatio (Umstellung, z. B. Hyperbaton). Keller (1994) (und vor ihm etwa Hermann Paul) hat im Rahmen seiner Sprachwandeltheorie überzeugend dafür argumentiert, dass Sprachwandel wesentlich auf sprachlichem Abweichen basiert, es jedoch nicht die Sprachveränderung intendiert, sondern ein ‚Vehikel‘ anderer kom­ munikativer Ziele ist, die im Wesentlichen darauf basieren, sich oder etwas interes­ sant darzustellen. Das alltägliche Abweichen richtet sich weder auf ein spezifisches Sprachwerk, noch ist es Ausdruck eines spezifischen Schreibprogramms und/oder wird metakommunikativ reflektiert. Auch richtet sich das Abweichen in Werbetexten oder feuilletonistischen Texten nicht darauf, auf die Möglichkeiten und Bedingun­ gen von Sprache aufmerksam zu machen oder Sprache als solche zu verändern, was sich schon am punktuellen Charakter der Abweichungen, ihrer fehlenden Integra­ tivität und Mehrdimensionalität erkennen lässt. Der Textproduzent folgt bewährten kommunikativen Gestaltungsstrategien, etwa dem für die Glosse charakteristischen Komisieren (vgl. Sandig 2006, 512 ff.). Das professionelle Handeln des Journalisten oder des Werbetexters gewährleistet so institutionelle Anschlusskommunikation. Während Abweichen im alltäglichen Sprachgebrauch der besseren, mit Rezeptions­ lust verbundenen oder effektiveren Verständigung dienen soll, dient die Reflexion über Sprache im Medium der Sprache einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Ausdrucks-, Erkenntnis- und Verständnismöglichkeiten. Mit dem „Abweichen als Prinzip“ in der Literatur ist das Ziel verbunden, „die Aufmerksamkeit auf die Gestaltung des Werks zu lenken“ (Roelcke 2004, 3092). „[D] as Spiel mit der Zerstörung der Formen“ soll so „in der Zerstörung auf sie“ hinweisen (Lachmann 1984, 328). Im Anschluss an die psychologische Kreativitätsforschung (vgl. Holm-Hadulla 2012) lässt sich dies dahingehend erweitern, dass die für die Kre­ ativität zentralen Operationen, so das Zusammenspiel von Destruktion und Konst­ ruktion sowie Divergenz und Konvergenz, durch die Bearbeitung von Sprache direkt sichtbar werden und einen die „Bedingungen der gewöhnlichen Sprache überlagern­ den Interpretationsspielraum“ (Motsch 1991, 99) eröffnen, so dass eine Zusatzbedeu­ tung bzw. unterschiedliche Deutungsangebote an die Rezipienten entstehen. „Abwei­

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chen als Prinzip“ bezieht sich damit nicht auf die Auslotung von Toleranzzonen des Sprachgebrauchs, sondern ist besonders bei literarischen Versuchen, „im Medium Sprache selbst literarisch zu operieren“ (Heißenbüttel 1980, 752) sichtbar. Dabei ist zu beobachten, dass sich die Bearbeitung des Sprachmaterials auch der „Gleichzei­ tigkeit des Ungleichzeitigen“, also den im Sprachdepot angesammelten Sedimenten, zuwendet und sie in einen Zusammenhang bringt (vgl. auch ebd., 756). Das „Abwei­ chen als Prinzip“ lässt sich vom gewöhnlichen Abweichen durch folgende Merkmale unterscheiden, die v. a. den Handlungsrahmen und die Gestaltung von Abweichun­ gen betreffen: handlungsenthobenes, sinnstiftendes Ab­weichen (Deutungsangebote machen etc.)

handlungseingebundenes, zweckgebundenes Abweichen (Werbezweck etc.)

an Prozessen der individuellen Kohärenzstiftung orientiert

am erfolgreichen Kommunizieren und kollektiver Verständigung orientiert

Sprachkritik oft erkennbar

Sprachkritik selten erkennbar

eher Vernetzung von sprachlichen Abweichungen auf unterschiedlichen Ebenen

eher kein mehrdimensionales sprachliches Abweichen

4 Verfahren des literarischen Abweichens Für das Abweichen ist ein Kontinuum von mehr oder weniger auffälligen Formen anzunehmen (vgl. Frier 1981, 131 f.; Holzheid 2011, 57; Schuster/Tophinke 2012, 15). Obwohl immer in Betracht zu ziehen ist, dass eine Abweichung, weil sie schon zur Gattungstradition gehört, nicht mehr auffällig ist (z. B. Enjambements) und die Wahr­ nehmung einer Abweichung auch von Lektüreerfahrungen abhängig ist, gibt es gra­ vierende Fälle, die das (primäre) Verständnis des Gelesenen beeinträchtigen und die dann vorliegen, wenn: a) sprachliche Einheiten, aus ihren sprachlichen und pragmatischen Bezugskontexten herausgelöst, neu kombiniert oder re-gruppiert werden und transitorische, nur auf das literarische Werk zu beziehende Sprach- und Handlungskontexte aufgebaut werden (Beispiele s. 5.1). b) Strukturen und Verknüpfungen einer Einzelsprache soweit modifiziert werden, dass sie das zugrundeliegende sprachliche Gerüst und dessen Bezugskontexte noch (schwach) evozieren, was ebenfalls zu transitorischen Sprach- und Handlungskontexten führt (Beispiele s. 5.2). Ad a) Dies ist dann der Fall, wenn Schriftelemente (Grapheme/Silben) aus dem Wort­ kontext gelöst und/oder so entstellt werden, dass sie als Schriftzeichen nicht mehr erkennbar sind, wenn grammatische Einheiten (etwa Affixe wie -lich, -ung) nicht an

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bestimmte Basismorpheme gebunden werden oder wenn lexikalische Ausdrücke in einem Syntagma so verwendet werden, dass sich keine bekannte Bedeutungsvariante (etwa Chiffren, Wortschöpfungen) ermitteln lässt; entsprechend dienen sie auch nicht mehr als Kontextualisierungshinweis. Auch (idiomatisierte) Äußerungen können von ihrer Bindung an bestimmte Handlungsmuster und Gebrauchssituationen entkop­ pelt werden. Ist die gewöhnliche Bindung an entsprechende Ko- und Kontexte nicht oder kaum erkennbar, ergibt sich eine Desemantisierung bzw. eine versuchte NeuSemantisierung, wobei (Klang)Assoziationen oder die visuell-ästhetische Qualität von Schrift in den Vordergrund treten. Eine etwas schwächere Form der Abweichung ist dann angesprochen, wenn ursprüngliche Verwendung(en) und angestammte Gebrauchsdomäne(n) von Lexemen und Mehr-Wort-Verbindungen (Phraseme, Prä­ gungen) schwach erkennbar sind, was hybride Sprach- oder Textformen entstehen lässt. Hier steht eine Heterosemantisierung im Vordergrund. Ad b) Dies betrifft phono-/graphotaktische Verbindungen, Muster zur Bildung von Wörtern und Wortformen, morphosyntaktische Verknüpfungen oder syntakti­ sche Strukturen. Der für die moderne Literatur nicht unübliche Verzicht auf Kongru­ enz oder Flexion, die Nivellierung des Unterschieds zwischen Wort, Wortgruppe und Satz, syntaktische Konstruktionsbrüche (Anakoluth), die vollständige Segmentierung eines Satzes durch Interpunktion und/oder textsyntaktische/-grammatische Abwei­ chungen (etwa eine besondere Verwendung von Artikeln und Pronomen) operieren ebenfalls auf der Basis von Strukturen. Das Operieren vor dem Hintergrund bekann­ ter Muster hat eine (text)pragmatische Seite, da auch übliche Formen der Handlungs­ sequenzierung außer Kraft gesetzt werden können (z. B. im absurden Theater). In diesen Zusammenhang gehört zudem die für moderne Literatur auffällige Nutzung grammatischer Darstellungstraditionen (etwa Flexionsparadigmen), die anverwan­ delt werden und häufiger zum Symbol eigener literarischer Produktivität werden (vgl. Schuster 2017). Die De- oder Heterostrukturierung ist besonders im Zusammenspiel mit der Textsemantik interessant.

5 Fallstudien zum Abweichen Im Folgenden sollen einige für die moderne Literatur charakteristische Formen, der Zusammenstellung in Kapitel 4 entsprechend, vorgestellt werden. Die sehr auffäl­ ligen Abweichungen vom erwartbaren Schrift- und Wortbild, die mit den dadaisti­ schen Gedichten Kurt Schwitters, Hugo Balls oder Richard Huelsenbecks oder für die Konkrete Poesie charakteristisch sind, bzw. Lautgedichte wurden zuletzt von Voeste (2012) dargestellt und sollen von der folgenden Schrittabfolge gekennzeichnet sein: Der erste Schritt sei die Dekontextualisierung, der zweite die Demontage des Wortbil­ des durch Zerlegung zumeist in Buchstaben oder seltener in Silben oder Morpheme: „Die Wortstümpfe transportieren eine pejorative Konnotation“ (ebd., 49), indem sie

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etwa unangenehme Lautassoziationen wachrufen. Der dritte Schritt sei die „Neu­ gruppierung oder sogar die weitere Zerlegung der Buchstabenform ohne Bezug zum Lese- oder Schreibprozess“ (ebd., 49), wobei die konkrete Poesie jedoch nicht bei der Dekonstruktion des Inhalts und der Fragmentierung der Form ende. Die Einheiten des Schreibens würden, „nachdem sie analysiert, bearbeitet, zerlegt und re-gruppiert werden, erneut mit Bedeutung aufgeladen“ (ebd., 50). Bei den Verfahren, die auf der Ebene von bedeutungstragenden Einheiten ansetzen, die vom Morphem bis zur Äußerung reichen, gestaltet sich das Zusammenspiel von Semantik, struktureller Ver­ knüpfung und Pragmatik komplexer.

5.1 Modifikationen und Neukombinationen von Wörtern Die Zerlegung eines Wortes in Phoneme/Grapheme oder Silben führt zu einer Debzw. Neu-Semantisierung. In der modernen Literatur wird stark mit der Wortbildung und der Bildung von Wortformen („die Lärme“ oder „der Versteck“ – Christian Mor­ genstern) experimentiert. Morphologische Abweichungen korrespondieren mit Gele­ genheitsbildungen, mit denen dann wiederum neue semantische und syntaktische Verknüpfungen möglich sind, was grundsätzlich als eine Heterosemantisierung zu begreifen ist. Zwar lassen sich bei neuen Wörtern oft reguläre Wortbildungsmuster erkennen, die entstandenen Wortbildungen sind z. T. nur schwach semantisch moti­ vierbar: Die Wortbildung „nachtumschient“ in „Die ganze Welt ist nur ein enger, nachtumschienter Minengang“ (Ernst Stadler 1913, Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht, 451), evoziert zwar noch die reguläre Wortbildung (ein departizipia­ les Rektionskompositum), aufgrund der unikalen Komponente „umschient“ (zu ‚umschienen‘?) und des angedeuteten syntaktischen Subordinationsverhältnisses (das ‚Umschienen der Nacht‘) ist sie assoziativ bzw. als Synthese divergenter Wahr­ nehmungen (Nacht – Zug – Schiene) zu verstehen. In der Literatur werden daneben periphere Muster genutzt: Phrasenkompositionen indizieren etwa durch Bindestriche einen Zusammenhang syntaktisch autonomer Einheiten: „Erscheint ein Wandervolk für sein Nach-Oben-Gehen?“ (Theodor Däubler 1916, Der kurze Tag, 393). Sie können dabei die Trennung zwischen Wort und freier syntaktischer Gruppe nivellieren, vgl.: (4) Das Aug, dunkel: / als Hüttenfenster. Es sammelt, was Welt war, Welt bleibt: den Wander-/ Osten, die / Schwebenden, die / Menschen-und-Juden, / das Volk-vom-Gewölk, / […] (Paul Celan 1963, Hüttenfenster, 127).

Lässt sich „Volk-vom-Gewölk“ als Phrasenkomposition begreifen, werden bei „Menschen-und-Juden“ syntaktisch autonome, koordinierte Einheiten miteinander verknüpft. Dieses als Abweichung zu sehende Verfahren ermöglicht es ebenfalls, zwischen divergenten Sachverhalten Zusammenhänge zu stiften oder Kontraste auf­ zuheben. Auch die Zusammenrückung hebt die syntaktische Autonomie einzelner

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Komponenten auf, wobei fraglich ist, ob etwa „wurzelauf“ in Beleg (5) auf die Wort­ gruppe ‚von der Wurzel hinauf‘ zurückzuführen ist. Dekompositionen wie „Ure men­ schen Kraft“ (ggfs. ‚Urmenschenkraft‘) können zu neuen syntaktischen Kategorien führen; so wird das nicht flektierbare Präfix ur- flektiert: (5) […] Angst weiß Hals / wölben inseln flüstern inseln / Säusel schweben wurzelauf / Ure men­ schen Kraft. (Franz Behrens 1917, Goethe, 126)

Die Nutzung der Randzonen der deutschen Wortbildung führt zu Gelegenheitsbildun­ gen, mit deren Hilfe neue Gegenstände/Sachverhalte konstituiert werden. Ein neu gebildeter Ausdruck kontextualisiert nicht bestimmte Gebrauchsvarianten, sondern ruft durch die genutzte Struktur und/oder durch seine Bestandteile, die veraltetes oder an bestimmte Varietäten gebundenes Sprachmaterial aufweisen können, Asso­ ziationen, Vorstellungen oder Emotionen hervor. Die Attraktivität von Gelegenheits­ bildungen besteht daneben darin, dass die mangelnde Gebrauchsfixierung einen Gestaltungsspielraum freisetzt, der auch die (morpho)syntaktische Dimension von Texten betrifft. Von Gelegenheitsbildungen ausgehend können neue grammatische Relationen und (text)semantische Bezüge ‚gesetzt‘ werden. Die zwei wesentlichen Operationen sind, entweder die Zusammengehörigkeit von Divergentem zu evozie­ ren, oder Zusammengehöriges zu trennen. Mit der vermeintlichen ‚Logik‘ von Wortbil­ dungs- und anderen grammatischen Prozessen (vgl. Beleg 1) kann auch nur gespielt werden, indem, wie im folgenden Beleg, neben anderen Auffälligkeiten (so das Spiel mit der Polysemie von „Hut“) Wortbildungsreihen gebildet werden, die nur vermeint­ lich durch Wortfamilien oder -felder und die Hauptarten der deutschen Wortbildung („Meine Flieger Flugstaffel Stoffel Staffelstab“) zusammengehalten werden, vgl.: (6) Der hohe Hut / schön ist ein Zylinder / die verfluchten Zivilisten / die verfluchten Zivilisten / die hohe Hut  / Obhut  / Kopfbedeckung  / Fliegende Hüter  / Meine Flieger  / Flugstaffel  / Stoffel / Staffelstab / Staffelei / AFLEI (Artilleriefliegerei) / IFLEI (Infanteriefligerei) / […] (Otto Nebel 1918, Zuginsfeld, 281)

Das Zusammenspiel der bisher angesprochenen Ebenen Wortformenbildung, Wortbildung, (Text)Semantik und (Text)Syntax zeigt sich besonders in symbolistischer, surre­ aler, expressionistischer und eher hermetischer Lyrik und Prosa, vgl.: (7) […] / o Wander-Welt! / Vermetzung an die Dinge: Nacht-Liebe, Wiesenakt: / Ich: Lagernd, bestoßen, das Gesicht voll Sterne, / aus Pranken-Ansprung, Zermalmungsschauer / blaut küstenhaft wie Bucht das Blut  / mir Egge, Dolch und Hörner.  / Noch Weg kausalt sich höckrig durch die Häuser / […] (Gottfried Benn 1912, Aufblick, 40)

Gelegenheitsbildungen entstehen hier auf der Basis der Derivation („Vermetzung“), Komposition („Zermalmungsschauer“) und Konversion („blaut“, „kausalt“). Das Verständnis der Gelegenheitsbildungen ist von den jeweiligen Komponenten abhän­

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gig: Während „Zermalmungsschauer“ möglicherweise den Schauer bei oder nach dem angedeuteten gewalttätigen Akt bezeichnet, lässt sich „Vermetzung“ entweder als reguläre Bildung zum altertümlichen Verb „metzen“ (‚niedermachen‘, ‚in Stücke hauen‘, ‚schlachten‘) oder als irreguläre Bildung zu „Metze“ (‚junge Frau‘, ‚Prostitu­ ierte‘) verstehen. Da im Gedicht beide Kontexte – Gewalt und Sexualität – aufgerufen werden, bleibt die Bedeutung des Wortes opak und stiftet einen poly-assoziativen Zusammenhang. Artikel, bestimmte wie unbestimmte, können fehlen (bei „PrankenAnsprung“, „Bucht“, „Noch Weg“). Dieses Fehlen korrespondiert mit der Vermeidung von Referenzfixierungsakten, einer genaueren Identifizierung und Situierung, was den Sachverhalten eine zeit- und raumenthobene, existenzielle Dimension verleiht – Menschen erscheinen anonym und herkunftslos. Die mit dem Artikelgebrauch ver­ bundenen Handlungen  – hier Typisierung statt Identifizierung  – korrespondieren mit anderen sprachlichen Ebenen. Auch die Vermeidung von finiten Flexionsformen zugunsten von Infinitiven (vgl. Beleg 8) kann einen agensenthobenen, typisierenden, zeit- und ortsunabhängigen Gebrauch indizieren, was generell der Fall ist, wenn auf Kongruenz oder die verknüpfende Funktion von Artikeln, Kon- und Subjunktionen verzichtet wird und Grammatikarmut zu Assoziationsreichtum führt (vgl. Fix 2007), vgl.: (8) Schrecken Sträuben / Wehren Ringen / Ächzen Schluchzen / Stürzen / du! (August Stramm 1914, Trieb, 108)

Gelegenheitsbildungen wie die o. g. ermöglichen es, neue syntaktische Bezüge zu schaffen und neue semantische Sinnrelationen zu eröffnen (vgl. Eggers 1984, 114). Die grammatischen Bezüge können so vage bleiben, dass etwa nicht entschieden werden kann, ob „blaut“ nur das Pronomen es erfordert (‚es blaut‘) oder nur ein Agens besitzt (‚Blut blaut‘). In moderner Lyrik wie Prosa können auch bekannte Verben in ihrer Bedeutung stark verändert werden. So verlangt der syntaktische Rahmen im Beleg (9), dass „sitzen“ mit einer fakultativen direktionalen Präpositionalergänzung (‚Ich sitze auf einem Stuhl‘ oder ‚in einem Raum‘) und nicht wie im Gedicht mit einer Akku­ sativergänzung („da sitzen sie die warme Sommernacht“) verbunden wird. An dieser Stelle wird das Verb so verwendet, als könnte man etwas aktiv ersitzen, was jedoch mit der Vorstellung des passiven Sitzens inkompatibel ist und eine andere Wirklich­ keit als die bekannte konstituiert, vgl.: (9) da sitzen sie die warme Sommernacht  / vor ihrer Höhlen schwarzen Unterwelt. (Georg Heym 1911, Die Vorstadt, 14)

Eine abweichende syntaktische Gliederung wird häufig durch Interpunktion ange­ zeigt: Den einzelnen Erscheinungen soll im Einzelnen nicht nachgegangen werden (vgl. Wörgötter in diesem Band). Grundsätzlich dient Interpunktion aber dazu, syn­ taktische Zusammenhänge – so die Abgrenzung von Sätzen oder die Abgrenzung von Hauptsatz und Nebensatz  – transparent zu machen. Eine abweichende Interpunk­

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tion ist somit in der Lage, das in die Orthografie eingeschriebene syntaktische Prinzip außer Kraft zu setzen. Es sind nicht nur interpunktionslose Texte möglich, wie das Wörgötter (2012) und Betten (2008, 215–219) für Marie-Thérèse Kerschbaumer gezeigt haben, sondern durch die Setzung von Punkten, Doppelpunkten oder Gedankenstri­ chen wird es möglich, satzsyntaktische Zusammenhänge neu zu strukturieren. Die damit verbundenen Effekte lassen sich auf der einen Seite als ein „Zerfließen“ von Satzgrenzen oder als „Strömen“ bezeichnen, anhand dessen ein von Assoziationen geleitetes, emergierendes Schreiben (vgl. Betten 2011, 137 zu Friederike Mayröcker) sichtbar wird. Auf der anderen Seite, besonders im Falle einer Interpunktion unter­ halb der Satzgrenze, ergibt sich eine Fragmentarisierung von Informationen: So sei das „Markenzeichen“ von Marlene Streeruwitz der Punkt, „der inhaltlich Zusammen­ gehörendes in isolierte Einzelwörter und Satzteile zerhackt“ (Betten 2011, 147), vgl.: (10) „Er hatte nicht angerufen. Sie hätte umsonst gewartet. Wäre dagesessen. Hätte sich aus­ malen können. Müssen. Warum er nicht anrief. Nicht. Alle Möglichkeiten in diesem Nicht verborgen. Aller Verrat und Betrug. Und mit einem Anruf aufzuheben gewesen.“ (Marlene Streeruwitz 1999, Nachwelt, 10)

Eine abweichende Interpunktion, die sich auf der textlichen Oberfläche zeigt, bedeu­ tet mehr als nur eine ‚Verletzung‘ (text)grammatischer Regularitäten: Es ist zunächst die informationsstrukturelle Gliederung betroffen. Auch die Verknüpfbarkeit von Sachverhalten und Thema sowie die Erkennbarkeit von Handlungsmustern können beeinträchtigt sein. Eine rein additive Reihung von Informationen habe etwa bei F. Mayröcker zur Folge, dass „Schemata des Erzählens, Berichtens und Argumentie­ rens“ nicht auszumachen seien (vgl. Betten 2008, 211).

5.2 Modifikation und Neukombination von idiomatischen Prägungen Neue Lexeme tragen dazu bei, sowohl eine anders geartete Wirklichkeit zu konsti­ tuieren als auch eine andere Form der Wirklichkeitswahrnehmung, sei diese asso­ ziativ, imaginativ oder emotiv, zu ermöglichen. Das Augenmerk wird nun jedoch nicht auf Chiffren, gewagte Metaphern oder Metonymien gerichtet (vgl. Leonardi in diesem Band). Vielmehr soll die Abweichung vom vorgeprägten Sprachmaterial in den Vordergrund treten. Sehr viele Autoren nutzen seit den 1920er Jahren das Kon­ textualisierungspotential von festen Wortverbindungen (vgl. von Polenz 1999, 481; Henne 1993; Betten 1985), die von syntaktischen Prägungen (Satzbaumuster) über semantische bis zu pragmatischen Prägungen (etwa Ich liebe dich!) reichen. Die von Feilke (1996) so benannten Prägungen sind pars-pro-toto-Konstruktionen, die mit Kommunikationsdomänen, Texttraditionen/-mustern oder Gebrauchssituationen eng verbunden sein können. Während Neuschöpfungen durch den abweichenden

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Gebrauch von Wortbildungsmustern gerade darauf gerichtet sind, dieses Kontextuali­ sierungspotential (mehr oder weniger) außer Kraft zu setzen, kann dieses auch gezielt eingesetzt werden (vgl. Wilss 1989). Prägungen mit einem auf unterschiedliche Hand­ lungsrahmen verweisenden Kontextualisierungspotential werden häufig unerwartet miteinander kombiniert (montiert), wodurch sich überlagernde und/oder disparate Eindrücke und Sinneswahrnehmungen etwa in einem urbanen Umfeld wie in Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz dargestellt werden können. Oft ist die Montage auch damit verbunden, einer von Typisierungen überformten sozialen Identität Aus­ druck zu verleihen. Liegt schon in der Montage selbst ein abweichendes Moment, so können Prägungen auch so verfremdet werden, dass ihr Kontextualisierungspo­ tential zwar erhalten bleibt, die Prägung als Prägung aber erkennbar wird und ihre soziokulturelle Bedeutung in den Vordergrund rückt. Beim folgenden Beleg liegt eine besondere Verfremdung von Prägungen vor: (11) An das Proletariat Berlins! Durchgangsverkehr – / Die Kohlennot ist groß / Spart Gas und Fahrkartenpreise! (Übergangsverkehr.)  / Fundsachen werden ersucht, die Bekanntma­ chung an der Leine zu führen / Hunde sind an den Bahnhofsbeamten zu versteuern / […] (Kurt Schwitters 1922, An das Proletariat Berlins, 140)

Wie in vielen anderen seiner Texte (vgl. Schuster 2017) nutzt Schwitters syntaktische Prägungen und deren Bedeutung, so den deontischen Infinitiv „ist/sind zu Xen“ zum Ausdruck von Forderungen. Daneben nutzt er passivische Formulierungen von Verben („werden ersucht“), die die Amtssprache kontextualisieren. Die Leerstellen werden so gefüllt, dass sich keine sinnhafte Kombination von Sachverhalten mehr ergibt. Mit solchen Verfahren wird nicht nur auf die Allgegenwärtigkeit des sprach­ lich Vorgeprägten verwiesen, sondern es wird die damit verbundene soziopragma­ tische Bedeutung, nämlich die Rolle und der Stellenwert von Aufforderungen und Anweisungen, sichtbar gemacht und hinterfragt. Syntaktische Prägungen sind oft mit bestimmten sprachlichen Handlungen verbunden. Die eine Widmung kontextualisie­ rende Prägung „An X“ aus Schwitters Gedicht (vgl. Beleg 1) weckt Erwartungen, von denen dann abgewichen wird. Prägungen und insbesondere auch Textsortenbezeich­ nungen rufen Textmuster auf, von denen dann abgewichen wird bzw. die bruchstück­ haft kombiniert werden, vgl.: (12) Gegen die ästhetisch-ethische Einstellung! Gegen die blutleere Abstraktion des Expressi­ onismus! Gegen die weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe! Für den Dadais­ mus in Wort und Bild, für das dadaistische Geschehen in der Welt. Gegen dies Manifest sein heißt Dadaist sein! (Richard Huelsenbeck 1920, 36)

Das Ende des Dadaistischen Manifests bilden verblose Konstruktionen („Gegen X“, „Für Y“), die in politischen Forderungskatalogen üblich sind. Die damit verbundenen Positionierungen setzen vor dem Hintergrund eines Manifests voraus, dass der Ver­ fasser aufrichtig handelt und die angegebenen Forderungen erreicht werden sollen.

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Die letzte Äußerung jedoch „Gegen dies Manifest sein heißt Dadaist sein!“ hebt die Inhalte der vorherigen Äußerungen auf bzw. hinterfragt die sprachliche Form des Aufforderns. Es bedarf, um sprachlich abweichend zu handeln, also nicht notwen­ dig der Neuschöpfung oder der Demontage einer sprachlichen Struktur, sondern das Abweichen kann sich auch bei der Verknüpfung von Sachverhalten und sprachlichen Handlungen zeigen. Sich Texttraditionen und ihren Mustern zu verweigern, indem (und obwohl) man sie über bestimmte Konstruktionen evoziert, ist als Musteranver­ wandlung zu deuten. Der Selbstwiderspruch ist ebenso wie die bisher schon themati­ sierten Indikatoren als eine Form des indirekten Kommunizierens zu sehen.

6 Fazit: Die zentralen Sinndimensionen des Abweichens „Abweichen als Prinzip“ bedeutet, dass das Abweichen als beabsichtigt deutlich wird. Damit ist häufig ein bestimmtes Wozu verbunden. Zwei zentrale Sinndimensio­ nen lassen sich unterscheiden: 1) Die Darstellungsfunktion von Sprache, ihr mimetischer Charakter wird bezwei­ felt (vgl. Bürger 1974, 94) und der konstruktiv-rhetorische Charakter von Sprache wird mittels des Abweichens implizit hervorgehoben. Dies korrespondiert mit Ver­ fahren, die Roelcke (2004, 3095) als innovativ einstuft und die v. a. in 5.1 beleuchtet worden sind. Charakteristisch sind okkasionelle und transitorische Bildungen, die zumeist nicht in den Sprachgebrauch anderer Kommunikationsdomänen eingehen. Diese transitorischen Bildungen operieren strukturell auf der Folie vertrauter Muster der Wort(formen)bildung, der syntaktischen Verknüpfung einzelner Elemente und werden durch Interpunktion unterstützt. Die Komponenten neu gebildeter sprach­ licher Ausdrücke (etwa Komposita) können sich in unterschiedlichem Umfang von ihren üblichen Gebrauchsbedeutungen entfernen oder diese nicht mehr erkennen lassen. Nach Imhasly (1974, 111; Hervorh. im Orig.) zeigt die dichterische Sprache durch willkürliche Substitutionen die Beliebigkeit und Relativität jedes bezeichnenden Aktes; sie durchbricht die Realitätsbedeutung der konkreten Sprache – und, a fortiori, der wissenschaft­ lichen Sprache – als eine unter vielen möglichen und setzt ihr andere entgegen.

Dies habe wiederum Konsequenzen für die „Sicherheit und Genauigkeit ihres Aus­ drucks“ (ebd.). Die skizzierten Formen des Abweichens und letztlich der Wunsch nach einer unverbrauchten und auch individuellen dichterischen Sprache jenseits der sozialen Matrix Sprache zeigen sich v. a. im Symbolismus, Formalismus und Expressionismus. Die Gelegenheitsbildungen auf unterschiedlichen Ebenen, die auch als sprachliche Vergegenwärtigung des Üblichen und Vertrauten verstanden werden können, zwingen den Rezipienten dazu, seinen Assoziationen und Kontiguitäten zu

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folgen und sie vor dem Hintergrund nicht üblicher, wenig privilegierter Äußerungs­ modi zu verstehen. Damit sind oft Entgrenzungen verbunden; so werden die Grenzen zwischen unterschiedlichen Sprachepochen, Gattungen, Kommunikationsdomänen und -medien nivelliert, wodurch ein eigener literarischer Raum mit eigenen Verste­ hensmöglichkeiten konstituiert wird. 2) Durch das Abweichen kann auf den sozialen Charakter des Sprachgebrauchs, seine soziale Gestalt und die damit verbundenen Texttraditionen verwiesen werden. Der Sprachgebrauch wird durch seine Geprägtheit als eine Art ‚Zwangsjacke‘ gesehen. Zum einen begründet ihre politisch-ideologische Indienstnahme (Pervertiertheit) Formen des Abweichens. So äußert sich Uwe Kolbe folgendermaßen: Es wurde mit ihr gemacht wilhelminische Ideologie, Zertrümmerung als Rettungsversuch in den zwanziger Jahren, Nazi-Ideologie. Dann kam das Neue, ex oriente lux, es ging dann wieder sehr schrecklich her mit der deutschen Sprache als Sprache einer eingesetzten Ideologie […]. (Uwe Kolbe 1986, 91)

Zum anderen werden ebenso die „abgeschliffenen Münzen“ (Imhasly 1974, 111), die unreflektiert verwendeten idiomatischen Prägungen, wie die kommunikativen Zumu­ tungen des öffentlichen Kommunizierens oder der rituelle Charakter von Alltags- oder Fachkommunikation thematisiert: Konkrete Poesie soll das Lesen verändern. Sie bildet in ihrer Konzentration auf die einfache, reine Form eine visuelle ‚Alternative zum zeitgenössischen Sprachschwall, [eine] unaufdringli­ che, aber radikale Kritik an der Masse von Gerede, dessen Hervorbringer nicht wissen, daß sie mit Tausenden fertiger Versatzstücke hantieren‘. (Franz Mon 1969, 112 zit. n. Voeste 2012, 52)

Diese Diagnosen können zu unterschiedlichen Formen des Abweichens führen: Neben den Strategien der Desemantisierung in der Konkreten Poesie können auch Muster sprachlichen Handelns etwa durch die Verwandlung von Prägungen ad absurdum geführt werden, oder es werden andere, v. a. nicht privilegierte sprachliche Varietäten gewählt oder randständige lexikalische Ressourcen genutzt. Die sprachliche Struktur selbst kann zu einem Symbol von Unterdrückung und der Bruch mit syntaktischen Mustern als Befreiung gedeutet werden (vgl. Betten 2008, 219). Die Geprägtheit des Sprachgebrauchs, aber auch seine Kontingenz kann zudem direkt vorgeführt werden, indem durch ‚Manipulationen‘ der Oberflächenstruktur sprachlicher Äußerun­ gen, die nur vermeintlich kohäsionsstiftend sind (etwa abweichende Flexions- und Wortbildungsreihen) und durch Prägungen unterschiedlicher Gebrauchskontexte anverwandelt und verfremdet werden (vgl. 5.2). Die Bearbeitung des Sprachmateri­ als, besonders die lose Koppelung unterschiedlichster Sprech- und Schreibroutinen (zunehmend unter Einschluss von Bildmaterial), gehören heute zu den dominanten Formen des „Abweichens aus Prinzip“. Da jedoch das „Abweichen als Prinzip“, um überhaupt erkennbar zu sein, sich auch selbst wieder erneuern muss, könnte in einer Zeit, in der in Werbung und Journalismus ein segmentierender Stil immer dominanter

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wird, auch ein Abweichen denkbar werden, das seine Vorbilder in einem wohlgeform­ ten explizit-hypotaktischen Schreiben in der Tradition von Heinrich von Kleist, Adal­ bert Stifter, Thomas Mann oder Robert Walser fände. Beispiele für die Gegenwartslite­ ratur finden sich bei Winfried Georg Sebald oder Brigitte Kronauer.

7 Literatur 7.1 Primärliteratur Behrens, Franz Richard (1979): Goethe (1917). In: Franz Richard Behrens: Werkausgabe. Band 1: Blutblüte. Die gesammelten Gedichte. München, 126. Benn, Gottfried (1956): Aufblick (1912). In: Gottfried Benn: Sämtliche Gedichte. Stuttgart 1998, 40. Celan, Paul (1963): Hüttenfenster. In: Paul Celan: Die Niemandsrose. Frankfurt a. M., 127. Däubler, Theodor (1916): Der kurze Tag. In: Die Aktion, Jg.6, Nr. 27/28, 393. Die Aktion. Hg. v. Franz Pfemfert (1911–1931). Berlin. Der Sturm. Hg. v. Herwarth Walden (1910–1932). Berlin. Heym, Georg (1911): Die Vorstadt. In: Georg Heym: Der ewige Tag. Leipzig, 14. Huelsenbeck, Richard (1920): Dada-Almanach. München. Mon, Franz (1994): Über konkrete Poesie (1969). In: Franz Mon: Gesammelte Texte 1. Essays. Berlin, 106–112. Nebel, Otto (1918): Zuginsfeld (1918). In: Gottfried Benn (Hg.): Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Darmstadt 1955, 281–282. Schmidt, Arno (1970): Zettel’s Traum. Frankfurt a. M. 2010. Schwitters, Kurt (1919): An Anna Blume. In: Der Sturm, Jg. 10, H. 5, 72. Schwitters, Kurt (1922): An das Proletariat Berlins. In: Der Sturm, Jg.13, H. 9, 140. Stadler, Ernst (1913): Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht. In: Die Aktion, Jg.3, H. 17, 451. Stramm, August (1914): Trieb. In: Der Sturm, Jg. 5, Nr. 15/16, 108. Streeruwitz, Marlene (1999): Nachwelt. Ein Reisebericht. Frankfurt a. M.

7.2 Sekundärliteratur Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, 22–47. Betten, Anne (2004): Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945. In: Werner Besch u. a. (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. vollst. neu bearb. und erw. Aufl. 4. Teilbd. Berlin/New York, 3117–3159. Betten, Anne (2008): Vom Satz zum Text zum Text ohne Satz – Linguistische und literarische Revolten der Siebziger Jahre am Beispiel von Friederike Mayröckers und Marie-Thérèse Kerschbaumers Prosa. In: Thomas A. Fritz/Günter Koch/Igor Trost (Hg.): Literaturstil – sprachwissenschaftlich. Festschrift für Hans-Werner Eroms zum 70. Geburtstag. Heidelberg, 195–226. Betten, Anne (2011): Das Öffnen des Mundes und das Öffnen der Sprache. Die Konzentration auf die Sprache in der österreichischen Literatur der Gegenwart. In: Anne Betten/Jürgen Schiewe (Hg.): Sprache – Literatur – Literatursprache. Linguistische Beiträge. Berlin, 132–154.

Abweichen als Prinzip 

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Michael Hoffmann

15. Ironie als Prinzip Abstract: Ironie ist für bestimmte Arten von Literatur konstitutiv. Die Textmuster der Textgattung Satire und der Textsorte Glosse zeichnen Ironie als Gestaltungsprinzip vor. In Exemplaren der belletristischen Gattungen Lyrik, Epik und Dramatik kann Ironie werkprägend in Erscheinung treten. Darüber hinaus gibt es ironische Reporta­ gen, Werbegedichte und Wahlplakate. Eckpunkte des tradierten rhetorischen Ironie­ verständnisses und Positionen neuerer Forschung aufgreifend sowie weiterführende Gedanken entwickelnd, wird dargelegt, wie man Ironisches in literarischen Texten erkennen und beschreiben kann. Nicht zuletzt trägt eine Fülle von Beispielen dazu bei, dass ein facettenreiches Bild ironischer Kommunikation entsteht. 1 Ironie und Bedeutung 2 Ironie und Wissen 3 Spielarten ironischer Indirektheit 4 Gattungs- und epochenbezogene Ironiebegriffe 5 Literatur

1 Ironie und Bedeutung 1.1 Zum Verhältnis von wörtlicher und gegenteiliger Bedeutung Ironische Äußerungen sind keine Normalformen der Kommunikation. Wer sich iro­ nisch äußert, spielt auf eine bestimmte Weise mit der Äußerungsbedeutung, was sich in einer Diskrepanz zwischen eigentlicher (wörtlicher) und uneigentlicher (nichtwört­ licher) Bedeutung manifestiert. Dies erfordert kommunikativen Mehraufwand bei allen Beteiligten. So müssen Signale gesetzt werden, die das Spiel mit der Äußerungs­ bedeutung erkennbar machen. Zumindest muss der erhöhte Interpretationsaufwand, den der Kommunikationspartner hat, ins Kalkül gezogen und abgeschätzt werden, ob das für die Interpretation der Äußerung notwendige Wissen vorhanden ist. Seit der Antike gehört Ironie zum rhetorischen Paradigma der Tropen (Erset­ zungsfiguren). Das Muster dieser rhetorischen Figur ist mit der „Ersetzung des eigent­ lichen durch den entgegengesetzten Ausdruck“ (Plett 2001, 116) allerdings nur grob beschrieben. Genauer wäre mit Blick auf den Kommunikationsprozess von einer Form der Verfremdung zu sprechen, bei der bestimmte Komponenten der Äußerungs­ bedeutung durch Konstruktion ihres Gegenteils zu erschließen sind. Der Verweis auf eine gegenteilige Bedeutung wird mitunter als unzutreffend zurückgewiesen. Es wird zu bedenken gegeben, dass die Erscheinungsformen von Ironie viel zu komplex und DOI 10.1515/9783110297898-015

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zu vielschichtig seien, um sie auf ein einziges semantisches Verhältnis zu reduzieren. So ist der Fall, dass das Gemeinte durch das genaue Gegenteil ausgedrückt wird, für Ottmers (2007, 182) „nur ein Extremfall ironischen Sprechens“. Konstitutiv sei jedoch in jedem Falle ein Spannungsverhältnis/eine Differenz zwischen dem Geäußerten und dem Gemeinten. Und für Hartung (1998, 147) steht anhand empirischer Untersu­ chungen (zu Gesprächen im Freundeskreis) fest, dass „eine griffige Formulierung […], was Ironie ist, wie man sie zweifelsfrei erkennen und problemlos einordnen kann“, außerhalb des wissenschaftlich Leistbaren liegt. Demgegenüber wird im Vorliegen­ den an der tradierten rhetorischen Bestimmung festgehalten, und zwar aus folgen­ den Gründen: Zum einen wird das Gegensatzkriterium für unverzichtbar gehalten, um Ironie von anderen Ersetzungsfiguren (wie Metapher und Allegorie) abzugrenzen (vgl. dazu auch Müller 1989, 189 f.); zum anderen wird für notwendig gehalten, gegen­ teilig Gemeintes auf verschiedene Komponenten von Äußerungsbedeutung beziehbar zu machen: 1) Der Gegensatz kann sich auf die begriffliche Bedeutung von Wörtern in bewerten­ den Äußerungen erstrecken. Positiv bewertende Wörter sind negativ bewertend zu verstehen und umgekehrt. Geäußert wird „Was für eine fortschrittliche Idee!“ Gemeint ist ‚rückständige Idee‘. Geäußert wird „Das ärgert mich sehr.“ Gemeint ist ‚Das freut mich sehr.‘ 2) Der Gegensatz kann sich auf das Verhältnis von Bejahung (Affirmation) und Ver­ neinung (Negation) in behauptenden Äußerungen erstrecken, das u. a. in gegen­ sätzlichen syntaktischen Bedeutungen eine Entsprechung hat. Geäußert wird „Konzertbesuche sind ganz nach seinem Geschmack.“ Gemeint ist ‚Konzertbesu­ che sind ganz und gar nicht nach seinem Geschmack.‘ 3) Der Gegensatz kann sich auf den kommunikativen Sinn einer Äußerung (die äußerungsfunktionale Bedeutung) erstrecken. So kann sich hinter einem Lob ein Tadel verbergen und hinter einem Tadel ein Lob. Als Beispiele die Äußerung „Mein Kompliment! Wie hast du das bloß wieder hinbekommen?“, die als Tadel zu verstehen ist, und die Äußerung „Schäm dich! Wie konntest du ihr nur so etwas antun?“, die als Lob zu verstehen ist. 4) Der Gegensatz kann sich auf die Existenzweise einzelner Referenzobjekte bzw. den Realitätsgehalt einer Äußerung insgesamt (die referentielle Bedeutung) erstrecken; die Ironie tritt durch Erkennen der Nichtexistenz des Referenzobjekts zutage. Als Beispiel der Ausruf „Natur, wohin das Auge blickt!“ – geäußert inmit­ ten eines Industriegebiets. 5) Der Gegensatz kann sich einzig und allein auf die Kommunikationsmodalität als stilistische Bedeutung erstrecken, d. h. auf die Einstellung des Sprechers zum Äußerungsinhalt und/oder zur Äußerungsfunktion. Was ernst geäußert wird, ist unernst, eben ironisch zu verstehen. Als Beispiel der unernst gemeinte Ratschlag „Überfall doch eine Bank!“ – geäußert in einer finanziell ausweglos erscheinen­ den Situation. Das Gegensatzverhältnis erfasst also nicht die Modalitäten ironisch und nichtironisch, sondern die Modalitäten ernst und unernst. In dieser Bezie­

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hung z. B. unterscheiden sich ironische Äußerungen und Witze grundlegend. Witze sind immer unernste und unernst gemeinte Texte. Die aufgezeigten Fälle von gegenteilig Gemeintem – es gibt sicher noch einige mehr – schließen sich nicht gegenseitig aus. Bei ironischen Äußerungen können mehrere Arten semantischer Gegensätze zusammen vorkommen.

1.2 Ironie als ästhetische Bedeutung Wer sich ironisch äußert, bringt nicht schlechthin ein Zeichen/eine Zeichenfolge mit gegenteiliger Bedeutung hervor; er reichert die Äußerung vielmehr mit einer ästheti­ schen Bedeutung an. Dies beruht auf einem Zeichengebrauch, der als Abweichung von einer kommunikativen Normalform zu charakterisieren ist. In poetischen wie nichtpoetischen Texten (als komplexen Äußerungen) kann Ironie im doppelten Sinne ästhetische Bedeutung erlangen: zum einen durch das Figurieren von wörtlicher und gegenteiliger Bedeutung als Gestaltungsidee, zum anderen durch einheitliches, strukturbildendes Ironisieren: Ironie tritt als Gestaltungsprinzip in Erscheinung. Dieser makrostilistische Aspekt von Ironie kann im Textmuster einer Textsorte oder Textgattung vorgezeichnet sein. Als Beispiele das Textmuster der Textsorte Glosse (vgl. Sandig 2006, 490–513) und das Textmuster der Textgattung Satire (vgl. Hoff­ mann 2003, 321). Letzteres hat gleichermaßen Geltung für satirische Dichtung wie für den satirischen Journalismus. Nun zeigen literaturwissenschaftliche Analysen, etwa zu ironischen Erzählhal­ tungen als Gestaltungsprinzip, wie speziell poetisch sich das strukturbildende Figu­ rieren eines Gegensatzverhältnisses von Geäußertem und Gemeintem ausnehmen kann. In Werken von Franz Kafka und Martin Walser beispielsweise wird Ironie „in der eisernen Bejahung entfremdeter und würgender Lebensbedingungen sichtbar“ (Liewerscheidt 1990, 61). In Werken von Thomas Bernhard und Birgit Vanderbeke werden Verfahren der Unter- und Übertreibung genutzt, „um den Umschlag von Wert­ vorstellungen in ihr jeweiliges Gegenteil kenntlich zu machen“ (Keßler/Krüger 2003, 213). In der Erzählung Das Muschelessen von Birgit Vanderbeke tritt die ironische Erzählhaltung darüber hinaus in der scheinbaren Identifikation der Ich-Erzählerin (als Mitglied einer Familie) mit den Lebensansichten des Vaters (als Oberhaupt der Familie) zutage: In richtigen Familien hat man Verbote nicht nötig, hat mein Vater gesagt, und sie sind wirklich überflüssig gewesen, weil wir uns immer verstanden haben, und wenn ich mal trotzig gewesen bin und gesagt habe, keineswegs, hat es von vorn angefangen, und es ist immer so lange gegan­ gen, bis ich auf seine Frage, haben wir uns verstanden, mich beeilt habe zu sagen, das haben wir, im Grunde ist ein Mißverständnis in einer richtigen Familie so gut wie ausgeschlossen, deshalb ist auch das Aufsässige an meiner Frage, warum müssen die Abonnementkonzerte eigentlich aufhören, vollkommen unmißverständlich gewesen […]. (Zit. n. Keßler/Krüger 2003, 210)

Ironie als Prinzip 

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Als Signal für ironisches Erzählen fungiert hier das scheinbare Einverständnis mit dem Inhalt von Ausdrücken wie richtige Familie, überflüssige Verbote und sich verstehen, die, obwohl sie Harmonie und gegenseitigen Respekt suggerieren, dem ein­ schüchternden Sprachgebrauch des Vaters entstammen und mit einem Familienbild korrespondieren, das die absolute Unterordnung unter seine Autorität einfordert. Angesichts der Vielfalt an poetischen Ausdrucksformen von Ironie gibt es Stimmen, die bezweifeln, dass eine rhetorische Begriffsbestimmung dieses Phäno­ mens in der Belletristik, z. B. bei einem Romancier wie Thomas Mann, greifen kann: Thomas Mann verwendet so gut wie nie das Verfahren der Substitution antonymer Ausdrücke, sondern das der graduell unter- oder übertreibenden Abweichung des Gesagten vom ‚eigentlich‘ Gemeinten, weshalb man eher von litotischem oder unernst hyperbolischem Sprachgebrauch reden sollte. Die Analyse kommt hier ohne weitere begriffliche Differenzierungen nicht aus. (Müller 1989, 191)

Hierzu wäre erstens anzumerken, dass man zwischen Ironie als Prinzip und ironischen Verfahren (wie Unter- und Übertreiben), mit denen Ironiesignale gesetzt werden, unter­ scheiden muss. Zweitens wäre daran zu erinnern, dass sich das ironische Gegensatz­ verhältnis auf verschiedene Komponenten der Äußerungsbedeutung erstrecken kann (vgl. 1.1) – Antonymie ist nur eine von vielen anderen ironisch nutzbaren semantischen Relationen. Drittens stellt bereits die Rhetorik ein Paradigma ironischer Tonlagen (Typen von Ironie) bereit, exemplifiziert an poetischen Texten, die einer begrifflichen Differenzierung dienen können. Das Spektrum reicht von „witzig-urban“ und „char­ mant“ über „höhnisch“ und „verächtlich“ bis zu „bitter-sarkastisch“ (vgl. z. B. Plett 2001, 118 f.). Spezielle poetische Ironiekonzepte sind damit jedoch noch nicht erfasst. Hinzu kommt, dass von der Eigenart poetischer Literatur, bedeutungsoffen zu sein, verschiedene Sinnangebote zu unterbreiten, selbstredend auch ironische Bedeu­ tungen/Sinngehalte betroffen sind. In epischen Werken ist mitunter nicht definitiv entscheidbar, ob sich eine Figur ironisch äußert (zu Gegebenheiten der fiktionalen Textwelt) oder ob es die Figur ist, die in ihren Denk- und/oder Handlungsweisen der Ironisierung durch andere (z. B. den Autor) unterliegt. Als Illustration zwei Auszüge aus dem Roman Die Blechtrommel von Günter Grass, Kapitel Glaube Hoffnung Liebe: Sie, dieselben Feuerwerker, denen ich, Oskar, davongelaufen zu sein glaubte, hatten schon vor mir den Markus besucht, hatten Pinsel in Farbe getaucht und ihm quer übers Schaufenster in Sütterlinschrift das Wort Judensau geschrieben, hatten dann, vielleicht aus Mißvergnügen an der eigenen Handschrift, mit ihren Stiefelabsätzen die Schaufensterscheibe zertreten, so daß sich der Titel, den sie dem Markus angehängt hatten, nur noch erraten ließ. Die Tür verachtend, hatten sie durch das aufgebrochene Fenster in den Laden gefunden und spielten nun dort auf ihre eindeutige Art mit dem Kinderspielzeug. (Günter Grass 1959, Die Blechtrommel, 203) Ich sorgte mich um meine Trommeln. Meine Trommeln gefielen denen nicht. Mein Blech hielt ihren Zorn nicht aus, mußte still halten und ins Knie brechen. Markus aber war ihrem Zorn aus­ gewichen. Als sie ihn in seinem Büro sprechen wollten, klopften sie nicht etwa an, brachen die Tür auf, obgleich die nicht verschlossen war. (Ebd., 204)

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So kann man in Oskars Ausführungen zum Schicksal des jüdischen Spielzeug-und auch Blechtrommelhändlers Sigismund Markus in der Pogromnacht von 1938 zum einen gespielte Naivität erkennen, „die auf der willkürlich-verharmlosenden, also grob unangemessenen Deutung von Wahrnehmungen beruht“ (Krumbholz 1980, 42). Zum anderen kann die Figur Oskar als ironisch gezeichnet verstanden werden – als „Karikatur der kleinbürgerlichen Einstellung […], die angesichts des Mordes vor der Haustür noch um den eigenen Besitzstand fürchtet“ (ebd., 43). Ironie stiftet als Gestaltungsprinzip einen figurationssemantischen Gestaltungs­ zusammenhang, in den sich ironisch instrumentalisierte Gestaltungsverfahren ein­ ordnen und an den sich ästhetische Funktionen anschließen lassen. Beispiele für ironisch instrumentalisierte Verfahren sind neben den bereits erwähnten (Unter- und Übertreiben) das Kontrastieren verschiedener Stilschichten, das Elaborieren mittels gehobener Sprache und euphemistisches Umschreiben (vgl. Agricola 1970, bes. 1056– 1059). Unter den ästhetischen Funktionen des Ironisierens in der poetischen Litera­ tur hat die Distanzierungsfunktion (Distanzierung statt scheinbarer Identifikation) einen herausgehobenen Stellenwert: die ironische Abwertung des Denkens, Fühlens, Verhaltens und Handelns literarischer Subjekte, die mit dem Standpunkt des Autors übereinstimmen kann, aber nicht muss. Ironische Distanzierung als Gestaltungs­ prinzip kann sich in den Titeln von Texten vorverweisend manifestieren  – wie in Heinrich Manns Roman Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten oder in Egon Erwin Kischs Reportage Paradies Amerika (vgl. Riesel 1963, 206). Der ironischen Erzählhaltung in der Epik entspricht in der Lyrik eine ironische Darstellungshaltung (die ironische Sicht auf einen dargestellten Zustand) – eine Kategorie, die allerdings weniger gut greifbar erscheint. Dass die Funktion der ironischen Distanzierung aber auch einem lyrischen Text strukturbildend eingeschrieben sein kann, lässt sich z. B. an Bertolt Brechts Gedicht Was ein Kind gesagt bekommt aufzeigen: Der liebe Gott sieht alles. Man spart für den Fall des Falles. Die werden nichts, die nichts taugen. Schmökern ist schlecht für die Augen. Kohlentragen stärkt die Glieder. Die schöne Kinderzeit, die kommt nicht wieder. Man lacht nicht über ein Gebrechen. Du sollst Erwachsenen nicht widersprechen. Man greift nicht zuerst in die Schüssel bei Tisch. Sonntagsspaziergang macht frisch. Zum Alter ist man ehrerbötig. Süßigkeiten sind für den Körper nicht nötig. Kartoffeln sind gesund. Ein Kind hält den Mund. (Bertolt Brecht 1937, Was ein Kind gesagt bekommt, 128)

Ironie als Prinzip 

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Ironie ist hier insofern ein Gestaltungsprinzip, als mittels durchgängiger Imitation einer autoritären, disziplinierenden Erziehersprache sowie mittels sprachlich-rhyth­ mischer Disharmonie die Distanzierung von einer Pädagogik erkennbar wird, die Kinder zu Untertanen erzieht. Hier ist es die unzutreffende, jedoch nicht von Brecht zu verantwortende Genrebezeichnung Kinderlied, die die ironische Distanzierung vorwegnimmt (vgl. Hoffmann/Stillmark 1998). In Werken der Dramatik verdienen einzelne Szenen und die szenisch gestaltete Figurensprache Beachtung. Ein Stan­ dardbeispiel ist die Grabrede des Markus Antonius in Shakespeares Julius Caesar, wo die Äußerung „denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann“ in refrainartiger Wiederholung erscheint (auch mit koordinierendem „und“ sowie intensivierendem „gewiß“), um das ausgedrückte moralische Werturteil als unaufrichtig zu signalisieren (vgl. Genzmer 2003, 139 u. 170–172). Im Folgenden geht es um Kenntnisse, die für die Gestaltung und Interpretation ironischer Texte von Belang sind.

2 Ironie und Wissen 2.1 Interaktionswissen Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass der Zweck ironischen Kommunizierens mit dem Erschließen einer gegenteiligen Bedeutung (vgl. 1.1) noch nicht als erfüllt angesehen werden kann. Doch worin besteht der eigentliche Zweck? Mit Wolf-Dieter Stempel (1976) gesprochen, der sich von Siegmund Freud und dessen Witz-Analysen inspirieren ließ, erfüllt sich der eigentliche Zweck von Ironie innerhalb einer Drei-Per­ sonen-Konstellation, die sich in ihrem Kern wie folgt darstellt: Ein Textproduzent (= Person 1/im Weiteren P1) unterbreitet einem Textrezipienten (= Person 2/im Weiteren P2) mittels ironischer Gestaltung das diskrete Angebot, sich mit ihm gegen eine dritte Person (im Weiteren P3), die verdeckt bloßgestellt wird, zu solidarisieren, d. h. zu ver­ bünden. Der Zweck ironischen Kommunizierens ist folglich erst dann erfüllt, wenn P2 mit P1 darin übereinstimmt, dass P3, die auch in Gestalt einer sozialen Gruppe, einer Institution o. Ä. am Kommunikationsprozess beteiligt ist, es verdient, der Lächerlich­ keit preisgegeben zu werden. In Grenzfällen kann die bloßgestellte Person der Text­ produzent selbst sein (Selbstironie) oder auch der Kommunikationspartner (Part­ nerironie). Ironische Kommunikation poetischen wie nichtpoetischen Zuschnitts zeichnet sich demnach typischerweise durch ein spezifisches Interaktionsprofil aus, das zugleich offenbart, worin die Komik von Ironie begründet liegt.

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2.1.1 Solidarisierung und distanzierende Bloßstellung im nicht-poetischen Kommunikationsprozess Im Folgenden soll an einem Beispiel aufgezeigt werden, wie das Wissen um die DreiPersonen-Konstellation das Verhältnis von Solidarisierung und distanzierender Bloß­ stellung erleuchtet. Der Beispieltext liegt außerhalb von literarisch-poetischer Kom­ munikation; es handelt sich um einen Moderationstext des Hörfunks: Der Flughafen BER – ein ambitionierteres Projekt als die Große Mauer in China oder die Pyrami­ den von Gizeh – die waren auch viel schneller fertig. (Hörbeleg BB-Radio, 08.04.2013, 7.55 Uhr)

Int era kti un d Ko n

en iss sw on

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TEXT

I nd t- u tex

X (P3) Bloßstellung

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on sw iss en

Dieser Text legt folgende Interpretation nahe: ‚Ich, der Moderator (P1), erwarte von meinen Zuhörern (P2) Übereinstimmung dahingehend, dass alle diejenigen, die für das Flughafenneubaudesaster von Berlin-Schönefeld Verantwortung tragen (P3), als lächerliche Personen anzusehen sind.‘ Um den ironischen Kommunikationsprozess zu modellieren, bedarf es keines speziellen Ironiemodells (so auch Warning 1976, 416). Im nichtpoetischen Bereich greift ein einfaches Kommunikationsdreieck als Kommunikationsmodell, in das sich das Interaktionsprofil von Ironie sowie grundlegende Wissensvoraussetzungen (Weiteres siehe 2.2) problemlos eintragen lassen (vgl. Abb. 1). Anhand dieses Modells kann folgende Interpretationsregel, die Aktivierung von Interaktionswissen betref­ fend, aufgestellt werden: In ironischen nichtpoetischen Äußerungsformen (Alltags­ gesprächen, Gebrauchstexten) manifestiert sich auf diskrete Weise die Erwartung des Textproduzenten ICH (P1), dass der Textrezipient DU (P2) ein Angebot zur Solidarisie­ rung annimmt, d. h. die verdeckt gestaltete Bloßstellung von X (P3) als gerechtfertigt ansieht.

ICH (P1)

Solidarisierung

DU (P2)

Abb. 1: Kommunikationsdreieck (in Anlehnung an Große 1976, 30) mit Interaktionsprofil Ironie

Ironie als Prinzip 

 337

2.1.2 Solidarisierung und distanzierende Bloßstellung im poetischen Kommunikationsprozess Der kommunikative Mehraufwand, den ironische Äußerungen aller Art erfordern, potenziert sich nochmals, wenn wir es mit poetischer Ironie zu tun haben. Die qua­ litativ erhöhten Anforderungen an die Gestaltungs- und Interpretationskompetenz resultieren letztlich aus den Eigenheiten der poetischen Kommunikation. In poeti­ schen Texten liegen die Dinge insofern grundlegend anders, als die Drei-PersonenKonstellation Bestandteil einer fiktionalen Textwelt ist (zum Unterschied zwischen fiktional und fiktiv siehe Weidacher 2007, 38 f.). Dies lässt sich an einer Karikatur, einem poetischen Text mit sprach- und bildmedialen Komponenten (vgl. Abb. 2), relativ schnell überblicken.

Abb. 2: Karikatur von Klaus Stuttmann (Potsdamer Neueste Nachrichten v. 19.05.2012, 6)

Wie zu erkennen ist, wendet sich hier eine Person (P1), die nicht identisch ist mit dem Karikaturisten, an eine andere Person (P2), die nicht mit den Rezipienten der Karika­ tur identisch ist, und äußert sich über Menschen, die zeitlich weit auseinander liegend an einem Baugeschehen beteiligt waren (P3a) bzw. sind (P3b). Beide Gruppierungen (P3a und P3b) bleiben in soziokultureller Hinsicht unbestimmt; sie werden lediglich mit den Pronomina die und sie bezeichnet. P1 scheint dabei in gewisser Weise die Haltung des Karikaturisten zu repräsentieren; P2 scheint in gewisser Weise alle Rezi­ pienten der Karikatur zu repräsentieren. Einer Karikatur als Kunstwerk gerecht zu werden verlangt indes zu beachten, dass es Solidarisierungsangebote auf verschiede­ nen Kommunikationsebenen gibt: zum einen textweltintern zwischen P1 und P2 im Hinblick auf die mit sie bezeichneten Menschen (P3b), zum anderen textweltextern

338 

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P2

un d tex tKo n

en iss nsw

Kontext- und Interaktionswissen

LeserLESER standpunkt

ktio era Int

P1

POETISCHER TEXT Bloßstellung von/ Solidarisierung Solidarisierun mit P1/P2/P3

und

Autorenstandpunkt

P3

ttex Kon

AUTOR

Int era kti on sw iss en

zwischen dem Karikaturisten und seinem Publikum im Hinblick auf den Standpunkt von P1 als Protagonisten der ironisierten Textwelt. Vom Publikum wird erwartet, dass es das textweltinterne Solidarisierungsangebot annimmt und die indirekt aus­ gedrückte kritische Position zum Flughafenneubaudesaster von Berlin-Schönefeld übernimmt. Das einfache Kommunikationsdreieck (vgl. 2.2.1) muss demnach um eine zweite Kommunikationsebene erweitert werden (vgl. Abb. 3). Die Teilnehmer an der textweltexternen Kommunikation seien mit den traditionellen Begriffen Autor und Leser bedacht.

Abb. 3: Kommunikationsdreieck bei poetischen Texten (in Anlehnung an Große 1976, 42) mit Interaktionsprofil Ironie

In poetischen Texten gibt es keine Grenzfälle ironischen Kommunizierens. Es kommen alle personalen Positionen, d. h. P1, P2 und P3 als Subjekte ironischer Solidarisierung wie Bloßstellung in Betracht, und es sind darunter nicht nur menschliche Protagonis­ ten einer narrativen oder dramatischen Handlung zu verstehen, sondern auch Fabel­ wesen, andere Phantasiefiguren, ja auch Erzählhaltungen und lyrische Subjekte, die ohne Bindung an eine konkrete menschliche Gestalt begegnen. Der folgende Textauszug aus der satirischen Reportage Heute blau, morgen blau … und übermorgen endlich Schluß mit der Lohnfortzahlung von André Mielke (Eulenspiegel 6/1996, 40–41), die ein Beispiel für die satirische Abwandlung einer journalisti­ schen Textsorte ist (vgl. Hoffmann 2003, 324–326), enthält textweltextern ein Angebot zur Solidarisierung mit P3 und zur Distanzierung von P1, also ein Angebot, das dem in der Stuttmann-Karikatur (s. o.) genau entgegengesetzt ist. 15.00 Uhr: Die junge Brünette ist vielleicht zwanzig und hat sich, um ihren Arbeitgeber schnell noch mal zu schädigen, Kaffeewasser über die Hand getan. Die älteste Methode der Welt für einen Kurzurlaub auf Krankenschein. Doch diesmal hat sie versagt. Es ist nur eine „Verbren­

Ironie als Prinzip 

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nung ersten Grades“, wie die Chirurgin sofort erkennt. Die maßlos enttäuschte „Patientin“ pro­ biert, die Sache in Richtung roter Hautkrebs zu drehen: „Ist es normal, daß es so brennt?“ Es ist normal. Verbrennung brennt nun mal. Kann sein, daß morgen noch Bläschen kommen, tröstet Frau Doktor. Das wäre dann der zweite Grad. Aber verkohlen wird die Haut mit Sicherheit nicht mehr. Verband drum. Pech gehabt.

Textweltintern strebt ein Berichterstatter in der fiktionalen Rolle eines Reporters (P1) Solidarisierung mit der Leserschaft seiner Reportage (P2) an, indem er Kranke/Pati­ enten in einer Notaufnahme (P3) auf ironische Weise als Menschen bloßstellt, die sich Sozialleistungen erschleichen wollen. Das Solidarisierungsangebot für die Leser des satirischen Textes hingegen besteht gerade darin, a) die Ironie von P1 als unangemes­ sen zu bewerten, den Reporter in seiner Lächerlichkeit zu sehen, nämlich als Sprach­ rohr von Politikern, die einem Großteil der Bevölkerung unterstellen, Sozialleistungen missbräuchlich in Anspruch zu nehmen, und b) dem vorgeblichen Simulantentum von P3 das eigene Wissen über Krankheiten und Unglücksfälle entgegenzusetzen. Für den auf Ironie ausgerichteten Interpretationsprozess spielen offensichtlich Wissens­ bestände anderer Art eine Rolle, worauf im folgenden Abschnitt näher einzugehen ist. Zusammenfassend sei wiederum eine Interpretationsregel, die Aktivierung von Interaktionswissen betreffend, formuliert: Ironische poetische Texte enthalten Soli­ darisierungs- und Distanzierungsangebote auf zwei Kommunikationsebenen: Auf der Ebene der textweltinternen ironischen Kommunikation ist der Leser gefordert, die fik­ tionale Drei-Personen-Konstellation als eine ironische zu rekonstruieren; er muss im Rahmen dieser Konstellation das Verhältnis von Solidarisierung und distanzierender Bloßstellung klären. Auf der Ebene der textweltexternen Kommunikation hingegen ist der Leser gefordert, den Standpunkt des Autors zu entschlüsseln und dessen Solidari­ sierungsangebot im Hinblick auf die ironisierte Textwelt zu prüfen – ein Angebot, das den textweltinternen ironischen Verhältnissen diametral entgegengesetzt sein kann. Es sind unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten, unterschiedliche Leserstand­ punkte in Rechnung zu stellen. Stichhaltige Aussagen über den Autorenstandpunkt fallen eher in den Zuständigkeitsbereich der Literaturwissenschaft und weniger in den des Lesers. Möglich ist, dass der ironische Gehalt eines poetischen Textes nicht erkannt wird oder dass als ironisch verstanden wird, was nicht ironisch gemeint war.

2.2 Kontextwissen Interaktionswissen (2.1) und Kontextwissen hängen eng zusammen, begleiten die Kommunikation aber als je spezifische Wissensvoraussetzungen. Interaktionswis­ sen wird gebraucht, um herauszufinden, wie der ironische Gehalt einer Äußerung zu erschließen ist. Kontextwissen ist erforderlich, um zu erkennen, dass es sich um eine ironische Äußerung und somit um eine Abweichung von einer kommunikativen Nor­

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malform handelt. Der Fokus richtet sich dabei auf die Äußerungsgestalt in Relation zu Kontexten, die von ganz unterschiedlicher Art sein können. Soll ironische Kommuni­ kation gelingen, setzt dies voraus, dass auch das Kontextwissen von Textproduzent und Textrezipient in den für das Ironische einer Äußerung maßgeblichen Punkten übereinstimmt. Auf die Frage, welches Wissen verfügbar sein muss, um eine sprachliche Äuße­ rung zu verstehen, wird gemeinhin geantwortet, dass Wissensbestände aus drei ineinandergreifenden Wissensbereichen relevant sind: a) Zeichen- und Zeichenge­ brauchswissen, b) Weltwissen (enzyklopädisches Wissen) und c) Situationswissen (vgl. etwa Adamzik 2001, 25). Für ironische Äußerungen gelten diese Erkenntnisse auch. Zeichen- und Zeichengebrauchswissen wird benötigt, um die Diskrepanz zwi­ schen wörtlicher und gegenteiliger Bedeutung interpretativ zu bewältigen. Weltwis­ sen bildet einen Interpretationsrahmen, innerhalb dessen u. a. zu bestimmen ist, ob und inwiefern der Äußerungsinhalt im Einklang steht mit allgemeiner, kulturspezi­ fischer oder individueller Weltkenntnis. Und Situationswissen, das ebenfalls einen Interpretationsrahmen bildet, ist schon deshalb erforderlich, weil zwischen poeti­ scher und nichtpoetischer Ironie ein grundlegender situativer Unterschied besteht. Es ist ferner erforderlich, um von der zum Ausdruck gebrachten Haltung eines Äuße­ rungsproduzenten (des Ironisierenden) auf dessen wahre Haltung (das Ironisierte) schließen zu können. Letztlich müssen alle genannten Wissensbestände und -bereiche herangezogen werden, um herauszufinden, woran Ironie festgemacht werden kann. Die Antwort auf die Frage nach den Indikatoren ironischer Kommunikation, den Ironiesignalen, erweist sich als ein weites und problembehaftetes Feld. Wenn Rainer Warning (1976, 420) feststellt, „Ironiesignale verfügen über kein eigenes System, über keinen eigenen Code“, so muss dies aus zwei Gründen relativiert werden. Der erste Grund: Ironie­ signale gehören a) zum Muster der rhetorischen Figur Ironie und somit zum rheto­ risch-ästhetischen Code der Tropen und Figuren bzw. b) zum Muster des poetischen Ironisierens und somit zum literarisch-ästhetischen Code der (autorentypischen) Schreib- und Gestaltungsweisen. Ironiesignale mögen zwar über keinen eigenen Code verfügen, sie sind aber i. d. R. codegebunden und in dieser Bindung Signalmus­ ter (types). Zu Indikatoren (tokens) indes werden sie erst in konkreten Äußerungsbzw. Textexemplaren; dabei „ist nicht abzusehen, in welchem Gewand sich Ironie vollzieht“ (Stempel 1976, 233). Vornehmlich in der poetischen Literatur ist damit zu rechnen, dass mit ironischen Mustern kreativ umgegangen wird und auch neue kreiert werden. Der zweite Grund: Ironiesignale mögen zwar kein eigenes System bilden, sie sperren sich aber nicht gegen eine systematische Erfassung, da man sie in einer Syste­ matik möglicher Kontexte verorten kann und muss. Ironiesignale sind nicht nur code­ gebunden, sie sind vor allem kontextgebunden. Ihre Beschreibung als Muster erfor­ dert es, Kontexte mit zu reflektieren, ihre Identifizierung in der Kommunikation ist an Kontextwissen geknüpft. Da man sie also in den Relationen zwischen Äußerungen/ Äußerungseinheiten und Kontexten lokalisieren muss und da Äußerungen (in ihrer

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Eigenschaft als Zeichenträger) erkanntermaßen nur mit Kontexten und Kontextwis­ sen in ironiekonstituierenden Relationen stehen, stellt sich für die Wissenschaft die Aufgabe, diese Relationen systematisch zu erfassen und zu beschreiben. Hierzu lohnt es sich, die Systematik sinnkonstituierender Zeichenrelationen bei Coseriu (1994, bes. 92–137) zur Kenntnis zu nehmen. Ohne dieser Systematik streng zu folgen, was sich schon des engen Kontextbegriffs und der teils eigenwilligen Terminologie wegen verbietet, entsteht dann folgendes Bild ironiekonstituierender Zeichenrelationen und kontextbezogener Wissensvoraussetzungen: 1) Ironiesignale, die aus der Relation zwischen sprachlichen Zeichen und anderen sprachlichen Zeichen hervorgehen (Wissen über den sprachlichen Kontext): Ein für poetische Literatur besonders wichtiger Ironieindikator ist das „Signal des textlichen Widerspruchs“ (Plett 2001, 122), das sprachlich in stilistischen Inkongruenzen mani­ fest wird, etwa in nicht zueinander passenden Stilschichten, oder aus anderweitig formulativ widersprüchlichen Textstrukturen hervorgeht. Als Beispiel die Kammer­ diener-Szene aus dem Trauerspiel Kabale und Liebe. Lady Milfords Kammerdiener antwortet auf die Frage, ob unter den siebentausend nach Amerika verkauften Solda­ ten auch „gezwungene“ sind: O Gott! – nein – lauter Freiwillige. Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch’ vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? – Aber unser gnä­ digster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Paradeplatz aufmarschieren und die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster spritzen und die ganze Armee schrie: „Juchhe! Nach Amerika!“ (Friedrich Schiller 1784, Kabale und Liebe, 31 f.)

Durch den sprachlichen Kontext offenbaren sich Widersprüche zwischen Wortzei­ chen von unterschiedlicher Komplexität und in unterschiedlicher Funktion. Wider­ sprüche tun sich auf a) zwischen der entschiedenen Leugnung von Gezwungen­ heit („O Gott! – nein – lauter Freiwillige.“) und der nachfolgenden Darstellung von Aufbegehren gegen die Rekrutierung („vorlaute Bursch’ traten heraus und fragten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe“); b) zwischen der Bekundung von Wertschätzung (elativisch intensiviert: „gnädigster Landesherr“), die Solidarisierung mit einem Tyrannen suggeriert, und der Wiedergabe eines unmenschlichen militä­ rischen Befehls mittels Kausativkonstruktion („ließ die Maulaffen niederschießen“); c) zwischen einer lautstarken interjektionalen Gefühlsbekundung („Juchhe!“), die Begeisterung suggeriert, und den Einzelheiten der zuvor geschilderten grausamen Begebenheit. Darüber hinaus suggerieren abschätzige Rekrutenbezeichnungen („vor­ laute Bursch’“; „Maulaffen“) Entsolidarisierung mit den Opfern der Tyrannei. Der sprachliche Kontext offenbart darüber hinaus, dass die Ironie textweltintern zwei­ fach perspektiviert ist: Sie tritt zum einen in der Perspektive des Kammerdieners in Erscheinung, zum anderen in der Perspektive der Rekruten, vermittelt durch Rede­ wiedergabe.

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2) Ironiesignale, die aus der Relation zwischen sprachlichen Zeichen und Zeichen anderer Medialität hervorgehen (Wissen über den semiotischen Kontext): Hierher gehört zunächst das „Actio-Signal“ (Plett 2001, 121). Die Ironie wird durch Gestik, Mimik, Prosodie – auch in parodistisch-imitierender Form – angezeigt, was u. a. für Theaterinszenierungen von Relevanz ist. Hierher gehören ferner graphische und typographische Signale. Äußerungen oder Äußerungsteile werden in Anführungszei­ chen gesetzt, was dem Zitieren einer fremden Äußerung gleichkommt (vgl. den For­ schungsbericht bei Lapp 1992, 80 f.). Schrifttypen werden anachronistisch verwendet und mit zeitgemäßen kombiniert – wie in einem satirischen Wahlplakat der SPD aus dem Jahre 1972, wo die eine Oberzeile bildende Anrede der Zielgruppe mit dem Wort­ laut Deutsche Arbeiter! in Frakturschrift gesetzt wurde. Darüber hinaus ist die Rela­ tion zwischen sprach- und bildmedialen Zeichen mit dem Signal des Sprache-BildWiderspruchs zu beachten. Die sprachliche Äußerung widerspricht dem gezeigten Bild und umgekehrt. 3) Ironiesignale, die aus der Relation zwischen sprachlichen Zeichen und Zeichen in anderen Texten hervorgehen (Wissen über den textuellen Kontext): Hierher gehört das „Zitat-Signal“; es entsteht durch „Einbettung von Texten oder Textstücken in einen neuen Kontext, der ihren ursprünglichen Sinngehalt ins Gegenteil verkehrt“ (Plett 2001, 121). Als spezieller textueller Kontext ist das Ironiekonzept eines Autors aufzufassen, das in mehreren seiner Werke realisiert wird. Interessant ist, dass sich Schriftsteller gelegentlich als Werbetexter betätigen und dass dabei auch ironische Werbetexte entstehen. Als Beispiel das Reklamegedicht Träumerei von Joachim Rin­ gelnatz, geschrieben für eine Tabakfabrik, in dem „Versatzstücke trivialromantischer Lyrik-Traditionen“ (Meyer 2010, 284) enthalten sind, sprich sprachliche Zeichen, die in Relation zu einer Texttradition zu Ironiesignalen werden, wie mit wallendem Mantel  – klopfenden Herzens  – strahlende Helle  – unermeßliches Meer  – blühende Gärten. 4) Ironiesignale, die aus der Relation zwischen sprachlichen Zeichen und außersprachlichen Welten hervorgehen (Wissen über den enzyklopädischen Kontext): Bei den Beispielen unter 2.1.1 und 2.1.2 können die nach dem Muster der Stilfigur Hyper­ bel geformten Äußerungen erst dann als ironisch-übertreibend verstanden werden, wenn man erkennt, dass die bezeichneten Bauwerke (der Kölner Dom, die Chinesi­ sche Mauer, die Pyramiden von Gizeh einerseits, ein Flughafenneubau andererseits) logisch unstimmig gegenübergestellt worden sind. Das Signal des textlichen Wider­ spruchs tritt hier als Signal des logischen Widerspruchs in Erscheinung. Framese­ mantisch gesehen ließe sich auch von einer gestörten Frame-Ordnung sprechen; die Einheit FLUGHAFEN passt nicht in den Frame HISTORISCH BEDEUTSAME GROSS­ BAUTEN. Nicht als Ironiesignal, aber dennoch als interpretativ bedeutsam anzuse­ hen ist, dass der vom Karikaturisten gezeichnete Dom anhand der Silhouette seiner beiden Türme als Kölner Dom erkannt wird. Hier ergänzen bildmediale Zeichen das, was ungesagt bleibt.

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5) Ironiesignale, die aus der Relation zwischen sprachlichen Zeichen und codifizierten Weltsichten hervorgehen (Wissen über den redeuniversalen Kontext): Äußerun­ gen können mit etablierter Weltdeutung, mit Weltdeutungssystemen (Redeuniversen) kollidieren. Bei dem satirischen Wahlplakat der SPD mit der Schlagzeile „Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen“ (Bsp. bei Stempel 1976, 227, dort mit unexakter Zitation) ist nicht nur die Typographie ironiesignalrelevant. Es galt seinerzeit mit Hilfe des Wissens über die Redeuniversen Politik und Alltagsleben zu erkennen, dass der Äußerung jeglicher Realitätsgehalt fehlt und dass dies auf Solidarisierung mit der SPD zielt. Ein anderes Beispiel liefert die bereits erwähnte satirische Reportage über ‚Simulantentum‘ im Gesundheitswesen (vgl. 2.1.2). Der Text verlangt vom Leser, Wissen über das Redeuniversum Medizin abzurufen, damit er die redeuniversale Unlogik als Ironiesignal des textlichen Widerspruchs interpretiert. Zur Verdeutlichung ein weiterer Textauszug (siehe auch 3.2.2): 16.20 Uhr: Die Zentrale Rettungs- und Intensivtherapie. Die da draußen im Warteraum herum­ lungern, hier wollen sie alle hin. Wer hier auf „ZRI“ liegt, hat es geschafft. Einer der Privilegier­ ten, offensichtlich kurz vor der Rente, hat in einer gewaltigen Willensleistung seine Blutgefäße so sehr geballt, daß es zu einem „schweren Herzinfarkt“ inklusive Koma gelangt hat. Sechs Wochen das volle Geld. Ideen muß man haben. Aber ein bißchen Glück ist natürlich immer dabei.

Der Hinweis, dass in der ironischen Kommunikation Einvernehmen über die invol­ vierten Bezugssysteme herrschen muss (vgl. Warning 1976, 422), auch im Hinblick auf Werthorizonte (vgl. Wellershoff 1976, 423 f.), zeigt, dass dem Wissen über den redeu­ niversalen Kontext eine Schlüsselrolle bei der Setzung und Interpretation von Ironie­ signalen zukommen kann. 6) Ironiesignale, die aus der Relation zwischen sprachlichen Zeichen bzw. Zeichen anderer Medialität und situativen Gegebenheiten hervorgehen (Wissen über den Situationskontext): Hierher gehören Anachronismen (zeitwidrig verwendete Zeichen) aller Art: lexikalische, stilistische, typographische, bildmediale usw. Wie am Ausruf „Natur, wohin das Auge blickt!“, geäußert inmitten eines Industriegebiets (vgl. 1.1), zu erkennen ist, lassen sich sprachliche Zeichen auch ortswidrig verwenden. Ent­ scheidend kann das Wissen über ein häusliches Umfeld sein – etwa dann, wenn die unprofessionelle Arbeit eines Heimwerkers mit dem geflügelten Wort „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.“ kommentiert wird. Entscheidend kann das Wissen über den Zeichenproduzenten sein. Es kann klären helfen, ob eine Äußerung iro­ nisch zu verstehen ist oder nicht. Angesichts scheinbar fehlender Ironiesignale stellt z. B. Wilfried Stroh (2011, 33) die Ironie von Markus Antonius in Shakespeares Julius Caesar (vgl. 1.2) in Abrede. Tatsächlich aber fehlen Ironiesignale keineswegs. Es ist die refrainartige Wiederholung der Worte „denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann“ (sprachlicher Kontext), die sich mit dem „Ethos-Signal“ (Plett 2001, 121) verbindet, d. h. einem Kontrast zwischen der zum Ausdruck gebrachten und der tatsächlichen Haltung (situativer Kontext). Außerdem gilt es zu beachten, dass der Ironisierende sein Publikum spalten kann in Wissende, die das ironische Spiel durchschauen, und

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Unwissende, die das Geäußerte für bare Münze nehmen (vgl. Asmuth/Berg-Ehlers 1976, 129 f.). Weitere Beispiele für das Ethos-Signal, auch autorenstandpunktbezo­ gen, liefert die poetische Literatur in reichlichem Maße. Man denke nur an Werke von Heinrich Heine, deren Wortlaut (z. B. ein Lob der Uniformen) nicht zur antipreu­ ßischen Haltung des Autors passt, oder an Werke von Bertolt Brecht, deren Wortlaut (z. B. Liebe zum Führer) im Widerspruch zu seiner antifaschistischen Haltung steht (vgl. Link 1990, 125 f.). Entfaltet sich Ironie text- bzw. werkprägend nach dem Prinzip der Einheitlichkeit, ordnen sich dem Ironiesignale als strukturbildende Zeichenrelationen unter. Ein­ heitliche ironische Gestaltung ist entweder an der Rekurrenz eines bestimmten Iro­ niesignals oder an der Kombination verschiedener Ironiesignale erkennbar. Davon unberührt bleibt festzuhalten, dass sich die Kontexttypen und die ihnen zuzuord­ nenden Wissensbestände nicht gegenseitig ausschließen. Am ironisch formulierten SPD-Wahlplakat (s. o.) wird z. B. deutlich, dass Kenntnisse über den semiotischen Kontext (Typographie), den redeuniversalen Kontext (Realitätsgehalt) und den situa­ tiven Kontext (historische Zeit) ineinandergreifen.

3 Spielarten ironischer Indirektheit 3.1 Zum Verhältnis von Simulation und Dissimulation Zum Erbe der antiken Rhetorik gehört die Distinktion zwischen zwei Typen (auch Strategien oder Realisierungsweisen) ironischer Kommunikation. Rhetoriktheore­ tisch wird unterschieden zwischen der Simulationsironie, dem Vortäuschen von Übereinstimmung mit der Haltung eines Antipoden, und der Dissimulationsironie, dem Verbergen der eigenen Haltung (vgl. u. a. Plett 2001, 117–120). Beide Typen des Ironisierens stehen jedoch nicht in einem Entweder-oder-Verhältnis, denn das Vor­ spiegeln von Identifikation ist immer zugleich das Verbergen von Non-Identifikation. Simulations- und Dissimulationsironie müssen als komplementäre Begriffe aufge­ fasst werden. Bemerkenswert ist, dass der enge Zusammenhang zwischen beiden Begriffen rhetorikgeschichtlich schon immer gesehen wurde, ja dass es sich  – um eine Position jüngeren Datums wiederzugeben  – um den positiven und negativen Aspekt derselben Sache handelt (Ulrich Schulz-Buschhaus, zit. n. Müller 1989, 194). Legt man diese Auffassung den verschiedenen äußerungssemantischen Gegensatz­ verhältnissen zugrunde (vgl. 1.1), ergeben sich u. a. folgende Spielarten ironischer Indirektheit: 1) Simulation von positiver, Dissimulation von negativer Bewertung (begrifflicher Bedeutungsgegensatz);

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2) Simulation von Affirmation, Dissimulation von Negation (syntaktischer Bedeu­ tungsgegensatz); 3) Simulation von Lob, Dissimulation von Tadel (äußerungsfunktionaler Bedeu­ tungsgegensatz); 4) Simulation von Faktivität, Dissimulation von Fiktivität (referentieller Bedeu­ tungsgegensatz); 5) Simulation von Ernst, Dissimulation von Unernst (stilistischer Bedeutungsgegen­ satz). Wenn ironische Indirektheit im Vorspiegeln von Unwahrem und im Verbergen von Wahrem besteht, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Ironie und Lüge. In der sprechakttheoretisch profilierten Simulationstheorie von Edgar Lapp wird Ironie als „eine (bedingt) durchschaubar vorgespielte Lüge“ (Lapp 1992, 147) bestimmt. Lüge und Ironie werden anhand des Aufrichtigkeitskriteriums voneinander abgegrenzt: Lüge als Simulation von Aufrichtigkeit, Ironie als Simulation von Unaufrichtigkeit (ebd., 146). Doch ist es nicht eher so, dass der Ironisierende ebenso wie der Lügner Aufrichtigkeit simuliert, im Unterschied zum Lügner aber Unaufrichtigkeit signalisiert? Ironiesignale, verstanden als Zeichenrelationen (vgl. 2.2), fungieren als Unaufrichtig­ keitsindikatoren. Simulationsironische Bedeutungen (wie Affirmation, Lob oder Faktivität) werden auf diese Weise kommunikativ entwertet und mitzuverstehende dis­ simulationsironische Bedeutungen (wie Negation, Tadel oder Fiktivität) in den Rang von Informationen mit Wahrheitswert erhoben.

3.2 Ausdrucksformen ironischer Kritik im poetischen Text – eine Beispielanalyse Über die Dichotomie von Simulation und Dissimulation können auch Spielarten ironi­ scher Indirektheit in poetischen Texten ermittelt werden, so die Simulation von ‚Wert­ schätzung‘ und die Dissimulation von ‚Verachtung‘ in der Äußerung „denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann“ (vgl. 1.2) oder die Simulation von ‚Begeisterung‘ und die Dissimulation von ‚Entsetzen‘ in der Äußerung „Juchhe! Nach Amerika!“ (vgl. 2.2). Mit der Dissimulation von ‚Verachtung‘, ‚Entsetzen‘ oder anderen negativen Gefühls­ reaktionen wird Kritik an Personen, ihren Denk- und Handlungsweisen auf indirekte Weise zum Ausdruck gebracht. Exemplarisch sei im Folgenden am Wortlaut eines satirisch-poetischen Textes aufgezeigt, in welchen Ausdrucksformen sich ironische Kritik manifestiert. Dabei gilt es zu beachten, dass sich poetische Kommunikation auf zwei verschiedenen Ebenen vollzieht: textweltintern und textweltextern (vgl. 2.1.2).

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3.2.1 Ironische Kritik textweltintern: Simulieren von Lob und emotionaler Anteilnahme Als Beispieltext dient die satirische Reportage Heute blau, morgen blau … und übermorgen endlich Schluß mit der Lohnfortzahlung (vgl. die bereits besprochenen Textaus­ züge unter 2.1.2 und 2.2) über Simulantentum im Gesundheitswesen. Textweltintern – so der bisherige Stand der Dinge – strebt ein Berichterstatter in der fiktionalen Rolle eines Reporters Solidarisierung mit der Leserschaft seiner Reportage an, indem er Kranke/Patienten in einer Notaufnahme als Menschen denunziert, die sich Sozial­ leistungen erschleichen wollen. Er schreibt als Augenzeuge über das vermeintliche Vortäuschen einer Krankheit oder eines Unglücksfalls und täuscht selbst etwas vor, nämlich Identifikation mit seinen Opfern. Dies trifft allerdings noch nicht auf behaup­ tende Äußerungen zu und die Verwendung von Anführungszeichen, in die er – sich deutlich distanzierend – zahlreiche Wörter setzt. Davon betroffen sind Benennungen nicht nur für Menschen („Kranke“; „Patienten“), sondern auch für Einrichtungen des Gesundheitswesens („Rettungs“stelle; „Kranken“haus), für Krankheiten („schwerer Herzinfarkt“; „Eileiterschwangerschaften“) und Unglücksfälle (sich „an der Brotma­ schine verletzen“; „vom Laster überfahren“ werden; ein Kind mit „Loch im Kopf“). Im Unterschied dazu weisen nahezu alle kommentierenden Äußerungen identifikations­ simulierende Züge auf. Der Reporter macht sich zum scheinbaren Verbündeten seiner Opfer. Positiv bewertender Wortschatz wird eingesetzt, um lobende Kommentare abzugeben. Gelobt wird schauspielerisches Talent bei der Artikulation von Schmerzen („Ab und an stöhnt sie effektvoll.“) und bei der Präsentation von Verletzungen („Stolz trägt er seinen prächtig geschwollenen Außenrist zur Schau.“). Gelobt wird auch der Einfallsreichtum des Tricksens, mit Sätzen wie „Sehr innovativ.“ oder „Ideen muß man haben.“. Zudem wird Identifikation in kommentierenden Äußerungen simuliert, die den Anschein erwecken, dass der Reporter emotional Anteil nimmt am Erfolg oder Misserfolg der betrügerischen Anstrengungen seiner Opfer. Die Kommentare thema­ tisieren opferperspektiviert Enttäuschung („Pech gehabt.“), Befriedigung („Anstren­ gung und Augenverdrehen haben sich gelohnt.“) und Peinlichkeit („Deshalb ist der negative Röntgenbefund […] doppelt peinlich.“). Sich scheinbar mitfreuend, wendet er sich sogar direkt einem seiner Opfer zu, indem er die kommentierende Äußerung apostrophisch figuriert: „Mensch, Herr Krull, wenn das auch noch klappt, dann läßt sich der Sozialurlaub doch prima an!“ Man mag, wenn man will, in dem Namen Krull eine Anspielung auf Thomas Manns Hochstapler Felix Krull erkennen; das intellektu­ elle Niveau des Reporters steht dem allerdings nicht unerheblich entgegen.

3.2.2 Ironische Kritik textweltextern: Konstruieren von textlicher Unlogik Der textweltinternen Kritik am Erschleichen von Sozialleistungen ist die textweltex­ terne Kritik an Politikern, die Sozialleistungen zu reduzieren beschließen, und an

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Journalisten, die sich zum Sprachrohr der Regierung machen lassen, an die Seite zu stellen. Ironiesignale, die den Autorenstandpunkt verraten, enthält der Text in großer Zahl. Sie werden durch das Konstruieren absurder Behauptungen und unsinniger Begründungen gesetzt und dienen dazu, den Berichterstatter und seine ironische Schreibweise bloßzustellen. Ironische Kritik des Autors findet in textlicher Unlogik ihren Ausdruck (vgl. dazu auch Kohvakka 1997, 181–185). Kommunizierte Absurdi­ täten und Unsinnigkeiten können nicht der Ironie des textweltinternen Berichter­ statters zugeschlagen werden, da sie auf dieser Kommunikationsebene wörtlich, als ernst gemeint zu verstehen sind. Der folgende Textauszug beginnt mit einer absur­ den Behauptung zu den Ursachen eines Krankheitsbildes, hyperbolisch intensiviert durch das Adverb „eimerweise“ [1], schließt eine absurde Behauptung zur Mentali­ tät von Ausländern an [2], schränkt diese sogleich ein [3] und endet mit unsinnigen Begründungen, nämlich mit dem Nennen unsinniger Handlungsmotive [4/5]: 19.10 Uhr: Ein Blaumacher schwarzer Hautfarbe hat sich eimerweise gelben Eiter unter den Dau­ mennagel gestopft [1]. Die Ärztin muß das Zeug mit einem Fingernagelbohrer jetzt wieder her­ ausholen. Er sagt, daß er in Köpenick arbeite. Na fein. Aus regierungsnahen Quellen weiß doch jeder, daß Ausländer nur ungern einer Arbeit nachgehen [2], und wenn [3], dann höchstens, um sie den Deutschen wegzunehmen [4] und sich dann bei der nächsten Gelegenheit arbeitsbefreien zu lassen [5].

Mittels ironischer Gestaltung auf zwei Ebenen, der Konstruktion von textlicher Unlogik und der Inszenierung von Ironie im Rahmen einer fiktionalen Textwelt, ver­ fertigt der Satiriker ein Kommunikationsporträt der von ihm zum Opfer gemachten Person. Er bedient sich einer Form literarischer Figurencharakteristik, die mit einer anderen Form verwandt ist: dem Sprachporträt (vgl. Riesel 1963, 418 ff.).

4 Gattungs- und epochenbezogene Ironiebegriffe 4.1 Dramatische Ironie Nicht jede Form von poetisch inszenierter Simulation ist unbesehen eine ironische Form im rhetorischen Sinne. Bei poetischen, insbesondere dramatischen Simulati­ onsformen wie Hypokrisie (Vortäuschen von Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit durch einen Menschen schlechten Charakters), Impersonation (Rollenspiel im Widerspruch zur wahren Identität) und Detractio (doppelzüngiges Sprechen: heuchlerisches Bekunden von Wohlwollen in Gegenwart des Opfers einerseits, verleumderisches Verbreiten von Unwahrheiten hinter seinem Rücken andererseits), von Wolfgang G. Müller (1989, 197 ff.) als simulationsironische Sonderformen beschrieben, handelt es sich eindeutig um Arten der Täuschung, des Belügens dramatischer Akteure. Es stellt sich also erneut die Frage nach dem Verhältnis von Ironie und Lüge. Dramatische

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Ironie, ein auf die Großgattung Dramatik bezogener Ironiebegriff, tragödienbezogen auch tragische Ironie genannt, erfasst abweichend vom rhetorischen Ironieverständ­ nis die „Diskrepanz zwischen unwissendem dramatischem Akteur und wissendem Publikum“ (Plett 2001, 123). Unter den Begriff fallen somit alle Formen des Vortäu­ schens zum Zwecke des Täuschens, die für das Publikum als durchschaubar insze­ niert sind. Er liefert u. a. die Erklärung dafür, dass der Zuschauer eine Intrige durch­ schaut, in die ein ahnungsloser Akteur auf der Bühne verwickelt ist. Bei Simulationen mit Täuschungsabsicht muss es sich jedoch nicht zwangsläufig um eine moralische Verfehlung handeln. Wie im wirklichen Leben auch können Menschen guten Cha­ rakters, politischer oder religiöser Verfolgung ausgesetzt, eine verwerfliche Haltung vortäuschen, um ihr Überleben zu sichern. Für die Umkehrung der Hypokrisie gibt es keinen eigenen Terminus (vgl. Müller 1989, 198), es spricht aber nichts dagegen, den Begriff weiter zu fassen und mit dem Terminus sowohl moralisches als auch unmora­ lisches charakterliches Verstellungshandeln abzudecken.

4.2 Romantische Ironie Ein weiterer nichtrhetorischer Ironiebegriff ist mit der literarischen Epoche Roman­ tik verbunden, wo Ironie zum Leitbegriff kunstphilosophischen und literaturtheo­ retischen Denkens avanciert. Zum kunstphilosophischen Verständnis von Ironie in dieser Zeit gehört, mit dem Begriff eine Haltung des Künstlers zur Welt zu erfassen. Die Welt wird nicht als ein objektiv existierendes System von Daseinsformen angese­ hen, sondern als „ein Geflecht aus unendlich vielen ‚subjektiven‘ Perspektiven, ein Bündel aus Paradoxien und großen Oppositionen“ (Frank 1978, 90). Zum literatur­ theoretischen Verständnis von Ironie in dieser Zeit gehört, mit dem Begriff ein ästhe­ tisches Prinzip zu erfassen. Der Dichter – so einer der Grundsätze – solle Distanz zu seinem Werk aufbauen, um ihm Authentizität zu verleihen. Authentisch werde ein Kunstwerk, wenn der Dichter ihm „die Merkmale des ‚Geschaffenen‘ gibt“ (ebd., 91). Mit anderen Worten: Ironie, verstanden als ästhetisches Prinzip, besteht in der Reflexion des dichterischen Schaffensprozesses innerhalb des Kunstwerks selbst. Kennzeichnend ist darüber hinaus die Auffassung, dass sich Ironie durch den unver­ mittelten Kontrast von alltäglich Realem und Phantastischem erzeugen lässt (vgl. Strohschneider-Kohrs 2002, 353 ff.). Als Paradebeispiele für die Umsetzung gestalte­ rischer Positionen in eine künstlerische Form gelten Werke von Ludwig Tieck und E. T. A. Hoffmann.

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5 Literatur 5.1 Primärliteratur Brecht, Bertolt (1937): Gedichte VIII. Nachträge zu den Gedichten 1913–1956. Frankfurt a. M. 1965. Grass, Günter (1959): Die Blechtrommel. 2. Aufl. Berlin (Ost) 1988. Schiller, Friedrich (1789): Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel. Leipzig 1985. Vanderbeke, Birgit (1990): Das Muschelessen. Frankfurt a. M. 1997.

5.2 Sekundärliteratur Adamzik, Kirsten (2001): Sprache: Wege zum Verstehen. Tübingen/Basel. Agricola, Christiane (1970): Stilistik. In: Erhard Agricola/Wolfgang Fleischer/Helmut Protze (Hg.): Kleine Enzyklopädie – Die deutsche Sprache. Bd. 2. Leipzig, 1015–1066; 1084–1125. Asmuth, Bernhard/Luise Berg-Ehlers (1976): Stilistik. 2. Aufl. Opladen. Coseriu, Eugenio (1994): Textlinguistik. Eine Einführung. 3. Aufl. Tübingen/Basel. Frank, Armin Paul (1978): Zur historischen Reichweite literarischer Ironiebegriffe. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 30/31, 84–105. Genzmer, Herbert (2003): Rhetorik. Köln. Große, Ernst Ulrich (1976): Text und Kommunikation. Eine linguistische Einführung in die Funktionen der Texte. Stuttgart u. a. Hartung, Martin (1998): Ironische Äußerungen im Freundeskreis. Versuch einer gesprächsanalytischen Bestimmung. In: Alexander Brock/Martin Hartung (Hg.): Neuere Entwicklungen in der Gesprächsforschung. Tübingen, 127–151. Hoffmann, Michael (2003): Über den satirischen Journalismus und seine Version der Medientextsorte „Porträt“. In: Deutsche Sprache 31, 318–333. Hoffmann, Michael/Hans-Christian Stillmark (1998): Semantische Ebenen poetischer Zeichen. Paraphrasen zu Brechts „Was ein Kind gesagt bekommt“. In: Inge Pohl/Jürgen Pohl (Hg.): Texte über Texte. Interdisziplinäre Zugänge. Frankfurt a. M., 205–226. Keßler, Christine/Brigitte Krüger (2003): Erzählen und (Ver-)schweigen: Inszenierungen gestörter Kommunikation in Erzählungen von Birgit Vanderbeke. Linguistische und literaturwissenschaftliche Erklärungsansätze. In: Michael Hoffmann/Christine Keßler (Hg.): Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M., 201–230. Kohvakka, Hannele (1997): Ironie und Text. Zur Ergründung von Ironie auf der Ebene des sprachlichen Textes. Frankfurt a. M. Krumbholz, Martin (1980): Ironie im zeitgenössischen Ich-Roman. Grass – Walser – Böll. München. Lapp, Edgar (1992): Linguistik der Ironie. Tübingen. Liewerscheidt, Dieter (1990): Schlüssel zur Literatur. München. Link, Jürgen (1990): Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis. 4. Aufl. München. Meyer, Urs (2010): Poetik der Werbung. Berlin. Müller, Wolfgang G. (1989): Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini. In: Christian Wagenknecht (Hg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Stuttgart, 189–208. Ottmers, Clemens (2007): Rhetorik. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar. Plett, Heinrich F. (2001): Einführung in die rhetorische Textanalyse. 9. Aufl. Hamburg. Preisendanz, Wolfgang/Rainer Warning (Hg.) (1976): Das Komische. München.

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 Michael Hoffmann

Riesel, Elise (1963): Stilistik der deutschen Sprache. 2. Aufl. Moskau. Sandig, Barbara (2006): Textstilistik des Deutschen. 2. Aufl. Berlin/New York. Stempel, Wolf-Dieter (1976): Ironie als Sprechhandlung. In: Preisendanz/Warning, 205–235. Stroh, Wilfried (2011): Die Macht der Rede. Eine kleine Geschichte der Rhetorik im alten Griechenland und Rom. Berlin. Strohschneider-Kohrs, Ingrid (2002): Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. 3. Aufl. Tübingen. Warning, Rainer (1976): Ironiesignale und ironische Solidarisierung. In: Preisendanz/Warning, 416–423. Weidacher, Georg (2007): Fiktionale Texte – Fiktive Welten. Fiktionalität aus textlinguistischer Sicht. Tübingen. Wellershoff, Dieter (1976): Schöpferische und mechanische Ironie. In: Preisendanz/Warning, 423–425.

Monika Schwarz-Friesel

16. Das Emotionspotenzial literarischer Texte Abstract: Literatur und Emotion stehen in einer untrennbaren Symbiose. Literarische Texte weisen explizit und implizit kodierte Emotionsmanifestationen auf, und sie können intensive Gefühle beim Rezipienten evozieren. Das gesamte Wirkungspoten­ zial literarischer Texte hängt maßgeblich von ihrem Emotionspotenzial (EP) ab, das sich wissenschaftlich mittels textlinguistischer Analysekriterien präzise beschreiben und erklären lässt. Auf allen sprachlichen Ebenen lassen sich Einheiten und Struktu­ ren identifizieren, die Emotivität kodieren. Es sind aber nicht nur Morpheme, Wörter und Sätze, die emotionsausdrückend und -konstituierend sind, sondern auch die spezifische Interaktion von Referenz, Über- oder Unterspezifikation und Informa­ tionsstruktur des gesamten Textes. Das Emotionspotenzial eines Textes konstituiert sich somit als die Menge aller intersubjektiv erfass- und darstellbaren textinternen Elemente und Informationskonstellationen, die Gefühle abbilden oder ausdrücken sowie Evaluationen in der Textwelt vermitteln. Entsprechend lassen sich Texte klas­ sifizieren als semiotische Komplexe mit einem jeweils hohen oder niedrigen Emo­ tionspotenzial. Das tatsächliche Wirkungspotenzial solcher Texte und die Korrelation mit dem Prozess der Emotionalisierung sind jedoch nur empirisch unter Berücksich­ tigung textexterner Faktoren zu bestimmen. 1 Literatur und Emotion 2 Darstellung und Ausdruck von Emotionen 3 Textsinnerschließung und interpretative Inferenzen 4 Literatur

1 Literatur und Emotion 1.1 Die emotionale Dimension literarischer Texte Literarische Texte vermitteln als komplexe Symbolstrukturen mit einer ausgeprägten ästhetischen Komponente nicht nur referenzielle Informationen und beziehen sich damit auf eine wie auch immer geartete fiktive Welt. Sie können auch auf eine beson­ dere Weise intensive Gefühle beim Rezipienten evozieren. Je nach Thema und seiner spezifischen Referenzialisierung wird ein literarischer Text als aufwühlend oder beru­ higend, als beglückend oder deprimierend empfunden. Ein fiktiver Text ist per se auf­ grund seiner funktionalen Nicht-Zweckgebundenheit für den Leser stets eine mentale Herausforderung, da er anregt, sich mit dem Text selbst auseinanderzusetzen und DOI 10.1515/9783110297898-016

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nicht nur seine kommunikative Funktion zu registrieren (s. hierzu bereits Jakobson 1981, s. auch Nikula 2012). Diese geistige Auseinandersetzung mit der Textform bein­ haltet nicht allein eine kognitive Zusatzleistung, sondern auch die persönliche Invol­ viertheit des Lesers im Rezeptionsprozess. Während bei Sach- und Fachtexten sowie Gebrauchstexten (die nicht persuasiv ausgerichtet sind) die emotionale Dimension von eher geringer Bedeutung ist (und wenn, dann als Ärger beim Lesen schwer oder unverständlicher Texte zu registrieren ist), so spielt die Evozierung von Gefühlen bei literarischen Texten eine herausragende Rolle. Viele Werke erzeugen über figuren­ bezogene Emotionsmanifestationen Empathie beim Leser, andere Spannung oder Ver- und Entfremdung. Literatur und Emotion sind somit untrennbar miteinander verbunden. Über die Jahrhunderte hinweg spiegelt sich diese Symbiose in den Reflexionen von Philosophen, Denkern und Dichtern wider, wird die Bedeutung von Gefühls­ aktivierungen durch Literatur thematisiert: Schon in der Antike nennt Horaz in seiner Ars poetica Gefühl und Verstand als maßgebliche Kriterien der Dichtkunst und betont ihre Verflechtung. Dichtung soll nützen (prodesse) oder erfreuen (delectare). Zweitau­ send Jahre später findet sich diese Funktionsbestimmung von Literatur in den Cha­ rakterisierungen moderner Schriftsteller wie Ingeborg Bachmann oder Philip Roth, die in literarischen Texten die „im Schmerz erfahrene[…] und im Glück gelobte[…] und gerühmte[…] Welt“ (Ingeborg Bachmann 1955, Wozu Gedichte) emotional veran­ kern und durch ihre Rezeption die „Ausweitung des Bewusstseins durch eine Akti­ vität des Geistes und der Fantasie“ (Philip Roth im ZEIT-Interview, 14.09.2000, 49 f.) evoziert sehen. Das Lesen literarischer Werke wird somit zu einer Fremd- und Selbst­ erfahrung durch erhöhte Reflexion. Nicht nur in der Epoche der Romantik wird dabei der emotionalen Dimension eine herausragende Rolle zugewiesen, wie z. B. bei Wordsworth (1798, 157), der die gesamte Gattung der Dichtung als „spontaneous overflow of powerful feelings“ defi­ niert. Ein Blick auf die Geschichte der Weltliteratur (und der Menschheit) zeigt, wie die Gefühle von Menschen, z. B. Zorn, Hass, Eifersucht, Neid, Liebe, Sehnsucht oder Verlangen, historische Prozesse auslösen, begleiten und zum Teil beherrschen, und zugleich Grundlage für die kreativsten, erfüllendsten und schönsten Momente im Menschenleben waren und sind. In vielen literarischen Texten stellen Gefühle ein wesentliches Charakteristikum der jeweiligen Textwelt dar, und von vielen Dichtern, Schriftstellern und Wissen­ schaftlern werden Emotionsmanifestationen als zentrales Bestimmungsmerkmal von Literatur und Kunst angesehen. So bestimmt z. B. Langer (1953, 40) Kunst allgemein als Symbolisierung von menschlichen Gefühlen: „Art is the creation of forms sym­ bolic of human feeling“; Wimsatt/Beardsley (1970, 959) konstatieren: „Poetry is cha­ racteristically a discourse about both emotions and objects  – or about the emotive quality of objects“; und für Oatley (2004, 98) gilt: „Fiction contributes to the building of characters by means of emotions.“

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1.2 Emotionen in Texten, Texte und Emotionen Obgleich Philosophie und Weltliteratur seit Jahrhunderten die mannigfaltigen Gefühle von Menschen und ihre existenzielle Bedeutung für ihr Lebensglück und ihre Lebensgestaltung beschreiben sowie ihre fundamentale Rolle nicht nur in Kunst und Dichtung, sondern in der gesamten conditio humana hervorheben, zeigt ein Blick auf Wissenschaft und Forschung, dass die Emotionalität (auch von Texten) lange ein ver­ nachlässigtes Phänomen in Sozial-, Kognitions-, Sprach- und Literaturwissenschaft war. Die seit der Aufklärung dominante Bestimmung des Menschen als verstandesund vernunftgesteuertes ‚animal rationale‘ prägte jahrhundertelang eine Dichotomie zwischen Ratio und Affekt, zwischen Kognition und Emotion, in der die Gefühlswelt in der humanen Existenz als marginal, untergeordnet oder sogar als irrationaler Stör­ faktor gesehen wurde (Landweer/Renz 2012). Im Zeitalter der modernen empirischen Wissenschaftsdisziplinen sah man Emotionen zudem als rein subjektive, nicht objek­ tivierbare Phänomene an, die sich nicht wissenschaftlich erfassen und beschreiben ließen. Erst die „emotive Wende“, die sich in den 1990er Jahren zunächst in der Neuro­ wissenschaft abzeichnete (s. besonders die Schriften von Damasio 1995), brachte ein Umdenken und die Erkenntnis, dass die Existenz des Menschen in seiner sozial und kulturell geprägten Umwelt, seine Erlebensformen, seine Informationsverarbeitungsund Denkprozesse nur dann umfassend und angemessen erklärt werden können, wenn die Interaktion von Kognition und Emotion berücksichtigt wird (s. SchwarzFriesel 2013 und Senge 2013). In der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Formen der Dicht­ kunst ist dennoch der Gegenstandsbereich Gefühl und Literatur auf einige wenige Analysen beschränkt geblieben, die je nach Ansatz vor allem kulturwissenschaftlich den emotionalen Gehalt literarischer Texte und deren (mutmaßliche) Wirkung auf die Rezipienten reflektieren (s. Alfes 1995, Anz 2007, Mellmann 2006 und Voss 2004). Alfes (1995, 115 f.) geht in ihrer Arbeit zu Literatur und Gefühl davon aus, dass Texte bestimmte Emotionen in Lesern hervorrufen können, nicht aber solche enthalten. Dass Emotionen als textuelle Phänomene umfassend und systematisch sprachlichrhetorisch erfasst werden können und müssen, rückt Winko (2003) in den Mittel­ punkt (s. auch Hillebrandt 2011). Auch in der (Text-)Linguistik sind Ansätze zur Erfassung der emotionalen Dimen­ sion von Texten überschaubar geblieben (Fries 2008 und 2009, Bednarek 2009, Fiehler 2011, Thüne/Leonardi 2011, Schwarz-Friesel 2008 und 2011). Das sprachliche Kenntnissystem wurde und wird vielerorts als ein autonomes System betrachtet, die Textverarbeitung als ein rein kognitiver Prozess modelliert (s. aber zur emotionalen Dimension des Lesens Hielscher 2003 und Bohrn 2013 sowie Schrott/Jacobs 2011, 492 ff.). Während es zahlreiche textlinguistische Einführungen und Detailuntersu­ chungen zu Textstrukturen, -typen und -funktionen gibt, die sowohl für Sprach- als auch Literaturwissenschaft relevant sind (s. Fix 2003), finden sich bislang nur verein­ zelt Ansätze zur emotionalen Textdimension und den diversen Manifestationsformen

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 Monika Schwarz-Friesel

von Emotivität in Texten (s. Schwarz-Friesel 2013, Schwarz-Friesel/Consten 2014), deren Klassifikationsraster allerdings in den letzten Jahren zunehmend Detailanaly­ sen initiiert haben, die einzelne literarische Werke emotionslinguistisch untersuchen (s. u. a. Ortner 2010, Panjikidze 2011, Tsagareli 2011, Kezba-Chundadse 2011, Misun 2013). Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass sich die emotionale Dimension von Texten wissenschaftlich, d. h. intersubjektiv und präzise als Text­phänomen beschrei­ ben lässt. Hierbei ist allerdings in zwei Phänomenbereiche zu differenzieren, die unterschiedliche Fragen involvieren: Bezüglich der textuellen Manifestation von Emotionen ist zu untersuchen, welche Mittel und Strukturen in Texten die Gefühle der Figuren in der fiktiven Welt darstellen und ausdrücken. Wie werden emotionale Zustände und Prozesse in Texten explizit und implizit vermittelt? Die zweite Frage betrifft das Wirkungspotenzial und den Prozess der (möglichen) Emotionalisierung des Lesers beim Textverstehen. Gibt es textuelle Phänomene, welche die Gefühle der Rezipienten (besonders intensiv) evozieren können? Durch welche Mittel und Stra­ tegien wird der textexterne (aber durch den Text stimulierte) Vorgang maßgeblich beeinflusst?

1.3 Emotionspotenzial und Emotionalisierung Um emotionslinguistische Textanalysen durchführen zu können, ist es notwendig, eine Definition von Emotion zu haben, die nachvollziehbare und überprüfbare Aus­ sagen und Klassifikationen ermöglicht. Emotionen sind mehrdimensionale Syn­ dromkategorien von bewussten und unbewussten Kenntnissen, Repräsentationen und Prozessen. Kennzeichnend für alle emotionalen Phänomene ist, dass es sich hierbei um auf innere und äußere Erlebenskomponenten bezogene Bewertungen handelt. Diese evaluative Komponente ist das wichtigste Bestimmungsmerkmal für Emotionen. Emotionen stellen somit Bewertungssysteme (die in Interaktion mit den kognitiven Kenntnissystemen stehen) dar, die Einfluss auf alle Erlebensebenen des Menschen nehmen können (s. ausführlich Schwarz-Friesel 2013, Kap. 3). Die Prozesse der Bewertung betreffen (oft unbewusste) Einschätzungen, mit denen ein Individuum entweder sein eigenes Körperbefinden, seine seelische Befindlichkeit, seine Hand­ lungsimpulse, seine kognitiven Denkinhalte oder allgemein Umweltsituationen (im weitesten Sinne) beurteilt. Jede Emotion lässt sich mittels dreier Parameter beschrei­ ben: Wertigkeit (positiv/negativ), Dauer und Intensität. Werden Emotionsinhalte intern und subjektiv erfahrbar, handelt es sich um Gefühle. Ein Gefühl ist also genau derjenige Erlebensteil einer Emotion, der als subjektiver Zustand bewusst wird und damit sprachlich intersubjektiv mitteilbar ist: Die Konzeptualisierung eines emotio­ nalen Zustandes als LIEBE wird dann als Liebe kategorisiert und verbalisiert. Emotio­ nen werden über drei Realisierungsformen wahrnehmbar: den nonverbalen Ausdruck (z. B. Weinen, Lachen), körperliche Zustände (Zittern, Erröten usw.), die zumeist vege­

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tative Reaktionen sind, und verbale Manifestationsformen. Mit sprachlichen Einhei­ ten und Strukturen werden Emotionen über Symbolrepräsentationen kodiert. Texte lassen sich folglich hinsichtlich der in ihnen enthaltenen verbalen Emo­ tionsmanifestationen untersuchen. Auf allen sprachlichen Ebenen lassen sich Ein­ heiten und Strukturen identifizieren, die Emotivität vermitteln (können): Morpheme wie un-, -ling, Interjektionen wie Ach, I, Lexeme, die entweder über ihre emotionsbe­ zeichnende Semantik (grauenhaft, glücklich), ihre Konnotation (flennen, Köter) oder den durch sie bezeichneten Sachverhalt (Massenmord, Unrecht) emotive Informati­ onen vermitteln. Auf der Satzebene drücken Exklamativsätze (O wie selten gelangen solche Stunden und Tage!, Hermann Hesse 1919, Demian) und Optativsätze (Gern hätte ich gebetet, daß Gott ein Wunder tun und mich auch einen solchen Fund machen lassen möge. Ebd., 17) emotive Einstellungen aus, ebenso Sätze mit Doppelpropositionen (Sie ist glücklich, dass er bleibt.). Vergleiche (wie ein Teufel […], wie ein Engel, Hein­ rich von Kleist 1808, Die Marquise von O…, 157) und Metaphern (Auf dem schmalen Sockel der kargen Liebeserlebnisse, Lion Feuchtwanger 1954, Die häßliche Herzogin, 74; Gierig stürzte er sich hinein in seine Wut, Pascal Mercier 1995, Perlmanns Schweigen, 57) erzeugen über Analogien emotionsdarstellende und -ausdrückende Referen­ zialisierungen. Aber auch die Informationsstruktur, d. h. die Anordnung von Texttei­ len sowie die Überspezifikation in der Referenz (z. B. durch Rekurrenz wie in wieder und wieder und wieder), satzübergreifende Kohärenzmittel (wie Komplex-Anaphern, dieses Unglück) und das Auslassen von Informationen (die referenzielle Unterspezifi­ kation, die Inferenzziehung vom Rezipienten erfordert) tragen maßgeblich zur textu­ ellen Emotionalität bei und können den Eindruck des Mitempfindens der textintern vermittelten Gefühle intensivieren (s. hierzu 2.3). Die Gesamtheit aller emotiven und evaluativen Textelemente formaler wie inhalt­ licher Art konstituiert das Emotionspotenzial eines Textes und lässt sich mittels text­ analytischer und -linguistischer Methoden (unabhängig von Epochen-, Gattungs- und Produktionsfaktoren) bestimmen. Das Emotionspotenzial ist nicht mit der Emotiona­ lisierung gleichzusetzen. Emotionalisierung ist ein Prozess, das Emotionspotenzial eines Textes dagegen ist im Text verankert und lässt sich somit als inhärente (seman­ tische und informationsstrukturelle) Eigenschaft des Textes untersuchen. Eine präzise linguistische Analyse kann alle emotiven und evaluativen Aspekte der jewei­ ligen Textstruktur und des Textinhalts erfassen und beschreiben: Entsprechend kann angegeben werden, ob ein Text ein hohes oder ein niedriges Emotionspotenzial hat. Der tatsächliche Vorgang der Emotionalisierung, d. h. die Aktivierung von posi­ tiven oder negativen Gefühlen beim Rezipienten kann dagegen nur in empirischen Rezeptionsstudien untersucht werden. Emotionalisierung involviert zum einen das Nachempfinden von Gefühlen, die die Figuren der fiktiven Textwelt erleben, zum anderen aber auch die Aktivierung rezipientenspezifischer Gefühle durch die gesamte Textinformation. Hierbei spielen der Kontext, die kulturelle und historische Veran­ kerung, das Vorwissen des Rezipienten, sein Inferenz- und Interpretationsvermögen eine entscheidende Rolle. Das Wirkungspotenzial eines Textes ergibt sich stets aus

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einer Interaktion textinterner und textexterner Phänomene. Welche Korrelation von EP und Emotionalisierung besteht, ob z. B. ein Text mit einem nachweislich hohen EP auch eine intensive Emotionalisierung auslöst, ist daher nur in empirisch-expe­ rimentellen Studien überprüfbar. Texte der Trivialliteratur zeichnen sich beispiels­ weise meist durch ein hohes EP aus, lösen aber nur in bestimmten Rezipientengrup­ pen intensive Gefühle aus. Umgekehrt kann ein Text wie 13. November 1942. Lebendfrisches Material (Leber, Milz und Pankreas) von einem vorher pho­ tographierten stark atrophischen jüdischen Häftling von 18 Jahren entnommen. Fixiert wie stets, Leber und Milz in Carnoy (Fixierlösung) sowie Pankreas in Zenker (Fixierlösung) (Häftl. No. 68030). (Johann Paul Kremer, Tagebucheintrag)

dem aufgrund seines Mangels an verbal kodierter Emotivität ein niedriges EP zuge­ sprochen wird, besonders stark emotionalisieren, wenn der Kontext der Textproduk­ tion bekannt ist: Es handelt sich um einen Tagebucheintrag des Arztes und Medi­ zinprofessors Johann Kremer, der in Auschwitz an KZ-Häftlingen unmenschliche Operationen vornahm. Die im Text dokumentierte medizinische Sachlichkeit, die kodierte Normalität dieses Vorgangs kollidiert mit dem historischen Wissen des Rezi­ pienten und seiner ethischen Bewertung. Das textuelle Gefühlsequilibrium führt (wie in Rating-Experimenten mit Studierenden gezeigt wurde) zu Entsetzen und Abscheu, also einer intensiven Emotionalisierung.

2 Darstellung und Ausdruck von Emotionen 2.1 Explizite Referenz: Benennung von Emotionen und Bewertungen Texte haben aufgrund ihrer Semantik ein Referenzpotenzial: Es wird Bezug genom­ men auf außersprachliche Sachverhalte im weitesten Sinne. Die jeweiligen Sachver­ halte werden mittels sprachlicher Textstrukturen auf eine spezifische Weise repräsen­ tiert. Im Rezeptionsprozess konstruieren Leser dann ein bestimmtes Textweltmodell (TWM), d. h. eine komplexe Konzeptualisierung der im Text dargestellten Realität, indem sie bottom up die durch den Text vermittelten Informationen durch ihr Welt­ wissen top down erweitern (s. Schwarz-Friesel 2013, Kap. 2.3.2, Schwarz-Friesel/ Consten 2014, Kap. 4.2). Die dadurch entstehende konzeptuelle Sachverhaltsreprä­ sentation (das TWM) stellt somit eine geistige Referenzialisierungsstruktur dar, die eine bestimmte Realität repräsentiert. In dieser Referenzialisierungsstruktur sind die Text-Referenten, ihre Handlungen, Gedanken und Gefühle in einer spezifischen raum-zeitlichen Verankerung repräsentiert. So baut etwa ein Leser der Buddenbrooks von Thomas Mann ein komplexes Informationsschema auf, das die verschiedenen

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Mitglieder der Lübecker Kaufmannsfamilie im 19. Jahrhundert in ihren diversen Akti­ vitäten konzeptualisiert. Die literarische Rezeptionsforschung hat gezeigt, dass Leser sich während der Lektüre oft mit den einzelnen fiktiven Personen (besonders den Protagonisten) iden­ tifizieren: „One of the most remarkable capacities is our ability to adopt the point of view of other persons“ (Turner 1991, 74). Das während des Leseprozesses aktive Mit­ fühlen basiert darauf, dass der Leser die emotionalen Zustände der Figuren ebenfalls erlebt bzw. nachempfindet (vgl. Komeda u. a. 2009, Breithaupt 2012). Diese empa­ thiebasierte Form der Emotionalisierung hängt maßgeblich von der Darstellung der figurenbezogenen Emotionen ab. Bühlers Organon-Modell und seine Unterscheidung in Darstellungs- und Ausdrucksfunktion aufgreifend, wird hierbei zwischen emo­ tionsbezeichnenden und emotionsausdrückenden Textelementen unterschieden. Die explizite Referenz auf Emotionen und Gefühle erfolgt über Lexeme, deren referen­ zielle Funktion in der Bezeichnung von Emotionen und emotionalen Erlebensformen besteht: Sie wendet sich ab, geht weg. Nicht Ekel kommt – Trauer. (Christa Wolf 1968, Nachdenken über Christa T., 129)

Verwendet werden diejenigen sprachlichen Zeichen, die den Gefühls- oder Emotions­ wortschatz einer Sprache konstituieren, also Lexeme, die sich deskriptiv auf emotio­ nale Zustände und Prozesse beziehen. Neben Nomina wie Liebe, Glück und Trauer sind dies auch die entsprechenden Verben wie hassen, lieben, freuen, trauern, zürnen und Adjektive wie traurig, glücklich: Ihr zorniger Blick […]/„Vor allem, weil ich mich vor diesem Wort ekle.“/[…] versetzte ihn in Panik/Er verabscheute sich wegen dieses Gedankens, und dadurch wurde der Haß noch heftiger. (Pascal Mercier 1995, Perlmanns Schweigen)

Emotionsbezeichnende Ausdrücke referieren konventionell auf Emotionen, da sie die Gefühlswelt der fiktiven Figuren gemäß der dafür üblichen Lexik kategorisieren und damit der Alltagsgefühlwelt der Rezipienten entsprechen. Die so kodierten Gefühle und Gefühlsartikulationen der fiktiven Personen der Textwelt sind ein wichtiger Bestandteil des Emotionspotenzials eines literarischen Textes, denn diese figurenbe­ zogene Emotivität vermag Beziehungen zwischen Leser und Textweltperson(en) zu etablieren: Der mit- und einfühlende Leser kann die Ereignisse mit den Augen der Protagonisten sehen, und u. U. je nach Identifikationsgrad deren Gefühle wie seine eigenen erleben. Emotionsthematisierende Bezeichnungen sind aber oft gekoppelt an emotions­ ausdrückende Verbalisierungen, die Gefühle nicht kategoriell benennen, sondern sie über die Semantik der gewählten Lexeme zum Ausdruck bringen:

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Den Studenten Anselmus ergriff ein Grausen, das im krampfhaften Fieberfrost durch alle Glieder bebte. […] „Töte mich, töte mich!“ wollte er schreien in der entsetzlichen Angst, aber sein Geschrei war nur ein dumpfes Röcheln. (E. T. A. Hoffmann 1814, Der goldne Topf, 293)

In dieser Textpassage wird die Angst des Protagonisten sowohl durch emotionsbe­ zeichnende Wörter („Grausen“, „entsetzliche[ ] Angst“) als auch durch Beschreibun­ gen seiner physischen Verfassung manifest, die als Symptome einer heftigen affekti­ ven Erregung zu werten sind („krampfhaften Fieberfrost“, „bebte“, „Röcheln“). Die Spezifizierung der expliziten Emotionsreferenz durch metaphorische Konstruktio­ nen, die zugleich den Parameter der Intensität fokussieren, ist ebenfalls typisch für die Kodierung von Emotivität in der Literatur (s. hierzu 2.3): Von Tag zu Tag erklomm ihr Zorn eine höhere Stufe. (Elias Canetti 1935, Die Blendung, 174)

Dauer und Intensität der figurenbezogenen Emotion werden dem Rezipienten mittels der Treppenanalogie veranschaulicht. Zu den satzübergreifenden Kohärenzphänomenen, die nicht nur thematische Kontinuität (durch referenzielle Wiederaufnahme) gewährleisten, sondern auch emotive Bewertungen in das Textweltmodell einfließen lassen, gehören Anaphern (s. hierzu ausführlich Schwarz-Friesel/Consten 2014). Insbesondere Komplexanaphern, die sich auf im Vortext erwähnte Vorgänge, Handlungen oder Zustände beziehen, ver­ mitteln oft Evaluationen: Seine Natur war nicht unedel, aber er gewöhnte sich, die innere Schande der äußeren vorzu­ ziehen. Man darf nur sagen, er gewöhnte sich zu prunken, während seine Mutter darbte. Diese unglückliche Wendung seines Charakters war indessen das Werk mehrerer Jahre […]. (Annette von Droste-Hülshoff 1842, Die Judenbuche, 35)

Die Komplexanapher Diese unglückliche Wendung seines Charakters greift (aus der Perspektive des auktorialen, also des der Textwelt übergeordneten Erzählers) den vorher propositional dargestellten Sachverhalt informationell komprimiert und negativ klassifizierend auf. Dabei wird ein neuer abstrakter Textreferent etabliert, eine mentale Kategorie, die auf dem Prozess der Komplexbildung basiert. Zum Teil nehmen Komplexanaphern komplexe Textabschnitte und somit viele verschiedene Propositionen mittels einer evaluativen Nominalphrase auf: Darnley verspricht in dem ersten Bond, die Verschwörer auf jeden Fall „shaithless“, straflos, zu halten und sie auch in Gegenwart der Königin persönlich zu schützen und auch zu verteidi­ gen. Er stimmt ferner zu, daß […]; ferner erklärt er, die […]. Dafür versprechen die verschwore­ nen Lords in dem zweiten Bond […] und sogar […]. Aber hinter diesen scheinbar klaren Worten schimmert noch mehr durch, als Darnley begreift […]. Kaum sind die Unterschriften unter diesen schmählichen Kuhhandel gesetzt […]. (Stefan Zweig 1935, Maria Stuart, 134 f.; Hervorh. M. S.-F.)

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2.2 Facetten des textuellen Emotionsausdrucks Es gibt eine Palette von mehr oder weniger originellen emotionsausdrückenden Mitteln, die im literarischen Text die Gefühle der fiktiven Figuren und/oder die Ein­ stellung des Sprachproduzenten bzw. des Erzählers vermitteln können. Interjekti­ onen (I, oh, ach usw.) und Lexeme mit pejorativen Konnotationen (glotzen, gaffen, Geschwätz; dehumanisierende Schimpfwörter wie Gewanz) lassen die affektive Bewertung der Figuren zu Sachverhalten ihrer Welt unmittelbar erkennen und geben zumeist unzweifelhaft Auskunft über ihre Gefühlszustände: Effi gab ihm die Hand. „Ach, Sie dürfen so was nicht sagen. Wir Frauen sind gar nicht so schlecht.“ „Oh, nein, gewiß nicht…“ (Theodor Fontane 1896, Effi Briest, 65) „Pfui Teufel! Ein Weibsbild!“ (Erich Maria Remarque 1954, Zeit zu leben und Zeit zu sterben, 246) „Wie das hündisch kriecht! Gewanz! Lausepack!“ (Lion Feuchtwanger 1954, Die häßliche Herzogin, 124) Während die Leute noch in die Luft und dann wieder zu Boden glotzen […], ausgespien von den Gaffern, die sich, spuckend, hetzend, geifernd ganz dicht herangedrängt haben. (Elfriede Jelinek 1995, Die Kinder der Toten, 328 f.) […] leider auch viel Geschwätz. (Walter Kappacher 2005, Selina oder Das andere Leben, 118)

Um den Eindruck des emotionalen Prozesses zu intensivieren, werden dabei oft lexi­ kalische und syntaktische Mittel kombiniert, wie in den folgenden Beispielen. Im ersten Text werden Exklamativsatz, Interjektion und negativ konnotierte Bezeich­ nung aneinandergereiht, im zweiten Interjektion, Exklamativsatz und Metapher ver­ bunden: Wie sie ihm zuwider ist! […] Pfui! Die Maultasch! (Die häßliche Herzogin, 157) O wie fade schmeckte das Leben! (Demian, 80)

Exklamativsätze fokussieren generell etwas besonders Un- oder Außergewöhnliches und betonen damit die Intensität einer Emotion (wie im folgenden Beispiel zusätzlich durch die Wiederholung der Interjektion): Oh – o wie er sie liebte! (Thomas Mann 1894, Gefallen, 21)

Wiederholung, also referenzielle Überspezifikation durch Rekurrenzen, kann Mono­ tonie (typisch hierfür sind z. B. die Kurzgeschichten von Wolfgang Borchert) ausdrü­ cken, aber auch (wie beim folgenden Beispiel einer blutenden Frau) Spannung und Dramatik erzeugen:

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Und es rinnt immer weiter. Es rinnt und rinnt und rinnt und rinnt. (Elfriede Jelinek 1983, Die Klavierspielerin, 47)

Überspezifikationen, die semantisch ähnliche oder äquivalente Lexeme aneinander­ reihen, führen zur Intensitätssteigerung des emotionalen Ausdrucks: Sie zerkratzte sich die Brust, ihr armes, häßliches Gesicht. Schäumte, knirschte, knurrte, stöhnte […]. (Die häßliche Herzogin, 62)

Vergleiche sind sowohl in der Alltagskommunikation als auch in literarischen Texten ein frequentes Mittel, Gefühle zu kodieren, indem die subjektiven Empfindungen in direkte Analogie zu einem anderen Referenzbereich gesetzt werden: […] weil ihr brigitte gleichgültig ist wie ein stück faules holz. (Elfriede Jelinek 1975, Die Liebhaberinnen, 79) Sie ist empfindungslos wie ein Stück Dachpappe im Regen. (Die Klavierspielerin, 79)

Solche Konstruktionen aktivieren mentale Bilder durch zusätzliche Konzepte, die zwar nicht für das Abbildverhältnis von Sprache zu Welt relevant sind, da sie keine für die Referenzetablierung notwendigen Informationen liefern, die die Konzeptuali­ sierungsstruktur des Textweltmodells jedoch durch die Überspezifikation elaborieren und dessen Repräsentation anschaulicher machen. Vergleiche können in Verbindung mit emotionsbezeichnenden Ausdrücken (wie in den Jelinek-Beispielen) explizit Gefühle spezifizieren oder, wie im folgenden Text, als emotionsausdrückende Kon­ struktionen den Eindruck intensiver Emotionalität kodieren: Und dein Kleid, das um deine Knöchel bauschte, war wie eine Welle von Feuer in der unterge­ henden Sonne. (Georg Heym 1913, Die Sektion, 36)

Oft werden emotionsbezeichnende und -ausdrückende Mittel kombiniert sowie die Konzeptualisierungen der Vergleiche zusätzlich durch Metaphern intensiviert: Die Liebe braucht länger. Sie kommt langsam, wie eine schleichende Krankheit, und sie krallt sich um mein Herz wie der Efeu, unter dem Visible [ein Haus] im Sommer beinahe erstickt. (Andreas Steinhöfel 1998, Die Mitte der Welt, 167)

Metaphern spielen in literarischen Texten eine herausragende Rolle, da über solche Konstruktionen mit übertragener Bedeutung, welche die Alltagssprache kreativ durchbrechen, die Zustände der fiktiven Innen- und Außenwelt originell referenziali­ siert werden können (s. hierzu Leonardi in diesem Band).

Das Emotionspotenzial literarischer Texte 

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Wenn ich seinen Namen flüstere, spüre ich Scherben im Mund. Wenn ich sein Bild vor mich befehle, legt sich Eis auf meine Gedanken. Wenn ich mir vorstelle ihn zu streicheln, öffnen Skal­ pelle mir Finger und Hände. (Die Mitte der Welt, 415)

Über die Analogien, die durch die Metaphern evoziert werden, entstehen innovative Konzeptualisierungen von Emotionen, die mentale Bilder stimulieren und damit die abstrakte Emotion sensualisieren. Metaphern (v. a. kreative und innovative Meta­ phern; s. Skirl/Schwarz-Friesel 2013, Kap. 3) vermögen die konventionellen und auto­ matisierten Sprachgebrauchsmuster zu erweitern und zu verändern, um entweder neue geistige Repräsentationen zu kreieren oder um abstrakte, interne und schwer fassbare Phänomene menschlichen Erlebens auszudrücken. Weltschmerz Ich, der brennende Wüstenwind, Erkaltete und nahm Gestalt an. (Else Lasker-Schüler 1902, Weltschmerz, 48)

Sie repräsentieren ungewöhnliche Konzeptkombinationen, die Zielbereich (Bildspen­ der: die Emotionskonzepte) und Ursprungsbereich (Bildgeber: Sinneswahrnehmun­ gen und Gedanken) in eine kreative Synthese neuer mentaler Modelle bringen: […] wo seine unerfüllte Leidenschaft Löcher in den Schnee brannte: ein verirrter Mondsüchtiger auf der Suche nach seinem Herzen, das das blonde Mädchen dort oben hinter den Gardinen in den Händen hielt. (Die Mitte der Welt, 169)

Metaphorische Konstruktionen dienen dem expressiven Ausdruck von Gefühlen dann wachsen meinem Herzen kleine schmerzende Flügel (Hilde Domin 1959, Rückzug, 16)

und zugleich auch referenziell in nicht-wörtlicher Bedeutung der Kategorisierung von Emotionen: Und wenn ich das denke, dann ist die Trauer keine Trauer mehr. Sie ist ein schwarzes Glück. (Zeit zu leben und Zeit zu sterben, 356) Perlmann wurde von einem Haß überspült, der pochend bis in jede Zelle seines Körpers zu dringen schien […]. (Perlmanns Schweigen, 312)

In der Holocaust-Lyrik dominieren oft innovative und absolute Metaphern die Refe­ renzialisierung (wie sich besonders bei den Gedichten von Paul Celan zeigt) und reflektieren sowohl die Intensität der Gefühlsdimension als auch das kognitive Ringen um eine sprachliche Form der Bewältigung der Shoah-Erfahrungen (s. auch Steiner 1967 und Rosenfeld 2000).

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Aber Schweigen ist Wohnort der Opfer – (Nelly Sachs 1965, Späte Gedichte, 206)

Metaphern und der Topos des Schweigens und des Verstummens indizieren den Abbruch des Sag- und Ausdrückbaren, weil Wörter fehlen, das Ungeheuerliche wiederzugeben. Sprachskepsis und -losigkeit dominieren in diesen Texten und die Emotion der Trauer und des Leids wird nicht individuell, sondern kollektiv als exis­ tenzielle Trauer des jüdischen Volkes empfunden (s. Schwarz-Friesel/Skirl 2014): Am Ich verblutet sich das Wir Aus einer ewigen Wunde. (Gerty Spies 1987, Im Staube gefunden, 15)

Eine besondere kognitive Herausforderung ergibt sich im Leseprozess bei absoluten Metaphern, deren Konzeptualisierungen es dem Rezipienten nicht ermöglichen, ein Textweltmodell aufzubauen. Ins Dunkel getaucht sind die Kirschen der Liebe, zu spinnen gekrümmt mir die Finger: ungepflückt blieb der Schatten der Schwalbe. (Paul Celan 1952, Ins Dunkel getaucht)

Die Semantik solcher Texte lässt sich nicht im Modell der alltäglichen Welt verankern, es ergibt sich keine Kohärenzstruktur. Die Abbild- und Darstellungsfunktion von Sprache hat ihren intersubjektiven Charakter verloren, denn die subjektiven Referen­ zialisierungen erzeugen kein Textweltmodell. Sie erzwingen vielmehr kognitive Dis­ sonanzen (und erfüllen damit die Funktion von Literatur, das Bewusstsein um neue Eindrücke zu erweitern). Ihr Emotionspotenzial fordert den Leser heraus: Einerseits verhindern die kognitive Verfremdung und die Unmöglichkeit, die Referenzialisie­ rungen in ein realitätskompatibles Textweltmodell zu integrieren, ein unmittelbares Mit- und Einfühlen. Andererseits intensiviert gerade diese De-Automatisierung das Leseerlebnis und evoziert über kognitive Inferenzen Gefühle.

2.3 Sachverhaltsrepräsentationen: Referenz- und Inferenz­ potenzial als Basis für textuelle Emotivität Emotionen können in Texten explizit oder implizit kodiert werden. Zu den indirekten Manifestationsformen gehören insbesondere in der Literatur Referenzialisierungen, die Sachverhalte aus der Perspektive der fiktiven Figuren darstellen und dadurch emotionale Zustände und Prozesse vermitteln (zum Emotionspotenzial perspektivier­ ter Darstellungen s. Schwarz-Friesel 2013, 5.2; und Skirl 2012; s. zu emotiven Natur­ darstellungen in Manns Buddenbrooks auch Panjikidze 2011). Über Zustands-, Verhal­ tens-, Handlungsbeschreibungen und Gedanken der Figuren sowie über allgemeine

Das Emotionspotenzial literarischer Texte 

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Situationsdarstellungen (insbesondere Landschaftsschilderungen) erschließen sich dem Rezipienten Gefühle und Einstellungen. In den folgenden Beispielen werden körperliche Befindlichkeiten geschildert, die typische Körperreaktionen auf extreme Gefahrensituationen und die damit verbun­ dene Furcht sind: Das Herz schlug wie verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals. Es pochte unterm Schädel. Er blieb stehen und trocknete die Stirn. (Erich Kästner 1931, Fabian, 49) Sie warteten. Der Magen wurde hohl, und der Atem ging vorsichtig. Sie warteten auf den nächs­ ten Einschlag. (Zeit zu leben und Zeit zu sterben, 52)

Diese Texte sind referenziell unterspezifiziert, da sie die Gefühle der Figuren nicht explizit benennen. Bei der Erschließung des jeweiligen emotionalen Zustandes muss der Leser daher Inferenzen ziehen. Diese basieren auf enzyklopädischen Kenntnissen über den Zusammenhang bestimmter Handlungen, Körpersymptome und perzeptu­ eller Wahrnehmungen etc. mit bestimmten Emotionen. Das Referenz- und Inferenz­ potenzial des Textes ermöglicht somit das Erkennen der emotiven Dimension (s. hierzu Schwarz-Friesel/Consten 2014). Dass im folgenden Text die Emotion Wut zum Ausdruck kommt, ergibt sich aus der Schlussfolgerung des Rezipienten, dass der Wunsch des Zerschlagens ein Symptom für affektive Anspannung und Aggressivität ist: Durch die Wände dringen die Stimmen der anderen, und jedes Mal möchte ich sie in tausend Stücke zerschlagen. (Terézia Mora 2013, Das Ungeheuer, 8)

Bei dem nächsten Beispiel inferiert der Leser dagegen, dass die Figur Verlangen, Lust und eventuell Liebe empfindet: Am Telephon, seine Stimme! Sie möchte am ganzen Körper Ohren haben! (Martin Walser 2004, Der Augenblick der Liebe, 102)

Sachverhaltsbeschreibungen, die nonverbale Manifestationen (z. B. Weinen) und körperliche Reaktionen kodieren, können sich über längere Textpassagen erstrecken und vermitteln dann über die Kohärenzstruktur besonders intensiv den emotionalen Zustand der Figur: […] Claudia huschte herein. Sie sah mitgenommen aus. […] Die Haare vorm verheulten Gesicht. Sie […] schleppte sich an ihren Platz. […] als Claudia plötzlich aufschrie. Markerschütternd. Unglaublich laut. […] Claudia stand auf. […] Sie hatte die Schultern hochgezogen, den Kopf geduckt. Sie wimmerte: Mama. Ihre ausgebreiteten Arme. […] Claudia fiel. Blieb liegen. Weinte immer noch. Wie sie da auf dem Boden lag. Sich krümmte. […] Wie ihr Körper zuckte. Sie bekam kaum Luft. Verschluckte sich an ihren Tränen. (Judith Schalansky 2011, Der Hals der Giraffe, 219)

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In Hesses Demian werden weder körperliche Symptome noch Reaktionen oder Hand­ lungen beschrieben, dennoch entsteht (durch die negativ klassifizierende und bewer­ tende Perzeption der Romanfigur) der Eindruck von gelangweiltem Desinteresse und angeödeter Melancholie: […] der Garten war ohne Duft, der Wald lockte nicht, die Welt stand um mich her wie ein Aus­ verkauf alter Sachen, fad und reizlos, die Bücher waren Papier, die Musik war ein Geräusch. (Demian, 80)

In Natur- und Landschaftsbeschreibungen kann die emotionale Befindlichkeit einer Figur manifest werden, indem ihr Blick auf die äußere (Text-)Welt zum Spiegelbild ihrer Gefühle wird: Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. (Georg Büchner 1839, Lenz, 5) Graeber blickte von der Anhöhe über das Land. Es war kahl und trostlos und trügerisch; das Licht täuschte, es vergrößerte und nahm fort, und nichts war vertraut. […] Alles war endlos wie das Land. Ohne Grenzen und fremd. (Zeit zu leben und Zeit zu sterben, 37)

Bei Referenzialisierungen in Gedichten, die sich auf Naturzustände beziehen, intensi­ viert die Reimform oft maßgeblich das Emotionspotenzial des Textes: Es war, als hätt’ der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müßt’. (Joseph von Eichendorff 1837, Mondnacht)

Referenzielle Unterspezifikation und Informationszurückhaltung sind maßgeblich für den Aufbau von Spannung beim Lesen von Kriminalromanen verantwortlich: Sie warf ihm eine Zeitung aufs Bett. […] Dann sah er […] das Datum der Ausgabe. Es war das erste Mal, daß er die Haltung verlor. „Das Datum“, schrie er heiser: „Das Datum, Ärztin! Das Datum der Zeitung!“ „Nun?“ fragte sie, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen. „Es ist der fünfte Januar“, keuchte der Kommissär verzweifelt. (Friedrich Dürrenmatt 1953, Der Verdacht, 269 f.; Hervorh. M. S.-F.)

Nur für die Figuren innerhalb der fiktionalen Welt ist die wiederholte Referenz auf das offensichtlich sehr wichtige (und durch die Rekurrenz referenziell überspezifi­ zierte) Datum nachvollziehbar. Dem Leser bleibt das Verständnis jedoch zunächst verwehrt, da für ihn eine Informationslücke im TWM existiert, wodurch ein drama­ tischer Effekt und Spannung entstehen. Textsequenzen, die den Rezipienten antizi­ pieren lassen, dass etwas für die Figuren Gefährliches geschehen könnte, aber über

Das Emotionspotenzial literarischer Texte 

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den Ausgang noch im Ungewissen bleiben, haben prinzipiell ein hohes Emotionspo­ tenzial (Schwarz-Friesel/Consten 2014, 150 ff.). Auch Sätze mit semantischen Wider­ sprüchen, die Probleme bei der Integration von neuen Informationen in das TWM bereiten, erzeugen eine spannungsreiche Antizipation hinsichtlich des Fortgangs der Geschichte und der Auflösung der Kontradiktionen: „Ich bin gestorben“, sagte der Jude. „Die Nazis haben mich erschossen.“ (Der Verdacht, 188)

Bei der literarischen Verarbeitung der Shoah ist das Verschweigen sowohl des Mordens der Täter als auch der Emotionen der Opfer in der Textwelt häufig zu kons­ tatieren, d. h. der Leser muss zwischen den Zeilen lesen und die Gefühle inferenziell evozieren. In diesen Texten ist es jedoch der Topos der Sprachlosigkeit bzw. Unaus­ drückbarkeit, der dominiert. In Aharon Appelfelds Roman Badenheim (deutsche Ausgabe 1982) dominieren surrealistische Naturbeschreibungen, die symbolisch für die inneren und äußeren Vorgänge stehen: Und wieder spielte der Monat Mai sein verheerendes Spiel mit den Bäumen. Die Bürgersteige bedeckte ein schneeiger Teppich aus Blüten. Die Sonne schien herunter von ihrer Himmelsstraße und verlor sich in den Gassen. Die Schatten des Waldes zogen sich zurück und verließen die Stadt lichtwärts. Der erste giftige Rausch erstarb. (Badenheim, 31)

In der gesamten Textwelt werden die Emotionen der vom Tode bedrohten Menschen in Badenheim nur selten explizit thematisiert, sondern indirekt über Naturwahrneh­ mungen ausgedrückt: Die Tage stahlen sich vorbei. Ein kaltes Licht brach vom Norden herein und breitete sich im langen Korridor aus. Es sah nicht aus wie Licht, sondern wie Nadeln, die den Teppich in Vierecke teilten. Die Menschen klebten an den Wänden wie Schatten. (Ebd., 62)

Durch Vergleiche, Metaphern und Synästhesien entsteht das mentale Bild von einem irrealen Lebenszustand (s. hierzu ausführlicher Schwarz-Friesel 2013, 10.2.2): Die natürliche Ordnung der Welt ist durch den inhumanen Einbruch der Erniedrigung und Gewalt aus den Fugen geraten, eine an die gewohnte, normale Alltagswelt ange­ lehnte Referenzialisierung nicht möglich. Die mutmaßliche Angst und Verzweiflung der Protagonisten wird nie explizit the­ matisiert, sondern implizit über die lebensgierigen Handlungsdarstellungen vermit­ telt (z. B. im unverhältnismäßigen Süßigkeitenkonsum der Bewohner und im Trink­ verhalten der Musiker): Samitzky trank und trank. (Ebd., 77)

Der Leser ist mit seinem enzyklopädischen Wissen über die historischen Gescheh­ nisse dem Bewusstseins- und Kenntnisstand der Protagonisten der Textwelt, die sich

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der Erkenntnis eines nahenden Unheils beharrlich widersetzen, immer einen Schritt voraus: Er antizipiert den tödlichen Ausgang der Geschichte durch sein Faktenwissen über den Holocaust. Das Textweltmodell des Rezipienten inkludiert das historische Wissen und steht damit in direktem Kontrast zur Textwelt der fiktiven Protagonis­ ten. Das hohe Emotionspotenzial des gesamten Textes ergibt sich durch diese krasse Inkompatibilität.

3 Textsinnerschließung und interpretative Inferenzen Textverstehen verläuft normalerweise automatisch, in einem weitgehend unbewusst vonstattengehenden kognitiven Prozess, der inhaltsorientiert ist und Kohärenz auf­ grund der textuellen Kompetenz der Leser zumeist problemlos etabliert. Literarische Texte jedoch entziehen sich oft der prototypischen Textdefinition, die Sprachbenutzer mental repräsentiert haben, und durchbrechen durch Deviationen, Unter- und Über­ spezifikationen sowie innovative form- und bedeutungsbezogene Konstruktionen die Erwartungshaltung und de-automatisieren dadurch den Leseprozess. Im folgenden Beispiel ermöglicht allein der Titel eine globale Kohärenzstruktur und hilft, die prin­ zipiell vieldeutigen metaphorischen Sätze des Gedichtanfangs durch die Zuordnung zur Emotionskategorie MELANCHOLIE semantisch zu klassifizieren: Melancholie Die Wälder bluten schwarz hinab ins Tal. Die Nacht schließt sich darüber wie eine Falle. (Wilhelm Klemm 1917, Melancholie, 48)

Es gibt aber auch viele literarische Texte, die im bloßen Textverstehensprozess weder lokal noch global kohärent und/oder in ein mit der Alltagserfahrung kompatibles Textweltmodell integrierbar sind. Dennoch versuchen Rezipienten, weil es literari­ sche Texte sind, ihnen einen bestimmten Sinn zuzusprechen. Dieser Textsinn entsteht durch erhöhten kognitiven Aufwand und setzt bewusste interpretative Inferenzen voraus. Die Suche nach der Relevanz und nach dem kommunikativen Sinn im Prozess der Textrezeption entspricht der Interpretation des Textes (s. Schwarz-Friesel 2006). Die Konstruktion von lokaler und globaler Kohärenz kann dabei maßgeblich helfen, sie ist jedoch keine notwendige Voraussetzung dafür. Mikro- und Makrostrukturen in literarischen Texten können dissoziieren. Das Emotionspotenzial literarischer Texte und damit auch ihr Potenzial, die Phantasie anzuregen, Denkstrukturen zu durchbre­ chen, neue Bewusstseinsinhalte und intensive Gefühle zu evozieren, hängt letztlich also nicht nur von der Gesamtstruktur aller emotiven Sprachelemente ab, sondern von der Interaktion aller textzentrierten Informationen auf Mikro- und Makrostruk­

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turebene. Das Wirkungspotenzial fiktiver Werke lässt sich nur über das komplexe Zusammenspiel textinterner und textexterner Faktoren rekonstruieren. Die emotionslinguistische Textanalyse liefert aber intersubjektive Klassifikatio­ nen, wobei das Verhältnis von Sprache und Emotion in Texten, von kognitiv vermit­ telten Informationen und konzeptuellen Gefühlsmanifestationen sich nur in einem integrativen Ansatz erfassen lässt, der emotionsbezeichnende und -ausdrückende Elemente nicht isoliert als Einzelphänomene betrachtet, sondern ihre Verankerung im gesamten Referenz- und Inferenzpotenzial des Textes berücksichtigt.

4 Literatur 4.1 Primärliteratur Appelfeld, Aharon (1982): Badenheim. Berlin. Bachmann, Ingeborg (1955): Wozu Gedichte. In: Westermanns Monatshefte 96, 4. Büchner, Georg (1839): Lenz. Eine Reliquie. In: Telegraph für Deutschland. Hg. von Karl Gutzkow. Canetti, Elias (1935): Die Blendung. 37. Aufl. Frankfurt a. M. 2007. Celan, Paul (1952): Ins Dunkel getaucht. In: Paul Celan: Mohn und Gedächtnis. Stuttgart. Domin, Hilde (1959): Rückzug. In: Hilde Domin: Nur eine Rose als Stütze. Gedichte. Frankfurt a. M. 2008, 15–16. Droste-Hülshoff, Annette von (1842): Die Judenbuche. Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westphalen. In: Morgenblatt für gebildete Leser. Dürrenmatt, Friedrich (1953): Der Verdacht. Eine Kriminalgeschichte. Einsiedeln/Zürich/Köln. Eichendorff, Joseph von (1837): Mondnacht. In: Joseph von Eichendorff: Gedichte. Berlin. Feuchtwanger, Lion (1954): Die häßliche Herzogin. 6. Aufl. Berlin 2007. Fontane, Theodor (1896): Effi Briest. In: Theodor Fontane: Romane und Erzählungen in acht Bänden. Hg. von Peter Goldammer u. a. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin/Weimar 1973. Hesse, Hermann (1919): Demian. Berlin. Heym, Georg (1913): Die Sektion. In: Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Bd. 2. Hamburg/ München 1960. Hoffmann, E. T. A. (1814): Der goldne Topf. In: E. T. A. Hoffmann: Poetische Werke in sechs Bänden. Bd. 1. Berlin 1963. Jelinek, Elfriede (1975): Die Liebhaberinnen. Berlin 1978. Jelinek, Elfriede (1983): Die Klavierspielerin. 40. Aufl. Reinbek 2008. Jelinek, Elfriede (1995): Die Kinder der Toten. 4. Aufl. Reinbek 2009. Kappacher, Walter (2005): Selina oder Das andere Leben. München 2009. Kästner, Erich (1931): Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. Frankfurt a. M. u. a. 1980. Kleist, Heinrich von (1808): Die Marquise von O… In: Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in vier Bänden. Hg. von Siegfried Streller u. a. Berlin/Weimar 1978. Klemm, Wilhelm (1917): Melancholie. In: Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Lyrik des Expressionismus. Stuttgart 2003, 48–49. Kremer, Johann Paul (1971): Kremers Tagebuch. In: Hefte von Auschwitz 13, 24–117. Lasker-Schüler, Else (1902): Weltschmerz. In: Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.): Lyrik des Expressionismus. Stuttgart 2003, 48. Mann, Thomas (1894): Gefallen. In: Die Gesellschaft 10, 11.

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Das Emotionspotenzial literarischer Texte 

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IV. Textmerkmale von Epik, Lyrik und Dramatik

Georg Weidacher

17. Fiktionalität und Fiktionalitätssignale Abstract: Der Vorwurf, Autoren fiktionaler Texte verbreiteten Lügen, und die damit einhergehende Abwertung von Fiktionalität ist unberechtigt, da mit fiktionalen Texten keine Täuschung des Rezipienten intendiert ist und der fehlende Bezug zur empirischen Wirklichkeit anders als bei Lügen offen angezeigt wird. Dies ist einer der beiden wesentlichen Aspekte von Fiktionalität, nämlich der pragmatische. Der andere Aspekt, der referenzsemantische, besteht darin, dass fiktionale Propositionen eine fiktionale Modalität der Referenz aufweisen, d. h. eine Relativierung ihrer Refe­ renz in Bezug auf eine fiktionale Textwelt. Aus textlinguistischer Sicht wird daher Fiktionalität dergestalt modelliert, dass Autor und Rezipient eines fiktionalen Textes ihre Textweltmodelle äquilibrieren, sodass beide dem Text einen übereinstimmenden kommunikativen Sinn zuschreiben, dessen wesentlicher Bestandteil die fiktionale Modalität der Referenzen ist. In einem prototypischen fiktionalen Text finden sich zu diesem Zweck Fiktionalitätssignale in Form paratextueller Hinweise und textueller Indizien. 1 Einleitung und Begriffsklärung 2 Fiktionalität 3 Textlinguistische Bestimmung von Fiktionalität 4 Fiktionalitätssignale 5 Zusammenfassung 6 Literatur

1 Einleitung und Begriffsklärung Die Extension des Begriffs Literatur wird in normativen Definitionen unter anderem durch das Merkmal der Fiktionalität begrenzt (vgl. Baasner 1996, 25). Allerdings meint New (1999, 39) zu Recht: „Some literature is fiction, but not all fiction is lite­ rature.“ Es gibt demzufolge auch literarische Texte, die nicht als fiktional betrachtet werden, wie zum Beispiel stilistisch herausragende Werke der Geschichtsschreibung. Dennoch stellt Fiktionalität ein prototypisches Merkmal für Literatur – insbesondere für narrative literarische Gattungen – dar. Auch aus einem zweiten Grund ist Fiktionalität ein zentraler Punkt, wenn es um die Thematisierung von „Sprache und Literatur“ geht: Fiktional-literarische Kom­ munikation kann nur gelingen, wenn der Rezipient die Intention des Autors, mittels eines fiktionalen Textes kommunizieren zu wollen, und die daraus resultierende spe­ zifische Form des Weltbezugs fiktionaler Äußerungen erkennt. Bevor wir dies jedoch DOI 10.1515/9783110297898-017

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näher erläutern und in der Folge zu einer Modellierung fiktionaler Kommunikation kommen, soll eine Klärung des Begriffs Fiktionalität erfolgen. Noch eine Anmerkung: Aufgrund des begrenzten Umfangs dieses Artikels, aber auch, weil narrative Texte der epischen Dichtung im überwiegenden Teil der wis­ senschaftlichen Diskussion über Fiktionalität im Zentrum des Interesses stehen, werden Lyrik und Drama hier nicht für die Argumentation berücksichtigt. Außerdem beschränke ich mich auf rein sprachlich formulierte Texte. Filme und Comics wären zwar ebenfalls interessante Kommunikationsformen, die unter dem Aspekt ihrer vor­ handenen oder nicht vorhandenen Fiktionalität analysiert werden könnten und die aufgrund ihrer anders gearteten medialen und semiotischen Affordances und Con­ straints eine Modifikation einer Fiktionalitätstheorie erforderlich machen würden. Jedoch müsste hierzu zusätzlich eine Theorie bildlicher Kommunikation entwickelt bzw. diskutiert werden, was im gegebenen Rahmen nicht möglich ist. Wenn von fiktiven Gegenständen und fiktionalen (Text-)Welten die Rede ist, muss zunächst geklärt werden, wie die Begriffe Fiktivität und Fiktionalität, die im Alltag und zuweilen in der Forschung nicht klar unterschieden werden, zu verstehen sind bzw. wie sie hier gebraucht werden (vgl. dazu Weidacher 2007, 36 ff.). Mit dem Gegensatzpaar fiktiv vs. faktiv sollen als in der Wirklichkeit nicht existent bzw. existent angenommene Objekte, Personen oder Situationen bezeichnet werden. Fiktiv sind demnach zum Beispiel Einhörner  – es sei denn, man glaubt an deren Existenz in der realen Welt,  – Josef K. oder ein von der im I. Weltkrieg siegreichen Habsburgermonarchie beherrschtes Mitteleuropa. Faktivität wird hingegen allen Gegenständen zugeschrieben, die als im jeweiligen Wirklichkeitsmodell existent angenommen werden, also zum Beispiel der Computer, an dem ich gerade schreibe, der amerikanische Präsident Obama oder ein historisches Ereignis. Fiktional und ebenso faktional sind hingegen Prädikate, die Texten und den von ihnen induzierten und bei der kognitiven Verarbeitung erzeugten Textwelten zuge­ schrieben werden. Der Unterschied zwischen fiktionalen und faktionalen Texten besteht – so viel kann hier vorläufig festgestellt werden – darin, dass sie unter dem Vorzeichen eines jeweils spezifischen Modus der referentiellen Bezugnahme verstan­ den werden, wobei faktionale Texte nach Beurteilung des jeweiligen Autors und des Rezipienten einen direkten Bezug zur empirischen Wirklichkeit aufweisen, fiktionale hingegen nicht. Aus dieser Begriffsbestimmung folgt, dass Elemente der Textwelt eines fiktio­ nalen Textes – also quasi fiktionale Gegenstände – nicht mit fiktiven Gegenständen gleichzusetzen sind, da einerseits zum Beispiel im Zuge kontrafaktischer Aussagen genannte Gegenstände zwar fiktiv, aber nicht fiktional sind und andererseits nicht alle Elemente einer fiktionalen Textwelt vollständig fiktiv sein müssen. Ein Beispiel dafür sind in der Wirklichkeit existierende Orte wie Berlin oder Wien, die in einem fiktionalen Text genannt und als Handlungshintergrund verwendet werden. Das Substantiv Fiktionalität wird als Derivation zu fiktional betrachtet, wie par­ allel dazu Fiktivität als von fiktiv abgeleitetes Substantiv. Die Definition der beiden

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Begriffe resultiert somit aus der Bedeutung bzw. der Verwendungsweise der beiden Adjektive. Fiktion bleibt hingegen, was die Zuordnung zu fiktional oder fiktiv betrifft, ambig, wobei im Deutschen jedoch die generelle Kernbedeutung eher mit dem Bereich des Fiktiven in Zusammenhang zu stehen scheint, da unter einer Fiktion im Allgemeinen etwas verstanden wird, das als imaginiert und damit als mit der Prädi­ kation „nicht in der Wirklichkeit existent“ versehen betrachtet wird (vgl. Weidacher 2007, 39). Im Englischen bezeichnet fiction hingegen vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich fiktionale Prosa, also Texte, weshalb fiction enger mit dem Begriff der Fiktionalität verwandt erscheint. Im Zuge dieser Begriffsabgrenzung wurden bereits Aspekte impliziert oder ange­ deutet, die schon für einen mehr oder weniger alltagssprachlichen oder zumindest bildungssprachlichen Gebrauch dieser Wörter relevant sind, die vor allem aber zur wissenschaftlichen Beschreibung und Definition des Phänomens der Fiktionali­ tät, wenn auch mit durchaus divergierenden Resultaten, herangezogen werden. Im folgenden Abschnitt soll nun der zentrale Begriff der Fiktionalität näher diskutiert werden.

2 Fiktionalität Wissenschaftliche Ansätze zur Erläuterung des Phänomens Fiktionalität fokussieren im Allgemeinen einen von zwei Aspekten: Entweder werden referenzsemantische Besonderheiten als konstitutiv für Fiktionalität postuliert oder es wird versucht dar­ zustellen, welche Eigenheiten auf pragmatischer Ebene fiktionale Texte von anderen abheben, wobei es auch zu einer Verknüpfung beider Aspekte in Fiktionalitätsdefini­ tionen kommen kann, wie zum Beispiel in der von Blume (2004, 78): Ein Text ist genau dann als fiktional einzustufen, wenn – der global mit ihm gegebene Darstellungszusammenhang (das Makroscript) an mindestens einer Stelle ein nicht in der Enzyklopädie des Verfassers bereitliegendes, intentional neu geschaffenes Konzept enthält – und wenn Ziel der Darstellung dabei weder die Täuschung des Rezipienten noch das unmit­ telbare Erfassen eines Wirklichkeitsausschnitts ist.

Diese Bestimmung von Blume soll den Ausgangspunkt für die kurze Diskussion der beiden zentralen Aspekte von Fiktionalität bilden.

2.1 Referenzsemantische Aspekte Der referenzsemantische Aspekt ist in Blumes Bestimmung insofern enthalten, als diese impliziert, dass mindestens ein Element bzw. ein Konzept in einem fiktionalen

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Text keine Entsprechung in der Wirklichkeit – wenn man wie Blume offensichtlich an dieser Stelle (vgl. dazu auch Blume 2004, 80) unter „Enzyklopädie“ das Wissen über die ‚wirkliche Welt‘ versteht – aufweist, sodass zumindest in diesem Fall nicht auf etwas Außersprachliches, genauer: auf etwas vorab außersprachlich Existieren­ des referiert werden kann. Damit wird solchen Elementen fiktionaler Texte prinzipiell die Referenzialisierbarkeit abgesprochen, sofern man, was Blume allerdings zumin­ dest nicht in diesem strengen Sinn tut, vom Existenzaxiom der Referenz ausgeht, das besagt, dass alles, worauf man referiert, existieren muss (vgl. Hempfer 1990, 132 u. Zipfel 2001, 50). Auf dieser Annahme der fehlenden Referenzialisierbarkeit in diesem Sinne beruht zum Beispiel die folgende Definition von Fiktion: Fiktion lat. „fictio“: „Erfindung“, „Erdichtung“. Fiktional sind diejenigen narrativen (auch dra­ matischen) Texte, die keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit (Fundierung in empirischwirklichem Geschehen) erheben, die also erzählen, „was möglich“ oder vorstellbar ist […] (Glossar zu Arnold/Detering 1997, 661)

Ähnlich argumentiert Petersen (vgl. 1996, 31), für den fiktionale Aussagen dadurch gekennzeichnet sind, dass sie prinzipiell nicht referenziell seien und damit in einem grundsätzlichen Gegensatz zu Wirklichkeitsaussagen stünden, in denen von wirkli­ chen Gegenständen oder Vorfällen gesprochen werde und denen es zugleich um die Wirklichkeit und ihre Darstellung zu tun ist (vgl. Petersen 1995, 147), was nur auf­ grund von Referenzialisierbarkeit bzw. konkreter Referenz möglich sei. Der diesen Definitionen von Fiktionalität zugrundeliegende eng gefasste und ausschließlich auf die empirische Wirklichkeit bezogene Referenzbegriff ist jedoch höchst problematisch und muss aus zwei Gründen zurückgewiesen werden: Erstens stellte schon Strawson (1950, 326) richtig fest: „‚Mentioning‘, or ‚refer­ ring‘, is not something an expression does; it is something that some one [sic!] can use an expression to do.“ Nicht Wörter oder Ausdrücke referieren demnach, sondern es sind Sprecher und Schreiber, die sich mithilfe von Wörtern auf etwas beziehen, auf etwas referieren, wobei auch dies noch eine verkürzte Darstellung ist, da die Sprech­ handlung der Referenz nur als kollaborativer Prozess erfolgreich funktionieren kann (vgl. Clark/Wilkes-Gibbs 1986, 2 f.). Das heißt, dass eine Koordinierung der Referen­ zialisierung von Aussagen durch die an der jeweiligen Kommunikation Beteiligten, also vor allem Sender und Empfänger, erfolgen muss, jedenfalls aber nicht durch den referierend gebrauchten Ausdruck selbst gewährleistet wird. Damit wird Referenz im Übrigen auch nicht mehr (nur) als semantisches Phänomen betrachtet, sondern als ein genuin pragmatisches (vgl. Weidacher 2007, 131). Zweitens können sich Sprecher oder Schreiber auch auf Elemente anderer Welten beziehen als nur auf die empirische Wirklichkeit: Nahm man früher an, dass Sprachzeichen auf die reale Welt referieren, weitete man das später auf alle möglichen Welten aus, da man ohne weiteres auch auf Gegenstände fiktiver Welten, z. B. den Weihnachtsmann, Frau Holle oder Pegasus, referieren kann. (Vater 2005, 11)

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Vater vertritt demnach einen erweiterten und aus linguistischer Sicht plausibleren Referenzbegriff. Allerdings muss hier noch differenziert werden, was man unter „alle möglichen Welten“ verstehen kann. Mögliche Welten in einem engeren  – modallo­ gischen  – Sinn werden nämlich durch die Einfügung eines Möglichkeitsoperators (vgl. Saeed 1997, 288), wie zum Beispiel in „Möglicherweise ist Karl zu Hause“, kons­ tituiert. Es handelt sich dabei also um mittels sprachlicher Äußerungen geschaffene Welten, die nicht der empirischen Wirklichkeit entsprechen. Nun werden auch fikti­ onale Welten mittels sprachlicher Äußerungen konstituiert, jedoch besteht dennoch ein grundlegender Unterschied zwischen „möglichen Welten“ in diesem Sinn und fik­ tionalen Welten: Erstere sind alternativ mögliche, aber nicht aktualisierte Ereignisfol­ gen oder Situationen, während letztere als mögliche oder unmögliche Ereignisfolgen oder Situationen zu betrachten sind, die fiktional aktualisiert oder nicht aktualisiert sein können (vgl. Weidacher 2007, 64). Anders ausgedrückt: „[…] fictional facts do not relate what could have or could not have occured in actuality, but rather, what did occur and what could have occured in fiction.“ (Ronen 1994, 9) Fiktionale Welten sind also nicht nur nicht in der empirischen Wirklichkeit aktu­ alisiert, sie sind im Gegensatz zu möglichen Welten im modallogischen Sinn auch nicht aktualisierbar. Insofern sind sie gar nicht möglich. Vielmehr handelt es sich nach Ronen (vgl. 1994, 8 f.) bei fiktionalen Welten um „parallel worlds“, die nicht direkt mit der aktualisierten empirischen Wirklichkeit relationiert sind, während mögliche Welten als „ramifying worlds“ nicht aktualisierte ‚Verzweigungen‘ der empi­ rischen Wirklichkeit darstellen, also durchaus eine direkte, durch den Modaloperator spezifizierte Relationierung zur empirischen Wirklichkeit aufweisen. Obwohl demzufolge eine differenzierte Betrachtung der „möglichen Welten“, von denen Vater spricht, notwendig ist, kann trotzdem festgestellt werden, dass Referenz auf Elemente aller dieser Welten erfolgen kann, nicht nur auf die empirische Wirklich­ keit, wobei diese Erweiterung des Referenzbegriffs auch vor dem Hintergrund einer mehr oder weniger konstruktivistischen Auffassung unserer Erfahrung der Welt zu sehen ist. Sofern wir davon ausgehen, dass wir die ‚Realität‘ nicht direkt, sondern nur über die sensorisch und in Interaktion mit ihr gewonnenen Informationen und unsere kognitiv aus diesen konstituierten Weltmodelle erfahren können, erscheinen die Unterschiede zwischen unserem Modell der empirischen Wirklichkeit und unseren ebenfalls kognitiv konstituierten Modellen möglicher oder fiktionaler Welten aus kog­ nitiver Sicht nicht mehr prinzipieller Natur zu sein. Damit ist auch die grundlegende Unterscheidung der Referenzialisierbarkeit in Bezug auf die empirische Wirklichkeit im Gegensatz zu anderen Welten nicht haltbar, zumal: [W]hen people communicate linguistically, they do not communicate about the world plain and simple, but about the world as humanly understood. The entities to which speakers refer are not entities in “the world” plain and simple, but rather entities available in the human construal of the world. (Jackendoff 1997, 544)

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Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass man die Spezifität fiktionaler Texte nicht dadurch fassen kann, dass man ihnen im Gegensatz zu „Wirklichkeitsaussagen“ (Petersen 1995, 141) eine fehlende Referenz bzw. Referenzialisierbarkeit zuschreibt. Vielmehr beruht das Spezifische eines fiktionalen Textes darauf, dass „[…] er über eine Welt, die er allererst konstituiert, redet, als gäbe es sie schon.“ (Hempfer 1990, 132) Es wird also so getan, als existierten die Elemente der Textwelt, auf die refe­ riert wird, schon vorab, unabhängig vom Text selbst. Diese Existenzpräsupposi­ tion, mittels derer dem Leser die Existenz fiktionaler Entitäten suggeriert wird (vgl. Hempfer 1990, 131) spielt nicht nur für die Diskussion der Referenzproblematik fikti­ onaler Texte eine Rolle, sondern auch für die des zweiten in der Fiktionalitätstheorie diskutierten Aspekts fiktionaler Texte, nämlich deren spezifische Eigenheiten auf der pragmatischen Ebene.

2.2 Pragmatische Aspekte Im zweiten Teil seiner Definition (siehe oben) ordnet Blume fiktionalen Texten als das ihnen zuzuschreibende Ziel der Darstellung weder die Täuschung des Rezipien­ ten noch das unmittelbare Erfassen eines Wirklichkeitsausschnitts zu. Damit spricht er zunächst die dem Text zugrundeliegende Intention an, darüber hinaus die Spe­ zifik fiktionaler Texte als sprachliche Handlungen, also zwei genuin pragmatische Aspekte. Diese spielen in der Fiktionalitätstheorie von jeher eine wichtige Rolle. Als Ausgangspunkt für die Diskussion dessen, was Autoren fiktionaler Texte tun, wenn sie einen solchen Text verfassen, können Platons Vorwürfe gegenüber Dichtern betrachtet werden, die dieser im Dialog Der Staat erhebt: Dichter imitieren Platon zufolge nur etwas, von dem sie noch dazu nichts verstehen. Sie sind „Hersteller von Schattenbildern“ (Platon 1923, 395) bzw. von „Scheingebilden“ (ebd., 394), denen es mehr darum geht, mit ihrer Kunst zu beeindrucken, als sich der Wirklichkeit oder gar der Wahrheit anzunähern, wozu sie aufgrund ihrer Ignoranz ohnehin nicht imstande wären. Darüber hinaus täuschen sie die Nachahmung von Wirklichkeit nur vor, weil sie eigentlich nur Erscheinungen imitieren (vgl. Lamarque 2009, 222). Damit sind ihre Werke potenziell gefährlich, indem sie zumindest unbedarfte Rezipienten über die Wirklichkeit täuschen. Diese in der Folge auf den Topos des Dichters als Lügner zugespitzte Kritik wies bereits 1583 Sir Philip Sidney in The Defence of Poesy („Now, for the poet, he nothing affirms, and therefore never lieth.“) zurück, wobei er den wohl bekanntesten pragma­ tisch orientierten Ansatz einer Fiktionalitätstheorie, nämlich den von Searle, bereits vorwegnimmt. Searle (1979, 60) beginnt seine Ausführungen mit folgendem Beispiel:

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[…] if the author of a novel tells us that it is raining outside he isn’t seriously committed to the view that it is at the time of writing actually raining outside. It is in this sense that fiction is nonserious.

Das heißt, aus der sprechakttheoretischen Sicht Searles stellt der Autor nur formal eine Behauptung auf, die jedoch die Bedingungen des illokutionären Aktes des Behauptens nicht erfüllt. Sowohl die „essential rule“  – jemand, der eine Behaup­ tung vollzieht, verpflichtet sich zur Wahrheit der behaupteten Proposition – als auch die „preparatory rule“  – der Sprecher muss fähig sein, die Wahrheit der Proposi­ tion belegen zu können – sowie die „sincerity rule“ – der Sprecher verpflichtet sich, an die Wahrheit der Proposition zu glauben und damit das Gesagte auch ernst zu nehmen – (zu den Regeln vgl. Searle 1979, 62) werden verletzt, da der Autor eines fik­ tionalen Textes unter anderem nicht an die Wahrheit seiner Propositionen im Sinne einer Entsprechung gegenüber den Tatsachen der empirischen Wirklichkeit glaubt und er auch keinen text-externen oder ontologischen Beweis für seine Behauptung erbringen kann (vgl. Weidacher 2007, 69). Der Autor eines fiktionalen Textes behaup­ tet somit im sprechakttheoretischen Sinn nichts, er täuscht vielmehr Behauptungen bzw. Assertionen nur vor: [The author of a fictional work] is engaging in a nondeceptive pseudoperformance which consti­ tutes pretending to recount to us a series of events. […] the author of a work of fiction pretends to perform a series of illocutionary acts, normally of the assertive type. (Searle 1979, 65)

Dieses pretending oder Vortäuschen ist jedoch kein Täuschen im Sinne Platons, schon gar kein Lügen, da beim Autor keine intention to deceive, also keine Täuschungsab­ sicht vorliegt, was aber eine der Bedingungen für eine Lüge wäre, wenn man der Defi­ nition von Giese (vgl. 1992, 84 u. Weidacher 2007, 42) folgt: Eine Lüge liegt dann vor, wenn: i. Der Sprecher behauptet, dass p; ii. Der Sprecher die Intention hatte, den Hörer glauben zu machen, dass p; iii. Der Sprecher nicht geglaubt hat, dass p;

Um eine Lüge von einer Aussage in einem fiktionalen Text bzw. von einem „preten­ ded illocutionary act“ der Behauptung abzuheben, könnte man feststellen, dass eine Lüge alle drei genannten Bedingungen erfüllt, während eine fiktionale Behauptung nur die Bedingung iii. voll erfüllt, die Bedingung i. hingegen nur scheinbar und ii. überhaupt nicht, sofern jeweils die Proposition p als auf die empirische Wirklichkeit bezogen verstanden wird. Diese auf den ersten Blick zufriedenstellende Abgrenzung fiktionaler Aussagen von Lügen weist jedoch in Hinblick auf eine Definition von Fiktionalität zumindest zwei schwere Mängel auf: Erstens diskutiert Searle seiner Sprechakttheorie entspre­ chend stets nur einzelne Äußerungen in Hinblick auf ihren Status als vorgetäuschte

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Behauptungen, während es erst die Erfassung eines ganzen Textes als komplexe Äußerung erlaubt, dessen fiktionalen Charakter zu bestimmen. Zudem ergäbe sich erst dadurch, wie es an sich literaturwissenschaftlicher Standard ist, die Möglich­ keit, als Aussageinstanz nicht den Autor, sondern einen Erzähler zu identifizieren (vgl. Zipfel 2001, 190) oder einen Protagonisten der Handlung – beiden lässt sich eine Intention, fiktional zu sprechen, nicht unterstellen. Zweitens fokussiert Searle in seinem Ansatz nur die Senderseite von Kommunika­ tion, was im Grunde ebenfalls bereits in der Sprechakttheorie so angelegt ist, er aber auch explizit anspricht: „Roughly speaking, whether or not a work is literature is for the readers to decide, whether or not it is fiction is for the author to decide.“ (Searle 1979, 65) Diese Aussage wird dem Funktionieren von Kommunikation jedoch nicht gerecht, das auf einer Kooperation von Sender und Empfänger bei der Konstitution von Äußerungsbedeutungen beruht. Ein zentraler Aspekt der Kooperation zwischen Sender und Rezipient ist der still­ schweigende Abschluss eines fiktionalen Vertrags zwischen beiden Instanzen, der darauf hinausläuft, dass die Frage nach der Referenzialisierbarkeit bzw. die Wahr­ heitsfrage innerhalb der Grenzen eines fiktionalen Textes nicht gestellt wird (vgl. Assmann 1980, 152). Auf Seiten des Rezipienten kommt es dabei zu einer „freiwilli­ gen Suspendierung des Unglaubens“, wie es Assmann (1989, 256) in Anlehnung an Coleridge nennt. Im Zuge dessen hinterfragt der Rezipient die vom Autor in den fik­ tionalen Text eingeschriebenen Existenzpräsuppositionen nicht, sondern akzeptiert für die Zeit seiner Lektüre die Existenz der entsprechenden Entitäten in der Textwelt. Eine in manchen Punkten ähnliche Auffassung von fiktionaler Kommunika­ tion  – und damit auch einen die pragmatischen Aspekte fokussierenden Ansatz  – vertritt Currie (1990). Er greift dabei auf Waltons Begriff des „make-believe“ zurück und betrachtet die diesbezügliche spezifische Intention des Autors eines fiktionalen Textes als zentral: What the author of fiction does intend is that the reader take a certain attitude toward the pro­ positions uttered in the course of his performance. This is the attitude we often describe, rather vaguely, in terms of “imaginative involvement” or (better) “make-believe”. We are intended by the author to make believe that the story as uttered is true. (Currie 1990, 18; Hervorh. im Orig.)

Die spezifische Autorintention ist demnach auf den Leser hin ausgerichtet: Dieser soll den Text in der propositionalen Haltung des „make-believe“ rezipieren (vgl. Zipfel 2001, 215). Eine fiktionale Äußerung funktioniert also nur, wenn der Rezipient die Haltung des „make-believe“ einnimmt, und dies aufgrund dessen, dass er die Inten­ tion des Autors erkennt. Fiktionale Kommunikation ist somit, wie jede Kommunika­ tion, wenn auch mit der ihr eigenen Spezifik des „make-believe“, ein kooperatives Handeln im Sinne von Grice (vgl. Currie 1990, 24 ff. u. Lamarque 2009, 184), das auf einer Autorintention, deren Offenlegung durch den Autor und deren Erkennen und Befolgen durch den Rezipienten beruht.

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Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der pragmatische Aspekt von Fiktionalität zunächst in einer spezifischen Intention des Autors besteht, der aber eine entsprechende – kooperative, d. h. die Intention erkennende und in ihrer Spezi­ fik akzeptierende – Rezeptionshaltung des Lesers gegenüberstehen muss. Fiktionale Texte können somit aus pragmatischer Sicht als bestimmte komplexe sprachliche Handlungen oder auch Sprachspiele im Sinne Wittgensteins betrachtet und beschrie­ ben werden, was vor einem textlinguistischen Hintergrund im nächsten Abschnitt geschehen soll.

3 Textlinguistische Bestimmung von Fiktionalität Fiktionalität ist eine Eigenheit, die bestimmten Texten zugeschrieben wird. Um sie zu beschreiben, ist es daher notwendig, zunächst überhaupt zu klären, wie textuelle Kommunikation funktioniert, und dann festzustellen, welche spezifischen Merkmale Kommunikation mittels fiktionaler Texte auszeichnet.

3.1 Textuelle Kommunikation Ein prototypischer Text ist, wenn man ihn als Produkt sprachlicher Formulierung betrachtet, eine komplexe sprachliche Einheit, die in sich an der Textoberfläche textgrammatisch wie auch auf der semantischen Ebene konzeptuell verknüpft und strukturiert ist und mit der eine komplexe sprachliche Handlung vollzogen wird (vgl. Linke/Nussbaumer/Portmann 1994, 324). Darüber hinaus unterscheiden sich Texte von anderen – bisweilen auch komplexen – sprachlichen Äußerungen dadurch, dass sie als stabilisierte „Artefakte“ (vgl. Urban 1996, 2) von der primären unmittelbaren Sprechsituation, in der sie entstanden sind, abgelöst und dadurch für eine weitere Verwendung in anderen Kommunikationssituationen zur Verfügung gestellt wurden (vgl. Ehlich 1983, 32). Diese Definition vernachlässigt jedoch den prozessualen Charakter textuel­ ler Kommunikation: Ein Text ist bei genauerer Betrachtung kein statisches Objekt, sondern wird im Zuge jeder einzelnen Rezeption stets neu konstituiert, indem eigent­ lich erst der Rezipient die konzeptuellen Zusammenhänge kognitiv herstellt. Seine Sinnkonstruktion bzw. Sinnzuschreibung erfolgt zwar auf Basis der Informationen, die auf der Textoberfläche vorzufinden sind, allerdings folgt daraus, dass diese Tex­ toberfläche, und damit das tatsächlich stabilisierte und verdauerte Artefakt, nicht der Text ist, sondern nur der Ausgangspunkt für die Textkonstitution, den man mit Stetter als „Textur“ bezeichnen kann: „Text ist dasjenige, was geschrieben und ver­ standen wird, die Textur das, was geschrieben ist und gelesen wird.“ (Stetter 1999, 294; Hervorh. im Orig.) Ein Text ist demnach erst gegeben, wenn es zu einer kogniti­

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ven Aktualisierung seines Sinns gekommen ist, woraus folgt, dass ein Text die Ver­ knüpfung einer Textur mit einem auf ihr beruhenden Rezeptionsergebnis darstellt. Die Textur ist somit der Auslöser für eine sinnkonstituierende Rezeption und lenkt diese zugleich bis zu einem gewissen, je nach Text unterschiedlichen Grad durch die in sie semiotisch-sprachlich eingeschriebenen Informationen. Das dyna­ misch im Zuge der Rezeption und auf Basis dieser Informationen konstituierte Sinn­ konstrukt  – also die kognitive Ebene eines Textes  – bezeichnet man als „Textwelt­ modell“ (vgl. Schwarz-Friesel/Consten 2014, 58). Um ein solches Textweltmodell zu erstellen, muss ein Rezipient – angeleitet von der Textur und etwaigen kontextuellen Informationen – auf sein Weltwissen zurückgreifen, indem er Frames, d. h. kognitive Rahmen (vgl. Minsky 2000, 93) aufruft, die in seinem Gedächtnis gespeichert sind. Die im Zuge dieser Rezeptionsprozesse vorgenommene Konstitution des Text­ weltmodells geht mit einer Referenzialisierung einher, also der Referenz auf außer­ sprachliche Sachverhalte bzw. eigentlich auf deren Frames, die auf diese Weise als Elemente des Textweltmodells in dieses integriert werden (vgl. Schwarz-Friesel/ Consten 2014, 58). Wichtig ist dabei, dass die Referenzialisierung erfolgreich ist, das heißt, von Autor und Rezipient in ausreichendem Ausmaß übereinstimmend erfolgt. Nur in diesem Fall wird der Rezipient ein Textweltmodell konstituieren, das der Inten­ tion des Autors entspricht.

3.2 Die Konstitution fiktionaler Textwelten Die Rezeption fiktionaler Texte und damit die Konstitution fiktionaler Textwelten funktioniert im Grunde auf dieselbe Art und Weise wie bei allen Texten. Allerdings lässt sich die kognitive Verarbeitung fiktionaler Texte von der faktionaler Texte auf­ grund von Eigenheiten bei der Referenzialisierung unterscheiden, die die Grundlage für die Spezifik fiktionaler Textweltmodelle sind. Indefinite Referenz, die typischerweise mittels einer Nominalphrase mit indefini­ tem Artikel erfolgt, steht im Normalfall am Beginn eines Textes bzw. generell dann, wenn eine Entität erst eingeführt, als existierend etabliert und identifiziert werden muss, um so dem Rezipienten die Referenzialisierung dieser Entität zu ermöglichen: An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, Namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. – Dieser außerordentliche Mann […] (Heinrich von Kleist 1810, Michael Kohlhaas, 13)

Hier wird auf die Hauptfigur der Erzählung zunächst indefinit Bezug genommen („ein Roßhändler“), sodann aber durch eine nähere Charakterisierung eine Weiter­ führung mittels definiter Referenz („Dieser außerordentliche Mann“) ermöglicht, da diese Entität nunmehr im Textweltmodell des Rezipienten etabliert ist. In der Folge

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kann auf dieses Element der Textwelt Bezug genommen werden. Dies ist eine Vor­ gangsweise, die zunächst bei fiktionalen wie auch faktionalen Texten möglich ist. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass bei einem faktionalen Text die Entität, auf die referiert wird, unabhängig von der Referenz im Text existiert, während dies in einem fiktionalen Text nicht der Fall ist. An der Textoberfläche ist dieser Unterschied jedoch nicht zu erkennen, was auch beim Vergleich folgender Textpassagen auffällt: Es war spät abend als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehn, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. (Franz Kafka 1926, Das Schloß, 9) Das Schloß in Friedland. Die vielen Möglichkeiten, es zu sehn: aus der Ebene, von einer Brücke aus, aus dem Park, zwischen entlaubten Bäumen, aus dem Wald zwischen großen Tannen durch. (Franz Kafka 1935, Reisetagebücher, 14)

In beiden Zitaten – dem Beginn des Schloß-Romans und einem Ausschnitt aus den Reisetagebüchern Kafkas – wird mithilfe einer Nominalphrase mit definitem Artikel definit auf das Schloß referiert, ohne dass diese Entität vorher eingeführt worden wäre, wobei im Falle, dass es in Friedland nur ein Schloss gäbe, diese definite Refe­ renz aufgrund der spezifizierenden Charakterisierung begründbar wäre. Entschei­ dender aber ist, dass durch die definite Referenz die Existenz des Schlosses, und zwar genau dieses einen Schlosses präsupponiert wird. Diese Existenzpräsupposition ließe sich jedoch nur im zweiten Zitat auch ontologisch überprüfen. Dies bedeutet, dass Referenz im Verein mit einer Präsupposition der Existenz des Referenten sowohl in faktionalen wie auch in fiktionalen Texten möglich ist und dass sie mit denselben sprachlichen Mitteln erfolgt, dass aber, was an der Oberfläche zunächst nicht erkenn­ bar ist, eine andere Modalität der Referenz vorliegt. Mit Dietrich (1992, 20)  – allerdings terminologisch an unsere eingangs (siehe Kap. 1) durchgeführten Definitionen angepasst – können wir Fiktionalität als Modal­ kategorie der referentiellen Ebene betrachten, wobei fiktionale Referenz dadurch gekennzeichnet ist, dass ein referierender Ausdruck nicht unter Bezugnahme auf die klassische  – damit ist die empirische Wirklichkeit gemeint  –, sondern auf eine nicht-klassische Welt zu interpretieren ist (vgl. Dietrich 1992, 29), im speziellen Fall auf eine fiktionale Textwelt. Die Fiktionalität eines Textes beruht demzufolge darauf, dass dem vom Rezipienten auf Basis der gegebenen textuellen Informationen kog­ nitiv konstituierten Textweltmodell bzw. Elementen dieses Modells eine fiktionale referenzielle Modalität im Gegensatz zu einer faktionalen zugewiesen wird, wodurch die Geltungsansprüche der im Text getätigten Aussagen in Hinblick auf die jeweilige Textwelt relativiert, d. h. referenziell modalisiert werden (vgl. Weidacher 2007, 133 f. u. Köller 1988, 354). Mit Harshaw (1984, 232) kann man auch davon sprechen, dass diese Modalisie­ rung der Referenz durch eine Relativierung des Wahrheitswerts einer im Text vor­ kommenden Proposition bezüglich eines „internal field of reference“ erfolgt. Dieses

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textinterne Referenzfeld eines fiktionalen Textes wird einerseits mittels einer imagi­ nativen Präsentation nicht unabhängig von der Textwelt präexistenter Elemente auf­ gebaut, andererseits aber auch durch einen Rückgriff auf Frames, die einem „exter­ nal field of reference“ entstammen, wobei das wichtigste externe Referenzfeld unser Modell der empirischen Wirklichkeit ist. Diese Bezugnahme auf vorhandene Frames erleichtert nicht nur sowohl für den Autor als auch den Rezipienten den Aufbau einer Textwelt, sondern ist unvermeid­ lich, weil eine Imagination einer Textwelt gleichsam aus dem Nichts unmöglich ist. Selbst im Falle so fantastischer Romane wie Abbotts Flatland (1884) müssen Wis­ senselemente, die dem Text präexistent und die Autor und Rezipient bekannt sind, eingebaut werden, da andernfalls ein Verstehen des Textes, aber auch schon sein For­ mulieren nicht gelingen kann. Allerdings erfahren auch diese ursprünglich externen Entitäten eine referenzielle Modalisierung, sobald sie Teile einer fiktionalen Textwelt werden: Das London, in dem Sherlock Holmes lebt, basiert zwar auf dem Frame, der das London der empirischen Wirklichkeit des späten 19. Jahrhunderts kognitiv reprä­ sentiert, es ist aber nicht dieses London – schon alleine, weil eben Sherlock Holmes dort lebt. Harshaw (1984, 243) spricht in einem solchen Fall von der „double layered nature of literary reference“, weil einerseits durch die Nennung des aus der empi­ rischen Wirklichkeit bekannten Ortsnamens London eine Referenz auf den entspre­ chenden Frame hergestellt wird, andererseits aber der konkrete Referent in der fiktio­ nalen Textwelt situiert bzw. mit dieser relationiert wird. Dadurch erfährt London eine Re-Kontextualisierung, die die fiktionale Textwelt der Sherlock-Holmes-Geschichten als neuen Kontext etabliert, damit aber zugleich den Referenten London als Element der Textwelt fiktionalisiert. Trotz dieser Re-Kontextualisierung bleibt das ‚reale‘ London bzw. der entspre­ chende Frame im Hintergrund für die Konstitution des Textweltmodells stets relevant, denn alles, was nicht im Text ausdrücklich als vom Referenten in der empirischen Wirklichkeit abweichend dargestellt wird, muss als mit diesem übereinstimmend ver­ standen werden (vgl. Eco 1996, 112). Dies kann im Übrigen durchaus zur Verwirrung des Rezipienten führen, wenn die Eigenheiten eines fiktionalen Referenten, wie zum Beispiel die des Gerichts in Kafkas Proceß, als immer weniger kompatibel mit dem durch das Lexem aufgerufenen Frame eines Gerichts in der empirischen Wirklichkeit erscheinen (vgl. Weidacher 2012, 53), ohne dass die Unterschiede explizit thematisiert werden. Gerade letzteres Beispiel zeigt auch, was allerdings allgemein für fiktionale Referenten gilt: Damit für den Rezipienten kenntlich ist, wie er sich einen solchen Referenten genau vorstellen, d. h. mit welchen Eigenschaften er ihn in seinem Text­ weltmodell versehen soll, genügt es nicht immer, nur die Referenz auf den entspre­ chenden Frame herzustellen. Vielmehr braucht ein Text zur Konfiguration seiner Textwelt auch Beschreibungen zumindest der für die Erzählung zentralen Referen­ ten (vgl. Klotz 2013, 27). Nur so kann der Rezipient das Spezifische an einem aus der empirischen Wirklichkeit in die fiktionale Textwelt ‚importierten‘ Referenten erken­

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nen und nur so kann er überhaupt einen genuin fiktionalen, also für die fiktionale Textwelt sprachlich neu geschaffenen Referenten imaginieren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in fiktionalen Texten auf Entitäten referiert wird, die, auch wenn die dafür herangezogenen Frames einem „external field of reference“ entnommen sind, nur aufgrund der sprachlichen Formulierung des Textes existieren. Nun werden Textwelten als im Zuge der Formulierung von Texten strukturierte und perspektivisch selektierte Sachverhaltskomplexe generell sprach­ lich erst geschaffen (vgl. Antos 1997, 52), jedoch unterscheiden sich fiktionale Text­ welten von faktionalen aufgrund der spezifischen Modalisierung der Referenz, die die gesamte Textwelt als fiktional kennzeichnet. Wie wir allerdings gesehen haben (Kap. 2.1), referieren eigentlich nicht Wörter, sondern ihre Benutzer, d. h. der Autor und der Rezipient. Ihre Rolle bei der Konstitution fiktionaler Textwelten muss daher noch kurz angesprochen werden.

3.3 Modell-Autor und Modell-Leser fiktionaler Texte Wie wir schon in Kap. 2.2 gesehen haben, ist ein entscheidender Aspekt von Fiktio­ nalität die Intention des Autors, einen Text mit fiktionaler Referenz zu formulieren, ohne dabei den Rezipienten über die spezifische Modalität der Referenz bzw. die fehlende direkte Bezugnahme auf die empirische Wirklichkeit zu täuschen. Diese Intention ist für den Rezipienten, dem die kognitiven Prozesse des Autors ja nicht direkt zugänglich sind, nur dann erkennbar, wenn sie sich semiotisch in der Textur manifestiert, wenn sie also auf die eine oder andere Weise signalisiert wird. Der Autor muss also, sofern er kooperativ handeln und zugleich den Rezipienten zur Koopera­ tion einladen will, mit Hilfe von Zeichen einen Text formulieren, der den Rezipienten dazu veranlassen soll, die entsprechende Interpretation der kommunikativen Inten­ tion des Autors zu entwickeln (vgl. Weidacher 2007, 79). Anders ausgedrückt schreibt der Autor seinem Text quasi einen Leser oder eine Lesehaltung ein, die als Anleitung für die kognitive Prozessierung des Textes im Zuge der Rezeption zu betrachten ist. Dieser Lector in fabula (Eco 1990) ist der vom Autor anvisierte Modell-Leser, der sich der Autorintention entsprechend an die Spielregeln des jeweiligen Textes hält (vgl. Eco 1996, 20). Im Falle der Rezeption eines fiktionalen Textes bedeutet dies, dass ein konkreter Rezipient, der den dem Text eingeschriebenen Modell-Leser als Rezep­ tionsanleitung akzeptiert, sich an die spezifischen Spielregeln hält, indem er vor allem die fiktionale Modalität der Referenz erkennt und sie bei der Referenzialisie­ rung und der Konstitution des fiktionalen Textweltmodells berücksichtigt. Dies hat weiters zur Konsequenz, dass der Rezipient einen Modell-Autor – dessen in diesem Fall wichtigste Facette die Intention der fiktionalen Modalisierung der Propositionen des Textes ist – als Aussagesubjekt des Textes konstituiert, der als eine Erzählstrate­ gie bzw. als ein Ensemble von Instruktionen zu verstehen ist (vgl. Eco 1996, 26) und als solches ebenfalls semiotisch in der Textur verankert sein muss.

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Entscheidend ist bei der im Zuge sowohl der Textproduktion als auch der Textre­ zeption erfolgenden Konstitution des Modell-Autors und des Modell-Lesers eines fik­ tionalen Textes, dass beide zwar bis zu einem gewissen, aber von Text zu Text unter­ schiedlichen Grad in die Textur eingeschrieben sind, dass es sich aber schlussendlich um Interpretationskonstrukte und um pragmatische Zuschreibungen handelt. Daraus folgt, dass auch die Feststellung der dem Text zugrundeliegenden und sich in den Konstrukten von Modell-Autor und Modell-Leser manifestierenden Intention eine durch die Textur angeleitete, dennoch aber pragmatische Zuschreibung durch die mittels des fiktionalen Textes Kommunizierenden ist (vgl. Weidacher 2007, 140). Für den Erfolg der Kommunikation ist dabei essentiell, dass sowohl Autor als auch Rezipient dem Text in ausreichender Übereinstimmung einen kommunikativen Sinn und damit in unserem Fall Fiktionalität zuschreiben. Sie müssen – der Autor durch seine Formulierungen, der Rezipient durch sein kooperatives Rezeptionsverhalten – zu einer Äquilibrierung ihres Textverständnisses und damit auch ihrer pragmatischen Zuschreibungen gelangen. Dies ist allerdings, speziell auf Seiten des Rezipienten, nur möglich, wenn die Textur Signale enthält, die anzeigen, dass ein Textweltmodell auf Basis von Propositionen mit fiktionaler Referenz zu konstituieren ist.

4 Fiktionalitätssignale Fiktionalitätsmerkmale, wie die fiktionale Modalität der Referenz und die spezifi­ sche pragmatisch zugeschriebene Autorintention, sind von Fiktionalitätssignalen zu unterscheiden (vgl. Hempfer 1990, 120). Erstere sind Eigenheiten von fiktionalen Texten, die allerdings  – wie Fiktionalität überhaupt  – nicht selbst-anzeigend sind. Vielmehr können diese Fiktionalitätsmerkmale streng genommen einem Text erst zugeschrieben werden, wenn dessen fiktionaler Charakter durch Fiktionalitätssi­ gnale angezeigt worden ist. Diese fungieren als Kontextualisierungshinweise (vgl. Portmann-Tselikas/Weidacher 2010, 34 ff.) mit dem Ziel, das zu konstituierende Text­ weltmodell mit dem Merkmal fiktional zu versehen und es so in dieser Hinsicht zu kontextualisieren. Fiktionalitätssignale lassen sich grundsätzlich in paratextuelle und textuelle Signale unterscheiden. Als bedeutende paratextuelle Signale kann man Bezeichnun­ gen fiktionaler Textsorten oder Gattungen (z. B. Roman, Novelle etc.) betrachten, die zum Beispiel im Untertitel literarischer Werke angeführt werden. Allerdings können auch diese irreführend sein, wie das Beispiel von Hildesheimers (1983) Marbot zeigt, ein Roman, der mit dem Untertitel Eine Biographie erschienen ist, um dem Leser Nicht-Fiktionalität zu suggerieren. Ein anderes Beispiel für ein paratextuelles Fiktionalitätssignal ist die Author’s Introduction zu Mary Shelleys Frankenstein; Or, The Modern Prometheus (1818), in der die Autorin die legendäre Entstehungsgeschichte des Buches wiedergibt, wodurch

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die Fiktionalität der Erzählung von vornherein offenbar wird. Auch in diesem Fall gibt es jedoch die Möglichkeit, einem fiktionalen Text ein Faktionalitätssignal voran­ zustellen, wie glaubhaft und wie als glaubhaft intendiert auch immer die Beteuerung der Faktionalität jeweils sein mag. Ein Beispiel hierfür ist die Herausgeberfiktion im Vorwort zu Defoes Robinson Crusoe: „The editor believes the thing to be a just history of fact; neither is there any appearance of fiction in it […].“ (Defoe 1719, 3) Während paratextuelle Signale Fiktionalität zumeist relativ explizit offenlegen, kontextualisieren textuelle Signale Texte eher konnotativ als fiktional, indem manche Eigenheiten der jeweiligen Narration, die zum Beispiel die Art der Darstellung der Ereignisse betreffen, dem Rezipienten den Schluss nahelegen, dass er einen fiktio­ nalen Text vor sich hat. Diese Fiktionalitätssignale sind somit „Indizien“ im Sinne Antos‘ (2009, 420 ff.), die als wahrgenommene Eigenheiten eines Textes den Auslöser und die Grundlage für einen solchen Schlussprozess bilden. Das vielleicht bekannteste Fiktionalitätssignal dieser Art wurde schon von Cohn (vgl. 2000, 117) postuliert: die Darstellung der Gedanken anderer Personen als des Erzählers selbst. So ist zum Beispiel die Übernahme der Perspektiven und damit auch des mentalen Innenlebens mehrerer Personen an sich nur in einem fiktionalen Text wie Geno Hartlaubs (2001) Roman Gefangene der Nacht möglich. Somit liege hier ein Fiktionalitätssignal vor. Ein Gedankenbericht kann allerdings auch in einem faktionalen Text vorkom­ men: He [= General McClellan] had the satisfaction of knowing that he was doing what he could to meet such threats as he could see. However, there were others, vague but real, invisible but felt, against which he could take no action, since all he could feel was their presence, not their shape. (Shelby Foote 1958, 476)

Es ist anzunehmen, dass dieser Gedankenbericht auf der Auswertung von Briefen, überlieferten Aussagen und Handlungen McClellans beruht und damit eine in faktio­ nalen Texten zulässige Hypothese darstellt. Zumindest ist dies beim Historiker Foote anzunehmen, der sicher keinen fiktionalen Text formulieren wollte. Dennoch bleibt, dass dieses Fiktionalitätssignal nicht immer eindeutig als solches bestimmbar ist. Ein weiteres textuelles Indiz für Fiktionalität ist ein ausgesprochener Detailreich­ tum, vor allem in der Wiedergabe von Dialogen, da es niemandem zuzutrauen ist, dass er sich alles Erlebte und Gehörte so genau merken konnte. Dieses Indiz zeigt z. B. recht eindeutig an, dass es sich bei den Romanen Karl Mays nicht um Berichte von Reisen handeln kann, die der Autor selbst unternommen hat, obwohl er dies immer wieder andeutet: „Der brave Mensch hatte mich einmal nach meinem Namen gefragt und wirklich das Wort Karl im Gedächtnis behalten.“ (Karl May 1888, 38) Dieses fin­ gierte Faktionalitätssignal, das noch paratextuell durch den Untertitel Reiseerzählung gestützt wird, wird also durch das textuelle, wenn auch nur konnotativ indizierende Fiktionalitätssignal aufgehoben.

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Die sich unter anderem in der Möglichkeit, eine Innensicht aller Personen geben und nicht wirklich nachvollziehbar detailreich erzählen zu können, manifestierende Allwissenheit eines Autors (nicht zu verwechseln mit der einer auktorialen Erzählin­ stanz) in Bezug auf seine Textwelt ist generell ein Fiktionalitätssignal, wobei diesem ein Fiktionalitätsmerkmal zugrunde liegt: Nur weil eine fiktionale Textwelt von einem Autor kreiert ist, kann er als ihr Schöpfer prinzipiell alles über sie wissen. Dieses Indiz ist nicht sehr auffällig. Man bemerkt es vielleicht am ehesten, wenn ein Autor indirekt über den von ihm eingesetzten Erzähler einmal Nicht-Wissen – vielleicht intendiert als fingiertes Faktionalitätssignal – vorgibt, wie zum Beispiel am Beginn von Joseph Conrads Youth, A Narrative: „Marlow (at least I think that is how he spelt his name) told the story […]“ (Joseph Conrad 1902, 139). Ein anderes Fiktionalitätssignal, das auch schon Cohn (vgl. 2000, 123 ff.) pos­ tuliert, aber zugleich in seiner Wirksamkeit auf homodiegetische Texte beschränkt, beruht auf der Nicht-Identität zwischen Autor und Erzähler in fiktionalen Texten, die aber nur im Falle von Ich-Erzählungen wie Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull oder David Copperfield offensichtlich ist, weil hier der Name des Erzählers und der des Autors nicht identisch sind. Somit ist dieses Fiktionalitätssignal in seiner Nütz­ lichkeit für den Rezipienten stark eingeschränkt. Zuletzt soll noch auf die Bedeutung des Inhalts fiktionaler Texte für Fiktionali­ tät (vgl. Lamarque 2009, 185) und als Fiktionalitätssignal hingewiesen werden: Dass die Entitäten der fiktionalen Textwelt eines realistischen Romans keiner faktionalen Modalität der Referenz unterliegen, ist ihnen selbst bzw. ihren sie erst konstituieren­ den Beschreibungen nicht ablesbar. Anders sieht es allerdings in fantastischen Erzäh­ lungen wie Lord of the Rings oder Abbotts Flatland aus, wo man aus dem Vorkommen von Orcs bzw. eines sprechenden Quadrats, also bekanntermaßen nicht in der empiri­ schen Welt existierenden Entitäten, auf die Fiktionalität der Textwelt schließen kann. Alle diese Fiktionalitätssignale, wobei die Auflistung hier nicht als vollständig zu betrachten ist, sind, wie festgestellt wurde, nur Indizien, die die Interpretation eines Textes als fiktional mehr oder weniger stark nahelegen. Sie sind wichtig, damit ein Rezipient ein adäquates fiktionales Textweltmodell konstituieren kann. Sie sind aller­ dings nicht notwendig und auch nicht hinreichend als Kriterien für die Zuschreibung von Fiktionalität.

5 Zusammenfassung Fiktionalität ist zu bestimmen als im Rezeptionsprozess zwischen Autor und Rezi­ pient äquilibrierte pragmatische Zuschreibung an einen Text, und zwar dergestalt, dass die Referenz der Propositionen im Text als fiktional modalisiert verstanden wird, dass diese Modalität der Referenz vom Autor intendiert ist und dieser den Rezipien­ ten nicht über den so relativierten Bezug auf die Textwelt und den damit fehlenden

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direkten Bezug zur empirischen Wirklichkeit täuschen will. In einem prototypischen fiktionalen Text finden sich daher auch erkennbare Fiktionalitätssignale in Form von textuellen Indizien oder expliziten paratextuellen Hinweisen.

6 Literatur 6.1 Primärliteratur Abbott, Edwin A. (1884): Flatland. A Romance of Many Dimensions. Harmondsworth 1998. Conrad, Joseph (1902): Youth. A Narrative. In: J. H. Stape/Allan H. Simmons (Hg.): Joseph Conrad: The Nigger of the ‚Narcissus‘ and Other Stories. London 2007, 137–170. Defoe, Daniel (1719): Robinson Crusoe. London 2001. Foote, Shelby (1958): The Civil War. A Narrative. 1: Fort Sumter to Perryville. London 1992. Hartlaub, Geno (2001): Gefangene der Nacht. Frankfurt a. M. 2004. Hildesheimer, Wolfgang (1983): Marbot. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1996. Kafka, Franz (1926): Das Schloß. In der Fassung der Handschrift. 8. Aufl. Frankfurt a. M. 2001. Kafka, Franz (1935): Reisetagebücher. In der Fassung der Handschrift. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2001. Kleist, Heinrich von (1810): Michael Kohlhaas. In: Klaus Müller-Salget (Hg.): Heinrich von Kleist. Sämtliche Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften. Frankfurt a. M. 2005, 12–142. May, Karl (1888): Durch die Wüste. Reiseerzählung. Bamberg/Radebeul 2003. Shelley, Mary (1818): Frankenstein; or, The Modern Prometheus. With an introduction by Elizabeth Kostova. New York 2007.

6.2 Sekundärliteratur Antos, Gerd (1997): Texte als Konstitutionsformen von Wissen. Thesen zu einer evolutionstheoretischen Begründung der Textlinguistik. In: Gerd Antos/Heike Tietz (Hg.): Die Zukunft der Textlinguistik. Traditionen, Transformationen, Trends. Tübingen, 43–63. Antos, Gerd (2009): Semiotik der Text-Performanz. Symptome und Indizien als Mittel der Bedeutungskonstitution. In: Angelika Linke/Helmuth Feilke (Hg.): Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. Tübingen, 407–427. Arnold, Heinz Ludwig/Heinrich Detering (Hg.) (1997): Grundzüge der Literaturwissenschaft. 2. Aufl. München. Assmann, Aleida (1980): Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation. München. Assmann, Aleida (1989): Fiktion als Differenz. In: Poetica 21, 239–260. Baasner, Rainer (1996): Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Unter Mitarbeit von Maria Zens. Berlin. Blume, Peter (2004): Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur. Berlin. Clark, Herbert H./Deanna Wilkes-Gibbs (1986): Referring as a collaborative process. In: Cognition 22, 1–39. Cohn, Dorrit (2000): The Distinction of Fiction. Baltimore/London. Currie, Gregory (1990): The nature of fiction. Cambridge. Dietrich, Rainer (1992): Modalität im Deutschen. Zur Theorie der relativen Modalität. Opladen.

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 Georg Weidacher

Eco, Umberto (1990): Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München. Eco, Umberto (1996): Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. München. Ehlich, Konrad (1983): Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Aleida u. Jan Assmann/Christof Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München, 24–43. Giese, Bettina (1992): Untersuchungen zur sprachlichen Täuschung. Tübingen. Harshaw, Benjamin (1984): Fictionality and fields of reference. Remarks on a theoretical framework. In: Poetics Today 5, 2, 227–251. Hempfer, Klaus W. (1990): Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 100, 109–137. Jackendoff, Ray (1997): Semantics and cognition. In: Shalom Lappin (Hg.): The Handbook of Contemporary Semantic Theory. Oxford, 539–559. Klotz, Peter (2013): Beschreiben. Grundzüge einer Deskriptologie. Berlin. Köller, Wilhelm (1988): Philosophie der Grammatik. Vom Sinn grammatischen Wissens. Stuttgart. Lamarque, Peter (2009): The Philosophy of Literature. Oxford/Malden. Linke, Angelika/Markus Nussbaumer/Paul R. Portmann (1994): Studienbuch Linguistik. 2. Aufl. Tübingen. Minsky, Marvin (2000): Eine Rahmenstruktur für die Wissensrepräsentation. In: Dieter Münch (Hg.): Kognitionswissenschaft: Grundlagen, Probleme, Perspektiven. 2. Aufl. Frankfurt a. M., 92–133. New, Christopher (1999): Philosophy of Literature. An Introduction. London/New York. Petersen, Jürgen H. (1995): Fiktionalität als Redestatus. Ein Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Grundlagenforschung. In: Sprachkunst XXVI, 139–163. Petersen, Jürgen H. (1996): Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung. Berlin. Platon (1923): Der Staat. Neu übers. u. erl. von Otto Apelt. 6., der Neuübers. 3. Aufl. Leipzig. Portmann-Tselikas, Paul R./Georg Weidacher (2010): Nicht nur zur Begrifflichkeit. Kontexte, Kommunikation und Kompetenzen. In: Peter Klotz/Paul R. Portmann-Tselikas/Georg Weidacher (Hg.): Kontexte und Texte. Soziokulturelle Konstellationen literalen Handelns. Tübingen, 9–57. Ronen, Ruth (1994): Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge. Saeed, John I. (1997): Semantics. Oxford. Schwarz-Friesel, Monika/Manfred Consten (2014): Einführung in die Textlinguistik. Darmstadt. Searle, John R. (1979): The Logical Status of Fictional Discourse. In: John R. Searle: Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts. Cambridge u. a., 58–75. Stetter, Christian (1999): Schrift und Sprache. Frankfurt a. M. Strawson, Peter F. (1950): On Referring. In: Mind 59, 235, 320–344. Urban, Greg (1996): Metaphysical Community. The Interplay of the Senses and the Intellect. Austin. Vater, Heinz (2005): Referenzlinguistik. München. Weidacher, Georg (2007): Fiktionale Texte – Fiktive Welten. Fiktionalität aus textlinguistischer Sicht. Tübingen. Weidacher, Georg (2012): Kafkaeske Räume: Zur kognitiven und affektiven Leserorientierung mittels sprachlicher Raumdarstellungen. In: Christoph Schubert/Teresa Pham (Hg.): RaumTexte – TextRäume. Sprachwissenschaftliche Studien zur Verortung im Diskurs. Berlin, 47–68. Zipfel, Frank (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin.

Marie-Hélène Pérennec

18. Erzählern aufs Wort glauben? Sprachliche Merkmale der fiktionalen Kommunikation Abstract: Dieser Beitrag untersucht die Beziehungen zwischen Leser und Erzähler, wobei das Lesen von Fiktion als Spiel angesehen wird. Um das Spiel zu genießen und erfolgreich abzuschließen, muss der Leser seinen Spielpartner richtig einschätzen, also alle Indizien über seine Person und sein Wertsystem aufspüren, die der Erzähler in seine Erzählung streut. Dazu gehören vor allem Deiktika und Bewertungsausdrü­ cke, sowie die Art und Weise, wie er die Figurenrede inszeniert, d. h. die stilistische Ausführung der Redewiedergabe. Das Konzept der Polyphonie erlaubt es, alle Mittel zur Verunsicherung des Lesers zu erfassen, diese machen aber wiederum das Lese­ spiel spannend. 1 Einleitung: das Lesespiel 2 „Wer erzählt hier eigentlich, Gesine? Wir beide. Das hörst du doch, Johnson“ (Jahrestage, 256) 3 Vermutungen und Bewertungen des Erzählers 4 Modus und Tempus in der Redewiedergabe 5 Wem Glauben schenken? 6 und der Gewinner ist … 7 Literatur

1 Einleitung: das Lesespiel Um die eigentliche Natur literarischen Erzählens zu erfassen, ist es notwendig, es mit dem Alltagserzählen zu vergleichen. Daher sollen hier einige wichtige Unterschiede kurz und etwas vereinfachend angemerkt werden: – Alltagserzählen hat eine eindeutige Quelle (origo), einen Menschen, der für seine Erzählung verantwortlich zeichnet und vor Gericht zitiert werden kann, falls er die Unwahrheit sagt. Die Umstände seines Erzählens sind auch bekannt und ein­ deutig: Er erzählt einer oder mehreren Personen, die in den Erzählfluss eingrei­ fen können und Zustimmung, Misstrauen, Überraschung signalisieren können, so dass die Erzählung anders verlaufen kann als ursprünglich geplant. Dies hat Folgen für die linguistische Ausformung der Erzählung (siehe Quasthoff 2001). Demgegenüber zeichnet sich literarisches Erzählen durch seine Fixiertheit (Hoff­ mann 2012) aus, an der Form des (schriftlichen) Textes kann nichts geändert werden, was für die Rezeption in vielfacher Hinsicht zwingend ist. Die Quelle des Textes, der Autor (wobei ‚Autor‘ als geschlechtsneutrale Bezeichnung gemeint ist, sowie Erzähler, Leser usw.) ist im Prinzip nicht einklagbar, er trägt keine andere Verantwortung für seinen Text als eine rein symbolische. Die Rezipienten DOI 10.1515/9783110297898-018

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sind zahlreicher als beim privaten Erzählen, sie können in die Millionen gehen, sie bilden also ein vollkommen heterogenes Publikum, das der Autor sich nur schwer (und meistens nicht zutreffend) vorstellen kann. – Alltagserzählen pendelt zwischen Wirklichkeit und Fiktion (Dichtung und Wahr­ heit): Will man dem Freundeskreis seine Ferien erzählen, so schmückt man das gerne mit unwahren bzw. nicht so wahren Details. Bei epischen Texten hat man es umgekehrt mit (fast) reiner Fiktion zu tun und der (erfahrene) Leser stellt sich nicht einmal die Frage nach der Wahrheit des gelesenen Textes: er weiß, dass das Erzählte, ob Märchen, Science-Fiction, Bildungs- oder Groschenroman Erfunde­ nes erzählt, wie sehr oft am Anfang des Buches ausdrücklich vermerkt wird. – Die Konversationsmaximen von Grice, die fürs Alltagserzählen zu gelten haben, werden bei der literarischen Fiktion außer Kraft gesetzt (Pérennec 2002b). Für Eco (1996) gilt das Wahrheitsprinzip in der wirklichen Welt, während das Ver­ trauensprinzip die fiktiven Welten leitet. Man kann dieser etwas vereinfachenden Formel zustimmen, wenn genau definiert wird, was hier Vertrauen bedeutet und klargestellt wird, wer wem Vertrauen schenken soll. Jahrhunderte lang hat der Autor als derjenige gegolten, der die Geschichte erzählt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man aber stärker den Akzent darauf gelegt, dass der Autor nicht mit dem Erzähler identisch ist. In Drachenblut z. B. ist die Erzählerfigur eine Frau, während der Autor (Christoph Hein) ein Mann ist. Und man kann Kafka nicht mit dem Affen verwechseln, den er „ein[en] Bericht für eine Akademie“ schreiben lässt. Diese Erkenntnis brachte die Literaturforschung darauf, den Autor quasi totzuschweigen und dabei unzählige Typologien von Erzählern zu erstellen. Den umgekehrten Weg möchte ich gehen und zeigen, dass jeder Erzähler ein Unikum darstellt, das akribisch unter die Lupe genommen werden soll, anstatt in eine dubiose Kategorie eingezwängt zu werden. Zweck dieses Beitrags ist es also, die sprachlichen Merkmale, die den FiktionErzählenden kennzeichnen (was Cohn 1999 „Signposts of Fictionality“ nennt), zunächst zu rezensieren und sie in einem zweiten Schritt zu interpretieren. Ich gehe davon aus, dass episches Erzählen ein Spiel (vgl. Walton 1990) zwischen Autor und Leser darstellt, dessen Regeln beide beachten müssen, um das Spiel erfolgreich und genussvoll bis zu Ende zu spielen. Der Leser ist der Gewinner, wenn er am Ende alle Tricks des Autors durchschaut und sich dabei vergnügt hat. Der Autor übergibt die Spielleitung einer (fiktiven) Erzählerfigur und die erste (hier zu beschreibende) Aufgabe des Lesers besteht darin, diesen Ausschlag gebenden Spielpartner richtig einzuschätzen. Es liegt auf der Hand, dass es leichte und anspruchsvollere Lesespiele gibt, je nachdem ob der Erzähler mit offenen Karten spielt oder nicht. Man bemerkt in der gegenwärtigen Roman-Produktion einen starken Trend zur Irreführung des Lesers, der so weit geht, dass Autoren die hier angenommene Trennung von Fiktion und Wirklichkeit zu verwischen suchen. Nachdem dargelegt wird, welche Indizien ein Erzähler zur eigenen (fiktiven) Person liefert, wird die Art und Weise, wie er seine

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Stimme und die der verschiedenen Protagonisten inszeniert, untersucht, um schließ­ lich die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit bzw. Vertrauenswürdigkeit zu erörtern.

2 „Wer erzählt hier eigentlich, Gesine? Wir beide. Das hörst du doch, Johnson“ (Jahrestage, 256) Die Literaturwissenschaftler beschäftigen sich seit Jahren mit dieser Frage, die Inter­ netseite des Hamburger Interdisciplinary Center for Narratology (http://www.lhn.unihamburg.de/) bietet eine ganze Reihe von wertvollen Aufsätzen zum Thema Erzähler. Die Linguisten forschen ihrerseits nach den sprachlichen Spuren, die dieser oft sehr diskrete Spielpartner in seiner Erzählung hinterlässt. Die Unbestimmtheit der Origo (wer erzählt?) ist das Hauptmerkmal des fiktiven Erzählens. Wir (er)kennen den Erzählenden erstens an der Art und Weise, wie er sich darstellt. Im 19. Jahrhundert war der sog. allwissende Erzähler die Regel, er blieb meistens namenlos und der Leser nahm es als selbstverständlich, dass sein Wissensstand dem eigenen überlegen war. Nach beiden Weltkriegen und unter dem Einfluss des Nouveau Roman wetteiferten die Autoren damit, die Origo immer mehr zu verwischen, indem sie immer weiter raf­ finierte Erzählszenografien aufbauten und verschiedene Standpunkte (point of view) gelten ließen. In Horns Ende lässt Christoph Hein jedes kurze Kapitel durch wech­ selnde Protagonisten erzählen und in Landnahme greift er zum selben Verfahren und inszeniert fünf Erzähler, die abwechselnd je ein langes Kapitel verantworten, so dass der Leser sehr schnell von einem ‚Ich‘ auf das andere überspringen und sich einen neuen Spielpartner vorstellen muss. Aber Hein liefert dem Leser wenigstens den Namen der abwechselnd erzählenden Figuren. Viel heimtückischer verfährt Uwe Johnson in Mutmaßungen über Jakob (1959), wo die Berichte einander folgen und widersprechen und der Leser erst nach mehreren Zeilen und nach sorgfältiger Prüfung der Indizien eruiert, wer sich mit dem Pronomen ich meldet. Die Spielregeln (wer ist der Erzähler und gegebenenfalls: was erwartet er vom Leser?) werden meist gleich in den ersten Zeilen der Erzählung geliefert, so dass es äußerst wichtig ist, den Textanfängen eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Der Leser muss sich aber dessen bewusst sein, dass wie beim Schachspiel jede neue Lektüre andere Strategien erfordern wird. Die ersten Anhaltspunkte, die dem Leser zur Verfügung stehen, sind das Vorkommen von Deiktika, d. h. linguistische Zeichen, die auf die Kommunikationssituation hinweisen (Personalpronomen der ersten und zweiten Person, Orts- und Zeitdeiktika). Da sich aber im Lesespiel zwei Kommunika­ tionsebenen überlappen (die interne Kommunikation der Erzählung und die Kommu­ nikation zwischen Leser und Erzähler), ist es unumgänglich, beide Ebenen zu diffe­ renzieren und die Referenten der Pronomina deutlich zu identifizieren.

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2.1 Erste Person Ich-Erzähler (darunter auch einige Wir-Erzähler), ob sie die eigene Geschichte oder die anderer Protagonisten erzählen, enthüllen sich in der Regel leichter und schneller als andere: (1) Noch am Morgen der Beerdigung war ich unschlüssig, ob ich hingehen sollte. Und da ich nicht wußte, wie ich mich bis Mittag entscheiden würde, nahm ich den Übergangsmantel aus dem Schrank. Es war ein dunkelblauer Mantel, man konnte ihn für schwarz halten, mit einer Pelzschale von Kanin. Es war gewiß kein geeignetes Kleidungsstück für einen Som­ mertag, aber ich wollte auch nicht die ganze Zeit in einem dunklen Kostüm herumspazie­ ren. Und in einem hellen Kleid auf dem Friedhof zu erscheinen, falls ich mich entscheiden sollte, schien mir gleichfalls unpassend. Der Mantel war ein Kompromiß… (Christoph Hein 1983, Drachenblut, 8 – Alle Hervorhebungen M.-H. P., auch in späteren Beispielen)

Sehr schnell gibt sich hier die Ich-Erzählerin als Frau zu erkennen, durch die bloße Beschreibung der Kleidungsstücke. Aber auch als zögerliche Person („unschlüssig“, „entscheiden würde“, „entscheiden sollte“, „Kompromiß“). Aber eine angebliche Offenheit kann auch eine Täuschungsabsicht verbergen: (2) Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann. (Günter Grass 1959, Die Blechtrommel, 9)

Das Incipit der Blechtrommel stellt von vornherein den Erzähler vor, der Leser mag aber auch sofort Zweifel an seiner Glaubenswürdigkeit hegen. Ist einem (streng bewachten) (Geistes-)Kranken zu vertrauen? In Plenzdorfs Legende vom Glück ohne Ende nennt sich die Erzählerin (?) ständig „meine Person“, liefert aber nur ein einziges Detail über sich in der mehrmals wieder­ holten Wendung „wir alten Leute“. Dass es eine Frau ist, kann man (eventuell) daraus folgern, dass ihr oft Kinder von Nachbarn anvertraut werden, dass sie kranke Leute versorgt und tröstet. Eine Variante stellt das oft zitierte „Wir vom Archiv“ in Grass’ Ein weites Feld (1995) dar, wo der Erzähler die Illusion einer kollektiven Stimme schaffen möchte, eine Illusion, die später gelockert wird, als er sich als Katholiken entlarvt und in dieser Qualität als Trauzeuge für Fontys Tochter amtiert, was ihm dann erlaubt, ab und zu als ich aufzutreten: (3) Weil ein rechtgläubiger Trauzeuge fehlte […], erinnerte sich einer von uns an seine katholi­ sche Herkunft, der er mehr aus Trotz denn aus Glaubensstärke nie abgeschworen hatte. Nicht etwa Fonty, dessen Tochter bat mich, für sie zeugend vor den Altar zu treten. (Ein weites Feld, 261 f.)

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Der Ich-Erzähler in Thomas Manns Doktor Faustus (1947), Serenus Zeitblom, ist ein besonders interessanter Fall von Ich-Erzähler, er widmet am Anfang des Romans zwei lange Kapitel seiner eigenen Beschreibung („einige Worte über mich selbst“!, 7), in denen er sich äußerst bescheiden gibt und pompös seine Mittelmäßigkeit betont: (4) Nur soviel sei hier angegeben, daß es die mäßige Höhe eines halbgelehrten Mittelstandes war, auf der ich zur Welt kam, denn mein Vater, Wohlgemut Zeitblom, war Apotheker,  – übrigens der bedeutendste am Platze. (Doktor Faustus, 10)

Diese halbfalsche Bescheidenheit und der verschnörkelte Stil vermitteln ein oft lächerliches Bild und unterstreichen die Distanz zu seinem Double, die Thomas Mann völlig bewusst inszeniert. Diese Dissonanz zwischen Autor und Erzähler zu erkennen, ist eine der ersten Spielregeln einer gelungenen Lektüre und erhöht das Vergnügen am Spiel.

2.2 Auf wen weist die zweite Person hin? Berühmt wurde Christa Wolfs Kindheitsmuster dadurch, dass die Erzählerin einen inneren Dialog mit sich führt, wobei sie sich mit „du“ anspricht. (5) Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd. Frühere Leute erinnerten sich leichter: eine Vermutung, eine höchstens halbrichtige Behauptung. Ein erneuter Versuch, dich zu verschanzen. Allmählich, über Monate hin, stellte sich das Dilemma heraus: sprachlos bleiben oder in der dritten Person leben, das scheint zur Wahl zu stehen. Das eine unmöglich, unheimlich das andere. Und wie gewöhn­ lich wird sich ergeben, was dir weniger unerträglich ist, durch das, was du machst. (Christa Wolf 1979, Kindheitsmuster, 7)

Aber abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen, wird oft der Leser selbst mit dem Pronomen der zweiten Person („du“ bzw. „Sie“) angesprochen. Damit beabsichtigt der Erzähler, die Illusion einer wirklichen Redekonstellation zu schaffen, die oft durch die Anwesenheit von Zeit- oder Ortsdeiktika verstärkt wird. Aber diese Konfigu­ ration kann auch zur Verwirrung des Lesers beitragen: (6) da dachte ich schlicht und streng anzufangen so: sie rief ihn an, innezuhalten mit einem Satzzeichen, und dann wie selbstverständlich hinzuzufügen: über die Grenze, damit du überrascht wirst und glaubst zu verstehen. Kleinmütig (nicht gern zeige ich Unsicherheit schon anfangs) kann ich nicht anders als ergänzen, daß es im Deutschland der fünfziger Jahre eine Staatsgrenze gab, du siehst, wie unbequem dieser Satz steht neben dem ersten. (Uwe Johnson 1961, Das dritte Buch über Achim, 5)

Der Erzähler gibt vor, die Entstehung seiner Erzählung (discourse) zusammen mit der Geschichte (story) selbst zu offenbaren, aber das Schichten beider Stränge, kombi­

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niert mit der Unterspezifizierung der Personalpronomina („sie“ und „ihn“) zielt nur darauf hin, den Leser von Anfang an zu verunsichern, was er übrigens ganz offen zugibt („damit du glaubst zu verstehen“). Der Leser erkennt gleich auf der ersten Seite, dass dieser Spielpartner besonders raffiniert ist und dass er ihm misstrauisch gegenüber stehen soll.

2.3 Dritte Person? Eine dritte Person als Erzähler gibt es als solche nicht, weshalb die Bezeichnung Er-Erzählung missverständlich ist. Der namenlose Erzähler kann nicht mit einem er oder sie auf sich verweisen. Der Leser muss also zu anderen Mitteln greifen, um sich ein Bild von ihm/ihr zu machen. Als Paradebeispiel kann man den anonymen Erzähler von Thomas Manns Tristan (1903) erwähnen, der sich geschickt in Szene setzt, um seine Erzählung dynamisch zu gestalten, indem er viele Deiktika („hier“, „heute“, „nun“), Interjektionen („Mein Gott, ja“) und Ausrufezeichen („Die armen Schweren!“) verwendet. Obwohl er sich nie mit ich meldet, zeigt er deutlich, dass er ‚dabei ist‘, und geht so weit, sich und die (fiktiven) Hörer/Leser in ein inklusives wir zu packen (womit erwiesen ist, dass dahinter auch ein Ich-Erzähler steckt, der ab und zu in dem unbestimmten man zu erahnen ist): (7) Waren wir schon soweit, daß Herr Klöterjahn in die Heimat zurückgekehrt war? Ja, er weilte wieder am Ostseestrande, bei seinen Geschäften und seinem Kinde. (Tristan, 178)

Überhaupt ist dieser Erzähler, der kein Wort über sich selbst verliert, sehr präsent in seiner Erzählung, wie wir noch sehen werden. Die Schwierigkeit, sich einen anony­ men Erzähler leiblich vorzustellen, führt viele Interpreten dazu, ihn mit dem Autor gleichzusetzen. Dorrit Cohn (1999, 132–149) zeigt aber in ihrer Studie zu Manns Der Tod in Venedig deutlich, dass der Erzähler nach anfänglicher Sympathie für seinen Helden in der zweiten Hälfte des Textes zu heftiger und übertriebener Kritik neigt, die keineswegs mit Manns Standpunkt übereinstimmt. Diese Dissonanz schafft das Bild eines konservativen, von Mann ironisch betrachteten Erzählers, den Dorrit Cohn als Vorreiter von Serenus Zeitblom sieht.

3 Vermutungen und Bewertungen des Erzählers Mangelnde Angaben zur Person des Erzählers können durch die gezielte Analyse seiner Vermutungen und Bewertungen ausgeglichen werden. Wenn ein Erzähler auch nichts zu seiner Person preisgibt, lässt die Art und Weise, wie er erzählt und welche Bewertungen er ausspricht, viel über ihn erraten:

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Durch die subjektive Art des Erzählens wird eine Evaluation vorgenommen, eine wie auch immer sprachlich umgesetzte Wertung ausgedrückt, die zusammen mit dem Plot das Erzählen aus­ macht. (Fix 2007, 351)

Unter allen sprachlichen Mitteln der Subjektivität sollen nun drei angesprochen werden: die Modalisierung der Erzählung, die Bewertung der Figuren oder des Geschehens durch Adjektive, Modalpartikeln und Konnektoren und schließlich die Rolle der metafiktionalen Einschübe.

3.1 Modalverben und -adverbien Im Gegensatz zum klassischen allwissenden Erzähler stellen sich seit einem Jahrhun­ dert die Erzähler gerne unsicher (siehe Beispiel 6), man denke nur an den berühmten ersten Satz des Prozesses von Kafka, wo das Modalverb „musste“ die Unsicherheit des Erzählers signalisiert. Interessant dabei ist, dass die Wirkung solcher Modaladver­ bien („vielleicht“, „vermutlich“, „angeblich“, „wahrscheinlich“) sehr unterschiedlich ausfällt, je nachdem ob wir es mit einem Erzähler mit Leib und Seele (Ich-Erzähler) oder mit einem namenlosen Erzähler zu tun haben. Der Leser interpretiert die Unsi­ cherheit von Ich-Erzählern, deren Blickwinkel oft beschränkt ist, als ein Zeichen von Aufrichtigkeit und ist also geneigt, ihnen volles Vertrauen zu schenken. Cohn (1999, 27) deutet darauf hin, dass der Gebrauch von Modalitätsverben typisch sei für histori­ sche (also nicht fiktive) Biografien: The popularity of the must-have construction with life-historians is no doubt due to its allowing them to look inside their subject’s mind without thereby transforming him or her into an ima­ ginary being. It gives their views an air of logic, of inevitability, without giving them the air of omniscience.

Umgekehrt können Erzähler, die sich dieser Formel bedienen, auch den Eindruck erwecken, sie würden so wie Historiker schreiben und damit ihre Glaubenswürdig­ keit erhöhen. Die Erzählerin von Drachenblut weist oft auf ihre mangelnde Kenntnis der Umstände hin und gewinnt durch diese Zurückhaltung das Vertrauen des Lesers: (8) Irgend jemand hatte die Karte mit einer Reißzwecke angeheftet. Wahrscheinlich der Haus­ meister. Er wird die Todesanzeige mit der Post erhalten haben. (Drachenblut, 9) (8a) Weshalb ich mitgehen sollte, wußte ich nicht. Vielleicht nahm er an, ich sei noch immer die Sozialbeauftragte der Gewerkschaft. (Ebd., 10)

Anders aber geht es mit namenlosen Erzählern, die man sich oft übereilig als all­ wissend vorstellt. Wenn sie Unsicherheit vorgeben, was z. B. die Interpretation des Geschehens betrifft, wird der Leser misstrauisch und verdächtigt sie, Informationen zu unterschlagen oder ihrer Rolle nicht gerecht zu werden. Damit rücken sie aber

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in die Nähe der Erzähler mit Leib und Seele und gewinnen so eine gewisse (fiktive) Unabhängigkeit vom Autor, der eben nicht Unwissenheit zugeben darf. Thomas Mann verrät wenig über die Person seiner namenlosen Erzähler, er spielt aber oft ironisch auf ihre mangelhafte Kenntnis ihres Stoffes an: (9) Die Geschwister hatten mundfertig und mit scharfer Zunge gesprochen, scheinbar im Angriff und doch vielleicht nur aus eingeborener Abwehr, verletzend und wahrscheinlich doch nur aus Freude am guten Wort. (Thomas Mann 1921, Wälsungenblut, 303)

Genau so raffiniert pendelt der namenlose Erzähler in Mutmaßungen über Jakob zwischen auktorialer Überlegenheit (er berichtet souverän über die Gedanken aller Figuren) und vorgegaukelter Unsicherheit: (10) Fast unablässig an den beiden folgenden Tagen betrachtete Jakob den jungen Mann aus den Städten Berlin in seinen Gedanken. Es fügte sich so daß die ganze Vorbereitung des Dienstagabends sich in Jonas’ Andenken versammeln ließ, und daran wurde Jakob gewahr wie sehr sein eigenes und amtliches Leben dahinlief von Morgen bis Abend allein und selbsttätig. (Mutmaßungen über Jakob, 85) (10a) Denn in diesem Moment mag Jakob begriffen haben wie es für Cresspahl aussah. (Ebd., 145)

Dieser Hauch von Subjektivität bei namenlosen Erzählern begleitet oft das Hinüber­ gleiten in die erlebte Rede (siehe unten).

3.2 Bewertungen und Konnektoren Am meisten verrät sich ein Erzähler durch die Bewertungen, die er in seine Erzählung einstreut. Diese Bewertungen können direkt ausgesprochen werden, in einem klaren Urteil über eine Figur oder ein Geschehen, sie sind auch ablesbar an bestimmten Modalpartikeln. In Tristan macht der Erzähler kein Hehl daraus, dass er den ‚Schrift­ steller‘ Spinell lächerlich findet: (11)

Übrigens mußte es wundernehmen, daß er noch nicht mehr Bücher verfaßt hatte als dieses eine, denn augenscheinlich schrieb er mit Leidenschaft. (Tristan, 176 f.) (11a) Seltsamerweise vermochte er [Spinell] dieser harmlosen Frage nicht standzuhalten. (Ebd., 193) (11b) Sonderbarerweise lächelte Herr Spinell; (Ebd., 201)

Allerdings muss der Leser sich fragen, ob alle Bewertungen dem Erzähler oder einem Protagonisten zuzuschreiben sind. Im folgenden Beleg ist davon auszugehen, dass die Partikel leider eher die Gefühle der Familie als die des Erzählers ausdrückt, zumal das Gleiche zwei Seiten später wiederholt wird:

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Auch besuchten sie [die Schwestern] Gesellschaften, denn Friedemanns gehörten zu den ersten Kreisen der Stadt; aber geheiratet hatten sie leider noch nicht, denn ihr Vermögen war nicht eben groß, und sie waren ziemlich hässlich. (Thomas Mann 1898, Der kleine Herr Friedemann, 61 f.) (12a) Verheiratet waren sie leider noch immer nicht. (Ebd., 64) (13)

Natürlich mußten die ‚Schweren‘ zu Hause bleiben. Die armen ‚Schweren‘! Man nickte sich zu und verabredete sich, sie nichts von dem Ganzen wissen zu lassen; es tat allgemein wohl, ein wenig Mitleid üben und Rücksicht nehmen zu können. (Tristan, 187)

In diesem kurzen Passus ist eine Menge über den Erzähler zu erfahren. Die Modal­ partikel „natürlich“ schafft einen Raum des Einverständnisses zwischen ihm und dem Leser, er setzt voraus, dass der Leser mit ihm die Vorstellung teilt, dass Lungen­ kranke nicht an einer Schlittenfahrt teilnehmen dürfen. Durch den folgenden Ausruf offenbart er Mitleid mit diesen ‚Schweren‘ (im Sanatorium die übliche Bezeichnung) und deutet durch das Pronomen „man“ an, dass er nicht zu diesen gehört. Weiter­ hin betont er mit einer gewissen Selbstgefälligkeit, wie die Gruppe der nicht so sehr Betroffenen die armen Schweren zu schonen versucht. Hier zeigt sich die subtile Art vom Autor Thomas Mann, ironisch mit dem eigenen Erzähler umzugehen. Ähnliche Unterstellungen kommen in der Anwendung des Konnektors „aber“ an den Tag. (14) Übrigens ist, neben Doktor Leander, noch ein zweiter Arzt vorhanden, für die leichten Fälle und die Hoffnungslosen. Aber er heißt Müller und ist überhaupt nicht der Rede wert. (Tristan, 171)

Dieses „aber“ macht den aufmerksamen Leser stutzig, der nicht erkennen kann, inwiefern der (zugegeben banale) Name des Arztes mit seiner Funktion im Wider­ spruch stehen kann. Beide Sätze stehen am Ende des ersten Kapitels, sie sind deutlich vom Rest des Kapitels abgetrennt, einerseits durch einen Zeilensprung, andererseits durch die Partikel „übrigens“. Die Randbemerkung, dass er die leichten Fälle (wenig zu tun) und die Hoffnungslosen (nichts mehr zu tun) zu betreuen hat, unterstellt, dass seine Rolle in der Geschichte minimal ausfallen wird. Dass er „überhaupt nicht der Rede wert“ sei, erscheint nach der ersten Erwähnung also logisch und bräuchte nicht durch „aber“ eingeleitet zu werden. Die Präsenz dieses Konnektors lässt sich also nur erklären, wenn man sich zwei Stimmen im Dialog vorstellt: diejenige des Erzählers, der das fiktionale Personal seiner Geschichte ausführlich einführen will, und eine andere Stimme (vielleicht die des ironischen Autors), die ihn wegen dieser unnützen Ausführlichkeit tadelt (es lohnt sich nicht, einen so unbedeutenden Mann zu erwähnen). Diese zweite Stimme kann aber auch die vom Chefarzt Doktor Leander sein, eine Vermutung, die zur Quasi-Gewissheit wird, wenn man in der Lektüre fort­ fährt:

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(15) Übrigens legte er [Doktor Leander] am folgenden Tag wegen Überbürdung die Behandlung nieder und übertrug sie an Doktor Müller, der sie pflicht- und kontraktgemäß in aller Sanft­ mut übernahm; ein stiller, blasser, unbedeutender und wehmütiger Mann, dessen beschei­ dene und ruhmlose Tätigkeit den beinahe Gesunden und den Hoffnungslosen gewidmet war. (Tristan, 195)

In diesem Satz zeigt der Erzähler, dass er die Manöver Doktor Leanders durch­ schaut hat, der „kontraktgemäß“ seinem Sekundanten die schwere Arbeit überlässt, während er den Ruhm für sich beansprucht. Rückwirkend kann man also die anfäng­ liche Lobrede auf Doktor Leander in einem anderen (ironischen) Licht sehen.

3.3 Metafiktionale Bemerkungen Der Dialog mit dem Leser scheint durch die metafiktionalen Bemerkungen gefördert zu sein, in denen der Erzähler die eigene Erzähltechnik ernsthaft (oder meistens iro­ nisch) zur Schau stellt. Das Thema Metafiktion hat zurzeit Konjunktur, jedoch können sich die Forscher auf keine gemeinsame Definition einigen. Köppe (2010, 119) bietet eine m. E. sehr brauchbare: Erstens wird im Falle eines metafiktionalen Textes in irgendeiner Weise auf dessen Fiktionalität Bezug genommen. Zweitens hat diese Bezugnahme bestimmte Funktionen, und zwar insbeson­ dere die der Bewusstmachung der Fiktionalität.

Metafiktionale Äußerungen bilden also ein wichtiges Instrument zum Erfassen der Spielregeln und müssen im Zusammenhang mit dem vorher Erwähnten interpretiert werden. Serenus Zeitblom, unter vielen anderen, unterbricht immer wieder seine Erzählung, um den Leser auf den Fortgang der Geschichte aufmerksam zu machen: (16) Ich lege vor dem Leser einen Beweis meiner Ehrlichkeit ab, indem ich der Vermutung Raum gebe, daß ich Umstände mache, weil ich insgeheim vor der Aufgabe zurückschrecke, die ich, getrieben von Pflicht und Liebe, in Angriff genommen. (Doktor Faustus, 35) (17) Es ist tröstlich, mir sagen zu können, daß der Leser den außerordentlichen Umfang des vorigen Abschnitts [Adrians Gespräch mit dem Teufel], der ja die beunruhigende Seitenzahl des Kapitels über Kretschmars Vorträge noch beträchtlich übertrifft, nicht mir wird zur Last legen dürfen. (Ebd., 251) (18) Ist es genug? Dies ist kein Roman, bei dessen Komposition der Autor die Herzen seiner Per­ sonnagen dem Leser indirekt, durch szenische Darstellung erschließt. Als biographischer Erzähler steht es mir durchaus zu, die Dinge unmittelbar bei Namen zu nennen und einfach seelische Tatsachen zu konstatieren, welche auf die von mir darzustellende Lebenshand­ lung von Einfluß gewesen sind. (Ebd., 296)

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Diese wenigen Auszüge (der Roman enthält unzählige davon) zeigen widersprüchli­ che Elemente: einerseits bekundet Serenus unaufhörlich, wie fair er dem Leser gegen­ übersteht (er ist ehrlich, er möchte ihn nicht mit überlangen Kapiteln strapazieren, er nennt die Dinge beim Namen, usf.). Andererseits zeigt die sprachliche Form seiner Behauptungen genau das Gegenteil: der schnörkelige Stil („die von mir darzustel­ lende Lebenshandlung“) verletzt die Maximen der Quantität und der Modalität, und viele Appositionen verraten, dass seine Bescheidenheit nur geheuchelt ist. In diesen Widersprüchen enthüllt sich die Ironie des Autors, der dem Leser nahe legt, die Worte seines Erzählers mit einiger Distanz zu betrachten. Darüber hinaus sind solche Unterbrechungen im Laufe der Geschichte ein bewährtes Mittel, die Fiktionalität des Ganzen zu unterstreichen (vgl. auch das Beispiel (6), in dem Uwe Johnson, ein Meister der Metafiktion, den Prozess des Erzählens parallel zur Erzählung zur Schau stellt). Die wichtigste Eigenschaft eines Erzählers ist aber seine Art, die vielen Stimmen der Protagonisten zu einem polyphonischen Ganzen zu inszenieren. Der Erzähler wird vom Autor als Regisseur hingestellt, ihm steht es zu, die Worte und Gedanken der Figuren zu zitieren (ausführlich oder nur zusammenfassend) und zu kommentie­ ren. Die Redewiedergabe liefert wiederum wichtige Hinweise auf die Persönlichkeit des Erzählers. Dem Leser bleibt die Aufgabe, in diesem Konzert die verschiedenen Stimmen zu erkennen und ihr jeweiliges Gewicht einzuschätzen.

4 Modus und Tempus in der Redewiedergabe Die deutsche Sprache verfügt (mehr als andere Sprachen) über ein breites Spektrum von Formen der Redewiedergabe, die Anlass zu einer fast unüberschaubaren Lite­ ratur gegeben haben. Es ist hier nicht möglich, darüber ausführlich zu referieren, ich beschränke mich im Folgenden auf zwei Probleme, die ich am Beispiel zweier Romane näher untersuche.

4.1 Direkte versus indirekte Rede Im Gegensatz zu der realen Welt, in der die Worte eines Sprechers von einem anderen wiedergegeben und notfalls mit dieser Wiedergabe verglichen werden können, sind die Worte des Erzählers oder der Protagonisten nur vom Autor erdichtet und vom Erzähler einfach ‚gegeben‘, inszeniert. Das heißt die Wahl zwischen den verschiede­ nen Verfahren (direkte Rede, indirekte Rede, erlebte Rede, innerer Monolog) erfolgt nicht aus pragmatischen, sondern nur aus stilistischen Gründen (Pérennec 2002a). Die Wahl der direkten Rede zielt meistens auf die Charakterisierung der Romanfigu­ ren (Erzähler eingeschlossen), wobei die Verwendung von Dialekt unter anderem ein beliebtes Mittel darstellt (dazu Bachtin 1979 und 1985).

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Interessant ist die Häufigkeit der indirekten Rede im Konjunktiv (den Weinrich 1993, 261 ff. Indirektiv nennt) in vielen Romanen. In Wirklichkeitstexten (in der Presse z. B.) bedeutet der Konjunktiv 1, dass der zitierende Sprecher keine Haftung über­ nimmt für die Wörtlichkeit und den Wahrheitsgehalt der Wiedergabe: Mit diesen semantischen Eigenschaften [einschränkung und referenz] sind die Konjunktiv­ formen besonders geeignet für eine indirekte Wiedergabe, bei der ein Sprecher die Verantwor­ tung für die referierte Nachricht von sich fernhält und sie in diesem Sinne einschränkt. (Weinrich 1993, 904 f.).

Auf diese Weise schützt er sich vor Beschuldigungen des ursprünglichen Sprechers und kann sich außerdem vom Inhalt distanzieren. Es liegt nahe, dass dieser Aspekt in fiktiven Texten keine Rolle spielen kann, da es nie eine ‚ursprüngliche‘ Rede gegeben hat. Die indirekte Rede ist also nur fiktiv indirekt. Der Leser soll dann die stilistische Absicht des Autors erkunden, man kann aber keine allgemeine Interpretationsregel liefern. Es ist oft bemerkt worden, dass der Konjunktiv 1 die Ironie (des Erzählers bzw. des Autors) signalisiert, wie z. B. in Kleists Marquise von O. Diese stilistische Wirkung ist aber bei weitem nicht die einzige: Das Familienfest oder das Ende der Geschichte von Peter Härtling (1969) ist ein besonders raffiniertes Beispiel der Ver­ mengung der Stimmen im Roman und des Verwirrspiels mit dem Leser (Pérennec 2000). In diesem Roman wird eine Episode (ein Brand in einem Gartenhaus, dessen Ursache unbestimmt bleibt) von sechs Figuren erzählt, alternativ in direkter Rede und im Konjunktiv 1, der Erzähler meldet sich nur in den kommentierenden Verben („zweifelte“, „korrigierte“, „täuschen“) zu Wort, und der Leser bleibt ratlos, er kann keiner Figur Vertrauen schenken, da sie sich gegenseitig widersprechen, aber auch nicht dem Erzähler (anscheinend eine Verdoppelung des Hauptprotagonisten Georg Lauterbach), der sich ständig vor der Verantwortung drückt: (19) Georg stand auf, verbeugte sich vor ihr: Besten Dank, Madame, es ist Ihre Wahrheit, Ihre Geschichte; vorher war es seine Wahrheit, seine Geschichte – er zeigte auf Kraz. Und Ihre? Sie beugt sich über den Tisch. Sie gehört mir, sie ist nicht von Interesse, denn alles, was sie extemporierten über einen Fall, den ich kenne, dient mir allein. (Familienfest, 31)

An dieser Stelle erklärt der Geschichtsprofessor Georg Lauterbach, dass es keine his­ torische Wahrheit gibt, und dass der Leser der Geschichte keinen Anspruch auf ‚die‘ Wahrheit erheben soll. Vor allem das Durcheinander von direkter und indirekter Rede bringt den Leser in Verlegenheit, wie in diesem Passus, in dem Georg berichtet, wie er mit seiner jüngeren Schwester ins Gartenhaus geschlichen sei: (20) Sie hatten Vaters Geburtstag gefeiert, und ins Haus wurden Gäste geschwemmt […] Kommscht mit auf die Bühne? Dort sei es zu düster, sie fürchte sich jedes Mal, ihr sei es lieber, sie verzögen sich ins Gar­ tenhaus.

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Dorthin schlichen sie sich durch die selten benützte Scheuertür, kletterten über die Mauer, die den Garten vor dem Betrieb in Höfle schützte. Vater hatte das Häuschen im vergange­ nen Jahr erweitert […] Der Garten sei, seit dem Tod des alten Hauber, der sich ihm so eifrig gewidmet habe, arg am Verwildern, früher habe man dort Feste feiern können, heute ist‘s ein Refugium für die Kinder und für allerhand anders Ziefer, sie wage sich schon nicht mehr hinein, klagte die Mutter, verbot es ihnen, hinüberzugehen, ohne zu fragen, und sie wisse nicht, weshalb der Vater jetzt, da alles verwittere und verwildere, den Pavillon habe erwei­ tern lassen, bequem sei der kleine Salon zwar… (Ebd., 16)

Georg ist am Anfang die Quelle des Berichts („Vaters Geburtstag“, der anonyme Erzähler hätte „des Vaters“ gesagt), erst die Antwort der Schwester („sie fürchte sich“) erlaubt es zu eruieren, wer die vorhergehende direkte Frage gestellt hat. Der folgende Absatz ist auch dem sich erinnernden Georg zuzuschreiben, die Quelle der Segmente im Konjunktiv jedoch ist schwer auszumachen. Zwar deutet der Einschub „klagte die Mutter“ auf diese als Ursprung der Rede hin, der Umfang aber ihrer Äußerungen ist nicht deutlich abzumessen. In diesem Roman geht es nicht so sehr um die ironische Distanzierung eines ohnehin sehr flüchtigen Erzählers als vielmehr um die Verwi­ schung aller Grenzen zwischen direkter und indirekter Rede und zwischen Dichtung und Wahrheit. Die indirekte Redewiedergabe hat außerdem zur Folge, dass alle Personalpro­ nomina der (sowieso nicht vorhandenen) ursprünglichen Rede in die dritte Person überführt werden, so dass viele Pronomina dann mehrdeutig sind und weitere Rätsel aufgeben. Ein extremes Beispiel stellt Andreas Maiers Wäldchestag (2000) dar, in dem ein namen- und leibloser Erzähler die ganze Erzählung einem Protagonisten (Schos­ sau) überlässt und die eigene Präsenz nur durch die systematische Anwendung des Konjunktivs I belegt. Die wiederkehrende Formel „hat Schossau gesagt“ erbringt den Nachweis, dass es einen Erzähler gibt, der die Worte Schossaus referiert, der Gebrauch des Konjunktivs aber stellt für den Leser eine große Hürde dar, zumal der Text aus einem einzigen Absatz besteht! Und wenn Dialoge zwischen den Protagonisten auf diese Weise inszeniert werden, steht der Leser vor einer komplizierten Aufgabe, wie im folgenden Passus, wo Munk Schossau vorwirft, er sei nicht zur Beerdigung seines Freunds Adomeit erschienen: (21) Er1, Schossau, habe sich das freilich gespart, denn er1 meine ja nicht, mitkommen zu müssen, wenn ein Florstädter totgetrunken werde. Er2, Munk, halte aber auf die Sitten. Wir haben viel zu wenig Sitten heutzutage. Er2 trinke selbst einen wie Adomeit tot, damit habe er2 wenigstens vor seinem Herrgott dann keine Probleme. Die Jeanette Adomeit habe im übrigen für den Abend die Trauergäste in die Kirchgasse eingeladen. Sie verbleibe für einige Tage am Ort, habe es geheißen, um die Papiere ihres Bruders zu ordnen und überhaupt zu sichten, was er3 in den letzten zwanzig Jahren mit seiner eigenartigen Art so alles angerich­ tet habe. (Wäldchestag, 20 f.)

In diesem Roman wird die Mehrstimmigkeit zur totalen Kakophonie, der Leser emp­ findet einem solchen Erzähler gegenüber Unbehagen und vor allem Misstrauen,

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jedoch bleibt die Erzählung spannend. Köppe (2010, 126 ff.), der dem Konjunktiv in Wäldchestag einen Aufsatz gewidmet hat, deutet die indirekte Rede als „Unzuverläs­ sigkeitsmarker“ und schließt: Die Unsicherheit über die tatsächlichen (also tatsächlich vorzustellenden) Konturen der fiktiven Welt ist ein echt drängendes Problem, dem man sich, wie ich annehmen möchte, nur schwerlich entziehen kann und das Anlass zu einer fiktionalitätsbezogenen Interpretation des Romans gibt. (Köppe 2010, 131)

4.2 Plusquamperfekt und erlebte Rede Ein weiteres Mittel, den Leser zu verunsichern, ist der Gebrauch von Plusquamper­ fekt am Anfang von Absätzen oder gar am Anfang eines Romans. Härtling bedient sich ständig dieses Mittels in Familienfest. Dieses Tempus zeigt innerhalb der erzähl­ ten Welt Vorzeitigkeit an (Weinrich 1993, 227–230), am Anfang eines Textes oder eines Absatzes aber fehlt dem Leser die temporale Origo, aus der diese Vorzeitigkeit erschlossen werden kann. Darüber hinaus ist die Sprecher-Origo auch unklar, der Leser kann nicht erkennen, ob der (namenlose) Erzähler oder die Hauptfigur Georg in der erlebten Rede auf diese Erinnerung zurückgreift: (22) Er war aus der Abendpredigt gekommen, hatte Immanuel gesehen, den Wundertäter, auf der Kanzel: Ein feistes Kind, das mit Blinden spielte, das die Sünde ausschickt, die Kranken zu kränken, er hatte ihn gehört… (Familienfest, 73)

Die Häufigkeit dieses Tempus nach dem Zeilenabsatz bringt den aufmerksamen Leser zu der Annahme, dass es sich um erlebte Rede der Hauptfigur handelt, und rückbli­ ckend (aber welcher Leser blickt gerne zurück?) den ersten Satz des Romans („Die drei Frauen hatten ihn erwartet, aufgeregt seit dem Morgen und Unnützes schwat­ zend…“) auch als erlebte Rede zu interpretieren (dazu Pérennec 2000). Die Grenzen zwischen erlebter Rede und Erzählerrede sind oft schwer auszumachen (Vuillaume 2002) aber für den Leser eine lohnende Aufgabe. (23) Drei Wochen zuvor hatte sich Paula bei ihm gemeldet, so erschien es ihm jedenfalls. Er war derart merkwürdig und unerklärlich auf ihren Namen gestoßen, dass er den ganzen Tag immer wieder an sie denken musste… (Christoph Hein 2007, Frau Paula Trousseau, 7)

Hier (Romananfang) stellt sich die gleiche Frage: Wer zeichnet für das Erzählte ver­ antwortlich? Die Temporalangabe weist eher auf erlebte Rede hin, der anschließende Kommentar (so erschien es ihm jedenfalls) könnte aber einen allwissenden Erzähler signalisieren. Die Unsicherheit bleibt den ganzen ersten Absatz bestehen, dann über­ nimmt ein anonymer Erzähler das Wort, die anfängliche Verunsicherung des Lesers aber lässt ihn ahnen, dass er es mit einem harten Spielpartner zu tun haben wird.

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5 Wem Glauben schenken? Dieses ständige Versteckspiel mit dem Leser verursacht das Empfinden von Miss­ trauen gegenüber dem Erzähler. Es kursiert dafür in der Literatur die Bezeichnung „unglaubwürdiger oder unzuverlässiger Erzähler“ (eine vielleicht nicht sehr glückli­ che Übersetzung von unreliable), ein Begriff, der in den sechziger Jahren von Booth (1961) geprägt wurde und vor allem von der angelsächsischen Kritik eifrig weiter ent­ wickelt wurde (siehe Nünning 1999 und 2005, Yacobi 2005 und Shen 2011, der einen guten Überblick liefert). Ich habe in Pérennec (2011) nachzuweisen versucht, dass ein solcher Begriff das Wesen des Lesepakts verkennt. Es liegt auf der Hand, dass das Lesespiel keine Sache des Glaubens an irgendwelche Wahrheit ist. Yacobi (2005, 110) führt Die Verwandlung Kafkas als extremes Beispiel eines unglaubwürdigen Erzählers an. Das zeigt aber gerade, dass es keinen Sinn hat, in diesem Fall von einem unglaub­ würdigen Erzähler zu reden. Vom ersten Satz an hat der Leser erkannt, dass er sich auf eine fantastische Erzählung einstellen soll. Wollte man den Begriff ernst nehmen, dann würden Märchen, Science Fiction oder Utopien als nicht glaubwürdig eingestuft werden. Der Anspruch auf Glaubwürdigkeit rührt von der noch immer verankerten Vorstellung des allwissenden Erzählers, der ja per definitionem unfehlbar sein sollte. Der Leser soll aber seinen kritischen Geist nicht auf Urlaub schicken, wenn er einen Roman liest, und sich dessen bewusst sein, dass es leichtere und schwierigere Spiel­ regeln und bequeme und weniger bequeme Erzähler gibt. Manche Erzähler, wie der schon erwähnte Dr. Zeitblom, geben Unsicherheit oder Bescheidenheit vor, so dass ein unerfahrener Leser geneigt sein könnte, sie für nicht zuverlässig zu halten und ihnen systematisch zu misstrauen. Damit würde er die Spielregeln verkennen und die Ironie des Autors übersehen. Ein weiteres Problem stellt die Tatsache dar, dass das Konzept der Unglaubwür­ digkeit vom Erzähler her allmählich auf die Protagonisten erweitert wurde. So sind in sog. Rahmenerzählungen nicht nur die Rahmen-Erzähler mit diesem Mangel behaf­ tet, sondern auch die Figuren, deren Geschichte sie tradieren, in welcher Form auch immer (mündliche Berichte, gefundenes Tagebuch, usw.) dieser Bericht erfolgt. Das Konzept der Polyphonie, das Ducrot Bachtin entlehnt hat (siehe Pérennec 2001), bietet meiner Ansicht nach ein viel nützlicheres Instrument zum Interpretie­ ren von fiktiven Texten als das des unglaubwürdigen Erzählers. Es geht nicht so sehr darum, einem Erzähler oder einer Figur Glauben zu schenken, als vielmehr darum, die Mehrstimmigkeit einer Erzählung richtig einzuschätzen und die Interaktion aller Stimmen zu erkennen. Die letzte Runde im Lese-Spiel, die auch die schwierigste ist, besteht darin, die Stimme des Autors hinter dem Wirrwarr der anderen Stimmen hervor zu hören. Es können dabei manchmal Missverständnisse entstehen, wenn einem Autor irrtümlich besondere Anschauungen zugeschrieben werden. Der oben angeführte Beleg (13) bietet ein gutes und zugleich leichtes Beispiel dieser Vermen­ gung der Stimmen: durch die Partikel „natürlich“ wird die Zustimmung des Lesers erwartet (er soll also dialogisch mit dem Erzähler interagieren), die Anführungszei­

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chen um die Nominalgruppe „die Schweren“ deuten auf die offizielle Stimme der Ärzte hin, der Ausruf „die armen Schweren!“ ist der Gruppe der weniger Kranken zuzuschreiben, und der Rest des Passus kann dem Erzähler selber überlassen werden, wobei der Autor eine gewisse ironische Distanz durchschimmern lässt, wie schon erwähnt wurde. In Mutmaßungen über Jakob ist Polyphonie zum dichterischen Programm gedie­ hen. In diesem Roman überlagern sich die Stimmen von vier Hauptprotagonisten (Gesine, Blach, Jöche und Rohlfs) und des namenlosen, fast allwissenden Erzählers, indem sie den Tod des jungen Reichsbahninspektors Jakob besprechen und zu ver­ stehen suchen (Unfall, Selbstmord oder Attentat?). Die Inszenierung dieser Stimmen aber ist so ausgeklügelt, dass der Leser dank der Typographie (Kursivschrift, Gedan­ kenstriche) zwar erkennt, dass eine neue Stimme laut wird, aber sonst erst nach meh­ reren Zeilen (und manchmal gar nicht) erfährt, wer das Wort führt. Je weiter man im Buch vordringt und je besser man die Protagonisten kennt, desto leichter wird man auf bestimmte Indizien aufmerksam und schreibt die Erzählung einer gewissen Figur zu: der Stasi-Agent Rohlfs erwähnt oft seinen Chauffeur Hänschen, Jonas zeich­ net sich einigermaßen durch Akademikersprache aus, der Erzähler seinerseits findet offensichtlich großes Vergnügen an äußerst präzisen Darstellungen und macht von seinem (guten) Recht Gebrauch, die Gedanken seiner Figuren darzustellen. Er bleibt aber, was die Zentralfrage des Romans ausmacht, nämlich die Ursache von Jakobs Tod, völlig stumm und überlässt alle Mutmaßungen darüber den Angehörigen oder Freunden von Jakob, die leitmotivisch den ersten Satz des Romans wiederholen: (24) Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen. (Mutmaßungen, 5)

Die Wiederholung dieses am Anfang rätselhaften Satzes (sowie das regelmäßige Vor­ kommen des Adverbs „quer“ im Roman) gibt vielleicht die Lösung, wenn man ihn metaphorisch (eine andere Art der Polyphonie) interpretiert: Jakob ist gestorben, weil er in der DDR des Jahres 1956 ein Querdenker war. Diese offene Polyphonie, die einem geübten Leser schon zu schaffen macht, wird von einer anderen, mehr oder weniger verdeckten Polyphonie, überlagert: der Erzäh­ ler zieht sich oft hinter seine Figuren – vor allem Jakob – zurück, dank der erlebten Rede, er zitiert ständig Parolen der DDR-Propaganda (zur Zeit des Ungarn-Aufstandes 1956), wobei diese wiederum einen biblischen Anklang haben: (25) Wer nicht für uns ist ist gegen uns und ungerecht im Sinne des Fortschritts. (Ebd., 123)

Das polyphonische Gewirr erfährt seinen Höhepunkt in den Passagen, in denen der Erzähler nebeneinander mehreren Protagonisten seine Stimme leiht: Der junge Anglist Jonas hat sich nach Jerichow zurückgezogen, um an einem Essay zu arbeiten. Er wohnt dort bei Cresspahl, dessen Tochter er liebt, wie auch der Bahnangestellte und Hauptprotagonist Jakob:

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(26) Arbeitsurlaub. Nennen wir es so. Nennen wir es so: da saß er [Jonas] in Cresspahls Haus in dem Zimmer neben der Haustür (heute, jetzt) und schrieb auf der Maschine was er gemeint hatte. Und mochte vor Cresspahl vielleicht manchmal des beunruhigten Gewissens entsin­ nen, das er gefühlt hatte vor seinem ehrwürdigen Chef, den er philologisch getäuscht hatte und der sich mit sehr aufmerksamer Freundlichkeit (herzlich: dachten die Zuschauer) von seinem Assistenten verabschiedet hatte vor dem wartenden Taxauto. Denn Cresspahl wollte er immerhin eine andere (seine) Meinung beibringen über seine Tochter; die war aber in die Ferne gereist. Und Jonas nach Jerichow. Und meine Mutter in die Flüchtlingsbaracken von Westberlin mit der Eisenbahn, und ich sorge dafür daß sie alle sicher und pünktlich kommen wohin sie wollen. (Ebd., 90)

In diesem Passus, mitten in einem Unterkapitel, das vom Erzähler erzählt wird, gleitet dieser diskret zur erlebten Rede: Die Wiederholung des kommentierenden Satzes „nennen wir es so“ führt durch das Pronomen wir die Rede Jonas’ ein. Die Wortwahl („Arbeitsurlaub“) wird zugleich dem Erzähler und Jonas zugeschrieben (sie spielt außerdem auf den alten Professor an, der sich diese Ausrede für seinen Assistenten erdacht hat). Beim nächsten Satz aber ist die Perspektive die von Jonas (mit den Deik­ tika „da“, „heute“, „jetzt“ und dem Präteritum) und diese Perspektive wird ziemlich lange beibehalten (die unzähligen „vielleicht“, die im ganzen Roman vorkommen, sind nie auf den Erzähler zurückzuführen), wobei die Parenthese die Oberhand des Erzählers verrät (nur er kann wissen, was die Zuschauer gedacht haben). Die erlebte Rede hört aber auf mit der Nennung des Vornamens Jonas: dieser kann sich selber nicht so nennen, es hätte sonst lauten sollen: „Und er nach Jerichow“. Hier meldet sich also eine andere Stimme, die diejenige des Erzählers sein könnte, die aber eher Jakob zuzuschreiben ist, der für die beiden nächsten Äußerungen verantwortlich ist. Die Regie führende Hand des Erzählers zeigt sich jedoch in der Wahl der Konnektoren „aber“ und vor allem der drei „und“, die den Zusammenhang des Erzählten behaup­ ten sollen, weil sonst der Leser die gedankliche Verbindung von der Mutter in der Flüchtlingsbaracken und dem Beruf des Sohnes nicht von selbst herstellen würde.

6 Fazit: und der Gewinner ist … Die Wendung „Gewinn bringende Lektüre“ ist über 30000 Mal bei Google verbürgt. Das bedeutet, dass der Leser sich von einem Roman mehr als Kurzweil erhofft. Ich habe hier die These verteidigt, dass das Lesen eines literarischen fiktiven Textes einem Spiel gleichkommt, in dem Leser und Erzähler Partner sind. Und wie bei jedem Spiel muss es am Ende einen Gewinner geben, es sei denn, die Partie endet unentschieden. Der Leser wird gewinnen, wenn er fähig ist, aus den ersten Seiten der Erzählung die Spielregeln richtig zu erkennen und die Person des Erzählers korrekt einzuschätzen. Dieser erste Schritt wird ihn dazu befähigen, die Polyphonie zu erkennen und zu ent­ knoten. Dazu soll er auf folgendes aufmerksam achten:

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– die Art und Weise, wie der Erzähler sich vorstellt, bzw. sich versteckt, und die Rolle, die er dem Leser zumutet, sowie die metanarrativen bzw. metafiktionalen Kommentare, – die bewertenden Ausdrücke (Modaladverbien, Konnektoren), die dieser gebraucht und die nicht mit denen der Figuren verwechselt werden dürfen, – die Art und Weise, wie der Erzähler seine Figuren zu Wort kommen lässt und wie er sich manchmal hinter ihnen zurückzieht. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Aufmerksamkeit den Rhythmus der Lektüre erheblich verlangsamen und einen Teil des Vergnügens aufheben kann. Jedoch wird jeder merken, dass eine solche Aufmerksamkeit erlernt werden und bald zum Reflex werden kann. Wie bei jedem Spiel (Schach oder Skat) macht Übung den Meister. Und nicht alle Romane sind so anspruchsvoll wie Mutmaßungen über Jakob, dessen Geheimnisse/Tricks ich nach mehrmaliger fleißiger Lektüre noch nicht alle entlarvt habe. In diesem Fall sieht es so aus, als würde der Erzähler (der Autor?) siegreich ausgehen, der Genuss aber, den jede neue Lektüre mit sich bringt, macht die kleine Frustration wett. Der Leser bleibt am Ende immer der Gewinner.

7 Literatur 7.1 Primärliteratur Härtling, Peter (1969): Das Familienfest oder das Ende der Geschichte. Reinbeck 1985. Hein, Christoph (1983): Drachenblut. Darmstadt 1985. Johnson, Uwe (1959): Mutmaßungen über Jakob. Frankfurt a. M. 1962. Johnson, Uwe (1961): Das dritte Buch über Achim. Frankfurt a. M. 1969. Johnson, Uwe (1970): Jahrestage. Frankfurt a. M. 1996. Maier, Andreas (2000): Wäldchestag. Frankfurt a. M. 2002. Mann, Thomas (1963): Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a. M. Mann, Thomas (1947): Doktor Faustus. Frankfurt a. M. 1975. Plenzdorf, Ulrich (1979): Legende vom Glück ohne Ende. Frankfurt a. M. 1981. Wolf, Christa (1979): Kindheitsmuster. Frankfurt a. M.

7.2 Sekundärliteratur Bachtin, Michail (1979): Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M. Bachtin, Michail (1985): Probleme der Poetik Dostojevskijs. Frankfurt a. M. Booth, Wayne C. (1961): The Rhetoric of Fiction. Chicago. Cohn, Dorrit (1999): The Distinction of Fiction. Baltimore. Eco, Umberto (1996): Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. München. Fix, Ulla (2007): Zugänge zu Textwelten. In: Fritz Hermanns/Werner Holly (Hg): Linguistische Hermeneutik. Tübingen, 323–356.

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Hoffmann, Ludger (2012): Utopisches Erzählen. Franz Kafka, Wunsch, Indianer zu werden. In: Friederike Kern u. a. (Hg.): Erzählen als Form – Formen des Erzählens. Berlin/New York, 201–210. Hühn, Peter u. a. (Hg.): The living handbook of narratology. Hamburg. Online: URL = http://www.lhn. uni-hamburg.de/. Köppe, Tilmann (2010): Der Konjunktiv in Andreas Maiers Wäldchestag und die Theorie der Metafiktionalität. In: J. Alexander Bareis/Frank Thomas Grub (Hg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin, 114–133. Nünning, Ansgar (1999): Unreliable, compared to what? Towards a cognitive theory of unreliable narration: Prolegomena and hypotheses. In: W. Grünzweig/A. Solbach (Hg.). Grenzüberschreitungen: Narratologie im Kontext/Transcending Boundaries: Narratology in Context. Tübingen, 53–73. Nünning, Ansgar (2005): Reconceptualizing Unreliable narration: Synthesizing cognitive and rhetorical approaches. In: James Phelan/P. J. Rabinowitz (Hg.). A Companion to Narrative Theory. Oxford, 89–107. Pérennec, Marie-Hélène (2000): Polyphonie et stratégies de lecture dans Das Familienfest de Peter Härtling. In: Maurice Godé/Marcel Vuillaume (Hg.): Qui parle dans le texte?, Cahiers d‘ Études Germaniques 38, 176–188. Pérennec, Marie-Hélène (2001): Das Konzept der Polyphonie als Instrument der Textinterpretation. Online-Dokument: http://langues.univ-lyon2.fr/538-LYLIA-2.html. Pérennec, Marie-Hélène (2002a): Redewiedergabe in fiktiven und nicht-fiktiven Texten. In: Baudot Daniel (Hg.): Redewiedergabe, Redeerwähnung. Tübingen, 41–53. Pérennec, Marie-Hélène (2002b): Von der notwendigen Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion bei einer Text-Typologie. In: Ulla Fix u. a. (Hg.): Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Frankfurt a. M. u. a., 97–106. Pérennec, Marie-Hélène (2011): Über den Umgang mit unglaubwürdigen bzw. polyphonen Erzählern. In: Anne Betten/Jürgen Schiewe (Hg.): Sprache – Literatur – Literatursprache. Berlin, 34–51. Quasthoff, Uta M. (2001): Erzählen als interaktive Gesprächsstruktur. In: Klaus Brinker u. a. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik – Linguistics of Text and Conversation. Berlin/New York, 1293–1309. Shen, Dan (2011): Unreliability. Online-Dokument: http://wikis.sub.uni-hamburg.de/lhn/index.php/ Unreliability, [10.3.2014]. Vuillaume, Marcel (2002): Die impliziten Formen der Redewiedergabe. In: Baudot Daniel (Hg.): Redewiedergabe, Redeerwähnung. Tübingen, 83–95. Walton, Kendall L. (1990): Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge/London. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim u. a. Yacobi, Tamar (2005): Authorial rhetoric, narratorial (un)reliability, di-vergent readings: Tolstoy’s ‘Kreutzer Sonata’. In: James Phelan/P. J. Rabinowitz (eds). A Companion to Narrative Theory. Oxford, 108–123.

Ulrich Breuer

19. Sprache (in) der Lyrik Abstract: Der vorliegende Beitrag spürt der eigenen Sprache der Lyrik nach. Verse sind dafür verantwortlich, dass der Lyrik schon von Anbeginn eine besondere Rolle zugefallen ist. Diese Exklusivität ist eine vermeintliche: auch andere Gattungen bedienen sich der Versform. Sowohl aus historischer als auch aus systematischer Per­ spektive ist es somit heikel, der Lyrik eine eigene Sprache zuzubilligen. Eher ist die Umkehrung geboten, nämlich die Einheit der Sprache in der Differenz ihrer Verwen­ dungsweisen zu suchen. Entscheidend ist hier der Materialbegriff. Alle Dichtung geht vom gleichen sprachlichen Material aus, die Sprache der Lyrik ist nur insofern als eine besondere begründbar, als sie sich in ein Verhältnis zur Prosa- oder Satzsprache setzt. Der Beitrag arbeitet diesen Ansatz an verschiedenen Beispielen durch, bevor er die Lyrik im Spannungsfeld von Konstruktion und Kommunikation betrachtet. Mit Rekurs auf Sklovskijs Theorem der Konstruktionssprache und Tynjanovs Konzep­ tion der Verssprache entsteht ein differenziertes Bild dieser spezifischen Funktion der Lyrik. Es wird konfrontiert mit dem linguistischen Kommunikationsmodell, das Jakobson um die Faktoren Kontext, Kontakt und Kode gebildet hat. Im Anschluss folgt die aktuelle Diskussion über Lyrik. Die Vorstellung einer ‚eigenen Sprache‘ wird abgelöst von der Auffassung, dass Lyrik einen spezifischen Umgang mit Sprache mar­ kiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Arbeit an den kommunikativen und kognitiven Leistungen dieser literarischen Gattung. So wird die Bearbeitung von Sprache zur Intention von Lyrik. Der Erkenntnisprozess führt über die Störungen, die den ‚Eigen­ sinn‘ der Sprache hervorheben, bis zur Genese immer neuer Segmentierungsverfah­ ren. Dabei setzt sich die Gattungsentwicklung als autonomer Prozess nicht nur über Lyriktheorien, sondern auch über Sprachgrenzen hinweg. 1 Sprache (in) der Lyrik 2 Historische Schnitte 3 Lyrik als Konstruktion/Lyrik als Kommunikation 4 Spracharbeit als Gattungssinn 5 Fazit 6 Literaturangaben

1 Sprache (in) der Lyrik Dass Sprache in Texten vorkommt (Weinrich 1976), und damit auch in lyrischen Texten, ist mehr oder weniger trivial. Nicht trivial und daher begründungsbedürftig ist dagegen die These, dass Lyrik als eine eigene Sprache zu verstehen ist. Dennoch DOI 10.1515/9783110297898-019

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scheint sie sich auf einen breiten Konsens stützen zu können, denn in historischer Perspektive wurde der Lyrik immer schon eine „andere Sprache“ zugestanden (Schlaf­ fer 2012, 43). Das gilt auch für die Forschung, die zuletzt die „Frage, ob es in der Lyrik eine der Gattung eigentümliche Sprachverwendung gibt […], positiv beantwortet“ hat (Müller 2011, 87). Verantwortlich für das Zugeständnis einer eigenen Sprachverwen­ dung ist nach Müller vor allem der Vers. Verse formen das in sie eingehende Sprach­ material so um, dass daraus eine andere, eine eigene Sprache entsteht: die Sprache der Lyrik. Restlos befriedigen kann diese These allerdings nicht. Dafür lassen sich histori­ sche und systematische Gründe anführen. In historischer Perspektive ist der Vers für die Lyrik keineswegs exklusiv. Sowohl das Epos als auch das Drama, aber auch große Teile der didaktischen Gattungen sind seit der Antike bis zum Beginn der Neuzeit in Versen abgefasst gewesen. Daher konnten sie auch unterschiedslos als Poesie und alle einzelnen Exemplare als Gedichte bezeichnet werden. Erst im 18.  Jahrhundert hat sich zeitgleich mit der Emergenz eines eigenständigen Gattungsbegriffs Lyrik die heute übliche enge Assoziation des Verses mit der Lyrik herausgebildet. Seither ist das lyrische Gedicht auf den Vers spezialisiert und nur lyrische Texte heißen gemein­ hin noch Gedichte. Alle anderen literarischen Gattungen haben sich mehr oder weniger gründlich vom Vers emanzipiert und stattdessen die Prosa für sich entdeckt. Wäre also der Vers das entscheidende Kriterium für das Vorliegen einer eigenständi­ gen Form von Sprache (der Rede in Versen), dann müsste zumindest in historischer Perspektive auch von der Sprache der Epik, des Dramas und der Lehrdichtung – und damit letztlich von einer besonderen Sprache der Literatur, ohne Einschränkung auf die Lyrik, die Rede sein (vgl. Oschmann 2010). Der These wäre die Spitze abgebro­ chen. Aber auch in systematischer Perspektive erscheint es problematisch, der Lyrik eine eigene Sprache zuzubilligen. Dafür lassen sich drei Gründe anführen. Der erste besteht darin, dass sich diese Behauptung von der Gattungstheorie abhän­ gig macht. Nur wenn zuvor geklärt ist, dass und inwiefern es sich bei der Lyrik um eine eigene, nicht nur aus historischen sondern auch aus systematischen Gründen von anderen literarischen Gattungen eindeutig unterschiedene Reihe von Sprach­ gebilden handelt, ist es sinnvoll, von einer eigenen Sprache der Lyrik zu sprechen. Das aber ist – blickt man nur auf die Differenzen zwischen Textsortenklassifikatio­ nen und Gattungstheorien (vgl. Breuer 1997)  – eine schwere Hypothek. Der zweite Grund betrifft die spezifischen Merkmale, welche der Sprache der Lyrik, verstanden als Verssprache, zugesprochen worden sind. Nach Müller (2011, 83–87) handelt es sich dabei erstens um die semantische Leistung des Verses (Ikonizität), zweitens um seine akustische Dimension (Klanglichkeit) und drittens um seine spezifische Rhe­ torik (Metaphoriziät). Nun hat aber Müller (ebd., 87) selbst bereits zugegeben, dass alle drei Merkmale auch in anderen Gattungen auftreten. Für die Lyrik seien ledig­ lich die Qualität, die Quantität und die Simultaneität (ebd.), letztlich also die geballte Form ihres Auftretens charakteristisch. Solange jedoch nicht gezeigt werden kann, in

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welcher Weise die drei Merkmale exklusiv in lyrischen Texten zusammenwirken, ist das ein ausgesprochen schwaches Argument. Der dritte Grund, der in systematischer Perspektive gegen das Zugeständnis einer eigenen Sprache der Lyrik spricht, betrifft das Verhältnis von Sprache und Vers. Dabei geht es um den Sprachbegriff, insbeson­ dere um den Umstand, dass Verse immer als sprachlich realisierte Einheiten auftreten und dass ‚sprachlich realisiert‘ hier sowohl visuelle als auch auditive Vorkommens­ weisen umfasst. Ein Metrum, das bestimmte Folgen von Hebungen und Senkungen und eine bestimmte Anzahl von Versfüßen vorschreibt, ist noch kein Vers, sondern allenfalls ein visuell und/oder akustisch realisierbares Versschema. Überdies kommt (wie bereits jedes noch so simple Reimschema sinnfällig macht) ein Vers selten allein. Verse haben eine textbildende Potenz, die sie strukturell mit Sätzen gleichstellt. Auch einzeln stehende Verse werden erst vor dem Hintergrund von Versgruppen als solche erkennbar (vgl. Völker 1999). Insofern sind Verse immer schon sprachliche Formen. Man muss sie erst künstlich aus der auf Prosa (verstanden als Rede in Sätzen) redu­ zierten Sprache ausgliedern und in eine separate literarische Gattung einhegen, um die Versrede als eine eigene Sprache kennzeichnen zu können. Mit diesem Argument aber verliert die Eingangsfeststellung, dass Sprache auch in lyrischen Texten vor­ kommt, ihre Trivialität. Im Gegenteil erscheint es nun erklärungsbedürftig, warum bestimmte Eigenarten der Sprache am Ende der Frühen Neuzeit in einen Sonderbe­ reich abgeschoben worden sind und dort seither wie in einer Enklave unter Aufsicht bearbeitet werden. Es empfiehlt sich daher, die Perspektive umzukehren und die Alternativfrage, ob die Lyrik durch eine eigene Form der Sprache charakterisiert ist oder nicht, durch eine die Einheit der Sprache in der Differenz ihrer Vorkommensweisen aufsuchende Annahme zu ersetzen. Das soll der Artikeltitel anzeigen. Er trägt dem Umstand Rech­ nung, dass die Verssprache das gleiche Material verwendet, das auch die Alltagsspra­ che benutzt, dieses Material aber in eine andere Konstellation eintreten lässt, die als „Schaffung eines invertierten poetischen Diskurses“ (Stierle 2008, 147), ja als „lyri­ sche Neubegründung von Sprache“ (Homann 1999, 410) bezeichnet worden ist. Für Lyrik gilt in besonders markanter Weise, was jede bedeutende Literatur auszeichnet: dass sie nämlich „gerade nicht einen Sonderfall von Sprache repräsentiert, sondern die steigernde Aktualisierung ihrer Bedeutungs- und Klangmöglichkeiten“ (Nolting 1982, 46). Anders formuliert: Es gibt nur insofern eine Sprache der Lyrik (die Vers­ sprache), als sie sich in ein Verhältnis zu ihrem Anderen (die Prosa- oder Satzspra­ che) setzt. Das soll in drei Schritten plausibilisiert werden. Erstens soll das Problem lyri­ scher Sprachlichkeit in zwei historischen Schnitten schärfer konturiert werden. Zu diesem Zweck wird zum einen die Domestikation des göttlichen Ursprungs lyrischer Rede in der Antike und zum anderen die Verpflichtung der Lyrik auf die Sprache der Empfindung im 18.  Jahrhundert rekonstruiert. Ein zweiter Argumentationsschritt kombiniert sodann die historische mit einer systematischen Perspektive und betrifft das Verhältnis von Konstruktion und Kommunikation im lyrischen Gedicht bei den

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Russischen Formalisten und bei Roman Jakobson. Drittens schließlich soll in syste­ matischer Perspektive und im Anschluss an den Forschungstand die hier vertretene These einer Formatierung und konstruktiven Bearbeitung von Sprache im lyrischen Sprechen spezifiziert werden.

2 Historische Schnitte 2.1 Die Rede Gottes (Antike) Der Dithyrambus ist im 7.  Jahrhundert v. Chr. vermutlich in Kleinasien entstanden. Es handelt sich dabei um ein strophisches Chorlied, das im situativen Rahmen des Dionysos-Kultes gesungen und getanzt wurde. Aus diesem Chorlied ist ab dem 6. Jhdt. v. Chr. die Tragödie hervorgegangen, neben der sich der Dithyrambus durch die Integration epischer Themen und die Ersetzung der strophischen Gliederung durch fortlaufende Kompositionen weiterentwickelte. Am Umgang der griechischen Antike mit dem Dithyrambus lässt sich zeigen, dass im lyrischen, mit Gesang und Tanz ver­ bundenen Sprechen immer schon Gefahrenpotentiale wahrgenommen worden sind. Sie galt es offenbar zu zähmen und rational stillzustellen. Signifikant wird dieses Potential in einer Passage von Platons Dialog Ion. Der Dialog behandelt die Frage: „Wie ist Philologie als Wissenschaft überhaupt möglich?“ (Bröcker 1985, 52). Sokrates erklärt dort die spezielle Fähigkeit des Rhapsoden Ion, gut und treffend über die Dichtungen Homers sprechen zu können, aus einer gött­ lichen Kraft („theía dè dýnamis“; Platon 2000, 14), einem Enthusiasmus, der durch die Muse dem Dichter und durch den Dichter wiederum seinen Zuhörern und Aus­ legern verliehen wird (Platon 2000, 15–17). Insbesondere der Dithyrambus, der als Lieddichtung dem modernen Begriff der Lyrik nahe steht, erscheint in der Passage als unkontrollierbare, im Tanz den ganzen Körper ergreifende und tendenziell die Massen ansteckende Rede eines Gottes, der sich des Dichters vollständig bemäch­ tigen kann. Der Gott nimmt dem Dithyrambendichter, durch den er spricht, die Ver­ nunft und die Selbstkontrolle, um durch ihn hindurch die Zuhörer zu begeistern und sie zu irrationalen Handlungen zu bewegen. Besonders für die Philosophen mit ihrer Affinität zur Schriftlichkeit war die dithy­ rambische Rede eine gefährliche Art des Sprachgebrauchs, die es zu domestizieren galt. Das belegt wiederum Platon, der in der Politeia eine Phänomenologie der dich­ terischen Rede entwirft und dabei eine frühe triadische Gattungstheorie entwickelt. Ihr Leitkriterium ist die Frage, wer jeweils redet: der Dichter selbst oder seine Figuren. Nach dem Redekriterium baut sich das Drama ausschließlich aus Figurenreden auf, der Dithyrambus besteht ausschließlich aus der Rede des Dichters und das Epos kom­ biniert beide Formen des Redens (Platon 2001, 204).

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Die Einteilung bezeugt auf der Medienschwelle zur Schriftlichkeit einen dezidiert rationalistischen Zugriff auf die Dichtung. Aus der Wahl des Redekriteriums lässt sich ablesen, dass hinsichtlich der Frage, wer gerade spricht, Klarheit herrschen soll. Besonders gefährlich ist die Sprache des Dithyrambus, denn hinter der Rede des Dich­ ters steht die mächtige Rede des Gottes. In allen anderen Gattungen, am stärksten in der Tragödie, ist die Macht göttlicher Rede gebrochen. Die Einordnung der dithyram­ bischen Rede (die sich als radikal orale Versrede bezeichnen ließe) in menschliche, mit der Schriftkultur stärker kompatible Formen des Sprechens (die sich als skrip­ turale Versrede bezeichnen ließen), bezieht die Sprache des Gottes auf die Sprache der Menschen. Der Sprache der Vernunft kommt es zu, das Territorium menschlichen Sprechens aufzuteilen und dadurch die Macht einer ‚anderen‘ Sprache zu brechen.

2.2 Die Sprache der Empfindung (18. Jhdt.) Erst im 18. Jahrhundert aber bildete sich Lyrik als eigenständige Gattung heraus, die dann auch auf ihre spezifische Sprachlichkeit befragt werden konnte. Bis weit in die Frühe Neuzeit hinein hatte es neben den Großgattungen Drama und Epik ein loses Bündel von einzelnen Gedichtformen gegeben (Ode, Hymne, Elegie, Lied, Sonett, etc.) die eine enge Beziehung zur oralen Kultur mit ihren situativen, häufig kultisch bestimmten Aufführungsszenarien bewahrt hatten und daher nicht unter einem einheitlichen Oberbegriff zusammengeführt werden mussten bzw. konnten. Erst ab der Mitte des 18.  Jahrhunderts, zeitgleich mit dem Beginn der zweiten Leserevolu­ tion, besteht zunehmend Einigkeit darüber, dass hinsichtlich der Poesie von einer Gattungstrias mit den Elementen Epik, Drama und Lyrik auszugehen ist. Evident ist dabei, dass Lyrik, weil zur Poesie gehörig, durch Verse bestimmt ist, während Versför­ migkeit insbesondere für die Epik und allmählich auch für das Drama an Verbindlich­ keit verliert (vgl. Breuer/Dembeck/von Möllendorff/Schlüter 2013). Der neue Gattungsbegriff wird erstmals prominent durch Charles Batteux ein­ geführt. In seiner 1747 erschienenen Abhandlung Les beaux-arts réduits à un même principe bestimmt er in Anlehnung an Aristoteles die Poesie durch den Begriff der Nachahmung. Die poetischen Gattungen unterscheidet er dann nach dem jeweils nachgeahmten Gegenstand: Im Unterschied zu Epik und Drama, die Handlungen nachahmen, ahmt die Lyrik Empfindungen nach. Johann Adolf Schlegel hat in seiner kommentierten Übersetzung dieser Abhandlung ins Deutsche, die unter dem Titel Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz erstmals 1751, 1759 dann in erweiterter zweiter und schließlich 1770 in nochmals stark vermehrter dritter Auflage erschienen ist, die These übernommen, dass Lyrik auf Empfindungen und nicht auf Handlungen spezialisiert ist. Er wehrt sich aber vehement gegen die Behaup­ tung, in der Lyrik würden Empfindungen nachgeahmt. Schlegel beharrt darauf, dass Lyriker in ihren Gedichten seit je her nichts imitieren oder fingieren, sondern immer auch „die Empfindungen ihrer eignen Herzen ausgedrückt haben“ (Batteux/Schlegel

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1990, 50). Es geht ihm also um die Authentizität, Individualität und Poetizität der lyrischen Empfindung. Darüber hinaus ist das Anliegen Schlegels aber auch genealo­ gisch bzw. historisch motiviert. Das geht aus der Feststellung hervor, dass die älteste Poesie „zuerst in eignen Liedern eigne Empfindungen“ (ebd., 49) zum Ausdruck gebracht habe. Aus dem Ursprung aller Poesie in der lyrischen Empfindungsrede folgert Schlegel dann bis in die Gegenwart hinein für die Poesie das Recht, „daß sie auch ein Ausdruck wirklicher Empfindungen sein dürfe“ (ebd., 54). Damit aber ist das Nachahmungskriterium nicht nur für die Lyrik außer Kraft gesetzt, sondern auch die auf Empfindungsausdruck verpflichtete Lyrik zum Ursprung der Poesie (unter Ein­ schluss der nachahmenden Gattungen Epik und Drama) erklärt. Lyrik spricht immer schon die authentische (‚natürliche‘) Sprache der Empfindung  – und alle anderen Formen der Literatur haben darin ihren Quellpunkt. Das hat Johann Gottfried Herder etwa zeitgleich radikalisiert. In seinen 1765 abge­ schlossenen und unveröffentlicht gebliebenen Fragmenten einer Abhandlung über die Ode billigt er dem Leitgenre der älteren Lyriktheorie – eben der Ode – in historischer Perspektive zu, das primäre Produkt individueller Empfindung und damit zugleich der Ursprung der Poesie gewesen zu sein. Im Laufe ihrer Geschichte sei die Hitze der Empfindung, aus der die Ode ursprünglich entsprungen sei, zunehmend abgekühlt, die individuellen Züge dieser Empfindung seien verblasst und das Genre rational überformt worden. Gegenwärtig sei die Ode daher nur noch „eine moralische Predigt über einen allgemeinen Satz“ (Herder 1990, 73) – und damit ein bloßer Schatten ihrer selbst. Gegenläufig zur Herrschaft der Rationalität in der Aufklärung will Herder die Sprache der Empfindung aus der Erinnerung an die Geschichte der Ode heraus erneuern. Zu diesem Zweck billigt er der Empfindung eine eigene Logik zu, die er als „Logik des Affekts“ bezeichnet (ebd., 74). Sie tritt der Logik des Begriffs gegen­ über und besteht in der intuitiven Erfassung einer maximalen, in sich dynamischen Einheit. Diese Einheit prägt das Gedicht aus; sie hat existentielle Bedeutung, lässt sich aber rational nicht vollständig explizieren. Für die Frage nach der Sprache (in) der Lyrik folgt daraus, dass der ‚natürlichen‘ Empfindungsrede, auf welche Schlegel die Lyrik verpflichtet hatte, nun eine eigene Logik mit unüberbietbarer Evidenz sowie (als Effekt ästhetischer Komplexion) die Unabschließbarkeit einer rationalen Expli­ kation dieser Rede zugestanden wird. Das steht neueren Bestimmungen der Versrede bereits sehr nahe. Demgegenüber stellt die wirkungsmächtige Bestimmung der Lyrik als ‚subjektive Gattung‘ einen Rückschritt dar. Sie stammt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und findet sich in seinen Vorlesungen über Ästhetik. Als Philosoph geht Hegel ähnlich wie Platon systematisch vor. Ebenso wie Platon weist er sprachlichen Formen ihr Gebiet an. Im Kapitel Die lyrische Poesie grenzt er zunächst die Poesie von allen anderen Künsten dadurch ab, dass er für sie eine „innerliche Anschauung“ reserviert, die er auch als „Subjektivität des geistigen Schaffens und Bildens“ bezeichnet (Hegel 1990, 171). Die Entstehung der Lyrik erklärt er sodann aus einer Mangellage. Epos und Drama hätten das Subjektive ganz in der vorgestellten Sache – dem Objektiven – aufgelöst,

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so dass es zu „verschwinden“ drohte (ebd.). Die Lyrik sei dann diejenige Gattung der Poesie gewesen, die sich als einzige der heimatlos gewordenen Subjektivität (die gleichwohl jede Poesie bestimmt) als solcher angenommen habe. Allerdings führt die Arbeit am Subjekt in die Niederungen der Individuation hinein – und eröffnet dort Abgründe. Denn im Lyriker „steigt der Geist in sich selber nieder“ (ebd.) – und was er da an Skandalösem findet, darf er keinesfalls ungefiltert ans Licht der Öffentlichkeit befördern. Die Individualitätslizenzen Schlegels und Herders werden jetzt widerrufen (vgl. Homann 1999, 404–407). Damit die Lyrik vernünftig bleibt, müssen in ihr – wie bereits Schiller 1791 in seiner boshaften Rezension Über Bürgers Gedichte gefordert hatte – die subjektiven Gefühle und Empfindungen gereinigt und objektiviert, also von allem Zufälligen und Unmittelbaren abstrahiert, befreit und dadurch allgemein verständlich gemacht werden. Der Lyrik obliegt es, „den Geist nicht von der Empfin­ dung, sondern in derselben zu befreien“ (Hegel 1990, 172). Hegel präferiert die gefahr­ lose Mittellage, denn das lyrische Gemüt ist schon durch „das ganz leere Lirumlarum, das Singen und Trällern rein um des Singens willen“ (ebd., 179) zu befriedigen. Anders als Schlegel und Herder wertet Hegel mit seiner Bestimmung der Lyrik als subjektive Gattung das Individuelle und Subjektive dem Objektiven gegenüber ab: Der Geist bzw. die Vernunft nimmt bei ihm eine Vorrangstellung gegenüber dem Affekt ein, der sich niemals direkt artikulieren darf. Damit wird die Sprache der Lyrik der Logik des Begriffs unterstellt und von der Logik des Affekts wieder abgekoppelt. Das macht zwar die Lyrik kommunikabel und kommensurabel, verkürzt ihre Sprache aber auf den Normalfall einer teils trivialen, teils phrasenhaften Sprache des Sub­ jekts. Nicht ohne Hegels Zutun wird im 19. Jahrhundert das Gedicht „ein Massenarti­ kel aus vorfabrizierten Gefühls- und Landschaftselementen“ (Matt 1980, 206).

3 Lyrik als Konstruktion/Lyrik als Kommunikation 3.1 Konstruktion Ausgangspunkt des Russischen Formalismus ist zum einen die Russische Revolution und zum anderen das literarische Faktum. Als Faktum gilt das sprachliche Kunstwerk, das von den Revolutionären in neuer Weise unter wahrnehmungspsychologischen und technischen Aspekten betrachtet worden ist. Grundlegend für diese Auffassung war ein 1916 erschienener Beitrag Viktor Šklovskijs. Anders als sein deutscher Titel (Die Kunst als Verfahren) suggeriert, geht es dabei ausschließlich um die Wahrneh­ mung von literarischen Kunstwerken und ihre kognitive Funktion. Wenige Monate vor dem Ausbruch der Februarrevolution unterscheidet Šklovskij einen generellen von einem speziellen Aspekt. In genereller Hinsicht ist für ihn die Differenz zwischen prosaischer und poetischer Wahrnehmung bedeutsam. Erstere verläuft nach ökonomischen Gesetzen rasch und störungsfrei, sie erfasst Gegen­

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stände unter pragmatischen Gesichtspunkten, tendiert daher zur Automatisierung von Sprache und Schrift und optimiert damit die Kommunikation. Letztere dagegen – die ästhetische Wahrnehmung  – verstößt gegen die Regeln der Ökonomie, entau­ tomatisiert Sprache und Schrift, gibt den Gegenständen ihre Gegenständlichkeit zurück, verlängert so die Wahrnehmung und stört dadurch die Kommunikation. Ziel der Poesie ist es, erneut das „Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen“ (Šklovskij 1971, 15). Die Sprache der Poesie ist daher „eine schwierige, erschwerte, gebremste Sprache“, die Šklovskij zusammenfassend als „Konstruktions-Sprache“ bezeichnet (ebd., 33). Während die Thesen zur poetischen Wahrnehmung auf alle literarischen Gattun­ gen zutreffen, scheint sich Šklovskij am Ende seines Beitrags speziell für die Lyrik zu interessieren. Nun geht es um den sprachlichen Rhythmus. Vom prosaischen Rhyth­ mus, der wiederum den psychologischen Gesetzen der Ökonomie des Bewusstseins unterliegt, wird der poetische Rhythmus unterschieden. Die Poesie (die Lyrik) greift den prosaischen Rhythmus gezielt auf, um ihn zu stören: „der künstlerische Rhyth­ mus besteht aus dem prosaischen – gestörten – Rhythmus“ (ebd., 35). Man kann das so reformulieren, dass die Sprache der Lyrik nichts anderes ist als die gestörte Sprache der Nicht-Lyrik, der Prosa also und mit ihr der Kommunikation. In der Lyrik wird die Prosasprache aufgenommen und so verändert, dass sie ihre Natürlichkeit verliert. Die Störung der Prosa im Konstrukt des Gedichts unterbricht den glatten Ablauf der Kommunikation, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Form des Sprechens lenkt. Im Moment der ästhetischen Erfahrung zeigt sich kein Gott (Platon) und keine Natur (Herder), sondern die Sprache selbst und ihre Leistung (vgl. Oschmann 2010, 411). Die Differenz zwischen Kommunikation und Konstruktion ist dann vor allem von Jurij Tynjanov ausgearbeitet worden. Am Ende seiner wegweisenden Doppelstudie Das Problem der Verssprache aus dem Jahr 1924 kommt er auf die wirkungsmächtige Literaturtheorie Potebnjas zurück, gegen die schon Šklovskij polemisiert hatte. Ihr wirft er vor, auf der „Voraussetzung der kommunikativen Natur der Poesie“ zu behar­ ren, wodurch „die Konstruktion, der Aufbau ignoriert“ werde (Tynjanov 1977, 136). Für Tynjanov besteht die konstruktive Leistung der Lyrik darin, die Semantik der ins Gedicht eingehenden Sprache zu deformieren und dadurch die innerhalb der Prosa dominante „Sujetperspektive“ zu brechen (ebd., 137). Verantwortlich dafür ist der Vers, der die spezifische „Sprache des Gedichts“ (ebd., 36) konstituiert. Tynjanov defi­ niert den Vers im Unterschied zur natürlichen Sprache bzw. zur Kommunikation als „Konstruktion […], in der sich alle Elemente in einem Zustand wechselseitiger Abhän­ gigkeit befinden“ (ebd.). Dominiert wird der Vers  – wie schon bei Šklovskij  – vom Rhythmus, der sich alle anderen Elemente unterordnet. Die wesentliche Leistung des Rhythmus besteht in der „Dynamisierung des Redematerials“ (ebd., 66), das in den Vers eingeht. Gemeint ist damit eine Verstärkung von Wechselwirkungen zwischen den sprachlichen Elementen. Die dynamisierte „Beziehung durch Anordnung“ (ebd., 72), die der Vers stiftet, zwingt das Redematerial in eine neue Ordnung, die dieses Material deformiert. Das ermöglicht eine nur für die Lyrik spezifische Zeiterfahrung.

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Šklovskijs Begriff der Konstruktionssprache, der die gezielt gestörte Prosarede bezeichnet, und Tynjanovs Konzeption der Verssprache, die durch die Konstruktivi­ tät des Rhythmus das in sie eingehende Redematerial dynamisiert und deformiert, stellen in der Lyrik Poesie und Prosa einander gegenüber. Während die Prosa außer­ halb der Lyrik der Kommunikation dient und zu diesem Zweck ihre Sprachlichkeit verbirgt bzw. als natürlich erscheinen lässt, manipuliert Lyrik die Prosa und stört dadurch den glatten Ablauf der Kommunikation. Das aber heißt: Lyrik kommuniziert nicht.

3.2 Kommunikation Für Jakobson dagegen, der die Arbeiten Šklovskijs und Tynjanovs kennt und schätzt, ist Sprache immer durch ihre kommunikative Leistung gekennzeichnet. Das sollte dann auch für die Lyrik gelten. In seinem klassischen, 1958 als Closing Statement zu einer Tagung zum Thema „Stil“ verfassten und 1960 publizierten Beitrag Linguistik und Poetik weist Jakobson die These zurück, die „Struktur der Poesie“ würde sich von „anderen Typen der Sprachstruktur“ durch ihren „‚nichtzufälligen‘, zielgerich­ teten Charakter“ unterscheiden (Jakobson 1993, 85). Ihr hält er entgegen, dass „jedes Sprachverhalten zielgerichtet“ ist, für das Erreichen seiner Ziele aber unterschiedli­ che Mittel einsetzt. Damit ist das Konstruktionsargument, das die Unterschiede zwi­ schen ‚natürlichem‘ und ‚künstlichem‘ (poetischem) Sprachverhalten betont hatte, partiell aufgeweicht. Das Sprachmodell Jakobsons beruht auf einem Kommunikationsmodell: „Der SENDER macht dem EMPFÄNGER eine MITTEILUNG“ (ebd., 88). Ergänzt wird es um die Faktoren KONTEXT, KONTAKT und KODE (ebd.), die es zu einem linguistischen Kommunikationsmodell machen. Den Elementen dieses Modells werden dann sechs Funktionen der Sprache zugeordnet, wobei es Jakobson vor allem um „die POETI­ SCHE Funktion“ (ebd., 92) geht. Ebenso wie die anderen Funktionen ist sie in jedem Redeereignis und jedem Kommunikationsakt enthalten. Sie ermöglicht und erzwingt die „Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen“ (ebd.). Bemerkbar wird dann „die Spürbarkeit der Zeichen“ bzw. die Materialität der Sprache, wodurch die „fundamentale Dichotomie“ zwischen Zeichen und Objekten vertieft wird (ebd., 92 f.). Nur dann, wenn die poetische Funktion die übrigen Funktionen der Sprache (ähnlich wie bei Tynjanov der Rhythmus den Vers) dominiert, geht es um Dichtung. Um innerhalb der Dichtung weiter differenzieren zu können, nimmt Jakobson eine gattungskonstituierende Hierarchisierung der Sprachfunktionen vor. Demnach ist die Epik, „die sich an der dritten Person orientiert“, poetisch-referentiell, das Drama mit seiner Orientierung an der zweiten Person ist poetisch-konativ und die Lyrik, „die sich an die erste Person richtet“, poetisch-emotiv (ebd., 93 f.). In der Bestimmung

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der Lyrik kehrt sowohl das platonische Redekriterium als auch die Verpflichtung der Gattung auf die Empfindung im 18. Jahrhundert wieder. Wenn Jakobson sich nun im Detail der poetischen Funktion zuwendet, dann spielt auf den ersten Blick die Unterscheidung zwischen den Gattungen und damit auch die Lyrik keine Rolle mehr. Wohl aber spricht er dem Vers eine entscheidende Rolle bei der Realisierung der poetischen Funktion zu. Er ist in besonderer Weise dazu in der Lage, „das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ zu projizieren (ebd., 94). Zu den Stärken dieser Argumentation gehört es, dass sie den Vers nicht auf das Gebiet der Dichtung einschränkt, sondern ihn als ubiquitäres Phänomen aller Kulturen anerkennt. Jakobson skizziert insofern eine lin­ guistische Theorie des Verses, die diesen in umfassender Weise als eigenständiges sprachliches Phänomen vorführt. Fragt man nun nach dem Verhältnis der Versrede zur Kommunikation, dann scheint Jakobson der Position des Formalismus doch sehr nahe zu kommen. Denn ebenso wie dieser geht er davon aus, dass insbesondere die Sprache des Gedichts (die Versrede) die natürliche Sprache manipuliert (ebd., 113 f.). Sie legt sich über die Prosa und führt sie als „zitierte Rede“ (ebd., 111) vor. Insofern die Versrede die Prosarede zitiert, produziert sie Ambivalenzen. Zu ihnen gehört eine Spaltung der Redeinstan­ zen. Nicht nur „die sprachliche Botschaft selbst, auch Sender und Empfänger werden mehrdeutig“ (ebd.). Diese Mehrdeutigkeit kommt unter anderem dadurch zustande, dass die im Syntagma auftauchenden Äquivalenzen, welche die Rede zugleich seg­ mentieren, immer die Frage aufwerfen, was sie bedeuten (was genau heißt es bei­ spielsweise, wenn sich „Herz“ auf „Schmerz“ reimt?). Das fordert zu vereindeutigen­ den Interpretationen auf, die schließlich zu „einer vollständigen Neubewertung der Rede und aller ihrer Teile“ (ebd., 119) führen können. Man kann das so verstehen, dass die Versrede bei laufender Kommunikation in diese eingreift und in der zeit­ weiligen „Einklammerung der referentiellen Funktion der Sprache“ (Jäger 2013, 22) einen Einstellungswechsel auf die Sprache selbst nahe legt. Er erlaubt es, sprachliche Grundprobleme wie die kommunikative Sinnbildung zu behandeln (vgl. Dembeck 2012, 287).

4 Spracharbeit als Gattungssinn In der aktuellen Diskussion über Lyrik ist – teils in Abgrenzung von Jakobson, teils im Anschluss an ihn – die Lyrik primär nicht als eigene Sprache, sondern als ein spezifi­ scher Umgang mit Sprache aufgefasst worden. Dieser Umgang lässt sich als Arbeit an der Sprache und ihren kommunikativen und kognitiven Leistungen charakterisieren. Da aber die lyrischen Bearbeitungen sich nicht nur auf Sprache beziehen, sondern auch aufeinander Bezug nehmen, formen sie untereinander ihrerseits einen kommu­ nikativen Zusammenhang aus, der mit Lotman (1993) als sekundäres modellbilden­

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des System und insofern als sprachanalog begriffen werden kann. Im Sinne einer sys­ temtheoretisch informierten evolutionären Gattungstheorie (vgl. Breuer/Dembeck/ von Möllendorff/Schlüter 2013) wäre dann die Bearbeitung von Sprache die Intention der Gattung Lyrik. Innovation ist in der Lyriktheorie zuletzt insbesondere durch die entschiedene Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs erzielt worden. Zu nennen ist dabei vor allem die Arbeit von Zymner (2009). Sie schließt an die sprachtheoretische, analytischtechnisch ausgerichtete Lyriktheorie u. a. Lampings an, überschreitet aber die bislang dominante Orientierung an ‚Kunst‘ und ‚Literatur‘. Lyrik umfasst für Zymner neben lyrischen Texten auch phonische Repräsentationen und neben Objekten in Versen auch Schriftzeichengebilde. Grundlegend ist deren Sprachlichkeit, denn bestimmt wird Lyrik zunächst als phonische oder graphische Formatierung von Sprache, die auf „Verdauerung“ angelegt ist (Zymner 2009, 24). Versförmigkeit ist dabei allerdings kein entscheidendes Kriterium (ebd., 69 f.). In der Lyrik führt nun die Formatierung von Sprache zu Störungen. Sie zwingen den Rezipienten dazu, sich entweder von dem störenden Objekt abzuwenden oder aber in einen Prozess der Sinnsuche einzutreten. Auftreten können die Störungen sowohl auf der Form- als auch auf der Inhaltsebene, wobei Zymner nicht Form und Inhalt sondern Faktur und Information unterscheidet und auch der Faktur einen Infor­ mationswert zubilligt (ebd., 56 f.). Zudem versteht er die Ebenen der Faktur und der Information als Anzeigesysteme: wie auf einem Display treten in ihnen die lyrikspezi­ fischen Störungen, die Effekte der Formatierung von Sprache, in Erscheinung. Da es sich um sprachliche Störungen handelt und diese grundsätzlich die für Sprache spe­ zifische, ihren Eigensinn ausmachende Bedeutungsproduktion anregen (Jäger 2005), ist Lyrik „diejenige Gattung, die Sprache als Medium der sprachprozeduralen Sinnge­ nese demonstriert bzw. demonstrativ sichtbar macht, die mithin den Eigensinn von Sprache vorzeigt“ (Zymner 2009, 96 f.). Daher gilt, dass Lyrik gerade nicht „durch eine eigene, von der Alltagssprache grundsätzlich unterschiedene Sprache bestimmt“ ist (ebd., 94). Vielmehr gibt sich durch Störung die Sprache selbst zu erkennen. Allerdings bleibt es nach Zymner nicht bei der Wahrnehmung einer gestörten Sprache. Denn anders als Šklovskij deutet er die Störungen in Attraktoren um – und bringt sie damit um ihr prosakritisches Potential. Die Leistung der Attraktoren besteht darin, die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu erregen. Was dieser dann wahrnimmt, ist aber gerade nicht, wie Jakobson annahm, die Materialität bzw. die phonische oder graphische Beschaffenheit der Sprache, sondern ihre Medialität (ebd., 125 f.). Mit ihr konfrontiert gerät der Rezipient von Lyrik in einen tranceähnlichen, ‚nach innen gerichteten‘ bzw. selbstbezogenen Zustand (ebd., 128 f.). Weil nun aber das Medium Sprache immer auf die Produktion von Sinn angelegt ist, provoziert ihn dieser Zustand in erster Linie zur „Sinnoptimierung“ (ebd., 96). Was der Rezipient idealer­ weise im Gedicht findet, wird als ästhetische Evidenz bezeichnet. Gemeint ist damit eine zwar stimmige, aber stets nichtdiskursive und nichtpropositionale Aneignung des Gedichts, eine spontane ‚Interpretation‘, die zwar beim Rezipienten ein „Flow-

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Erlebnis“ auslösen kann (ebd., 129), letztlich aber als „uneindeutig (und das kann, ja muß geradezu auch heißen: subjektiv, sogar idiosynkratisch)“ gelten muss (ebd., 128). Zymner fasst die beiden aufeinander bezogenen Leistungen der Lyrik, ihre Funk­ tion, Störungen anzuzeigen und diese Störungen sodann als Katalysatoren ästheti­ scher Evidenz zu nutzen, in eine Definition zusammen. Demnach ist Lyrik „Repräsentation von Sprache als generisches Display sprachlicher Medialität und damit als generischer Katalysator ästhetischer Evidenz.“ (Zymner 2009, 140) Diese Bestimmung ist von Dembeck (2012) kritisiert worden. Auch er versteht die Lyrik als Arbeit an der Sprache. Über Zymner hinaus bekommt er aber auch die Sprache der Lyrik in den Blick, die bei ihm als evolutionärer Zusammenhang sprachli­ cher Segmentierungsweisen erscheint. Weder wird dabei die Sprache der Lyrik gegen die Sprache in der Lyrik ausgespielt, noch ist das Gegenteil der Fall. Nach einer Kritik analytischer Arbeiten zur Lyriktheorie stützt Dembeck seine Argumentation auf neuere lyriktheoretische Beiträge aus dem angloamerikanischen Sprachraum. Sie dekonstruieren die Annahme, ein Gedicht könne sich als Einzelrede von seiner darstellerischen Verbindung mit der Realität ablösen und sich aus seinen kommunikativen Situationsbezügen gänzlich herausheben (Dembeck 2012, 269). Zu den Einwänden gegen das Theorem der Einzelrede gehört zum einen die These, dass lyrisches Sprechen an das Trauma des Spracherwerbs erinnert, und zum anderen die Auffassung des Denkens in Versen als eigene sprachliche Praxis. Aus ideologiekriti­ scher Perspektive „erscheint Lyrik als Medium, in dem die Sprache selbst den Kampf gegen den Festlegungswillen des Sprechers (jedes Sprechers) aufnimmt“ (ebd., 272). Auf dieser Basis und im Rückgriff auf den russischen Formalismus, insbeson­ dere auf Tynjanov und dessen Fortwirken bei Jakobson und Lotman, weist Dembeck sodann Zymners These der Sinnoptimierung zurück. Sprache wird für ihn in der Lyrik zwar aufgenommen (Sprache in der Lyrik), aber nicht bestätigt. Indem das Gedicht Elemente, die einander in unterschiedlicher Weise äquivalent sind, in einen syntag­ matischen Zusammenhang einstellt, wirft es die Frage nach dem Zusammenhang dieser Elemente über ihre sequentielle Trennung hinweg auf. Es zwingt damit zur Unterscheidung verschiedener Ebenen im Gedicht und erzeugt dadurch „seman­ tische Unruhe“ (ebd., 275). Die damit provozierte Bedeutungssuche ist aber gerade nicht „einsinnig auf Sinnoptimierung hin orientiert, sondern programmatisch ergeb­ nisoffen“ (ebd.). Die Arbeit der Lyrik an der Sprache erweist sich damit als Entwicklung immer neuer Segmentierungsverfahren. Gedichte sind, wie Homann (1999, 397) festhält, „lyrische Konstruktionen von Sprache“. Das Modell, an dem sich die Entwicklung neuer Segmentierungsverfahren orientiert, ist seit dem 18.  Jahrhundert der Vers in seiner Differenz zur Prosa. „Lyrik etabliert sich als derjenige Gattungszusammenhang, in dem die freigesetzte Unterscheidung von Vers und Nicht-Vers formkonstitutiv bear­ beitet wird“ (Dembeck 2012, 280 f.). Nach dem Modell des Verses, der Sprache in spe­ zifischer Weise segmentiert, werden dann nach und nach weitere Segmentierungs­ muster „auf jeder Strukturebene der Sprache“ ausgebildet und eingesetzt (ebd., 281).

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An diese Muster können neue Gedichte anschließen – oder auch nicht. Die Gattung konstituiert sich dann gerade nicht als Reihe von lyrischen Werken, denen bestimmte Merkmale gemeinsam sind, sondern „als Prozeß der Formevolution“ (ebd., 282). Es ist entsprechend nicht die Lyriktheorie, die über die Zugehörigkeit eines Gedichts zur Gattung Lyrik befindet, sondern es ist „die Gattung, die zuletzt noch immer selbst bestimmt, was ihr zugehört“ (ebd.). In der Lyrik vergewissert sich also nicht die Sprache ihrer selbst, sondern eine bestimmte, hoch unwahrscheinliche Form sprachlicher Kunst macht auf Probleme der Sprache aufmerksam. Der Umgang der Lyrik mit der Sprache besteht vor allem darin, dass sie ein Grundproblem jeder Kommunikation bearbeitet. Es lautet, dass Sprache stets sequentiell (z. B. in Sätzen oder Versen) organisiert ist, aber nur dann Sinn erzeugen und insofern auch kognitiv wirksam werden kann, wenn es ihr gelingt, in den sprachlichen Sequenzen teiläquivalente Alternativen der in sie eingehenden Ausdrücke mitzuführen. Eben das aber schließt die Sequenz eigentlich aus. Erst der Lyrik gelingt es, das Problem überhaupt sichtbar zu machen. In diesem Sinne kann der Lyrik für eine auf Sprache gestützte Kunst innerhalb der Moderne sogar eine Vor­ reiterrolle zukommen: Sie kann „die Ausdifferenzierung von Literatur als eigenstän­ diger, auf Sprache gestützter Kunstform betreuen.“ (Ebd., 287)

5 Fazit Weil sie seit je her Götter, Geister, Dämonen und Dinge adressiert und unhintergehbar in Ritus und Ritual situiert ist, steht die Lyrik schon in der Antike im Verdacht, eine eigene, andere Sprache zu sprechen. Diese Sprache tendiert zum gestischen und zum auditiven Realisierungsmodus, den sie auch im Medienwandel bewahrt. Dadurch gerät die Sprache der Lyrik in einen Dauerkonflikt mit der Sprache der Rationalität, die sich auf visuelle, insbesondere skripturale Formen der Repräsentation kapriziert und sich damit gegenüber situativen Kontexten zu verselbständigen versucht. Erst im 18. Jahrhundert spezialisiert sich die Lyrik auf die Verssprache und wird dadurch zu einer literarischen Gattung. Verse aber bearbeiten bzw. manipulieren die nicht­ vershafte Sprache, im weiten Sinne also die Prosa. Insofern ist unter der Sprache in der Lyrik primär die Prosa zu verstehen. Freilich steht in der Lyrik die Verssprache der Prosa – und damit auch die Sprache der Lyrik der Sprache in der Lyrik – nicht einfach gegenüber. Vielmehr ist der Vers nichts anderes als die Bearbeitung von nichtversförmiger Sprache. Bearbeitung meint dabei eine sinnfällige Segmentierung sprachlicher Einheiten. Sie orientiert sich am Modell des Verses, kann aber grundsätzlich alle sprachlichen Ebenen betreffen. Zu den kognitiven Effekten der sprachlichen Arbeit an der Sprache gehört, dass sie das Medium der Sprache mitsamt seinen materiellen Grundlagen erkennbar werden lässt. Die Erkenntnis von SPRACHE stellt die kommunikativen Leistungen

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der manipulierten Prosarede still und regt einen ergebnisoffenen Prozess der Bedeu­ tungskonstitution an. Er lässt sich unter anderem über geregelte Verfahren, etwa über die Institutionen der Literaturkritik (Rezensionen) oder der Philologien (Interpretati­ onen), wieder in die Kommunikation einspeisen. Zugleich aber bezieht sich das einzelne Gedicht durch die Übernahme oder die Ablehnung rezenter Segmentierungsverfahren auf bereits vorliegende Gedichte und kann damit die Evolution der Gattung Lyrik vorantreiben. Der Prozess der Gattungs­ entwicklung vollzieht sich autonom und setzt sich nicht nur über jede Lyriktheorie sondern auch über Sprachgrenzen hinweg. Daher hat man die Lyrik als „poetische Weltsprache“ (Enzensberger 1960, 13) bezeichnet. In der Tat verfügt sie über „Textbil­ dungs-Verfahren, die nicht einzelsprachlich, aber auch nicht universell sind, wie z. B. das Wissen um die Form des Sonetts“ (Trabant 2008, 98). Die weitere Forschung hätte in historischer und systematischer Perspektive verstärkt nach diesen Textbildungs­ verfahren, nach den „Sprachen der Lyrik“ (Hempfer 2008), zu fragen. Und wer sich schließlich jetzt und hier für den Umgang mit der Sprache und ihren Möglichkeiten interessiert, kommt an der Sprache (in) der Lyrik nicht vorbei.

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 Ulrich Breuer

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Hans-Werner Eroms

20. Sprachspiele und Rhetorische Figuren in der Lyrik Abstract: Sprachspiele und Rhetorische Figuren dienen in der Poesie dazu, verbor­ gene Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache aufzudecken. ‚Spiele‘ sind regelgeleitete Strategien, die der Sprache Zwänge auferlegen, die wiederum ‚überspielt‘ werden und dabei schöpferische Potentiale freisetzen sollen. Es wird an Beispielen gezeigt, dass die klassischen poetischen Ausdrucksmittel hierher zu rechnen sind. Sprach­ spiele im eigentlichen Sinne manifestieren sich auf allen sprachlichen Ebenen von der Laut- und Graphieebene bis zu umfassenden Komplexen, rhetorische Figuren werden in unterschiedlicher Intensität eingesetzt. Die konkrete und visuelle Poesie führt Sprachspiele konsequent weiter. 1 Sprache in Gedichten 2 Selbstgewählte Restriktionen 3 Sprachspiele 4 Rhetorische Figuren 5 Konkrete Poesie 6 Fazit 7 Literatur

1 Sprache in Gedichten Die Verwendung rhetorischer Mittel und der Einsatz von Sprachspielen in Gedich­ ten scheint auf den ersten Blick einen gewissen Widerspruch zu signalisieren. Mit rhetorischen Figuren als traditionellen Mitteln, um Sprache stilistischen Glanz zu verleihen, werden spontan eher Gedichte bis zum Ausklang des Barock assoziiert, während Sprachspiele an lyrische Produktionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts denken lassen, in denen sprachliche Experimente und Spielereien, vor allem in Kom­ bination mit im weitesten Sinn visuellen Mitteln, Sprache auf eine ganz andere Ebene gehoben haben. Die beiden Kategorien scheinen divergierenden Mechanismen anzu­ gehören, zusammenzusehen sind sie allenfalls durch ihren von der Normalsprache abweichenden Charakter. Die Betonung manifester Unterschiedlichkeiten zur Normalsprache wäre aller­ dings zu rigoros. Seit Roman Jakobson (1971) wird zunehmend anerkannt, dass generell von einer poetischen Funktion von Sprache gesprochen werden kann. „Die poetische Nachricht macht auf sich selbst aufmerksam“ (Schmitz-Emans 2014, 162). Poetisches Sprechen ist niemals völlig abgehoben von Sprache in anderen funktiona­ DOI 10.1515/9783110297898-020

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len Bereichen, sondern bringt Qualitäten der Sprache schlechthin hervor, die sonst eher verborgen sind. Diese Qualitäten können in allen funktionalen Registern akti­ viert werden, so etwa können in der Sprache der Werbung Potentiale genutzt werden, die in verdichteter Form in der Lyrik auftreten, wie der Reim oder der Rhythmus. Doch müssen bei der Bestimmung, wie Sprache in Gedichten zu beurteilen ist, zwei Dinge benannt werden: Die eben angesprochenen Verbindungen lyrischer (wie anderer poe­ tischer) Sprache mit der Allgemeinsprache sind so zu sehen, dass auch hier das „Roh­ material“ der Sprache Verwendung findet, auch und gerade, wenn es den Anschein hat, dass „völlig neue“ Spracheigenschaften kreiert oder konstruiert werden, – es ist immer die Sprache, die jedem zur Verfügung steht und die vor allem von jedermann verstanden werden kann, die in der Poesie eingesetzt wird (vgl. Breuer in diesem Band und Homann 1999, 67), die die Interdependenz zwischen ‚der Sprache‘ schlechthin und der „Konzentration auf das Systemische“ betont, womit sie die Fokussierung auf die Formseite in moderner Lyrik meint. Eine ganz andere Frage ist, was mit der Neu­ setzung von Sprache, mit individuellen Verbindungen und Kompositionen erreicht wird. Dies lässt sich nicht pauschal beantworten, doch können die Gegenstände, die in diesem Artikel genauer behandelt werden, in ihrer konstanten Geltung verfolgt werden. Damit wird auch ausgesagt, dass der oben angesprochene vermeintliche Riss in der Entwicklung des poetischen Sprechens für diese sprachlichen Mittel weniger relevant ist. Zwar soll keineswegs bestritten werden, dass es im Zugang auf die Lyrik entscheidende Unterschiede seit der Entwicklung individueller Ansprüche gibt. Aber es gibt auch Verbindendes. So sind die vielleicht auf den ersten Blick bei Barockge­ dichten vermissten individuellen Eigenheiten im je unterschiedlichen Einsatz rhe­ torischer Mittel zu sehen. Und in den modernsten Formen sprachspielerischer Lyrik zeigen sich doch konstante Stränge, die den Anschluss an die Tradition herstellen. Daher werden im Folgenden Tropen und Figuren in Gedichten seit dem 17. Jahr­ hundert bis zur Gegenwartssprache unter der gleichen Maßgabe verfolgt: Was leisten die eingesetzten Stilmittel für ein bestimmtes sprachliches Kunstwerk und was ergibt sich daraus für die Sprache generell? Analog dazu sollen Sprachspiele ebenfalls über diesen Zeitraum hinweg betrachtet werden, und auch bei ihnen soll die leitende Frage sein, welchen Stellenwert diese stilistischen Besonderheiten für das einzelne Gedicht haben und was sich daraus für die Sprache allgemein ergibt. Eine historisch-chronologische oder gar auf Vollständigkeit ausgehende Behand­ lung dieser sprachlichen Mittel ist damit nicht beabsichtigt. Es stehen die generellen, universalen Züge im Vordergrund. Bevor darauf eingegangen wird, sollen einige für die Bewertung der Formen wichtige Aussagen zu sprachlichen Grundbedingungen generell (1.1) und sodann zu Stil und Stilistik getroffen werden (1.2), vor allem, um die Aussagen zur poetischen Sprache von vornherein einzubinden in die Grundfunktio­ nen von Sprache überhaupt.

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1.1 Sprachliche Sektoren Im Folgenden geht es nicht um eine globale Kennzeichnung von Sprachfunktionen, sondern nur darum, eine Basis bereitzustellen, auf der Aussagen zu poetischen Funk­ tionen und zu stilistischen Strategien ihren Ort gewinnen können. In funktionalstilistischer Hinsicht ist davon auszugehen, dass Sprache in allen ihren Manifestationen sektoral gegliedert ist. Das „System“ einer Sprache (Coseriu 2006) wird durch norm- und funktionsbezogene Sektoren gefiltert. Daher haben All­ tagssprache, Wissenschaftssprache, sakrale Sprache und sämtliche andere denkba­ ren Funktionsbereiche unterschiedliche soziale Aufgaben zu bewältigen. Sie verfü­ gen über spezifische Mittel, die nur in ihrem Bereich oder in einem oder mehreren anderen Verwendung finden, nicht aber in allen. Die poetische Sprache lässt sich nun keinem dieser Bereiche direkt zuweisen. Die Sprache der Dichtung kann grundsätz­ lich sprachliche Mittel aller Bereiche verwenden, auch wenn es den Anschein hat, dass die ausgefeilten schriftsprachlichen Register im Vordergrund stehen.

1.2 Stil und Stilistik Mit den Bemerkungen im vorigen Abschnitt ist bereits angedeutet worden, dass für die poetische Sprache keine Sondermittel aus dem System der Sprache bereitste­ hen, sondern dass es das Wesen der poetischen Sprache ist, Mittel aus unterschied­ lichen Bereichen für einen je individuellen Zweck einzusetzen. Erwartet wird für jedes sprachliche Kunstwerk und besonders für Gedichte jeglicher Provenienz eine ‚neue‘ Nutzung sprachlicher Mittel. Herkömmlich sind solche Nutzungen in der Indi­ vidual- oder aber auch in der Epochenstilistik dargestellt worden. Denn wenn auch die je eigene Verwendung sprachlicher Mittel einen unverwechselbaren Autorstil bewirkt, so lassen sich doch Stilzüge, die sich im Vergleich mit älteren oder jünge­ ren Verwendungsweisen finden, zusammenfassend als eine Epochenkennzeichnung verstehen und diese lassen sich nun wieder den Autoren als Einordnungsinstanzen zuweisen. Von den jeweiligen zeittypischen Formulierungsweisen kann auch abge­ wichen werden, wie überhaupt das Abweichen von systematischen oder funktiona­ len Vorgaben einen Hauptaspekt stilistischer Aktion ausmacht. Die systematische Behandlung von Abweichungen hat in der Tradition der Stilistik eine ganze For­ schungsrichtung hervorgebracht. Besonders nach der pragmatischen Wende und der Entwicklung einer pragmatischen Stilistik wird „Abweichung […] eine wichtige Denk­ figur“ (Fix 2012, 35). Das ‚Erwartete‘, das sich in ganz unterschiedlichen Formen und Ausprägungen manifestieren kann, wird in poetischer Sprache als Folie für den Text gesehen (vgl. Fix 2009, 1301 f.). Die unterschiedlichen Bereiche können alle sprach­ lichen Ebenen betreffen, diese reichen von den materiellen Elementen, den Lauten oder Graphien, über die morphematischen Einheiten, die Wörter und die Sätze bis hin zu den Textmustern. Sie müssen in ihrer Abweichungsrichtung jedoch einheitlich

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sein, und sie können auch die stilistischen Normen betreffen, die ein Text erst selber setzt (vgl. z. B. Riffaterre 1973, dazu Fix 2009, 1302). Insbesondere die Lyrik lässt sich mit Zymner als „diejenige Form oder Formatierung der Sprache“ auffassen, „deren gattungscharakterisierendes Programm“ darin bestehe, „sprachliche ‚Störungen‘“ anzuzeigen (Zymner 2009, 96), und diese sind systematisch gesehen zunächst die­ jenigen stilistischen Mittel, die besonders ins Auge fallen. Sie sind daher auch als stileffekterzielende Mittel bezeichnet worden. Diese entfalten ihr Wirkungspoten­ tial aber nur auf der Folie unauffälliger Ausdrucksweisen. Allerdings ist diese Folie nicht einfach die Komplementärmenge aller anderen sprachlichen Mittel. Vielmehr schiebt sich zwischen die sprachlichen Mittel, die in allen Funktionsbereichen vor­ kommen können und die daher neutral sind, die Menge der funktions- und register­ typisch beschränkten Mittel (vgl. Eroms 2014, 59–81). Falls solche Ausdrücke jedoch in andere Bereiche übertragen werden, rufen sie einen Erwartungsbruch hervor, sie sind auffällig und tragen über ihre denotative Bedeutung hinaus Konnotationen, die immer dann, wenn ihr Gebrauch akzeptiert wird, positive Effekte ergeben. In diesem Fall wird die textuelle Botschaft verstärkt. Sie wird unterstützt, und die sprachlichen Mittel schließen sich im Idealfall zu einer kohärenten Funktion zusammen, die die Botschaft des Textes auf Inhalts- und Ausdrucksseite transportiert. Solche Bedingun­ gen werden herkömmlich mit dem Diktum, dass die sprachlichen Mittel dem Inhalt des Textes angemessen sein sollen, gefasst. Die gegenseitige Abstimmung ist unter stilistischer Perspektive so zu sehen, dass die ausdrucksseitigen Mittel die inhaltssei­ tigen abbilden oder anders gesprochen, dass sie diese ikonisch wiedergeben. Diese ikonische Funktion nun ist es, die beim Einsatz sprachlicher Mittel in dich­ terischen Texten, zumal in der Poesie, besonders beachtet werden muss. Wenn auch nicht alle sprachlichen Mittel in dieser Weise gedeutet werden dürfen, so ist die Nach­ zeichnung eines inhaltlichen Zuges durch das jeweils gewählte sprachliche Mittel ein erfolgversprechender Weg, die ‚Botschaft‘ eines Gedichtes aufzunehmen. Die für alle anderen Funktionalstile geltende stilistische Anforderung, dass die sprach­ lichen Mittel angemessen zu sein haben, gilt für die poetischen Texte in verschärftem Maße: Die sprachlichen Mittel müssen die genau passenden sein. Ein Beispiel muss hier genügen: Wenn Johann Christoph Gottsched zu den Versen aus einer Ode von Johann Christoph Günther „Eugen ist fort! Ihr Musen, nach! Er eilt und schlägt und siegt schon wieder“ sagt: „Diese abgebrochene, kurze Art des Ausdrucks ist in der Tat eine glückliche Nachahmung des stärkesten Affekts“ (Gottsched, nach Völker 2000, 41), dann betont er nicht nur die mimetische Funktion des Textes, sondern rechtfer­ tigt auch die Wahl der sprachlichen Mittel in ihrer rhetorischen Funktion. Wenn im Folgenden die rhetorischen Mittel und die Sprachspiele der Lyrik daraufhin betrach­ tet werden, wird noch eine weitere Verschärfung dieser Anforderung ins Auge gefasst: Was sich im Sprachspiel zeigt, ist die Steigerung der Deckungsgleichheit von Inhalt und Ausdruck. Sprachspiele bringen die poetische Funktion im Jakobson‘schen Sinne besonders konsequent zum Ausdruck.

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Welche sprachlichen Formen dabei genutzt und durch Pointierung geschärft zum Ausdruck gebracht werden, ist in dieser pauschalen Weise nicht zu bestimmen. Das zeigt sich erst bei der Betrachtung konkreter Beispiele. Dies wird in den folgenden Abschnitten vorgenommen.

2 Selbstgewählte Restriktionen Für die definitorische Bestimmung unseres Gegenstandsbereichs eignen sich solche Formulierungen, die sowohl in zeitlicher als auch in typologischer Betrachtung weit sind. So lässt sich eine Definition wie die folgende für unseren Zweck rechtferti­ gen: „Unter ‚Lyrik‘ wird hier dem heutigen Sprachgebrauch gemäß die literarische Gattung verstanden, die alle Gedichte umfasst. Ein Gedicht ist eine mündliche oder schriftliche Rede in Versen, also ein Text, der durch zusätzliche Sprechpausen oder Zeilenbrüche von der normalen rhythmischen oder graphischen Erscheinungsform der Alltagssprache abgehoben ist.“ (Burdorf 2009, 2092) Mit der Bestimmung „Rede“ kommt der in so gut wie allen Gedichtbestimmungen angesprochene monologische Charakter zum Ausdruck. Hinzuzusetzen ist hier noch, dass es sich bei Gedichten um kurze, jedenfalls überschaubare, in einem Zug erfassbare Kunstformen handelt. Sie können allerdings auch zu Zyklen vereinigt werden und lassen dann vielfach fraktale Züge erkennen, d. h. dass die einzelnen Gedichte in ihrer Aussage und ihrer Gestal­ tung sich in formaler Gleichheit bei unterschiedlicher Größenskalierung befinden (vgl. Eroms 2014a). Die gewählten stilistischen Mittel müssen zentriert sein und da es sich um eine Kunstform handelt, muss die Zentrierung individuelle Kennzeichnungen aufweisen. Auch nichtdichterische Texte lassen, wenn sie stilistisch anspruchsvoll sein sollen, individuelle Merkmale zu, poetische hingegen erfordern sie. Bei der Rezeption richtet sich die Leseenergie in erster Linie darauf, diese zu erkennen und zu verifizieren. Den erwarteten individuellen Besonderheiten steht entgegen, dass diese bei Gedichten als kurzen geschlossenen poetischen Formen in relativ strikte Zwänge ein­ gepasst werden müssen. Zu allen Zeiten war und ist es der Reiz solcher Zwänge, darin und dagegen Ausdrucksspielräume zu nutzen und, im Falle des absoluten Gelingens, zudem den Eindruck hervorzurufen, als ob besondere Freiheiten gestaltet worden wären. Die Grundparadoxie des Stils, sein „Janusgesicht“ (Eroms 2014, 16–18), kommt hier besonders gut zur Geltung. Einerseits sind die Zwänge (oder in anderen Funktionalstilen: die Konventionen) einzuhalten, andererseits wird erwartet, dass sie durchbrochen werden. Im Balance­ akt zwischen Normbewahrung und individueller Setzung zeigt sich das individuelle Gelingen sprachlicher Akte.

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2.1 Stabreim und Endreim Von den tradierten Restriktionen, die der Poesie auferlegt sind, seien hier kurz Reim und Rhythmus herausgegriffen, um deren Status in der Poesie gegen die alltags­ sprachlichen Bedingungen abzuwägen. August Wilhelm Schlegel spricht vom „Zwang des Silbenmaßes“ in der Poesie (Schlegel, nach Völker 2000, 133). Der Reim kommt in der Alltagssprache nicht vor, er wird aber als stilistisches Mittel in einigen funktionalen Registern genutzt. In der Wer­ bungssprache lassen sich Belege erbringen, wie etwa „Haribo macht Kinder froh und Erwachsne ebenso“. Vor allem in der Kindersprache spielt der Reim eine bedeutende Rolle und verleiht Wörtergruppierungen Sinn. So sagt Karl Sornig zu dem Kindervers „Birnbaum, / Äpfel und Pflaum, / Birn und Nüsse / schmecken süße“: „Aus dem sinn­ losen Klang wächst der Name eines Dings hervor: vom Reim erzwungen.“ (Sornig 1995, 59) Sonst ist der Reim in so gut wie allen funktionalen Registern tabu. Damit ist er eines der bedeutendsten Merkmale poetischer Sprache. Das gilt für den Stabreim wie für den Endreim. Der Stabreim ist allerdings in der Lyrik äußerst selten. Es finden sich jedoch Verwendungen, bei denen eine parodistische, kritisch-ironische Haltung dominiert: Wenn sich, nachtbedingt erkaltet, Wiesen morgendlich erwärmen und der Herr die Dame faltet um zur Arbeit auszuschwärmen, um sich lebend, lobend, labend weltverloren zu erneuen – Wird er liebend noch am Abend die Entfaltete erfreuen. (Robert Gernhardt 1999, 107)

Der sprachspielerische Gestus ist deutlich. Genutzt werden hier die w- und l-Bindun­ gen, verbunden mit anderen stilistischen Mitteln (ungewöhnliche Bilder: Falten, Entfalten der „Dame“; unerwartete Einsprengsel aus einem anderen Funktionalstil, z. B. das verwaltungssprachliche Adjektiv „nachtbedingt“). Darauf wie der Stabreim in der Form der Alliteration als rhetorische Figur auftritt, soll weiter unten an entsprechender Stelle eingegangen werden. Parodistisch und karikierend wird auch der Schüttelreim verwendet: „Ich will Gerlinde Stanken frei’n!“ sprach wütend Graf von Frankenstein. „Darum brauch‘ ich den Krankenschein, sonst reiß ich alle Schranken ein!“ (Ebd., 43)

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Schüttelreime kommen auch in anderen Funktionalstilen vor. Es gibt eine Unzahl von Formen, die von extrem kurzen („du bist Buddhist“) bis zu ausgefeilt-mehrglied­ rigen reichen („Es klapperten die Klapperschlangen, bis ihre Klappern schlapper klangen“). Die linguistisch interessierende Seite der Schüttelreime ist die Aufdeckung unerwarteter und paradoxer Zusammenhänge, die beim Lesen Erstaunen auslösen sollen. Stab- und Schüttelreime führen allerdings ein Randdasein bei Gedichten. Das Folgende bezieht sich daher nur auf den Endreim. Die hier als Beispiel gewählte Strophe eines Barockgedichtes ist der Anfang eines Sonetts von Dietrich von dem Werder (1631), bei dem die thematischen Nomina, Krieg und Sieg, den Titel eines sehr umfangreichen Sonettzyklus bilden. Die Wörter werden im Zyklus auf jede erdenkbare Weise durchgespielt, in variierender Verbindung („das dein Krieg Sieg allzeit in jhnen möge leben“), mit kontrastierenden Substantivkom­ posita („mit Sieg- vnd Kriegsgeschrey“) oder direkt kombinierten Wortbildungen („als dein Kriegs-Siegesman“), mit einander verbundenen Adjektivkomposita („O aller Kriegs- und Siegesreichster Gott“) und weiteren antithetischen Verbindungen. Die beiden Quartette des ersten Sonetts lauten so: Es Kriegt vnd Siegt der Herr in allen wunderwercken / Er Kriegt vnd Siegt wann er der winde flügel lähmt / Er Kriegt vnd Siegt wann er der feinde list beschämt / Er Kriegt vnd Siegt wann er kan jhre falscheit mercken / Er Kriegt vnd Siegt wann er kan die krafftlosen stercken / Er Kriegt vnd Siegt wann er den tröstet / der sich grämt / Er Kriegt vnd Siegt wann er den Satan selber zähmt / Er Kriegt vnd Siegt wann er jhm frey gibt Säw‘ vnd fercken. (Dietrich von dem Werder, nach Wagenknecht 1969, 73 f.)

Von einem Barockgedicht wird man nicht ‚Natürlichkeit‘ im Sinne der Moderne erwar­ ten. Hier wird der Reim extensiv genutzt. Nicht nur der Endreim, auch der Binnenreim (zwischen den beiden thematischen Kennwörtern) wird eingesetzt. Was den Endreim betrifft, so greift der Dichter zu Bildern, die teilweise ungewöhnlich sind: „der winde flügel lähmt“, „der feinde list beschämt“; „wann er jhm frey gibt Säw‘ vnd fercken“. Insgesamt ist dieses Gedicht ein Musterbeispiel für die Einbindung von Reim-Zwän­ gen in andere ausgesprochen starke selbstauferlegte Restriktionen, vor allem die, das eingeführte Sprachmaterial bis zur letzten Konsequenz durchzuspielen. Der Reim hat hier seinen Platz in einem extensiven Sprachspiel, zu dem außerdem auffällige rheto­ rische Figuren treten, insbesondere Anaphern und Parallelismen. Die aufgesetzte Künstlichkeit des Reims wird jedoch sonst meist gerade über­ spielt. Sie ist zunächst ein Faktum, das eine theoretische Verortung erfordert. Reime sind Verstärkungsmittel der Botschaft, sie lassen sich auch ikonisch deuten, indem sie in Wörter gefasste Weltabbildungen in besonders passenden Exemplaren präsen­ tieren. Vor allem sind sie (mindestens) paarweise gebunden. Dadurch werden wiede­ rum Zusammenhänge assoziiert, die in der abgebildeten Welt in dieser Weise nicht

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bestehen. Sie werden aber so ausgegeben, dass ihre Zusammenbindung überzeugt. Gedichte lassen sich unter dieser Perspektive lesen, so dass etwa in Goethes Gedicht Dornburg die über den Reim gebundenen Wörter als ideal passende Ausdrucksweisen verstanden werden. Die dabei verwendeten Metaphern, die nur zum Teil neu („kühn“ im Sinne von Weinrich 1976) sind, verdanken sich dem Reim, wenn man das Gedicht nur von daher betrachtet. Sie eröffnen Sichtweisen, die durch die Vers- und Reimbin­ dung als vollkommen natürlich präsentiert werden. Früh wenn Tal, Gebirg und Garten Nebelschleiern sich enthüllen, Und dem sehnlichsten Erwarten Blumenkelche bunt sich füllen; Wenn der Äther, Wolken tragend, Mit dem klaren Tage streitet, Und ein Ostwind, sie verjagend, Blaue Sonnenbahn bereitet; Dankst du dann, am Blick dich weidend, Reiner Brust der Großen, Holden, Wird die Sonne, rötlich scheidend, Rings den Horizont vergolden. (Johann Wolfgang Goethe, nach Eibl 1988, 700 f.)

Der artifizielle Charakter des Reims wird zuweilen thematisiert. Metasprachliche dichterische Äußerungen sind nicht selten. Die populärste ist sicher das folgende Gedicht Christian Morgensterns: Ein Wiesel / saß auf einem Kiesel / inmitten Bachgeriesel. Wißt ihr / weshalb? Das Mondkalb / verriet es mir / im Stillen: Das raffinier- / te Tier / tat’s um des Reimes willen. (Christian Morgenstern 2003, 25)

Hier werden nicht nur verborgene Reimkapazitäten erschlossen (die im Innern der Wörter liegen), sondern mit dem Aus-der-Rolle-Fallen wird der Reimzwang ironisiert. Dieses doppelbödige Spiel gibt daher auch einen metapoetischen Kommentar, der sich auf das gesamte Genre bezieht. Reime sind kein unabdingbares Konstituens von Lyrik. Mit dem Aufkommen reimloser Gedichte im 18. Jahrhundert wird nicht einfach auf dieses konventionelle Mittel verzichtet, sondern es werden lyrikprägende sprachliche Verfahren in den Vordergrund gerückt, die mit anderen Mitteln Gleiches leisten. Viel konstanter sind daher auch andere Mittel, insbesondere Vers und Rhythmus.

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2.2 Vers und Rhythmus Während Reime als konventionelle Restriktionen lyrischen Sprechens nicht unbe­ dingt erforderlich sind, sind Versgebundenheit und Rhythmus bis in die moderns­ ten Formen der Lyrik beständiger. Verse und der damit zwangsläufig einhergehende besondere rhythmische Duktus können ihren artifiziellen Charakter spürbar zum Ausdruck bringen (vgl. das Barockgedicht von Dietrich von dem Werder), sie können auch völlig überspielt werden, so dass sich Gedichtverse wie Prosa lesen würden, wenn sie nicht durch den Versfuß in rhythmischem Gleichlauf stünden (vgl. das Gedicht Dornburg von Goethe). Das den Gedichten aufgeprägte rhythmische Versmaß ist ein mindestens ebenso auffälliges poetisches Mittel, das allerdings nicht auf Gedichte beschränkt ist, weil es bis ins zwanzigste Jahrhundert auch für das Drama galt. Mit Reim und Versmaß werden gegen die Prosa sehr starke Signale gesetzt. Aber auch diese Mittel sind letztendlich nicht absolut ausschlaggebend für die Kennzeich­ nung eines Textes als Gedicht. Seit der vorletzten Jahrhundertwende werden auch in Gedichten starke Annäherungen an die nichtpoetische Intonationskontur vollzogen. Die Annäherung geschieht schrittweise. Während etwa bei Ernst Stadler in seinem Gedicht Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht die Verse auf den ersten Blick in einer freien Prosa gestaltet erscheinen, werden sie immer noch durch Reime gebun­ den. Wichtiger aber ist, dass die Sätze rhythmisiert sind, sich aber keiner klassischen Form zuordnen lassen, sie ähneln noch am meisten daktylischen Rhythmisierungen. Vor allem aber sind die Sätze unterschiedlich lang. Ihre Funktion ist offensichtlich die ikonische Nachzeichnung des Schnellzuges bei seiner Fahrt über die Brücke. Die Sätze selber sind zunächst in ihrer Wortstellung normal, am Schluss werden sie gesprengt und enthalten nur Nominal- und Präpositionalphrasen – syntaktische Formen, die in der Gegenwartssprache etwa in der Werbungssprache eingesetzt werden. Der Schnellzug tastet sich und stößt die Dunkelheit entlang. Kein Stern will vor. Die ganze Welt ist nur ein enger, nachtumschienter Minengang, darein zuweilen Förderstellen blauen Lichtes jähe Horizonte reißen: Feuerkreis Von Kugellampen, Dächern, Schloten dampfend, strömend .. nur sekundenweis .. […] Und dann die langen Einsamkeiten. Nackte Ufer. Stille. Nacht. Besinnung. Einkehr. Kommunion. Und Glut und Drang zum Letzten, Segnenden. Zum Zeugungsfest. Zur Wollust. Zum Gebet. Zum Meer. Zum Untergang. (Ernst Stadler in: Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, 1955, 40 f.)

Das Hochartifizielle diese Formulierungen zeigt sich über das schon Genannte hinaus in der Wahl der Metaphern und der auf dem Hintergrund der Alltagssprache inkohä­ renten und willkürlichen Zusammenbindung von Facetten der Wirklichkeit. Der nächste Schritt zur Annäherung an Wortstellung und Intonationskontur der Alltagsprosa findet sich bei Gottfried Benn. In seinem dem Stadler‘schen Gedicht motivverwandten D-Zug heißt es:

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Braun wie Kognak. Braun wie Laub. Rotbraun. Malaiengelb. D-Zug Berlin–Trelleborg und die Ostseebäder. […] Halte mich! Du, ich falle! Ich bin im Nacken so müde. Oh, dieser fiebernde süße letzte Geruch aus den Gärten. (Gottfried Benn in: Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, 1955, 105 f.)

Die Qualifikation als Gedicht wird u. a. durch die typographische Anordnung signali­ siert. Dieses Mittel ist in der Konkreten Poesie verabsolutiert (s. u.). Abgesehen davon entsprechen die Sätze in dem angeführten Gedicht jedoch auch nicht der Normalprosa, was besonders in der letzten Strophe auffällt: Sie sind merk­ lich rhythmisiert, so dass dieses akustische Merkmal sehr hoch anzusetzen ist. Alle in diesem Abschnitt angeführten Merkmale von Gedichten lassen sich lin­ guistisch gesehen als Aufdeckungen, Entdeckungen von in der Sprache enthaltenen, jedoch in Alltagssituationen nicht genutzten Eigenschaften begreifen. Vom Alltagsge­ brauch wird auffällig abgewichen, auch wenn einzelne Elemente in nichtpoetischer Sprache durchaus vorkommen können.

3 Sprachspiele Sprachspiele im eigentlichen Sinne, das heißt bewusst eingesetzter spielerischer Umgang mit der Sprache, hat eine lange Tradition im Deutschen. Schon in der mittel­ hochdeutschen und frühneuhochdeutschen Literatur finden sich Belege für gezielt eingesetzte Verfahren dieser Art. Konrad von Würzburg etwa verfasst ein Gedicht, das bereits an seinem Beginn eine besondere, auf sprachliche Formen bedachte Stilisie­ rung zeigt: Gar bar lît wît walt, kalt snê wê tuot: gluot sî bî mir. gras was ê, clê spranc blanc, bluot guot schein: ein hac pflac ir […] (Konrad von Würzburg, nach Dencker 2005, 28)

Dieses Gedicht mit enggeführter Binnenreimstruktur ist vor allem durch die Wortwahl ein einheitliches Gebilde: Es werden fast ausschließlich extrem kurze Wörter verwen­ det. Einheitlichkeit und erkennbare Rekurrenzen sind stilistische Anforderungen, die für alle Textsorten gelten, für Gedichte, die ein sprachliches Mittel zum Extrem führen, gilt das in besonderem Maße. Durch eine derartige Zentrierung wird der Blick auf ein sprachliches Element gelenkt, das in der normalen Alltagssprache eher verborgen ist. Diese metasprachliche Komponente sprachspielerischer Gedichte wird, wie bereits

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am Reim zu sehen war, bisweilen eigens thematisiert (s. u.). Bei Hans Sachs findet sich ein Gedicht, bei dem alle 78 Verse mit was sol beginnen. Der Anfang lautet: Was sol ein singer, der nicht singt, / Was sol ein springer, der nicht springt, / Was sol ein ringer, der nicht ringt, / Was sol ein drincker, der nicht dringt, / Was sol ein puͤ ler, der nicht wingt, / Was sol ein petler, der nicht hinckt, / Was sol ein narr an schellen? […] (Hans Sachs, nach Dencker 2005, 32).

Dieses Gedicht ist, wie seine Parallelen aus moderner Zeit, auch ein Beleg für die Stilfigur der Anapher. Spielerisch werden hier in Form einer repetierten Frage nahe­ liegende Zusammenhänge ‚in Frage gestellt‘. Weiter sind hierher die Akrosticha und Telesticha und in gewissem Sinne auch die Chronogramme zu rechnen, die eine ver­ borgene Ordnung ans Licht holen, die im jeweiligen Text doppelt vorhanden ist, so dass sich hier das grundlegende stilistische Prinzip der ikonischen Spiegelung in einem rein mechanischen, aber nichtsdestoweniger konsequenten Fall zeigt. Deß Krieges Buchstaben. Kummer / der das Marck verzehret / Raub / der Hab vnd Gut verheret / Jammer / der den Sinn verkehret / Elend / das den Leib beschweret / Grausamkeit / die unrecht kehret / Sind die Frucht die Krieg gewehret. (Friedrich von Logau 1654, nach Wagenkecht 1969, 212)

Hier wird der Krieg definitorisch in seinen Epitheta ‚aufgedeckt‘. Die Sprachspiele erstrecken sich so gut wie auf sämtliche denkbaren Bereiche, sie umfassen alle sprachlichen Ebenen (vgl. die Zitate von Dembeck bei Breuer in diesem Band). Es ist ein Abbau- und Wiederaufbauprozess, der in der neueren Lyrik die sprachlichen Bestandteile aus ihrer herkömmlichen Verwendung herausreißt und sie neu arrangiert. „Nicht nur die Syntax wird ‚zertrümmert‘, auch das Wort wird in alle Bestandteile (auf Morphem-, Phonem-, Graphemebene) zerlegt, Einzelelemente elidiert, substituiert, permutiert, neu kombiniert und auf semantische Konsequenzen und neue Assoziationen abgeklopft.“ (Betten 2004, 3128) Dafür seien hier in aufstei­ gender Linie Beispiele angeführt. Die reine Graphemebene: Hier gibt es unzählige Manipulationen der Orthogra­ phie. Sehr viele finden sich bei Ernst Jandl. Sie reichen von der Vertauschung von Groß- und Kleinbuchstaben („dER RITTER“ in Laut und Luise, 1966, 61) bis zu gra­ phischen Sprachgemälden (vgl. das unten abgedruckte Gedicht auf dem Land). In dem hier als Beispiel ausgewählten Gedicht felt futsch von Kurt Bartsch werden über orthographische Umpolungen Sichtweisen freigesetzt, die sonst gerade verborgen sind. Eine metasprachliche Komponente ist am Schluss mit dem einzigen aus der f-Fehlschreibung herausfallenden Wort wortsetzung, die in diesem Kontext ‚falsch‘ ist, unverkennbar:

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fom fleck feg / fald und fiese / feltuntergang / feltuntergang / fen ferd ich / fohl fiedersehn / felt­ untergang / feltuntergang / for fier fochen / far feltuntergang / wortsetzung folgt (Kurt Bartsch, nach Dencker 2005, 318)

Die metasprachliche Komponente offenbart sich auch in Überschriften wie Rechtschreibung in einem Gedicht von Heinz Erhardt, das mit den Worten endet „Orthogra­ vieh – das sieht man hier – ist nicht ganz leicht für Mensch und Tier.“ (Heinz Erhardt, nach Dencker 2005, 240) Die reine Lautebene: In Clemens Brentanos IX. Romanze heißt es: Des Vokals belebend Wunder, Eh’geheimnis der Diphthonge, Und der Konsonanten Hunger Lernt er draus zu Worten kochen. In dem A den Schall zu suchen, in dem E der Rede Wonne, in dem I der Stimme Wurzel, in dem O des Tones Odem […] (Clemens Brentano, nach Dencker 2005, 96)

Was hier im Gedicht vorgeführt wird, nämlich eine ans Licht geholte Lehre der Leis­ tung der Laute, wird in Gedichten der Romantik auch direkt genutzt, vor allem in der Klangwirkung der Vokale, in assonantischen Bindungen und Synästhesien. Musterfälle für die Demonstration der Zwänge, denen man sich unterwerfen kann, sind Gedichte, die entweder bestimmte Laute bzw. Buchstaben vermeiden oder aber bestimmte Laute oder Buchstaben demonstrativ setzen. Für das erstere ist das Gedicht ohne r von Friederike Kemper ein Beispiel: Wie viel Licht im Sonnenball, / Wie viel Staub im Weltenall, / Wie viel Staub und wie viel Sand / Gibt’s nicht schon im Heimatland! […] (Friederike Kemper, nach Dencker 2005, 115)

Das Gegenbild ergibt sich etwa mit Angelika von Marquardts Versen: Trau, treue Trine, trüglich trüben Träumen nicht, treib trotzig triumphierend weg das Traumgesicht, trockne die Tränen tragischen Trübsals tröpfelnd auf, trink trauten Traubentrankes Trostestropfen drauf. […] (Angelika von Marquardt, nach Dencker 2005, 117)

Beide Versionen leisten im Grunde dasselbe: Es wird signalisiert, dass die restringier­ ten Aussagemodi dennoch und vielleicht besonders geeignet sind, Sinn zu vermit­ teln, was sich als eine besonders effektive Form poetischer Paradoxie begreifen lässt.

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Dies trifft auch auf Verse wie die von Ernst Jandl zu, die eine Lautvertauschung aufweisen: „manche meinen  / lechts und rinks  / kann man nicht  / velwechsern.  / werch ein illtum!“ (Jandl 1966, 171). Hier dürfe man die „politische Anzüglichkeit“ nicht überhören, wie Betten (2004, 3129) schreibt. In seinem Gedicht „bettler steht neben bettler / bettler sehen gegebenem entgegen / sehende gehende sehen bettler neben bettler stehen […]“ werden nur Wörter, die den Vokal e enthalten verwendet und deren Kombination in auf- und absteigender Linie vorgeführt wird (Ernst Jandl 1984/85, Das Öffnen und Schließen des Mundes, 69). Derartige Lautverabsolutierun­ gen sind die konsequente Anwendung des Prinzips, Gedichte auf ihr sprachliches Urmaterial zurückzuführen. Christian Morgensterns Gedicht Das große Lalulā stellt Lautkombinationen als simulierte Wörter zusammen und baut auf diese Weise ein formal ‚echtes‘ Gedicht: Das große Lalulā Kroklokwafzi? Sem̅ emem̅ i! Seiokrontro – prafriplo: Bifzi, bafzi; hulalem̅ i: quasti basti bo… Lalu lalu lalu lalu la! Hontraruru miromente zasku zes rü rü? Entepente, leiolente klekwapufzi lü? Lalu lalu lalu lala la! Simarar kos malzipempu silzuzankunkrei(;)! Marjomar dos: Quempu Lempu Siri Suri Sei []! Lalu lalu lalu lalu la! (Christian Morgenstern 2003, 16 f.)

Dieses Gedicht verwendet darüber hinaus ‚sinnvolle‘ graphische Zeichen und hält die Strophenform eines Gedichtes ein. Seit Hugo Balls Dichtungen und seinen theoretischen Reflexionen sind dies Topoi der „Lautdichtung“. Ernst Jandl zitiert in seinen Frankfurter Poetikvorlesun­ gen als Ausgangsbeispiel Hugo Balls Lautgedicht Karawane, das mit den (Pseudo) Worten beginnt: „jolifanto bambla ô falli bambla grossiga m’pfa habla horem“ (Jandl 1984/85, 25). Hier nimmt bewusst der „Nicht-Sinn“ die Stelle des Bedeutungshaften ein (Schmitz-Emans 1997, 107). Es ist gleichzeitig der Beginn der Collagetechnik in der Poesie. „Wesentliche Eigenschaft des Materials für Collagen ist, daß es sich um mehr oder minder wohl­ bekannte oder leicht erkennbare Text-Teile handelt: ihre allseitige Bekanntheit, d. h.

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ihre Trivialität ist das Motiv des Collagenverfertigers.“ (Sornig 1995, 109, der eine Reihe von Beispielen anführt). Die in Collagen zusammengestellten Sprachbrocken sind isolierte sprachliche Elemente, die neu zusammengefügt werden, sie führen den Blick unweigerlich auf das Material selber. Monika Schmitz-Emans fasst die Grundlinien dieser „neuen Sprache“ in sechs Leitthesen zusammen: 1. Die neue Sprache ist wesenhaft Klang. 2. Die neue Sprache ist mit den Dingen selbst ver­ wandt und drückt daher deren Wesen aus. 3. Die neue Sprache ist zugleich eine ganz alte, eine ursprungsnahe Sprache. 4. Neue Sprache und Kindersprache sind verwandt. 5. Mithilfe der neuen Sprache würde der Dichter zum Magier; jedes wahre Wort partizipiert an jener Macht der Schöpfung und Bewegung der Dinge, die einst die Welt selbst hervorbrachte. 6. Der Weg zur neuen Sprache führt über die Destruktion der geläufigen Sprache. (Schmitz-Emans 1997, 144–157)

Diese Thesen, formuliert aus den Überlegungen Hugo Balls, treffen die poetischen Absichten der gesamten neueren Lautpoesie bis hin zur Konkreten Dichtung. Die Destruktion des Überkommenen und der Sinn-Aufbau auf den ‚Trümmern‘ der alten Sprache manifestiert sich dabei, wie angegeben, auf allen sprachlichen Ebenen. Ernst Jandl betont in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen, dass es sich immer um die allen zugängliche und von jedermann verwendete Sprache handele, die es nur aufzunehmen und festzuhalten gelte. Das zeigt er etwa an dem Gedicht thechdthen jahr, thüdothdbahnhof, das nur das Protokoll eines Hörereignisses darstelle (Jandl 1984/85, 68). Berührungen gibt es weiterhin vor allem mit Sprachspielereien in der Kindersprache, mit Geheimsprachen, mit der Sprache sogenannter Gestörter und anderen nichtkanonischen Sprachbereichen. Ein umfangreiches Arsenal an Beispie­ len bietet die Sammlung von Sornig (1995). Diese Berührungen von hochartifiziellen Texten und ihren Widerparts in nicht­ künstlerischen Bereichen wiederum machen es nötig, dichterische Sprache und All­ tagssprache gegeneinander abzugrenzen. Ulla Fix analysiert in ihrem Aufsatz Texte an den „Rändern“ alltagssprachliche Texte, die als literarische ausgegeben werden, wie z. B. Sachtexte in literarisierter Form. Sie prüft die Kriterien für die Bewertung als „Dichtung“ und weist nach, dass letztlich nur das Kriterium der „Verabredung“ trägt (Fix 2013, 240). Auf der morphologischen Ebene: Bei Christian Morgenstern findet sich eine Übergeneralisierung des Superlativsuffixes -st-: Mich erfüllt Liebestoben zu dir! / Ich bin deinst, / als ob einst / wir vereinigst. // Sei du meinst! / Komm Liebchenstche zu mir  –  / ich vergehste sonst  / sehnsuchtstgepeinigst. // Doch achst, achst, schwach, am Wortleinstche ei, was – / genug, da auch du mich liebstest. / Fühls, fühls ohne Worte mein Meinstlein: / Ich sehne dich Steste -st -st! (Christian Morgenstern 2003, 161 f.)

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Hier werden nicht nur Adjektive gesteigert, sondern das Suffix wird allen Wortarten, selbst Interjektionen, angefügt, zum Schluss isoliert und substantiviert. Die Botschaft der Übersteigerung ist überdeutlich. Auch hier zeigt sich nicht nur die Konzentration auf die Formseite der Sprache, sondern damit zwangsläufig auch die metasprachliche Komponente: Der Blick wird auf das sprachliche Material selber gelenkt, das als Bau­ stein für neue Zusammenhänge dient. Auch dafür ist besonders Ernst Jandl bekannt geworden. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung spricht er davon, dass mit seinen Gedichten „Fesseln abgestreift oder gesprengt werden können, wo keiner sie bisher bemerkt hat.“ (Jandl 1984/85, 3) Für die Einschätzung der ikonischen Funktion von Gedichten, nämlich die inhaltliche Aussage gleichzeitig in der Form zu finden, ist die folgende Formulierung aufschlussreich: „Das Gedicht sagt etwas und es stellt es zugleich hörbar und sichtbar dar.“ (Ebd., 6) Damit wird gleichsam die Multidimensi­ onalität des Ausgesagten thematisiert, ‚Inhaltliches‘, Hörbares und graphisch sicht­ bar Gestaltetes sind einheitlich zentriert. Bei Ernst Jandl wird besonders deutlich die „reflexive[…] Sprachbezogenheit von Dichtung“ betont (Schmitz-Emans 2014, 159). Die einheitliche Zentrierung des Ausgesagten auf die formale Seite wird damit meta­ sprachlich pointiert, nicht zuletzt dadurch ergibt sich bei der Rezeption der Eindruck einer überaus starken Verdichtung. Was die Manipulation von Morphemen betrifft, so finden sich bei Jandl so gut wie alle denkbaren Arten. Sie reichen, wie Ernst (1994, 19–22) zeigt, von Morphemauslas­ sungen („wenn die rett […] bis die atombo / ja herr pfa“ in Jandl 1966, 50), über Mor­ phemspaltungen („ode auf N lepn / nepl / […]pooleoooon / pooleon / poleooon […]“ ebd., 41–43) bis zur Erfindung neuer Morpheme, die auf dem Hintergrund bekannter Elemente Bedeutungen transportieren, wie etwa das Morphem „bäbb“ in talk zeigt, das gegen „blabla“ gesetzt wird (Jandl 1984/85, 55). Bei den Verben nimmt Jandl eben­ falls morphematische Veränderungen vor, häufig wird „dem flektierten Wort […] das ‚ungebrochene‘ gegenübergestellt: das Verb im Infinitiv.“ Darin bleibe das Verb „mit sich selbst identisch“ (Schmitz-Emans 1990, 567). Die lexikalische Ebene: Es finden sich sprachspielerische Manipulationen bei so gut wie allen Wortarten. Bei Substantiven: Sprachspielerisch wird die Verselbständigung von  – meist erfundenen  – Wörtern genutzt, um diese sodann in fiktive Welten einzubauen. Beispiele dafür seien hier aus den Werken Christian Morgensterns und Robert Gernhardts angeführt: Korf und Palmström nehmen Lektionen, / um das Wetter-Wendische zu lernen (Christian Morgenstern 2003, 72). Der Nachtwindhund weint wie ein Kind, / derweil sein Fell von Regen rinnt. // Jetzt jagt er wild das Neumondweib, / das hinfliegt mit gebognem Leib. […] (Ebd., 28)

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Künstlich zusammengerückt wird in dem Gedicht Der Gingganz, das mit den Zeilen „Ein Stiefel wandern und sein Knecht / von Knickebühl gen Entenbrecht“ beginnt, „das für diesen Zweck getrennte Paar: Fürwahr, beim heiligen Nepomuk, // Ich GING GANZ in Gedanken hin“ (Christian Morgenstern 2003, 29). Das Gegenbild zur Zusam­ menfügung ist die Zerlegung von Wörtern, etwa Pommes frites in „Pomm Fritz“, pervers in „per Vers“, Minister in „‚Min ist ter Rachen‘ spricht der Herr“, Symbol in „sie sym bol wahnsinnig geworden!“ (Robert Gernhardt 1999, 49; 82 f.) Die von Mor­ genstern erfundenen Wesen wie der Zwölfelf, das Mondkalb, das Nasobem, das Vier­ viertelschwein und die Auftakteule kommen dem Bedürfnis nach Fabelgestalten und mystischen Figuren entgegen. Morgenstern baut diese in stimmige Welten ein, die einen tiefgründig-sentimentalen Ton aufweisen. Die unrestringierten Bildemöglichkeiten von Substantivableitungen nutzt Fried­ rich Rückert in seinem Gedicht Meiner lieben Schwiegertochter Alma, indem er 52 movierte Feminina anführt, die er in Versform aufreiht: Zeitungbringerin,  / Fliegenwedelschwingerin,  / Fehllose Jägerin,  / Treffliche Todtschlägerin,  / liebe Beleberin / Kleinmuthes Heberin […] (Friedrich Rückert, nach Dencker 2005, 112)

Im Sinne normativer lexikologischer Verbuchung finden sich hier ausschließlich Adhoc-Komposita, die in ihrer Zusammenstellung die charakterisierte Person allseitig erfassen sollen. Während Gedichte, auch und gerade die sprachspielerischen Charak­ ters, einen Kerngedanken transportieren oder eine andere Zentrierung vornehmen, herrscht hier der reine Beschreibungsmodus vor, doch hat das Gedicht mit seinem Schluss „Nimm dies Liebeszeichen hin, / Wie ich dir dankbar bin“ auch eine diskur­ sive Aussage. Besonders verlockend sind Fremdwörter und die darin enthaltenen verfremden­ den Deutungsmöglichkeiten. Dies wird seit der Barockzeit praktiziert. Ein anonymes achtstrophiges Gedicht von 1647 enthält in jedem der jeweils sechs Verse ein Fremd­ wort: Die erste Strophe zeigt das Prinzip: in der einfachen und direkten Verbindung der – teilweise unverständlichen – Fremdwörter wird ein Sinnzusammenhang sugge­ riert, der insgesamt trivial ist. Die damit verbundene Fremdwortkritik ist offensicht­ lich: Reverirte Dame, Phoenix meiner ame, Gebt mir audientz: Euer Gunst meriten, Machen zu falliten Meine patientz. Ach ich admirire, Vnd considerire, Eure violentz;

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Wie die Liebesflamme Mich brennt / sonder blasme, Gleich der Pestilentz […] (Wagenknecht 1969, 163; Hervorh. im Orig.)

Bei Adjektiven: Die Komparationsmöglichkeit wird in einem Gedicht von Volker Erhardt durchge­ spielt: „Links ist linker als rechts  / Oben ist höher als unten  / Vorn ist weiter vorn als hinten / Groß ist größer als klein / Lang ist länger als kurz […]“ (Volker Erhardt, nach Dencker 2005, 303). Dieses Gedicht operiert auf den spielerischen Definitionen nachts ist kälter als draußen, mit denen die Absurdität von gewissen Vergleichen angesprochen wird. Ein noch ‚radikaleres‘ Spiel mit dem Komparativ findet sich in dem experimentellen Text Georgs Sorgen um die Zukunft von Jan Faktor. Da werden hunderte von Wörtern aller Wortarten in der Grundform und einer komparierten Form hintereinandergeschaltet: „[…] das Gespenste immer Gespenster / das Getroste immer Getroster / das Teewurste immer Teewurster […]“ (Jan Faktor 1988, 28). Beim Hören solle man den „litaneiartig-meditativen Effekt beobachten“ (ebd., 34), wie der Autor dazu schreibt. „Der wirkliche (verborgene) Ernst des Textes überdeckt sich mit dem parodierten (oberflächlichen) Ernst.“ (Ebd., 33) Bei Verben: Paradigmatische Zusammenhänge werden in regelrechten Wortfeld-Aufgliederungen vorgenommen. Das Wortfeld Geld und Münzen verarbeitet Horst Bienek in einem Gedicht Währungseinheit. Es enthält 32 Geldbezeichnungen, bei denen echte wie „studiengebühr“ oder „ladenmiete“ im Kontext von erfundenen wie „lustgroschen“ oder „stöpselgeld“ stehen, vermischt mit lexikalisierten Bezeichnungen, die in diesem Kontext eine andere, versteckte Bedeutung signalisieren, wie „heckpfennig“ oder „reitgeld“ (Horst Bieneck, nach Dencker 2005, 274). Das Ganze ist alphabetisch angeordnet, signalisiert damit auch  – verfremdete  – lexikalische Ordnungszusam­ menhänge. Bei Redewendungen: In dem Gedicht Die weggeworfene Flinte von Christian Morgenstern werden die idio­ matischen Gebrauchsweisen abstrakt verwendeter Nomina rekonkretisiert, hier: die Flinte ins Korn werfen: „Palmström findet eines Abends,  / als er zwischen hohem Korn  / singend schweift,  / eine Flinte…“ (Christian Morgenstern 2003, 81) Ähnlich verhält es sich mit dem Gedicht Das Grab des Hunds: „Gestern war ich in dem Tal, / wo der Hund begraben liegt. Trat erst durch ein Felsportal / und dann wo nach links es biegt […]“ (ebd., 152). Diese Rekonkretisierung versteinerter Gebrauchsweisen findet sich derzeit u. a. in der Pressesprache, wenn Ausdrücke wie Hebel oder Rettungsschirm wörtlich genommen werden und darüber hinaus in Karikaturen bildlich dargestellt werden (Eroms 2014, 261–264). Dabei wird in eingelagerten, festgeworde­

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nen Gebrauchsweisen nach dem ursprünglichen Sinn gesucht, der, verfremdet, als besonders ausdrucksstark erscheint. Harnisch (2010) spricht hier von Verstärkungs­ prozeduren, die generell einen vermuteten Sinnbezug in durch Konvention nicht mehr durchschaubare Morpheme und Wörter hineinlesen. Hier berühren sich poeti­ sche und alltagssprachliche Verfahren in der Weise, dass verborgener Sinn ans Licht geholt wird.

4 Rhetorische Figuren Einige der bislang angeführten Beispiele können zeigen, dass Sprachspiele und Rhe­ torische Figuren keine Gegensätze darstellen. Sie können sich überlappen. Auch wenn Tropen und Figuren eine viel größere Relevanz für die Prosa haben, besonders in den von rhetorischen Traditionen bestimmten Textsorten, so lassen sich in Gedich­ ten rhetorische Elemente zu allen Epochen finden, wenn auch in sehr unterschied­ lichem Ausmaß. In Gedichten des Barock sind sie überwiegend bewusst eingesetzt, in neueren Gedichten lässt sich ihr Vorkommen auch damit erklären, dass sie elabo­ rierte Spieltechniken aufweisen. Ihre Funktion ist zunächst stets eine Intensivierung des Ausdrucks. Die im Folgenden angeführten Beispiele können nur einen ungefäh­ ren Eindruck von den vielfältigen Möglichkeiten geben, die sie bereitstellen (umfang­ reiche Listen u. a. bei Lausberg 1973). Alle Bilder, Vergleiche und Metaphern sind im Grunde rhetorische Figuren. Auf ihre Einbindung in eine stringente poetische Absicht ist oben mit Beispielen schon hingewiesen worden. Gerade die „kühnen“ Metaphern sind es, die in der Lyrik gepflegt werden. Sie werden erwartet, weil sie am deutlichsten von allen schablonen­ haften Ausdruckweisen abweichen. In dem Gedicht Abbildung der Brüste von Chris­ tian Hölmann (1704) werden diese in einer Unzahl von anaphorisch gereihten Bildern beschrieben (insgesamt sind es über vierzig), was weiteren rhetorischen Figuren, dem Parallelismus und der Enumeratio, entspricht. Außerdem werden die Brüste personi­ fiziert; sie präsentieren ihre in Metaphern gefassten Eigenschaften selber. Damit sind sie als Pars-pro-toto des „Frauenzimmers“ (Vers 28) auch ein Beispiel für die Stilfigur der Metonymie. Dabei finden sich etablierte und ungewöhnliche Formen gleicher­ weise. Für die Akzeptanz dieser Metaphernhäufung ist in Rechnung zu stellen, dass seit dem Hohen Lied dafür eine Tradition vorliegt. Wir sind der schönste brunn / wo kost vnd nahrung qvillet / Wo milch mit honigseim vermengt nach wunsche fliest / Womit der jungen welt der hunger wird gestillet […] Wir sind ein blumen-hauß / wo in den winter-stunden Narciß‘ und lilje blühn als wie zur frühlings-zeit; Ein felß wo Chrysolith und Demant wird gefunden; Ein fruchtbahr sommer-feld mit hagel überstreut;

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Ein berg / auf dem der schnee sich selbst in ballen rollet; Zwo kugeln / die ein bild des weltgebäudes seyn; […] Ein bollwerck / dem kein sturm hat schaden zugefügt; Ein wachhauß / wo nur stets zwo schöne schwestern wachen; Ein wall / durch den das thal der keuschheit wird beschützt; […] (Christian Hölmann, nach Stenzel 1969, 27 f.)

Die Verdichtung liegt hier in der variierenden Wiederholung; ihre Akzeptanz ist zeit­ gebunden, doch finden sich gerade in der Gegenwartslyrik, die sprachspielerische Mittel einsetzt, nicht unähnliche Experimente. Gleiches gilt für Parallelismen, Anaphern und Epiphern: In Sophie, mein Henkersmädel von Christian Morgenstern enden alle drei Strophen mit dem Vers „doch du bist gut und edel!“ (Christian Morgenstern 2003, 14 f.) Für die im Barock favorisierte Darlegung von Verhältnissen in ihrer Gegensätz­ lichkeit eignet sich vorzüglich der Alexandriner mit der sehr auffälligen Sprechpause in der Mitte: „Ich wasche meinen Leib. Herr / wasch du meine Sele“ (Magnus Daniel Omeis, nach Stenzel, 39). Friedrich Suppig (1716) ordnet sein Gedicht Der breite Höllen-Weg. Der schmale Himmels-Weg so an, dass die Alexandrinerverse sowohl waage­ recht als auch senkrecht gelesen werden können und dadurch die beiden gegensätz­ lichen Wege beschrieben werden: Verflucht ist iederman / Der nicht recht leben kann Nach dem Gesetz alhier In diesem Welt-Revier (Friedrich Suppig, nach Stenzel 1969, 67)

Der das Gesetze hält / Hier seinem Gott gefällt / Kein Mensch man selig spricht / Ist JEsus nicht sein Licht. […]

Wenn Antithesen chiastisch und variierend verbunden werden, ergeben sich für den Barock besonders typische Formen. Daniel Schönemann (1727, nach Stenzel 1969, 104 f.) ordnet sein siebenstrophiges Gedicht Offne Seite, sichre Höle so, dass die zweite Strophe mit „Sichre Höle, offne Seite“, die dritte wieder mit „Sichre Höle“ beginnt. Antithetisch werden im Gedicht „Schmertzen“ (in der Welt) und „Vergnügen“ (in Jesus) einander entgegengesetzt. Im Vergleich mit der Barocklyrik sind die rhetorischen Figuren in der neueren Lyrik selten. Allerdings finden sich Anaphern und Parallelismen und unter ihnen verborgen auch Antithesen, wie es das folgende Gedicht, Kleines Lied, von Robert Gernhardt, zeigt: Bin ich auch arm / Bin ich doch dumm / Bin ich auch schief / Bin ich doch krumm / Bin ich auch blind / Bin ich doch taub / Bin ich auch Fleisch / Werd ich doch Staub. (Robert Gernhardt 1999, 25)

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Die Gegensätze, die hier vermeintlich signalisiert werden, sind in Wirklichkeit Gleich­ heiten, erst in den letzten beiden Versen wird die Gegensatzfigur (Wenn auch… so doch) inhaltlich gefüllt. Zu den erweiterten Tropen und Figuren lassen sich auch die Kontrafakturen und Parodien zählen, die seit langem zum Repertoire erfindungsreicher Lyrik gehören. Die Zahl der Parodien von Goethes Wandrers Nachtlied ist Legion. Aber auch viele andere Goethegedichte werden als Folie von Kontrafakturen benutzt: Kreubst du das Lerd, wo die Zertissen breun … (Serenus M. Brenzengang, nach Dencker 2005, 319); „m e i n Diwan bleibt westöstlich“ (Christian Morgenstern 2003, 66) Alles bedenk-gezänk- liche ist antiquarisch, das einzelg-unzul- ängliche wird solidarisch […] (Horst Landau, nach Dencker 2005, 310).

Betroffen von parodistischen Kontrafakturen sind besonders ausdrucksstarke Gedichte und hier vor allem von Dichtern des etablierten Kanons. Eichendorff: „Dämmrung will die Flügel spreiten, / wird uns alsobald verlassen, / willst du ihren Flug begleiten,  / mußt du sie am Bürzel fassen […] (Robert Gernhardt 1999, 104); Mörike: „Verlassen stieg die Nacht an Land  / der Tag war ihr davongerannt […]“ (Robert Gernhardt 1999, 119). Derartige Kontrafakturen werden in ironischer Distanzierung, aber mit einer an die hier zugrunde gelegten Verse angeknüpften, weiterentwickelten oder als Gegen­ bild entworfenen Absicht genutzt. Allerdings lässt sich belegen, dass mit solchen Abwandlungen ursprüngliche Aussageabsichten nicht nur konterkariert, sondern, teilweise jedenfalls, auch verstärkt werden können. Das macht Ernst Jandl in seiner Frankfurter Poetikvorlesung an Hand des Gedichtes Gegen Verführung von Bertolt Brecht deutlich. (Ernst Jandl 1984/85, 119) Darin werden Anklänge an barocke Vani­ tasgedichte so arrangiert, dass die Botschaft, die Begrenzung des Lebens zu beden­ ken, besonders stark hervortritt: Laßt euch nicht verführen! Es gibt keine Wiederkehr. Der Tag steht in den Türen; Ihr könnt schon Nachtwind spüren: Es kommt kein Morgen mehr. […]

Kontrafakturen und Parodien sind in jedem Falle Belege für die starken intertextuel­ len Bezüge, die durch den Kanon der Lyrik errichtet sind. Weil es Zitate oder Quasi­ zitate sind, die hier verarbeitet werden, stiften sie Stileffekte, die damit in der Lyrik, Stilfiguren und Tropen vergleichbar, Überkommenes anführen und umpolen.

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5 Konkrete Poesie Beispiele wie die chiastisch zu lesenden Barockgedichte zeigen, dass die graphi­ sche Anordnung ein konstitutiver Faktor bei Gedichten sein kann. Diese Formen der ‚Sichtbarmachung‘ des sprachlich Gefassten, die Umsetzung akustischer, wenn auch schriftlich festgehaltener Signale ist ein Zeichen ikonischer Verstärkung. Mit der Konkreten Poesie und der Visuellen Poesie werden solche Verfahren besonders konsequent betrieben. Ihre systematische Gliederung reicht von gezielter typographi­ scher Anordnung über visuelle Unterstützung einzelner sprachlicher Elemente bis zu reinen visuellen Elementen, in denen nur noch vereinzelte sprachliche Einspreng­ sel vorkommen. Anja Voeste nimmt drei Stadien bei der konkreten Dichtung an, in denen die Form selber thematisiert wird. Im ersten seien die Wörter noch als solche zu erkennen, verwiesen aber nicht mehr auf die Wirklichkeit, sondern lenkten den Blick auf das Material selber. Im zweiten werde das Wortbild demontiert, im dritten zeigten sich sogar Zerlegungen der Buchstabenformen (Voeste 2012, 47–49, mit ent­ sprechenden Beispielen). Allen Formen ist jedoch gemeinsam, dass sie einen zent­ ralen Gedanken, eine Idee oder einen plakativen Einfall in mehrfacher Weise trans­ portieren. Sie nutzen die Lautsprache und zugleich ihre Verschriftung, die zumeist graphisch arrangiert wird. Damit sind sie mehrdimensionale Manifestationen der „sprachlichen Verstärkung“ (Harnisch 2010) und Nutzungen des ikonischen Prinzips par excellence. Sie machen die ‚Botschaft‘ eines Gedichts ‚sichtbar‘. Diese kann von harmlosen Erkenntnissplittern (Gomringers ping pong-Gedicht) über Sprachgemälde (Ernst Jandls Gedicht Auf dem Land) bis zu Graphiken reichen, in denen Sprache eine eher sekundäre Rolle spielt (Apfel mit Wurm von Reinhard Döhl). In allen Fällen stehen Sprache und graphisches Arrangement nicht einfach in Interaktion, sondern sind gegenseitige Transpositionen in ein anderes Medium, die das ikonische Potential der Sprache besonders hervortreten lassen. ping pong ping pong ping pong ping pong ping pong (Eugen Gomringer 2009, 56)

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auf dem land rininininininininDER brüllüllüllüllüllüllüllüllEN schweineineineineineineineinE grununununununununZEN hununununununununDE bellellellellellellellellEN katatatatatatatatZEN miauiauiauiauiauiauiauiauEN […] (Ernst Jandl, nach Gomringer 2009, 87)

(Reinhardt Döhl, nach Gomringer 2009, 38)

Die moderne visuelle Poesie schließt sich an die ältere Tradition der Figurengedichte an (vgl. Ernst 2000).

6 Fazit Die hier behandelten Sprachformen sind, einzeln betrachtet, charakteristische Merk­ male von Gedichten, sie sind aber nicht hinreichend, um das Genre als Ganzes zu kennzeichnen. Trotzdem bieten sie einen wegweisenden Zugang zur Sprache in Gedichten. Von allen bewusst gestalteten Sprachformen sind die in Gedichten vorzu­ findenden die eigenständigsten. Poesie ist „gesteigerte Sprache“, wie es Hofmanns­ thal in seinem Gespräch über Gedichte seinen Protagonisten Clemens hat ausdrücken lassen. „Sie setzt eine Sache für die andere.“ Dessen Gegenspieler, Gabriel, erwidert darauf: „Niemals setzt die Poesie eine Sache für eine andere, denn es ist gerade die Poesie, welche fieberhaft bestrebt ist, die Sache selbst zu setzen“. Sie schlürfe aus „jedem Gebilde der Welt und des Traumes […] sein Eigenstes, sein Wesenhaftestes“

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heraus (Hofmannsthal, nach Völker, 279 f.). Die Verdichtung wird in den hier gemus­ terten Phänomenen besonders deutlich, auch und gerade, wenn es sich dabei um spielerische Akte handelt. Der ikonische Zug, die „Selbstbezüglichkeit“ (Kablitz 2008, 125), die Spiegelung, die als Sprachfunktion auch in anderen sprachlichen Registern zu belegen ist, ist hier in verdichteter Form zu finden. Der Weg von der Lautgestalt zur rein visuellen Form zeichnet dabei in gewisser Weise den Prozess der Hinwendung zu einer visuellen Schriftkultur der Moderne nach.

7 Literatur 7.1 Primärliteratur Christian Morgensterns Gedichte in einem Band. Hg. von Reinhardt Habel. Frankfurt a. M./Leipzig 2003. Dencker, Klaus Peter (Hg.) (2005): Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart. Faktor, Jan (1988): Georgs Sorgen um die Zukunft. Hg. von Karl Riha und Siegfried J. Schmidt. Experimentelle Texte 18. Siegen. Gernhardt, Robert (1999): Gedichte 1954–1997. Zürich. Goethe, Johann Wolfgang: Gedichte 1800–1832. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1988. Gomringer, Eugen (Hg.) (2009): Konkrete Poesie. Deutschsprachige Autoren. Anthologie. Stuttgart. Jandl, Ernst (1984/85): Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt u. a. 1987. Jandl, Ernst (1966): Laut und Luise. München 1997. Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts. Von den Wegbereitern bis zum Dada. Eingeleitet von Gottfried Benn. Wiesbaden 1955. Stenzel, Jürgen (Hg.) (1969): Gedichte 1700–1770. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge. München. Wagenknecht, Christian (Hg.) (1969): Gedichte 1600–1700. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge. München.

7.2 Sekundärliteratur Betten, Anne (2004): Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945. In: Werner Besch u. a. (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 4. Teilband. Berlin/New York, 3117–3159. Brandmeyer, Rudolf (2000): Lyrik. In: Lamping, 485–497. Burdorf, Dieter (2009): Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Lyrik der Gegenwart. In: Ulla Fix u. a. (Hg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. 2. Halbband. Berlin/New York, 2082–2099. Coseriu, Eugenio (2006): Textlinguistik. Eine Einführung. 4. Aufl. Tübingen. Ernst, Peter (1994): Sprache als Spiel – die Sprachbehandlung in den Gedichten Ernst Jandls. In: LernSprache Deutsch 2/1, 11–45. Ernst, Ulrich (2000): Figurengedicht. In: Lamping, 270–280.

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Eroms, Hans-Werner (2014): Stil und Stilistik. Eine Einführung. 2., neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin. Eroms, Hans-Werner (2014a): Fraktale Texte. Selbstähnliche Texte als Bausteine. In: Péter Bassola u. a. (Hg.): Zugänge zum Text. Frankfurt a. M., 101–126. Fix, Ulla (2009): Muster und Abweichung. In: Ulla Fix u. a. (Hg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. 2. Halbband. Berlin/New York, 1300–1315. Fix, Ulla (2012): Anders – bezogen worauf? Abweichen – wovon? Historischer Rückblick und aktueller Ausblick auf Andersschreiben und Stilvorstellung. In: Schuster/Tophinke (Hg.), 23–42. Fix, Ulla (2013): Texte an den „Rändern“: Dichtersprache und Alltagssprache. Literarische und nichtliterarische Texte. In: Ulla Fix: Sprache in der Literatur und im Alltag. Ausgewählte Aufsätze. Berlin, 229–247. Harnisch, Rüdiger (2010): Zu einer Typologie sprachlicher Verstärkungsprozesse. In: Rüdiger Harnisch (Hg.): Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung. Berlin/New York, 3–23. Homann, Renate (1999): Theorie der Lyrik. Heautonome Autopoiesis als Paradigma der Moderne. Frankfurt a. M. Jakobson, Roman (1971): Linguistik und Poetik. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Frankfurt a. M., 142–178. Kablitz, Andreas (2008): Die Grammatik der Rhetorik oder Lyrische Rede oder die Rationalität der Rhetorik. In: Klaus W. Hempfer (Hg.) (2008): Sprachen der Lyrik. Von der Antike bis zur digitalen Poesie. Stuttgart, 73–129. Lamping, Dieter (2000): Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. 3. Aufl. Göttingen. Lamping, Dieter (Hg.) (2009): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart. Lausberg, Heinrich (1973): Handbuch der literarischen Rhetorik. 2 Bände. München. Riffaterre, Michael (1973): Strukturale Stilistik. München. Schmitz-Emans, Monika (1990): Poesie als Sprachspiel. Überlegungen zur Poetik Ernst Jandls. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 109, 551–571. Schmitz-Emans, Monika (1997): Die Sprache der modernen Dichtung. München. Schmitz-Emans, Monika (2014): Ernst Jandl und die Sprache. In: Walter Schmitz/Ingeborg Fiala-Fürst in Verbindung mit Bettina Gruber (Hg.): Wissen durch Sprache? Historische und systematische Positionen. Dresden, 157–180. Schuster, Britt-Marie/Doris Tophinke (Hg.) (2012): Andersschreiben. Formen, Funktionen, Traditionen. Berlin. Sornig, Karl (1995): Spiel: Sprache (Purismen, Infantile Poetiken, Innovationen und prometheische Unbotmäßigkeiten). Graz. Völker, Ludwig (Hg.) (2000): Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart. Voeste, Anja (2012): „Du sollst mein Lesen verändern.“ Andersschreiben in der konkreten Dichtung. In: Schuster/Tophinke (Hg.), 45–53. Weinrich, Harald (1963): Semantik der kühnen Metapher. In: Harald Weinrich (1976): Sprache in Texten. Stuttgart, 295–316. Zymner, Rüdiger (2009): Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn.

Hermann Korte

21. Sprache in Drama und Theater Abstract: Dramatische Dichtung war und ist vom alteuropäischen Beginn an bis heute eine von Sprache und Sprechen grundlegend bestimmte Kunst, die unauflös­ lich mit dem Theater verbunden ist. Die Sprache im Drama ist stets eine vor Zuschau­ erinnen und Zuschauern entfaltete Figurenrede; sie artikuliert sich in Monologen und Dialogen, im Tumult von Massenszenen wie in der Stille einer fast wortlosen, nur in spärlicher Körpersprache angedeuteten Bühnensituation. Dramensprache steht in der Regel im Kontext von Aktionen und Handlungen und ist daher nur ein – wenn auch wesentliches und wichtiges – Element eines vor Zuschauerinnen und Zuschau­ ern inszenierten Gesamtgeschehens auf dem Theater. Es verwundert nicht, dass schon Aristoteles (384–322 v. u. Z.) in seiner Poetik die Sprache zu den Grundelemen­ ten des Dramas zählt: „Immerhin besteht jedes Stück in gleicher Weise aus Inszenie­ rung, Charakteren, Mythos, Sprache, Melodik und Erkenntnisfähigkeit“ (Aristoteles 1982, 21). Zugleich ist die Sprache im Drama in aller Regel an Personen bzw. Figuren geknüpft, die vor einem Publikum Spiele aufführen. Seit der Existenz des Theaters ist die Sprache nie ein bloß funktionales Kommuni­ kationssystem zur menschlichen Verständigung. Selbst dort, wo sie sich sozialer All­ tagscodes bedient, geht sie nicht in den Codes auf, sondern ist und bleibt eine künst­ lerische Ausdrucksform, der eine dramaturgische Konzeption unterliegt, in diesem Falle mit dem Ziel, auf der Bühne eine möglichst große Alltagsreferenz zu erzeugen. Das gilt sogar für Stücke des so genannten Dokumentarischen Theaters, das, wie Peter Weiss (1916–1982) in seinem Stück Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen (1965), mit authentischen Textvorlagen aus dem Frankfurter Auschwitz-Prozesse arbeitet, mit protokollierten Zeugenaussagen, Prozess-Mitschriften und Materialien, die 1963 dem Gerichtsverfahren zugrunde lagen. 1 Sprache – ein Grundelement des Dramas und des Theaters 2 Sprache auf dem antiken Theater 3 Vers und Prosa im Drama 4 Dramensprache und soziale Codierung 5 Dramentext und Theaterpraxis 6 Sprache, Sprachlosigkeit und Schweigen 7 Literatur

DOI 10.1515/9783110297898-021

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1 Sprache – ein Grundelement des Dramas und des Theaters Theaterkunst basiert auf Wortkunst. Wer auf die zweieinhalb Jahrtausende umfas­ sende europäische Theatergeschichte zurückblickt, erhält einen Eindruck von der schier unbegrenzten Möglichkeit, mit der Akteure auf der Bühne ihr Reden und Handeln sprachlich vermitteln. Personen sich Wortgefechte liefern, sich gesellig unterhalten, fünf Akte lang handlungsarme Dialoge führen – wie in vielen Stücken Anton Tschechows (1860–1904). Sie können in Monologen ihre innersten Gedanken und Empfindungen offenbaren, aber auch unmittelbar sich in Prologen und Epilogen ans Publikum wenden oder, wie in Bertolt Brechts (1898–1956) Konzeption des Epi­ schen Theaters in Verfremdungseffekten als Schauspieler zu ihrer eigenen Rolle auf Distanz gehen. Die Sprache des Dramas und Theaters hat nicht nur eine textliche Dimension, sondern ist eng verbunden mit der Schauspielkunst. So heißt es in Goethes (1749– 1832) über neunzig Regeln für Schauspieler von 1803: „Die Kunst des Schauspielers besteht in Sprache und Körperbewegung“ (Goethe 1970, 82). Ziel solcher Schriften, die es im 18. und 19. Jahrhundert zuhauf gab, ist eine Steigerung der schauspielerischen Leistungsfähigkeit, zugleich aber auch eine Disziplinierung der Akteure, von denen sich Goethe und andere eine ästhetische Ausformung ihres Spiels und Sprechens erwarteten. Ebenso sollte jeder mundartlich eingefärbte Ton beseitigt werden: „Kein Provinzialismus taugt auf die Bühne! Dort herrsche nur die reine deutsche Mundart, wie sie durch Geschmack, Kunst und Wissenschaft ausgebildet und verfeinert wurde“ (ebd., 83). Besonderen Wert legte Goethe auf die Kunst der Deklamation, in der er die Akteure des Weimarischen Hoftheaters ausdauernd und recht pedantisch unterrich­ tete. Er schätzte die „Deklamationskunst“ so hoch, dass er sie zur „Tonkunst“ (ebd., 88) rechnete und der Musik an die Seite stellte. Es ging dabei nicht allein um Ausspra­ che, Stimmmodulation, Sprechtempo, Sprachrhythmus und Lautstärke, sondern um einen Verstehensprozess, ohne den Akteure nach Goethes Ansicht keinen Dramentext und schon gar nicht Dramenverse sprechen konnten, und um eine sinnerschließende Deklamation, die auf das Publikum gerichtet sein sollte: „Der Schauspieler muß stets bedenken, daß er um des Publikums willen da ist“ (ebd., 94). Die Sprache des Dramas ist keineswegs auf menschliche Personen beschränkt; vielmehr hat das Theater im Verlauf seiner Geschichte allen möglichen Figuren eine Stimme gegeben. So treten in Goethes Faust I gleich zu Beginn Gott, der Teufel Mephisto und drei Erzengel auf, während im 5. Akt von Faust II in einer Mitternachts­ szene vier „graue Weiber“ erscheinen, die den Mangel, die Schuld, die Sorge und die Not verkörpern. Es ist die allegorische Figur der Sorge, die mit der Wendung „Die Menschen sind im ganzen Leben blind, / Nun Fauste! werde dus am Ende“ (Goethe 2005, 443) den Helden erblinden lässt, bevor er stirbt.

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Solche Allegorien hat schon das Mittelalter auf die Bühne gebracht. Auch die literarische Moderne hat keineswegs darauf verzichtet, wie Hugo von Hofmannst­ hals (1874–1929) Mysterienspiel Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes beweist, wo die personifizierten Allegorien des Mammons und des Glaubens ihre Stimme erheben. Allegorische Figuren haben ihren eigenen sprachlichen Duktus. Sie können Allgemeinplätze und Wahrheiten verkünden, aber auch, wie die Figur des Todes im Jedermann, unmittelbar in die Handlung eingreifen und deren Verlauf radikal verändern. Im Übrigen gehört es zum Grundprinzip dramatischer Kunst, dass sie die Spann­ weite der Sprache unbegrenzt weit fassen kann. Sie nutzt dabei, wie im sozialen Drama, alle Möglichkeiten alltäglichen Sprechens, so dass die Bühne, wie etwa in Gerhart Hauptmanns (1862–1946) Der Biberpelz. Eine Diebskomödie und Die Ratten. Berliner Tragikomödie, den dialektalen Duktus des Unterschichtmilieus imitiert, während fast gleichzeitig Hofmannsthal in lyrischen Dramen wie Der Tor und der Tod und Der Tod des Tizian die Sprache seiner Figuren mit einer ausgefeilten poetisch-rhe­ torischen Technik auf eine äußerst hohe, bewusst sich von gebräuchlichen Sprachge­ wohnheiten und Konventionen abgrenzende Stilstufe hebt. Wirklichkeitssimulation bei Hauptmann und strikte Abschottung gegen soziale Realitäten bei Hofmannsthal sind kontrastive dramaturgische Strategien, die in völlig unterschiedlichen Sprach­ formen ihren Ausdruck finden. Selbstverständlich gehört zu den Zeichencodes der Bühne neben dem gesproche­ nen oder gesungenen Wort auch die nonverbale Körpersprache, die einen wichtigen Träger der Figurensemantik darstellt. Es geht dabei um das Zusammenspiel von Bewe­ gung, Gestik, Mimik sowie Habitus, Auftreten und Präsenz auf der Bühne. Diese Aus­ drucksformen sind zwar oft an Stimme und Text des Akteurs gebunden, zugleich aber tragen sie unbewusst oder bewusst zum Aufbau von Sympathie und Antipathie beim Publikum bei. Vor diesem Hintergrund kommt sogar stummen Figuren auf der Bühne eine bedeutsame Rolle zu, wie etwa in Thomas Bernhards (1931–1989) Komödie Der Theatermacher die kränkliche, ständig hüstelnde, oft durch unmotivierte Verhaltens­ weisen auffallende Frau Bruscon, eine von ihrem Mann, dem Theatermacher, tyran­ nisierte und herumkommandierte Ehefrau. Die Expression der Körpersprache prägt ihre Präsenz auf der Bühne und erfordert von der Akteurin eine ausgefeilte Schau­ spieltechnik. In diesen Kontext gehören auch dem Theater verwandte Genres wie Pantomime, Bühnentanz und Performance, in denen Sprache und Sprechen keine bzw. kaum eine Rolle spielen.

2 Sprache auf dem antiken Theater Als das griechische Theater im 6.  Jahrhundert v. u. Z. aus Chorliedern und dionysi­ schen Dithyramben entstand, war es zunächst Teil kultischer Handlungen, die eine

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weihevolle, poetische Sprache verlangten und von profaner Kommunikation strikt geschieden waren. Dramatische Requisiten, wie Masken und Verkleidungen, spielten offenbar schon eine Rolle, bevor überhaupt neben dem Chor der erste Schauspieler auftrat. Der Kontrast von Chor und Akteur bewirkte eine weitere sprachliche Differen­ zierung: Dem Chor mitsamt dem Chorführer trat ein Schauspieler als Akteur gegen­ über, dessen Charakter und Handlungslogik ein seiner Rolle entsprechender Sprach­ duktus kennzeichnete. Von nun an korrespondierten die Reden des Schauspielers auf der Bühne mit der Figur und Rolle, die er verkörperte. Die Dramatik verstärkte sich, als ein zweiter Akteur und wenig später noch mehr Mitspieler auf die Bühne kamen. Der handelnden Person, dem Protagonisten, traten Gegenspieler, Antagonisten, gegenüber. So konnten Kontroversen, Konflikte und gegensätzliche Handlungsstrategien in spannungsreichen Dialogen ausgetragen werden. Ein wichtiger Akteur griechisch-antiker Komödien und Tragödien blieb der Chor, der entweder allein oder im Zwiegespräch mit den handelnden Personen in poe­ tisch ausgefeilter Rede, von einem Chorführer begleitet, kommentierend, warnend und aufmunternd auf der Bühne erschien, meistens ohne direkt in das Handlungsge­ schehen einzugreifen. Oft wirkte er wie die Stimme des Publikums, dessen Gefühle, Empfindungen und Standpunkte er aussprach. So analysiert er in einer berühmten Stelle aus Sophokles‘ Tragödie Antigone die zwiespältige, wahrhaft ‚ungeheuerliche‘ Doppeltheit des Menschen, für die Kreon, der Herrscher Thebens, steht, wenn er im fatalen Glauben, richtig zu handeln, Antigone zum Tode verurteilt. Der Chor erweist sich als früher Kenner anthropologischer Einsichten, wenn er Kreons Handeln verall­ gemeinert (Sophokles 1978, 82 f.): CHOR: Viel Ungeheures ist, doch nichts So Ungeheures wie der Mensch. […] In dem Erfinderischen der Kunst Eine nie erhoffte Gewalt besitzend, Schreitet er bald zum Bösen, bald zum Guten.

Die ausgearbeitete, prägnante Sprache ist bei Sophokles (5. Jahrhundert v. u. Z.) und anderen antiken Dramatikern bis hin zum Klang der Laute und zur präzisen Bild­ lichkeit der Worte so durchgearbeitet, dass manche Verse und Wendungen heute noch immer wieder zitiert werden. Sprache war im klassischen griechischen Drama ohnehin das dominierende Element. Das zeitgenössische Publikum achtet auf jedes Wort und jeden Vers; Aktionen auf der Bühne dagegen traten stark zurück. Hand­ lungsgeschehen wurde in der Regel nur indirekt über Berichterstatter vermittelt (Tei­ choskopie/‚Mauerschau‘). Das deklamatorische Sprechen stand im Mittelpunkt und bildete mit dem Bühnentext eine Einheit. Weibliche Rollen wurden in Griechenland durchweg von Männern gespielt. Erst in römischer Zeit erweiterte sich das Spielge­ schehen, wie überhaupt das Sprechen der Figuren handlungsorientierter wurde. Die neue Einheit von Dramensprache und Bühnenhandeln, wie sie für römische Autoren

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wie Plautus (3./2. Jhd. v. u. Z.), Terenz (2. Jhd. v. u. Z.) und Seneca (1. Jhd. u. Z.) kenn­ zeichnend war, erweiterte die Möglichkeiten des Theaters auf publikumswirksame Weise.

3 Vers und Prosa im Drama Ein grundlegendes Kriterium zur Unterteilung dramatischer Untergattungen ist die Unterscheidung zwischen Vers- und Prosastück. Diese Differenz ist selbstverständ­ lich keine starre Dichotomie. Schon im griechischen Drama gab es den Wechsel zwischen versgebundenem Chorgesang und scharfen, alltagssprachlich gehalte­ nen Wortgefechten zwischen Protagonisten und Antagonisten. Auch Shakespeares Stücke – Trauerspiele, Historiendramen, Komödien – bevorzugen die Mischung der beiden Modi des Sprechens. Wo eben noch im hohen Sprachstil Personen von Rang und Namen in vollendeter Versrhetorik miteinander kommunizierten, setzen Spaß­ macher, Narren und einfaches Volk die Handlung fort, unterbrechen sie und holen sie auf den Boden der Realität zurück. Traditionell jedoch verbinden Dramentheorien die Versformen eher mit großen Themen, wie sie vor allem für Tragödien kennzeichnend waren, insbesondere in der französischen Klassik des 17. Jahrhunderts und in den der Weimarer Klassik zugeord­ neten Stücken Schillers (1759–1805) und Goethes. Doch ist hier Vorsicht geboten. So sind im Frankreich des 17.  Jahrhunderts, wie bei Molière (1622–1673), Komödien in alexandrinischen Versen gehalten (6-hebige Jamben, oft mit einer Mittelzäsur), die aufgrund des Paarreims von Schauspielern ohne größere Schwierigkeit memoriert werden konnten. Auch der junge Goethe hat frühe Lustspiele in diesem Versmaß ver­ fasst (Die Laune des Verliebten; Die Mitschuldigen). Umgekehrt gibt es selbstverständ­ lich im 18. Jahrhundert bekannte deutsche Prosatragödien, wie Lessings (1729–1781) Miss Sara Sampson und Emilia Galotti, Goethes Clavigo und Schillers Die Räuber. Schon für die griechische wie die römische Antike gilt, dass sie die dramatischen Gattungen Tragödie und Komödie als zwei gleichberechtigte, wenn auch unterschied­ lichen Theaterzwecken und Zuschauerbedürfnissen dienende Dramengenres ansah. Als in der Frühen Neuzeit und im 17. Jahrhundert die Rezeption des antiken Dramas und Theaters einsetzte, nahm allerdings der Tragödien-Diskurs eine besondere Rolle ein  – mit entsprechender Nachwirkung im deutschen Drama des 18.  Jahrhunderts, als Dramatiker wie Lessing und insbesondere Schiller dem Trauerspiel hohe Beach­ tung schenkten, während das Theaterpublikum ihrer Zeit, wie alle Spielpläne – und auch die der Weimarischen Bühne unter Goethes Theaterleitung von 1791 bis 1817 – belegen, eindeutig Lustspiele jeglicher Art (Charakter- und Typenkomödie, Rührko­ mödie, Posse, Farce, Zauber- und Märchenstück etc.) bevorzugten. Selbstverständlich besteht zwischen einer dramatischen Prosa- und einer Vers­ fassung eine erhebliche sprachliche Differenz. Dabei geht es weniger um Handlungs­

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verläufe und Bühnenaktionen als vielmehr um den prägnanten sprachlichen Aus­ druck von Gefühlen, Empfindungen, Standpunkten und Haltungen. Trotzdem sind selbst bei deutschen Dramenklassikern wie Schiller Entscheidungen für Prosa- oder Verssprache nicht immer Optionen für ein ‚dramatisches Gedicht‘, also für die Vers­ form. Ein Beispiel dafür ist sein Don Karlos. So schreibt er 1787 an Gustav Friedrich Wilhelm Grossmann, den Leiter einer bekannten Schauspielergesellschaft, der Fiesko und Kabale und Liebe uraufgeführt hatte: „Sie verlangen meinen ‚Karlos‘. Sie sollen ihn haben. […] Die Edition ist zweifach fürs Theater entworfen; eine in Jamben die andere in Prosa“ (Schiller 1987, 830). Schiller lieferte zeitgenössischen Bühnen also auch einen Don Karlos in Prosa, wie das von ihm autorisierte Rigaer Theatermanuskript (ebd., 709–731) belegt – wie überhaupt Schiller auch den Don Karlos in Versen immer wieder bearbeitete; die heute maßgebliche Ausgabe erschien erst postum 1805 (ebd., S. 371–562). Zeitgenössische Bühnen haben sich allerdings gern der Prosafas­ sung bedient, die übrigens mit dem Selbstmord des Karlos endet  – im deutlichen Gegensatz zu späteren Versfassungen! Die Umformung einer Prosa- in eine Versfassung ist auch von Goethes Iphigenie auf Tauris überliefert (vgl. Goethe 1977). Die Transformation markiert im Wechsel von der Prosasprache (vgl. ebd. 585–637) zur in Blankversen, also fünfhebigen, ungereim­ ten Jamben gehaltenen Verssprache (vgl. ebd., 639–708), den Übergang zur später sogenannten Weimarer Klassik, sodass es nicht um bloße Formalitäten, sondern um eine dramaturgisch wie sprachlich geprägte neue Theaterprogrammatik geht, die der Bühnensprache eine neue, sich von der Alltagssprache absetzende, genuin poeti­ sche Funktion zuerkennt. Viele Bühnen des 18. Jahrhunderts indes trauten sich recht selten an Versdramen heran, vor allem wegen einer möglichen Überforderung der an Versdeklamation noch nicht gewöhnten Akteure und oft auch mit Rücksicht auf das zeitgenössische Publikum, das besonders die Verstragödien für zu anstrengend und wenig unterhaltend ansah. Diese Lustspiel-Vorliebe erklärt sich nicht allein aus Unterhaltungs- und Gesel­ ligkeitsbedürfnissen. In Deutschland setzte sich um 1750 rasch die Prosakomödie durch, weil sie noch am ehesten der Alltagssprache des Bildungsbürgertums und des gehobenen städtischen Milieus entsprach. Nicht nur die Stoffe und Handlungs­ konflikte, sondern die Sprache der Figuren sorgten dafür, dass die Lustspiele sich dem Sprachduktus des Bürgertums anpassten und manche Komödie ihrerseits auf die Sprache des Publikums zurückwirkte. Es lernte förmlich im Theater wie auch im zeitgenössischen Roman, wie empfindsame Menschen sich unterhalten und welche Codes sie verwenden, um Gefühle zu zeigen und die eigene Sensibilität unter Beweis zu stellen. In Lustspielen beispielsweise, in denen ein Liebespaar gegen den Willen der Eltern eine Liebesheirat durchzusetzen versucht, was in der sozialen Wirklich­ keit noch immer mit vielen Hindernissen verbunden war, führt die Bühne vor, wie solche brisanten Dialoge in der Familie sich gestalten: Das Lustspiel wird zur sprach­ lichen Schulung, um effektvoll Argumente zu formulieren und insbesondere auch Gefühle und Empfindungen zu artikulieren. Die Literatursprache wirkt, wie sich an

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der Veränderung des Briefstils im Bürgertum zeigen lässt, auf die Alltagssprache der Zeit zurück. So hatten Prosastücke eine entschieden stärkere sprachliche Prägekraft für das Publikum als Verstragödien, zumal das Theater die einzige Institution war, die öffentlich brisante Diskurse wie Liebes- und Heiratsfragen aufgriff, während die Kirchen, die vor allem im protestantischen Milieu die größten Theatergegner waren, zu Ehe und Familie einen strikt traditionsbezogenen Standpunkt einnahmen. Publi­ kumsgeschichtlich gehen die immer beliebter werdende Romanliteratur und die Lust­ spiel-Literatur im 18. Jahrhundert eine enge Verbindung ein und haben im Bürgertum entscheidend zur heute fast selbstverständlichen Liebesheiratspraxis beigetragen. Die Entscheidung eines Dramatikers für Vers- oder Prosastücke ist in der Moderne nicht mehr mit ästhetischen oder sozialen Normierungen verbunden, sodass es unterschiedlichste Strategien zur Verwendung von Prosa und Versen gibt. Brecht etwa arbeitet in Stücken wie Die heilige Johanna der Schlachthöfe und Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui mit einem sprachlichen Kontrastprinzip: Die größten Wirtschaftsganoven und politischen Verbrecher reden in klassischen Blankversen und hohem Stil, was diametral ihrem skrupellosen Handeln entgegen steht und sie als Phrasendrescher und Lügner entlarven soll. Auch der Dramatiker Heiner Müller (1929–1995) verwendet Verszeilen im Sinne Bert Brechts, oft kombiniert mit einer Rhetorik des Schreckens und einer Dramaturgie der Überwältigung, die collagenar­ tig Bilder, stumme Szenen, Verse und Prosasätze verknüpft. Es wäre also falsch, die Verssprache grundsätzlich mit klassizistischen Dramenformen zu assoziieren oder der Prosa grundsätzlich eine Nähe zur Alltagskommunikation zu unterstellen. Im Übrigen kommen Mischformen jeder Art vor; ein Blick in Goethes Faust I genügt, um ein breites vers- und prosasprachliches Repertoire zu beobachten (u. a. Knittelverse, Blankverse, Reimverse, Madrigale, strophische Gliederungen, Liedformen, Dialoge und Kurz-Szenen in Prosa).

4 Dramensprache und soziale Codierung Vor allem Dramen des 17. und 18.  Jahrhunderts illustrieren den engen Zusammen­ hang zwischen der Sprache auf dem Theater und der Gesellschaftsstruktur einer Zeit. Der Wandel von der hierarchisch gegliederten, ständischen zur funktional orien­ tierten bürgerlichen Gesellschaft spiegelt sich auf der Bühne wider. So erklärt sich, dass im 17. Jahrhundert auch das kulturelle Verständnis sprachlicher Stile vertikale Ordnungsmuster hatte: Es gab den hohen (adligen), mittleren (bürgerlichen) und niederen, groben (bäuerlichen) Stil, der unterschiedlichen dramatischen Gattungen zugeordnet wurde. So hatte der einflussreiche Gelehrte und Dichter Martin Opitz (1597–1639) in seiner Barock-Poetik 1624 den hohen Sprachstil mit der Gattung der Tragödie verbunden:

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Die Tragedie ist an der maiestet dem Heroischen gedichte gemeße / ohne das sie selten leidet / das man geringen standes personen vnd schlechte sachen einführe: weil sie nur von Königli­ chem willen / Todtschlägen / verzweifflungen / Kinder- vnd Vatermördern / brande / blutschan­ den / kriege von auffruhr / klagen / heulen / seuffzen von dergleichen handelt (Opitz 1624, 23).

Entsprechend waren der mittlere Sprachstil der Komödie und dem Bürgertum, der grobianische Stil aber der Farce und der Posse vorbehalten. Als um die Mitte des 18. Jahrhunderts das aus England nach Deutschland exportierte Bürgerliche Trauer­ spiel bei Dramatikern Zuspruch fand, entsprach dies einem Mentalitätswandel: Hatte Opitz „verzweifflungen“ , „heulen“ und „seuffzen“ noch an so genannte ‚Haupt- und Staatsaktionen‘ geknüpft, so entdeckte man in der Kultur der Empfindsamkeit auch die bürgerliche Familie als einen solchen Ort tragischer Konstellationen und tiefer Gefühlsdramatik. So wurde die im Theater verbindliche Norm einer Korrelation von Sprachstil und Ständeklausel unwirksam  – mit entsprechenden Auswirkungen auf die nun deutlich vergrößerte Spannweite der sprachlichen Möglichkeiten im Drama und auf dem Theater. Zugleich kam ein Dramatiker in den Blick, der schon in der Frühneuzeit sich an sprachliche Ständeschranken nicht gehalten hat: William Shakespeare (1564–1616). Dessen rhetorisches Vermögen hatte es im elisabethanischen Zeitalter geschafft, trotz der noch kärglichen Bühnenausstattung ein Publikum aus verschiedenen sozialen Schichten in Bann zu ziehen, die hoch emotional und keineswegs so diszipliniert wie heute (also lange vor den Verdunkelungsmöglichkeiten der Illusionsbühne seit 1850) der Sprache und dem Spiel folgten. Ohnehin kannte die Zuschauerschaft, die auch viele des Lesens Unkundige einschloss, kaum den Dramentext. Und dies gilt auch noch im gesamten 18. Jahrhundert, als bedeutende Bühnen von Hamburg bis Wien und Bonn bis Prag Shakespeare spielten; die großen Übersetzungen entstanden erst in der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Theatergeschichte kannte Epochen, in denen feste Konventionen den Sprach­ gebrauch im Drama beeinflussten, insbesondere die Stilhöhe und die Verwendung von Soziolekten, die gesellschaftliche Stände charakterisierten. Es gab sogar generelle Sprachverbote, die streng von den Obrigkeiten geahndet wurden. So war der Name Gottes auf der Bühne noch im 18. Jahrhundert weithin tabu; religiöse und theologische Angelegenheiten durften nicht einmal andeutungsweise zur Sprache kommen. Erst im Verlaufe der Aufklärung wurden solche Verbote allmählich gelockert; aber noch im wilhelminischen Kaiserreich wurden bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts religiöse Blasphemie wie jede Art obszöner Sprache und Darstellung zum Anlass für Verbote, die weitaus häufiger waren als etwa politische Eingriffe in das Theatergeschehen. Die ‚Gefährlichkeit‘ des Theaters hing mit seiner Wirksamkeit im öffentlichen Raum eng zusammen. So verwundert es nicht, dass unter den relativ liberalen Bedingungen der Weimarer Republik sich überhaupt erst ein radikal gesellschaftskritisches Theater durchsetzen konnte, dem beispielsweise Bertolt Brechts Stücke verpflichtet waren. Sprachliche Tabuisierungen wurden ebenso bewusst durchbrochen wie konventio­

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nelle, am Illusionstheater des 19. Jahrhunderts orientierte Spielweisen. Das Publikum sollte im Theater einen kritischen Erkenntnis- und Lernprozess durchmachen, indem es den Verhaltens-, Denk- und Sprechweisen der Helden gegenüber stets eine Distanz bewahrte. Solche Formen der ‚Verfremdung‘ sind heute freilich längst zur neuen Kon­ vention geworden. Spätestens in der literarischen Moderne, also seit dem ausgehenden 19.  Jahr­ hundert, gab es keine festgelegten sprachlichen Zwänge mehr. Einer der ersten Dra­ matiker, der die Bühnensprache von klassizistischer Erstarrung befreite, war Georg Büchner (1813–1837), der mit seinem Fragment gebliebenen Woyzeck eine signifikante Sprachzäsur setzte und die Alltagssprache der einfachen Soldaten wie der Kleinbür­ ger für die Bühne entdeckte. Gegen Ende des Jahrhunderts trat der Dramatiker Gerhart Hauptmann mit seinen frühen, dem Naturalismus zugerechneten Stücken hervor, die, wie insbesondere das Schauspiel Die Weber (1892), Dialekt-Sprechen auf das Theater brachte. Diese Neuerung wurde als derart politische, sozialkritische Aktion verstanden, dass nach einem vergeblichen Aufführungsverbot Kaiser Wilhelm II. sein Theaterabonnement in der Freien Bühne Berlin kündigte – was das Stück erst recht populär machte. Hauptmanns Schritt hat inzwischen viele Nachahmer gefunden. Im Übrigen gab es bereits früher Dialektstücke, etwa die Altwiener Komödie eines Ferdi­ nand Raimund (1790–1836) oder Johann Nestroy (1801–1862), die den Dialekt als eine Möglichkeit zur sprachlichen Charakterisierung ihrer Figuren einsetzten und dabei oft den Gegensatz dialektalen und nicht-dialektalen Sprechens ausnutzten.

5 Dramentext und Theaterpraxis Bis in die zweite Hälfte des 18.  Jahrhunderts hinein gab es für die Schauspielerge­ sellschaften keine streng gesicherten Textvorlagen; auch die meisten Zuschauerin­ nen und Zuschauer kannten keine Druckfassungen und schon gar keine Bühnenma­ nuskripte. Ohnehin war das Theater in der Praxis keine Institution, die sich primär an dramatischen Werken orientierte. Stegreifspiel und Stegreifsprechen kannten bereits die Wanderbühnen der frühen Neuzeit. Aber noch im 18. Jahrhundert passten die Prinzipale (die Direktoren) der Schauspielergesellschaften die Texte den aktuel­ len Bedingungen vor Ort an. Zuschauergeschmack, soziale Zusammensetzung des Publikums, die begrenzte Anzahl der engagierten Mitglieder der Gesellschaft und manches Mal auch die Wünsche von privaten Theaterstätten-Betreibern und adligen Hoftheater-Intendanten beeinflussten den laufenden Betrieb entschieden mehr als Textvorlagen: Werktreue im Spiel war zumindest in Deutschland bis 1800 weitestge­ hend unbekannt. Es gab dramatische Gattungen, die ganz ohne festgelegten Text auskamen, wie die aus Italien stammende, vom 16. bis zum 18. Jahrhundert verbreitete Commedia dell’arte. Professionelle Akteure spielten meistens auf der Basis einer Handlungs­

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skizze in einem stets gleichbleibenden Figurenensemble; verlangt wurde hohe Improvisationskunst, um das Publikum zu unterhalten. Und doch spielte die Sprache dabei keineswegs eine untergeordnete Rolle. Die Dramensprache reichte vom hohen Stil adliger Höfe bis hin zu bäuerlichen Dialekten und witzig-zotiger, karnevalesker Ausgelassenheit. Hinzu kam, dass Stegreif- und Improvisationskünste besondere kör­ persprachliche Fähigkeiten erforderten, so dass Gebärdentechnik und Mimik wie die Beweglichkeit der Akteure und nicht zuletzt eine ausgeprägte Fähigkeit zum panto­ mimischen Spiel berufsschauspielerisches Können verlangten. Oft waren Darstellung und Sprache unmittelbar auf das jeweilige Publikum und seine Zusammensetzung hin berechnet. So spielte man im bürgerlichen Milieu auf Marktplätzen und in städ­ tischen Sälen mit vielen Effekten und vulgärem, grobianischem Vokabular, an Höfen und vor adligen Gesellschaften aber mit zurückgenommener, sprachlich gehobener Dialogtechnik und kontrollierter, vornehm wirkender Körpersprache, die höfische Konventionen nachahmte. Wer ein großer Akteur werden wollte, erwies sich als Meister des Extemporierens und Improvisierens, indem augenblickshafte Einfälle und eigener Text dem Spiel hin­ zugefügt wurden. Noch große Schauspieler wie August Wilhelm Iffland (1759–1814) begründeten ihren legendären Ruhm auf die beim Publikum beliebte Kunst des Extemporierens, bevor er sie paradoxerweise später als Direktor des Königlichen Nationaltheaters zu Berlin seinen Akteuren strikt untersagte: Das Ende des Extempo­ rierens war theatergeschichtlich eine deutliche Zäsur, weil nun der dramatische Text und seine Sprache genau zu beachten waren und die Kunst der sprachlich versierten, vom dramatischen Textverstehen geprägten Deklamation zum allein entscheidenden Maßstab der neuen, der Textästhetik unterworfenen Schauspielkunst wurde. Selbst wenn man im 18. Jahrhundert auf gedruckte Werke zurückgreifen konnte, für die im Übrigen ein Dramatiker keinerlei Tantiemen erhielt, hatte der Text keine autorisierte Bedeutung: Man änderte Vorlagen um, ergänzte sie, spielte andere Dra­ menschlüsse, fügte eigene Textpassagen ein, kürzte einiges und strich einfach solche Rollen, für die gerade kein passender Akteur zu finden war. Diese Bedingungen gilt es zu berücksichtigen, wenn wir heute Stücke von Lessing, Goethe und Schiller lesen – die allesamt um die Praxis des Kürzens und Veränderns wussten und oft, wie Goethe im Falle von Zensurbestimmungen, Eingriffen in den eigenen Text zustimmten. Das Drama ist daher eine literarische Gattung, die nicht primär gelesen, sondern aufgeführt werden will. Im Theater hat es die Funktion einer Partitur, die zu realisieren eines planvollen Spiels von Akteuren bedarf. Der Begriff des Lesedramas ist weitgehend eine Erfindung der Germanistik, die stillschweigend den Text als die entscheidende Größe aller theatergeschichtlichen Aktivitäten voraussetzte. Theatergeschichtlich war das erst im 19. Jahrhundert der Fall, und auch im heutigen Bühnenbetrieb unterwirft das Regietheater den dramatischen Text eigenen Einfällen und Konzeptionen. Anhand der wechselnden Bedeutung der Textvorlagen ließe sich sogar die Geschichte des Theaters erzählen. So gab es im spielfreudigen Mittelalter etwa ab dem 13. Jahrhundert geistliche und weltliche Spiele, die in Skizzen und Dialogen überlie­

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fert sind, oft zu dem Zweck, in den nächsten Jahren als Erinnerungsstützen zu dienen. Von Textbüchern waren diese Aufzeichnungen schon deshalb weit entfernt, weil sich die Lesefähigkeit vor allem auf den Klerus und gewisse urbane Eliten beschränkte. So entzieht sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das, was genau gesprochen und gespielt wurde, unserer Kenntnis. Erst im frühen 16. Jahrhundert wurden welt­ liche Spiele, wie die Fastnachtsspiele und Schwänke des Nürnbergers Hans Sachs (1494–1576), gedruckt und lagen in Textausgaben vor.

6 Sprache, Sprachlosigkeit und Schweigen Der russische Kultursemiotiker Jurij M. Lotman hat für das Fehlen von Strukturelemen­ ten in literarischen Texten den Begriff der ‚Minus‘-Struktur, des „bedeutungsvolle[n] Fehlen[s]“ eingeführt (Lotman 1972, 82) und damit auf das Paradox aufmerksam gemacht, dass das Ausgesparte und ‚Abwesende‘ ex negativo zur Bedeutung litera­ rischer Texte gehört. Sprachlosigkeit, „künstlerisches Schweigen“ (ebd., 83), kann daher ein aufschlussreicher Effekt sein. So arbeitet der Dramatiker Ödön von Horvath (1901–1938) in seinen Stücken oft mit der Regieanweisung „Stille“, um die Aphasie – die Sprach- und Kommunikationsunfähigkeit  – seiner Figuren zu markieren. In seinem Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald (1931) kommt der Verweis auf „Stille“ dutzende Male vor und kennzeichnet Brüche in den Dialogen, die entstehen, wenn Figuren nicht mehr in der Lage sind, Vorstellungen, Ansichten und Empfin­ dungen auszusprechen. Sprachlosigkeit wird zum zentralen dramaturgischen Prinzip (Horvath 1978, 160): ALFRED: […] wo stecket denn die liebe Großmutter? DIE MUTTER: Mir scheint, sie sitzt in der Küch und betet. ALFRED: Betet? DIE MUTTER: Sie leidet halt an Angst. ALFRED: Angst? Stille. DIE MUTTER: Vergiß ihr nur nicht zu gratulieren […]

Die „liebe Großmutter“ zeigt sich später als hinterhältige Frau, die einen Säugling heimlich dem tödlichen Luftzug aussetzt und umbringt; „Stille“ wird hier zum Code ruchloser Tat, für die man keine Worte mehr hat (ebd., 236): DIE MUTTER: Was du heut nacht gemacht hast – Stille. DIE GROSSMUTTER: lauernd Was hat ich denn gemacht? DIE MUTTER: Du hast die beiden Fenster aufgemacht und hast das Betterl mit dem kleinen Leopold in den Zug gestellt – DIE GROSSMUTTER: kreischend Das hast du geträumt!

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Schweigen, Verstummen und Stille gehören in der Moderne zu den wirkungsvollen dramatischen und theatralischen Möglichkeiten. Schon im frühen 20.  Jahrhundert hat Arthur Schnitzler (1862–1931) in seinem Stück Der Reigen mit einer gestrichelten Linie (vgl. Schnitzer 2000, 146 u. ö.) im Text jeweils den stummen Liebesakt seiner Paare gekennzeichnet, sodass die Stille den Szenendialog in zwei Teile strukturiert: ein ‚Vorher‘ und ein ‚Nachher‘ mit deutlich unterschiedlichen Sprachnuancierun­ gen: Dem von der Sprache des sexuellen Begehrens erfüllten Beginn steht ein rasch abkühlender, versachlichter Szenenabschluss entgegen, der die unüberwindbare Einsamkeit und Isolation von Mann und Frau innerhalb der kurzen Paarbeziehung aufzeigt und durch die Kreisbewegung des dramatischen Reigens noch verstärkt. Noch radikaler spart Samuel Beckett in seinem Stück Kommen und Gehen (1965) die Sprache als menschliches Verständigungs- und Kommunikationsmittel fast ganz aus. Das Publikum beobachtet, wie sich drei auf einer Bank sitzenden Frauen unter­ halten, ohne dass sie etwas Konkretes erfahren. Ohnehin sprechen die Frauen nur, wenn eine andere gerade nicht anwesend ist. Aber was sie sagen oder worüber sie sich austauschen, bleibt dem Publikum verschlossen; es ahnt, dass es um Verdam­ mung und Tod geht. Dieses Los scheint für alle drei zu gelten; zur Sprache kommt es aber nur, wenn die betreffende Frau nicht auf der Bühne ist, die meistens im Dunkeln liegt. Menschliche Kommunikation erscheint als etwas Geheimnisvolles, Rätselhaf­ tes. Da ohnehin nur gut 120 Wörter im gesamten Stück gesprochen werden, dominiert das Schweigen. Becketts Stücke gehen den Weg der völligen Aussparung der Sprache am konsequentesten. Der Autor experimentiert mit der Minimalisierung des drama­ tischen Sprechens, bis hin zur Produktion eines ‚Kürzest-Stücks‘, das keine Minute lang ist: Breath („Atem“) aus dem Jahr 1969. Das Publikum hört nur ein schweres Ausund Einatmen  – den Geburts- und Todesschrei. In dieser radikalen Reduktion der Sprache ist dramatische Kommunikation aufs Radikalste verdichtet – den menschli­ chen Atem, Kern und Fundament menschlichen Sprechens überhaupt.

7 Literatur Aristoteles (335 v. Chr.): Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982. Brauneck, Manfred (1993): Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. 6 Bde. Stuttgart. Detken, Anke (2009): Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen. Eke, Norbert Otto (2015): Das deutsche Drama im Überblick. Darmstadt. Fischer-Lichte, Erika (1983): Semiotik des Theaters. Eine Einführung. 3 Bde. Tübingen. Goethe, Johann Wolfgang von (1779): Iphigenie auf Tauris. In: Ders.: Poetische Werke. Dramatische Dichtungen III. Berlin/Weimar (= Berliner Ausgabe Bd. 7) 1977, 585–708.

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Goethe, Johann Wolfgang von (1803): Regeln für Schauspieler. In: Ders.: Kunstheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur Literatur I. Berlin/Weimar (= Berliner Ausgabe Bd. 17) 1970, 82–105. Goethe, Johann Wolfgang von (1808): Faust. Texte, hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 2005. Horvath, Ödön von (1931): Geschichten aus dem Wiener Wald. Volksstück in drei Teilen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. I: Volksstücke. Frankfurt a. M. 1978, 157–251. Košenina, Alexander (1995): Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur „eloquentia corporis“ im 18. Jahrhundert. Tübingen. Lotman, Jurij M. (1972): Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. München. Marx, Peter W. (Hg.) (2012): Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart. Opitz, Martin (1624): Buch von der Deutschen Poeterey. In: Marian Szyrocki (Hg.): Poetik des Barock. Reinbek bei Hamburg 1968, 7–55. Pfister, Manfred (1977): Das Drama. Theorie und Analyse. München. Schiller, Friedrich (1787): Don Karlos. Infant von Spanien. Ein dramatisches Gedicht. In: Ders.: Sämtliche Werke in zehn Bänden (Berliner Ausgabe). Bd. 3. Berlin/Weimar 1987, 371–562. Schnitzler, Arthur (1920): Reigen. Zehn Dialoge. In: Ders.: Reigen. Die Einakter. Mit einem Nachwort von Hermann Korte. Frankfurt a. M. 2000, 139–218. Schößler, Franziska (2012): Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart. Sophokles (442 v. Chr.): Antigone. Übersetzt von Wolfgang Schadewaldt. In: Ders.: Tragödien, Hg. v. Wolfgang Schadewaldt. Zürich/München 1968, 67–119.

Michaela Reinhardt

22. Fingierte Mündlichkeit und poetische Sprachgestalt im Theatertext Abstract: Im vorliegenden Beitrag werden unterschiedliche Verfahren sprachlicher Gestaltung in Theatertexten vorgestellt. Dabei richtet sich das Hauptaugenmerk auf Texte des 20. und 21. Jahrhunderts, doch werden auch solche Momente beleuchtet, die bezüglich der Sprachgestaltung besondere Wendepunkte markieren und heutige Schreibweisen indirekt oder direkt vorbereiten. Spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts bewegt sich die sprachliche Beschaf­ fenheit von Theatertexten im Spannungsfeld von möglichst naturgetreuer Darstel­ lung und höchster Stilisierung bzw. poetischer Text-Gestaltung. Zeitgenössische Autoren knüpfen an viele Verfahren ihrer Vorgänger an und entwickeln diese auf kre­ ative Weise weiter, so dass sich das Spektrum an Schreibweisen ständig erweitert. Die Sprachgestalt von Theatertexten (wie von allen Texten literarischer Art) ist niemals lediglich als Dekor oder zur Untermalung von Inhaltlichem zu verstehen, sondern generiert selbst Bedeutung und bestimmt den jeweils gesellschaftskritischen oder auch politischen Charakter des Textes entscheidend mit. 1 Zum Begriff Theatertext 2 Zur sprachlichen Beschaffenheit von Theatertexten 3 Sprachwissenschaftliche Analysen von Theatertexten 4 Sprachrealismus und poetische Sprachgestalt in deutschsprachigen Theatertexten 5 Schlussbemerkungen 6 Literatur

1 Zum Begriff Theatertext In der Theaterwissenschaft unterscheidet man heute meist zwischen zwei oder drei Textebenen: der des geschriebenen Theatertextes als ‚Vorlage‘ für eine szenische Umsetzung, der des Inszenierungstextes und, in einer weiteren Ausdifferenzierung, der des Aufführungstextes (Balme 2014, 88 f.). Dabei ist die terminologische Differen­ zierung zwischen Inszenierung (als Entwurf des szenischen Kunstwerks) und Auffüh­ rung (als einmaligem Ereignis) noch keinesfalls standardisiert. Häufig werden diese Begriffe synonym verwendet, wie etwa bei Fischer-Lichte, deren Konzept der „Auf­ führung als Text“ eine wichtige Erkenntnis der Theatersemiotik darstellt (FischerLichte 1988, 10 ff.; 1990, 243). Im vorliegenden Beitrag geht es um die erste der drei oben genannten Textebe­ nen, um den monomedialen, schriftlich fixierten Theatertext. DOI 10.1515/9783110297898-022

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Seit Ende des 20.  Jahrhunderts erweist sich die Bandbreite unterschiedlicher Schreibweisen für das Theater als so groß, dass man den Eindruck hat, der einzige übrig gebliebene gemeinsame Nenner solcher Texte sei ihre Bidiskursivität (Meurer 2007, 35ff), d. h. die Verbindung von literarischer und theatraler Ebene, bzw. der Bestimmung zur Lektüre und zur szenischen Umsetzung. Längst präsentieren sich Theatertexte nicht mehr ausschließlich in der Gestalt des klassischen oder des moder­ nen Dramas, als geschlossene oder offene Form. Stattdessen liegen heute Schreibwei­ sen vor, bei denen die Übergänge zu anderen Gattungen wie Prosa und Lyrik flie­ ßend sind. Die Krise des klassischen Dramas ist ausführlich von Peter Szondi (1956) beschrieben worden. Weitere Entwicklungen in Richtung einer radikaleren Auflö­ sung der Dramenstruktur bis zum letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts haben dazu geführt, dass dem Theater eine postdramatische Ära bescheinigt wurde (Lehmann 2005; vgl. im Einzelnen hierzu auch den Beitrag von H. Korte im vorliegenden Band). Heutige Theatertexte weisen nicht mehr zwingend die bekannte Struktur von Dia­ logen und Regieanweisungen auf, sondern können ebenso gut aus Monologen, aus reinen Anweisungen für ein Geschehnis bestehen, oder auch aus Mischformen mit Versatzstücken aller möglichen Textsorten. Birkenhauer (2007, 15; Hervorh. im Orig.) bemerkte zu Recht, dass „das alte Verdikt ›bühnentauglich‹“ nicht länger gilt, und dass es heute keine Texte mehr gibt, die aufgrund ihrer gattungsspezifischen Merk­ male oder formaler Eigenschaften nicht spielbar wären. Alle Arten von Texten würden auf der Bühne „›realisiert‹, ohne im üblichen Sinne ›dramatisiert‹ zu sein“ (ebd.). Veränderungen in der Bühnenpraxis haben also auch Veränderungen in der Textver­ wendung und folglich auch in der Textproduktion bewirkt, und umgekehrt. Obwohl sich bis Mitte der 1990er Jahre das neo-avantgardistische Theater stark zugunsten der Bühnen- und zu Lasten der Dramenästhetik ausgewirkt hatte, wurden allmäh­ lich auch „Rückkehr-Forderungen in Bezug auf dramatische Texte, identifizierbare Personalität, Gegenwartsthemen und Autorentheater“ laut (Bayerdörfer 2007, 249). Die neuen Texte lösen sich einerseits auf unterschiedliche Weise von traditionellen dramatischen Formen ab, knüpfen aber z. T. wiederum an avancierte Textmodelle der Dramengeschichte des 20. Jahrhunderts an. „So entwickeln sich neue ausgefeilte Ver­ fahren des Zitierens, der Anspielung und des formalen Pastiche, so dass eine palim­ psestartige Durchsichtigkeit entsteht“ (Bayerdörfer 2007, 4; mit einem Überblick zu den Entwicklungen in Deutschland S. 249 ff.). Aus dem oben skizzierten Panorama ergibt sich auch, dass traditionelle Katego­ rien wie Rollentext, Regieanweisungen, Figuren, Einheit von Raum und Zeit usw. in vielen Fällen  – zugunsten von Dissemination der Stimmen (Lehmann 2005, 274 ff.) und zeitlicher wie räumlicher Collageverfahren – unterlaufen werden. Die ursprüngli­ che, für das klassische Drama verbindliche Zuordnung von Replik und Subjekt sowie das Vorhandensein einer einzigen Ursprungsinstanz können ebenfalls aufgehoben sein. Entsprechend versucht man für die Beschreibung neuer Phänomene angemes­ sene Bezeichnungen zu finden, wie etwa den Begriff Textträger anstelle von Figur, Sprechtext oder Haupttext anstelle von Rollentext (Poschmann 1997, 38 ff.). In jedem

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Fall hat sich inzwischen anstelle von Drama der weiterfassende Begriff Theatertext etabliert (im Folgenden wird synonym Stück verwendet).

2 Zur sprachlichen Beschaffenheit von Theatertexten Die Wesenszüge von Sprache in Theatertexten sind durch viele Faktoren bedingt, die über rein individuelle Stile und Entscheidungen der jeweiligen Autoren hinausge­ hen. So können auch vorgeprägte Muster aus der Tradition der Bühnensprache ent­ scheidend sein (Hess-Lüttich 2005, 85) sowie die Rahmenbedingungen des Mediums Theater, welche Kondensierung, Konzentration und Intensivierung erfordern. Die sprachliche Beschaffenheit dialogischer Rede bewegt sich immer im Spannungsfeld von Mimesis und Stilisierung. Das heißt, die fingierte Mündlichkeit kann extrem rea­ listisch, von gesprochener Alltagssprache ‚abgelauscht‘ erscheinen oder auch stark verfremdet gestaltet sein, durch spezielle Verfahren künstlerisch verdichtet. Ebenso möglich sind alle Zwischenstufen bzw. die Kombination verschieden ausgeprägter Stile. Viele Theatertexte besitzen eine ganz eigene poetische Sprachgestalt. Der Begriff poetische Sprache wird hier mit Rekurs auf Roman Jakobson, Jurij M. Lotman, Manfred Bierwisch und Umberto Eco verwendet (Reinhardt 2014, 15 ff.). Wie in der modernen und zeitgenössischen Prosa (vgl. Šlibar 2012) wird auch in Theatertexten sehr häufig der Wahrnehmungsautomatismus mit vielfältigen (sprachlichen) Verfremdungsver­ fahren unterlaufen. Entautomatisierung spielt auch hier eine entscheidende Rolle. Trotz der radikalen Veränderungen erweist sich im Besonderen ein Merkmal von Theatertexten als konstant. So gilt nach wie vor, dass Sprache hier nicht nur auf ihre Funktion als dargestellte Figurenrede (oder auch als rein narrative Anweisung) redu­ ziert werden kann, sondern dass sie sich immer schon durch die ihr eingeschriebene Zuschauerfunktion auszeichnet: eine Äußerung ist immer Primär- und Metaaussage zugleich (Roumois-Hasler 1982, 20). Diese doppelte Funktion wurde u. a. definiert als „Überlagerung von Figuren- und Zuschauerperspektive“ (Hamburger 1977, 164), als „inneres und äußeres Kommunikationssystem“ (Pfister 2001, 50 ff.) oder als zwei ver­ schiedene „Achsen der Kommunikation“ (Lehmann 2005, 230). Wie Fischer-Lichte mit Rekurs auf Peirce betont, sind Theatertext und Auffüh­ rung unter semiotischem Gesichtspunkt jeweils eigenständige Kunstwerke, wobei die Aufführung als Interpretant des ersten zu begreifen sei (Fischer-Lichte 1990, 252). Dies bedeutet, dass ein Theatertext weder lediglich „als Partitur für die Aufführung, noch als Invariante zu verschiedenen Varianten, noch als Signifikant, dem die Aufführung als Signifikat zuzuordnen ist“ gesehen werden kann (ebd.). Theatertexten aller Art muss auch heute der Status literarischer Kunstwerke zuerkannt werden (Reinhardt 2014), ohne dabei das Literaturtheater zu assoziieren, von dessen zu engem Textkor­ sett sich das Theater erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts befreit hatte (s. 4.1.2). Lite-

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ratur, in Anlehnung an Roland Barthes hingegen bedeutet „Arbeit an der Sprache“, „weil die Literatur die Rede in Szene setzt, statt sie zu benutzen“ (zitiert nach Birken­ hauer 2007, 23). Barthes’ Konzept enthält bereits explizit die Auffassung von Sprache als Theater und gibt somit den Rahmen vor für das später von Finter (1990) und v. a. von Poschmann (1997) entwickelte Konzept der Texttheatralität. Mit mittelbare Texttheatralität sind bei Poschmann solche Elemente des Textes gemeint, die als ‚Tausch­ wert‘ für die szenische Umsetzung (auch „szenische Poesie“ genannt) dienen – dem Begriff des Performativen bei Fischer-Lichte entsprechend (1998, 15 ff.). Unmittelbare Texttheatralität hingegen bewirkt nach Poschmann, dass „der Sprache selbst als einer eigenständigen Wirklichkeit und einem performativen Sprachakt räumliche und zeit­ liche Dimensionen sowie Performance-Qualitäten abgewonnen werden“ (Poschmann 1997, 332). Unmittelbare Texttheatralität bedeutet hiernach – wie in Barthes’ Theatra­ litätskonzept (1974, 10) – Entgrenzung der Sprache, impliziert außerdem Präsenz der Sprache und kann wie alle anderen theatralischen Elemente körperlich-sinnliches Erleben bewirken. Poschmanns Begriff lässt sich sinnvoll ergänzen, wenn man das Konzept der Texttheatralität von Finter einbezieht, welches explizit um die Dimen­ sion des Rezipienten erweitert ist (Finter 1990, 6 f.) Unmittelbare Texttheatralität ent­ faltet sich demnach im Akt der Lektüre und ist subjekt-konstituierendes Element. Sie kann sich auf vielfältige Weise manifestieren, wie zum Beispiel in einer bildnerischen Sprachbehandlung bzw. -rezeption oder im Charakter einer musikalischen Partitur.

3 Sprachwissenschaftliche Analysen von Theatertexten Sprachwissenschaftlich relevante Analysen von Theatertexten im deutschsprachi­ gen Raum haben ihren Anfang in den 1970er Jahren (vgl. z. B. Burger/von Matt 1974), genau in der Zeit, als man die linguistische Erforschung der gesprochenen Sprache aufnahm und erstmalig Tonbandaufzeichnungen authentischer Gespräche und deren Transkriptionen auswerten konnte. Für die 1980er Jahre hervorzuheben sind die Arbeiten von Roumois-Hasler (1982), Hess-Lüttich (1984, 1985) und vor allem von Betten (1980, 1983, 1985, 1987), welche die Beschaffenheit dramatischer Dialoge in Dramen des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Hess-Lüttich), des beginnenden 20. Jahr­ hunderts (Roumois-Hasler) und der 1970er Jahre (Betten, s. u., bes. 4.2) untersuchten. Alle legten als Vergleichsmaßstab Dialoge der gesprochenen Alltagsprache an und kamen dabei grundsätzlich zu ähnlichen Ergebnissen: Auch bei extremen Annähe­ rungen an den Stil der Alltagssprache im dramatischen Dialog zeigt sich immer eine Abweichungsqualität, wenn diese auch nur im Verdeutlichen bestimmter Züge von Alltagssprache liegt (vgl. auch Pfister 2001, 150 ff.) Es besteht außerdem Konsens darüber, dass die Zuschauerfunktion der Dialoge stets entsprechende Konsequenzen für die Art ihrer sprachlichen Gestaltung hat.

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In den 1990er Jahren sowie um die Jahrtausendwende erwies sich das Interesse der Sprachwissenschaft an Theatertexten insgesamt als relativ gering, von einzelnen Beiträgen abgesehen (Betten 1991, 1995, 1998, 2002, 2011, Betten/Dannerer 2005). Ein besonderer Nachholbedarf besteht zweifellos in der linguistischen Erforschung von Theatertexten der Historischen Avantgarden. Erste wichtige Anstöße hierzu lieferte Mazza (2005, 2008) in Untersuchungen zum expressionistischen Drama.

3.1 Methodische Aspekte Während Dialoganalysen im Drama bis Anfang der 1980er Jahre vor allem unter dem Einfluss der Pragmatik, insbesondere der Sprechakttheorie durchgeführt wurden, hat v. a. Betten mit ihren Arbeiten einen pluralistischen Ansatz eingeführt, der dem kom­ plexen Untersuchungsgegenstand erst gerecht werden kann. Es mag einleuchten, dass heute, angesichts des breiten Spektrums an Schreibweisen umso mehr Metho­ denvielfalt und -flexibilität erforderlich sind. Um die Funktionen der unterschiedli­ chen sprachlichen Phänomene bestimmen zu können, gilt es, je nach Erscheinungs­ form, Strukturen und Ausprägung der Kommunikationssysteme eines Theatertextes angemessene methodische Vorgehensweisen zu wählen und zu kombinieren. Bei Stücken, die vornehmlich auf Figuren-Dialogen basieren, bietet es sich an, Gesetz­ mäßigkeiten der gesprochenen Alltagssprache zum Vergleich heranzuziehen sowie Kategorien der Gesprächsanalyse. Von großem Nutzen sind hier insbesondere der Ansatz der Construction Grammar (für die deutsche Sprachwissenschaft u. a. Günth­ ner/Imo 2006), das Modell von Nähe- und Distanzsprechen (Koch/Österreicher 1985 bzw. Agel/Henning 2007) sowie die Kategorien bei Schwitalla (2003) zum gesproche­ nen Deutsch. Um darüber hinaus Vertextungsstrategien zu ermitteln und den ästheti­ schen Code eines Theatertextes zu erschließen, sind textlinguistische Methoden und eventuell Methoden der (kritischen) Diskursanalyse miteinzubeziehen. Dies erweist sich besonders in solchen Texten, in denen Aufsplitterung des Subjekts, Bildhaftig­ keit und Diskursivität vorherrschen, als unabdingbar. Untersuchungen von Sprache in Theatertexten sind darüber hinaus in den über­ geordneten Zusammenhang der (Funktional- und Abweichungs-)Stilistik zu stellen. Denn auch hier, wie in anderen literarischen Texten, wird das Mehr an Informationen über das Stilistische vermittelt (Fix 2006, 64), und nur die „komplizierte künstlerische Struktur gestattet es, einen Informationsumfang zu vermitteln, der mit Hilfe der ele­ mentaren eigentlichen sprachlichen Struktur gar nicht übermittelt werden könnte“ (Lotman 1993, 24). Als relevant zu betrachten ist jeweils „das Fiktionalitätssignal und von daher der Einsatz stilistischer Effekte im Dienste eines organischen Bezugs auf die ‚Aussage‘“ (Eroms 2008, 130; Hervorh. im Orig.). Mit Fix wird hier von einem Stilbegriff ausgegangen, der das Gestalthafte miteinbezieht. Fix hält fest, Gestalten sei auf Einheitlichkeit gerichtetes sprachliches Handeln und somit ästhetisierendes Handeln. Stilistisches sei immer auch Ästhetisches. Allerdings betont sie auch, dass

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sich Ästhetisches und Ästhetizität bzw. ‚Poetizität‘ ebenso überall im Alltag finden lassen, also keine hinreichenden Kriterien für literarische Kunstwerke sind (Fix 2013, 18). In jedem Fall erweist sich ihr gestalttheoretischer Stilbegriff als erhellend für die Analyse poetischer Sprache bzw. Sprachgestalt (Reinhardt 2014, 19 ff.). Das, was Eco den ästhetischen Zeichencode eines Kunstwerkes nennt, lässt sich demzufolge als Gestalt fassen, als etwas nicht nur Statisches sondern auch ‚Fließendes‘, als prozess­ haft und als Ausdruck von Handlungen (Fix 1996, 316) bzw. als kreatives semiotisches System (Firle 1990, 43).

4 Sprachrealismus und poetische Sprachgestalt in deutschsprachigen Theatertexten 4.1 Entwicklungen bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Um nachvollziehen zu können, wann und auf welche Art und Weise im Laufe der The­ atergeschichte unterschiedliche Verfahren der Sprachgestaltung entwickelt wurden, sollen im Folgenden wenige wichtige Momente in Augenschein genommen werden, die diesbezüglich besondere Wendepunkte markieren und heutige Schreibweisen indirekt oder direkt vorbereiten. Bereits seit dem bürgerlichen Drama  – v. a. in der Dramensprache Lessings  – werden verschiedene Elemente der gesprochenen Alltagssprache wie Wiederholungs­ formen, Gliederungssignale, elliptische Sätze usw. eingesetzt, um Dialoge lebendiger zu gestalten oder um die Zuschaueraufmerksamkeit in bestimmter Weise zu steuern (ein ausführlicher Überblick hierzu in Betten 1985, 145 ff.). Mit der Dramatik Georg Büchners wird erstmalig in der deutschen Theatergeschichte in klarer Weise eine Kombination von fingierter Mündlichkeit und poetischer Sprachgestalt im Theater­ text geschaffen.

4.1.1 Büchner als Wegbereiter des modernen Theaters – Textbeispiel Woyzeck Die theatergeschichtlich wichtige Stellung Georg Büchners auch in linguistischer Hin­ sicht hat bis heute insgesamt wenig Beachtung in der einschlägigen Literatur gefun­ den. Zur Veranschaulichung des innovativen Charakters seiner Dramensprache soll im Folgenden eine kurze Szene aus Woyzeck (1837) etwas ausführlicher beleuchtet werden. Für die Sprache in Woyzeck sind auf der einen Seite die naturalistisch gestal­ teten Dialoge kennzeichnend, die „ungebundenen“ bzw. „konventionssprengenden“ Gespräche (Bauer zit. nach Betten 1985, 159), die der Form des offenen Dramas ent­ sprechen, wie auch das „stockende Sprechen“ Woyzecks (Krapp, zit. ebd., 159). Das

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besonders natürliche Erscheinen seine Rede wird u. a. durch wiederholte Vorschalt­ signale, unterschiedliche Verkürzungsformen wie Enklisen, Elisionen und Synkopen sowie durch syntaktische Diskontinuität erzeugt („das ist so was, wie soll ich doch sagen, zum Beispiel…“ (Büchner 1837, Woyzeck, 167 f.)). Die Figur Woyzeck erhält hierdurch äußerst realistische Züge, und ihre starke Unsicherheit wird wahrnehmbar. Überhaupt ist es in Woyzeck der Sprachgestus einer Figur, der Aufschluss gibt über ihren Charakter oder ihre psychische Verfassung (vgl. auch Fix 2011). Darüber hinaus verleiht Büchner bestimmten Textabschnitten eine ganz eigene poetische Sprachge­ stalt, indem er Sprache v. a. in ihren räumlichen und musikalischen Qualitäten nutzt. Dies lässt sich besonders gut an der folgenden Szene zeigen, die aus einem einzigen kurzen Redeabschnitt Woyzecks besteht. Nachdem dieser Marie mit dem Tambour­ major hat tanzen sehen, befindet er sich allein auf freiem Feld und meint Stimmen zu hören (Woyzeck, 172): (1) Woyzeck: Immer zu! immer zu! Still Musik! Reckt sich gegen den Boden. Ha was sagt ihr? Lauter, lauter, – stich die Zickwolfin tot? Stich, stich die Zickwolfin tot. Soll ich? Muß ich? Hör ich’s da auch, sagt’s der Wind auch? Hör ich’s immer, immer zu, stich tot, tot.

Die Rede ist hier durch extrem kurze Setzungen bzw. dichte Konstruktionen (Günthner 2006) gekennzeichnet, die mehrfach wiederholt werden und das Gehetzte an Woy­ zecks Zustand zum Ausdruck bringen. Zusätzlich vollzieht die Sprache eine spiral­ förmige Bewegung: Am Anfang steht „Immer zu!“ im Zusammenhang mit der Tanz­ musik, die Woyzeck nicht mehr ertragen kann. Am Ende bezieht es sich auf „stich, tot, tot“ und besiegelt somit das Mordvorhaben. Es scheint, als ‚schraube‘ Woyzeck sich in seine Verzweiflung ‚hinein‘. Hinzu kommt der musikalische Aspekt, denn in Kombination mit den rhythmischen Setzungen findet sich hier eine ganz bestimmte Anordnung der Lautfolgen [i]-[u] („Immer zu“  – „Still Musik!“– „Muss ich?“) und [o]-[i] („Soll ich?“ – „stich tot!“). Diese besondere Klanggestalt, das Gefangensein in immer gleichen Lautstrukturen unterstreicht abermals Woyzecks wachsenden Wahn­ sinn. Die unmittelbare Texttheatralität dieser Rede konstituiert sich also aus dem Staccato der knappen Setzungen, aus der spiralförmigen Bewegung der Sprache und aus ihrer klanglichen Struktur. Mit derartiger Gestaltung von Sprache in räumlicher und musikalischer Dimension nimmt Büchner zwei wichtige Aspekte der Sprachver­ wendung in Texten des 20. und 21. Jahrhunderts vorweg (s. u., 4.3). Lohnend wäre an dieser Stelle ein Vergleich mit der 12. Szene aus Moritz Rinkes Die Nibelungen (2007, 94–96), in welcher der Wahnsinn des Mordplans der Burgunder an Siegfried in ganz ähnlicher Weise gestaltet ist, nämlich in der immer hektischer werdenden Wiederho­ lung rhythmisch-abgehackter Setzungen, allerdings über acht Figuren verteilt (vgl. hierzu Reinhardt/Rinke 2010, 25 f., Reinhardt 2014, 135–137). Ein weiteres wichtiges Element, das Woyzeck auch aus textlinguistischer Sicht interessant macht, sind die Isotopie-Ebenen (wie v. a. rot-Blut-Feuer-Lust-Sünde-Tod), die oberhalb der Dialogebene zur poetischen Verknüpfung dienen und zweifellos

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expressionistische Gestaltungsverfahren vorwegnehmen (s. u., Textbeispiel 2). Auch Eisen und Messer als Bilder der Gewalt tauchen häufig im Text auf, und bald verflech­ ten sich die Stränge („Marie: Was der Mond rot auf geht – Woyzeck: Wie ein blutig Eisen“, Woyzeck, 177). Büchner eröffnet mit den hier erwähnten Verfahren ganz neue Dimensionen der Gestaltung dramatischer Dialoge, die erst in späteren Jahrzehnten bzw. Jahrhunder­ ten wieder erschlossen und weiter ausgeschöpft werden.

4.1.2 Die Theaterreformer um 1900 – Neubestimmung des Verhältnisses von Theater und Text/Sprache Die Reformbestrebungen des Theaters um 1900 weisen, trotz aller Unterschiede in den theoretischen und weltanschaulichen Ansätzen, einige Elemente auf, die eine gewisse Einheitlichkeit erkennen lassen (s. Reinhardt 2014, 21 ff.). Dazu gehören das Postulat der Loslösung des Theaters von Textvorlagen (Entliterarisierung), die Ableh­ nung von Naturalismus und Psychologismus sowie der Rekurs auf die Musik als neuem ästhetischen Paradigma. Von Vertretern ganz unterschiedlicher Herkunft wird mit Rekurs auf Wagner die Idee des Theaters als Gesamtkunstwerk formuliert. Es ent­ stehen Gemeinschaftsarbeiten von Regisseuren, Komponisten, Bühnenbildnern und Choreographen, welche die Retheatralisierung, die Öffnung zu neuen Formenspra­ chen voran treiben. Kandinsky entwickelt darüber hinaus das Synthetische Gesamtkunstwerk (1912; 1927), getragen von der Vorstellung einer ‚Übersetzbarkeit‘ der Künste (Brauneck 2001, 215). In jedem Fall werden die Übergänge zu anderen Kunst­ formen wie Tanz, Gesang, Skulptur, Installation usw. fließend. Insofern wird bereits das postuliert, was heute unter das Etikett postdramatisch fallen würde. Das Bühnenkunstwerk als Zusammenspiel der Künste bewirkt die allgemeine Aufwertung der ein­ zelnen theatralen Zeichen, somit auch die der Verbalsprache als theatralem Element. Angestoßen durch den Futurismus, welcher explizit die Zerstörung der Syntax fordert (Marinetti 1912), werden unter dem Einfluss des Dadaismus einzelne Wörter ihrer spe­ zifischen semantischen Zuordnungen entledigt, und ihre Komposition wird zur Klang­ gestalt. In der Wortkunsttheorie Herwarth Waldens (1920) werden in engem Austausch mit der Künstlergruppe um den Sturm, v. a. auch mit Oskar Kokoschka schließlich die beiden Hauptaspekte der Funktion von Sprache im (Theater-)Kunstwerk auf den Punkt gebracht: 1. Sprache wird – wie in der écriture corporelle Stéphane Mallarmés (Finter 1990, 35 ff.) – zum Körpergestus (des Sprechenden sowie des Rezipienten). 2. Sprache steht in enger Analogie zu Musik, und dies bedeutet Entautomatisierung der Zuordnung von Signifikant und Signifikat, Offenheit und Mehrdeutigkeit. Entliterarisierung bedeutet also letzten Endes nicht nur den Beginn des Regietheaters, sondern führt auch zu einer erneuten, ganz neuartigen Hinwendung des Theaters zur Sprache. Diese soll nun vor allem rhythmisch sein, Bewegung ausdrücken und wird einmal „Ausdruck der Seele“ (Behrens, zit. nach Brauneck 2001, 50), Verbindung zum Tanz

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(Meyerhold, ebd., 249), selbständiges Kunstwerk und visionär-ekstatische Erfahrung (Lothar Schreyer 1916, ebd. 113–115) oder „Klanggebärde“, Musik (Herwarth Walden 1920).

4.1.3 Sprachliche Aspekte in Texten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Unter diesen veränderten Voraussetzungen entstehen die Theaterwerke des Expressi­ onismus, welche eine große Bandbreite unterschiedlicher Ausprägungen aufweisen. An zwei Textbeispielen sollen Formen ganz unterschiedlicher Sprachbehandlung veranschaulicht werden: an Oskar Kokoschkas Mörder, Hoffnung der Frauen (1909– 1916) und an August Stramms Kräfte (1915). Kokoschkas Drama wird oft als das erste typisch expressionistische Drama bezeichnet (Mazza 2008, 65). Es ist in seiner assoziativen und synästhetischen Ver­ bindung von Bild/Licht, Wort/Ton und Gebärde der Kunstauffassung Kandinskys sehr nahe. Auf allen Ebenen des Textes wird das Thema des Geschlechterkampfes gestaltet, wobei die Regieanweisungen einen großen Teil des Gesamttextes einneh­ men. Hier entwirft der Autor eindrucksvolle Bilder („Nachthimmel, Turm mit großer roter eiserner Käfigtür…“) und eine detaillierte Choreographie, mit der er seine Begeisterung für den damals aufkommenden Ausdruckstanz zeigt (ebd., 67). Auf der Ebene der Figurensprache zeichnet Kokoschka oft anhand von synästhetischen Ver­ bindungen eine weitere Schicht starker, Grauen erregender Bilder, wie im folgenden Auszug (Mörder, 180): (2) Frau laut: Mit meinem Atem erflackert die blonde Scheibe der Sonne, mein Auge sammelt der Männer Frohlocken, ihre stammelnde Lust kriecht wie eine Bestie um mich. […]

Fast über den gesamten Text hinweg sprechen Frau und Mann nur übereinander, nicht miteinander. Eine direkte gegenseitige Ansprache findet erst im letzten Abschnitt statt, kurz bevor die Frau am frühen Morgen tödlich verwundet zusammenbricht. Die einzelnen Referenten sind im Text durch Isotopie-Ebenen wie Blut–Tod und Lust– Tier–Bestie–Vampyr miteinander verknüpft und illustrieren das Eins-Werden von Wollust und Mordlust. Die Figurensprache ist wie die choreographischen Gebärden der Figurengruppen überwiegend rhythmisch. Sie enthält meist kurze Sätze bzw. Set­ zungen – häufig sind es Nominalphrasen als Ausrufe –, die fast durchgehend para­ taktisch angeordnet sind. Das Stück endet mit einer Reihung dramatischer Ausrufe (kurzen ein- bis zweigliedrigen Ellipsen  – „Der Teufel“!), und an letzter Stelle mit dem Einwort-Satz „verloren!“. Die poetische Sprachgestalt dieses Textes ergibt sich aus dem Zusammenspiel von sprachlichem Rhythmus und einprägsamen Bildern des Grauens.

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Eine völlig andere Verwendung von Sprache findet sich in August Stramms Kräfte, einer Geschichte von Liebe, Eifersucht und Tod im bürgerlichen Milieu des beginnen­ den 20. Jahrhunderts. In den Regieanweisungen verstößt der Autor fast durchgehend gegen die konventionelle, ‚bürgerliche‘ Grammatik (auf den Ebenen von Verbvalenz und Semantik), während der Sprechtext grammatisch korrekt ist, wie etwa im folgen­ den Auszug (August Stramm, zit. nach Mazza 2005, 335): (3) Sie am offenen Fenster, starrt hinaus, wendet jäh, stemmt die Faust Frauenlachen aus dem Park Sie gurgelt, zischt, krampft so bebt ins Zimmer so! stürzt zum Spiegel, streicht Haar und Gesicht, wendet, starrt hilflos, tonlos nachsprechig schön unbeschreiblich anmutig Welke Blätter büscheln durchs Fenster Sie rast, zertritt, stampft, schleudert Moder! erstarrt, nestelt ein Blatt aus dem Haar, hält die ausgestreckte Hand, versinkt wer? […]

Durch dieses Verfahren scheinen die Regieanweisungen dem Dialog gegenüber einen höheren Stellenwert zu erhalten, werden umfunktioniert zu einem Textteil, der sich nicht ohne Weiteres szenisch umsetzen bzw. auflösen lässt. Das Medium Sprache erweist sich auch hier nicht als ‚durchlässig‘, sondern als Widerstand, auf seine eigene Materialität verweisend. Ähnliche Arten der Umfunktionierung von Regieanweisun­ gen finden sich in Texten des 20. und 21. Jahrhunderts. Häufig legen dort stilistisch markierte Formulierungen die Instanz eines fiktiven Beobachters offen (Meurer 2007, 45 ff.), welcher – analog zur Erzähler-Instanz in narrativen Texten – auch (ironisch) kommentierende Funktion haben kann (vgl. z. B. Reinhardt 2014, 93 ff.) oder lediglich als fiktive ‚mit-erlebende‘ Figur auftritt, wie etwa in Textbeispiel (4). Weiterhin auf­ fällig im Stück Kräfte ist, dass die meisten Figuren nur als Stimmen/Geräusche oder Gegenstände auftauchen (Frauenlachen, Männerlachen, Fraustimme, Mannstimme, zwei Schüsse, welke Blätter usw.) und lediglich als „das Ergebnis ihrer Sprechakte und der Beziehungen zueinander“ zu betrachten sind (Mazza 2005, 337 f.). Insofern wird auch der Begriff Figur bei Stramm in Frage gestellt und eine Dissemination von Stimmen erzeugt. Erste Experimente mit Polyphonie im Sinne einer Aufspaltung des Subjekts auf viele verschiedene Stimmen/Objekte kennzeichnen auch andere expres­ sionistische Theatertexte wie etwa diejenigen Carl Sternheims. Selbstverständlich können die hier angeführten Beispiele bei weitem nicht das breite Spektrum expressi­ onistischer Schreibweisen abdecken, allenfalls einen Eindruck vermitteln. Als Haupt­ merkmale expressionistischer Sprachgestaltung im Theater seien hier rhythmische und klangliche Qualitäten der Sprache hervorgehoben sowie bildhafte, synästheti­ sche Wortschöpfungen. Von den expressionistischen Texten wiederum setzen sich solche Theatertexte ab, die als Erneuerung des Volksstückes gelten, wie etwa die Stücke Carl Zuckmayers, Ödön von Horváths und Marieluise Fleißers. Die zunächst als volkstümlich wahrge­ nommene Sprachverwendung erweist sich auf den zweiten Blick als äußerst kritisch-

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analytisch. So machen Fleißers dialektal beeinflusste Kunstsprache und Horváths süddeutsch gefärbtes Gemisch verschiedener Sprachebenen (Betten 1985, 208) das Aneinander-Vorbeisprechen und Vorbeihandeln erlebbar (ebd., 204). Für die Drama­ tik Fleißers stellt Roumois-Hasler fest, dass sich hier bereits Ansätze der veränderten Rezeptionsform moderner Dramen finden, deren Dialogstruktur verfremdet ist und den Zuschauern direkt die Erfahrung der durchgängigen Thematik moderner Dramen ermöglicht, nämlich die der gestörten Kommunikation (Roumois-Hasler 1982, 219 f.). Fleißer beruft sich im Übrigen bezüglich der Sprache auf Brecht, dessen knapper Dialogstil auch andere Autoren, wie etwa Heiner Müller nachhaltig beeinflusst hat (Nägele 2009, 57). In allen Texten Brechts zeigt sich dessen Sinn für prägnante Sprache, für Rhythmisches und für Verse. Brechts episches Theater stellt jedoch mehr noch in seiner gesamten Neuorientierung eine epochemachende Entwicklung dar als aufgrund seiner sprachlichen Aspekte. Im Aufbrechen der dramatischen Form und dem Einfügen neuer Elemente (Gedichte, Lieder, Chorpassagen) benutzt Brecht poeti­ sche Verfahren im weiteren Sinne, die u. a. in den 1970er Jahren wegbereitend für die Werke Heiner Müllers und Elfriede Jelineks sind und sich letztendlich auch auf deren Sprachverwendung auswirken (s. u.).

4.2 Entwicklungstendenzen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kritischer Sprachrealismus in den 1970er Jahren Betten (1985) hat für das Drama der 1970er Jahre eine beachtliche Variationsbreite innerhalb der Sprachrealismus-Konzepte nachgewiesen. Sie zeigt, dass Autoren wie Wolfgang Bauer, Franz Xaver Kroetz und Botho Strauß den Eindruck von Authentizi­ tät zu vermitteln verstehen, obwohl sich die sprachlichen Strukturen, die sie verwen­ den, in vielem von der Alltagssprache, auf die sie referieren, unterscheiden. Anhand ganz unterschiedlicher Kombinationen von Mitteln und graduellen Nuancen der Sti­ lisierung tragen sie zu einer erheblichen Erweiterung des Repertoires an Ausdrucks­ möglichkeiten bei und legen diverse Problematiken zwischenmenschlicher Kommu­ nikation und Beziehungen offen. So wird etwa das Auf-der-Stelle-Treten von Dialogen vorgeführt, das Vergnügen sich sprechen zu hören und die eigene Rede als künst­ lerisches Produkt aufzufassen (Bauer), wie auch die Unfähigkeit sich sprachlich zu artikulieren (Kroetz), oder das Nebeneinander vieler Jargons und die Schwierigkeit, mit der Vielfalt an Wissens- und Erfahrungsbereichen in der modernen Welt umzu­ gehen, was in Formen des uneigentlichen Sprechens Ausdruck findet (Strauß). Von daher sind sie einem durchschauenden, kritischen Realismus zuzuordnen. Eine ähn­ liche Intensivierung des Sprachrealismus, wie hier für das Theater beschrieben, kann nach Schwitalla/Tiitula (2009, 18 ff.) für fiktive Gespräche im deutschen Roman des gleichen Zeitraums nicht festgestellt werden (zu dialogischer Figurenrede in erzähle­ rischen Texten s. auch Thüne 2010, Schwitalla/Thüne 2014).

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Text-Raum In Bezug auf räumliche Dimensionen der Sprachgestaltung ist zunächst das Werk Thomas Bernhards zu nennen, das nicht nur in dieser Hinsicht vielseitige sprachlichpoetische Verfahren aufweist (Zur Sprache bei Bernhard s. Betten 1987, 1991, 1998, 2002, 2005a+b, Schmidt-Dengler 1997). Vor allem mit zwei Gestaltungsprinzipien verleiht Bernhard der Sprache in seinen Theatertexten räumliche Dimension. Beim ersten handelt es sich um die Konstruktion spiralförmiger Monologe im Dialog, regel­ rechter „poetischer Gebilde“ (Höller 1979, 21). Diese referieren auf mündliche Alltags­ sprache, indem sie durch mehrfache Wiederholung minimaler Setzungen (Günthner 2006, 114 ff.) kreisende Denkbewegungen nachvollziehen (Betten 1985, 385 f.) und auf diese Weise das Hauptthema eines Abschnittes herausbilden. Gleichzeitig bewir­ ken sie durch Intensität und Häufigkeit ihres Auftretens eine auffällige stilistische Überhöhung und Musikalisierung der Sprache. Während sich Sprache hier flächen­ haft ausdehnt, wird beim zweiten Gestaltungsprinzip die Tiefendimension des Textes erweitert, und zwar durch Überlagerung z. T. mehrfach gestaffelter Erzählinstanzen (Betten 2005, 34 ff.). Auch diese bewirken, wie die kreisenden Denkbewegungen, eine vielfache Perspektivierung des Mitgeteilten. Bernhard steht somit auch in der Tradi­ tion des Werkes von Gertrude Stein, die bereits Ende der 1930er Jahre begann, in ihren portraits und landscapes mit kreisenden Sprachbewegungen Polyperspektivität zu erzeugen (Stricker 2007, 91 ff.). Während allerdings Steins Verfahren ganz im Zeichen der künstlerischen Freiheit steht, sich den Dingen spielerisch von mehreren Seiten zu nähern, verweist Bernhards Schreibweise v. a. auf die Ausweglosigkeit und das Gefangensein seiner Figuren in ihrer eigenen Sprache bzw. Situation (Kappes 2006, 190; Betten 2011). Ebenfalls in den 1970er bzw. 1980er Jahren bahnen sich zwei Schreibweisen an, die sich noch radikaler von dem oben beschriebenen Sprachrealismus unterscheiden und auf unterschiedliche Art räumliche Qualitäten aufweisen: die Werke von Heiner Müller und Elfriede Jelinek. Heiner Müller sieht sein Kunstschaffen offiziell in der Nachfolge Brechts, dessen Theaterkonzept er konsequent für sich weiterentwickelt. Seine Texte, die meistens klassische Stoffe aufnehmen und auf aktuelle Zustände der Unterdrückung und Gewalt beziehen, zeugen von extremer Dichte und Auflösung der dramatischen Form  – siehe z. B. Hamletmaschine (1977) und Bildbeschreibung (1984). Während Brecht noch heterogene Elemente nebeneinander setzte, kommt es bei Müllers Art des Zitierens zu Überlagerung, ‚Übermalung‘ oder, wie er selbst sagt, zur „Überschwemmung“ […], d. h. zu gezielter Reizüberflutung, die „den Zuschauer überfordern und idiosynkratischen Widerstand auslösen“ soll (Stricker 2007, 148). Stricker hat an verschiedenen Beispielen die räumliche Tiefendimension dieser Texte vorgeführt und sechs verschiedene Arten des Zitierens festgestellt (ebd.). Müller selbst betrachtet Theatertexte als „Widerstand“, als „musikalisches Material“ bzw. als „Körper“ (Reinhardt 2014, 55 ff.), die man zunächst einmal in ihrer Präsenz akzeptie­ ren und nicht vorschnell bewerten/interpretieren sollte (ebd., 153; zu Müllers Texten/

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Sprache s. auch Müller-Schöll/Göbbels 2009). In jedem Fall sind linguistische Unter­ suchungen des Werkes Heiner Müllers ein Forschungsdesiderat. Elfriede Jelineks Schreibweise ist v. a. durch die berühmten Sprachflächen gekennzeichnet, durch lange Monologe von nicht immer klar identifizierbaren Spre­ cherinstanzen, die gegeneinander gesetzt werden. Dabei kristallisieren sich außer der konsequent feministischen Haltung große Themen heraus, die der Autorin besonders am Herz liegen, wie die Entlarvung der österreichischen Nazivergangenheit auf allen Institutionsebenen (auch der des Theaters) sowie die grundsätzliche Kritik an der Übermacht von massenmedialen und bestimmten gesellschaftlich-politischen Dis­ kursen. Auch Jelinek ist überzeugte Brecht-Nachfolgerin und entwickelt aus dieser Position heraus eine ganz eigene Art des Schreibens voller intertextueller Bezüge, die teils markiert und teils in Form der Verschmelzung von Sprach- und Denkebenen den Text selbst erst konstituieren. Häufig kreist die Sprache Jelineks in Wiederholungsbe­ wegungen und über Wortspiele assoziativ um etwas Nicht-Benennbares und dehnt sich flächenartig aus. Jelinek selbst bezeichnet ihre Stücke auch als „Rhizome“, als wildwüchsige, unzähmbare Bambuswurzeln, die sich unterirdisch auch „gegen ihren Besitzer“ verbünden und ausbreiten (Jelinek 2012). Oft ergibt sich die unmittelbare Texttheatralität hier aus der Montage von Zitatmaterial und Assimilation unter­ schiedlicher Sprechweisen (vgl. u. a. Poschmann 1997, 194 ff.). Diverse Formen des uneigentlichen Sprechens werden bei Jelinek zum künstlerischen Prinzip. Dadurch gewinnen die Sprachflächen (paradoxerweise) eine beachtliche Tiefendimension. In der Schichtung und Verschmelzung verschiedener Zeitebenen sowie im Ineinan­ der von Ich- und Wir-Stimmen auch innerhalb einer Rede werden Jelineks Texte zu poetischen Sprachräumen. Bis heute prägt Jelinek mit ihren Texten entscheidend die deutschsprachige Theaterlandschaft. Mit Müller und Jelinek setzt sich zum Ende des 20. Jahrhunderts im Theater ein Geschichtsverständnis der „Koexistenz von Ebenen“ durch, d. h. der Einheit von Ver­ gangenem, Gegenwärtigen und Zukünftigem als geschichteter Zeit (vgl. Haß/Meister 2013, 5; in Anlehnung an Deleuze/Guattari). In variierender Tradition dieser beiden Werke sind viele der zeitgenössischen Texte entstanden, wenn diese auch unterei­ nander sehr verschieden sind, wie etwa die Stücke von Kathrin Röggla oder Ewald Palmetshofer. Speziell in der Nachfolge Jelineks zu verorten ist z. B. das so genannte Diskurstheater René Polleschs, in dem das Auseinanderdriften von Sprecherinstanz und Gesprochenem z. T. noch radikalere Formen annimmt.

4.3 Beispiele aus dem Spektrum zeitgenössischer Schreibweisen Im Blick auf das heutige Theater verzeichnet Bayerdörfer sowohl „Realismusforde­ rungen“ als auch das Anstreben der „Wiederkehr poetischer Sprachgestalt“ (Bay­ erdörfer 2007, 11). Tatsächlich bewegt sich die sprachliche Beschaffenheit heutiger Theatertexte weiter im Spannungsfeld dieser beiden Aspekte. Ohne den vielfältigen

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Schreibweisen annähernd Rechnung tragen zu können, soll anhand der folgenden Beispiele zumindest ein Einblick in das breite Spektrum zeitgenössischer Texte ver­ mittelt werden.

4.3.1 ‚Wirklichkeitsnahe‘ (Bühnen-)Sprache Auch die zeitgenössischen realistisch verfassten Texte zeugen von großem Sprachbe­ wusstsein und lassen sich durchaus einem kritischen Sprachrealismus zuordnen. Die hier verwendete, natürlich erscheinende Alltagssprache erweist sich niemals als voll­ kommen ‚durchlässig‘. Ihr kritisches Potenzial offenbart sich in sehr feinen Nuancen, etwa dort, wo durch Sprachstile bestimmte Haltungen herausgearbeitet werden, wie z. B. in Moritz Rinkes Konversationsstück Wir lieben und wissen nichts (2013), das vermutlich v. a. aufgrund seines hohen Wiedererkennungswertes in Deutsch­ land zum Bühnenerfolg wurde. In diesem Stück, das einen Querschnitt der Genera­ tion der vierzigjährigen Akademiker in der kapitalistischen und digitalisierten Welt liefert, und – wie immer bei Rinke – Menschen mit „Wirklichkeitssinn“ und solche mit „Möglichkeitssinn“ gegenüber stellt, bewirkt die sehr natürlich gestaltete Sprache ein besonders plastisches Erscheinen der Figuren. Doch gerade in der Sprachverwen­ dung werden auch deren Schwächen aufgedeckt. Beispielsweise benutzen solche Figuren, die begeistert dem Trend folgen und daher indirekt für die allgemeinen deso­ laten Zustände Verantwortung tragen, bevorzugt Modeausdrücke wie „Emotionale Intelligenz“ (ebd., 33), „Das ist doch zu kurz gegriffen!“ (ebd., 32) oder Sätze wie: „Im Kombi liegt noch jede Menge Technik“ (ebd., 13). Ausgestellte Alltagssprache – Beispielanalyse An dieser Stelle soll exemplarisch die Analyse eines Textabschnitts durchgeführt werden, in dem der Autor die Theatralität gesprochener Alltagssprache nutzt und zum gestalterischen Prinzip macht. Dabei ist zu bemerken, dass auch mündliche All­ tagssprache an sich oft schon Verfahren der Inszenierung einsetzt und unmittelbare Texttheatralität entfalten kann. In Dirk Lauckes Stück Der kalte Kuss vom warmen Bier (2009) treffen ein Ex-Grenzsoldat der NVA (DDR) und ein aus Afghanistan heimge­ kehrter Bundeswehrsoldat aufeinander. Beide haben Menschenleben auf dem Gewis­ sen. Im folgenden Auszug entscheiden sich die jungen Männer zur Flucht aus der Entzugsklinik (ebd., 3): (4) MAIK […] kuck dich mal um. die blume da. plastik. der kaffee. sieht aus wie kaffee. riecht wie kaffee. schmeckt wie hasenscheiße. gymnastik. basteln. laberrunde. hier ist alles verdammte hasenscheiße. RICHARD hat ja keiner gesagt, dass das hier ein urlaub wird. wird das warm –

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MAIK urlaub. knast mit blumenbildern. […] MAIK hören wir auf, uns zu verarschen. Pause. RICHARD scheiß auf plastik. MAIK scheiß auf plastik. scheiß auf gesprächs therapie. RICHARD scheiß auf jogginghosen. MAIK scheiß auf zimmertemperatur zweiund zwanzig grad. Maik und Richard hauen ab. Nicht ohne ein bisschen zu randalieren, vielleicht.

In der ersten größeren Äußerungseinheit wird in hochkonzentrierter Form minimaler Setzungen humorvoll das Szenarium der Entzugsklinik aus der Sicht der Figuren beschrieben und bewertet. Hier zeigt sich einmal, wie unmittelbare Texttheatralität nicht durch Ausdehnung der Sprache im Raum erzeugt wird, sondern durch die extrem knappen Setzungen in ihrer Strukturrekurrenz. Die Wiederholungen von „hasenscheiße“ innerhalb desselben Redebeitrags sowie von „urlaub“ (über Spre­ cherwechsel hinweg) sind im Blick auf den gesamten Kotext als typisch sprech­ sprachlich zu interpretieren. Im ersten Fall hat die Wiederholung die Funktion der Bekräftigung, im zweiten die der ironischen Wiederaufnahme („urlaub. knast mit blumenbildern“). Zu weiteren typisch sprechsprachlichen Elementen gehören neben Analepsen und umgangssprachlicher Lexik v. a. zwei Sätze mit uneigentlicher Verberststellung. Diese zählen, da sie im narrativen Präsens gehalten sind, ebenfalls zu Günthners Kategorie der dichten Konstruktionen, mit der Funktion der Kontextualisie­ rung von Dynamik, Dramatik, Spannung und Emphase (Günthner 2006, 105). In der zweiten Gesprächseinheit ist vom interaktionalen Aspekt her interessant, wie das von Richard vorgegebene sprachliche Muster („scheiß auf…“) von Maik unmittelbar über­ nommen und dann von beiden wie ein Beschwörungsritual der Übereinstimmung wiederholt wird. Die Form der Wiederholung entspricht hier durchaus gesprochener Alltagssprache. Denn ähnlich wie Sprecher in Dialogen oft unbewusst als Zeichen des Einverständnisses einen gemeinsamen Rhythmus etablieren (Isochronie) (Schwitalla 2006, 64), wird hier auf der morphosyntaktischen Ebene Einigkeit demonstriert. In diesem Fall geschieht dies durch Wiederholung bei Sprecherwechsel. Brinker/Sager (2001, 173) definieren solche Aktivitäten im Rahmen des „regionalen Managements“ eines Gespräches als „Konsolidierungen, durch die gleichzeitig die Geltung der rati­ fizierten Rollenspielerwartungen gefestigt wird“. Schwitalla (1994) zählt solche Ele­ mente zu poetischen Phänomenen der Alltagskommunikation. Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass die Figuren ihre (Umgangs-)Sprache mit Genuss benutzen und einsetzen. Sie wird hier zum Ausdruck der Identitätsbehauptung und Erfahrung von Gemeinsamkeit. Sprache scheint in diesem Textabschnitt  – bezüglich der äußeren Kommunikationsebene – als besondere Umgangsform ausgestellt zu sein und erlaubt eine humorvolle Sicht auf die Figuren. Diese Außensicht wird durch die Instanz des

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fiktiven Beobachters (s. o., 4.1.3) noch untermauert, der sich im Textabschnitt aus­ schließlich durch den umgangssprachlichen Ton in den Regieanweisungen konsti­ tuiert („Maik und Richard hauen ab. Nicht ohne ein bisschen zu randalieren, viel­ leicht“). Auf der anderen Seite stellt die sprachliche Nähe des Dialogs zur Alltagssprache auch Nähe zu den Figuren her. Dadurch, dass sogar der fiktive Beobachter umgangs­ sprachliche Formen benutzt, erscheint das Geschehen wiederum besonders nah ‚her­ angerückt‘. Laucke erzeugt hiermit für die Leser/Zuschauer ein interessantes Chan­ gieren zwischen Nähe und Distanz, als Voraussetzung für das weitere Erschließen des Textes. Im späteren Verlauf setzt Laucke ein Stilisierungsverfahren ein, das sich nach dem Figur-Grund-Prinzip von dem sonst naturalistischen Dialogstil abhebt. Durch syntaktische Strukturrekurrenz und extreme Verdichtung des Reizwortes „mörder“ stellt er den komplexen Zusammenhang von Gewalt-Eskalation, Einsatz von „Frie­ denstruppen“, kollektiver und individueller Mitverantwortung heraus (vgl. Reinhardt 2014, 64–73).

4.3.2 Kombination von naturalistischer Sprache und Stilisierungen Die Kombination von wirklichkeitsnaher Sprache und Stilisierungsverfahren kann unterschiedlichen Kompositionsprinzipien unterliegen und diverse Funktionen haben. Nicht selten werden in realistisch gestalteten Texten an bestimmten Stellen Stilisierungen eingesetzt, die nach dem Figur-Grund-Prinzip bestimmte Momente im Stück als zentral markieren. Dieses Verfahren kann, wie bei Laucke, zur Herausar­ beitung des Textthemas dienen oder wie etwa in Philipp Löhles Die Unsicherheit der Sachlage (2008) auf eine tiefere Schicht des Stückes verweisen, die sich unter der humorvollen Textoberfläche verbirgt. In anderen Stücken wie z. B. Auf der Greifswalder Straße von Roland Schimmelpfennig (2006) und Diebe von Dea Loher (2009) werden im Patchwork-Verfahren naturalistische Dialoge und stark verfremdetes Sprechen, Prosa und Lieder nebeneinander gesetzt, d. h. unterschiedliche Situatio­ nen bzw. Realitäts-Sphären gestaltet, die im Zusammenspiel ein buntes und bizarres gesellschaftliches Bild entwerfen (Reinhardt 2014, 73 ff.). Eine weitere Möglichkeit stellt das Vermengen zweier oder mehrerer Stillagen dar, die jeweils auf unterschied­ liche Bewusstseinsebenen oder Sprecherinstanzen verweisen, wie etwa in den Texten Jelineks. Ein Beispiel hierfür ist auch Das blinde Geschehen von Botho Strauß (2011), das die Ebenen von realem Leben und Second Life, von Mythos und Revue-Theater miteinander verquickt und sprachlich zwischen abgeklärter, nüchterner Sprache (als Ausdruck allgemeinen Realitätsverlustes) und nähesprachlichem Umgangston chan­ giert. Das Nebeneinander von Stillagen kann auch in Form eines Code-Switchings dazu dienen, unterschiedliche Epochen aufzudecken, auf die der Text – auch inner­ halb einzelner Figurenreden – referiert, wie etwa in Die Nibelungen von Moritz Rinke (2007, s. Reinhardt 2014, 124–141).

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4.3.3 Sprachlich-poetisch gestaltete Texte Unter poetisch gestalteten Texten werden hier solche Texte verstanden, deren ästhe­ tischer Zeichencode auf einem ganz eigenen kreativen System von Stilisierungen beruht, die erst ihre jeweils einmalige Sprachgestalt ausmachen. Auch diese Texte referieren auf gesprochene Alltagssprache bzw. sie gehen von ihr aus, um sie durch künstlerische Verfahren zu überhöhen. Eins der herausragenden Beispiele ist Kathrin Rögglas worst case (2008). Anhand zahlreicher stilistischer Verfahren macht Röggla hier die Lust am Reden über Katast­ rophen, das ‚Aufblühen von Sprache‘ erlebbar. Dabei wird die Macht von Diskursen auf kreative Weise und unter Nutzung aller sprachlich produktiven Möglichkeiten vorgeführt (Reinhardt 2011; 2014, 113 ff.). Uneigentliches Sprechen wird zum Leitmotiv, das unterschiedliche Gestaltung erfährt, wie etwa die konsequente Anwendung der indirekten Rede, ein Verfahren, das Röggla oft in ihren Texten benutzt. Es erzielt einen starken Verfremdungseffekt und verweist darüber hinaus auf eine einzige Erzählins­ tanz, deren ‚mögliche Selbste‘ auf die einzelnen Figuren aufgefächert sind. Gleich­ zeitig macht die indirekte Rede die Passivität dieser Figuren deutlich, die in Schau­ lust und Katastrophengier Ersatz für ein authentisches Leben suchen. Der Aspekt der Schaulust wird v. a. durch Strukturrekurrenz unterstrichen, durch exzessive Wieder­ holung von Formeln wie „mal sehen“ und „seht euch das an!“. Die Passivität steht im Kontrast zur Lust am Reden, welche sich z. B. im Mangel an elliptischen Formen, in der Reihung kreativer Wortbildungen („alzheimerahnungen, vogelgrippenmahnun­ gen, handystrahlenängste“, Röggla 2008, 8) und – gesprächsanalytisch gesehen – in dem Mangel an interaktivem Bedeutungsaufbau ausdrückt. Uneigentliches Sprechen findet schließlich seinen Ausdruck auch in einem Verfahren, das bereits Botho Strauß verwendet hat, nämlich in dem konzentrierten Aneinanderreihen von Floskeln und Versatzstücken aus dem öffentlichen Diskurs, die hier innerhalb einer Radiosendung zum leeren Geschwätz verschmelzen („es ist verrückt, wie schnell etwas vergangen­ heit wird“ – „wir sind alle gealtert in jenen tagen, wir sind reifer geworden“, ebd., 15). Der Diskurs allgemeiner Katastrophenlust macht in diesem Stück die Beteiligten nur scheinbar zu Protagonisten, in Wirklichkeit aber zu Opfern ihres eigenen Geredes. Dabei verschwindet das Subjekt „(ICH)“, das den Text einleitet, hinter dem uneigentlichen Sprechen der übrigen Figuren (ebd.): (5) FINANZEXPERTE schade, dass ich das nicht mehr aktiv erleben könne. BÜRGERANWÄLTIN sie sei sich sicher, wo ich auch jetzt wäre, ich hörte ihnen zu. ich würde das positiv sehen. TECHNIKERIN ich würde das nicht so bekritteln, wie so manch andere, die ewig aufmerk­ samkeit wollten. TECHNIKER ich könne auch einmal zurückstehen. und platz machen für wichtigere themen.

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Eine völlig andersartige, ebenfalls komplexe poetische Sprachgestalt, die sich wiede­ rum aus der Kombination mehrerer Gestalten ergibt, weist der Text faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete von Ewald Palmetshofer (2009) auf (Reinhardt 2014, 96–113). Hier wird aus der Handlung um Faust, Gretchen und Mephisto eine schlichte Story zwischen sechs jungen Leuten geschaffen, die diese selbst nachspielen, wobei alle einmal die Faust- bzw. die Gretchenrolle übernehmen. An dieser Stelle soll nur auf zwei Aspekte der Gestaltung eingegangen werden: die Isotopie-Ebenen und die musikalisch-rhythmische Bewegung der Sprache. Die Themenentfaltung über Isoto­ pieketten (z. B. Außen und Innen, Leere und Oberflächlichkeit) verwebt nicht nur die einzelnen Szenen miteinander, sondern verknüpft diese auch auf der intertextuellen Ebene mit Goethes Faust. Fausts Suche nach dem, „was die Welt im Innersten zusam­ menhält“, wird bei Palmetshofer aktualisiert und pointiert zu einer elementaren  – und vergeblichen  – Suche nach einem „Inneren“. Oft vollzieht Sprache in diesem Text Bewegungen nach, wie etwa Kurven, einen Absturz oder einen Strom und nimmt sowohl rhythmisch  – mit vierhebigem Jambus an zentralen Stellen  – wie auch in der Bildsprache explizit auf Goethes Faust Bezug („da wär ein Kern ein Hindernis“, ebd., 5). Die innere Leere (‚Kernlosigkeit‘) der heutigen 30-Jährigen wird nicht nur in vielen Bildern unterstrichen, sondern auch auf syntaktischer Ebene durchgespielt: Oft haben die Sätze in den Gesprächen der jungen Leute keinen ‚Kern‘, weil sie vor dem Verb in Verbletztstellung abgebrochen werden („weiß ich schon, dass dir das alles viel zu äußerlich“ – „würd mich brennend interessieren, was da übrig“, ebd., 8). Die Oberflächlichkeit der hier dargestellten Wellness-Gesellschaft findet auch in vielen der chorisch vorgetragenen hohlen Umgangsformeln ihren Ausdruck („das freut uns – ja, uns freut das auch, dass ihr uns – ja, das freut uns wirklich“, ebd., 4). Als Beispiel eines Stückes, das poetische Sprachgestalt und stabile Dramenform miteinander verbindet, sei hier der bereits oben erwähnte Text Die Nibelungen (2007) von Rinke genannt. In diesem sprachlich vielseitigen Text wechseln immer wieder die Figur-Grund-Verhältnisse: einmal bildet die alltagssprachliche Rede den Grund, einmal der rhythmisch-musikalische Stil. Auf diese Weise wird z. B. das im Text rekonstruierte bogenförmige Gerüst der Vorausdeutungen des Nibelungenliedes her­ ausgestellt und mit aktuellen Utopie-Entwürfen der Figuren verbunden, welche wie­ derum durch Code-Switching sowohl in der alten als auch in der heutigen Zeit verortet sind. Auch die Entmythologisierung der Siegfried-Figur und die Befreiung des alten Epos von verzerrter Rezeption werden in erster Linie sprachlich vollzogen, und zwar durch Verfahren der Strukturrekurrenz, die zur Themenverknüpfung und -entfaltung dienen, sowie durch den Kontrast gegenüber gestellter Stillagen. Durch die poetische Sprache dieses Textes und den hierdurch erzeugten Raum der Koexistenz wird das Universale des Nibelungenliedes schließlich bewahrt und gleichzeitig neu gestaltet.

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5 Schlussbemerkungen Der knappe Überblick hat zunächst gezeigt, dass die Suche nach neuen sprachli­ chen Ausdruckmöglichkeiten im Theater seinen entscheidenden Ausgang bereits bei Büchner nimmt. Um 1900 trägt dann die Aufwertung der einzelnen theatralen Zeichen und somit auch der sprachlichen – im Zuge sich verändernder Wahrnehmungsmodi – zu vielfältigen Experimenten bei, welche die Grenzen semantischer Zuordnung erst­ mals radikal in Frage stellen bzw. neu definieren. Entautomatisierung der Wahrneh­ mung wird zum literarischen Kriterium auch von Theatertexten. Das Paradigma der Musik führt zu einem breiten Spektrum sprachlich rhythmischer Gestaltungsmög­ lichkeiten, die v. a. in dadaistischen und expressionistischen Texten erprobt und entwickelt werden. Räumliche Dimensionen von Sprache, die bereits bei Büchner anklangen und von Gertrude Stein Ende der 1930er Jahre zum künstlerischen Prinzip erhoben wurden, werden im deutschsprachigen Theater erst seit der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts richtig ausgeschöpft und weiterentwickelt. Flächenhafte Aus­ dehnung von Sprache in Form zahlreicher Wiederholungsverfahren dient von nun an v. a. der Polyperspektivierung des Darzustellenden wie auch Illustration einer – zum Scheitern verurteilten – Suche nach Wahrheit/Erkenntnis. In der Nachfolge Brechts werden v. a. mit Heiner Müller und Elfriede Jelinek neue sprachliche Verfahren zur Gestaltung des Text-Raums als Einheit von Vergangenem und Gegenwärtigem ent­ wickelt. Das neue Verständnis von Theater als Koexistenz von Ebenen erfährt auch im 21.  Jahrhundert vielfach kreative sprachliche Gestaltung. Stücke mit besonders komplexer poetischer Sprachgestalt weisen einen entsprechend weiten Text-Raum für assoziative  – kausale wie historische  – Bezüge auf. ‚Aus dem Leben gegriffene‘ Sprache wird hingegen vornehmlich dort verwendet, wo es um Nähe zu den Figuren geht, um den Wiedererkennungswert von Lebenssituationen und um das Aufzeigen von Mitverantwortung des Individuums an gesellschaftlich-politischen Veränderun­ gen. Bei allen hier dargelegten Gestaltungsverfahren wird einmal mehr die Möglich­ keit wahrgenommen, im Sinne Lotmans „einen Informationsumfang zu vermitteln, der mit Hilfe der elementaren eigentlichen sprachlichen Struktur gar nicht übermit­ telt werden könnte“ (Lotman 1993, 24). Fingierte Mündlichkeit und poetische Sprache betreffen heute alle linguistischen Beschreibungsebenen. Dekonstruktion und Verstoß gegen grammatische Normen scheinen jedoch für die zeitgenössischen Autoren keine reizvollen oder angemesse­ nen Mittel zu sein, Wirklichkeit kritisch zu beleuchten. Daher haben auch poetisch gestaltete Texte immer ihren Ausgangspunkt in der gesprochenen Alltagssprache bzw. referieren auf diese. Für alle Schreibweisen gilt: Inhaltliches wird nicht lediglich durch Formales unterstrichen, sondern die Bedeutung konstituiert sich immer auch in der sprachlichen Gestalt eines Theatertextes. Aus diesem Grunde sind linguistische Untersuchungen in der Kombination mit theaterwissenschaftlichen und literarischen Analysen unverzichtbar für das Erschließen von Theatertexten.

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6 Literatur 6.1 Primärliteratur Büchner, Georg (1837): Werke und Briefe. München/Wien 1984. Kokoschka, Oskar (1916): Mörder, Hoffnung der Frauen. In: Otto F. Best (Hg.): Expressionismus und Dadaismus. Stuttgart 1974, 177–185. Laucke, Dirk (2009): Der kalte Kuss vom warmen Bier. Stückabdruck in Theaterheute 07/09. Palmetshofer, Ewald (2009): faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete. Stückabdruck in Theaterheute 06/09. Rinke, Moritz (2007): Die Nibelungen. Siegfrieds Frauen. Die letzten Tage von Burgund. Reinbek bei Hamburg. Rinke, Moritz (2013): Wir lieben und wissen nichts. Reinbek bei Hamburg. s. o. Röggla, Kathrin (2008): worst case. Stückabdruck in Theaterheute 01/09. Stramm, August (1914): Kräfte. In: Ders.: Das Werk. Hg. v. René Radrizzani. Wiesbaden 1963, 205–249.

6.2 Sekundärliteratur Balme, Christopher (2014): Einführung in die Theaterwissenschaft. 5. neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin. Barthes, Roland (1974): Sade, Fourier, Loyola. Paris. Bayerdörfer, Hans-Peter (2007): Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung. In: Ders. (Hg.) (2007), 1–14. Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.) (2007): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas. Tübingen. Betten, Anne (1980): Der dramatische Dialog bei Friedrich Dürrenmatt im Vergleich mit spontan gesprochener Sprache. In: Ernest W. B. Hess-Lüttich (Hg.): Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft. Wiesbaden, 205–236. Betten, Anne (1985): Sprachrealismus im deutschen Drama der siebziger Jahre. Heidelberg. Betten, Anne (1987): Die Bedeutung der Ad-hoc-Komposita im Werk von Thomas Bernhard, anhand ausgewählter Beispiele aus ‚Holzfällen. Eine Erregung‘ und ‚Der Untergeher‘. In: Brigitte Asbach-Schnitker/Johannes Roggenhofer (Hg.): Neuere Forschungen zur Wortbildung und Historiographie der Linguistik. Festgabe für H. E. Brekle zum 50. Geburtstag. Tübingen, 69–90. Betten, Anne (1991): Der Monolog als charakteristische Form des deutschsprachigen Theaters der achtziger Jahre. Anmerkungen zu Thomas Bernhards und Herbert Achternbuschs dramatischer Schreibweise. In: Cahiers d’Etudes Germaniques 20, 37–48. Betten, Anne (1998): Thomas Bernhards Syntax: keine Wiederholung des immer Gleichen. In: Karin Donhauser/Ludwig M. Eichinger (Hg.): Deutsche Grammatik – Thema in Variationen. (Festschrift für Hans-Werner Eroms zum 60. Geburtstag). Heidelberg, 169–190. Betten, Anne (2002): Thomas Bernhard unter dem linguistischen Seziermesser: Was kann die Diagnose zum Werkverständnis beitragen? In: Martin Huber/Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Wissenschaft als Finsternis? Wien, 181–194. Betten, Anne (2005a): Monolog statt Dialog oder Dialog im Monolog? Zur Dialogtechnik Thomas Bernhards. In: Betten/Dannerer (Hg.), 27–45. Betten, Anne (2005b): Stilanalysen zur Literatursprache Thomas Bernhards. In: Dagmar Neuendorff/ Henrik Nikula/Verena Möller (Hg.): Alles wird gut. Beiträge des Finnischen Germanistentreffens 2001 in Turku/Åbo, Finnland. Frankfurt a. M., 13–29.

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V. Textrezeption

Andreas Gardt

23. Interpretation Abstract: Interpretation ist die Darlegung von Bedeutung und intendierter Wirkung eines Textes oder multimodalen Zeichenverbundes. Dabei verläuft das Interpretieren als intentionaler Vorgang regelgeleitet, das Verstehen als der erste kognitive Zugriff auf den Text dagegen nicht. Für eine Reihe von textbezogen arbeitenden Disziplinen war und ist die Formulierung solcher Regeln des Interpretierens von größter Bedeu­ tung: Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaft sowie Literatur- und Sprachwis­ senschaft. Entgegen unserer alltäglichen Redeweise ‚haben‘ Texte keine Bedeutung, sondern Bedeutung wird vom Interpretierenden am Text gebildet. Interpretieren ist daher ein konstruktiver Akt. Damit ist die Frage nach der Wahrheitsmöglichkeit, der Objektivi­ tät von Interpretation gestellt. Eine solche Objektivität wird von den meisten der in den Textdisziplinen verbreiteten Theorien negiert, von der Hermeneutik bis zu den (de-)konstruktivistischen Ansätzen. Zugleich soll durch methodische Vorgaben der Beliebigkeit des Interpretierens begegnet werden. Da Texte emergente (ganzheitliche) Größen sind, sind die Arten der Bedeutungskonstitution ausgesprochen komplex, wobei die Unterschiede zwischen Gebrauchstexten und literarischen Texten signifi­ kant sind. Das gilt auch für den Autor dieser Texte als Referenzpunkt für die Interpre­ tation. Die neuere Sprachwissenschaft hat Verfahren der textsemantischen Analyse entwickelt, die, vor dem Hintergrund der pragmatisch-kommunikativen Einbettung von Texten, deren Makro- und Mikrostrukturen beschreiben, dabei auf punktuelle wie auch flächige Formen der Bedeutungskonstitution zugreifen. 1 Interpretation und Verstehen 2 Interpretation als konstruktiver Akt 3 Der Text als Gegenstand der Interpretation 4 Interpretation und Autor 5 Methoden der Interpretation 6 Literatur

1 Interpretation und Verstehen Das Erfahren von Bedeutung im Umgang mit Texten, zumal mit literarischen Texten, wird häufig mittels Begriffen wie Interpretation, Verstehen, Erklären, Analyse, Auslegung, Deutung usw. beschrieben. Gelegentlich werden diese Ausdrücke synonym ver­ wendet, oft aber werden zwei von ihnen einander gegenübergestellt. Der damit ange­ zeigte Unterschied ist zumeist sowohl einer der zeitlichen Abfolge als auch einer der DOI 10.1515/9783110297898-023

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kognitiven Orientierung des Lesers. Dabei wird ein erstes, intuitives Bewusstwerden von Bedeutung im Lektürevorgang von einem sich zeitlich anschließenden, absichts­ vollen Erschließen von Bedeutung abgehoben. Am Beispiel des Begriffspaares Verstehen und Interpretation formuliert: Das Verstehen stellt sich mehr oder weniger auto­ matisch ein, das Interpretieren dagegen ist intentionales Handeln des Rezipienten. In den textanalytisch arbeitenden Wissenschaften begegnet diese Dichotomie häufig (z. B. Bühler 2003a, 4 u. 2003b, 116; Ineichen 1991, 17; Fix 2007; Biere 2007; vgl. auch Busse 1992, 187 ff.; die Ausführungen in diesem Beitrag orientieren sich in Teilen an Gardt 1998, 2002, 2012, 2013, [demn.]). Betrachtet man die Begriffe im soeben dargelegten Sinne, dann verläuft das Interpretieren als intentionaler Vorgang regelgeleitet, das Verstehen dagegen nicht. Ein Rekurs auf ein unbewusstes Anwenden von Regeln beim Verstehen, etwa der Art ‚Suche nach dem Prädikat des ersten Satzes!‘  – ‚Suche nach seinen Ergänzungen!‘ usw. wäre weder überzeugend noch belegbar. Hier ist die Kategorie des mentalen background, wie sie von John Searle (1987) verwendet wird, hilfreich: Was wir zum Verstehen kognitiv als Voraussetzung mitbringen müssen, ist im background aufge­ hoben. Selbst wenn wir eine Fertigkeit wie z. B. das Sprechen einer Fremdsprache durch Regeln erlernt haben, gehen diese Regeln ab einem bestimmten Zeitpunkt des Beherrschens dieser Fertigkeit in den background über. Wenn wir als deutsche Muttersprachler nach Jahren der Übung fließend Französisch sprechen, wenden wir keine Regeln mehr dezidiert an, sondern wir sprechen einfach Französisch. Analo­ ges gilt für den Vorgang des Verstehens, wobei wir – im Gegensatz zum Erwerb einer Fremdsprache  – das muttersprachliche Verstehen eben nicht oder kaum explizit regelgeleitet lernen mussten. Zugleich können wir aber auf Aufforderung die Einzelheiten unseres Sprechens oder Verstehens im Nachhinein darlegen, d. h. wir können erklären, wieso wir gerade diese oder jene grammatische Struktur verwendet haben oder warum wir eine bestimmte Textstelle so und nicht anders verstanden haben. Wir können es dann umso besser, wenn wir entsprechend geschult sind, wenn wir die betreffende Fer­ tigkeit tatsächlich über explizite Regeln und nicht durch reine Imitation einer Praxis erlernt haben. Für die Rezeption von Texten bedeutet das eine Annäherung von Ver­ stehen und Interpretieren: Das intuitive Verstehen wird in dem Maße zum Interpre­ tieren, in dem der praktische Umgang mit dem Text und die ihn motivierenden kog­ nitiven Abläufe darlegbaren Regeln folgen. Unter Einbeziehung des Wissensbegriffs: Interpretierenkönnen basiert sowohl auf prozeduralem Wissen, ist also ein Knowhow, als auch auf deklarativem Wissen, und je ausgeprägter die Anteile des letzteren sind, desto besser kann es explizit gemacht werden. Für eine Reihe von textbezogen arbeitenden Disziplinen war und ist die Formulie­ rung von Regeln des Interpretierens von größter Bedeutung: Philosophie, Theologie, Rechtswissenschaft sowie Literatur- und Sprachwissenschaft. Für die Theologie, die Rechtswissenschaft und die Literaturwissenschaft sind die primären Bezugstexte – in der katholischen und evangelischen Theologie die Bibel, in der Rechtswissen­

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schaft das vom Gesetzgeber vorgegebene Corpus der Gesetzestexte, in der Literatur­ wissenschaft der Werkkanon – konstitutiv für die jeweilige Disziplin. Häufig haben die Interpretationen dieser Texte normativen Charakter und in den beiden erstge­ nannten Fällen damit auch unmittelbare Folgen für das gesellschaftliche Leben. Mit Ausnahme der Sprachwissenschaft haben die Disziplinen, z. T. über Jahrhunderte hinweg, eigene Hermeneutiken, Auslegungslehren entwickelt. Im deutschsprachigen Raum wird eine frühneuzeitliche theologische Hermeneutik bzw. Exegese durch eine juristische und eine z. T. auch auf literarische Texte bezogene philosophische Her­ meneutik ergänzt, in je epochenspezifischer und theoretischer Ausprägung. Dabei fungiert die Hermeneutik zum Teil unmittelbar als Methodenlehre zur Bedeutungs­ erschließung, gewinnt daneben später aber, etwa durch Martin Heidegger, die grund­ legende Aufgabe einer „existentiale[n] Analytik des Daseins“ (Heidegger 1979, 37): Verstehen wollen und müssen ist dem Menschen grundsätzlich eigen, auch dort, wo es nicht um Texte geht. In der Sprachwissenschaft gab es erste Ansätze einer Theorie der Interpretation vor allem im russischen und tschechischen Strukturalismus (insbesondere im Umfeld der Prager Schule, zu der u. a. Roman Jakobson zählte), deutlicher dann mit dem Auf­ kommen der Textlinguistik und einer pragmatischen Stilistik in den sechziger Jahren. Das lange Ausbleiben solcher Ansätze hing zum einen mit der Orientierung der Lin­ guistik am Sprachsystem zusammen, das mit dem Satz als größter Einheit als abge­ schlossen galt. Aus dieser Orientierung an der Langue ergab sich auch das Interesse am Musterhaften der Sprache und des Sprechens: Die spezifische Äußerung eines Sprechers bzw. der singuläre Text eines individuellen Autors interessierten nicht als solche, sondern lediglich in ihrem Beitrag zur Konstitution des Sprachsystems. Mit der Entwicklung der Textlinguistik gerieten auch individuelle Texte (und, in der Folge, auch Textsorten, Texttypen, Vertextungskonventionen usw.) vermehrt in das Blickfeld der Linguisten, und die pragmatische Wende in der Sprachwissenschaft ermöglichte die Analyse von Musterhaftem im historischen und aktuellen Sprachge­ brauch, über den Satz hinausweisend zum Text und bis in den Diskurs hinein. Hinzu kommt, dass die Systemlinguistik seit der Zeit der Junggrammatiker in Teilen von einem Verständnis von Sprache und Sprachwissenschaft getragen war, das sich an einem eher naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal orientierte. Die kul­ turelle Dimension von Texten, ihre Rolle bei der Konstitution einer Lebenswelt, blieb zu großen Teilen unberücksichtigt. Das hat sich durch den geschilderten Wandel der Disziplin geändert, sodass in den letzten Jahren Forderungen nach einer linguistischen Hermeneutik (Hermanns 2003 u. Hermanns/Holly 2007), einer hermeneutischen Linguistik (Bär 2015), einer kulturspezifisch orientierten Textlinguistik (Fix 2011), einer kulturanalytischen Linguistik (Linke 2011), einem linguistischen Interpretieren (Gardt 2007) u. a. m. formuliert werden konnten. Die Begriffspaare deuten den Versuch an, das in der Hermeneutik begegnende Bewusstsein der kulturellen Dimension von Texten mit der methodischen Stringenz linguistischer Analyse zu verbinden.

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Wenn die Hermeneutik und die mit ihr einhergehenden Konzepte des Interpretie­ rens auch gerade in der Literaturwissenschaft stark präsent waren und sind, so wurde doch aus der Literaturwissenschaft auch Kritik laut. Diese Kritik umfasst Angriffe wie der Susan Sontags in ihrem Essay Against Interpretation (1964), in dem sie die in der zeitgenössischen Interpretationspraxis gängige Konzentration auf die Inhalte etwa literarischer Kunstwerke unter Vernachlässigung ihrer sinnlich erfahrbaren Form­ seite beklagt und resümiert: „In place of a hermeneutics we need an erotics of art.“ Besonders heftig wurden interpretatorische Positionen der Hermeneutik von Vertre­ tern des Dekonstruktivismus kritisiert, so von Jacques Derrida. Die Kritik wendet sich gegen den interpretatorischen Zugriff auf die eine Bedeutung eines Textes, auf sein vermeintliches Sinn-Zentrum, eine der Sprachlichkeit irgendwie enthobene ‚eigentli­ che Bedeutung‘, was aber die faktische Abwesenheit eines solchen „transzendenta­ len Signifikats“ (Derrida 1992, 424) ignoriere: Infolgedessen mußte man sich wohl eingestehen, daß es kein Zentrum gibt, daß das Zentrum nicht in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, daß es keinen natürlichen Ort besitzt, daß es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort, worin sich ein unendlicher Austausch von Zeichen abspielt. […] Die Abwesenheit eines transzendentalen Sig­ nifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendliche.

Eine solche zunächst texttheoretische Kritik gewinnt dort ideologiekritische Züge, wo im Verstehenwollen der Hermeneutik – etwa eines Hans-Georg Gadamer, wie er sie in Wahrheit und Methode (1960) darlegt  – ein Drang nach Vereinnahmung des semantisch Fremden gesehen wird. Das spezifisch Eigene des Textes werde ihm im Vorgang der interpretierenden Aneignung genommen, indem er in den Traditionszu­ sammenhang des Interpretierenden eingeordnet werde. Vor allem wo die zu verste­ henden Texte nicht aus der europäischen Tradition stammen, wird der Hermeneutik der Vorwurf gemacht, sie sei eine „nachkoloniale Fortsetzung des Kolonialismus mit den Mitteln der Theorie“, ein „mehr oder minder rücksichtsloser Versuch, die par­ tikulare westliche Sicht in illegitimer Weise zu universalisieren“ (Horstmann 1999, 429). Diese Kritik kann sich auf Friedrich Nietzsche berufen, der im Verstehenwollen letztlich eine „Form des Willens zur Macht“ erkennt (Nietzsche 1980, 114). Damit wäre der gesamte Vorgang der Erzeugung und der Rezeption von Texten im gesellschaftli­ chen Raum unter dem Gesichtspunkt der Etablierung und Sicherung von Macht zu sehen: Das Verfassen von Texten als Konstituenten gesellschaftlicher Diskurse dient in der Sicht von Autoren wie Michel Foucault (1973) ebenso der Durchsetzung von Machtinteressen wie auch, folgt man der zitierten Kritik, ihre hermeneutisch geleitete Rezeption. Tatsächlich können Texte und ihre Interpretationen dazu dienen (und tun es auch häufig), Positionen der Macht durchzusetzen und zu sichern. Das allerdings von jedem Akt des Verfassens eines Textes und einer jeden Interpretation zu behaupten, wäre nicht belegbar, würde auch jeder Erfahrung im Umgang mit Texten widerspre­ chen. Aufrechterhalten ließe sich ein solch ausgeprägter Ideologieverdacht nur dann,

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wenn man Kommunikation grundsätzlich als Ausdruck eines dem Menschen eigenen Dranges nach Dominanz begreifen würde: Jede Ansprache an den anderen, jedes Bemühen um Verstehen müsste dann als Ausdruck dieses Dranges begriffen werden. Jenseits einer solch extremen Position aber verdankt sich die (de)konstruktivis­ tische Interpretationskritik dem Wunsch, das interpretatorische Urteil über den Text nicht allzu schnell und allzu bündig zu fällen, sondern dem ‚Spiel der Signifikanten‘ Raum zu geben. Insofern das eine Warnung vor zu forscher An-Eignung des Fremden am Text ist, ist sie berechtigt. Der Wunsch allerdings, verstehen zu wollen, ist als solcher nicht hintergehbar, der „Sog nach Sinn“ (Hörmann 1976) führt zunächst einmal nicht zu einer sich unangemessen verengenden Perspektive, sondern ermög­ licht es dem Menschen zuallererst, sich in der Welt zu verorten. Die Alternative, Texte sozusagen semantisch brachliegen zu lassen, stellt sich nicht. Auch führt die Ablehnung der einen, ganz bestimmten Bedeutung als Resultat einer Interpretation keineswegs dazu, dass von den Kritikern keine alternativen Bedeutungsvorschläge unterbreitet würden. Vielmehr wird auch die Dekonstruktion und Negation dieser einen Bedeutung nahezu immer am Beispiel solch alternativer Lesarten vorgeführt. Und grundsätzlich gilt: Wer sich als Kritiker der Interpretation überhaupt öffentlich zu Wort meldet, spricht und schreibt, um gehört und verstanden zu werden.

2 Interpretation als konstruktiver Akt Dass Bedeutungen von Texten, die durch Interpretation gewonnen werden, diesen Texten nicht unabhängig von ihrer Realisierung durch den Interpreten eigen sind, ist ein Gemeinplatz wohl jeder aktuellen Texttheorie. Entgegen unserer alltäglichen Redeweise ‚haben‘ Texte keine Bedeutung, sondern Bedeutung wird ihnen in den Akten des Verstehens und der Interpretation zugewiesen. Diese Verschiebung von einer Sicht auf Texte als ‚Behältern‘ von Bedeutung entspricht dem gegenwärtigen konstruktivistischen Paradigma der Geistes- und Kultur-, auch der Sozialwissenschaf­ ten, begegnet aber auch schon zuvor. So betont, um nur zwei Beispiele zu nennen, das Konzept der Horizontverschmelzung in der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers (1960) das Zusammenkommen eines im Text angelegten Sinnhorizonts mit dem Vorwissen des Lesers, seinen Vor-Urteilen, und damit die bedeutungsgenerierende Leistung des verstehenden Subjekts. In der Literaturtheorie war es zum Beispiel die Rezeptionsästhetik, die die kognitive Eigenleistung des Rezipienten im Verstehensprozess hervorhob (Iser 1994, Jauß 1994). Tatsächlich aber zeigt sich bereits im Begriff des Sehe-Punkts des aufklärerischen Hermeneutikers Johann Martin Chladenius (1742) die Annahme vom subjektiv-perspektivischen Zugriff auf Texte. Damit ist zugleich die Frage nach der Wahrheitsmöglichkeit, der Objektivität von Interpretationen gestellt. Wenn sie durch den kognitiven Beitrag der Interpre­ tierenden einen notwendig subjektiven Anteil haben, ist Objektivität ausgeschlos­

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sen. Erkenntnistheoretisch entspricht dieser Auffassung eine noch weitergehende, grundlegende Skepsis hinsichtlich des Abbildcharakters von Sprache. Schon in der Frühen Neuzeit wurden Stimmen laut, die in den sprachlichen Kategorien Perspekti­ ven eingeschrieben sahen, die uns die Welt entlang der grammatischen und lexika­ lischen Konturen der Einzelsprachen erkennen lassen. Anfang des 17. Jahrhunderts hatte Francis Bacon diese Überzeugung bereits pointiert in die Formulierung „Verba […] res secant“ gefasst (Bacon 1620, Aphorismus 59), und der Gedanke einer sprach­ lichen Gliederung der Dinge hält sich in unterschiedlichen Graden der Zuspitzung bis in den Konstruktivismus der Gegenwart. Am weitestgehenden wird diese Position aktuell von Vertretern des Radikalen Konstruktivismus eingenommen, der jede Mög­ lichkeit einer objektiven Welterkenntnis, sei sie sprachlich oder anders vermittelt, ausschließt: Alle unsere Bilder von der Realität seien lediglich „Als-Ob-Fiktionen“ (Schmidt 1988, 75), eine „‚korrekte‘ Abbildung der Realität“ (von Glasersfeld 1997, 43; Hervorh. im Original) sei nicht möglich. Eine Theorie der Interpretation muss sich diesem Problem stellen. Einerseits ist offensichtlich, dass uns die Wirklichkeit zu einem großen Teil erst als sprachlich ver­ fasste kognitiv verfügbar ist: Nahezu jede Beschreibung von Welt, jedes Aushandeln von Positionen greift auf sprachliche Zeichen zurück. Hinzu kommen die subjekti­ ven, perspektivisch gebundenen Spracherfahrungen, die unser Reden und Verstehen leiten. Aus dem Fehlen eines dieser sprachinhärenten und individuellen Perspektivi­ tät völlig enthobenen Bezugspunktes aber zu schließen, eine jede Interpretation eines Textes sei so gut oder so schlecht wie jede andere, sei in gleichem Maße angemessen, gelungen, treffend oder eben unangemessen, verfehlt usw., wäre unangebracht. So wissen wir aus unserer Erfahrung, dass Texte die Welt sehr wohl ontologisch treffend beschreiben können. Wer z. B. mittels einer Wegbeschreibung an den gewünschten Ort gelangt, macht eben diese Erfahrung, eine Erfahrung, die von der Einsicht in die Perspektivität der Sprache und unseren Umgang mit ihr nicht aufgehoben werden kann. Und wie Texte ihren Gegenstand treffend oder eben auch weniger treffend dar­ zustellen vermögen, können auch Interpretationen einen Text mehr oder weniger treffen. Um einem „interpretative[n] Sichtreibenlassen“ (Eco 1987, 39) vorzubeugen, gibt es daher zahlreiche Anleitungen, Sammlungen von Methoden des Interpretie­ rens (dazu s. u. Punkt 5). Da sich aber die interpretierenden Subjekte in ihren VorUrteilen, mit denen sie dem Text begegnen, stets unterscheiden, wird immer wieder der Text selbst zu dem Faktor, der diesem Treibenlassen Einhalt gebieten soll. In der Materialität seiner sprachlichen Struktur wird oft eine Art von semantischer Subs­ tanz erkannt, die den Interpretierenden lenken soll. Selbst Vertreter der Rezeptions­ ästhetik, die den schöpferischen Beitrag des Interpreten im Rezeptionsvorgang stark betonten, sahen dem Rezipienten „eine bestimmte Textstruktur vorgegeben, die ihn nötigt, einen Blickpunkt einzunehmen, der die geforderte Integration der Textpers­ pektiven herzustellen erlaubt“ (Iser 1976, 62). Diese textuelle Nötigung soll sowohl ein erstes Verstehen als auch eine gezielte Interpretation in ‚angemessene‘ Bahnen lenken. Dass die Auslegung eines Textes sogar eindeutig richtig oder falsch sein

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kann, gestehen wir im kommunikativen Alltag durchaus zu, zumal dann, wenn es sich um Gebrauchstexte handelt. Einer konstruktivistischen Texttheorie steht dann eine – im sprach- und erkenntnistheoretischen Sinne – realistische Auslegungspraxis gegenüber, eine Spannung, die bei bestimmten Arten von Texten deutlicher zutage tritt als bei anderen, allen voran bei literarischen Texten.

3 Der Text als Gegenstand der Interpretation Texte sind emergente, d. h. übersummative Einheiten, deren Gesamtbedeutung nicht aus den Bedeutungen der sie konstituierenden Komponenten additiv erschlossen werden kann. Vielmehr semantisieren sich die einzelnen Komponenten  – die Fle­ xions- und Wortbildungsmorpheme, lexikalischen Einheiten, Phraseologismen, syntaktischen und transphrastischen Konstruktionen, textstrukturierenden Kompo­ nenten usw. – gegenseitig, entlang und entgegen der äußeren linearen Struktur des Textes. Die dabei evozierte Bedeutung ist im Text sowohl punktuell als auch flächig präsent (dazu s. u. Punkt 5). Wie ein emergentes Phänomen als Ganzes Eigenschaften besitzt, die seine ein­ zelnen Komponenten nicht aufweisen (wie etwa die Eigenschaft von Wasser, flüssig zu sein, nicht bereits eine Eigenschaft seiner Komponenten Sauerstoff und Wasser­ stoff ist), so entsteht auf der Makroebene von Texten im Vorgang der Rezeption etwas semantisch und pragmatisch qualitativ Neues. Der Hinweis auf den Rezeptionsvor­ gang ist wichtig, da die Behauptung der wechselseitigen Semantisierung der Textkom­ ponenten lediglich eine Redeweise ist, da es natürlich immer die Rezipienten sind, die die Bedeutung am Text bilden, wenn auch stimuliert durch dessen Komponenten. Der Vorgang dieser Bedeutungsbildung wird sowohl traditionell als auch in aktu­ ellen Theorien als eine Bewegung zwischen dem kognitiven Entwurf eines Ganzen (des Ganzen eines Satzes, einer Passage, eines längeren Abschnitts, schließlich des Textes) und der kognitiven Erfassung der einzelnen Textkomponenten beschrieben. Die Komponenten verleihen diesem Entwurf erst seine Konturen, sind ihrerseits aber nur vor dem Hintergrund des Entwurfs vom Textganzen verständlich. In Ansätzen ist diese Sicht bereits in dem antik-rhetorischen Bild von caput und membra eines Textes (seinem Haupt und seinen Gliedern) angelegt, ebenso wie in der theologi­ schen Hermeneutik, etwa eines Matthias Flacius Illyricus aus dem 16. Jahrhundert, wenn er ausführt, dass man die Textteile – also die einzelnen Wörter und Sätze – nur vor dem Hintergrund des Leitgedankens des gesamten Textes (summa, argumentum) verstehen könne. Die philosophische Hermeneutik schließlich fasst genau das unter ihren Begriff des hermeneutischen Zirkels vom Ganzen und vom Teil, und die kog­ nitivistische Forschung spricht von einem Verstehen als Bewegung bottom up (von den Komponenten des Textes zum Ganzen) und top down (vom Textganzen zu den Komponenten) (vgl. Ungerer/Schmid 2006, Kintsch 2002).

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Beim Interpretieren geht es darum, diese im Verstehensprozess in der Regel automatisch ablaufenden Prozesse zumindest in Teilen bewusst zu gestalten und so kontrollierbar zu machen. Dabei sieht sich der Interpretierende mit verschiedenen semantischen Ebenen in einem Text konfrontiert. Wenn es etwa in Kafkas Verwand­ lung heißt, eines Morgens fand sich Gregor Samsa „zu einem ungeheueren Ungezie­ fer“ verwandelt, dann wird damit auf einer ersten Ebene des Bedeutens ausgesagt, dass ein gewisser Gregor Samsa eines Morgens seine Verwandlung in ein ungeheures Ungeziefer festgestellt hat. Kein Interpret aber wird es bei dieser Feststellung belas­ sen, sondern fragen, was diese Verwandlung ihrerseits nun ‚bedeute‘. Damit greift er auf eine zweite semantische Ebene des Textes zu, die meist als die Ebene des ‚eigentlich Gemeinten‘ gilt. Dabei kann er unterschiedliche Größen als gestaltende Kraft dieser zweiten Ebene annehmen, den Autor, den Text als von der Autorenin­ tention zu lösende, gleichwohl in Traditionszusammenhänge eingebettete Entität, oder wieder eine andere Größe. Um die beiden Bedeutungsebenen zu unterschei­ den, wird gelegentlich das Begriffspaar von Bedeutung und Sinn verwendet (das aber nicht zu verwechseln ist mit dem gleichen Begriffspaar in der Sprachphilosophie Gottlob Freges). Das Verhältnis der beiden Größen wäre allerdings zu mechanistisch beschrieben, würde man den Sinn z. B. eines Wortes in einem Text lediglich als eine Auswahl aus dem ihm jenseits des aktuell vorliegenden Textes eigenen Bedeutungs­ potential (seiner Langue-Bedeutung) betrachten (so de Beaugrande/Dressler 1981, 88). Häufig trifft das sicher zu – ist z. B. in einem Sachtext von dem Flügel einer Amsel die Rede, dann lässt sich die hier relevante Bedeutung von Flügel durchaus als kon­ textuell bestimmte Auswahl aus einem recht genau umrissenen Bedeutungspotential beschreiben, zu dem auch ‚Musikinstrument‘, ‚Gebäudeteil‘ usw. gehören –, oft aber nicht. Um beim Beispiel des Kafka-Textes zu bleiben: Was immer ein Interpret zur Bedeutung von „Ungeziefer“ äußern mag, wird auf einem metaphorischen Verständ­ nis des Ausdrucks basieren und keine Auswahl aus seinem nicht-metaphorischen entomologischen Bedeutungspotential darstellen. Zu seiner Bedeutungsbeschrei­ bung des Ausdrucks gelangt der Interpret, indem er die einzelnen Komponenten des Textes im oben geschilderten Sinne zueinander in Beziehung setzt, ihre gegenseitige Semantisierung zulässt. Dass er dies tut, hängt auch mit der Textsorte zusammen. Die Unterscheidung in zwei semantische Ebenen ist charakteristisch für den Umgang mit literarischen Texten. Ein hinreichendes Kriterium zur Bestimmung von Literarizität stellt die Unterscheidung allerdings nicht dar, da sie auch im Alltag des Sprechens begegnet, wo jeder indirekte Sprechakt auf dieser Unterscheidung basiert: Die Äußerung Es wird dunkel z. B. ‚bedeutet‘ – wird sie am Ende eines Tages vorgebracht –, dass das Tageslicht abnimmt; ‚eigentlich gemeint‘ aber könnte sein, dass jemand das Licht im Raum anschalten möge. Was bei indirekten Sprechakten mittels ihrer Illokution jeweils ‚eigentlich gemeint‘ ist, ergibt sich, wie bei literarischen Texten, aus dem Kontext, doch ist beim alltäglichen Sprechen und ebenso in Gebrauchstexten dieser Kontextbezug weitgehend automatisiert, d. h. der Spielraum der Bedeutungszuwei­

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sung ist für den Rezipienten sehr gering. Anders formuliert: Wenn in einer alltägli­ chen Gesprächssituation bestimmte Rahmenbedingungen für den Sprechakt Es wird dunkel erfüllt sind (abnehmende Helligkeit, Verfügbarkeit einer alternativen Licht­ quelle), wird der Wechsel von der ersten Bedeutungsebene zur zweiten – im gewähl­ ten Beispiel also zur Aufforderung, das Licht anzuschalten – ohne weitere Reflexion vollzogen, kein Rezipient wird eine komplexere, gar auf etwas Transzendentes ver­ weisende Bedeutung in der Äußerung erkennen. Im literarischen Text dagegen sind solch gängige Rahmenbedingungen oft gar nicht benennbar, sondern müssen aus der textuellen Umgebung, aus dem Zusammenhang des individuellen Werks erschlossen werden. Als letzte Zeile eines Gedichts etwa könnte Es wird dunkel Anlass zu Bedeu­ tungszuweisungen geben, die sehr wohl ins Transzendente reichen. Die Unterscheidung in mehrere semantische Ebenen ist in den jeweiligen Text­ disziplinen zum Teil kanonisiert. In der exegetischen Tradition der römischen Kirche etwa wurde zwischen vier sensus unterschieden (vgl. Brinkmann 1980). Dem sensus literalis stehen drei sensus spirituales gegenüber: sensus allegoricus, sensus moralis bzw. tropologicus und sensus anagogicus. Die Ebene der wörtlichen Bedeutung wird ergänzt durch eine Ebene der allegorischen Bedeutung, die die Glaubensinhalte ver­ mittelt, eine Ebene der moralischen Bedeutung, die das richtige Handeln lehrt, und eine Ebene der heilsgeschichtlichen, auf das Jenseits verweisenden Bedeutung. Die juristische Hermeneutik unterscheidet unter anderem eine grammatische Auslegung, die auf die sog. wörtliche Bedeutung (den Wortlaut) abhebt, von einer systematischen, den weiteren Kontext eines Gesetzes einbeziehenden Auslegung, ferner eine die Ent­ stehungsgeschichte des Gesetzes berücksichtigende historische Auslegung und eine teleologische Auslegung, die nach dem Zweck des Gesetzes fragt (vgl. Larenz 1991). Die hier begegnenden Dimensionen der Bedeutung lassen sich weiter differen­ zieren, nimmt man die am Prozess der Entstehung und Rezeption beteiligten Fak­ toren systematisch in den Blick, insbesondere Autor und Rezipienten. So werden in einer theologischen Überblicksdarstellung (Oeming 1998) 17 Auslegungsverfahren unterschieden, von der Historisch-kritischen Exegese und der New Archeology zur Tiefenpsychologischen oder zur Befreiungstheologischen Exegese. Ebenso viele Aus­ legungsarten begegnen in einer neueren Darstellung systematischer Natur, die aus philosophischer Perspektive erstellt wurde, sich aber auf Texte unterschiedlicher Dis­ ziplinen bezieht, von der Interpretation als dem Erschließen nicht explizit geäußerter Gedanken einer Person bis zur Interpretation als Anwendung (Bühler 2003b). In allen Fällen zielen die interpretatorischen Bemühungen auf Texte, die aus dem alltäglichen Gebrauchszusammenhang herausgehoben sind. Dabei vollzieht sich der Zugriff des Interpreten gerade bei literarischen Texten – im Folgenden sollen sie wieder im Vordergrund stehen  – oft über die textuelle Oberfläche, über ihre sprachliche Gestalt. Die spezifisch literarische Qualität des Textes wird dann als in dieser Oberfläche angelegt gesehen. Dass es literaturspezifische Erscheinungen des Andersschreibens gibt (Fix 2012; grundlegend zum Unterschied zwischen literarischer Sprache und Alltagssprache s. Fix 2013; zur Entwicklung der deutschen Literaturspra­

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che, auch unter dem Gesichtspunkt von Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit, s. Betten 2004 u. 2009), im Sinne einer gezielten Abweichung von etablierten Normen, steht außer Frage. Allerdings darf stilistische Virtuosität nicht mit Poetizität gleichgesetzt werden, ein Gedanke, der jedoch immer wieder begegnet, auch in Roman Jakobsons Bestimmung einer poetischen Funktion der Sprache, die er insbesondere an lautli­ chen Phänomenen (Metrum, Reim usw.) illustriert (Jakobson 1971). Literarische Texte können tatsächlich ein extremes Spektrum sprachlicher Gestaltungsmittel aufwei­ sen und sich aus sämtlichen Varietäten einer Sprache bedienen, sodass die Sprache der Literatur keine Varietät unter anderen darstellt, sondern als einzige sprachliche Erscheinungsform die „totale Sprache“ umfasst (Coseriu 1981, 110): „Jedes sprachli­ che Mittel kann literarisch gebraucht werden“ (Betten/Fix/Wanning 2015, 455), und jedes sprachliche Mittel ist am Prozess der Bedeutungsbildung im Text beteiligt, sodass auch jedes sprachliche Mittel zum Gegenstand der Interpretation werden kann. Keineswegs aber gilt das nur für stilistisch experimentelle Mittel, auch ganz und gar normsprachliche Formen – das Beispiel Es wird dunkel illustriert es – werden im literarischen Text interpretatorisch anders behandelt als in Gebrauchstexten. Die Entscheidung darüber, ob eine sprachliche Form in einem Text als im Sinne der Prager Schule deautomatisiert gelten kann, indem sie als eine wahrgenommen wird, die aus der Oberfläche des Textes als ungewöhnlich herausragt (was die englische Überset­ zung foregrounding gut vermittelt), wird also mindestens ebenso sehr von der Rezep­ tionshaltung beeinflusst wie vom Verhältnis dieser Form zur sprachlichen Norm. Der freiere Umgang in der Frage der Bedeutungszuweisung, wie ihn literarische Texte meist erfahren, ist gesellschaftlich legitimiert. Das gilt selbst für Gesellschaften, die die individuelle Freiheit des Rezipienten aus ideologischen Gründen einschrän­ ken, indem sie sozusagen offizielle Interpretationen mehr oder weniger verordnen. Denn auch dort, wo das der Fall ist, wird der literarische Text nicht auf seine Wört­ lichkeit reduziert, wird Kafkas Rede vom „Ungeziefer“ nicht als Teil eines entomo­ logischen Berichts verstanden. Die Feststellung aber, dass wir uns in der Rezeption literarischer Texte eine wilde Semiose leisten können (Assmann 1995), also bei der Materialität des Zeichens verweilen können, ohne sie sogleich zugunsten einer stan­ dardisierten Bedeutung hinter uns zu lassen, wirft erneut die Frage nach der Ver­ bindlichkeit von Interpretationen auf. Dabei zeigt die Art und Weise des Umgangs des Interpreten mit dem literarischen Text eine für Texte dieser Art charakteristische Form der Zurückhaltung bei der Bezugsetzung des Texts zu den Größen, zwischen denen er als sprachliches Zeichen eingebunden ist: dem Autor, den Gegenständen und Sachverhalten der Wirklichkeit und den Rezipienten. Diese drei Faktoren finden sich in zahlreichen Modellen der Kommunikation sowie der Sprach- und Textfunk­ tionen seit der Antike, von Platons Vorstellung der Sprache als Organon im Kratylos bis zu dem vielzitierten Modell Karl Bühlers (Bühler 1934) oder seiner Modifizierung durch Roman Jakobson (Jakobson 1971) und begegnen auch in den Begriffen der intentio auctoris, intentio operis und intentio lectoris. Gebrauchstexte gelten meist als sehr eindeutig als auf diese Faktoren ausgerichtet. Wer in einem Sachbuch z. B. liest, Paris

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sei die Hauptstadt Frankreichs, wird  – jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils  – annehmen, dass der Verfasser eben diesen Sachverhalt habe zum Ausdruck bringen wollen, wird weiter annehmen, dass Paris tatsächlich die Hauptstadt Frankreichs ist, wird schließlich annehmen, dass der Verfasser mit seiner Äußerung bewusst oder unbewusst auf eine mehr oder weniger klar umrissene Gruppe von Rezipienten zielt (die z. B. deutsche Texte eines bestimmten Niveaus lesen kann; die weiß, was eine Hauptstadt ist, usw.). Auch literarische Texte stehen in diesen Bezügen, doch werden sie interpretato­ risch so behandelt, als seien die Bezüge nur indirekt gegeben, als seien sie ‚aufgeho­ ben‘, im Hegel’schen Sinne des Wortes: auf der Oberfläche getilgt (wie z. B. ein Verbot aufgehoben werden kann), aber auf einer höheren Ebene (wie z. B. ein Gegenstand vom Boden aufgehoben werden kann) bewahrt (wie man z. B. einen Gegenstand für jemand aufheben, d. h. für dessen künftiges Verfügen sichern kann). Der Text steht dann sehr wohl in Bezug zum Autor, zur Welt und zum Leser, aber eben nicht in der eindeutigen und umfassenden Weise, wie dies bei Gebrauchstexten üblicherweise der Fall ist. Genau daher nimmt der Rezipient literarischer Texte seine Berechtigung, interpretatorisch freier mit ihnen zu verfahren. So kann er in ein und demselben Text zwischen Faktizität und Fiktionalität unterscheiden: In Patrick Süskinds Roman Das Parfüm z. B. handelt es sich bei dem dort erwähnten Cimetière des Innocents um einen tatsächlich vorhandenen Pariser Friedhof, während die Figur des Protagonisten Gre­ nouille, der in dem Roman als in der Nähe des Friedhofs geboren beschrieben wird, fiktiv ist. Auch ist es dem Interpreten anheimgestellt, der Wahl des Geburtsortes eine metaphorische Bedeutung zuzusprechen. Nicht zuletzt dieses Spiel zwischen seman­ tischer Bestimmtheit und Offenheit macht den interpretatorischen Umgang mit lite­ rarischen Texten reizvoll. Die Tatsache, dass literarische Texte nicht in einer 1:1-Relation zur Wirklichkeit aufgehen, bedeutet jedoch nicht, dass Sie nicht wahrheitsfähig sind und dass ihre Interpreten sie nicht auf ihre Wahrheit hin befragen können. Formulierungen der Art, ein Autor vermittle ‚tiefgreifende Einsichten‘ in die Verfasstheit z. B. des gesellschaft­ lichen Lebens in einem bestimmten Raum und zu einer bestimmten Zeit oder er schil­ dere zwischenmenschliche oder andere Zusammenhänge ‚absolut treffend‘, sind in Kommentaren zu literarischen Werken durchaus gängig. Damit ist nicht das auf der semantischen Oberfläche der Texte Bedeutete gemeint, sondern eben das ‚eigentlich Gemeinte‘ der zweiten semantischen Ebene.

4 Interpretation und Autor Die Rolle des Autors für das Verständnis eines Werks wird in der Theorie und Praxis des Interpretierens unterschiedlich beurteilt, nicht zuletzt in Abhängigkeit von der Textsorte. Für Texte des alltäglichen Gebrauchs sind die Verhältnisse klar: Wir erken­

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nen den Autor als semantische Autorität an. Verstehen wir etwas an seinem Text nicht, dann erscheint er uns als idealer Bezugspunkt unserer Rückfrage. Die intuitive Annahme, der Autor wisse über die Bedeutung seines Textes besser Bescheid als jeder andere, deckt sich auch mit dem pragmatischen Verständnis von Sprache und Texten. Beiden wird als zentrale Funktion die der Kommunikation zugesprochen: Sprache dient zuallererst dazu, Gemeinschaft zu sichern, die Rede ist immer intentional auf einen anderen gerichtet. Diese Überzeugung findet sich in zahlreichen sprachrefle­ xiven Äußerungen seit der Antike, wird insbesondere von der rhetorischen Tradition aufgegriffen und mündet in die moderne Pragmatik, für die z. B. Sprechakte, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, immer kommunikative Akte sind, weil ihre Illokutio­ nen stets das Gegenüber meinen. Texte gelten dann als kommunikativer Niederschlag der Intention ihres Autors, ihre Bedeutung als Ausdruck dieser Intention. Dabei nähern wir uns Texten mit einem grundsätzlichen semantischen Ver­ trauen, indem wir ihren Autoren unterstellen, dass sie in der Lage sind, sinnvolle Texte zu verfassen und es im Fall des uns aktuell vorliegenden Textes auch getan haben, jedenfalls solange wir keinen Anlass haben, daran zu zweifeln. Die Herme­ neutik spricht von aequitas hermeneutica, von hermeneutischer Billigkeit, auch vom Wohlwollensprinzip (charity principle), das unter anderem bereits Georg Friedrich Meier 1757 so fasste (§ 94, S. 49): Ein Ausleger, welcher willkührliche Zeichen auslegt, muß diejenige Bedeutung für hermeneu­ tisch wahr halten, welche so gut ist, so groß, reich an Inhalte, wahr, klar, gewiß und practisch, als es sich will thun lassen, bis das Gegentheil erhelle.

Der Text soll in der Rezeption im Hinblick auf seine Bedeutung so stark wie möglich gemacht werden. Dabei wird die Bedeutung auf den Autor zurückgeführt, wird als Ausdruck seiner kommunikativen Absicht, seines auktorialen Telos begriffen (§ 39, S. 20): Die hermeneutische Billigkeit (aequitas hermeneutica) ist die Neigung eines Auslegers, dieje­ nigen Bedeutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche, mit den Vollkommenheiten des Urhebers der Zeichen, am besten übereinstimmen, bis das Gegenteil erwiesen wird.

Die Identifizierung dessen, was wir am Text als Bedeutung konstruieren, mit der Intention des Autors ist jedoch keineswegs unproblematisch. So kennen wir alle bei Gebrauchstexten das Phänomen, dass dem Autor bei dem Versuch, einen Sachverhalt zutreffend darzustellen, schlicht ein Fehler unterlaufen sein kann: Seine Intention war die der korrekten Darstellung, die textuelle Realität ist eine andere geworden. Oder der Autor war zum Zeitpunkt der Niederschrift von Beweggründen geleitet, die ihm nicht bewusst gewesen sein mögen, aber ihren Niederschlag im Text gefunden haben und für uns als Rezipienten nun Teil seiner Bedeutung sind. In beiden Fällen ist der Autor nicht notwendigerweise der ideale Referenzpunkt für den Interpreten, denn es ist durchaus denkbar, dass er seinen Fehler oder den

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textuellen Niederschlag eines ihm Unbewussten nicht erkennt. Die Frage, wer nun mit größerer Autorität über den Text zu urteilen vermag, lässt sich nur mit Hinweis auf die Kompetenz beantworten. Dabei kann die muttersprachliche und fachliche Kompetenz der Leser der des Autors durchaus überlegen sein: Wenn eine hinsichtlich ihrer Kompetenz repräsentative Gruppe von Lesern in einer bestimmten Textstelle eine zur Schilderung eines Sachverhalts z. B. missverständliche oder unzureichende Formulierung erkennt, der Autor aber auf einer anderen Bedeutungsangabe beharrt und seine Intention im Text angemessen realisiert sieht, dann ist das Urteil der Leser ausschlaggebend. Die Leser werden sozusagen zu Experten, die im Sinne des consensus eruditorum ein angemessenes Urteil über die Bedeutung des Textes bzw. einer seiner Passagen fällen können. Aber auch dem Urteil eines einzelnen Interpreten, der diese Kompetenz für sich selbst in Anspruch nimmt, kommt nicht von vornherein ein geringerer Wahrheitswert als dem Urteil des Autors zu. In jedem Fall sind zunächst weitere Urteile einzuholen, sei es durch die Befragung anderer Leser, sei es durch den Rekurs auf einschlägige Fachliteratur. Entscheidend im hier interessierenden Zusam­ menhang ist: Die einem Interpreten bisweilen begegnende Frage, ob das, was er im Zuge seiner Interpretation behauptet, tatsächlich vom Autor so intendiert sei, greift nicht. Da die Intention des Autors nicht einfach mit der im Text realisierten Bedeu­ tung identifiziert werden kann, kann der Interpret als Beantwortung dieser Frage auf den Text selbst verweisen, in dem die von ihm beschriebene Bedeutung nun einmal realisiert sei, ganz gleich, ob dies das Resultat eines absichtsvollen Handelns des Autors gewesen sein mag oder aber nicht. In besonderem Maße gilt das bislang Festgestellte für literarische Texte. In der Theorie ihres Interpretierens war und ist die Position des Autors durchaus umstritten. So wurden Positionen formuliert, wonach der Interpret dann besonders erfolgreich arbeiten könne, wenn es ihm gelinge, eine besondere Nähe zum Autor herzustellen. Friedrich Schleiermachers Kategorie der divinatorischen Methode zielt eben darauf ab. Sie besteht darin, „daß der Ausleger sich in die ganze Verfassung des Schriftstel­ lers möglichst hineinversetzt“ (Schleiermacher 1876, 139). Nimmt man das hinzu, was zuvor über die Trennung von Autorintention und Textbedeutung festgestellt wurde – wobei bei literarischen Texten vor allem die Frage eine Rolle spielt, inwieweit das dem Autor Unbewusste sein Schreiben steuert –, dann liegt in der Konsequenz dieses Verfahrens, dass der Interpret den Text unter Umständen besser versteht als der Autor selbst, eine Annahme, die einen festen Platz in der Interpretationslehre hatte und hat. Ergänzt werden sollte, dass die Existenz des Phänomens ‚Empathie als Verste­ henshilfe‘, wie sie von Schleiermacher für den Interpreten gefordert wird, durch aktu­ elle Ergebnisse der hirnphysiologischen Forschung bestätigt zu werden scheint (vgl. Rizzolatti/Sinigaglia 2008; aus philologischer Perspektive Hermanns 2007). Solchen Positionen stehen Auffassungen gegenüber, die den Autor in seiner Indi­ vidualität für nahezu irrelevant für den Text erklären. Seine ihm seit dem Sturm und Drang zuerkannte Rolle als schöpferisches Originalgenie, das jenseits der Traditionen zu wirken vermag, wurde ihm vor allem in poststrukturalistischen Ansätzen abge­

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sprochen. Ihnen gilt er als Kreuzungspunkt unterschiedlichster Einflüsse und Tra­ ditionslinien, denen er mehr ausgesetzt ist, als dass er sie zu kontrollieren vermag. Seine Texte werden weniger als ästhetische Solitäre wahrgenommen denn als Kno­ tenpunkte in diskursiven Netzen, die aus anderen Texten hervorgegangen sind und in denen sich deren thematische und formale Linien kreuzen. So wird nicht der Autor, sondern der Text selbst zum Akteur seiner Entstehung: Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen ferti­ gen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahr­ heit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.

Roland Barthes, von dem dieses Zitat stammt (Barthes 1986, 94), erklärt den Autor konsequenterweise für tot (Barthes 1967), und Michel Foucault (1969) löst ihn gewis­ sermaßen in den Diskurs auf, der zur geschichtsmächtigen Kraft wird und die Texte hervorbringt. Das hat in zweifacher Hinsicht Folgen für die Interpretation. Zum einen ist der Rekurs auf den Autor und seine Intentionen bei Aussagen über den Text nun völlig unzulässig. Doch ändert sich auch der Text als Gegenstand der Interpretation. Als mehr oder weniger in sich ruhende Größe, die semantisch autark ist, ‚aus sich selbst heraus‘ Bedeutung schafft, ist er nicht mehr befragbar. Die Interpretation zielt daher nicht mehr auf Bedeutungen, die durch die textuellen Komponenten in ihrer wechsel­ seitigen Semantisierung evoziert werden, sondern konzentriert sich darauf, welche anderen Texte und Texttraditionen auf seiner Oberfläche und in seiner Tiefenseman­ tik Spuren hinterlassen haben, wieso der Text gerade den Gegenstand behandelt, den er behandelt, anstelle anderer, möglicher Gegenstände, wie seine semantischen Ränder, das in ihm nur Angedeutete und Mitbedeutete aussehen (im Gegensatz zu seinem vermeintlichen semantischen Zentrum), wie der gesellschaftliche Diskurs seine Gestalt prägt und ihm einen Platz im Netz der Texte zuweist usw. Dieser Tendenz zur Löschung des Autors und seiner auf den Text gerichteten Intention stehen seit einiger Zeit wieder Ansätze gegenüber, die eine Rückkehr des Autors (Jannidis u. a. 1999) favorisieren. Danach kann die Interpretation wieder die „auf der Basis gegebener Informationen als ‚nicht unmöglich‘ rekonstruierbare Absicht des Autors“ (Winko 1999, 39) in den Blick nehmen.

5 Methoden der Interpretation Die Disziplinen, die sich mit der Interpretation von Texten befassen, haben, wie bereits erwähnt, zahlreiche Darstellungen zu Methoden des Interpretierens gelie­

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fert. In den Philologien greifen diese Darstellungen traditionell auf die Begrifflich­ keit dieser Teildisziplinen zurück: Rhetorik, Stilistik, Textlinguistik, Lexikologie und Grammatik. In neuerer Zeit werden sie ergänzt durch die quantitative Linguistik und die kognitive Linguistik. Nicht selten begegnen einzelne Untersuchungskategorien in mehreren dieser Disziplinen, wie z. B. die Kategorien Anakoluth und Ellipse sowohl in der Rhetorik als auch in der Grammatik zu finden sind. Vor allem in der Literatur­ wissenschaft sind die Kategorien der Tropen- und Figurenlehre der Rhetorik nach wie vor fester Bestandteil des interpretatorischen Handwerks. Neben der Rhetorik ist es insbesondere die neuere, textsemantisch und pragmatisch orientierte linguistische Stilistik, die methodische Zugänge zur Interpretation von Texten aufzeigt (Fix/Gardt/ Knape 2008 u. 2009). Letztlich verdankt sich jede Methodenlehre der Interpretation dem Wunsch, der Vielschichtigkeit textueller Bedeutungsbildung mit Verfahren zu begegnen, die helfen, die Beliebigkeit interpretatorischer Aussagen zu begrenzen. In aktuellen sprachwissenschaftlichen Ansätzen geht es darum – dies zeigen die eingangs zitier­ ten Begriffe der linguistischen Hermeneutik und hermeneutischen Linguistik  –, die Stringenz linguistischen Arbeitens mit dem Bewusstsein der kulturellen Dimension von Texten zu verbinden (sehr differenziert dazu Bär 2015). Aus der Rechtswissen­ schaft kommend hatte Emilio Betti bereits in den fünziger Jahren des 20.  Jahrhun­ derts eine „an streng wissenschaftliche Standards gebunden[e] Hermeneutik“ gefor­ dert (Grondin 1991, 162), für die Sozialwissenschaften und, im Anschluss, auch für andere Disziplinen, hat Ulrich Oevermann eine Objektive Hermeneutik entwickelt (Oevermann 2002), und auch in der Literaturwissenschaft gab und gibt es zahlreiche Versuche, den Vorgang des Interpretierens methodisch zu lenken. Dabei lässt sich in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein deutlicher Einschnitt erkennen, bei dem der bis dahin dominanten geisteswissenschaftlichen Schule in der Prägung vor allem durch Wilhelm Dilthey, die noch einen Höhepunkt in der werkimmanenten Interpretation (Emil Staiger, Wolfgang Kayser und andere) hatte, strukturalistische Konzeptionen gegenübergestellt wurden, die von einem anderen Wissenschaftsver­ ständnis geprägt waren. Diese Entwicklung schlug sich unmittelbar in der analyti­ schen Begrifflichkeit nieder. So ist in Emil Staigers Die Kunst der Interpretation (1955) vom literarischen Text vor allem als Werk die Rede, über das Aussagen dieser Art gefällt werden (die kursiv gesetzten Ausdrücke sind dem Text entnommen, begegnen dort aber in anderer Flexion): das literarische Werk hat ein Wesen, es ist von eigentümlicher Schönheit, die uns ergreift; es kann vollkommen sein, stilistisch einstimmig, und es drückt Wahrheit aus; um all das in der Interpretation – die selbst eine Kunst ist – nachvollziehen zu können, ist die Kategorie der Kausalität nichtig, viel­ mehr ist das allersubjektivste Gefühl gefordert, ein reiches und empfängliches Herz, um den dunkel gefühlten Gehalt des Werks zu ergründen. Völlig anders wird das lite­ rarische Werk – nun konsequent als Text bezeichnet – z. B. in Helmut Hauptmeiers und Siegfried J. Schmidts Einführung in die empirische Literaturwissenschaft (1985) charakterisiert: literarische Texte sind Resultate eines funktionalen, kommunikativen

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Handelns, sie folgen gesellschaftlichen Ästhetik- und Polyvalenzkonventionen, ihre Bedeutungen sind Resultate kognitiver Operationen, dabei aber nicht als autonome Text-Eigenschaften existierend, sondern erst in der Zuschreibung durch Aktanten im Prozess der Rezeption; damit sind Texte kommunikative Handlungsspiele, deren Ver­ stehen durch das Abrufen von in Mustern organisierten, im Gedächtnis gespeicherten Typen von Wissen möglich wird. Parallel dazu wurde eine kritische Diskussion über diese Begrifflichkeit und den interpretatorischen Umgang mit dem literarischen Text geführt. So wurde der Vorwurf erhoben, die literaturwissenschaftliche Terminologie sei „kein Forschungs­ instrument“, die fachsprachlichen Ausdrücke seien lediglich „Allerwelts-Temini“ (Sławinski 1975, 71). Die Gegenposition konnte sich auf die letztlich auf Friedrich Schlegels Darlegung im 117. Lyceums-Fragment berufen, wonach „Poesie […] nur durch Poesie kritisiert werden [kann]“, die Beschreibungssprache also dem ästheti­ schen Gegenstand entsprechen müsse. Die Versuche, das Interpretieren analytisch präzise zu gestalten, konnten extreme Formen annehmen (Pasternack 1979, 221, zu Gerhard Hauptmanns Die Weber): Finalität und Prospektivität der handlungslogischen Struktur […] erfordern gesonderte semanti­ sche Manifestationen, vgl. folgende Deskriptionssätze der Strukturskizze: [R5 tr+6 g A/sz70.39 (R5 tsvp71.11)] und [R5 ts(vp71.11), (g A/sz71.12(vp71.18))] für die Struktur der Schlussereignisse des Dramas […].

Verfahren dieser Art spielen in der Methodologie der Interpretation keine Rolle mehr. Allerdings hat die digitale Erschließung von Texten neue Möglichkeiten der Analyse eröffnet, darunter die Stilometrie, die eine statistische Auswertung der sprachlichen Eigenschaften von Texten betreibt und so Rückschlüsse etwa auf die Autorschaft erlaubt (vgl. Oakes 2008). Vor allem in der Sprachwissenschaft haben sich Verfahren etabliert, mit deren Hilfe z. T. umfangreiche digitale Corpora von Texten semantisch erschlossen werden (vgl. Felder/Müller/Vogel 2011). Dabei kann es sich um Texte eines einzelnen Autors handeln oder um Ausschnitte aus einem Diskurs, was die Tex­ tanalyse zur Diskursanalyse hin öffnet. Auch wenn dadurch die klassische Situation der Interpretation, in der ein Leser sich mit einem einzelnen Text befasst, aufgeho­ ben ist, sind Diskursanalysen de facto Analysen von zahlreichen Einzeltexten (zum Konzept einer auf einen einzelnen Text gerichteten Diskursanalyse vgl. aber Fix 2015). Werden sie dabei elektronisch als Gesamtcorpus analysiert, dann treten die Einzel­ texte in ihrer Individualität zurück, und die interpretatorischen Aussagen beziehen sich auf einen ganzen Diskursausschnitt. Nicht selten aber werden in einschlägigen Arbeiten Verfahren der ‚händischen‘ Analyse von Einzeltexten mit solchen der quan­ titativen Linguistik kombiniert (vgl. z. B. Kalwa 2012). Eine andere Art der Ausweitung des interpretatorischen Umgangs mit Texten liegt in der Öffnung zur multimodalen Analyse (z. B. Klug/Stöckl 2015 u. Klug 2016).

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Dabei standen zunächst Text-Bild-Kombinationen im Vordergrund, die zunehmend durch Untersuchungen von Sprache im textuellen Verbund mit weiteren Zeichenmo­ dalitäten, wie Ton (Geräusch/Musik) oder Typographie, ergänzt werden. Eine solche Ausweitung rechtfertigt sich durch die Tatsache, dass Texte stets Teile übergeordneter kommunikativer Phänomene sind. Eine den Texten tatsächlich angemessene Inter­ pretation muss daher phänomenorientiert vorgehen, d. h. die Texte in ihrer konkreten lebensweltlichen Einbettung in den Blick nehmen, also so, wie sie den Kommuni­ kationsteilnehmern begegnen. Die pragmatisch ausgerichtete Textlinguistik arbeitet bereits in dieser Weise, wenn sie nach dem Verfasser eines Textes, seinen Lesern und der Situation seiner Einspeisung in den kommunikativen Fluss fragt, auch danach, ob dabei neben sprachlichen Anteilen auch modal andere eine Rolle spielen. Dabei können auch Textsequenzen in den Blick treten (z. B. die allmähliche Entwicklung eines Themas zwischen Texten innerhalb eines Kommunikationsraumes, vgl. Bartels 2015), die aber dann verborgen bleiben, wenn Texte in einem Corpus gebündelt werden und so ein zeitliches Nebeneinander anstatt der textuellen Chronologie mit den damit einhergehenden Formen der Intertextualität suggeriert wird. Auch Tradi­ tionen des Schreibens, die ihre Spuren in Texten hinterlassen haben und zugleich bedeutungskonstitutiv sind, besitzen für die Interpretation Relevanz; vor allem die romanistische Sprachwissenschaft befasst sich mit diesen Diskurstraditionen (vgl. Schrott 2015). Abschließend seien einige Methoden der Analyse von Texten genannt, wie sie insbesondere in neueren sprachwissenschaftlichen Arbeiten Verwendung finden (wobei die Rede von der Analyse im Unterschied zur Interpretation von Texten cha­ rakteristisch vor allem für sprachwissenschaftliche Arbeiten ist). Ausgangspunkt ist die eingangs getroffene Feststellung, dass alles an einem Text bedeutungskonstitutiv ist und Bedeutung in Texten aufgrund ihres emergenten Charakters durch die wech­ selseitige Semantisierung ihrer Komponenten, also auch entgegen der Linearität des Textverlaufs entsteht. Dabei erweist sich Bedeutung sowohl als punktuelles als auch als flächiges Phänomen und vor allem die komplexen Formen flächiger Bedeutungs­ bildung erfordern differenzierte Methoden der Interpretation bzw. Analyse. Damit ist nicht gesagt, dass eine rein intuitive Lektüre nicht ebenfalls zu interessanten Resul­ taten gelangen kann, doch wird diejenige Betrachtung, die textsemantische Intuition mit interpretativer Stringenz gelungen zu verbinden vermag, zu besonders guten Ergebnissen führen. Vorab seien die Kategorien der punktuellen und flächigen Bedeutungskonstitu­ tion kurz skizziert (die Formulierung folgt Gardt 2013). Bei punktueller Bedeutungskonstitution evozieren prototypischerweise einzelne (zumeist lexikalische) Textausdrücke oder Ausdruckskombinationen in einer Weise Bedeutung, dass der betreffende Ausdruck als semantisch relevant zumindest für den weiteren Kotext seines Vorkommens bewertet wird, häufig auch für eine größere Textpassage, in besonderen Fällen sogar für den gesamten Text. Ein Beispiel für den zuletzt genannten Fall ist die Verwendung des Ausdrucks „entartete Kultur“ durch

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den Kölner Kardinal Joachim Meisner, in einer Rede im September 2007. Durch die Assoziation mit der berüchtigten nationalsozialistischen Formulierung von der „ent­ arteten Kunst“ hat dieser punktuell verwendete einzelne Ausdruck die öffentliche Rezeption der gesamten Rede geprägt. Bei flächiger Bedeutungskonstitution entsteht der semantische Effekt durch die Gesamtheit der Bedeutung mehrerer Textelemente, ohne dass ein einzelnes dieser Textelemente bereits die erst über die Gesamtfläche des Textes entstehende Bedeu­ tung anzeigt. Nicht selten sind die Mittel flächiger Bedeutungskonstitution divergen­ ter und schwieriger zu identifizieren als die punktueller Bedeutungskonstitution. Wird z. B. ein Text insgesamt als ‚inhaltlich unklar‘, ‚unstimmig‘ wahrgenommen, dann kann dies an thematisch inkonsistent etablierten Wortfeldern liegen (durch die Verwendung von Ausdrücken, die sich nicht in ein einmal im Text etabliertes semantisches Feld einfügen), durch antithetische Propositionen (ohne argumenta­ tive Klärung der Antithesen), durch textdeiktisch unklare Anschlüsse usw. Erst in ihrer Gesamtheit lassen diese und andere sprachliche Konstituenten des Textes den erwähnten Eindruck der inhaltlichen Unstimmigkeit entstehen. Zu ergänzen ist, dass mit den Ausdrücken punktuell und flächig die beiden Pole eines Spektrums bezeichnet werden, innerhalb dessen graduelle Abstufung herrscht: Zahlreiche Punkte werden ab einer gewissen, jeweils im Einzelfall zu bestimmenden Dichte zu einer Fläche. Im Rahmen einer pragmatisch orientierten textsemantischen Analyse werden potentiell sämtliche Komponenten eines Textes in den Blick genommen. Dabei folgt die Analyse nicht selten einer Schrittfolge, die diese Bereiche umfasst: – kommunikativ-pragmatischer Rahmen (Textproduzent, antizipierter Rezipient, Situation usw.) – textuelle Makrostruktur (Textsorte und Handlungsformen; Binnenstruktur des Textes: Textthema, Themenentfaltung, Layout usw.) – textuelle Mikrostruktur (Ebenen der Phonie, Graphie, Lexik und Phraseologis­ men; Argumentationsformen; Syntax und Flexionsmorphologie; Interpunktion usw.) Allen genannten Größen sind Unterpunkte zugeordnet (die Auflistung ist dem Textsemantischen Analyseraster entnommen, wie auch die sich unten anschließende Zusammenstellung; im vollen Umfang findet sich das Raster u. a. in Gardt 2012 u. 2013, dort auch unter Einbeziehung von Bildzeichen und mit Hinweisen auf die For­ schungsliteratur; speziell zu Text-Bild-Analysen in Verbindung mit den Kategorien des Rasters s. Klug 2016). Die Ebene der Lexik etwa lässt sich weiter so differenzieren: Lexik – Fachwort, Fremdwort, Neologismus, Archaismus, Vulgarismus, Regionalismus etc.;

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u. a. Bestimmung der Varietät (Fachsprache etc.) und  – in Verbindung mit der grammatischen Analyse  – des stilistischen Registers (salopp, umgangssprach­ lich, bildungssprachlich etc.), unter Berücksichtigung von Nähe- und Distanz­ sprachlichkeit – Schlagwort (Fahnenwort – Stigmawort) (deontische Bedeutung) – semantische (konzeptuelle) Felder/Netze: Etablierung von Themen/Teilthe­ men im Text (Anschluss an die Kategorien von Wortfeld, Begriffs-/Konzeptfeld, Frame/Wissensrahmen etc.) Zu beachten: – Kollektivsymbolik: u. a. Metaphern und Metonymien (Metaphernfelder/kon­ zeptuelle Metaphern) – Kollokationen – Bezugsetzung eines Textzeichens (Wort, Wortgruppe, Phraseologismus, Satz, textstrukturelle Konstituente) – zu den in semantischer Relation stehenden Ausdrücken des Sprachsys­ tems (Synonyme, Antonyme etc.) – zu den Sprachzeichen des Kotextes (Intratextualität) – zu Sprachzeichen in anderen Texten desselben Autors oder anderer Autoren derselben oder einer früheren Zeit (Intertextualität). Die genannten Textkomponenten begegnen in der text- und diskurslinguistischen Literatur mit besonderer Häufigkeit, aber es ist offensichtlich, dass sich die Auflistung in vielfacher Hinsicht ergänzen ließe. An dieser Stelle soll sie lediglich dazu dienen, einen Eindruck von möglichen Gegenständen einer auf die Textbedeutung gerichte­ ten Analyse zu vermitteln. Auffallend ist, dass neuere Arbeiten vermehrt auf kogniti­ vistische Kategorien zurückgreifen, vor allem auf die von Konzept und Frame. Dabei können unterschiedliche Analyseverfahren – Schlagwortanalyse, Metaphernanalyse, Toposanalyse (i. S. v. Argumentationsanalyse) usw. – in den Dienst einer auf überge­ ordnete und damit für den Text zentrale konzeptuelle Einheiten gestellt werden.

6 Literatur Assmann, Aleida (1995): Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M., 237–251. Bacon, Francis: Novum Organum Scientiarum (1620). In: The Works of Francis Bacon. Collected and ed. by. J. Spelling/R. L. Ellis/D. D. Heath. 14 vols. London 1857–1874. Nachdruck. Stuttgart-Bad Canstatt 1963. Bd. 1, 71–368. Bär, Jochen (2015): Hermeneutische Linguistik. Theorie und Praxis grammatisch-semantischer Interpretation. Grundzüge einer Systematik des Verstehens. Berlin/Boston. Bartels, Marike (2015): Kampagnen. Zur sprachlichen Konstruktion von Gesellschaftsbildern. Berlin/ Boston.

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24. Metaphern verstehen. Probleme einer literarischen Hermeneutik Abstract: Bekanntlich ist die literaturwissenschaftliche Rede von Bildern und Tropen in der rhetorischen Tradition figurativer Rede hinsichtlich des Bedeutungskontextes von Metaphern in literarischen Texten nach wie vor recht ungenau, zumindest aber ambig theoretisch modelliert. Dieser Befund hat damit zu tun, dass das poetische Bild in der Moderne keine Bedeutung per se repräsentiert, sondern immer nur den in ihm und durch ihn hervorgebrachten Bedeutungskontext entwirft und auf diese Weise eine komparative Dimension nahelegt, zugleich jedoch einen möglichen Vergleichs­ ansatz wieder verwirft und in Frage stellt. In dieser Polyvalenz einerseits und den hiermit verbundenen mannigfachen Verstehensproblemen andererseits ist begrün­ det, weshalb sowohl moderne Poetiken als auch zeitgenössische Metapherntheorien gleichermaßen gegen das Substitutionsparadigma der rhetorisch-stilistischen Tradi­ tion opponieren. 1 Probleme der Metapherndeutung 2 Metaphern und Literaturtheorie 3 Verstehen des Metaphernverstehens 4 Metaphorische Sehenssicht 5 Literatur

1 Probleme der Metapherndeutung Wenn die Metapher im Laufe der Theoriegeschichte längst nicht mehr alleine als Tropus schmuckvoller Rede mitsamt ihrer klar konturierten semantischen Bedeu­ tungsübertragung verstanden wird, dann auch deshalb, weil dieses auf Aristoteles und Quintilian zurückgehende Verständnis im 20. Jh. besonders durch weiterfüh­ rende linguistische Konzepte und literaturtheoretische Innovationen grundlegend in Frage gestellt und erweitert wurde. Die theoretische Kritik besteht darin, Metaphern nicht länger isoliert als ein rein semantisches Phänomen im Rahmen eines Transpor­ tes (μεταφέρειν, metaphérein) zu fassen, d. h. eines impliziten Vergleichs oder einer Bedeutungssubstitution. In der Tradition antiker Rhetorik stand im Rahmen ihrer Figurenlehre, später auch der Poetik, der geeigneten Metapher ein verbum proprium gegenüber, wodurch die Metapher als ungewöhnliche Ausdrucksweise ihrerseits keine angemessene Bezeichnung eines gegebenen Gegenstandes oder Sachverhaltes sein konnte. DOI 10.1515/9783110297898-024

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Vor allem die spezifische Erkenntnisqualität und die Aspekte genuiner Sprach­ schöpfungsproduktivität von Metaphern sowie die Relevanz der sprachlichen Kon­ texte selbst wurden etwa in der Interaktionstheorie differenziert und variantenreich herausgestellt (vgl. Black 1962). In der theoretischen Modellierung werden gegenüber einem Metaphernverständnis, das isolierte semantische oder syntaktische Einheiten als Bedeutungskonstituierungen uneigentlichen Sprechens beschreibt, die kommu­ nikativen Sprachäußerungen und kontextuellen Verweisungszusammenhänge selbst relevant. Erst in ihnen vermag entschieden werden, was überhaupt als metaphorisch gemeint ist, da in der metaphorischen Interaktion ganze semantische Merkmalsbün­ del auf den neuen Kontext projiziert werden. Auf diese Weise werden insbesondere Vorstellungen von Ähnlichkeiten, Analogien und Übertragungen durch eine Sicht­ weise ersetzt, die verstärkt auf dynamisierte Sprachpraktiken der Erweiterung, Kre­ ation, Unbestimmtheiten und Öffnung ausgerichtet ist. Mit dem Blickwechsel von einem traditionellen Identitätsverständnis der Metapher hin zu einer dynamisierten funktionalen Kontextualisierung wurden literaturtheoretische Metapherntheorien nur noch zu einem Teil einer allgemeineren und umfassenderen Metaphorologie. Für den Umstand, dass Metaphern für die Leistungen des Vorstellungsvermögens maßgeblich sind, ist nun eine doppelte Fragestellung relevant, nämlich auf welche Art und Weise Metaphern das Verstehen und die Bedeutungen selbst hervorbringen und was Metaphern ihrerseits bedeuten. Sobald die Metapher nicht mehr als Reali­ sierung einer semantischen Komplementarität gesehen wird, durchbricht diese Sicht­ weise die Illusion, die Metapher verfüge bereits im Voraus über eine fixe Bedeutung, die ihrerseits erst durch das metaphorische Spiel hervorgebracht wird, wodurch auch eine angenommene und unterstellte semantische Eindeutigkeit angesichts von Arbi­ trarität und Kontiguität als maßgebliche Konstellationen des Metaphorischen hinfäl­ lig wird. Während die Kognitionslinguistik Metaphern grundsätzlich im gesamtsprachli­ chen Kontext kognitiver Konzeptualisierungen und Welterfassung versteht (Lakoff/ Johnson 2000), verwerfen dekonstruktivistische Sichtweisen den metaphysischen Nominalismus der Eigentlichkeit und verstehen die Metapher als Subversion philo­ sophischer Wahrheitsansprüche und Verschiebung metaphorischer Übertragungs­ leistung auf die Allegorie als einer fortgeführten Metapher (de Man 1989). Beide komplexe, divergierende und impulsstarke Theorietraditionen klären noch nicht hinreichend die für den hermeneutischen Zugriff relevante Frage nach der Deu­ tungsproblematik des Metaphernverstehens. Vor welchen theoretischen Problemen im Rahmen literaturdeutender Bemühungen steht etwa eine Sichtweise, die davon ausgeht, Metaphern seien „Übertragungen, und schon die Wahrnehmung einer Meta­ pher ist eine Potenzierung: die Übertragung einer Übertragung.“ (Konersmann 2010, 267) Allein diese für literarische Kontextualisierungen plausibel wirkende und deu­ tende Perspektive wirft zugleich neue Deutungsfragen auf. Konersmann vertritt die Auffassung, „daß die Sprache über sich hinausweist und sich auf anderes bezieht als auf sich selbst. […] Weder bloß Redeschmuck noch ein versprengtes Stück Meta­

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physik, ist die Metapher ein Ausdruck, und das heißt sowohl ein Ausdruck von etwas als auch ein Ausdruck für etwas. Die aufschließende Funktion metaphorischer Rede ist ein Effekt dieser Doppelung.“ (Konersmann 2010, 267) Nimmt man infolgedessen an, Metaphern seien „Improvisationsleistungen“, die Orientierung im Feld von Kon­ tingenzen, Unwägbarkeiten und Unbestimmtheiten bieten, dann darf hierbei nicht übersehen werden, dass Metaphern ihrerseits neue sprachliche Normalitäten in Gang setzen können. Mit anderen Worten: die Metapher, deren Regel man nicht kennen kann, ist „eine Abweichung vom normalen Sprachgebrauch im normalen Sprachge­ brauch.“ (Kurz 2004,17) Führt man sich zunächst die enorme Vielfalt an Theorien über Metaphern und Metaphorik vor Augen, dann ist es zunächst auffällig, wie vergleichsweise wenig von dieser vorrangig linguistischen Theoriearbeit bislang in literaturwissenschaftlichen Kontexten aufgenommen und behandelt wurde (Rolf 2005; Haverkamp 1983, 1998). Eine Ursache für diese ausgesprochen selektive Rezeption liegt möglicherweise an dem zu geringen Verständnis dafür, dass die deutende Beschäftigung mit poetischer Metaphorik auch über ein theoretisch gehaltvolles Wissen um Metaphorik insge­ samt verfügen muss. Zumal, wenn sich diese Beschäftigung nicht ausschließlich in den Bahnen von Stilistik und Rhetorik bewegt, wo es vor allem darum geht, die „Differenzqualität der poetischen Sprache auf einen plausiblen Nenner zu bringen“ (Haverkamp 1983, 1). Die bislang vorliegenden empirischen Untersuchungen zu den Parametern des literarischen Metaphernverstehens sind jedoch nur begrenzt aussa­ gekräftig (vgl. Pieper/Wieser 2011). Noch gravierender erscheint das eigentümliche Rezeptionsdesiderat angesichts der vielfältigen und weitverzweigten disziplinären Metapherndiskurse von Kognitionslinguistik, Philosophie und Hirnforschung. Aus einer hermeneutischen Perspektive betrachtet stellt sich nun grundsätzlich die Frage, was es überhaupt heißen kann, Metaphern in der Literatur zu verstehen? Hierzu werden zunächst (1) zwei aktuelle literaturwissenschaftliche Reflexionen von Jan-Philipp Reemtsma und Jochen Hörisch zum literaturwissenschaftlichen Meta­ phernverständnis erörtert, um dann (2) mit den begrifflichen Differenzierungen von Martin Seel und Paul Ricoeur die literarische Metapher in einem allgemeinen Ver­ ständnis als eine spezifische und genuine Qualität der Wahrnehmungsmöglichkeit zu kennzeichnen, auf die sich sodann das hermeneutische Bemühen verstärkt zu kon­ zentrieren hätte.

2 Metaphern und Literaturtheorie In einem höchst instruktiven Aufsatz über Ernst Cassirers Symbolisierungstheorie erörtert Jürgen Habermas hinsichtlich der „Produktion einer bildhaften Sinnfülle“ drei sprachfunktionale Tendenzen, die auch für den Metapherndiskurs insgesamt von Bedeutung sind:

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Wo die bannende Tendenz den sinnlichen Eindruck zur bildhaften Gestalt gerinnen läßt, behält die Ausdrucksfunktion die Oberhand; wo sich die begriffsbildende Tendenz zur gliedernden Abstraktion durchsetzt, herrscht die Bedeutungsfunktion; wo sich beide Tendenzen ausglei­ chen, tritt die Darstellungsfunktion in den Vordergrund. […] Die Sprache ‚in der Phase des sinn­ lichen Ausdrucks‘ ist von Metaphern durchsetzt und insgesamt von Gesten und leibgebundenen Expressionen, Erregungslauten und mimischen Ausdrucksbewegungen geprägt. Hier sind die Zeichen mit dem bezeichneten Gegenstand und dessen Bedeutung noch verschmolzen. Die ana­ logische Sprache erfüllt Ausdrucksfunktionen. Darstellungsfunktionen kann die Sprache erst übernehmen, wenn sie sich mit situationsbezüglichen, aber kontextunabhängig verwendeten Ausdrücken objektivierend auf Gegenstände bezieht. (Habermas 1997, 29)

Vor dem Hintergrund des heutigen Wissenstandes über Metaphern, Metaphorik und Metaphorologie darf sicher bezweifelt werden, ob diese Unterscheidungen hinsicht­ lich der metaphorischen Verfasstheit von Sprache und Kognition insgesamt über­ haupt noch aufrechtzuerhalten sind. Andererseits ist gerade im literarischen Ver­ wendungsbereich die Metapher sowohl Mittel des Ausdrucks, der Bedeutung und der Darstellung zugleich (vgl. Kohl 2007). Wäre es gerade nicht nötig, die spezifische Deutungsproblematik poetischer Metaphorik als ein Misch- und Synthesephänomen dieser drei funktionalen Dimensionen innerhalb einer bildhaften Sphäre selbst zu beschreiben? Nicht deshalb allerdings, weil die Metapher als ubiquitäres Sprach­ phänomen in allen drei Sprach- und Sprechdomänen gleichermaßen genuin enthal­ ten ist, sondern weil sie im Ausdrucksfeld literarischer Sprache selbst inhärent und zugleich mit diesen Sphären verbunden ist und diese erst ermöglicht. In einem phänomenologisch erweiterten Verständnis hat Hans Blumenberg frühzeitig plausibel gezeigt, inwieweit die Metapher selbst sichtbar mache, dass das, „was unserer Wahrnehmung und Aufmerksamkeit zugänglich ist oder dargeboten wird, immer nur der kleinere Teil der Wirklichkeit ist, der über dem Spiegel der Wahr­ nehmbarkeit liegt“ (Blumenberg 1971, 199). Hieraus kann gefolgert werden, die Meta­ pher als ein Phänomen zu betrachten, das sowohl etwas hervorbringt und zeigt, als auch den Blick auf sich selbst und den hinausgreifenden Weltbezug zum Gegenstand macht. Vor diesem Hintergrund soll nun auf die literaturwissenschaftlichen Positionen zur Metapher von Reemtsma und Hörisch eingegangen werden, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit diesem philologischen Deutungsproblem befasst haben. Reemtsma stützt sich in seinem Aufsatz „Was heißt: Eine Metapher verstehen?“ (Reemtsma 2005) auf Positionen von Donald Davidson (Davidson 1998) und Richard Rorty (Rorty 1998), um zwei Grundannahmen zusammenzuführen. Zum einen, dass Metaphern neben der buchstäblichen Bedeutung ihrer betreffenden Wörter darüber hinausgehend im Grunde nichts Besonderes bedeuten. Neben dieser Lesart David­ sons rekurriert Reemtsma zusätzlich auf Rortys weitergehende Annahme, Metaphern können insgesamt weder interpretiert noch verstanden werden.

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Traditionelle Metapherntheorien gehen seit Aristoteles davon aus, daß der Umstand, daß die wörtliche Bedeutung von Metaphern keinen kommunikativen Sinn ergibt, uns dazu nötigt, eine zweite, metaphorische anzunehmen und zu suchen. Davidson sagt dagegen, daß Metaphern nur die Bedeutung haben, die sie eben haben (die ‚wörtliche‘), aber die mit ihr verbundenen kommunikativen Probleme uns nötigen, Kreativität zu entwickeln und etwas in der Welt wahr­ zunehmen, was wir vorher noch nicht wahrgenommen haben. Erfolgreich mit Metaphern zu kommunizieren heißt nach Davidson nicht, etwas über bestimmte Sprachmittel herauszube­ kommen, sondern zusammen mit anderen einen unkonventionellen Weltbezug herzustellen, etwas wahrzunehmen, was wir zuvor nicht oder jedenfalls nicht ‚so‘ wahrgenommen haben. […] Davidson und Rorty zu folgen würde bedeuten, sich nicht mehr mit ungelenken, unplausiblen, gekünstelten Theorien herumschlagen zu müssen, nicht mehr nach einer zweiten, ‚eigentlichen‘ Bedeutung forschen zu müssen […]. (Reemtsma 2005, 124)

Reemtsma geht recht profan davon aus, dass nicht Metaphern eine verborgene Bedeu­ tung oder eine weiterführende Botschaft enthielten, sondern der Leser und Interpret über usuelle Kenntnisse verfüge, auf welche Weise mit Metaphern zu kommunizieren sei. Damit wisse die Diskursgemeinschaft auch, daß bestimmte Wortzusammenstellungen in unserer Kultur nicht als Unsinn oder falsche Behauptungen aufgefasst werden, sondern als Poesie. Ich ‚verstehe‘ eine Metapher nicht, weil mich bestimmte Wortzusammenstellungen zu besonderen Operationen nötigen, die man als ‚Suche nach einer verborgenen Bedeutung‘ beschreiben könnte, sondern weil ich weiß, daß in unserer Kultur solche Wortzusammenstellungen das kommunikative Signal sind, daß hier eine Lizenz zum Assoziieren vorliegt. (Reemtsma 2005, 123)

Metaphern liefern aus dieser Sichtweise das kommunikative Signal für eine „Lizenz zum Assoziieren“, nicht jedoch einen inhärenten Hinweis auf die „Leistungsfähigkeit bestimmter Sprachmittel“. Mit Davidson und Rorty vertritt Reemtsma die Auffassung, Metaphern initiierten als Ursachen lediglich einen zu kommunizierenden unkonven­ tionellen Weltbezug. Angesprochen ist damit ein Stimulus für sprachlich initiierte Wahrnehmungen und Erkenntnisse, die nicht nach einer eigentlichen Bedeutung hinter der wörtlichen zu suchen trachten. Für die Prozedur des Metaphernverstehens schlussfolgert Reemtsma, dass Metaphern nicht verstanden werden können, wenn Verstehen bedeutet, etwas unter ein vorgängiges Schema zu bringen, dann jedoch schon, wenn Verstehen bedeutet, einen Nutzen daraus zu ziehen oder mit einem Phä­ nomen zurechtzukommen. Aus dieser pragmatisch-kommunikativen Sicht folgt, den Umgang mit Metaphern in doppelter Hinsicht als kontingent aufzufassen. Kontingent ist Metapherndeutung, weil nichts an der Metapher sei, das eine spezielle Deutung eindeutig erzwinge und kontingent ist sie auch hinsichtlich des metaphorischen Sti­ mulus für den Empfänger. Für Reemtsma sind beide Seiten ein weiterführendes Indiz dafür, dass eine post­ zeremonielle hypoleptische Textauslegungspraxis, die sich auszuweisen und zu rechtfertigen hat, überhaupt nicht mehr notwendig sei. Das pragmatische Argument lautet folglich, dass sich die hermeneutische Mühe zu profanieren habe. Es gelte Abstand zu nehmen von einem in Texten aufbewahrten Objektivitätsideal und es nur

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mehr darauf ankomme, „ob der kommunikative Anschluss an die Metapher sich für die Kommunikation selbst als produktiv erwiesen hat oder nicht.“ (Reemtsma 2005, 136) Da aber Interpreten mit Texten nicht kommunizieren können, könne es keine Garantie dafür geben, ob eine literarische Metapher richtig verstanden werde. Im literaturwissenschaftlichen Umgang mit Metaphern findet aber keine Kommunikation statt, weil zwar auslegende Texte die Geste des kommunikativen Anschlusses imitieren können, aber der literarische Text nicht an den auslegenden Text anschließen kann. Es findet zwischen litera­ rischem Text und Interpret keine Kommunikation statt, und darum kann es keine kommunika­ tive Bewährung des Verständnisses einer literarischen Metapher geben. (Reemtsma 2005, 136)

Die Nüchternheit dieser Argumente, die durch eine pragmatisch-kommunikative Perspektive dem Interpretationsdilemma entgehen will, verschiebt dieses jedoch zunächst bloß in einen ungeklärten Bereich, ohne dabei zu bedenken, dass die Metapher einerseits auf implizites Wissen rekurriert, dieses allerdings auf besondere Weise erst zum Ausdruck bringt. Reemtsmas kommunikativ-konsequentialistische Annahme, Metaphern als Spracheffekte und nicht als Bedeutungsträger zu sehen, vermag sodann die divergierenden Sichtweisen von Davidson (Metaphern bedeuten, was ihre Worte ursprünglich bedeuten) und Rorty (Metaphern verfügen über keine originäre Bedeutung) zusammenführen. Aber nichts, was vor dem Auftreten der Metapher existiert, ist hinreichend für das Verstehen der metaphorischen Verwendung. Wenn ‚interpretieren‘ oder ‚verstehen‘ heißt ‚unter ein vorgän­ giges Schema bringen‘, dann kann man Metaphern nicht verstehen oder interpretieren. Wenn wir aber diese Begriffe so erweitern, daß sie so etwas bedeuten wie ‚Nutzen ziehen aus‘ oder ‚zurechtkommen mit‘, dann können wir sagen, daß es uns in der Weise gelingt, Metaphern zu verstehen, wie es uns gelingt, anomale natürliche Phänomene zu verstehen. Wir verstehen sie, indem wir unsere Theorien dem neuen Material anpassen. (Reemtsma 2005, 127)

Der sowohl voraus- als auch zurückgreifende Bezug auf implizites Wissen erlaubt allerdings bereits Teilhabe an einem gemeinsamen Sinn. Denn weder kann von hier aus hinreichend klar gemacht werden, welchen beschreibbaren Zusammenhang es zwischen dem metaphorischen Stimulus und der durch ihn ausgelösten Assoziati­ onskette und einer genuinen Verständigungsleistung im Einzelnen gibt, wie sie etwa von Bernhard Debatin (Debatin 1995) dargestellt wurde. Noch lässt sich so betrach­ tet präzise erfassen, was in einem phänomenologischen Sinne unter Metaphern und ihren besonderen Qualitäten en detail zu verstehen sei, zumal der von Reemtsma zugrundegelegte Verstehensbegriff funktionalpragmatisch und utilitaristisch ver­ kürzt ist. Ist es hingegen nicht gerade der polyvalente Überschuss des metaphori­ schen Bildkontextes selbst, der Deutungsperspektiven, Sichtweisen und Horizontöff­ nungen erst ermöglicht? Wie kommt es, daß wir, wenn wir ein Stück unserer Kultur rekonstruierend beschreiben wollen, so sehr dazu neigen, den Kontakt zu ihr zu verlieren? Der Umgang mit Metaphern ist, wenn

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Davidson und Rorty recht haben, in zweifacher Weise kontingent. Er ist es nach der Seite unserer Freiheit hin, weil nichts an der Metapher selbst uns nötigt, sie soundnichtanders auszulegen. Er ist es aber auch nach der Seite unserer Unfreiheit hin, weil wir, folgen wir Davidson und Rorty, auch passive Empfänger eines Stimulus sind. Wir nehmen nicht etwas Geordnetes kontrolliert auf, sondern empfangen einen irritierenden Reiz, aus dem wir dann versuchen, das Beste zu machen. Das hat nichts vom Pathos, das gerne mitschwingt, wenn wir von ‚Freiheit‘ reden, sondern eine Menge von Beliebigkeit. (Reemtsma 2005, 128 f.)

Debatin hat darauf hingewiesen, dass eine Bedeutungsreduktion im Metaphernver­ ständnis nur vermieden werden kann, wenn sowohl Momente der Unersetzbarkeit (Emphase) als auch der Vielschichtigkeit (Resonanz) berücksichtigt werden (vgl. Debatin 1995, 332). So bleibt bei Reemtsma das im Grunde nur verlagerte alte Problem hartnäckig bestehen, innerhalb des literaturauslegenden Diskurses über kein kohä­ rentes Modell zu verfügen, mit dem der Zusammenhang von Metaphorik und Ver­ stehen genauer zu formulieren ist. Gegen Reemtsmas antihermeneutischen blinden Fleck wäre mit Debatin etwa anzuführen, dass es zu einer Interpretation einer buchstäblichen und metaphorischen Äußerung gehöre, „einen relevanzadäquaten Kontextbezug aufzubauen und die entsprechenden Implikationen zu ergründen.“ (Debatin 1995, 293) Ästhetisch ausgerichtet argumentiert hingegen der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch in seinem Beitrag „Ver-Dichtungen. Metaphern sagen es dichter“, wenn er in der Metaphorik von Dichtung vor allem die „Gabe der Bedeutsamkeit“ ausmacht, „die sich dem weggekürzten ‚wie‘, der gesprengten Brücke zwischen den Sphären der Physis und Metaphysik, des Seins und des Sinns verdankt.“ (Hörisch 2005, 104) Für Hörisch ist maßgeblich, dass Poesie auf besondere Weise Wahrneh­ mung und Kommunikation zusammenführen will und Metaphorik die Brücke zwi­ schen diesen gegeneinander abgeschotteten und systematisch voneinander getrenn­ ten Sphären schlagen kann: Wahrnehmung und Kommunikation gehören system(at)isch getrennten Sphären zu. […] Wahr­ nehmung ist Wahrnehmung und Kommunikation ist Kommunikation. Beide sind (auch neuro­ physiologisch) gegeneinander abgeschottet. Ihre Beziehung ist unkoordiniert und allenfalls die der wechselseitigen Irritation. Dennoch oder gerade deshalb schlägt (und sprengt!) Metaphorik eine Brücke zwischen Wahrnehmung und Kommunikation. […] Metaphern übersetzen Sprache in Bilder bzw. Kommunikation in Wahrnehmung und praktizieren damit eine Unmöglichkeit. Denn zwischen Bildern (Wahrnehmungen) und Sprache (Kommunikation) gibt es kein verlässli­ ches Drittes – ein Problem, an dem sich schon Kant im berühmten Schematismus-Kapitel seiner Kritik der reinen Vernunft abarbeitete. (Hörisch 2005, 105)

Für Hörisch verdichten Metaphern Elemente aus zwei unterschiedlichen Sphären zu einem Sprachbild, wobei dieses sich dadurch als metaphysiklastig erweist, da in Dich­ tung die Metapher mit der Metaphysik einen „Sach-Sinn-Zusammenhang“ (Hörisch 2005, 102) darstelle. Hörisch nimmt die Metaphorik generell gegen ein rationalisti­

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sches Misstrauen in Schutz und attestiert ihr gerade im Modus des Ästhetischen eine exklusive sinntragende Bedeutungsdimension: Die Metapher gibt, indem sie überträgt, indem sie springt, indem sie sprengt, zu denken. Und sie tut dies, indem sie mehr als nur das ‚wie‘ nimmt. Metaphern stiften die Verbindungen und Übertragungen, die sie zugleich nehmen. Das macht sie so problematisch und so faszinierend. Mit dem ‚wie‘ nehmen die Metaphern dem in der Literaturtheorie so genannten ‚bildspendenden‘ Bereich auch den sicheren Status. (Hörisch 2005, 103)

Im Gegensatz zu Reemtsma bringt er auf diese Weise eine an Nietzsche anknüpfende Daseinsmetaphorik ins Spiel, die in ästhetischer Literatur repräsentiert sei und einer Hermeneutik bedürfe, weil es „sichere Worte nicht gibt, weil uns ein Mangel an sprach­ licher Sicherheit das Vertrauen in den Zusammenhang von Physis und Metaphysik, von Sein und Sinn, von soma und sema, von ‚les mots et les choses‘ nimmt.“ (Hörisch 2005, 103) Für die Literatur erhalten die konträren Aspekte der Metapher Gewicht, denn es können zugleich Verbindungen hergestellt wie unterbrochen werden. Das Zentralproblem des Metaphernverstehens liegt für Hörisch in der „unmöglichen Übersetzung von Wahrnehmung in Kommunikation et vice versa“ (Hörisch 2005, 106), weshalb auch Sein und Sinn nicht miteinander identisch zu setzen sind. Beide so stark divergierende Positionen, die pragmatisch-kommunikative Reemtsmas und die emphatisch ästhetische von Hörisch können jedoch aus ihrer the­ oretischen Innenperspektive nicht den Gehalt metaphorischer Rede in der Literatur hinreichend exakt fassen, zumindest nicht ohne weitere Theoriekontexte heranzuzie­ hen. Reemtsma nicht, weil er das Deuten von Metaphern von der Klärung der Meta­ phorik zu trennen beabsichtigt. Auf diese Weise muss noch unscharf bleiben, was es denn heißt, dass eine metaphorische Rede durch keine ausführliche Paraphrase in ihrem spezifischen Gehalt reformulierbar sei. Von hier aus lässt sich aber kein Begriff des Metaphernverstehens entfalten, der über die jeweiligen Reaktionen von Lesern hinausginge, weil aus dieser Sichtweise die Effekte von Metaphern nicht mehr ihrem Gehalt zugeschrieben werden dürfen. Eine verstehende Erläuterung darüber, wie Metaphern funktionieren, ist dann allerdings nicht mehr möglich und auch gar nicht mehr angestrebt. Die Sichtweise Hörischs ist aus anderen Gründen gleichsam problematisch, weil sein lebensphilosophisch unterfüttertes Ästhetikverständnis die Metaphernstruktur selbst zwar wahrnehmungstheoretisch plausibel argumentiert, indem er die perspektivenerweiternde Qualität der verbindenden Wortfelder im Meta­ phorischen hervorhebt. Doch zugleich wird das Metaphorische seinerseits zu stark poetisierend überhöht, wenn es bloß metaphorisch paraphrasiert wird  – „Brücken so zu schlagen, daß getrennte Ufer, Sphären, Welten zusammengehalten und verbun­ den werden“ (Hörisch 2007, 44) – und die Literatur sowohl Verbindungen herstellen kann als auch zu unterbrechen vermag. Problematisch bleibt, dass Metaphern ihrer­ seits überstrapazierend metaphorisiert werden, ohne ihre Wirkungsweise in einem hinreichend theoretisch geklärten und ausgewiesenen diskursiven Zusammenhang zu erörtern.

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Hörischs Ausführungen unterscheiden etwa kreative Metaphern hinsichtlich ihrer Kontextgebundenheit und Verwendungsorientierung nicht hinreichend als Erkennt­ nisgegenstände und als Erkenntnisinstrumente. Gerade der Mangel an begrifflicher Bestimmung, der durch exzessiv metaphorisches Paraphrasieren nicht wettgemacht wird, lässt etwa interaktionistisch angelegte kategoriale Unterscheidungen (z. B. zwi­ schen Tenor/Vehikel bei Richards und Fokus/Rahmen bei Black), die die Lenkung des Metaphernverstehens modellieren können, vollständig unberücksichtigt. Allein die durchaus gültigen Hinweise auf die poetisch-ästhetisch verfassten perspektivie­ renden Qualitäten erlauben noch keinen relevanten Wissenszuwachs an Kriterien zur Metaphernidentifikation selbst. Problematisch ist jedoch weniger, dass Interdepen­ denzen zwischen der sprachlichen Struktur und der jeweiligen Kognition ausgeblen­ det bleiben, als dass die metaphorische Bildlichkeit durch und in Sprache und damit ihre negative, d. h. bedeutungsdissonante „impertinente Prädikation“ (Krämer 1990, 64) nicht hinreichend trennscharf erfasst wird. Wähle ich tatsächlich den interaktionstheoretischen Standpunkt, dass Sprach- oder Textge­ brauch im Spiel der Differenzen zwischen in Umfang und Funktion variablen Ausdrücken für Bedeutungsschärfe sorgt, so mag man – genereller – vom Fokusausdruck und von der ganzen metaphorischen Stelle sprechen, die sich dem Normalgebrauch (und u. U. nicht nur der Prädika­ tion) widersetzt. Nicht eine metaphorische Wortbedeutung, sondern der spezifisch metaphori­ sche Sinn einer Stelle erbringt dann die Sublimierungsleistung, aus der ‚die‘ Metapher besteht. (Gehring 2011)

Wenn aber das Verständnis von Metaphern keine Operation sein kann, die eine sus­ pendierte Buchstäblichkeit zugrunde legt, sondern die genuine Artikulationsleistung metaphorischer Rede erfassen will, dann bedarf es jedoch einer theoretischen Sicht­ weise, die den Ähnlichkeitszusammenhang von Tatbeständen und Sachverhalten einerseits mit den Modi der übertragenden Sinnbilderschließung und andererseits mit den Varianten einer anschaulichen und zugleich anschaubaren Sinnbildherstel­ lung an der Nahtstelle zwischen Bildspender und Bildempfänger formulierbar macht. Indem in Reemtsmas Argumentation primär danach gefragt wird, als was Meta­ phern zu verstehen seien, wird übergangen, wie Metaphern en detail an ihrem jewei­ ligen Ort und aufgrund ihres jeweiligen Status zu verstehen sind. Was Martin Seel am Andeutungsparadigma des rhetorisch orientierten Metaphernverständnisses kritisiert, lässt sich auch gegen Reemtsmas pragmatische Hermeneutikvermeidung anführen: Und es scheint so zu sein, dass wir eine Metapher genau dann verstehen, wenn wir wissen, ob und in welchem Grad wir ihr zustimmen oder nicht zustimmen können. Von dieser Bedingung des Verstehens aber hat der Rhetoriker keinen Begriff. Für ihn reduziert sich das Verstehen einer Metapher auf die aktive oder passive Reaktion des Hörers. Einer Metapher ‚zustimmen‘ heißt für ihn lediglich, daß der Hörer bereit und in der Lage ist, der sprachbildlichen Regieanweisung auf irgendeine Art zu folgen. Dem Rhetoriker liegt viel an dem Nachweis, daß es unangemessen ist, den Effekt einer Metapher zu ihrem Gehalt zu stilisieren. […] So einleuchtend das aber ist,

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der Vertreter dieser Position steht mit leeren Händen da, wenn er gefragt wird, worin denn der besondere Mechanismus und die besondere Prominenz des metaphorischen Andeutens liege. […] Die Theorie des Rhetorikers überspringt die genuine Artikulationsleistung der Metapher, auf Grund deren sie die Wirkungen erreicht, die sie erreicht. (Seel 1990, 245)

Hingegen steht bei Hörisch im Vordergrund, als was Metaphern zu sehen sind und dabei wird die Besonderheit ihres Verstehens vernachlässigt. Dennoch ist Hörischs Ver-Dichtungsmetapher näher an dem für das Deuten sprachlicher Phänomene rele­ vanten Aspekt, dass nämlich Metaphern durch die Kontamination divergierender Sprachfelder anbieten, eine bestimmte Perspektive ihrer Sichtweise einzunehmen. Entscheidend ist die doppelte Perspektive der Metapher, die zugleich etwas zum Aus­ druck und etwas zur Geltung bringt. Um Metaphern zu verstehen, müssen allerdings hinsichtlich ihrer Äußerungen zumindest einige ihrer Implikationen anzugeben sowie Zustimmungen zu ihren Behauptungen möglich sein. Dennoch gehen sie hierin nicht auf, da sie ebenso zugleich die Relevanz ihres Kontextes geltend machen, den sie selbst erst entwer­ fen. Aussagen zu treffen darüber, wie Metaphern zu verstehen seien, ist allerdings nicht identisch mit Aussagen darüber, was zu verstehen ist und als was Metaphern zu verstehen sind. Als eine ambivalente und widersprüchliche Prädikation organi­ siert eine Metapher Kontiguität und damit auch „eine poetische, eine non-usuelle Kookkurrenz, der kein verfügbarer Rahmen entspricht, Tmesis.“ (Baßler 2005, 248) Insofern artikuliert und gebraucht die Metapher zugleich ihren eigenen Kontext, d. h. sie erzeugt einen Vorstellungsbereich und spricht ihn zugleich an. Als kontextarti­ kulierende Phänomene erzeugen Metaphern in poetischen Zusammenhängen nicht primär bloß Ähnlichkeiten, sondern gebrauchen sie, indem sie darauf verweisen, inwiefern der Kontext Geltung beanspruchen kann, in den sie ihre Gegenstände auf diese Weise horizonterschließend vorstellen und die von innen geleistete Ausbildung von Sichtweisen neu artikulieren. Nietzsche hatte bereits darauf hingewiesen, dass das metaphorische Spiel als ein ästhetisches Verhalten darauf beruhe, auf etwas zu verweisen statt es zu benennen, weil Metaphern nicht mit dem identisch seien, was sie bezeichnen (vgl. Nietzsche 1988).

3 Verstehen des Metaphernverstehens Für den systematischen Zugriff innerhalb des literaturwissenschaftlichen Diskurses ist an dieser Stelle Martin Seels terminologische Unterscheidung besonders relevant, auch wenn sich dessen exzellenter und vorbildlich differenzierender Diskursbeitrag ausdrücklich nicht mit den Formen ästhetischer Rede befasst. Seel unterscheidet (I) die Bildlichkeit der Sprache, (II) die kontextualisierende metaphorische Äußerung, (III) die stellvertretende Metapher und (IV) die abgetragene Bedeutung (Seel 1990). Von Belang für einen um Verstehen bemühten und deutenden Umgang mit litera­

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rischer Metaphorik ist diese Unterscheidung allein deshalb, weil sichtbar werden muss, was nicht immer sichtbar ist und nicht konsequent sichtbar gemacht wird: dass nämlich unterschiedliche und mitunter konkurrierende Metaphernkonzepte in der hermeneutischen Praxis im Spiel sind, die ihrerseits erst ausgewiesen werden müssten, um den konzeptionellen Anteil des hermeneutischen Problems überhaupt benennen zu können. Für Martin Seel ist besonders der kontextualisierende Aspekt der Metapher bedeutsam, weil sich mit ihm der doppelte Sinn des „Zum-Ausdruck-Bringens als auch ein spezifisches Zur-Geltung-Bringen“ (Seel 1990, 249) als genuine sprachliche Leis­ tung denken lässt. „Die gute Metapher eröffnet oder ermöglicht neue (buchstäbliche) Erkenntnisse über den Gegenstand, den sie in einen neuartigen oder neuartig arti­ kulierten Zusammenhang stellt.“ (Seel 1990, 249) Während der Übertragungsaspekt für die Leistung metaphorischen Sprechens als nicht zentral bewertet wird, ermög­ licht der Kontextualisierungsaspekt, eine „Sichtweise als Sichtweise“ (Seel 1990, 252) kenntlich zu machen, während diese Sichtweise selbst in Anspruch genommen wird. „Was die Metapher anbietet, ist die Einnahme der von ihr dargebotenen Perspektive.“ (Seel 1990, 248) Weil sich metaphorische Sprachverwendungen nicht in Andeutungen und Anspielungen erschöpfen, betont Seel die Relevanz des Metaphernkontextes, in dem einzelne Äußerungen präsentiert und entworfen werden. Die Zustimmung zu einer metaphorischen Äußerung, das ist meine These, gilt der Angemessen­ heit des Kontextes, den die metaphorische Aussage zugleich artikuliert und gebraucht. Nur einer ‚uneigentlichen‘ Sprachform wie der Metapher ist es gegeben, die gesprächsleitende Perspektive auf einen Gegenstand in einem Zug in Anspruch zu nehmen und zur Sprache zu bringen. (Seel 1990, 250)

Gerade für die lebendige Metapher ist es von Bedeutung, das Deutungsproblem als eng verbunden mit dem Metaphernkonzept selbst zu behandeln. Die lebendige Meta­ pher ist nicht bloß als rhetorisches Ornament und damit lediglich als stellvertretende oder vergleichende Bildlichkeit zu verstehen, sondern als eine sich der Semiotisie­ rung nicht unterwerfende Spannung im Sinne Ricoeurs oder als kühne Metapher bei Weinrich (Weinrich 1996), die sich durch eine weite Bildspanne zwischen Bildspen­ der und Bildempfänger auszeichnet. Für das hermeneutisch orientierte Verständnis metaphorischer Rede in ästhe­ tisch affizierten Sprachzusammenhängen ist nun der Aspekt von besonderer Rele­ vanz, Metaphern artikulierten auf komplexe Weise wahrnehmungsbildende Sichtwei­ sen. Mit Martin Seel ist festzuhalten, daß die Metapher die Sicht, der sie Kontur gibt, zugleich einnimmt, während eine Paraphrase nur das so Geschehene aussprechen kann, eine Interpretation andererseits die metaphorisch favorisierte Sichtweise zum Gegenstand ihrer Rede erheben muß (Seel 1990, 260).

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Die Metapher artikuliert folglich in besonderem Maße die sichtgebundene Relevanz ihres Gegenstands unter Verzicht auf eine zutreffende satzinterne Cha­ rakterisierung ihres Objekts. Folglich ist die Zustimmung zu einer wörtlichen Aussage in erster Linie Zustimmung zur Wahrheit des im Satz Gesagten und erst in zweiter Linie Zustimmung zur Angemessenheit der Thematisierung der fraglichen Sache. Folglich ist die Zustimmung zu einer metaphorischen Aussage in erster Linie Zustimmung zur Angemessenheit der Betrachtung ihres Gegenstands und erst in zweiter Linie Zustimmung zu den Beschreibungen, die diese Betrach­ tung entläßt. (Seel 1990, 260 f.)

Wenn diese Sichtweise plausibel zu machen ist, dann verschiebt sich das Deutungs­ problem des Metaphorischen, das eine nicht-dekonstruktivistische Hermeneutik immer noch zu ihrem Kerngeschäft erklärt, von der Frage weg, was eine metapho­ rische Beschreibung eines Sachverhalts bedeutet, hin zur Frage danach, wie ange­ messen die Betrachtung des Sachverhalts oder Gegenstands durch das Metaphori­ sche zu beurteilen sei. Im Hinblick auf hierfür relevante frühe Äußerungen von Kant, Baumgarten und Chladenius zur Perspektiven artikulierenden Funktion von Sprache bemerkt Seel: Die ‚Umständlichkeit‘ der Metapher wäre somit nichts Umständliches, sondern das Erfordernis einer Präzision, die es darauf anlegt, die angesprochene Sache in den Umständen ihrer Relevanz zur Geltung zu bringen. Die Metapher brächte etwas in den Umständen seiner themenbezogenen Bedeutsamkeit zur Sprache. Diese alte Einsicht könnte fast zu einer terminologischen Neubil­ dung verlocken. Von der ‚gegenständlichen‘ wörtlichen unterschiede sich die metaphorische als ‚umständliche‘ Rede. (Seel 1990, 259)

Seel verfolgt eine Sichtweise, die die „komplexe Artikulation wahrnehmungsbilden­ der Sichtweisen“ (Seel 1990, 260) im Auge hat und hervorhebt, inwiefern die meta­ phorische Rede als eine perspektivenartikulierende die eigene Sicht mit zur Geltung bringen kann, während sie „nicht die Sachverhalte eigens zur Geltung bringen“ kann, „deren Bestehen aus der von ihr akzentuierten Perspektive erkennbar wird.“ (Seel 1990, 261) Gegenstände von Metaphern wären nicht mehr aus der metaphorisch akzentuierten Perspektive als Gegenstände außerhalb dieser Perspektive sichtbar. Für den Verwendungszusammenhang und die Beurteilung von Metaphern in ästhe­ tischen Kontexten kommt noch hinzu, dass ihr Ausdruckswert und ihre Sichtweise auseinandertreten können, sodass der Leser etwa den metapherninduzierten Sicht­ weisen zustimmen kann ohne deren Implikationen teilen zu müssen oder deren Prä­ dikationen für bare Münze zu halten oder gar halten zu können. Das Verstehenwollen der Metapher hätte sich an dieser Stelle auf das Feld jener Sichtweise zu konzentrieren, auf dem die Wahrnehmungen durch Sichtweisen selbst konstituiert werden und auf dem das Gelingen eines sprachlichen Ausdrucks es ermöglicht, etwas über Ausdrucksintentionen in Erfahrung zu bringen. So wie das Metaphorische nicht durch eine wie auch immer geartete Paraphrase auf den eigent­ lichen Kern eines tatsächlich Gemeinten zurückzuführen ist, ohne die metaphorische

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Ausdrucksweise samt ihrer ins Spiel gebrachten Sichtweise zu unterminieren und außer Kraft zu setzen, so kommt es ebenso darauf an, die Autonomie metaphorischer Rede anzuerkennen, statt diese als wie auch immer verstandene defizitäre Erschei­ nung zu betrachten und dabei zu übersehen, dass die Metapher statt wörtlicher eine bezügliche Rede ist, weil sie auf besondere Weise einen nicht bloß rhetorischen Bezug zu ihrem Gegenstand herstellt, diesen jedoch nicht semantisch unmittelbar mitteilt. Die semantische Analyse des Funktionierens der Metapher führt zu keiner sinnvollen Bestim­ mung ihrer Funktion und daher, wie im umgekehrten Fall der rhetorischen Erläuterung, eben­ falls zu keiner haltbaren Erklärung des Verstehens. (Seel 1990, 248)

Aufgeworfen ist hiermit die grundsätzliche Frage, wie sich der Unterschied und die Grenze zwischen der Bedeutung einer Metapher und ihrer Deutbarkeit innerhalb des hermeneutischen Paradigmas genauer fassen lassen. Es ist davon auszugehen, dass eine Metapher als hybrides Redephänomen nicht bloß auf überraschende Weise zwi­ schen Begriff und Anschauung vermittelt. Vielmehr signalisiert der jeweilige meta­ phorische Anschauungsüberschuss immer auch eine neue Ausrichtung des Begriff­ lichen und seiner Dimensionen selbst. Stets von einer Katachrese als Abweichung ausgehend, leistet die Metapher neben innovativen heuristischen Impulsen für die Anschauung und deren Bildfelder eine Sicht-, Perspektiven- und Kontexterweiterung ihrer korrespondierenden Begriffe, weil sie als eine sichtbare Sichtbarmachung etwas als etwas anderes zum Ausdruck bringt, sichtbar macht und Geltung verschafft. Für den hermeneutischen Blick auf Metaphorisches ist indes prinzipiell von Bedeutung, inwieweit im metaphorischen Wortfeld ein Vokabular eine neue Sichtweise als Sicht­ weise hervorbringt und nicht bloß einzelnen Worten partikular einen veränderten Sinn zuweist. „Metaphern folgen einer Logik selbstbezüglicher Negativität: sie bezie­ hen sich auf sich selbst durch ein anderes und auf ein anderes durch sich selbst. In ihrer selbstbezüglichen Negativität legen sie die Entstehung von Sinn offen, stellen sie dessen Genese aus.“ (Hetzel 2001, 250) Besonders Paul Ricoeur hat einen wichtigen Beitrag geleistet, um den immanen­ ten Zusammenhang zwischen der Metapherntheorie und den Problemen der Herme­ neutik exakter zu fassen. (Ricoeur 1997) Folgt man nun an dieser Stelle seiner Unter­ scheidung zwischen Erklärung und Interpretation, dann bezieht sich die Erklärung auf den immanenten Sinn der Rede, während die Interpretation sich mit der beson­ deren Fähigkeit eines Werkes befasst, durch semantische Innovation eine eigene sprachschöpferische Vorstellungswelt hervorzubringen. Ricoeur unterscheidet zwi­ schen dem, was gesagt wird (Sinn) und dem, worüber etwas gesagt wird (Bedeutung). Innerhalb des hermeneutischen Paradigmas ist damit gewonnen, die immanente Absicht der Rede (Sinn) von der „Anwendbarkeit der Rede auf eine außersprachliche Wirklichkeit, […] über die sie das sagt“ (Referenz) (Ricoeur 1997, 59) zu unterscheiden.

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Wenn wir also Erklärung auf den Sinn als die dem Werk immanente Absicht anwenden, dann können wir die Interpretation derjenigen Art von Fragestellung vorbehalten, die sich mit der Fähigkeit eines Werkes beschäftigt, eine eigene Welt zu entwerfen und den hermeneutischen Zirkel zwischen dem Erfassen dieser von ihm entworfenen Welten und der Erweiterung des Selbstverständnisses angesichts dieser Welten überhaupt in Gang zu setzen. (Ricoeur 1997, 59)

Diese Unterscheidung macht sichtbar, dass die doppelte Referenz der Rede als Reali­ tätsreferenz und sprachimmanente Selbstreferenz zugleich eine Präzisierung des her­ meneutischen Zirkels ermöglicht. Wenn auf diese Weise, nämlich von einer doppel­ ten Bedeutung auszugehen, die referenzmarkierende Interpretation von der Aufgabe entkoppelt wird, den Sinn der Rede als deren immanente Absicht nachzuvollziehen, dann kapriziert sich die Interpretation auf den Weltentwurf der Rede als doppelte Referenz. „Unsere Arbeitshypothese legt es uns somit nahe, auf der Ebene des ‚Sinns‘ und der ‚Erklärung‘ des Sinns von der Metapher zum Text vorzugehen – und dann vom Text zur Metapher auf der Ebene der Referenz des Werks auf eine Welt und auf ein Selbst, d. h. auf der Ebene der Interpretation im eigentlichen Sinn.“ (Ricoeur 1997, 59) Die Sinnerklärung einer Metapher geht bei Ricoeur von der Metapher aus und erhellt den Text, während hingegen die Interpretation vom Text ausgeht und die Metapher hinsichtlich ihrer Referenz auf Welt und auf sich selbst als Sprachschöp­ fung und semantische Innovation deutet. Im Prozess des Erklärens soll der Produk­ tionsprozess des Textes mitsamt der maßgeblichen semantischen „Konstruktion des Interaktionsnetzes“ (Ricoeur 1997, 63) sichtbar werden, denn das Gedicht würde dann alles bedeuten, was es bedeuten kann. Ricoeur kommt es darauf an, die Metapher nicht aus dem semantischen Reservoir potentieller Konnotationen heraus zu bestim­ men, da dies voraussetzt, „den schöpferischen Prozeß der Metaphernprägung mit einem nichtschöpferischen Aspekt der Sprache“ zu kombinieren, was nicht mehr aussagen könne, „als das System von assoziierten Gemeinplätzen“ (Ricoeur 1997, 62). Wenn man hingegen attestiert, daß eine neue Metapher überhaupt nirgendwoher genommen wird, dann erkennt man sie damit als das an, was sie wirklich ist, nämlich eine momentane Sprachschöpfung, eine semantische Innovation, die in der Sprache keinen bereits bestehenden Status hat, weder als Bezeichnung noch als Konnotation. (Ricoeur 1997, 63)

Ricoeurs methodische Sichtweise erklärt sich daraus, die Theorie der Substitution unbedingt überwinden zu wollen, sowohl die Annahme einer substituierten wörtli­ chen Bedeutung, die durch Paraphrase restituiert werden soll, als auch des substitu­ ierten Gesamt an Konnotationen und assoziierten Gemeinplätzen. Der entscheidende Punkt bei der Erklärung ist die Konstruktion eines Interaktionsnetzes, die aus diesem Kontext einen aktuellen und einmaligen Kontext macht. Damit lenken wir die Aufmerk­ samkeit auf das semantische Ereignis als auf den Schnittpunkt mehrerer semantischer Linien;

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mit Hilfe dieser Konstruktion ergeben alle Wörter zusammengenommen einen Sinn. Dann – und nur dann  – ist die ‚metaphorische Verdrehung‘ zugleich Ereignis und Bedeutung, ein bedeu­ tungsvolles Ereignis und eine neu entstehende Bedeutung in der Sprache. Das ist das grund­ legende Merkmal der Erklärung, das die Metapher zu einem Paradigma für die Erklärung eines literarischen Werkes macht. Wir konstruieren die Bedeutung eines Textes auf ähnliche Weise, wie wir alle Ausdrücke einer metaphorischen Aussage sinnvoll verbinden. (Ricoeur 1997, 63 f.)

Der Prozess des Interpretierens als eine Abwägung von Plausibilitäten, nicht jedoch von Wahrheitsansprüchen, behandelt so verstanden Merkmale der Referenz und Autoreferenz und damit worüber die nicht-ostensive Rede im Text spricht, indem sie auf eine mögliche Welt verweist, die nur in und durch die Sprache existiert. „Inter­ pretation wird dann das Erfassen von Sätzen über eine von den nichtostensiven Refe­ renzen des Textes erschlossene Welt.“ (Ricoeur 1997, 66) Verstehen als Vollzug einer Interpretation anhand der Erschließung eines Textes hieße dann der „Dynamik des Werkes, der Bewegung von dem, was es sagt, zu dem, worüber es etwas sagt, [zu; d. Verf.] folgen.“ (Ricoeur 1997, 66) Sinn ist somit an die semantische Innovation gebun­ den, denn die Metapher ist „eine zugleich prädikative (neue Pertinenz) und lexikali­ sche (paradigmatische Abweichung) semantische Neuschöpfung“. (Ricoeur 1986, 94) Demgegenüber ist die doppelte Referenz eine heuristische Funktion der Metapher, die auf eine Erweiterung der Möglichkeiten abzielt, neue Weltbezüge und Sichtweisen zu entdecken und Weisen der Wahrnehmung zu erfahren. Das, was wir uns zu eigen machen, was wir uns aneignen, ist nicht eine fremde Erfahrung oder eine ferne Intention, sondern der Horizont einer Welt, auf die sich ein Werk bezieht. Die Aneig­ nung der Referenz findet kein Vorbild mehr in der Bewußtseinsverschmelzung, in Einfühlung [empathy] oder Sympathie. Das Zur-Sprache-Kommen von Sein und Bedeutung eines Textes ist das Zur-Sprache-Kommen einer Welt und nicht das Erkennen einer anderen Person. (Ricoeur 1997, 67)

Ricoeur betrachtet die Metapher vor allem unter dem Aspekt ihrer sprachschöpferi­ schen, innovativen und Welt hervorbringenden ästhetischen Kraft (nicht Struktur oder Prozess), um sodann deren Interpretation als Nachvollzug gerade dieses Vermögens zu verstehen, das in der Sprache über keinen bereits vorab bestimmten bezeichnen­ den oder konnotativen Bedeutungsstatus verfügt, sondern als zugleich bedeutungs­ volles und ereignishaftes Geschehen aufzufassen ist. Gegenüber der semantischen Innovation als einer Sinndimension ist es gerade die Referenzqualität der lebendi­ gen Metapher, die eine spracherweiternde „heuristische Funktion“ (Ricoeur 1986, 56) im Sinne der referentiellen Perspektivenerschließung und ihres entdeckenden und verwandlungsfähigen Potentials ausmacht. Die metaphorische Referenz als eine heu­ ristische Qualität zu bestimmen, heißt, die besondere Leistungsfähigkeit metaphori­ scher Rede darin zu sehen, aufgrund einer impertinenten Prädikation eine neue Weltund Selbstdeutung freizusetzen. Für Ricoeur ist in der metaphorischen Rede eine die gewöhnlichen Kategorisierungen überschreitende „schöpferische Einbildungskraft“ (Ricoeur 1986, 8) am Werk, die Disparates trotz der hierbei auftretenden Unterschiede

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und durch sie hindurch prädikativ assimilieren kann, statt von diesen Differenzphä­ nomenen gänzlich abzusehen, wie dies etwa die begriffliche Kategorisierung durch­ führt.

4 Metaphorische Sehenssicht Im Anschluss an die kurz angesprochenen begrifflichen Differenzierungen, insbeson­ dere von Martin Seel und Paul Ricoeur, lässt sich zunächst festhalten, dass ein herme­ neutisches Bemühen um die Bedeutungsqualität der Metapher für den literarischen Kontext nicht darin bestehen kann, allein oder vorrangig die semantischen Dimen­ sionen und Kontexte anzusprechen. Vielmehr muss der Blick auf die besonderen heuristischen Qualitäten gerichtet werden, die im ästhetischen Kontext stets etwas mit Sichtweisen als Sichtweisen und Wahrnehmungen von Wahrnehmungen zu tun haben, denn was Metaphern bedeuten, hat immer etwas zu tun mit dem, was Meta­ phern anstoßen, hervorbringen, ermöglichen und sichtbar machen. Auch wenn man nicht unbedingt und unter allen Umständen der allzu generalisierten und reichlich formelhaften These von Ralf Konersmann zustimmen muss, Metaphern seien als Ein­ zelwort maskierte Erzählungen (Konersmann 2007, 7 ff.), so sind sie doch zumindest als Sprachphänomene aufzufassen, die prädestiniert sind, Erzählungen anzustoßen, aufzurufen und zu kombinieren. Hiermit ist auch die Dimension der besonderen Wahrnehmungs- und Sichtbarmachungsweisen von und durch Metaphern angespro­ chen. Metaphern in literarischen Kontexten als eine besondere Form der Wahrnehmung zu erfassen und sie vor allem hinsichtlich ihres Vermögens, Wahrnehmungsweisen sichtbar und Sichtweisen wahrnehmbar zu machen, hieße dann aber auch, ihre Tem­ poralität zu einem maßgeblichen Kriterium zu erheben. Dieser Bezug ist jedoch nicht identisch mit Blumenbergs ubiquitärer These, der menschliche Wirklichkeitsbezug sei konstitutionell metaphorisch angelegt. (Blumenberg 2001) Für den hermeneutischen Zusammenhang ist jedoch Blumenbergs primordial und existentiell-anthropologisch verstandener Hinweis wichtig, dass die Daseinsbedingungen des Menschen diesem keine hinreichende Zeit ließen, seine Handlungsfolgen angemessen zu erfassen und somit Metaphern aufs Engste mit diesem Zeitlichkeitsdilemma verbunden seien. Ein hermeneutischer Zugriff auf Metaphorik, der sich nicht darauf fokussieren würde, in paradoxen Prädikationen der Metaphern (nicht zur Sache gehörig) die impliziten deutungsleitenden Latenzvermutungen als Evidenzen des Metaphorischen selbst auszuweisen, hätte mit einer Perspektive auf die Metapher als Wahrnehmungsweise indes einiges gewonnen. Metaphern sind selbst Kategorien der Weltvorstellung, des Erlebens und Denkens im Allgemeinen, d. h. sie basieren auf Als-ob-Sprachspielen, mit denen etwas auf eine variable Art und Weise als Sichtbares sichtbar gemacht wird. Dies allerdings nicht

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bloß im Sinne eines Austauschs oder einer Überschneidung zwischen Herkunfts- und Zielbereichen, sondern indem neue emergierte Elemente, Aspekte und Strukturen in einem eigenen Segment interagieren und etwas gänzlich Neues hervorbringen können, wie dies etwa in der kognitiven Blendingtheorie gehaltvoll ausgearbeitet wurde. Das Blending-Konzept erfasst eine neue Bedeutungskonstituierung aufgrund einer Durchmischung der Source- und Targetdomains, so dass angenommen wird, dass sich neue Bedeutungen auch aus diesen beiden Sphären speisen, indem sepa­ rate und differente Konzeptualisierungen einen gemeinsamen neuen Konzeptbereich hervorbringen können (Fauconnier/Turner 2002). Metaphern eröffnen einen Bereich des begrifflich nicht fixierten Nicht-Identischen und wollen damit „über ihren Bedeutungsgehalt durch den Bedeutungsgehalt über sich hinausgelangen“ (Junge 2011, 54), weswegen ein interpretativer Zugriff ausgelöst wird und notwendig ist, um darin das Nicht-Identische als Erschließung von Perspek­ tivität und erschlossener Wahrnehmungsweise auszumachen. Metaphern präsentie­ ren als sichtbildende Sprachform nicht nur, sondern machen etwas als etwas präsent, indem sie Horizonte transformieren. Das hermeneutische Bemühen hätte davon aus­ zugehen, dass eine klärende Paraphrase den Punkt, an dem ein Vorstellungssystem der Metapher in ein anderes übergeht und gleichzeitig durch dieses selbst erst her­ vorgebracht wird, nicht wieder rückgängig machen kann. Daraus sollte nicht bloß folgen, sich der Relativität und Ambiguität der deutenden Sichtweise bewusst zu sein, sondern den Blick darauf zu lenken, wie die metaphorische Sichtweise als eine solche geschieht und funktioniert. Der immer wieder vorgetragene Befund, dass es eine endgültig zutreffende Paraphrase schwieriger Metaphern nicht geben könne, ist insofern keineswegs hilfreich, um tatsächlich eine tragfähige und weiterführende Idee hermeneutischer Metapherndeutung zu formulieren (vgl. Coenen 2002, 86 ff.). Eine hermeneutische Literaturbetrachtung hätte folglich nicht auf eine beson­ dere Weise Metaphern zu erklären, sondern zu klären, wie sie auf besondere Weise etwas ermöglichen, nämlich auch die Wahrnehmung als Wahrnehmung zu bemer­ ken. Befasste sich die poetisch interessierte Deutungsabsicht metaphorischer Rede mit der Metapher unter dem Aspekt einer wahrnehmbaren Wahrnehmung, deren mimetischer Grund eine Ähnlichkeitsbeziehung reklamiert, die ihrerseits wieder Unähnlichkeit hervorbringt, wäre sie immer schon im ästhetischen Feld und nicht allein in semantischen Bedeutungsbereichen angesiedelt. Die unmittelbare Nähe zur ästhetischen Welterschließung ist dadurch hergestellt, weil die Metaphorik es ermöglicht, den Gegenstand ihrer Wahrnehmung mit einem besonderen Vollzug dieser Wahrnehmung zu verbinden. Mit anderen Worten: Meta­ phern präsentieren nicht bloß etwas, sondern machen es zugleich für die Imaginati­ onen des Lesers als erst hierdurch auf eine besondere Weise Wahrzunehmendes – als ein metapherninduziertes Sehen-als  – präsent. Diese Perspektivengewissheit kann als eine Sehenssicht aufgefasst werden, die allerdings nicht identisch ist mit Witt­ gensteins Begriff des „Aspektsehens“, worunter ein Aspektwechsel bei gleichbleiben­ der Wahrnehmung verstanden wird: „Ich betrachte ein Gesicht, auf einmal bemerke

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ich seine Ähnlichkeit mit einem andern. Ich sehe, daß es sich nicht geändert hat; und sehe es doch anders. Diese Erfahrung nenne ich ‚das Bemerken eines Aspekts‘“ (Wittgenstein 2009, 518). Wenn Wittgenstein hier thematisiert, als was Gegenstände gesehen werden, nämlich „einmal als das eine, einmal als das andere Ding“, kommt er zu dem Ergebnis: „Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten“ (Wittgen­ stein 2009, 519). Diese wichtige Beobachtung kann allerdings nicht das Modell dafür liefern, wie Metaphorik in einem ästhetisch-imaginären Bereich zu verstehen ist. Die Metapher hingegen als eine perspektivengewisse Sehenssicht zu betrachten schließt gerade aus, dass eine neue metaphorische Sichtweise wieder rückgängig gemacht werden kann, weshalb auch ein nachträgliches Changieren zwischen zwei separierten Aus­ gangs- und Empfangsbereichen ausgeschlossen ist. Wahrnehmungstheoretisch betrachtet eröffnet der metaphorische Bildraum wei­ tergehend die Sichtweise auf etwas und als etwas noch um den Aspekt der Sehweise durch etwas, nämlich die Metaphernkonstruktion selbst, die diese Wahrnehmung erst ermöglicht und an die diese Wahrnehmung gebunden ist. Bringt man insofern ins Spiel, dass man im Metaphorischen anders sieht und nicht bloß mit und durch Metaphern anderes sieht, dann wird die Differenz bemerkbar zwischen der Wahr­ nehmung von etwas, als etwas und durch etwas. Es macht für das Verstehen einen Unterschied, ob man sich mimetisch nachvollziehend innerhalb dieser Bildwelt bewegt und von hier aus die eingenommene Wahrnehmungsweise als einen Effekt der gemachten Wahrnehmbarkeit bemerkt oder von außen deutend über diese meta­ phorische Galerie Aussagen trifft.

5 Literatur Baßler, Moritz (2005): Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen. Black, Max (1962): Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy. Ithaca. Blumenberg, Hans (2001): Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M., 406–431. Blumenberg, Hans (1971): Beobachtungen an Metaphern. In: Archiv für Begriffsgeschichte 15, 161–214. Coenen, Hans Georg (2002): Analogie und Metapher. Grundlegung einer Theorie der bildlichen Rede. Berlin/New York. Davidson, Donald (1998): Was Metaphern bedeuten. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Die paradoxe Metapher. Frankfurt a. M., 49–75. Debatin, Bernhard (1995): Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunkationstheoretische Untersuchung. Berlin. De Man, Paul (1989): Allegorien des Lesens. Frankfurt a. M. Derrida, Jaques (1999): Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text. In: Peter Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie. Wien, 229–290.

Metaphern verstehen. Probleme einer literarischen Hermeneutik 

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VI. Perspektiven auf besondere literarische Bereiche

Eva-Maria Thüne

25. Der Umgang mit Sprache in der Migrationsliteratur Abstract: Die stete Zunahme von Texten mehrsprachiger Autorinnen und Autoren gehört zu den innovativen Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur. Hierfür hat sich der Begriff Migrationsliteratur eingebürgert. Zur Problematik des Begriffs gehört, dass er sich vor allem auf die erste Generation von Migranten bezieht und ein Ankommen von außen meint. Das trifft aber für spätere Generationen nicht mehr zu. Autorinnen und Autoren verschiedener Generationen machen sprachlich-kulturelle Divergenzen und Kontraste produktiv, wobei das Dynamische und Prozesshafte von Sprachgebrauch und -reflexion in verschiedenen Verfahren gezeigt wird. Thematisch geht es u. a. um translokale Biographien, in denen der Sprachwechsel als Verlust­ erfahrung erlebt werden kann, neben solchen, in denen Mehrsprachigkeit und Inter­ kulturalität eine Ressource sind und zu neuen Perspektivierungen führen. Durch den Sprachwechsel und/oder das Schreiben mit einer anderen Sprache ‚im Ohr‘ unter­ laufen die Repertoires die Dichotomie von sprachlich richtig und falsch, zudem ent­ ziehen sich die Texte vereinfachenden kulturellen Zuschreibungen bzw. sie spielen damit. Implizit klingt immer etwas Abwesendes mit: andere Räume oder Zeiten, Sprachen, Varietäten und Zeichen, an denen sich Autorinnen und Autoren in ihrem ­Schreiben orientieren. 1 2 3 4

Mehrsprachigkeit in der Migrationsliteratur Formen der Entautomatisierung und Translingualität: Wortebene (Wortbildung – Wortsemantik) Metaphern – Kultureme – Intertextualität Formen der Entautomatisierung und Translingualität: Übertragung – Code-switching – Varietäten 5 Sprache und soziale Welt 6 Reflexion über Sprache – Sprachbiographien 7 Literatur

1 Mehrsprachigkeit in der Migrationsliteratur Cross-Culture-People […] werden zunehmend als Vorläufer einer Welt der Zukunft angesehen. […] Heutige Schriftsteller betonen, dass sie nicht durch eine Heimat, sondern durch verschie­ dene Bezugsländer geprägt sind, durch deutsche, französische, italienische, russische, süd- und nordamerikanische Literatur. Ihre kulturelle Formation ist transkulturell: die der nachfolgenden Generationen wird das noch mehr sein. (Welsch 1994, 97 f.)

DOI 10.1515/9783110297898-025

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Was der Philosoph Wolfgang Welsch vor Jahren sagte, ist für das Verständnis der Texte mehrsprachiger Autorinnen und Autoren nach wie vor wegweisend. Es ist vor allem das Verdienst des Linguisten Harald Weinrich, dass diese Texte im deutschsprachi­ gen Raum zunehmend Wertschätzung erfahren haben. Von 1985 bis einschließlich 2017 vergab die Robert Bosch Stiftung den Adelbert-von-Chamisso-Preis, dessen Name an den deutschsprachigen Autor mit französischen Wurzeln erinnert, an her­ ausragende auf Deutsch schreibende Autorinnen und Autoren, deren Werk von einem Sprach- und/oder Kulturwechsel geprägt ist. Die Informationen zur Chamisso-Litera­ tur zeigen die für den deutschsprachigen Raum charakteristische Entwicklung (über die sogenannte Gastarbeiterliteratur zur Migrationsliteratur) sowie die damit verbun­ dene veränderte Wahrnehmung dieser Texte. Ging es in der Anfangsphase primär um den außergewöhnlichen Umgang mit Sprache, sind das Thema des Sprach- und Kulturwechsels und der damit verbundene Perspektivwechsel inzwischen ein „unver­ zichtbarer Bestandteil deutscher Gegenwartsliteratur“. Damit sah die Stiftung ihr Ziel erreicht, was zu der umstrittenen Entscheidung führte, die Preisvergabe einzustel­ len (vgl. Pressemitteilung vom 20.9.2016, http://www.bosch-stiftung.de/content/lan­ guage1/html/70274.asp). Die lebendige Debatte um Inszenierungen literarischer Mehrsprachigkeit in der (germanistischen, interkulturellen und komparatistischen) Literaturwissenschaft (vgl. z. B. Schmeling/Schmitz-Emans 2002, Ette 2005, Kilchmann 2012) kann wegen ihres Umfangs nicht nachgezeichnet werden. Obwohl es sich häufig um übergrei­ fende, interdisziplinäre Fragestellungen handelt, werden in diesem Beitrag spezi­ fisch linguistische Studien zur mehrsprachigen Literatur berücksichtigt. Es geht also primär um die Fragen, ob sprachliche Verfahren besonders auffällig sind und ob die Reflexion über Sprache zum Thema wird. Dabei wird kein Anspruch auf Vollständig­ keit erhoben, weder bei der Auswahl der Textbeispiele noch in Bezug auf die mögli­ chen einzelnen Fragestellungen. Auch soll die Untersuchung mehrsprachiger Strate­ gien im deutschen Text nicht dazu führen, dass der Unterschied zwischen ‚fremder Sprache‘ und ‚deutscher Sprache‘ unterstrichen wird. Vielmehr liegt der Betrach­ tung einerseits der Gumperz’sche (1964) Begriff des Sprachrepertoires zugrunde, bei dem alle Sprachen, Varietäten, Codes, Register, Stile und Routinen des Individuums zusammen gesehen werden, sowie andererseits das Konzept der Mehrsprachigkeit bzw. Heteroglossie, bei dem im Anschluss an Bachtin (1979) Sprachenvielfalt als das Resultat eines Dialogs von Sprachen oder Varietäten auch innerhalb einer Sprache verstanden wird (Busch 2013, 10). Der Begriff der Transkulturalität, wie von Welsch entwickelt, ist demnach mit dem der Mehrsprachigkeit bzw. Heteroglossie (im Sinne von Busch 2013) zusammen zu denken. Sprachliche Besonderheiten mehrsprachiger Literatur betreffen mehrere Ebenen des sprachlichen Systems, vor allem Semantik, Pragmatik und Syntax, im Einzelnen z. B. Orthographie, Textsorten, Intertextualität und Multidiskursivität, die im Folgen­ den an exemplarischen Texten gezeigt werden sollen. Diese Stilstrategien sind nicht immer charakteristisch für das gesamte Werk der zitierten Autorinnen und Autoren,

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da es deutliche Veränderungen in der Erzählhaltung geben kann (z. B. bei Zaimo­ glu). Außerdem soll erwähnt werden, dass eine stilistische Analyse keine sprachli­ chen Besonderheiten im o. g. Sinne zeigen würde. Etwas Ähnliches lässt sich über die Themen, die mehrsprachige Autorinnen und Autoren behandeln, sagen: sie beschränken sich nicht auf Fragen der Mehrsprachigkeit und Fremdheit, behandeln diese aber oft auf besonders eindrückliche Weise (vgl. dazu Kap. 5 und 6). Der Chamisso-Preis wurde bis einschließlich 2017 an fünfundsiebzig Autorinnen und Autoren vergeben. Darüber hinaus gibt es jedoch viele Migrationsautorinnen und -autoren, die nicht zu diesem Kreis zählen, deren Texte aber doch vom Publi­ kum geschätzt und als Teil dieser Literatur wahrgenommen werden (z. B. Wladimir Kaminer). Um die Textgrundlage zu beschränken, werden ausschließlich Texte der Chamisso-Literatur für die Analyse herangezogen.

2 Formen der Entautomatisierung und Translingua­ lität: Wortebene (Wortbildung – Wortsemantik) Ein ‚fremder Ton‘ kann in einem Text entstehen, ohne dass er sich an der sprachlichen Oberfläche festmachen lässt. Die Autorinnen Léda Forgo und Yoko Tawada warnen davor, alle abweichenden sprachlichen Konstruktionen auf den Einfluss der Erstspra­ che zurückzuführen (vgl. Amodeo u. a. 2009, 143–176; vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 3). Dennoch wird vom Publikum und in der Diskussionen um die Literatur von Migrationsautorinnen und -autoren häufig als Erstes auf ungewöhnliche Wortbildun­ gen (z. B. „Verkämpfen“, s. u.) hingewiesen. In ihrer korpuslinguistischen Analyse zur morphologischen Produktivität von „nicht nativen Autoren“ im Vergleich zu Texten „nativer Autoren“ stellt Lupica Spagnolo (2013, 339 ff.) jedoch fest, dass grundsätzlich kein Übergebrauch der im Deutschen besonders produktiven Wortbildungsmuster durch Derivation (auf -ung, -keit, -igkeit, -heit, -bar, ver-) vorliegt. Sowohl dem Einfluss der Muttersprache (L1) als auch dem Phänomen der Übergeneralisierung bestimmter Formen in der L2, typisch für die Anfangsphasen des Spracherwerbs, wird kein maß­ geblicher Einfluss zugeschrieben. Wenn ungewöhnliche Wortbildungen vorkommen, sind sie im Rahmen komplexerer stilistischer Verfahren zu sehen, bei denen es sich in vielen Fällen um Strategien der Entautomatisierung bzw. De(s)automatisierung von Sprache und Wahrnehmung handelt (vgl. Kilchmann 2012a, Šlibar 2011). Formen von Entautomatisierung fallen Leserinnen und Lesern ganz besonders auf, wenn sie typographisch hervorgehoben werden und wie Stolpersteine im Text wirken. Diese Stolpersteine öffnen den Lesenden den Blick auf Möglichkeiten ihrer Muttersprache, die sich gerade im Rückgriff auf nicht automatisierte Regeln ergeben. Der Lyriker José F. A. Oliver lenkt den Blick auf ein bestimmtes Wort, indem er den Leseprozess und damit die Wahrnehmung und Verarbeitung aufhält, z. B. durch den Gebrauch des Doppelpunkts und anderer typographischer Verfahren (etwa Klein­

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schreibung, Gebrauch von Numeralien sowie des &-Zeichens). Besonders durch den Gebrauch des Doppelpunkts erzielt er eine Art Verfremdungseffekt und hebt darin mitenthaltene Wörter (z. B. „W:ERDEN“, s. u.) hervor. Er steht damit auch in der Tradi­ tion von Schreibstrategien der europäischen Avantgarde. nicht greifbar, sage ich die architektur aus wald & schwarz & sog ins innere – als sei die dunkle farbgewähr die insgeheime weite & flügelschlag der sprache : 1 alphabet der hölzer & rindenw:orte, die brennen & werfen aus […] ZEIT, die geht ins hellere des vermögens, EINS ZU W:ERDEN [werden wie in erden] […] (José F. A. Oliver 2010, fahrtenschreiber, 15)

In anderen Texten entfaltet Oliver sein heteroglosses Sprachrepertoire durch den sys­ tematischen Gebrauch spanischer Wörter im deutschen Text (z. B. in Mein andalusisches Schwarzwalddorf, 2007). Es werden aber nicht nur spanische Wörter kursiv her­ vorgehoben, sondern auch solche aus dem Alemannischen (dem Dialekt Hausachs im Schwarzwald, wo Oliver aufgewachsen ist) und Andalusischen (dem spanischen Dialekt der Familie). Einerseits werden Wörter (aus dem Spanischen, Deutschen, aus Dialekten) kursiv vom Autor markiert („Ich lernte Andalucía, Wunderfitz, Madengele, anapola, Akkordarbeit und Stempeluhr“, Oliver 2007, 32) oder durch direkte Überset­ zung in den Text eingebettet („Dem Verständigen reichen wenige Wörter. Vater sollte immer ein Sprichwort parat haben. Al buen entendedor pocas palabras bastan.“, ebd., 33). Andererseits werden bestimmte Wortneubildungen, mit denen die Neuheit der Erfahrung gefasst werden soll, gerade nicht hervorgehoben („Ein Verkämpfen in Sprache“, ebd., 10; „[…] Andalusien schien dem Schwarzwald wie vermuttert“ ebd., 34), etwa wenn durch Präfigierungen auf semantischer Ebene ein Aspekt der Hand­ lung betont wird (vgl. Fleischer/Barz 2012, 390). Bei „vermuttert“ wird die Verbin­ dung mit der Landschaft, bei „Verkämpfen“ eine Intensivierung der Grundbedeutung betont. Im Wechseln zwischen Sprachen, Dialekten und Registern wird die Fremdheit z. B. typographisch hervorgehoben (außer den oben genannten Formen an anderen Stellen auch durch Kursiv- und Fettdruck). Dazu passt auch das Glossar am Ende des Textes, in dem Einträge aus allen Sprachen bzw. Varietäten des Autors gleichberech­ tigt aufeinander folgen und einen Gesamttext mit intra- und interlinguistischen Poly­ valenzen schaffen. Olivers Text zeigt das Sprachenrepertoire des Autors als Bewe­ gung der bzw. in den Sprache(n), wobei etablierte sozio-kulturelle oder ästhetische Normen der Einsprachigkeit zugunsten einer literarisch konstruierten Heteroglossie in Frage gestellt werden.

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Anders inszeniert Emine Sevgi Özdamar in dem Roman Die Brücke vom Goldenen Horn (1998, 93 ff.) sprachliche ‚Fremdheit‘, etwa wenn sie die Orthographie anpasst, um die artikulatorischen Besonderheiten türkischer Arbeiterinnen wieder­ zugeben. Mit solchen graphematisch an der Aussprache orientierten Wörtern (z. B. „Wonaym“) bildet sie auch Komposita („Fabrikwonaym“, „Wonaymbetten“) und führt damit Formen von Interlingua (einer Zwischenstufe beim Spracherwerb, s. u.) vor. Dazu gehören auch Zusammenrückungen wie „Erwarkeinengel“ oder „Gutentag Gu­tentag“, die u. a. die Sprachwahrnehmung zeigen. Auf Satzebene handelt es sich um Formen der Re-Oralisierung, z. B. durch die auffällig geringe oder große Satzlänge bzw. durch Sätze, die nicht nach den Regeln der Schriftsprache, sondern der gespro­ chenen Sprache konstruiert werden (vgl. Kap. 4). Auch das Bilden von neuen Komposita ist eine Strategie von Özdamar, z. B. bei okkasionellen Wortbildungen, etwa mehrfach bei Nominalkomposita („Kussstim­ men“, Özdamar 1998, 23). Parodie entsteht oft durch Komposita mit mehr als zwei Komponenten („Radiolampenfabrikdirektor“, ebd., 30, „Standarddienstvorschrif­ tenbuch“, ebd., 71), Metaphern- und Metonymiebildung (vgl. Kap. 3) führen zu unge­ wöhnlichen Komposita („Freudenmaske“, ebd., 98, „Gehirnkompass“, ebd., 256), wie auch der Registerwechsel in Komposita („Hurenstück“, ebd., 293, „Filmkerle“, ebd., 305). In meiner Sprache heißt Zunge: Sprache. Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin. Ich saß mit meiner gedrehten Zunge in dieser Stadt Berlin. […] Wenn ich nur wüßte, wann ich meine Mutterzunge verloren habe. Ich und meine Mutter sprachen mal in unserer Mutterzunge. […] Ich erinnere mich jetzt an Muttersätze, die sie in ihrer Mutterzunge gesagt hat, wenn ich ihre Stimme mir vorstelle, die Sätze selbst kamen in meine Ohren wie eine von mir gut gelernte Fremdsprache. (Emine Sevgi Özdamar 1990, Mutterzunge, 9)

In diesem berühmten Anfang ihrer Sammlung Mutterzunge (1990) spielt Özdamar schon im Titel mit der Wortbedeutung, indem sie das Wort Muttersprache abwandelt, „weil sie nicht auf die konventionelle Bedeutung eines Wortes zielt, sondern in ihm eine unübliche, gleichwohl von der Wortsemantik her mögliche Bedeutung erzeugt“ (Schiewe 2011, 229). Özdamar bringt die Sprachen in ein dynamisches Verhältnis zueinander, wodurch die Grenzziehung brüchig und der Gegensatz zwischen ‚fremd‘ und ‚eigen‘ nicht festgeschrieben wird (denn auch die Muttersprache kann ‚fremd‘ werden). Die Autorin ist als „Wörtersammlerin“ (1990, 46) sowohl im Deutschen als auch im Türkischen unterwegs, um gerade dort versteckte Zusammenhänge aufzude­ cken (z. B. durch das Beschreiben von Etymologien arabischer oder anderer „Fremd­ wörter“ in der „Großvaterzunge“). Diese sprachliche Entdeckungsreise (vgl. Kap. 6) wird für viele Autorinnen und Autoren zum Leitfaden der Erinnerungsarbeit und zur Inspirationsquelle mehrsprachigen Schreibens.

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3 Metaphern – Kultureme – Intertextualität „Mundhure“ (Oruspu), nennt die Mutter die Tochter in Özdamars Roman Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein – aus der anderen ging ich raus (1992, 117), und die Tochter lässt sich das Wort auf der Zunge zergehen. Mit neuen aussagekräftigen Metaphern wie dieser versucht die Autorin, die Erfahrungen der Mehrsprachigkeit und Migration sagbar zu machen, sie durch die Wortbildungs­ prozesse geradezu plastisch zu modellieren. Dabei geht es sowohl bei den Neubildun­ gen als auch bei den Metaphern darum, die emotionale Dimension dieser Erfahrung zu betonen (vgl. den Beitrag von Schwarz-Friesel in diesem Band zur besonderen Rolle von Metaphern für den Emotionsausdruck). Damit wird verdeutlicht, dass in der Begegnung mit einer neuen Sprache, Kultur und sozialen Lebenswelt tiefgreifende Identitätsfragen ausgelöst werden können. Dies gilt auch für den ungewöhnlichen Gebrauch von traditionellen Metaphern (vgl. Kap. 5 und 6). Baumann spricht deshalb von „Quersprachigkeit“ (2011, 38 f.), d. h. Verfahren die quer zum gewohnten Sprachgebrauch wirken und verweist auf das Bild des Wolfs bei Özdamar und Feridun Zaimoglu. Dieses enthält ein ausgesprochen hohes Emo­ tionspotenzial in Bezug auf das Leben im Herkunftsland (Özdamar schafft z. B. in Karawanserei das Wort „Demokratenwolf“ (1992, 254), mit dem sie u. a. auf nationa­ listische Tendenzen in der Türkei anspielt). Aber auch mit Bezug auf das Leben in Deutschland kommt es vor, so etwa bei Zaimoglu mehrfach in Kanak Sprak: „’n wolf hat’n pelz, und is der pelz futsch, is er’n armes elendes schwein und bleibt schwer auf der strecke“ (1995, 46). Das Bild des Wolfs ist mit der konzeptuellen Metapher Das Leben ist ein Kampf (vgl. Lakoff/Johnson 1980, 31 ff.) verbunden. Für dieses Konzept gibt es zum einen kulturübergreifende Bilder, zum anderen Kultureme (Oksaar 1988), die kulturspezi­ fisch sind, was sich sprachlich an ganz bestimmten Kernbegriffen festmachen lässt. Beobachten kann man dies daran, wie die Figuren in Dimitré Dinevs Ein Licht über dem Kopf (2005) das Wort Arbeit benutzen, das Kegelmann (2010, 111) als „Urwort der Asylanten und Immigranten“ bezeichnet, dem sich alles unterordnet. Arbeit war das erste Wort, das Spas auf deutsch gelernt hatte. Es war weder das Wort Liebe noch das Wort Hoffnung, geschweige denn Glaube. Denn ohne Arbeit gab es nichts als Angst. Dies war das Wort am Anfang. Erst dann kamen die vielen anderen. […] Arbeit war ein magisches Wort. Arbeit war mehr als ein Wort, es war die Rettung. (Ein Licht über dem Kopf, 94 f.)

Kultureme bringen einen Wissenstransfer in Bewegung, der oft nicht allein in Fest­ stellungen oder Positionierungen besteht, sondern in Erzählungen und Bildern und deren sprachlicher Tradition enthalten ist. Sie werden z. B. durch intertextuelle Zusammenhänge vermittelt, die in Form von Anspielungen, Verweisen und (implizi­ ten) Zitaten usw. erfolgen, wie etwa bei Özdamar in Seltsame Sterne starren zur Erde (2003), wo sie sich teilweise direkt auf Else Lasker-Schüler bezieht. Für deutschspra­

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chige Leserinnen und Leser sind intertextuelle Bezüge und Wiederaufnahmen aus anderen literarischen Traditionen, wie etwa der türkischen (s. u.), eine Bereicherung ihres Fundus an Bildern und Formen. Özdamars erzählte Version ihres Theatertextes Karagöz in Alamania (1982, in Mutterzunge 1990) ist ein besonders deutliches Beispiel für Intertextualität und Re-Ora­ lisierung eines literarischen Textes. Karagöz (‚Schwarzauge‘) ist die Hauptfigur des gleichnamigen türkischen Schattenspiels, ein einfacher Mann aus dem Volk, der sich als „Wortmakler“ bezeichnet und einer Reihe von unterschiedlichen sozialen Figuren begegnet, die durch ihren Sprachgebrauch in den Dialogen die multikulturelle Stadt­ bevölkerung von Istanbul lebendig werden lassen. Die typisierten Figuren benutzen häufig Phraseologismen, mit denen sie auf den common sense der Zuschauer zurück­ greifen (Thüne 2008, 313 ff.). Özdamar lässt Karagöz nach Deutschland reisen, wo er Menschen trifft, die wieder durch ihren Sprachgebrauch typisiert dargestellt werden. Es handelt sich dabei häufig um türkische Migrantinnen und Migranten der ersten Generation und deren ‚Mischsprache‘: Die Türken sprachen in ihrer Sprache, die mit deutschen Wörtern gemischt war, wofür sie in Türkisch keine Worte hatten: wie Arbeitsamt, Finanzamt, Lohnsteuerkarte, Berufsschule. Ein gestandener Gastarbeiter sprach: Sonra Dolmetscher geldi. Meisterle konustu. Bu Lohn stuer kaybetmis dedi. Finanzamt cok fena dedi. Lohnsteuer ok. Bombuk. Kindergeld falan alamazsin. Yok. Aufenthalt yok. Fremdpolizei vermiyor […]. (Mutterzunge, 77)

Bei diesem intertextuellen Verfahren werden die Formen der Sprachmischung und Typisierung verschiedener Figuren mittels sprachlicher Merkmale (v. a. Dialekte und Varietäten) im traditionellen Karagöz auch für die literarische Gestaltung des deut­ schen Karagöz-Theaterstücks verwendet. Doch Özdamar zieht auch andere Genres heran, wie den Monolog in Karriere einer Putzfrau (1998) oder tagebuchartige Ich-Erzählungen in Mutterzunge und Großvaterzunge (1998). In den beiden Romanen Das Leben ist eine Karawanserei – hat zwei Türen – aus einer kam ich rein – aus der anderen ging ich raus und Die Brücke vom goldenen Horn ist die Stimme der Erzählerin durchgehend durch die „Sprache der Nähe“ (vgl. Koch/Österreicher 1985), d. h. durch die konzeptionelle Mündlichkeit geprägt. Sprachmischung entsteht auch durch Zitate aus der Schriftsprache: so fließen in dem als große mündliche Erzählung angelegten Roman Das Leben ist eine Karawanserei verschiedene Textformen oder Mischformen sowohl aus der oralen als auch aus der literarischen Tradition ein, wie Märchen, Gebete, Lieder und lyrische Teile. Saša Stanišić entwickelt in seinem Roman Wie der Soldat das Grammophon repariert (2006), in dem aus der Perspektive eines Jungen die Migration aus Višegrad nach Deutschland beschrieben wird, eine komplexe Überblendung von Stilen und Genres. Er wechselt zwischen narrativen Teilen, Briefen und tagebuchähnlichen Aufzeich­ nungen, verbindet Monologe und Formen der Intertextualität (Letzteres z. B. in dem Kapitel Wie es der dreisten Drina geht, wie es der lippenlosen Drina wirklich geht, was sie vom kleinen Herrn Rzav hält und wie wenig man braucht, um glücklich zu sein wie

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ein Falke, 2006, 20 ff., das einen Bezug zu Ivo Andrićs Die Brücke über die Drina her­ stellt). Mit dieser indirekten Fortschreibung von Texten ist eine von vielen Orten und Sprachen ausgehende Vorstellung von Literatur verbunden. Dies trifft fraglos auch für Yoko Tawada (s. u.) und andere zu, bei denen das Konzept der Deterritorialisie­ rung (Deleuze/Guattari 1975) zu sprachlicher Kreativität geführt hat. Mehrsprachigkeit kann demnach auf der sprachlichen Oberfläche erkennbar sein, sie kann Durchlässigkeit zwischen den Formen und Systemen auf indirekte Weise bewirken, durch ungewöhnliche Metaphern (s. o.). Mehrsprachigkeit kann aber auch durch einen anderen Sprachrhythmus, durch den latenten (nicht immer sofort erkennbaren) Einfluss der einen Sprache auf eine andere wirken. Tatasciore (2012) zeigt am Beispiel der Prosa von Terézia Mora, wie das Tempussystem des Ungarischen auf den deutschen Text einwirkt, und zwar im Sinne einer Ausdruckserweiterung: Terézia Mora erklärt, sie wolle sich bei ihrem ersten Werk nicht in dem Problem der Tempus-For­ men ‚verheddern‘ […]. Aus diesem Grund entschied sie sich dafür, ihre „Seltsame Materie“ fast nur in der Präsensform zu erzählen, um den durch das Präteritum verursachten Abstand zum Erzählten zu vermeiden […] Der starke Gebrauch des Präsens ist mit einer nicht chronologischen Reihenfolge der Erinnerungen und der Ereignisse gekoppelt. (Tatasciore 2012, 229; Hervorh. im Orig.)

Narration, Ordnung der Ereignisse und Erinnerung werden auf Tempusebene ent­ koppelt. Zusammen mit dem verstärkten Gebrauch von gleichgeordneten Strukturen, wodurch Vorder- und Hintergrund verschwimmen, führt das zu einer erzählerischen „Null-Perspektive“ im Sinne Weinrichs (vgl. Tatasciore 2012, 236). Das Geschrei. Das Weinen. Wie es hervorbricht. Wie es aus der Kehle bricht. Aus den Rippen. Wie es das normale Gesicht sprengt. Wie es den bisherigen Raum sprengt. Ohne Warnung. (Terézia Mora 1999, Seltsame Materie, 86)

Durch Wiederholungen und Kargheit des Stils entsteht eine starke Ausdrucksintensi­ tät: eine „Syntax des Schreis“ (Tatasciore 2012, 231).

4 Formen der Entautomatisierung und Translingua­ lität: Übertragung – Code-switching – Varietäten In meinem Schreiben wurde ich immer wieder von den deutschen Wörtern wie ‚Stern-kunde‘, ‚Schrift-steller‘ oder ‚Fern-seher‘ inspiriert. Sie kamen mir vor, als hätte man zwei uralte germa­ nische Ideogramme miteinander verbunden, um ein neues Wort zu bilden. (Yoko Tawada 2008, Körper der Literatur, 88)

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Ein weiteres Beispiel für Entautomatisierung sind Yoko Tawadas durch Bindestriche in einzelne Elemente zerlegte Wörter, wodurch die einzelnen Bedeutungsanteile her­ vorgehoben werden. Das geschieht nicht nur in Bezug auf einzelne Wörter, sondern greift weiter und hat Auswirkungen auf Satz- und Textebene. Es ist Tawadas ideogra­ phischer Blick, der die translinguale Begegnung mit der Sprache Deutsch bestimmt: Ich habe nie Französisch gelernt, insofern ist es nicht verwunderlich, daß ich den Text nicht verstehe. […] Ich sehe das Wort ‚du‘. Es ist schwierig zu glauben, daß es gar nichts mit dem deutschen Wort ‚du‘ zu tun hat. Ein ‚du‘, das man nicht kennt, kann alles bedeuten: ein Getrei­ desack, eine Anziehpuppe, eine Taube oder eine Tür. […] Die Schriftzeichen […] sind Reisende, sie werden unterwegs immer wieder anders verstanden, je nachdem, in welcher Sprache sie übernachten. Ihre Körper bleiben aber dieselben, nämlich ein ‚d‘, ein Halbkreis mit einer erho­ benen Hand, und ein ‚u‘, ein leeres Gefäß. (Yoko Tawada 2002, Überseezungen, 32 f.)

Wie in der japanischen Schriftzeichentradition werden Buchstaben als Logogramme verstanden, das „Alphabet als Spielzeug“ (Tawada 2000, 175), was deutlich macht, dass Buchstaben verselbständigt eine materielle Form und eine religiöse oder magi­ sche Funktion besitzen können (vgl. Kilchmann 2012, 21). Dabei geht es einerseits ideographisch um die Schriftebene, anderseits aber auch um die Ebene semantischer ‚Wortbilder‘. So gelangt Tawada zu neuen Sinnbildern, wie etwa beim Wort „Über­ seezungen“ (Titel einer Textsammlung), bei dem sie typographisch die Stelle hervor­ hebt, mit deren Zeichenform sie spielt. Das neue Wort markiert den Gedankengang von Tawada, für die es kein völliges Aufgehen einer Sprache in einer anderen gibt (vgl. dazu auch Tawadas intensive Auseinandersetzung mit Übersetzungsfragen, z. B. der Selbstübersetzung, in Talisman 1996). Das Konzept der Übertragung von einer Sprache in die andere (Übersetzung) wird bei Überseezungen mit der Vorstellung weit voneinander entfernter Sprachen verschränkt. Es enthält auch das Wort, das metonymisch für Sprache steht: ‚Zunge‘ (vgl. auch Özdamar Kap. 2). Tawada, die im Deutschen wie im Japanischen als Autorin erfolgreich ist (vgl. http://yokotawada.de), versteht das Übersetzen als Öffnen eines Tors zu Unerwartetem, eine – im Anschluss an Celan – epiphanische Erfahrung. Die Ich-Erzählerin in Tawadas Text Die Ohrenzeugin betont: „die Muttersprache macht die Person, die Person hingegen kann in einer Fremdsprache etwas machen“ (Yoko Tawada 2002, 111), was eine Beschreibung des sprachlichen und kulturellen Transformationsprozesses ist, der sich letztlich in beide Richtungen, auf beide Sprachen auswirkt. Die Veränderung betrifft die Person als polyglotte Sprecherin in ihrem gesamten Sprachrepertoire, bei dem die Register und Sprachen miteinander und ineinander gesprochen werden. Im Text Eine leere Flasche (Yoko Tawada 2002, 53 ff.) bringt die Ich-Erzählerin all die genannten Aspekte ihres Schreibens zusammen, wenn sie über die Probleme der Selbstbezeichnung als Mädchen im Japanischen spricht:

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Das Mädchen, das sich ‚boku‘ nannte, verlor ich irgendwann aus den Augen. Das Problem der Selbstbezeichnung verlor ich auch aus den Augen. Denn ich zog nach Europa und fand das Wort ‚ich‘ […]. Mir gefällt außerdem, daß ein ich mit einem ‚I‘ beginnt, ein einfacher Strich, wie der Ansatz eines Pinselstriches, der das Papier betastet und gleichzeitig die Eröffnung einer Rede ankündigt. Auch ‚bin‘ ist ein schönes Wort. Im Japanischen gibt es auch das Wort ‚bin‘, das klingt genau gleich und bedeutet ‚eine Flasche‘. Wenn ich mit den beiden Wörtern ‚ich bin‘ eine Geschichte zu erzählen beginne, öffnet sich ein Raum, das Ich ist ein Pinselansatz, und die Flasche ist leer. (Eine leere Flasche, 57)

Das Auflösen von sprachlichen Grenzziehungen wird neben den verschiedenen genannten Formen auch bei der Konstruktion von Dialogen deutlich, in denen es zu Code-switching kommt, so etwa in Özdamars Brücke-Roman: „‚What is mon amour in Türkisch?‘ Sie sagte zum Spiegel: ‚Sevgilim‘“ (1998, 140). In vielen Dialogen werden verschiedene Sprachregister und -stile miteinander verschränkt, die auf unterschiedliche Kommunikationskulturen und -erfahrungen zurückverweisen. Stanišić lässt in seinem Roman Wie der Soldat das Grammophon repariert (2006, 60) eine Vielzahl von Stimmen, häufig mit Code-mixing und -shifting zu Wort kommen: Grissgott, flüstert er zu dem Foto und küsst die Ecke, in der in geschwungenen Buchstaben Hissi oder Sissi zu lesen ist. Grissgott, kiss die Hand, scheene Frau! Zorans Lippen sind leicht vorge­ schoben, wenn er Österreichisch spricht, gespitzt für einen kleinen Kuss. Kiss die Hand, hibsche Frau, kiss die Hand! Kung Fu!

Das Wechseln des Codes im Text gehört auch zu den Formen der Re-Oralisierung literarischer Texte. In Özdamars Roman Das Leben ist eine Karawanserei (1992) wird beschrieben, wie die Großmutter die Protagonistin das Beten lehrt: die Satzlänge wird ausgedehnt und mit dem Prinzip der Wiederholung entsteht ein besonderer Rhyth­ mus – der Klang einer stärker oralen Kultur: Meine Großmutter sagte Gebetwörter, deren Endsilben ich mitsagte. Dann ließ man die Hände neben die Hüfte fallen, man durfte mit dem Körper nicht wackeln. Dann musste man sich halb bücken, die Hände auf die Knie legen und die Wörter sagen, dann wieder gerade stehen. Dann wieder runter auf die Knie, die Hände nach vorne legen und das Gesicht über die auf der Erde liegenden Hände legen, dann wieder hoch und die Hände auf die Oberschenkel legen, die Wörter sagen, dann den Kopf auf die rechte Seite drehen, Esselâmü aleyküm ve rahmetullah sagen, dann den Kopf auf die linke Seite drehen, Esselâmü aleyküm ve rahmetullah sagen, die Engel begrüßen. Ich lernte diese letzten Sätze sehr schnell. Damit war das Namaz-Gebet zu Ende. Erst dann konnte man sich auf die Knie setzen, die beiden Hände vor der Brust in Richtung Himmel öffnen, offenlassen und mit Allah reden. „Mein Allah, bitte hilf, dass die Arbeit meines Vaters auf einen guten Weg kommt, mein Allah, bitte hilf, dass meine Mutter, Großmutter, Vater, mein Bruder Ali, mein Bruder Orhan gesund bleiben und von bösen Blicken geschützt sind. Mein Allah, bitte sag’ deinem Regen, er soll sich beruhigen.“ Man konnte mit Allah sprechen, solange man wollte. (Das Leben ist eine Karawanserei, 78 f.)

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Neben der Satzlänge sind hier die vielen parataktischen Parallelkonstruktionen auf­ fällig (Satzanschluss mit und, dann, und dann), die typisch für das mündliche Erzäh­ len sind, besonders das mündliche Erzählen von Kindern. Und in der Tat handelt es sich hier um die Perspektive eines Kindes. Satzkürze, parataktische Konstruktionen, auch in Form von Listen, durch die die (Über-)Fülle einer Lebenswelt benannt wird, gehören zu stilistischen Mitteln im Bereich der Syntax, mit denen auch Stanišić in Wie der Soldat das Grammophon repariert (2006, 54) immer wieder hybride Identitäten beschreibt: Ich bin ein Gemisch. Ich bin ein Halbjud. Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also. Es gab den Schul­ hof, der sich wunderte, wie ich so etwas Ungenaues sein konnte, es gab Diskussionen, wessen Blut im Körper stärker ist, das männliche oder das weibliche, es gab mich, der gerne etwas Ein­ deutigeres gewesen wäre oder etwas Erfundenes, das Vukoje Wurm nicht kannte, oder etwas, das er nicht auslachen konnte, eine deutsche Autobahn, ein Wein trinkendes, fliegendes Pferd, ein Schuss in den Haushals.

Die Charakterisierung von Figuren durch Sprechstile ist ein in der Literatur sehr ver­ breitetes Mittel zur Darstellung von Vielstimmigkeit im Sinne von Bachtin (1979). Dabei geht es nicht nur um die Kennzeichnung von Individualstilen, sondern auch um Grup­ pensprachen bzw. Varietäten. Ein Beispiel dafür sind die oben schon gezeigten Lerner­ varietäten, die bei einigen Autorinnen und Autoren zunächst auch mit sprachkritischer Absicht rekonstruiert wurden. Die bekannteste Form ist sicher das „Türkendeutsch“ (vgl. z. B. Keim/Knöbl 2007), das oft nach dem Titel des Buchs von Zaimoglu (1995) auch Kanak Sprak benannt wird (das Wort Kanak, ursprünglich eine Bezeichnung für die melanesischen Ureinwohner in Neukaledonien, einer Inselgruppe im Südwestpazifik, wurde im Deutschen häufig abwertend für als ausländisch kategorisierte Menschen verwendet). In diesem Buch versucht Zaimoglu, die subversive Kraft der Sprache junger türkischstämmiger Männer in Deutschland literarisch darzustellen. Laut Aussagen des Autors handelt es sich um eine Nachdichtung der Antworten, die er von vierundzwan­ zig Informanten auf die Frage: Wie lebt es sich als Kanake in Deutschland? (Feridun Zaimoglu 1995, 9) erhalten hatte. Der Autor wendet sich damit gegen einen romanti­ schen Multikulturalismus und betont die kulturelle und sprachliche Andersheit. Sie sind lumpenproletariat […] menschenmüll […]. Deshalb sind sie kanaken, deshalb bin ich ein kanake, deshalb bist du kanake. Wir sind bastarde […]. Man sagt dem bastard, er fühle sich unwohl, weil zwei seelen bzw. kulturen in ihm wohnen […]. Bruder, ich klopf hier kein spruch, aber da draußen tobt ne fehde, die alten sind ohne saft. (Feridun Zaimoglu 2007, Kanak Sprak, 109; 47)

Die Mischung aus Dokumentation und Nachdichtung des Türkendeutschen, zunächst eine Art Hate Speech (vgl. Judith Butler) der jungen türkischen Männer, wird in den folgenden Büchern Zaimoglus auch auf die türkischen Frauen ausgeweitet und lässt sich insgesamt nicht auf sozial ausgegrenzte Figuren beschränken. Die literarische „Kanak Sprak“ hat Züge von Sprechstilen der Jugendsprache, die als „Ghettodeutsch“

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bzw. „Ghettoslang“ (Keim/Knöbl 2007, 162) bekannt sind und substandardsprach­ liche Formen enthalten, wie den häufigen Gebrauch von Vulgarismen, Metaphern, Intensivierungen, Verkürzungen und Kontaminationen, code-mixing durch türki­ sche Wörter etc. Diese Form von Sprachmischung erwies sich als sehr erfolgreich im Bereich der Medienkultur und wurde durch Komiker wie Erkan & Stefan, Dragan & Alder so verbreitet, dass Teile des Slangs zeitweise in die Jugend- bzw. Umgangsspra­ che aufgenommen wurden (z. B. die Anrede Alter/Alte). Der thematische und sprachliche Tabubruch, der Zaimoglus Frühwerk prägt, ist nicht das einzige Kennzeichen dieser Texte. Steiner (2012, 100) spricht von Verfahren eines literarischen Neomanierismus, wobei Buchstaben, Wörter, Sätze und lyrische Figuren aus dem Zusammenhang gelöst und frei kombiniert werden, was zu Ver­ schlüsselung und Verrätselung führt.

5 Sprache und soziale Welt Vor allem in den frühen Texten einiger Autorinnen und Autoren werden soziale Kon­ flikte, Marginalisierungen und wechselseitige kulturelle Grenzziehungen am Beispiel sprachlicher Praxis und deren Entwicklung in grenzüberschreitenden Lebensge­ schichten literarisch inszeniert (wie bereits schon mehrfach deutlich wurde). Exem­ plarisch soll der spezifisch sprach- und kulturkritische Blick auf den Zusammenhang von Sprache und Macht an Franco Biondis Gedicht Nicht nur Gastarbeiterdeutsch aus dem Jahr 1979 gezeigt werden, in dem aus der Perspektive eines Gastarbeiters die Erfahrungen beim Erwerb der deutschen Sprache rekonstruiert werden: meine nix gut doitsch isch waiss – isch sprech ja nur gastarbaiterdoitsch und immer problema iberall […] doitsch loite aber maine sprache nix viil verstee – gastarbeiterdoitsche sprache schwere sprache […] mein gastarbeiterdeutsch ist ein stempel geworden darauf steht:
 Made in Westgermany […]

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mein gastarbeiterdeutsch ist eine hülse – innendrin nicht nur mein gastarbeiterdeutsch (Franco Biondi 1983, Nicht nur Gastarbeiterdeutsch, 84)

Biondi benutzt anfangs Formen, die sowohl phonetisch als auch morphosyntak­ tisch und lexikalisch Kennzeichen des linguistisch mehrfach analysierten Gastar­ beiterdeutschen aufgreifen: meine nix gut doitsch, der problematische Gebrauch des Genus (meine doitsch), der generalisierte Gebrauch der Negationsform nix, die feh­ lende Adjektivdeklination gut doitsch und natürlich die graphematische Umsetzung der Phonetik doitsch. In der letzten Strophe beschreibt das lyrische Ich dann – nach gelungenem Spracherwerb  – die Positionierung, die es durch die Anderen erfährt („mein gastarbeiterdeutsch ist / ein stempel geworden“). Mit wenigen, stilistisch wir­ kungsvollen Mitteln inszeniert Biondi, wie Diskriminierung und Sprache zusammen­ wirken. Auch wenn es sich dabei um einen Text aus einer frühen Phase des Werks von Biondi handelt, bleibt das Thema Sprache und Sprachverhalten bzw. die Einstellung zur Sprache in seinen späteren Texten eine Konstante. Ein Gedicht aus dem Zyklus giri e rigiri. laufend (2005, 40) beginnt mit den Zeilen: „non trovo più spazio / in questa lingua consumata […] ich finde keinen Raum / in dieser verbrauchten Sprache […]“ (bei der deutschen Version handelt es sich um eine Selbstübersetzung des Autors). Dadurch werden Formen der Selbst- und Fremdpositionierung deutlich, die einerseits provozieren, andererseits den Blick auf gesellschaftliche Konflikte lenken (vgl. Thüne 2014, 159 ff.). Zu diesem wichtigen Thema gehört auch eine Reihe von essayistischen Texten, mit denen mehrsprachige Autorinnen und Autoren immer wieder auf sozial-politi­ sche und kulturelle Konflikte hinweisen, wie etwa die Integration der verschiedenen Generationen, das Selbstverständnis von Menschen mit Migrationserfahrung und solchen ohne diese. Oft handelt es sich bei diesen reflektierenden Texten um Misch­ formen zwischen Literatur, Essay und Journalismus, so bei dem Lyriker Zafer Şenocak in Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation (2001), der das Problem des Dazwischen-Seins deutlich benennt: „Wir springen von einem Punkt zum anderen und wissen kaum noch, wo die Grenze verläuft“ (2001, 15). In seinen späteren essayis­ tischen Texten, wie z. B. in Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift (2011) distanziert sich Şenocak zunehmend von dem schwer zu definierenden Raum des Dazwischen (eine Raum-Vorstellung, die nach anfänglicher Zustimmung auch von der Kritik infrage gestellt wurde, vgl. Adelson 2006) und plädiert für einen Heimatort, an dem zwei Sprachen möglich sind: Das Sprachgefühl ist der Kompass zur Heimatfindung. Es ist der Schlüssel zur Empathie, zum Hineindenken ins Eigensein, das nicht selten auch ein Anderssein ist. Genau diesen Zustand der Schwebe zwischen zwei Sprachen teilen viele Kinder aus emigrierten Familien. Es kann keine Entscheidung für die eine oder andere Sprache geben, wenn Muttersprache und Landessprache nicht identisch sind. Denn das Zuhause ist zweisprachig. Es wird aber zu einem unerreichbaren

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Ort, wenn das Sprachgefühl in die eine oder andere Richtung blockiert ist. Das Eigene ist ohne den anderen unvollständig. (Deutschsein, 16 f.)

Şenocak (1986, 66) benutzte wohl deshalb die Metapher der Brückenliteratur, d. h. eine Literatur von Autorinnen und Autoren, die mehreren Kulturen angehören und in ihren Texten auf je unterschiedliche Weise zur Vermittlung beitragen. Die aufklärerische Dimension dieser Reflexion über Migration und Spracherwerb zeigt sich einerseits in einer Reihe von essayistischen Texten zur Sprachbiographie (s. u.), wird aber andererseits in literarischen Texten immer wieder auch ironisch gebrochen, wenn schwierige Situationen der Fremderfahrung und der Fremdheit der sprachlich-kulturellen Konzepte (s. o.) durch einen distanzierteren, ‚anderen‘ Blick komisch erscheinen, so z. B. bei Stanišić im Zusammenhang mit dem problemati­ schen Wort Gastarbeiter: Seit Jahren stampft Onkel Bora in Deutschland Teer mit einer Dampfwalze zu schnellsten Autobahnen der Welt, und Tante Taifun kellnert in einer Raststätte. Fragt mich jemand, was mein Onkel beruflich macht, erwähne ich die Dampfwalze nicht. Er ist Gastarbeiter, sage ich. Ich wundere mich zwar, dass es Orte gibt, wo Gäste arbeiten müssen, bei uns lässt man einen Gast nicht einmal abwaschen, aber unser Nachbar, Čika Veselin, hatte Bora einmal eine Dampf­ walze genannt, der fette Geizsack bräuchte gar keine Maschine, der müsste sich nur hinlegen und rollen. Ich bat meine Mutter, Onkel Bora Diät beizubringen, damit er nicht weiter anschwoll und damit die Leute nicht so schlecht über ihn redeten. Sie fand sich damals selbst zu dick und machte eine Pflaumen-Hackfleisch-Diät. Sie sagte: die Leute sind nicht gemein, weil Bora dick ist, sondern weil sie glauben, dass er einen D-Mark-dicken Geldbeutel hat. Gastarbeiter sieht man nur in der eigenen Familie gern. (Saša Stanišić 2006, Wie der Soldat das Grammophon reparierte, 36 f.)

6 Reflexion über Sprache – Sprachbiographien Sprachbiographische und metasprachliche Reflexionen zum individuellen, famili­ ären, gesellschaftlichen Spracherwerb und/oder -gebrauch sind  – das wurde deut­ lich  – ein immer wiederkehrendes Thema in der Migrationsliteratur (Busch/Busch 2008; Thüne 2010; 2014). Gerade in frühen Texten (aber nicht nur dort) nimmt das Thema Sprache bzw. das Erleben der Mehrsprachigkeit, in dem die Brisanz der Mi­grationserfahrung und die Positionierung der Autorinnen und Autoren in der neuen Kultur zum Ausdruck kommt, eine prominente Rolle ein. Dies trifft  – wenn auch unter anderen Vorzeichen – auch für die Texte bzw. Autoren zu, die aus der Per­ spektive der zweiten oder dritten Generation erzählen. Sprache ist mithin nicht nur Mittel, sondern auch Gegenstand der Literatur, z. B. in Bezug auf die Vergewisserung der eigenen Identität, insbesondere der literarischen Identität im heterolingualen Schreiben. Solche literarischen oder essayistischen Texte können in einem weiteren Sinn zu den Sprachbiographien gezählt werden, in

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denen sich Autorinnen und Autoren nicht nur punktuell, sondern umfassend mit dem Thema Sprache auseinandersetzen und ihre Erinnerungen und Einstellungen sowie die Veränderungen des sprachlichen Verhaltens darstellen. Dabei sind lite­ rarische und theoretische Reflexionen oft miteinander verschränkt. Thematisiert werden neben Erfahrungen der Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, der sprach­ lichen Macht und Ohnmacht, insbesondere die leibliche und emotionale Dimension des Spracherlebens und nicht zuletzt die historisch-politische Dimension der Mehr­ sprachigkeit bzw. des literarischen Schreibens vor dem Hintergrund der individuellen Mehrsprachigkeit. Marica Bodrožić kam 1983 als Zehnjährige aus Dalmatien nach Deutschland, wo die Eltern bereits arbeiteten. Ihr Buch Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern (2007) soll exemplarisch für literarische Sprachbiographien im engeren Sinn stehen. Es handelt sich um einen Essay mit stark narrativen Teilen, in denen der Spracherwerb und dessen Bedeutung für die Identität der Autorin rekonstruiert wird. Die Fremdheit in der Sprache ist der Autorin durch die innere Mehrsprachigkeit in ihrer Muttersprache (Kroatisch) nichts Unbekanntes. In der neuen Mehrsprachigkeit verschwimmen die Gegensätze oder Differenzen zwischen Mutter- und Fremdspra­ che oder Erst- und Zweitsprache. Bodrožić spricht deshalb vom Deutschen als ihrer „zweiten Muttersprache“, denn wie Elias Canetti verbindet auch Bodrožić deutsche Wörter früh mit der Sprache der Liebe der Eltern zueinander, eine Sprache, die sie damals noch nicht verstand. Die Autorin beschreibt detailliert das Erlernen der deut­ schen Sprache, die stilistischen Mittel hybrider Texte wie bei Biondi sind ihr aber fremd. Durch das Deutsche kommt sie vielmehr zu einer literarischen ‚Stimme‘, die sich im Schreiben manifestiert, als sie in einem deutschen Winter plötzlich die leibli­ che Stimme verliert. Von heute aus betrachtet, kommt es mir vor, als habe die deutsche Sprache die an tiefster Stelle abgelegten Nöte des einstigen Kindes verglast. Als habe sie sich über alle Schmerzen gelegt. […] Das Schreiben ist jetzt eine Brücke zwischen dem Land des Schweigens, meinen Wörtern und dem lauten Gehege meiner Stimme. Die Brücke lässt mich alles auf dem Papier sagen. (Marica Bodrožić 2007, Sterne erben, Sterne färben, 99–102)

So wie Sterne erben, Sterne färben eine literarische Sprachbiographie ist, die den Weg zum kreativen Ausdruck erkundet, kann auch Ilma Rakusas (Sprach-)Autobiographie Mehr Meer (2009) verstanden werden. Rakusa verwendet translinguale Verfahren, die sie als „Sprach- und Identitätsspiele“ (ebd., 30) bezeichnet: „Nimm von allem das Beste, darunter die einzigartigen (unübersetzbaren) Noms propres, und schaff dir dein eigenes, multilingual changierendes Idiom“ (ebd., 31). Eine weitere Form, sprachbiographische Themen zu entwickeln, kann in narrati­ ven Texten bei Figuren gesehen werden, in deren biographischem Gepäck das Thema Sprache besonders schwer wiegt. Abel Nema, Hauptfigur in Terézia Moras Roman Alle Tage, ist sprachbegabt und hat zehn Sprachen so perfekt gelernt, dass er sie ohne Akzent sprechen kann. Doch bleibt er in all diesen Sprachen stumm, wie schon sein

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‚sprechender‘ Name andeutet (Nema enthält die slawische Wurzel nem-, d. h. ‚stumm‘ und später auch ‚deutsch‘). In dieser Spannung zwischen Sprache als Ausweg oder Stigma (vgl. Tatasciore 2012) befinden sich viele Figuren in den Texten von Mora (vgl. z. B. die Erzählung Der Fall Ophelia in Seltsame Materie 1999). Ihre Lebenskonflikte sind häufig bestimmt durch die Möglichkeiten, die sich bieten, aber auch die Schwie­ rigkeiten, die individuelle Mehrsprachigkeit in monolingual ausgerichteten Gesell­ schaften mit sich bringen können. Sprachbiographische Reflexionen betreffen natürlich auch den Unterschied zwi­ schen den Generationen. Ganz verschieden präsentieren sich die Konstellationen der Erfahrungen und die Reflexion darüber. José F. A. Oliver erinnert sich an die große Einfachheit der Sprache seines Vaters: Als Vater 1995 während eines Heimaturlaubs starb, hinterließ er uns nicht viel und deshalb alles. Einen mit zusehends verblassender Tinte geschriebenen Einkaufszettel […]. Die Emigration war eine Liste simpler Alltagswörter, die sich für die Dauer einer Sehnsucht im Schwarzwald ein Stelldichein gegeben hatten. (José F. A. Oliver 2007, Mein andalusisches Schwarzwalddorf, 38)

Nellja Veremej hingegen schildert in ihrem Roman Berlin liegt im Osten (2014) ein Gespräch der Protagonistin mit ihrer Tochter, die sich souverän in ihrem Sprachenre­ pertoire bewegt: Mein Deutsch ist immer noch nicht fehlerfrei, aber fließend. Ich sage nie Danke schön!, sondern Vielen Dank!, weil ich die tückischen Umlaute nicht bewältigen kann, und das wohl auch nie können werde. Auch zu schimpfen und mich zu empören, will mir auf Deutsch nicht gelingen. Marina dagegen hantiert sehr souverän mit ihren beiden Muttersprachen und mit zwei Fremd­ sprachen. (Berlin liegt im Osten, 55 f.)

Bei Vladimir Vertlib kann man schließlich verfolgen, wie die Reflexion auf die Migra­ tionserfahrung und die Entwicklung des eigenen literarischen Schreibens ironisch verbunden werden. Beim Nachdenken über das Schreiben erinnert er sich daran, wie er beginnt, im Tagebuch für schwierige Situationen, in denen sich die Familie durch mehrfache Migration befand, phantasiereiche Erklärungen zu entwickeln, die nichts mehr mit dem chronikartigen Aufzeichnen zu tun haben: Als ich vierzehn Jahre alt war, versuchten meine Eltern nach Amerika auszuwandern. […] In jener Zeit begann ich, Tagebuch zu führen. Ich versuchte, alles festzuhalten, was ich nie mehr vergessen wollte. Doch was ich vergessen musste, vergaß ich schließlich trotzdem, und was ich aufschrieb, war bald keine Chronik mehr. Die Wirklichkeit erschien mir als karge und trockene Oberfläche dessen, was ich als eigentliche Wahrheit hinter der Wirklichkeit zu erkennen glaubte. Es war nicht schwer, zu dieser Wahrheit vorzustoßen. Ich brauchte sie nur zu erfinden. […] Mrs. Shea litt an einer unangenehmen chronischen Hautkrankheit. Ihre permanent schlechte Laune kam ohne Zweifel daher, dass es ihr im Büro nicht möglich war, die Bluse auszuziehen oder den Rock hochzuheben, um sich zu kratzen. Die meisten ihrer Entscheidungen, Flüchtlinge in Schubhaft zu nehmen oder abzuschieben, waren auf den von Stunde zu Stunde stärker werden­ den Juckreiz zurückzuführen. (Vladimir Vertlib 2007, Spiegel im fremden Wort, 23 f.)

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In ihren Überlegungen zur „postmonolingualen“ Situation, die auf der Analyse von Texten von Tawada, Özdamar, Zaimoglu, aber auch von Kafka und Adorno beruhen, betont Yasemin Yildiz (2012, 201, passim) zu recht, dass mehrsprachige Praktiken immer in einer Spannung zwischen individueller Erfahrung und sozialen Koordina­ ten stehen werden, solange kulturelle Ethnizitätskonzepte und monolinguale Para­ digmen vorherrschen. So verwundert es auch nicht, dass der Begriff der Migrationsli­ teratur selber von den Autorinnen und Autoren nicht positiv bewertet wird. Bodrožić (2008, 75) formuliert es pointiert: Ein Schriftsteller hat kein Attribut im eigentlichen Sinne. Er ist nicht deutsch, russisch, grie­ chisch, großartig, serbisch-orthodox, jüdisch, christlich-irgendetwas. Er ist immer er selbst und also niemand Besonderes. Entweder schreibt er oder er schreibt nicht. Entweder hat er eine Sprache oder er hat sie nicht. Wenn er sie hat, dann schreibt er. Wenn er sie nicht hat, dann schreibt er nicht – er tut nur so als ob. Niemand schreibt, um so einem hässlichen Wort wie Migrant anzugehören. (Es hört sich nach einer schlimmen Krankheit an!) Man schreibt, um solche Wörter für immer aus der Welt zu schaffen. Und um etwas anderes in die Welt zu setzen: wirkliche Sprache, Welt, Leben.

Die in diesem Beitrag vorgelegten Beispiele können nur einen kleinen Einblick in die sprachlichen Verfahren der Literatur geben, die unter dem Etikett Migrationsliteratur geführt wird. Sie sollen zeigen, wie durch mehrsprachige Autorinnen und Autoren Dynamik in die Gegenwartsliteratur gekommen ist. Das Nachdenken über literari­ sche Mehrsprachigkeit und heteroglossische Verfahren hat gerade erst begonnen. Es betrifft nicht nur die innere bzw. äußere Mehrsprachigkeit der Texte, sondern die grundsätzliche Problematik der Trennung und Einteilung in National- und Fremd­ sprachen, in natürliche und künstliche Sprachen in literarischen Texten. Dies gilt auch für die Exilliteratur und die Beeinflussung des gesamten „literarischen Felds“ (Bourdieu 1999) durch die Geschichte der Übersetzung.

7 Literatur 7.1 Primärliteratur Andrić, Ivo (2003): Die Brücke über die Drina. Frankfurt a. M. (Na Drini ćuprija. Beograd 1945). Biondi, Franco (1983): nicht nur gastarbeiterdeutsch. In: Ingrid Ackermann (Hg.), In zwei Sprachen leben. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern. München, 84. Biondi, Franco (2005): Giri e rigiri, laufend. Frankfurt a. M. Bodrožić, Marica (2007): Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern. Frankfurt a. M. Bodrožić, Marica (2008): Sprachländer des Dazwischen. In: Pörksen/Busch, 67–75. Dinev, Dimitré (2005): Ein Licht über dem Kopf. Erzählungen. Wien. Mora, Terézia (1999): Seltsame Materie. Hamburg. Mora, Terézia (2004): Alle Tage. München. Oliver, José F. A. (2007): Mein andalusisches Schwarzwalddorf. Frankfurt a. M.

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7.2 Sekundärliteratur Ackermann, Irmgard/Harald Weinrich (1986): Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der Ausländerliteratur. München. Adelson, Leslie A. (2006): Against Between. Ein Manifest gegen das Dazwischen. Text + Kritik IX. 36–46. Amodeo, Immacolata u. a. (2009): Literatur ohne Grenzen. Interkulturelle Gegenwartsliteratur in Deutschland – Porträts und Positionen. Sulzbach/Taunus. Bachtin, Michail M. (1979): Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M. Baumann, Beate (2011): Der gezähmte Wolf. Bilder, Emotion und performative Spracherscheinungen in der transkulturellen Literatur. In: Studi linguistici e filologici Online 9, 37–62. Betten, Anne/Jürgen Schiewe (Hg.) (2011): Sprache – Literatur – Literatursprache. Linguistische Beiträge. Berlin. Bourdieu, Pierre (1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. Busch, Brigitta (2013): Mehrsprachigkeit. Wien. Busch, Brigitta/Thomas Busch (Hg.) (2008): Mitten durch meine Zunge. Erfahrungen mit Sprache von Augustinus bis Zaimoglu. Klagenfurt/Celovec. Deleuze, Gilles/Félix Guattari (1975): Kafka. Pour une littérature mineure. Paris. Ette, Ottmar (2005): ZwischenWeltenSchreiben: Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin. Fleischer, Wolfgang/Irmhild Barz (2012): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Berlin/ Boston. Gumperz, John J. (1964): Linguistic and Social Interaction in Two Communities. In: American Anthropologist 66, 137–153. Kegelmann, René (2010): „Warten konnte man sprachlos. Suchen nur auf Deutsch“. Zu interkulturellen Begegnungen in Dimitré Dinevs Erzählband Ein Licht über dem Kopf. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1(2), 107–118.

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Moritz Baßler

26. Pop-Literatur Abstract: Pop-Literatur in Deutschland partizipiert an der Pop- und Populärkultur ihrer Gegenwart, integriert deren Vokabular in ihren Thesaurus und schreibt an ihrer Enzyklopädie mit. Dabei verwendet sie teilweise autofiktionale Verfahren. Im Gegen­ satz zu realistisch-metonymischer Erzählliteratur betont sie stets die paradigmatische Dimension der Möglichkeit gegenüber einer Abbildung vermeintlicher Wirklichkeit und das Präsentische gegenüber Bezugnahmen auf Vergangenes. Das führt bis hin zu paralogischen Formaten. 1 Gegenstand 2 Vokabular – Katalog – Paradigma 3 Modus 4 Erzählinstanz – Präsens – Autofiktion 5 Para-Logiken 6 Literatur

1 Gegenstand Als Pop-Literatur wird im deutschsprachigen Raum eine Literatur bezeichnet, die sich ausdrücklich und zumeist affirmativ zur Pop-Kultur verhält, wie sie sich seit den 1950er Jahren in westlich geprägten Überflussgesellschaften entwickelt hat. Pop-Romane spielen in aller Regel in der Gegenwart, unter einer Bohème junger Erwachsener, überwiegend Männer, in einem urbanen Milieu. Sie sind zumeist homodiegetisch erzählt und stehen häufig im Präsens statt im epischen Präteritum. Popkulturelle Gegenstände, Eigennamen und Begriffe, vor allem aus dem Bereich der Leitkunst Pop-Musik, aber auch aus den populärkulturellen Feldern Fernsehen, Film, Starkult, Radio, Clubs, Marken, Werbung, Mode, Drogen, Comics, Zeitschrif­ ten, Tagespresse, Unterhaltungs- und Trivialkultur sowie neuerdings Internet und Computerspiel, kommen in popliterarischen Texten regelmäßig vor, und zwar nicht nur als kontingente Elemente der realistisch erzählten Welt (wie beispielsweise in Döblins Berlin Alexanderplatz, in Grass’ Die Blechtrommel oder in Männerromanen wie Tommy Jauds Vollidiot), sondern als wesentliche Bestandteile der Kultur, an der der Text selbst teilhat, die also notwendig zu seiner paradigmatischen Dimension gehören. Darin liegt zum einen das Provokationspotential gegenüber einer E-Litera­ tur, die sich als unabhängig von Markt und Medien versteht und darauf bedacht ist, eine Kontamination mit deren Begriffen und Werten zu vermeiden, zum anderen aber auch der Unterschied zu einer Trivialliteratur, deren erzählte Welt (Diegese) häufig DOI 10.1515/9783110297898-026

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ebenfalls von kulturindustriellen Elementen gereinigt erscheint. Die Repräsenta­ tion und Auseinandersetzung mit der popkulturellen Enzyklopädie ist in Pop-Texten zumeist wichtiger als die Handlung, daher fehlen oft die dominanten Merkmale einer populärrealistischen Literatur wie aufwändiges Plotting, Spannungsbögen, Hooks und Cliffhanger, aber auch die schweren Zeichen und Probleme, über die die deut­ sche Nachkriegsliteratur ihre Bedeutung organisiert (z. B. Schuld, Nationalsozialis­ mus, Shoah, später Stasi). Historisch lassen sich drei Phasen der Pop-Literatur hervorheben. Die jüngste setzt Mitte der 1990er Jahre mit Christian Krachts Faserland (1995) und der deutschen Übersetzung von Nick Hornbys High Fidelity (1995) ein. Man unterschied damals nach dem Publikationsort zwischen KiWi-Pop (u. a. Kracht, Benjamin von StuckradBarre, Joachim Lottmann) und Suhrkamp-Pop (u. a. Rainald Goetz, Thomas Meine­ cke, Andreas Neumeister). Von hier aus wird eine Vorgeschichte rekonstruierbar, die sich in zwei weiteren Phasen konzentrieren lässt: Lottmann (Mai, Juni, Juli, 1987) und Goetz (Subito, 1983) hatten bereits in den frühen 1980ern zu schreiben begon­ nen, als auch das Manifest Rawums. (1984, hg. v. Peter Glaser) sowie beispielsweise Texte von Christopher Roth und Wolfgang Welt erschienen. Andere designierte PopAutoren wie Meinecke und Max Goldt reüssierten damals als Musiker deutschsprachi­ ger Popbands. Und schließlich ist die Zeit um 1970 zu nennen, als Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann, Peter O. Chotjewitz, Jörg Fauser, Hubert Fichte, Wolfgang Körner, Jürgen Ploog, Carl Weissner und Wolf Wondraschek, auch die jungen Peter Handke und Elfriede Jelinek, eine erste popaffine Literatur produzierten, die im Zeichen einer Aneignung amerikanischer Vorbilder wie der Beat-Poets und der Underground-Lite­ ratur entstand. Wegweisend waren Leslie Fiedlers Vortrag Cross the Border, Close the Gap (1968) mit der daran anschließenden Debatte und die Anthologie ACID (1969), herausgegeben von Brinkmann und Ralph Rainer Rygulla. In dieser Phase greift PopLiteratur häufig auf avantgardistische Verfahren (Montage, Cut Up, asyndetische Tex­ turen) zurück und produziert auch Lyrik, während die Literatur der 80er und 90er Jahre eine prima facie leicht lesbare, realistische Prosatextur mit gelegentlichen Katalog- und Listenelementen bevorzugt.

2 Vokabular – Katalog – Paradigma „Grob und vorläufig könnte man die deutsche Literatur in zwei Gruppen einteilen: in Texte ohne Markennamen, ohne Popmusik-, Film- und Fernsehtitel auf der einen Seite und in Texte mit diesen Dingen auf der anderen.“ (Baßler 2002, 155) Die PopLiteratur öffnet ihren Thesaurus für die Begriffe und Eigennamen der Medien- und Konsumgesellschaft. In einer Art Überreaktion auf und gegen die traditionelle Lite­ ratur, die sich im 20. Jahrhundert von dieser Art Vokabular weitgehend freigehalten hatte (vgl. Seiler 1983, 287), werden entsprechende Vokabeln überaus häufig, oft lust­

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voll und geballt und nicht selten sogar in Form von Listen und Katalogen verwen­ det. Dies unterscheidet sich von einer gelegentlichen Verwendung in realistischer Erzählliteratur in Gestalt eines effét réel. Hier eine Texturprobe aus Hubert Fichtes Die Palette (1968), einem Roman, der schon in seiner Umschlaggestaltung auf den Pop seiner Zeit rekurriert: Sie hat Angst. Eigentlich müsste sie Kopfschmerzen haben vom Rauch, vom Tau, von der Kälte in den Dämmerungen, vom Wenigessen, von den Maris, Pervis, Prelus, Captagon, Perviconotrol, Kenortin, vom Thomapyrin im Bier, von der geriebenen Muskatnuß im Bier, vom Schnee, vom unregelmäßigen Schlafen. Heidi fehlen die Kopfschmerzen. (Fichte 1968, 299)

Die katalogartige Auflistung präsentiert die Kopfschmerzursachen in strenger Neben­ ordnung, als in den Text ausgeschüttetes Paradigma. Die ersten Lexeme könnten auch in traditioneller literarischer Prosa der Zeit stehen („Kälte in den Dämmerungen“), pop-spezifisch sind jedoch die teils kolloquial verkürzten Markennamen der Pillen, die ein Paradigma im Paradigma bilden. Im Fortgang des Katalogs löst es sich wieder auf, indem mit dem Zusatz „im Bier“ die Praxis der Einnahme mitbenannt wird, die dann auch mit einem Hausmittel wie Muskatnuss funktioniert, mit „Schnee“ sind wir dann wieder im traditionellen Thesaurus. Fichtes Prosa archiviert hier quasi-ethno­ logisch, was im Umfeld der Kneipe Palette so gesprochen und getan wird. Zugleich leistet sie eine literarische Erstvertextung von Vokabeln wie Prelus, Perviconotrol oder Thomapyrin. Entscheidend ist, dass diese durch die Katalogtextur äquivalent gesetzt werden und darin zugleich einen kulturellen Hintergrund sammelnd archi­ vieren und ein neuartiges literarisches Paradigma generieren. Sind solche vor Pop kunstfremden Elemente einmal als paradigmatischer Hintergrund des Romans eta­ bliert, kann er auch andere Sinneffekte mit ihrer Hilfe zeitigen. Einen Absatz weiter wird mit Bildern aus der Erfahrungswelt Heidis illustriert, was den „kleinsten Teil eines Augenblicks“ ausmacht: die Zeit, die es braucht, vom A in Kilroy was here auf den Bierschaum an Hugos Lippen zu sehen, den Anfang des Tons zu hören, den die ausgelaufene Cocacolaflüssigkeit erzeugt, wenn sich ein Tropfen von der untersten Kante des Tisches löst […]. (Fichte 1968, 299)

Die paradigmatische Selbstverständlichkeit lässt das Graffito „Kilroy was here“ und die Weltmarke Coca-Cola jetzt auch im Metonymischen, in der vom Text wahrgenom­ menen Diegese vorkommen (und nicht mehr umgekehrt). In der frühen und mittleren Pop-Literatur bleiben diese Lexeme im Vergleich zur sonstigen zeitgenössischen Lite­ ratursprache (etwa der Gruppe 47) stark markiert, wirken tendenziell als Verstöße. Sie nehmen darin eine ähnliche Funktion ein wie die sexuellen Vokabeln: in Dunkelheit gehauchtes undeutliches Ficken … überall Chaos … anscheinend eine purpurne Briefmarke … DANN Orgasmen … Mund wie verebbende Trümmer … […] Schwanz … eine durch­ wühlte Decke … Umrisse dich schleimig schwarz … aufgerichtet fertig zum Reinschieben … das

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Lächeln der Pickel krampfadrig bis ihr der Atem ausging … Nymphomanin ready to fuck … sie schrie „und der Orgasmus?“ (Ploog 1969, 88)

Auch hier zeigt sich kein ‚natürlicher‘, sondern ein forcierter Umgang mit dem Voka­ bular. Ähnlich wie die schwierige Textur zwischen Innerem Monolog, Cut Up und kühner Metaphorik („Mund wie verebbende Trümmer“) dient es der Entautomatisie­ rung der Lektüre ebenso wie der Provokation des Bildungsbürgers und dem selbstbe­ wussten Propagieren einer neuen, krassen, ‚authentischen‘ Literatursprache. Es gibt einerseits Übergänge zur künstlerischen Neoavantgarde (so publiziert Kippenberger Graphiken in Rawums.), andererseits zur Jugendliteratur (Der große Hirnriß von Peter Glaser und Niklas Stiller erscheint 1983 in der Jugendbuchreihe rororo panther). Ende der 1990er Jahre haben sich die Koordinaten verschoben. Wenn der IchErzähler von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998) erklärt: „Ich sammel die nackten Girls aus der Bild-Zeitung“ (Stuckrad-Barre 1998, 41), dann markiert er einen Umgang mit Fremdmaterial, dessen pornografisches Potential nicht mehr authentisch und krass wirkt, sondern ausdrücklich nurmehr Funktion einer Boulevardpresse vom klein­ bürgerlichen Frühstückstisch ist  – Literatur als Umgang mit vorgefundenem Mate­ rial und Diskursanalyse: „Die grotesken Textpassagen trage ich in Tabellen ein“, was dann wiederum paradigmatische Listen ergibt (Rubriken: gute Namen, erlernter Beruf, bestes Alter, Hobbies, Grund für die Nacktheit etc.), die im Text als solche prä­ sentiert werden: gute Namen: Fitneßbiene Jeanette Meerjungfrau Caprice propere Verena süße Melinda Schmusekatze Bianca knusprige Steffi […] (Stuckrad-Barre 1998, 42)

Die Analyse ergibt im strengen Sinne Paradigmen, und eben aus diesem Wissen um den paradigmatischen Raum der Populär- und Popkultur lässt sich dann wiederum der eigene Text synthetisieren (z. B. ein Porträt der Bild-Autorin Katja Kessler im Stil der analysierten Texte zu den Girls). Auf eben diese Weise – sammeln, Paradigmen bilden, daraus wiederum Syntagmen generieren – entsteht eine Prosa, die entgegen dem ersten Eindruck keine Beschreibungsprosa ist, sondern das Ausbuchstabieren einer Enzyklopädie. Der berühmteste Katalog aus Soloalbum, der die Ausstattung des Zimmers einer jungen Frau vermeintlich ‚beschreibt‘, entspringt komplett der Ima­ gination des Ich-Erzählers: „Ich schätze mal, über ihrem Bett hängt in DIN-A-0 der sterbende Soldat, auf dem Boden steht eine Lavalampe. Sie hört gerne Reggae. Scheiß Pearl Jam findet sie „superintensiv“, auf ihre CDs von Tori Amos und PJ Harvey hat sie mit Edding geschrieben ‚♀-Power rules‘ usw. (Stuckrad-Barre 1998, 32) In solcher Erst-Syntagmatisierung popkultureller Paradigmen schreibt Pop-Literatur aktiv an

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der Pop-Kultur mit. Dabei geht es in allen Fällen nicht um die Rekonstruktion histori­ scher Situationen oder nostalgische Erinnerung, sondern um ein Erfassen des Gerade Eben Jetzt der Gegenwart (vgl. Schumacher 2003).

3 Modus Diese Art von Diskurs erscheint als pop-affin, weil der Erzähler dabei nicht nur jedes benannte Element und jede Figur, sondern notwendig immer auch sich selbst inner­ halb eines pop-ästhetischen Geschmacksfeldes verortet: Vielleicht sollten wir über Pop reden. Wir reden über Pop. Er erzählt von einem Deppen, dem er die letzten Blur-Platten ausgeliehen hat. - Und der meinte dann, als er sie mir zurückgegeben hat, er hätte sich die besten Stücke auf einer Kassette zusammengestellt, und das wären insgesamt 27 Minuten. Da sind wir uns in unserer Ablehnung dieser Idiotenmeinung natürlich einig, ich meine, die Kassette will ich mal hören, da ist dann vielleicht „Girls & Boys“ drauf und „Parklife“, „Country House“, „Charmless Man“, „Stereotypes“, „Song 2“, „On Your Own“ und „Beetlebum“, vielleicht noch „The Universal“. Aber was ist mit “M.O.R.” und “Look Inside America”, mit “It Could Be You” und “Clover Over Dover”, “End Of A Century” und “London Loves”? Und “Mr. Robbinson’s Quango” und all den anderen (“Jubilee”, “Death Of A Party” usw.)? Poor boy. (Stuckrad-Barre 1998, 240 f.)

Eine Literatur, in der es allen Ernstes um die richtige Anzahl und Auswahl von BlurTiteln auf einer selbstgemachten Best-of-Cassette geht, gehorcht offenkundig einer von Grund auf anderen Ästhetik, als man sie als Literaturleser bis dato gewohnt war. Dabei handelt es sich jedoch nicht um die Ästhetik eines wie auch immer gearte­ ten Realismus, die der Sprache eine relativ unproblematische Abbildung von Welt zutraut (und die in Trivialliteratur, in der ‚verfilmbaren‘ Literatur des Populären Realismus sowie generell im alten und neuen Erzählen immer präsent war und ist). Kataloge und Listen taugen zur Notation, aber nicht zur Abbildung. Die Musik von Blur, Oasis oder den Pet Shop Boys wird bei Stuckrad-Barre ja nicht beschrieben, der Roman verwandelt sie sich nicht an, indem er sie etwa in Sprache setzte. Vielmehr bleiben die Songtitel selbst in der Textur schon durch ihre Fremdsprachigkeit als heteronome Elemente markiert (von der sich der Erzähldiskurs allenfalls anstecken lässt: „Poor boy“). Die Paradigmen der Popmusik, und mit ihnen ein ganzer Komplex von Geschmacksurteilen und Gefühlslagen, werden vielmehr als etwas benannt, das seinen Wert, seine Konnotationen und seine Wirkung längst jenseits und unabhängig von Stuckrad-Barres Roman entfaltet hat – ja sogar jenseits der literarischen Tradi­ tion, in einer internationalen Enzyklopädie des Pop. So gesehen, verbirgt sich hinter den Katalogen und Hitlisten der Popliteratur auch ein neues und keineswegs triviales Verhältnis von Literatur und Kultur. Ein literari­ sches Werk, das operiert wie das Soloalbum, gibt von Anfang an den Anspruch auf,

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jenes organische Ganze zu sein, das den Teilen, auch den von außen herbeizitierten, ihren Sinn zuweist. Diese können, wie oben, auf der Ebene der Lexeme angesiedelt sein, aber auch auf der Satzebene („Daß ich diesen Satz mal würde sagen wollen und können – ich liebe Anzüge. Das klingt wie: Im Herbst ist Sylt sehr schön.“, StuckradBarre 1998, 88); Andreas Neumeister (z. B. Gut laut, 1998) generiert serielle Struktu­ ren, die bisweilen an Konkrete Poesie erinnern, und Thomas Meinecke verarbeitet sogar noch sehr viel größere Textblöcke vorgefundenen, ebenfalls teilweise englisch­ sprachigen Materials in seinen Romanen und hat deren Komposition mit der Kom­ binationskunst eines DJ verglichen (z. B. Tomboy, 1998, Musik, 2004). Im ausgestell­ ten Bewusstsein der Paradigmatizität, Relativität und kulturellen Verortbarkeit der eigenen Rede setzt Pop-Literatur diese gewissermaßen immer in Anführungszeichen. Mit Michail Bachtin könnte man von der ‚leichten Vorbehaltlichkeit‘ eines heteroglos­ sischen Sprachgebrauchs sprechen, mit Susan Sontag von einer campigen Kenntlich­ machung der Tatsache, dass es sich hier nicht um ‚natürliche‘ Rede handelt – PopLiteratur praktiziert in großen Teilen einen postmodernen Diskurs sous ratûre. Gerade dass die Wörter, Artefakte, Sätze und Diskurse bereits vor- und außerliterarisch voller kultureller Bedeutung sind, qualifiziert sie als Bausteine des Pop-Romans. Ihrem spe­ zifischen Arrangement in der Prosa der Popautoren, das oftmals nur durch schwache narrative Muster zusammengehalten wird, mutet man gleichwohl zu, was im traditio­ nellen Literaturverständnis der Sprachmächtigkeit des Autors zugeschrieben wurde: die Repräsentation von Individualität, von Welt und die Stiftung von Kultur.

4 Erzählinstanz – Präsens – Autofiktion Die Ich-Erzählinstanz von Pop-Literatur ist in den meisten Fällen autornah entworfen. Dies und die schiere popkulturelle Kompetenz, die Voraussetzung dieser Prosa und ihrer Paradigmenbildungen ist, hat in der Rezeption immer wieder zur Verwechslung von Erzähler und Autor geführt; notorisch etwa bei Krachts seminalem (Erstlings-) Roman Faserland, wo sowohl begeisterte Fans wie Florian Illies als auch scharfe Kritiker wie Matthias Politycki den schnöselig-arroganten homodiegetischen Erzäh­ ler fälschlich für eine Figuration seines Autors hielten. Schon die Verwendung des Präsens, die eine erzähllogisch eigentlich unmögliche Gleichzeitigkeit von Erleben und Erzählen suggeriert („Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke.“ Kracht 1995, 9), verweist dagegen auf eine artifizielle Erzählsituation, die von einem autobiografischen Trivialrealismus weit entfernt ist. In der Verfilmung von High Fidelity (2000, Regie: Stephen Frears) ist sie als permanentes Aside-Sprechen realisiert, das metaleptisch die Illusion durch­ bricht. Die Verwechselbarkeit von Fiktion und Faktualität im Pop wird jedoch auch dadurch befördert, dass viele Pop-Autoren auch in ihren öffentlichen Auftritten nicht

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aus der Rolle fallen, notorisch etwa der selbsternannte Erfinder der Pop-Literatur Joachim ‚JoLo‘ Lottmann, aber auch z. B. die fünf Gesprächspartner in Tristesse Royale (1999), Autoren wie Rafael Horzon (Das weiße Buch, 2010), die pseudonym benannten Rocco Schamoni und Heinz Strunk oder auch Kracht als Herausgeber der Zeitschrift Der Freund oder in seinem Briefwechsel mit David Woodard (Five Years, 2011). Wie bei Pop-Stars (Elvis, Nina Hagen, Bushido) ist der Unterschied zwischen literarischer Kunstfigur, öffentlicher Persona und Privatperson dann nicht mehr transparent. Es wäre auch hier ein Fehler, die Anführungszeichen des Pop-Modus außer Acht zu lassen. In manchen Fällen wird die Konfundation von Erzählinstanz, Hauptfigur und Autor durchaus aktiv zu einem intrikaten autofiktionalen Komplex verdichtet, am deutlichsten in den Œuvres von Rainald Goetz und Lottmann (vgl. dazu ausführlich Kreknin 2014). Die drei Instanzen tragen dann denselben oder doch sehr ähnliche Namen, innerhalb der Romandiegesen erscheinen die Figuren als Verfasser von z. B. journalistischen Schriften, die auch faktual von ihren Autoren verfasst wurden, es gibt Übereinstimmungen oder doch Ähnlichkeiten in der Biografie, gelegentlich ­schreiben sogar dritte Autoren den entsprechenden Komplex fort. Eine Urszene dieser hermetischen Form von Autofiktion ist der Stirnschnitt, den Goetz sich beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 1983 selbst zufügte, während er eine entspre­ chende Passage aus Subito vorlas. Dies ist wohlgemerkt nicht zu verwechseln mit der formal auf den ersten Blick ähnlichen autobiografischen Schreibweise. Der autobio­ grafische Pakt (nach Lejeune) lässt den Leser die literarisch dargebotenen Ereignisse als faktuale verstehen; in der Pop-Autofiktion greift umgekehrt der fiktionale Modus auf das Faktische über, und zwar so, „dass durchgehend sowohl autobiographischreferentielle als auch fiktional-fiktive Pakte geschlossen werden können.“ Metaposi­ tionen sind dabei nicht mehr möglich oder selbst Teil der Texte. (Kreknin 2014, 168 f.).

5 Para-Logiken Obwohl Pop-Literatur also auf den ersten Blick realistisch verfährt – „Die Handlung spielt heute, in der Bundesrepublik, an genau bestimmten Plätzen, Straßen, Lokali­ täten. Menschen haben Berufe, Politiker werden wiedererkannt. Autos spricht man mit ihren Markennamen an. Ich mag das.“ (Lottmann 1986, 65) – und entsprechend leicht lesbar ist, ist sie doch eine Literatur, die das Paradigmatische betont, die Mög­ lichkeitsräume, und nicht die metonymisch organisierte Wiedergabe einer Wirk­ lichkeit. Anders als die historischen Avantgarden vertextet sie das Paradigmatische jedoch nicht in Form von Metaphern, Allegorien oder Asyndeta, was zu schwierigen, tendenziell unverständlichen Texturen führt. Eine Nähe zu solchen Verfahren weist nur die erste Phase der Pop-Literatur auf. Vielmehr stellt Pop im Katalog, im Mate­ rialzitat, im Sprechen in Anführungszeichen immer die Pluralität der (realiter oder

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semiotisch) gegebenen Möglichkeiten aus und unterstreicht damit die nur relative, bedingte Geltung der jeweils realisierten Gegebenheiten und Urteile. Jede Auswahl – und folglich auch jedes syntagmatische Element, als Auswahl aus einem Paradigma – erscheint so als problematisch (wer Pepsi sagt, sagt zugleich: nicht Coca-Cola; vgl. auch das Beispiel der Blur-Cassette). Sie kann nicht auf Grund referentieller Sachbe­ züge, sondern nur als prekäre ästhetische Setzung erfolgen, weshalb den Protagonis­ ten „die Entscheidung zwischen einer grünen und einer blauen Barbour-Jacke“ auch schwieriger erscheint „als die zwischen CDU und SPD“ (Illies 2000, 155). Hier besteht eine Nähe zur Literatur der Dandys und Snobs um 1900 (vgl. Tacke/Weyand 2009). Im Unterschied zu realistischen Texten, deren Effekt sich durch Verdrängung der basalen Zeichenebene einstellt, praktizieren also selbst vermeintlich simple Pop-Ver­ fahren häufig einen sehr bewussten Zeichengebrauch und beziehen aus diesem auch einen Teil ihrer Pointen und ihres Distinktionspotentials. Übergeordnetes Verfahren ist dabei eine Art Para-Logik, die immer mitformuliert, wie es auch sein könnte, und dadurch auch das, was ist, in einem Modus des „Definitely Maybe“ präsentiert (Stuck­ rad-Barre 1998, 245, vgl. Baßler 2015). Bei einer Reihe von Pop-Autoren hat dies in den letzten Jahren zu einer Affinität zu parahistorischen Erzählungen bis hin zur Science Fiction geführt. Bei Kracht ist diese Tendenz schon im Titel seines Erstlings angelegt, der homophon zu Richard Harris‘ parahistorischem Roman Fatherland (1992) lautet. In Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (Köln 2008) legt er selbst einen solchen vor. Wie in den Filmen Quentin Tarantinos (Inglourious Basterds, 2009, Django Unchained, 2012) geht es dabei erneut nicht um eine realistische Darstellung historischer Ereignisse, sondern um die Gestaltung alternativer Diegesen, von denen aus unsere eigene neu semantisiert wird. Im engeren Pop-Sinne setzt Leif Randt dies in Schimmernder Dunst über Coby County (2011) um, das eine perfekte Konsumwelt inklusive Pop-Literatur imaginiert, ohne ins Dystopische zu kippen. Dabei wird auch die Nähe zur Science Fiction deutlich, die neben Randt (Planet Magnon, 2015) auch Dietmar Dath in seinem Romanwerk praktiziert.

6 Literatur Baßler, Moritz (2002): Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München. Baßler, Moritz (2015): Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur. In: Pop. Kultur und Kritik. Heft 6, 104–127. Fichte, Hubert (1968): Die Palette. Roman. Reinbek bei Hamburg. Fiedler, Leslie (1994): Überquert die Grenze, schließt den Graben! In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig, 14–39 [mit anschließender Dokumentation der Debatte]. Grabienski, Olaf, Till Huber, Jan-Noël Thon (Hg.) (2011): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre, Berlin. Hecken, Thomas, Marcus S. Kleiner, André Menke (2015): Popliteratur. Eine Einführung. Stuttgart [mit weiterer Literatur].

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Illies, Florian (2000): Generation Golf. Eine Inspektion. Berlin. Kracht, Christian (1995): Faserland. Roman. Köln. Kreknin, Innokentij (2014): Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion am Beispiel von Rainald Goetz, Joachim Lottmann und Alban Nikolai Herbst. Tübingen. Lottmann, Joachim (1986): Realitätsgehalt: Ausreichend, in: Spex, H. 11, 65. Ploog, Jürgen (1969): Übergeschnappte Koordinaten. In: Carl Weissner (Hg.): Cut Up. Der sezierte Bildschirm der Worte. Darmstadt, 83–92. Schumacher, Eckhard (2003): Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt. Seiler, Bernd (1983): Die leidigen Tatsachen. Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Stuttgart. Stuckrad-Barre von, Benjamin (1998): Soloalbum. Roman. Köln. Tacke, Alexandra, Björn Weyand (Hg.) (2009): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln/Weimar/Wien. Ullmaier, Johannes (2001): Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz.

Bettina Kümmerling-Meibauer/Jörg Meibauer

27. Sprache in der Prosa für Kinder und Jugendliche Abstract: Die Sprache der Kinder- und Jugendliteratur ist an die sich entwickelnden kindlichen Fähigkeiten der Sprachproduktion und -rezeption angepasst. Dies wird an einigen Prosabeispielen gezeigt, die sich auf die Phasen der frühen Kindheit, der späten Kindheit und der Jugend beziehen. Dabei spielen die Dimensionen der Ein­ fachheit/Komplexität und der Anpassung/Überschreitung eine wesentliche Rolle. 1 Einführung 2 Frühe Kindheit 3 Späte Kindheit 4 Jugend 5 Einfachheit/Komplexität 6 Anpassung/Überschreitung 7 Literatur

1 Einführung Unter „Prosa für Kinder und Jugendliche“ verstehen wir intentionale Kinder- und Jugendliteratur, also Literatur, die typischerweise von Erwachsenen für Kinder und Jugendliche geschrieben wird. Selbstverständlich gibt es auch Prosa von Kindern und Jugendlichen, wie sie etwa in der Schule hergestellt wird. Mit Prosa schließen wir lyrische und dramatische Texte aus, bei denen die Sprache besonderen Bedingun­ gen unterliegt. Unter Kindern und Jugendlichen verstehen wir die Altersgruppe der Bevölkerung, die ein Alter von 12 Monaten bis 18 Jahren hat. Wir unterscheiden also Kinder- und Jugendliteratur von Erwachsenenliteratur. Damit ist kompatibel, dass Kinder und Jugendliche Erwachsenenliteratur lesen und Erwachsene Kinder- und Jugendliteratur. Solche Bücher, die sich an beide Gruppen richten, bezeichnen wir als Crossover-Literatur. Auf Kinder- und Jugendliteratur nehmen wir im Nachfolgenden mit der Bezeichnung Kinderliteratur Bezug. Kinderliteratur umfasst sowohl narrative Texte als auch deskriptive Texte (Sachtexte). Beides muss betrachtet werden, denn die Prosa könnte sich unterscheiden. Ebenso gehören solche Bilderbücher zum Untersu­ chungsgegenstand, die Texte enthalten. Es gibt wenig systematische Untersuchungen zur Sprache in der Prosa für Kinder und Jugendliche. Dies hat theoretische und methodische Gründe. Zu den theoreti­ schen Gründen gehört die fehlende Erkenntnis, dass eine Beschreibung und Erklä­ rung des literarischen Befunds an den sprachlichen Fähigkeiten und den sonstigen DOI 10.1515/9783110297898-027

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 Bettina Kümmerling-Meibauer/Jörg Meibauer

kognitiven Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen anzusetzen hat. Kinderliteratur ist grundsätzlich auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bezogen. Zu den methodischen Gründen gehört die mangelnde Einsicht in den Umstand, dass eine bloße quantitative Auswertung des literarischen Befunds in Bezug auf häufige sprachliche Muster nicht sehr weit reicht. Solche Muster sind immer auf den narrati­ ven Anspruch von Texten und die kognitiven Fähigkeiten der Leserschaft zu beziehen. Im Folgenden gliedern wir die Kinderliteratur nach bestimmten Entwicklungsund Sozialisationsphasen der Kinder und Jugendlichen. Wir unterscheiden frühe Kindheit (1–6 Jahre), späte Kindheit (7–12 Jahre) und Jugend (13–18 Jahre). Diese Phasen korrelieren grob mit Einteilungen von Ausbildungssystemen, aber auf diesen Zusammenhang (der für die Literaturdidaktik wichtig ist) können wir hier nicht ein­ gehen. Vielmehr wollen wir an ausgewählten Texten exemplarisch auf einige interes­ sante Aspekte hinweisen; eine umfassende und detaillierte Untersuchung ist nicht möglich. Zum Schluss diskutieren wir diese Befunde hinsichtlich zweier Parameter: Einfachheit/Komplexität und Anpassung/Überschreitung.

2 Frühe Kindheit Mit etwa 12 Monaten kommen die meisten Kinder mit den ersten Bilderbüchern in Kontakt. Diese Bilderbücher zeigen typischerweise Gegenstände aus dem Alltag der Kinder. Dabei finden sich auch Bilder, die mit einem Wort kombiniert sind. Zum Bei­ spiel sieht man das Bild eines Apfels, kombiniert mit dem Wort Apfel. Dieses sprachli­ che Angebot hat mit dem Wortschatzerwerb des Kindes zu tun. Wir nennen diese Art von Bilderbüchern Frühe-Konzepte-Bücher (Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2011). In Bilderbuchtypen, die sich an diesen Typ anschließen, findet man einfache Sätze wie Das Kind isst den Apfel. Obgleich man von einem Text hier noch weit entfernt ist, hat man doch schon einen Grundbaustein jedes Texts, nämlich den Satz. Dies korreliert mit kindlichen Entwicklungen im Spracherwerb, mit der lexikalischen und syntaktischen Entwicklung von der Einwort- zur Zwei- und Mehrwortphase. Für Kinder ab etwa 2 Jahren „explodiert“ das Bilderbuchangebot geradezu, in Parallele zur „Explosion“ des Wortschatzes. Uns scheint es vernünftig, zwischen deskriptiven und narrativen Texten zu unterscheiden, wobei deskriptive Texte narra­ tive Anteile enthalten können und narrative Texte deskriptive Anteile. Beide Arten von Bilderbüchern tragen zum Wissenserwerb von Kindern bei (Siegal 2008). Ein deskriptiver Text ist Lastwagen (2006) von Paul Stickland. Bildern von ver­ schiedenen Lastwagentypen werden beschreibende Sätze zugeordnet: (1) Ein Langholzlaster fährt Baumstämme aus dem Wald zum Stapelplatz des Sägewerks.

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Dieses Buch entwickelt den entsprechenden Wissensbereich von Kindern und enthält eine erstaunlich breite Palette von komplexen Wortbildungsmustern: (2) Pritschenwagen, Baustelle, Baustofflaster, Spezialkran, Ziegelstein, Fernlaster, Motorscha­ den, Abschleppwagen, Werkstatt, Tankwagen, Benzinlager, Tankstelle, Lastwagen, Die­ selöl, Zapfsäule, Fernlastwagen, Eisenbahnwaggon, Langholzlaster, Baumstamm, Stapel­ platz, Sägewerk.

Es wird deutlich, dass mit diesem Bilderbuch zugleich ein Angebot hinsichtlich des Wortbildungserwerbs gemacht wird (Meibauer 2015). Ein narrativer Text ist Fuchs (2000) von Margaret Wild und Ron Brooks. Bei diesem Bilderbuch handelt es sich um eine komplexe Dreiecksgeschichte, bei der ein eifersüchtiger Fuchs die Beziehung zwischen einem Wildhund und einer Elster zer­ stört. In dieser Geschichte finden sich schon kurze Dialoge, die Aufschluss über die Beziehungen der Protagonisten und ihre Emotionen geben (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015a). (3) Hund jagt durch den verkohlten Wald, fliegt über die heiße Asche. In seinem Maul hält er behutsam einen Vogel. Er trägt ihn zu seiner Höhle oberhalb des Flusses und kümmert sich dort um den verbrann­ ten Flügel. Aber Elster lehnt seine Hilfe ab. „Ich werde nie wieder fliegen“, flüstert sie. „Ich weiß“, sagt Hund. Er schweigt einen Moment, dann sagt er: „Ich bin auf einem Auge blind und doch ist das Leben gut.“ „Was ist schon ein Auge!“, sagt Elster. „Wie wäre dir zumute, wenn du nicht rennen könntest?“ Hund gibt keine Antwort. Elster schleppt sich in den Felsschatten, bis sie das Gefühl hat, mit der Dunkelheit zu verschmelzen (n. p.).

Im Alter von drei Jahren entwickeln Kinder die Fähigkeit, eigene Erzählungen her­ vorzubringen. Diese Fähigkeit wird über die ganze Schulzeit hinweg ausgebaut (Dan­ nerer 2012). Dass man Kindern in einfachen Narrativen Dialoge anbietet, hängt auch mit ihren eigenen gewachsenen Fähigkeiten zusammen, sich an Konversationen zu beteiligen und sogar über diese zu berichten. Die Gesetzmäßigkeiten der Redewiedergabe zu erlernen, ist für Kinder nicht einfach. Redewiedergabe ist auch ein wichtiger Teil narrativer Texte. In KümmerlingMeibauer/Meibauer (2015b) zeigen wir, dass in den Büchern der Conni-Serie (1993– 2009) von Liane Schneider schon Redewiedergaben vorkommen, die eine bestimmte Funktion in der Narration einnehmen. Eine besonders komplexe Form der Redewie­ dergabe mit Sprecherwechsel gibt es in Conni hat Geburtstag:

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 Bettina Kümmerling-Meibauer/Jörg Meibauer

(4) „Mama, wie viel Kinder darf ich einladen?“, fragt Conni aufgeregt. Sie hat nämlich bald Geburtstag. Ihren fünften! Man lädt fünf Kinder ein, wenn man fünf wird, sagt Mama. Oje, das wird schwierig. Also Julia auf jeden Fall, weil sie ihre beste Freundin ist. Dann Laura und Jolanda. Das sind drei. Natürlich ihren Cousin Michael. Und Semire! Die Zwillinge Katja und Lars sowieso! Das sind sieben. „Sieben geht gerade noch“, meint Mama (n. p.).

Auffällig sind hier drei Dinge: (a) der Einleitungssatz und der Schlusssatz dieses Dia­ loges werden in Anführungszeichen gesetzt, alle anderen Redewiedergaben nicht; (b) die ersten beiden zitierenden Redewiedergaben sind explizit mit Inquit-Formel, ebenso der letzte Redebeitrag, alle anderen Redewiedergaben sind implizit zitierend; und (c) die impliziten Redewiedergaben sind alle Conni zuzuordnen. Viele sprachliche Mittel, die in Texten für Schulkinder Verwendung finden, lassen sich auch schon in Texten für Vorschulkinder nachweisen. Als ein weiteres Bei­ spiel kann man die Metapher (Rau 2011) und den Phraseologismus (Finkbeiner 2011) nennen. Die Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen der Entwicklung von Kindern und ihren Fähigkeiten der Interpretation von Texten ist eine Sache der theo­ retischen und empirischen Literacy-Forschung (Hall/Larson/Marsh 2003, Rau 2013).

3 Späte Kindheit Mit dem Eintritt in die Schule verbinden sich zwei große Entwicklungen: Erstens lernen die Kinder schreiben und lesen (Literacy im engeren Sinne). Zweitens verzich­ ten Texte für das Schulalter mehr und mehr auf den bildlichen Kontext. (In anderer Hinsicht steigt gleichzeitig das mediale Bildangebot.) Vergleichen wir zwei Textanfänge (genauer gesagt, die ersten Abschnitte). Der erste stammt aus Otfried Preußler, Das kleine Gespenst (1967), der zweite aus Otfried Preußler, Krabat (1971). (5) Auf Burg Eulenstein hauste seit uralten Zeiten ein kleines Gespenst. Es war eines jener harmlosen kleinen Nachtgespenster, die niemandem etwas zuleide tun, außer man ärgert sie (3). (6) Es war in der Zeit zwischen Neujahr und Dreikönigstag. Krabat, ein Junge von vierzehn Jahren damals, hatte sich mit zwei anderen wendischen Betteljungen zusammengetan, und obgleich Seine allerdurchlauchtigste Gnaden, der Kurfürst von Sachsen, das Betteln und Vagabundieren in Höchstderoselben Landen bei Strafe verboten hatte (aber die Richter und sonstigen Amtspersonen nahmen es glücklicherweise nicht übermäßig genau damit), zogen sie als Dreikönige in der Gegend von Hoyerswerda von Dorf zu Dorf: Strohkränze um die Mützen waren die Königskronen; und einer von ihnen, der lustige kleine Lobosch aus Maukendorf, machte den Mohrenkönig und schmierte sich mit Ofenruß voll. Stolz trug er ihnen den Bethlehemstern voran, den Krabat an einen Stecken genagelt hatte (11).

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Während die beiden ersten Sätze in diesen Texten einfach sind, sind die beiden zweiten Sätze komplex. Auffällig ist, dass der zweite Satz in Krabat syntaktisch viel komplexer ist als der zweite Satz in Das kleine Gespenst (Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2007: 266). Während sich der letztere an etwa 5-jährige Kinder richtet, richtet sich der erstere an Kinder ab etwa 12 Jahren. Dies entspricht unserer generellen Erwartung einer Zunahme syntaktischer Komplexität in Texten für ältere Leserinnen und Leser (vgl. Engelen 1995b). Kinderliteratur für die spätere Kindheit arbeitet mehr und mehr mit literarischen Charakteren, wie zum Beispiel Pippi Langstrumpf oder Pinocchio. Solchen Charakte­ ren werden bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, die die jeweiligen Geschichten vorantreiben. In den genannten Fällen ist eine solche Eigenschaft die Neigung zum Lügen (Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2011). Lügen ist eine kognitive Fähigkeit, die gelernt werden muss und im Zusammenhang mit einer kindlichen Theorie des Geistes (Theory of Mind) zu sehen ist. Literarische Charaktere haben oft einen Eigennamen, der der kindlichen Leser­ schaft etwas über den Charakter verrät (Aschenberg 1991). Diese Namen können auch humorvoll sein. Die Bedeutung und die Verwendung von Eigennamen und Aspekte des Humors (der Witzigkeit) werden erworben. Kinderliteratur baut auf diesen Kennt­ nissen auf und entwickelt sie weiter (Hauser 2005). Man weiß wenig über die Entwicklung kindlicher Kenntnisse von Genres. Genres dürften aber mit spezifischen sprachlichen und stilistischen Anforderungen zu tun haben. Elsen (2011) zeigt, dass Neubildungen eine besondere Rolle in der phantasti­ schen Kinderliteratur zukommt.

4 Jugend Auffällig ist, dass in der Jugendliteratur (im Adoleszenzroman) Jugendsprache ver­ wendet wird (Bürki 2007). Daran lässt sich ein Bemühen um eine authentische Cha­ rakterisierung von Jugendlichen erkennen. Wie authentisch diese Sprache tatsächlich ist, ist eine andere Frage. In Ich ganz cool (1992) erfindet Kirsten Boie eine Jugendspra­ che, die sie für narrative Zwecke einsetzt. In aktuellen Jugendromanen werden literarische Charaktere auch durch pejora­ tive Sprache charakterisiert. Ein Beispiel entnehmen wir touch the flame (2001) von Zoran Drvenkar. In der folgenden Passage wird der Vater des 15-jährigen Lukas als unbeherrscht und unsensibel charakterisiert: (7) Die blöde Fotze! sagt er und schiebt den leeren Eisbecher angewidert von sich. Ich habe ihr gesagt, sie soll mich übers Handy erreichen. Ich habe ihr gesagt, sie soll mich verdammt noch mal über mein Handy erreichen. Wofür habe ich das Scheißding gekauft, kannst du mir das bitte mal sagen? Sie weiß genau, dass ich nicht sprechen kann, wenn sie mich über

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das Telefon von diesem Restaurant hier anruft. Wo mir jeder Arsch zuhört, verdammt noch mal. Wie mich das ankotzt, das kannst du dir gar nicht denken (79).

In Kümmerling-Meibauer/Meibauer (2014) zeigen wir, dass „schlimme Wörter“ in der Figurenrede die entsprechenden Figuren charakterisieren. Ihre radikale Ersetzung würde dieses literarische Mittel einschränken.

5 Einfachheit/Komplexität Eine intuitiv einleuchtende Beobachtung zur Prosasprache der Kinder- und Jugendli­ teratur ist, dass sie einer Komplexitätszunahme unterliegt. Sprache für kleine Kinder ist einfach; Sprache für Jugendliche komplex. Dies sollte man empirisch überprü­ fen können. Man benötigt dafür ein Korpus von Kinderliteratur, ein Vergleichskor­ pus von Erwachsenenliteratur, und einige sprachliche Dimensionen, in denen sich sprachliche Komplexität manifestiert. Zum Beispiel bieten sich phonologische, mor­ phologische, syntaktische, lexikologische, semantische und pragmatische Komple­ xität an. Engelen (1995b) hat zum Beispiel syntaktische Komplexität gemessen und dabei die mittlere Satzlänge, Infinitivsätze, referierte Rede, kausale und konzessive Satzverknüpfungen, lexikalische Wiederaufnahmen, Attribute und Nominalgruppen betrachtet. Bei der Beurteilung von Einfachheit und Komplexität ist aber immer zu fragen, für wen etwas einfach oder komplex ist (die Frage nach den sprachlichen und kog­ nitiven Fähigkeiten des Adressaten) und für was etwas einfach oder komplex ist (was ist der Sinn des Textes und wie werden Informationen verpackt). Vereinfacht ausgedrückt: Einfaches, zum Beispiel ein Frühes-Konzepte-Buch, kann erstaunlich komplex sein (wenn man einen bestimmten Entwicklungshintergrund von Kindern einbezieht), während Komplexes, zum Beispiel J. K. Rowlings Harry Potter-Romane (1998–2007), einfach (um nicht zu sagen, trivial) sein kann – es kommt immer auf die Beurteilungsdimensionen an. Linguistisch gesehen gibt es mehrere Beurteilungsdimensionen: – ein komplexes Wort ist komplexer als ein einfaches Wort (vgl. Wagen – Pritschenwagen) – ein komplexer Satz ist komplexer als ein einfacher Satz (vgl. Auf Burg Eulenstein hauste seit uralten Zeiten ein kleines Gespenst. vs. Es war eines jener harmlosen kleinen Nachtgespenster, die niemandem etwas zuleide tun, außer man ärgert sie.) – ein komplexer Text ist komplexer als ein einfacher Text (vgl. (4) mit (5)). Wir würden annehmen, dass im Spracherwerb und Literaturerwerb Einfaches vor Komplexem kommt. Mindestens drei weitere Aspekte müssen aber bedacht werden: Kürze, Dichte, Umfang.

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Kürze: Es gibt im frühen Spracherwerb sicher eine Präferenz für Kürze (Clark/ Kurumada 2013), die man auf den geringeren Verarbeitungsaufwand zurückführen kann. Aber kurze Texte müssen nicht unbedingt einfacher zu interpretieren sein als lange Texte, da die Dichte der Information eine Rolle spielt. Dichte: Die Dichte von Texten entsteht zum Beispiel durch ein Netzwerk von ana­ phorischen Beziehungen, durch Kohäsion und Kohärenz. Aber auch einzelne Wörter können semantische Dichte aufweisen, zum Beispiel Interjektionen oder Abstrakta. Umfang: Komplexitätsmessungen arbeiten oft mit Maßen wie der durchschnittli­ chen Äußerungslänge (MLU), Wortzählungen, usw. In der Tat sind typische Bilderbü­ cher oder Erstleserschriften „kurz“, jedenfalls relativ zu Romanen für eine jugendli­ che Leserschaft. Lypp (1984, 2002) hat entdeckt, dass Einfachheit eine Kategorie der Kinderlite­ ratur ist. Sie betont zu Recht, dass es bei kinderliterarischer Einfachheit einen Bezug zur Redundanz gibt. Ein redundanter Text ist einfach, ein elliptischer Text ist dagegen anspruchsvoll. Redundante Texte wiederholen Information, enthalten vielfältige Kon­ taktsignale, beschreiben Sachverhalte und Personen ausführlich. Elliptische Texte sind verknappt, setzen vieles voraus, bauen auf die Schlussfolgerungsfähigkeit des kindlichen Lesers und sein Weltwissen. Man muss aber bedenken, dass Weitschwei­ figkeit auch ein literarisches Mittel sein kann und dass übertriebene Verknappung nicht unbedingt Ausweis eines künstlerischen Anspruchs sein muss (vgl. Meibauer 2014). Die Entwicklung einer Theorie der kindersprachlichen und kinderliterarischen Einfachheit/Komplexität steht noch am Anfang. Wichtig ist, dass sie auf die sprachli­ che und kognitive Entwicklung von Kindern Bezug nimmt.

6 Anpassung/Überschreitung Der kindliche Spracherwerb kann auch als Anpassung an das Sprachsystem und den Sprachgebrauch der Erwachsenen beschrieben werden. Von früh an achten die Kinder darauf, wie es die Erwachsenen machen und machen es dann ebenso. Damit ist nicht gesagt, dass Kinder Erwachsene immer „imitieren“, aber es ist gesagt, dass sie den erwachsenensprachlichen Input analysieren und für ihre jeweiligen Erwerbs­ zwecke passende Schlüsse daraus ziehen. In Grundzügen hat diese Anpassung geklappt, wenn das Kind in die Schule ein­ tritt. Möglicherweise ist die Anpassung aber nicht hundertprozentig. Zumindest gibt es Überlegungen der Art, dass in jeder Generation „Fehler“ gemacht werden, die sich durchsetzen (die „propagiert“ werden) und auf diese Weise sublime Änderungen im Sprachsystem bewirken. Kinder passen sich an Erwachsene an, aber Erwachsene passen sich auch an Kinder an, d. h. nehmen Rücksicht auf das, was Kinder „schon können“. Anpas­

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sung ist in der Kinderliteraturforschung auch als Kinder- und Jugendgemäßheit bzw. Akkommodation verstanden worden. So definiert Ewers (2000: 201) die Kinder- und Jugendgemäßheit wie folgt: Unter dem Relationsbegriff der Kinder- und Jugendgemäßheit ist die Qualifizierung eines Textes bzw. Textmerkmals in Hinsicht auf den kindlichen und jugendlichen Leser zu verstehen – und zwar deren Qualifizierung als angemessen oder passend. Bezugspunkte auf Seiten des Lesers sind zum einen dessen sprachliche, kognitive und literarische Verarbeitungsmöglichkeiten, zum anderen dessen Interessen und Bedürfnisse; dementsprechend bestimmt sich die Kind- und Jugendgemäßheit einmal als Textverständlichkeit, das andere Mal als Textattraktivität.

Man kann das auch so verstehen, dass Kinder- und Jugendgemäßheit dadurch zustande kommt, dass eine Autorin oder ein Autor auf die kindlichen Leser(innen) Rücksicht nimmt. Dies fasst Ewers unter dem Begriff der Akkommodation (Ewers 2000: 206): Unter kinder- und jugendliterarischer Akkommodation ist die Anpassung des  – als geeignete Kinder- und Jugendlektüre angesehenen  – Literaturangebots (als variablem Subjekt) an den kindlichen und jugendlichen Leser (als feststehender Umwelt) zu verstehen. Eine Akkommo­ dation ist nur dort erforderlich, wo zwischen dem gegebenen literarischen Angebot und dem kindlichen und jugendlichen Lesern Unangemessenheit besteht, eine Kind- und Jugendgemäß­ heit also nicht anders denn mittels einer Abweichung vom ‚normalen‘ literarischen Regelsystem zu erlangen ist.

Im Einzelnen werden verschiedene Typen der Akkommodation unterschieden, nämlich sprachliche, stilistische, formale, stoffliche, thematische und normative Akkommodation. Dies gilt umso mehr für den Bereich der Early Literacy (welche Ewers nicht gesondert betrachtet), als bekannt ist, dass in der frühen Kindheit die sprachlichen, kognitiven und literarischen Verarbeitungsmöglichkeiten des Kindes noch heranreifen müssen. So einleuchtend dieses definitorische System auch aussieht, es ergeben sich doch einige Probleme. Wir nennen hier das Problem der Anpassungsrichtung, der Theorie­ bildung und der konkreten Analyse. Anpassungsrichtung: Kinder passen sich auch an das Literaturangebot an, d. h. sie sind keine „feststehende Umwelt“. In diesem Zusammenhang wäre es aufschluss­ reich, den Begriff von Phasen des Literaturerwerbs auszuloten, d. h. Entwicklungs­ phasen in Analogie zu den bekannten Phasen, Stadien und Meilensteinen des Spra­ cherwerbs. Theoriebildung: Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Dimensionen der Akkommodation (d. h., sprachliche, stilistische, formale, stoffliche, thematische, normative Akkommodation) ist jedenfalls ein erster Schritt hin zu einer Theorie der kinderliterarischen Akkommodation. Es ließen sich sicherlich noch weitere Dimen­ sionen hinzufügen, zum Beispiel solche, die auf typische literarische Charaktere bezogen sind oder auf Gender. Eine Akkommodationstheorie benötigt eine theore­

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tisch begründete, empirisch abgesicherte Vorstellung von der sprachlichen, kogniti­ ven und literarischen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Konkrete Analysen: Schließlich zeigt sich, dass der Nachweis der Akkommoda­ tion nicht einfach zu erbringen ist, selbst wenn man die verschiedenen Dimensio­ nen betrachtet. Die von Ewers (2000: 230–237) präsentierten Analysen von Otfried Preußlers Der kleine Wassermann (1956) und Peter Härtlings Ben liebt Anna (1979) zeigen zwar eindrucksvoll solche Akkommodationen, man fragt sich aber, ob darin tatsächlich eine „Abweichung vom ‚normalen‘ literarischen Regelsystem“ zu sehen ist. Anders gesagt, man müsste dieses genau kennen, um dann die „Abweichung“ vermessen zu können. Neben der skizzierten Anpassung des Literaturangebots an kindliche Bedürf­ nisse findet auch eine wechselseitige situative Anpassung statt. Nicht nur kann man annehmen, dass Kinderliteratur kinder- und jugendgemäß gestaltet ist, d. h. formale und inhaltliche „Verständlichkeit“ berücksichtigt. Man kann auch zeigen, dass in der gemeinsamen Lesesituation oder im Diskurs mit Anderen ältere Mitleser, Fami­ lienmitglieder, oder Lehrer(innen) auf Verständnisschwierigkeiten eingehen, Wörter erklären, Fragen stellen und insgesamt auf vielfältige Weise versuchen, Kinderlitera­ tur attraktiv zu machen. Diese Art von situativer Anpassung an das Kind ist in vielen natürlichen und experimentellen Situationen nachgewiesen worden. Auf der anderen Seite zeigt sich auch, dass Überschreitungen gewisser Normen eine wichtige Rolle spielen, ja sogar schon früh zum künstlerischen Angebot für Kinder gehören. Dies betrifft zum Beispiel Phänomene wie den Nonsense oder hybride literarische Charaktere.

9 Literatur Aschenberg, Heidi (1991): Eigennamen im Kinderbuch. Eine textlinguistische Studie. Tübingen. Bürki, Gisela (2007): „Aber ich will schreiben wie Film.“ Zur Inszenierung von Jugendsprache in der Jugendliteratur. In: Kinder- und Jugendliteraturforschung 2006/2007, 81–94. Clark, Eve V./Chigusa Kurumada (2013): ‘Be brief!’: From Necessity to Choice. In: Laurence Goldstein (Hg.): Brevity. Oxford, 233–248. Dannerer, Monika (2012): Narrative Fähigkeiten und Individualität. Mündlicher und schriftlicher Erzählerwerb im Längsschnitt von der 5. bis zur 12. Schulstufe. Tübingen. Elsen, Hilke (2011): Das besondere Funktionsspektrum der Wort(neu)bildung in der phantastischen Kinderliteratur. In: Hilke Elsen/Sascha Michel (Hg.): Wortbildung im Deutschen zwischen Sprachsystem und Sprachgebrauch. Perspektiven – Analysen – Anwendungen. Stuttgart, 211–223. Engelen, Bernhard (1977): Zur Sprache des Kinder- und Jugendbuchs. In: Maria Lypp (Hg.): Literatur für Kinder: Studien über ihr Verhältnis zur Gesamtliteratur. Göttingen, 196–219. Engelen, Bernhard (1995a): Überlegungen zur Sprache im Kinder- und Jugendbuch. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien 47, 18–42. Engelen, Bernhard (1995b): Überlegungen und Untersuchungen zur Syntax im Kinderbuch. In: Feine/ Sommerfeldt, 43–63.

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 Bettina Kümmerling-Meibauer/Jörg Meibauer

Ewers, Hans-Heino (2000): Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in grundlegende Aspekte des Handlungs- und Symbolsystems Kinder- und Jugendliteratur. München. Feine, Angelika/Karl-Ernst Sommerfeldt (Hg.) (1995): Sprache und Stil in Texten für junge Leser. Frankfurt/M. Finkbeiner, Rita (2011): Phraseologieerwerb und Kinderliteratur. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 162, 47–73. Hall, Nigel/Joanne Larson/Jackie Marsh (Hg.) (2003): Handbook of Early Childhood Literacy. London. Hauser, Stefan (2005): Wie Kinder Witze erzählen. Eine linguistische Studie zum Erwerb narrativer Fähigkeiten. Bern. Kümmerling-Meibauer, Bettina (2012): Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur. Darmstadt. Kümmerling-Meibauer, Bettina/Jörg Meibauer (2007): Linguistik und Literatur. In: Markus Steinbach u. a.: Schnittstellen der germanistischen Linguistik. Stuttgart/Weimar, 257–290. Kümmerling-Meibauer, Bettina/Jörg Meibauer (2011a): Early-concept books: Acquiring nominal and verbal concepts. In: Bettina Kümmerling-Meibauer (Hg.): Emergent Literacy. Children’s Books from 0 to 3. Amsterdam, 91–114. Kümmerling-Meibauer, Bettina/Jörg Meibauer (2011b): Lügenerwerb und Geschichten vom Lügen. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 162, 118–138. Kümmerling-Meibauer, Bettina/Jörg Meibauer (2014): Soll man „schlimme Wörter“ in Kinderbüchern ersetzen? Normenkonflikte, Figurenrede, Fußnote. In: Heidi Rösch/Heidi Hahn/Beate Laudenberg (Hg.): Wörter raus!? Zur Kinderbuchdebatte um eine diskriminierungsfreie Sprache im Kinderbuch. München, 14–38. Kümmerling-Meibauer, Bettina/Jörg Meibauer (2015a): Beware of the Fox! Emotion and Deception in Fox by Margaret Wild and Ron Brooks. In: Janet Evans (Hg.): Challenging and Controversial Picturebooks: Creative and Critical Responses to Visual Texts. London, 144–159. Kümmerling-Meibauer, Bettina/Jörg Meibauer (2015b): Vorlese-Input und Redewiedergabe. In: Claudia Müller/Linda Stark/Eva Gressnich (Hg.): Sprachliches Lernen durch Vorlesen. München, 15–33. Lypp, Maria (1984): Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur. Frankfurt/M. Lypp, Maria (2002): Die Kunst des Einfachen in der Kinderliteratur. In: Günther Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1. Baltmannsweiler, 828–843. Meibauer, Jörg (2011): Spracherwerb und Kinderliteratur. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 162, 11–28. Meibauer, Jörg (2014): Einfachheit, Anpassung und Early Literacy. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 174, 9–23. Meibauer, Jörg (2015): What the child can learn from simple descriptive picturebooks. An inquiry into Lastwagen/Trucks by Paul Stickland. In: Bettina Kümmerling-Meibauer u. a. (Hg.): Learning from picturebooks. Perspectives from child development & literacy studies. London, 51–70. Rau, Marie Luise (2011): Metaphors in picturebooks from 0 to 3. In: Bettina Kümmerling-Meibauer (Hg.): Emergent Literacy. Children’s Books from 0 to 3. Amsterdam, 141–159. Rau, Marie Luise (2013): Kinder von 1 bis 6. Bilderbuchrezeption und kognitive Entwicklung. Frankfurt/M. Siegal, Michael (2008): Marvelous Minds. The Discovery of What Children Know. Oxford.

Michael Schikowski

28. Sachprosa, Sachtexte, Sachbuch Abstract: Sachprosa wird hier als Oberbegriff für Sachtexte und Sachbuch verwendet. Der Begriff Sachtexte umfasst kürzere Textsorten wie die Anekdote und längere wie die Reportage. Der Begriff Sachbuch wird hier als Oberbegriff für nichtfiktionale Ein­ zelpublikationen als Biografie, Debattenbuch oder Ratgeber gebraucht. Das moderne Sachbuch gewann in der Germanistik erst durch die Kulturwissen­ schaften vermehrt Beachtung. Bei der Bestimmung eines Textes als Sachprosa über­ wiegen die textexternen Kriterien. Sachbuch und Sachtexte treten nicht allein als Text, sondern als Gegenstand Buch oder Zeitschrift in Erscheinung. Der Buchkörper des Sachbuchs und der Publikationsort des Sachtextes entfalten ihre Wirkung bereits vor der Lektüre (Schikowski 2015). Sachprosa dient der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse (Porombka 2007), sie erlebt ihre Konjunktur als Folge der Industrialisierung (Schikowski 2010, 16) und bietet Wissen als Unterhaltung (Hügel 2008, 162). Jede restriktive Definition der Sachprosa hält breiterer Lektüre auch nur eines Zeitabschnitts der Sachbuchge­ schichte nicht stand (Schikowski 2010). Die textinternen Signale für Sachprosa vari­ ieren je nach Epoche und Zeitabschnitt. Darum wird hier die Orientierung an den Zäsuren der politischen Geschichte vorgeschlagen. Ziel der Sachprosa ist in der Regel Authentizität, Glaubwürdigkeit und Plausibilität. An der Geschichte des Sachbuchs lässt sich der Authentizitätseindruck der Texte durch stilistische Binnendifferenzen der Sachprosa zeigen. 1 Kontexte der Sachprosa 2 Historischer Überblick 3 Textmerkmale der Sachprosa 4 Literatur

1 Kontexte der Sachprosa Den ersten Nobelpreis für Literatur, den ein Deutscher erhält, geht 1902 an den His­ toriker Theodor Mommsen für seine bereits Jahrzehnte zuvor erschienene Römische Geschichte. Winston Churchill erhält ihn 1953 für sein historisches Gesamtwerk und 2015 Swetlana Alexijewitsch für ihre Interviewbände. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte in Deutschland und bis heute außerhalb Deutschlands ein die Sachprosa einschließender Literaturbegriff vor. In einem Aufsatz von 1930 nennt Walter Muschg Sigmund Freud noch den „sachlichsten aller lebenden deutschen Publizisten“ (Muschg 2009, 557). So häufig die Sache Freuds, die Psychoanalyse, als Wissenschaft DOI 10.1515/9783110297898-028

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bestritten wurde, so unbestritten ist der Ruf Freuds, nach dem der wichtigste Preis für wissenschaftliche Prosa benannt ist, als überragender Schriftsteller. In neueren deutschen Literaturgeschichten allerdings werden Theodor Mommsen und Sigmund Freud als eigenständige Schriftsteller kaum genannt. Gleichwohl setzt auch die Literaturwissenschaft wirklichkeitsadäquate faktuale Texte der Sachprosa beispielsweise von Ulrich Raulff und Peter von Matt voraus, deren Bücher sie unter dem Begriff der Sekundärliteratur zusammenfasst. Sachprosa wird in Literatur­ geschichten allenfalls über ihre Inhalte, weniger in Hinsicht der Formen und lite­ rarischen Techniken analysiert, was sich auch an aktuellen Deutschbüchern für die Schule zeigt, die bis auf Heines Reisebilder nahezu alle zentralen Autoren und Begriffe der faktualen Genres vermissen lassen (Schikowski, 2014a). In Einführungs­ werken zur Literaturwissenschaft wird Sachliteratur pauschal auf das bloße „Unter­ haltungsbedürfnis der neuen Mittelschicht“ zurückgeführt, die „nicht genug Energie erübrigen kann, um sich in der Freizeit wissenschaftliche Kenntnisse oder höhere philosophische und literarische Bildung anzueignen.“ (Schneider 2016, 133) David Oels hat erstmals auf diese germanistische Forschungslücke hingewiesen (Oels 2005). Jochen Vogt äußert im Nachwort zu Genettes Untersuchung zur Erzäh­ lung die Hoffnung, dass sie „zu weiteren, textorientierten Untersuchungen gerade im Feld des nicht-fiktionalen Erzählens“ (Genette 1998, 302) führen möge. Eine Poetik des Sachbuchs, wie sie für die Biografie (Zimmermann 2006, Fetz 2009, Klein 2009, Hemecker 2009), den Reisebericht (Brenner 1990), die Reportage (Oels/Porombka/ Schütz 2009, Brunhold 2009) und Ratgeber (Oels/Schikowski 2012) als Einzelformen des Sachbuchs versucht wurde, liegt bislang nicht vor. Im Vergleich zur Fiktion sind literaturwissenschaftliche Analysen der Sachprosa die Ausnahme (Hardtwig/Schütz 2005, Hahnemann/Oels 2008, Oels 2011). Die Texte der Sachprosa sind vor allem in der Soziologie und den Kulturwis­ senschaften Gegenstände der Forschung und Lehre. Hier werden jenseits der Text­ hierarchie der Germanistik die literarischen Vermittlungsstrategien ausgeleuchtet (Landwehr 2008, 112 ff.). Mit jedem turn der Kulturwissenschaften geraten dann auch verstärkt Sachtexte in den Blick der Germanistik (Benthien/Velten 2002). Im Rahmen einer „kulturwissenschaftlichen Rehabilitierung der populären Kultur“ (Porombka 2007, 157) wird die Stigmatisierung von Sachprosa überwunden. Bereits 1988 integrie­ ren die Herausgeber von Kindlers neuem Literatur-Lexikon zahlreiche Werke bedeu­ tender Sachprosa (Jens 1988). Nun kann Sachprosa wieder, wie zuletzt um 1900, zu den „Formen der Repräsentation einer kulturellen Bedeutungsproduktion“ (Klausnit­ zer 2008, VIII) gezählt werden. Die Kritik besonders erfolgreicher Sachprosa situierte sie außerhalb des ernstzu­ nehmenden literarischen Feldes. In diesem Sinne schrieb Friedrich Nietzsche über David Friedrich Strauss (Nietzsche 1873), Leo Löwenthal über die historische Belle­ tristik der 1930er und 40er Jahre (Löwenthal 1974) und Ulf Diederichs über die Gefahr der Reportage (Diederichs 1965). Hier wird die Leserorientierung der Sachprosa pau­ schal als bloße Marktorientierung diskreditiert. Dass Texte aber unter Marktbedin­

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gungen produziert und publiziert werden, gilt nicht exklusiv für Sachprosa. Da eine Sachprosa integrierende Literatur- und Stilgeschichte nicht vorliegt, wird der Blick auch in neueren Darstellungen der Sachprosa zumeist auf Bestseller beschränkt (Oels 2005b, Porombka 2006, Schikowski 2006). Im Laufe des 19.  Jahrhunderts wird populäre und leserzugewandte Sachprosa mit der Gattungsbezeichnung ‚Ansichten‘, ‚Briefe‘, ‚Bilder‘ und ‚Vorlesung‘ näher bestimmt, später bleibt der Essay als populäre Gattung unberücksichtigt (Schärf 2008, Schikowski 2009, 127, Stanitzek 2011). Die Funktion der Sachprosa, wissenschaftliche Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen – was vor allem an Texten seit den 1920er Jahren gezeigt wurde (Oels 2005b)  – führte dazu, Sachprosa und Sachbuch generell über diese Teilfunktion zu definieren. Vermutlich verhielt es sich aber histo­ risch umgekehrt, insofern die Wissenschaftsprosa durch Spezialisierung, Mathema­ tisierung und Institutionalisierung aus dem breiten Strom allgemeinverständlicher Sachprosa hervorgegangen ist. Bei Alexander von Humboldt lässt sich diese Entwick­ lung vom populären Frühwerk Ansichten der Natur zum komplexen Kosmos ablesen. Ähnliches lässt sich Theodor Mommsens Publikationen beobachten. Gelegentlich begründen populäre Werke wissenschaftsstrategisch und öffentlichkeitswirksam ein neues Forschungsfeld, wie Wilhelm Heinrich Riehls Naturgeschichte des deutschen Volkes die Erdkunde (Sengle 1972, 275, Schikowski 2006a, 167). Das Allgemeinwissen über historische Sachprosa beschränkt sich heute allen­ falls auf Kuriosa. Ganze Gattungen wie moderne Ratgeber gelten als lächerlich (Schi­ kowski 2012). Wünschenswert wären aber kanonisierte Einzelpublikationen in den Bibliotheken, Ausschnitte in Lesebüchern für die Schule und eine lebendige Erin­ nerungskultur in der Öffentlichkeit. Dann wäre Sachprosa eine legitime Form der Verständigung, die sich zum Teil auch heute noch gültiger Argumente bedient, zum anderen Teil aber zu einem Traditionsbestand gehört, der sich nicht wie zeitgenös­ sische Sachprosa selbstverständlich erschließt. Paradoxerweise sind es genau diese nicht auf Anhieb erschließbaren Sachtexte und Sachbücher der Tradition, die dabei helfen, die zahlreichen Voraussetzungen und Strategien der aktuellen Sachprosa zu erkennen. Kurz: Sachprosa muss als zwar zeitlich limitiertes, aber unverzichtbares und legitimes Medium gesellschaftlicher Teilhabe, Mittel der Verständigung und Sozialisation gesehen werden.

2 Historischer Überblick Im historischen Überblick lässt sich Sachprosa nach gesellschaftlichen Krisen und Umbrüchen einteilen. Noch heute vermutet man dagegen vor allem fiktionale Litera­ tur an der Spitze der gesellschaftlichen Entwicklung. Drei Beispiele mögen den umge­ kehrten Blick nahelegen:

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Dirk van Laak stellt fest, dass sich entgegen seiner Vorannahme „erstaunlich wenige fiktive Texte“ finden lassen, die für „politische, soziale, rechtliche oder kul­ turelle Veränderungen ursächlich“ sind (Laak 2011, 10). Gesellschaftliche Verände­ rungen gehen vor allem auf Sachtexte und Sachbücher zurück und dies in einem im Vergleich zur Fiktion weit überwiegenden Maße. Laaks Fragestellung hätte bezogen auf die Industriereportagen von Friedrich Engels, Paul Göhre und Günter Wallraff zu einem deutlich anderen Ergebnis geführt. Die Schulromane von Marie von Ebner-Eschenbach bis Friedrich Torberg sind eine Reaktion auf die ‚Überbürdungsdebatte‘, die bereits 1882 von Friedrich Wilhelm Fricke in seiner Schrift Die Ueberbürdung der Schuljugend angestoßen wurde. An diesem Beispiel lässt sich besonders anschaulich zeigen, dass allererst der öffentli­ che Diskurs über die Schule eine fiktionale Literatur hervorbringt, die von Wedekinds Frühlingserwachen bis zu einer Romanfigur wie Hanno Buddenbrook reicht. Die von den Nationalsozialisten verbrannte Literatur besteht zu einem über­ wiegenden Teil aus heute weitgehend vergessener Sachprosa. Das 2008 begonnene Projekt des Olms-Verlags, die verbrannten Bücher in über 100 faksimilierten Einzel­ ausgaben wieder zugänglich zu machen, blieb auf zehn Bände besonders namhafter Autoren wie Theodor Heuss und Walther Rathenau beschränkt. Diese drei Beispiele zeigen, dass fiktionale Texte, weil sie im literarischen Gedächtnis bleiben, als vorgebliche Pioniere statt als tatsächliche Kulturfolger wahr­ genommen werden, und dass Sachprosa, die in den drei Beispielen das zentrale Medium gesellschaftlicher Verständigung bildet, weil heute ungelesen und nicht kanonisiert, aus dem Blick gerät. Einen markanten Wendepunkt für die Geschichte der Sachprosa bildet der Zusammenbruch Preußens 1806. Eine weitere Zäsur liegt in den Enttäuschungen, die im Zusammenhang mit der gescheiterten 1848er Revolution zu verkraften waren. Nach den Zusammenbrüchen des Deutschen Reiches 1918 und des Dritten Reichs 1945, beides Epochen, die in der Sachprosa vor allem durch Übertreibungen, Ange­ berei und Fanatismus gekennzeichnet sind (Meierhofer/Schikowski/Wörner 2013), ist in der Folgezeit eine Selbstabgrenzung der Sachprosa durch bilanzierende Versach­ lichung besonders nachvollziehbar (Lethen 1994, 35 ff.). Dieser Reihe ablöschender Ernüchterung hinzuzuzählen wäre noch der Fall der Mauer 1989, der, wie bei allen zuvor genannten Daten auch, erheblich das vorläufige Ende einer dem dialektischen Materialismus verpflichteten Sachliteratur nach sich zog. Dies alles sind Zusammen­ brüche gewohnter Denk- und Gebrauchsmuster, die der Bestimmung von Sachprosa als Medium erneuerten Regel- und Orientierungswissens besondere Plausibilität ver­ leihen (Porombka 2005). Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein von 1791–94 ist das vielleicht erste moderne deutsche Sachbuch. Das Buch entfaltet von der Kunst bis zu Handwerk und Wirtschaft ein breites Panorama von Themen, bleibt also wie das Sachbuch thema­ tisch offen (Meierhofer/Schikowski/Schneider 2015, 15). Auch versucht Forster (ver­ geblich) vom Schreiben zu leben (Goldstein 2015). In Wilhelm Harnischs Hilfsbuch für

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Lehrer von 1820 wird der Begriff Sachbuch dann zum ersten Mal nachgewiesen (Mei­ erhofer/Schikowski/Schneider 2015, 7). Karl Benjamin Preusker entwickelt eine Sys­ tematik der zentralen Selbstbildungsmedien mit öffentlichem Vortrag, öffentlicher Bibliothek und Realienbuch, dem Vorläufer des Sachbuchs (Meierhofer/Schikowski/ Schneider 2015, 9). Nach der gescheiterten 1848er Revolution ist die kurze Konjunktur der Industrie­ reportage, die im Vorfeld entstand, auch durch Emigration der Autoren Episode geblieben. Autoren wie Georg Forster, in der ersten Literaturgeschichte von Gervinius, dem Herausgeber seiner Werke, noch berücksichtigt, und Alexander von Humboldt werden als republikanische Autoren in einer preußischen Literaturgeschichte aussor­ tiert und das Volksbildungsprogramm Preuskers wird in den historischen Großwer­ ken der Sachprosa von Gustav Freytag und Theodor Fontane national gewendet. Sachprosa findet nun als selbstverständlicher Teil der Überlieferung auch in den Literaturgeschichten der Jahrhundertwende Berücksichtigung (Engel 1907, 1134 ff.). Bis auf gesellschaftskritische und politische Publikationen wird in einem Lesebuch für die Schule alles aufgeführt, was im Bereich der Sachprosa Rang und Namen hat (Engel 1913). In einer Stilkunde ist die Verbindung von Literatur und Journalismus selbstverständlich (Meyer 1906). In Josef Nadlers Literaturgeschichte schließlich verschafft die Preisgabe aller literaturwissenschaftlichen Kriterien den Autoren der Sachprosa kaum mehr als ihre Nennung, denn trotz seines Bekenntnisses, dass die „Sachprosa […] die größten Schöpfungen des Jahrhunderts“ (Nadler 1928, 14) enthielte, erfährt man bei Nadler von den Texten nahezu nichts (Ranzmaier 2008). Nach 1918 erreicht Sachprosa eine bedeutende Konjunktur, die mit dem Auf­ stieg der Verlage von Ernst Rowohlt und Eugen Diederichs eng verbunden ist und auch fiktionale Prosa beeinflusst, die unter ‚Neuer Sachlichkeit‘ als Epochenbegriff zusammengefasst wird. Neue Gattungen, wie Tatsachen- und Rohstoffroman entste­ hen (Hahnemann 2010). Als Eindeutschung des Begriffs Realienbuch etabliert sich in den 1920er Jahren der Begriff Sachbuch (Diederichs 1965, 48), der sich, vorbereitet durch die literaturpolitische Sozialisation der Autoren und Verleger im Dritten Reich, als Sammelbezeichnung ab den 1960er Jahren durchsetzt. Die Sachprosa der Publi­ zistik wird in Sammelbänden historisiert (Kisch 1923, Glaeser 1929). Unter dem Begriff der ‚historischen Belletristik‘ etabliert sich eine Geschichtsschreibung, die über eine „diskursiv breit ausgebildete weltanschauliche, lebens-, geschichts- und populärphi­ losophische Referenzgrundlage“ (Meierhofer 2014, 90) verfügt. Dabei bleibt es im Grunde auch in der Zeit nach dem Zusammenbruch 1945, in der Sachprosa an verschiedene Traditionen anknüpfen konnte, ohne allerdings sich mit den Ursprüngen im 19. Jahrhundert oder mit sozialistischen und nationalsozialis­ tischen Autoren auseinanderzusetzen (Schikowski 2009). Noch Kindlers Sonderband zur deutschsprachigen Sachliteratur (Radler 1978), der 1945 einsetzt und lediglich einmal in revidierter Fassung erscheinen kann, zeigt, dass man diesen Kontinuitäten der Geschichte ausweicht. Von einer „Theorie des Sachbuchs“ spricht zuerst der Lite­ raturpädagoge Wilhelm Fronemann, der bereits 1927 konstatiert, dass sich die Sach­

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literatur „nebenher ohne leitende Idee“, dann wieder 1953 „ohne lenkende Theorie“ (Doderer 1961, 13) entwickelt habe. Auch zu Versuchen, den Gegenstandsbereich ein­ zugrenzen, kommt es relativ spät, zunächst nur unter dem Gesichtspunkt der spezifi­ schen Textsorte Essay (Loerke 1940, Rohner 1968, Reich-Ranicki 2006), dann geraten zeitgeschichtliche Sachbücher in den Blick (Rühle 1978, Rathgeb 2005). Im Zuge der Neubewertung journalistischer Texte, vor allem der Reportage, ab den 1980er Jahren (Kreuzer 1992, Brunhold 2009) finden auch Sachprosa und Sachbuch eine größere Berücksichtigung (Raddatz 1982), die dann im Forschungsprojekt „Das populäre deutschsprachige Sachbuch im 20.  Jahrhundert (1918–2000)“ erste Ergebnisse und Vorschläge einer Kanonisierung mit sich bringt (Oels/ Porombka/Schütz 2007, Meier­ hofer/Schikowski/Schneider 2015).

3 Textmerkmale der Sachprosa Klein und Martínez schlagen vor, Sachprosa auf eine „Wahrheitsverpflichtung“ oder einen „Pakt“ festzulegen, der Autoren, die ihren Text als faktual kennzeichnen, darauf verpflichte, „wahrhaftig, knapp, klar und relevant“ zu „berichten“ (Klein/ Martínez 2009, 3). In dieser Bestimmung scheint das Textideal der Sachlichkeit der 1980er Jahre präsent zu sein und sie gilt vermutlich mehr für Zweckschriften, denen wie beim Reiseführer, Kochbuch oder Rechtsratgeber enge Grenzen in den sprachli­ chen Mitteln gesetzt sind. Auch an Sachbuchforschung interessierte Veröffentlichun­ gen beschäftigen sich vor allem mit dem Grenzbereich von Fiktion und Sachprosa (Willand 2017). Da die Bestimmung der Sachprosa über textinterne Merkmale bei fiktionaler Lite­ ratur vor allem über Leseerfahrungen gelingt, stehen zur Orientierung, wenn diese Erfahrungen fehlen, häufig nur textexterne Kriterien im Fokus. Das Medium gerät dabei zuerst in den Blick: Zeitung, Zeitschrift und Internet mit seinen zahlreichen Kleinformen der Sachtexte. In Verlagen, Fernsehen, Radio und Internet werden Texts­ orten in der Regel von der Redaktion in Epitexten wie Waschzettel oder Anzeige festge­ legt. Bei Sachbüchern sind Autorennamen wie Barbara Beuys und Verlagsnamen wie Christoph Links schon deutliche Markierungen von Sachprosa. Verlage und Autoren besitzen zahlreiche Strategien, ihr Feld in Form eines Verlagsprofils abzusichern und ihre Texte im literarischen Feld zu positionieren. Der Verlag veranlasst Testimonials anerkannter Experten bzw. anderer Sachbuchautoren, der Autor unterstreicht seine akademische oder journalistische Laufbahn und der Rezensent, der daran interessiert ist, sich mit einer besonders angesehenen Sorte von Sachprosa zu befassen, operiert mit Referenzen auf das Verlagsprogramm. Verlagen wie Hanser, Suhrkamp und C. H. Beck gelingt die Nobilitierung der eigentlich populären Sachprosa besonders leicht. Über die Bestimmung der Textsorte als literarische Reisebeschreibung, Kunstprosa, Essay, Aufsatz, Fachbuch oder Monografie sind weitere Absicherungen möglich. Das

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Wechselspiel eines vieldeutigen Haupttitels und genauer spezifizierenden Unter­ titels (auch zu bibliografisch korrekten Suchbarkeit des Titels) ist für ein Sachbuch außerdem typisch. Selbst einfachste Gestaltungsprinzipien, wie die bei Sachtexten bevorzugten serifenlosen Schriftarten, können als Textsignal für Sachprosa gedeutet werden. Zur näheren Charakterisierung der Sachprosa sei die vergleichende Beschreibung der Texte vorgeschlagen, die auf Referenzen auf Fiktion, Wirklichkeit und Aktualität verzichtet und stattdessen die stilistische Binnenpolarität der Texte ernst nimmt. Die Fülle wechselnder textinterner und durchaus gegensätzlicher Signale der Sachprosa lassen sich dabei als Strategie der Abgrenzung verstehen. Die Textsignale der Sach­ prosa generieren mittels Stilwechsel einen Zuwachs an Authentizität, Glaubwürdig­ keit und Plausibilität. Wie Egon Friedell die ‚Bölscherei‘ in einer „Bölschiade“ kritisiert (Azzouni 2006), wiederholt dies Hans Magnus Enzensberger mit seiner Kritik an der sogenannten ‚Ceramik‘ der Autoren wie C. W. Ceram (Enzensberger 1962). Solche Nominalisierung eines spezifischen Schreibstils ist selbst schon Distanzierung als Manier und Begrün­ dung des neuen sachgerechteren Darstellungsstils. Bislang werden Sachtexte und Sachbuch vor allem im Gegensatz zur Fiktion gesehen, also als vorgeblich frei von einer Prägung durch Mentalität und Zeitge­ schmack, als Texte ohne Textsignale und ohne Stilmerkmale. Eine weitere Sicht betont die Polarität von veralteter Sachprosa und neuestem Forschungsstand, als sei nicht auch alte Sachprosa einmal auf aktuellem Forschungsstand gewesen. Beide Haltungen beruhen auf der Auffassung, dass heutige Sachtexte im Unterschied zu historischen Sachtexten und im Unterschied zur Fiktion die unverstellte Sache selbst enthalten. In beiden Fällen bleibt das Ideal einer nahezu klinischen Sachprosa erhal­ ten. Statt Sachprosa gegenüber fiktionalen Textsorten mittels Einschränkungen (Schi­ kowski 2011, 94) oder von einem aktuellen Forschungsstand abzugrenzen, die, wie Textanalysen auf breiter Basis zeigen, keine durchgehende Geltung besitzen, sei hier vorgeschlagen, Sachprosa anhand von Epochenüberblicken einzuteilen und inner­ halb dieser Zeitabschnitte gemeinsame textinterne Kriterien für sie auszumachen. Die Stilwechsel vom Biedermeier bis zu den 1980er Jahren lassen sich nur andeu­ ten: Nach dem Zusammenbruch Preußens werden viele neue literarische Kleinfor­ men ausprobiert und entwickelt, die sich überdeutlich von Formaten der ‚Kunstperi­ ode‘ und den Ansprüchen der Philosophie absetzen. Die Publizistik erlebt ihre erste Konjunktur für Zeitschriften, Journale und Periodika, in der diese Kleinformen Platz finden (Sengle 1972, 263). In Anpassung an die neuen Publikationsmöglichkeiten sind humoristische Kleinformen wie Anekdote, Satire, Parodie und Witz fester Bestandteil. In den 1840er Jahren ist diese Literatur des Biedermeier, die man vor allem mit Varnhagen van Ense und Fürst Pückler-Muskau (Briefe eines Verstorbenen) assoziiert, harmlos und frivol, dagegen wird nun in ernsthaften, reportagenahen Erzählungen verbürgtes Wissen über Pauperismus und Industrialisierung von Bettina von Arnim

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(Dieses Buch gehört dem König), Friedrich Engels (Die Lage der arbeitenden Klasse in England) und Ernst Dronke (Polizeigeschichten) publiziert. Nach der gescheiterten Revolution erscheinen mit den Werken von Theodor Fontane (Wanderungen durch die Mark Brandenburg), Gustav Freytag (Bilder aus der deutschen Vergangenheit), Herman Grimm (Das Leben Michelangelos) und Alfred Brehm (Illustrirtes Thierleben) enzyklopädische und breit erzählende Werke für ein wachsendes bürgerliches Publikum. Oft vorab in Zeitschriften publiziert, als Buch überarbeitet und mit eingedeutschten Fremdworten versehen, kennzeichnet diese Werke besonders eine antithetische Gedankenentwicklung, scharfe moralische Wer­ tungen, Verallgemeinerungen und wuchtige lange Satzperioden. Die Sachbücher der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg setzen sich von den zum Teil durch unzählige Einzelheiten überladenen Großwerken der Vergangen­ heit durch Reihung kurzer und sprachlich schmuckreicher Sequenzen ab. Sie sind kurzweiliger, populärer und wertfreier. Der Darstellungsstil ist bei Wilhelm Bölsche (Das Liebesleben der Natur) humoristisch und bei Herbert Eulenberg (Schattenrisse) schwülstig. Die Bücher von Emil Ludwig, Valeriu Marcu, Egon Friedell, Friedrich Sieburg, Werner Hegemann und Stefan Zweig sind hinsichtlich der historischen Fakten, die diese Bücher alle voraussetzen, und ihres zum Teil sentenzenhaften Stils aus heuti­ ger Sicht extrem voraussetzungsreich. Ihre an eine Kollektivsymbolik anschließende Wortwahl (Dörner/Vogt 1994, 32) und die auf gesellschaftliche Probleme reagierenden Themen (Wiederbewaffnung, Emigration, Judenverfolgung) zeigt die Sachliteratur in der Freiheit der Darstellungsmittel auf dem Höhepunkt. Mit Gedankenexperimenten, kontrafaktischem, personalem und filmischem Erzählen und innerem Monolog nutzt Sachprosa unbefangen alle Darstellungsformen, die aus fiktiven Texten vertraut sind (Schikowski 2016). Im Dritten Reich werden sogenannte Technik- und Rohstoffromane publiziert, einerseits als vorgeblich sachnahe Veröffentlichungen grundsätzlich unpolitischen Charakters (Heinrich Eduard Jacob, Walther Kiaulehn), andererseits als dezidiert politische Schriften im Sinne des Regimes (Anton Zischka, Karl Aloys Schenzinger). Zischka plagiiert nicht nur (Hahnemann 2010), sondern in der Sachprosa erscheint in dieser Zeit auch stilistisch alles erlaubt. Die Texte sind gekennzeichnet durch apo­ diktische Formulierungen, Hyperbeln, rassistische Stereotype und Superlative, aber auch Tabellen, Übersichten, Karten, die als Materialfülle beeindrucken wollen. In den 1950er Jahren wird eine Rückbesinnung auf alteuropäische Werte in den Sachtexten deutlich. Die griechische Kultur (Peter Bamm, Erhart Kästner), die römi­ sche (Rudolf Pörtner) und die biblische Welt (Werner Keller) oder gleich die ganze Archäologie (C. W. Ceram) haben Erfolg unter den in der Welt herumgekommenen ehemaligen Kriegsteilnehmern (Oels 2007, 148). In ihrer manchmal elegischen und um feine Nuancen bemühten Prosa bleibt alles Politische, Praktische, Technische und Ökonomische fast ganz ausgespart.

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Ab den 1960er Jahren entsteht dann mit den Sachbüchern der sachgerechten Berichterstatter das Textideal einer vorgeblich tendenzfreien, betont genauen und nüchternen Analyse (Klaus Mehnert, Erwin Wickert, Wolfgang Leonhardt, Peter Scholl-Latour). Ähnlich unkünstlerisch, aber dafür wieder mit deutlich formulierter Wirkungsabsicht schreiben Alice Schwarzer, Horst-Eberhard Richter und Horst Stern in einem nahezu bewusst spröden Stil – der Kampf um die ‚Sache‘ scheint bei nüch­ terner Prosa glaubwürdiger. In den Sachbüchern der 1980er Jahre ist die Syntax stark vereinfacht. Es kommen Angaben in Zahlen, Fremdworte, Vorausblicke und Daten als textinterne Merkmale für Sachprosa zum Einsatz (Schikowski 2008, 142 ff.). Die zum Teil enormen Pub­ likumserfolge der Sachbücher von Günter Ogger, Frank Schirrmacher und Ulrich Wickert lassen sich auf eine beispiellose multimediale Marktbeherrschung bei voll­ kommener Anforderungsarmut und Schlichtheit zurückführen. Zum Verhältnis von Sachprosa und Wirklichkeit sei hier die Anwendung des Thomas-Theorems vorgeschlagen: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“ (Thomas 1928, zit. nach: Esser 1999, 63) Die Voraussetzun­ gen, die Leser hinsichtlich der Texte machen, indem sie sie als Sachprosa auffassen, haben u. U. reale Folgen in ihrem Denken und Handeln. Inwiefern sich Leser anders entscheiden, die Plausibilisierungsverfahren durch fiktionale Elemente erkennen, Fehler der Argumentation und falsche Annahmen identifizieren, zeitgebundene Vor­ urteile ausmachen oder gar eine Verdrehung der Tatsachen, der Täuschung und Lüge, unterliegt der Einzelfallprüfung, die unter Umständen einen erheblichen intellektu­ ellen Reiz und Aufwand bedeutet, wie die umfangreich kommentierte Neuausgabe von Hitlers Mein Kampf durch das Institut für Zeitgeschichte beweist. Die zeitgenössische Rezeption mag von der sachnahen Darstellung überzeugt sein, im Augenblick der Kulturalisierung der Werke ist der Text nicht mehr auf dem neuesten Stand und es treten Merkmale an ihm hervor, die ihn als Teil einer älteren Geschmackskultur mit ihren Werten und Vorstellungen, an die der Text allzu selbst­ verständlich anschließt, identifizierbar und daher distanzierbar machen (Schikowski 2016). Tritt dieser Sachverhalt deutlicher und durch Sachtextlektüren häufiger vor Augen, wird erkennbar, dass jede Sachliteraturepoche ihre Wirklichkeitsauffassung im Text neu definiert. Unter Aufbietung rhetorischer und erzählerischer Mittel, die zeitgebunden sind, erzeugt Sachprosa Authentizität. Insofern Leser das vom Text nahegelegte Verständ­ nis teilen, hat Sachprosa reale Folgen. Nach Ralf Klausnitzer hängt dieser Umstand „mit rhetorischen Verfahren zusammen, die den konstruktiven Akt der Montage hete­ rogener Elemente und den inhaltlichen Synkretismus zu invisibilisieren suchen.“ (Klausnitzer 2008, 304) Im Alltagsverständnis wird Sachprosa Authentizität auch deshalb ungeprüft unterstellt, weil sie Teil einer anderen (im Zweifel unserer eigenen) übergeordneten Argumentation ist. Im Unterschied zum Leseverhalten am Arbeitsplatz, das sich in der Regel auf instrumentelle Informationsentnahme zur Weiterverarbeitung beschränkt, oder der

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Rezeptionssituation in der Schule, deren Ziel testierbares Wissen ist, oder der Wis­ senschaft, die Texte im Sinne des Wissenschaftsfortschritts auf Neuinformation prüft, empfiehlt es sich, bei Lesern von Sachprosa von einer unspezifischen Lesesituation auszugehen. Eine durchschnittliche Lesesozialisation ermöglicht den Lesern, die Fik­ tivität des Romans von der Fiktionalität innerhalb der Sachprosa, und auch innerhalb dieser Textformen, Sachverhalte von fiktiven Sachverhalten zu unterscheiden und zu diskutieren. Die Kopplung von Bildung und Unterhaltung verdankt sich der Leserevolution des 19. Jahrhunderts, die im Wesentlichen von Romanen und Sachbüchern bestimmt wird. Sie ermöglicht die Selbstdisziplinierung und Selbstbildung der Facharbeiter, nach denen die Industrie stets steigenden Bedarf bis weit ins 20.  Jahrhundert hat. Sachbücher sind für das Verständnis, die Diskussion und Durchsetzung neuer Tech­ nologien von Elektronik, über Kernkraft bis zur vierten industriellen Revolution (Digi­ talisierung) von überragender Bedeutung. Nicht zuletzt durch die Digitalisierung ist die Industrie nun aber mehr an Konsumenten als an Facharbeitern interessiert. Unterhaltung und Bildung sind wieder entkoppelt (Schikowski 2015, 103 f.). Sachprosa, Sachtexte und Sachbuch, zumal in ihren unterhaltsamen Formen, erschließen sich zunächst über subjektives Erleben, das in der Regel als angenehm, freudig, belustigend, interessant, aufschlussreich, aber auch faszinierend und erschreckend beschrieben wird, und die derart intrinsisch motivierten Leser sind im Unterschied zu Lesern der Arbeitswelt, der Schule und Wissenschaft jederzeit frei, unliebsame Lektüre auch ohne die Angabe von Gründen abzubrechen. Was sie ver­ mehrt tun. Sachprosa und ihre fiktionalen Mittel werden von Lesern nicht naiv für wirklich genommen (Schikowski 2012, 125). Umgekehrt sind Leser selbstverständlich auch in der Lage, fiktive Prosa ernst zu nehmen, statt sie als ‚nur‘ fiktiv abzutun (Schikowski 2014, 105 ff., Hiergeist 2014, 11 f.). Es kommt darauf an, im Erlebnis der Texte zu oszil­ lieren zwischen Fürwahrhalten und Unglauben. So lässt sich Sachprosa stets auch als Tatsache und Fiktion zugleich, als zeitlich limitierte Tatsachenfiktion (Schikowski 2008, 139) lesen.

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Sachregister A Akrostichon 435 Anapher/Komplexanapher 355, 358, 431, 435, 443 ästhetische Erfahrung 22, 293–298, 300, 417 ästhetischer Mehrwert 297, 305, 306 Autofiktion, autofiktional 220, 555, 556 Autonomie, autonom 20, 22, 29, 31, 98, 100, 111, 133, 209, 215, 216, 223, 231, 232, 258, 319, 353, 410, 423, 502, 521 Autorschaft 218, 220, 221, 224, 226–230, 255, 502 Avantgarde, avantgardistisch 7, 8, 10, 182, 190–192, 194, 196, 197, 199, 230, 281, 463, 466, 534, 551, 553, 556 B Bachtin-Kreis 253–257 Barock 21, 214, 425, 426, 431, 433, 440, 442–445, 455 Belletristik, belletristisch 333, 570, 573 Bezugswelt 115–118 Bildempfänger 162, 167, 170, 172–174, 517, 519 Bilderbuch 559–561, 565 Bildspender 162–164, 167–170, 172–175, 177, 361, 517, 719 C Code 56, 57, 66, 67, 194, 221, 226, 232, 273, 274, 276–278, 313, 340, 451, 454, 459, 466, 467, 478, 532, 540 Code-mixing 540, 542 Code-shifting 540 Code-switching 313, 477, 479, 538, 540 D Dekontextualisierung 123, 313, 318 Desemantisierung 318, 325 Dialogstil 472, 477 Differenzwortschatz 153, 154 digitale Poesie 271, 278, 282 Diskursanalyse 262, 274, 466, 502, 553 Dissimulation 344, 345 E Emotionalisierung, emotionalisiert 70, 75, 354–357

Emotionspotenzial 351–367, 536 Entautomatisierung, entautomatisiert 417, 464, 469, 480, 533, 538, 539, 553 Entkontextualisierung, entkontextualisiert 238–241, 243, 246–250 Erzählinstanz 46, 388, 473, 478, 555, 556 Ethik, ethisch 31, 36, 57, 58, 61, 63, 64, 66, 67, 69, 70, 75, 80–83, 217, 231, 323, 356 Ethos 57, 58, 74, 81, 82, 343, 344 Experiment, experimentieren, experimentell 15, 26, 190–196, 199, 233, 281, 284, 311, 316, 319, 441, 443, 460, 471, 480, 496, 576 F Faktionalität, faktional 374, 382, 383, 385, 387, 388 Fertigteil 298, 299, 304, 305 Fiktionalitätssignal 373–389, 466 fingierte Mündlichkeit 462–483 Fremdwort 440, 504, 535, 576, 577 G Gelegenheitsbildung 313, 319–321, 324 Genieästhetik/Geniediskurs/Geniekonzept 72, 74, 215, 221–224, 266, 499 Genre 10, 41, 115, 183, 250, 255, 256, 261, 281, 283, 285, 286, 335, 415, 446, 451, 453, 537, 563, 570 Gestaltungsaufwand 112, 113, 118 H Habitus 56, 58, 63, 73, 87, 451 Hermeneutik, hermeneutisch 15, 98, 111, 175, 220, 222, 227, 232, 255, 258, 259, 262, 489–491, 493, 495, 498, 501, 509–526 Hyperfiction 278, 282–285 I Identität 48, 56, 59, 65, 67, 72, 83, 172, 175, 209, 229, 279, 323, 347, 388, 476, 510, 536, 541, 544, 545 Idiomatik/idiomatisch 178, 310, 315, 318, 322, 325, 441, 322, 325 Inferenz/Inferenzpotenzial 355, 362–367 innerer Monolog 133–137, 401 Inspirationstopos, Inspirationstopik 206–210, 222, 224

Sachregister 

Interaktiontheorie, interaktionstheoretisch 510, 517 Interaktionswissen 335–339 Intermedialität 276, 279, 285 Interpunktion/Zeichensetzung 182–200, 313, 318, 321, 322, 324, 504 Ironiesignal 333, 340–345, 347 K Kanon, literarischer/kanonisch/kanonisiert 10, 15, 16, 38, 44, 103, 108, 199, 210, 212, 213, 234, 253, 264, 286, 311, 444, 489, 495, 571, 574 Katalog 551–554, 556 Katastrophe, katastrophisch 41–49, 177, 478 Klassizismus, klassizistisch 183, 188, 189, 192, 198, 199, 455, 457 Kleinformen 574, 575 Klischee, klischeehaft 296, 298, 300, 304, 307 Kognition 49, 103, 107, 160, 162, 170, 242, 244–246, 277, 282, 291, 297, 353, 512, 517 Kognitive Linguistik 161, 162, 164, 501, 510, 511 Kohärenz 102, 109, 172, 174, 175, 211, 227, 246, 260, 274, 317, 355, 358, 362, 363, 366, 565 Kollektivsymbolik 505, 576 Kommunikationsmedium 56, 57, 74, 86 Komödie 10, 81, 82, 451–454, 456, 457 Komplexität 20, 23, 38, 48, 50, 184, 192, 198, 233, 234, 258, 261, 263, 280, 341, 560, 563–565 Konstruktivismus/Dekonstruktivismus 16, 102, 105, 115, 227, 258, 278, 282, 296, 277, 490–493, 510 Kontextwissen 339–344 Konzeptualisierung 162–166, 172, 173, 175, 224, 233, 354, 356, 360–362, 510, 525 Körpersprache 451, 458 L Lesepakt 134, 405 M Markennamen 550–552, 556 Mehrsprachigkeit, mehrsprachig 531–533, 535, 536, 538, 543–547 Metafiktion 126–128, 137, 138, 397, 400, 401, 408

 583

Metapher ––absolute 167, 168, 176, 361, 362 ––kühne 167, 442, 519 Metaphorologie 38, 175–178, 512 Modaladverbien 397, 408 Modalität 274, 277, 279, 331, 383, 385, 386, 388, 397 Moderne 18, 20, 21, 24, 26–29, 31–33, 35, 49, 84, 108, 183, 188, 190, 197, 209, 214, 222, 224, 225, 230, 231, 310, 431, 451, 455, 457, 460 Musterwissen 263, 265, 314 N Nachahmung 183, 213–216, 378, 414, 415, 428 Netzliteratur 4, 282–285 P Parallelismus 183, 274, 431, 442, 443 Para-Logik 556, 557 Performanz 83, 155, 156, 233 Personalpronomen 120–137, 310, 393, 396, 403 Perspektivenübernahme 302–304 poetische Funktion 113, 237, 418, 419, 425, 427, 428, 454, 496, 526 poetische Sprache 145, 154, 426, 427, 430, 434, 452, 464, 467, 479, 480, 511 Polyphonie 122, 253, 256, 258, 263, 264, 266, 401, 405–407, 471 Pop-Kultur 550–557 Poststrukturalismus 252, 257, 258 R Redevielfalt 122, 131, 132 Redewiedergabe 132, 196, 253, 265, 267, 401, 403, 561, 562 Regelpoetik 112, 213 Reim 112, 113, 157, 189, 213, 224, 364, 412, 419, 426, 430–435, 453, 455, 496 Remetaphorisierung 164, 165, 178 res-verba-Verhältnis/-Beziehung 295, 296, 299, 300, 305 Rhetorik, rhetorisch 4, 5, 10, 48, 74, 80, 112, 160, 162, 172, 182, 198, 212, 254, 259, 294, 311, 316, 324, 330, 331, 333, 340, 344, 347, 348, 353, 411, 425, 426, 428, 430, 431, 442–444, 451, 453, 455, 456, 493, 498, 501, 509, 511, 517–519, 521, 577

584 

 Sachregister

Rhythmus 157, 189, 192, 408, 417, 418, 426, 430, 432, 433, 450, 470, 476, 538, 540 Romantische Ironie 348 S Schauerliteratur 22–26 Schauspielkunst 450, 458 Schreibweisen 9, 14, 145, 196, 199, 216, 219, 233, 347, 463, 466, 467, 471, 473–475, 480 Schwarze Romantik 22, 25, 30, 34 Selbstbildungsmedien 573 Semantisierung 290–307, 318, 319 Semiotisierung 290–307, 318, 319, 325, 493, 494, 500, 503, 519 Signifikant 142, 143, 151, 153, 188, 413, 464, 469, 491 Signifikat 50, 142, 143, 151, 152, 464, 469, 490 Simulation 164, 277, 344, 345, 347, 348, 451 Sinnbilderschließung 517 Sinnverlust 26, 28 Sprachbegriff 258, 412 Sprachbiographie, sprachbiographisch 544–547 Spracherwerb 421, 533, 535, 543–545, 560, 564–566 Sprachgestalt 464, 467, 468, 470, 471, 473, 474, 478–480 Sprachmittel 183, 304, 306, 368, 427, 428, 496, 462, 513 Sprachrealismus 267, 467–473, 475 Stilisierung 30, 67, 183, 188, 214, 225, 434, 464, 472, 477, 478 Stilistik 107, 109, 426, 427, 489 Stilmittel 112, 162, 193, 426 Stilwechsel 186, 575 Synästhesie, synästhetisch 170, 365, 436, 470, 471 Syntax, syntaktisch 112, 141, 147, 148, 156, 182–199, 266, 274, 275, 299, 312, 318–325, 331, 345, 359, 433, 435, 468, 469, 476, 477, 479, 493, 504, 510, 532, 538, 541, 543, 560, 563, 564 Szenographie 124, 126, 130, 133–137, 280, 393

T Textanalyse, textanalytisch 252, 257, 259, 262, 354, 367, 502, 575 Text-Raum 276, 280, 285, 473, 480 Texttheatralität 465, 468, 474–476 Texttyp 225, 236, 237, 249, 250, 264, 275, 489 Texttypologie 237, 264, 275 Textverstehen 102, 354, 366, 458 Theater 449–462 Theaterreformer 469 Theatertext 462–480 Theory of Mind 301, 302, 568 Tragödie 31–33, 192, 348, 413, 414, 452–455 Translingualität, translingual 533, 538, 539, 545 U Überlieferung 114, 115, 199, 207, 212, 263, 573 Überlieferungstradition 207, 212 Überschreitung 259, 295, 300, 560, 565–567 Übersetzung 534, 539, 547 V Variation, variieren 31, 83, 165, 173, 175, 182, 183, 185, 186, 190, 193, 194, 196, 197, 199, 211, 431, 443, 472, 474, 569 Varietäten 109, 113, 253, 313, 315, 320, 325, 496, 505, 532, 534, 537, 538, 541 Verfremdung, verfremdet 7, 8, 12–14, 221, 265, 311, 323, 325, 330, 362, 440, 441, 450, 457, 464, 472, 477, 478, 534 Vers 145, 171, 177, 186, 191, 411, 412, 417–419, 421, 422, 432, 433, 434, 440, 452–455 W Wertung/Bewertung/Abwertung/Aufwertung 8–11, 16, 20, 23, 28, 33, 40, 101, 107–111, 162, 169, 214, 217, 222, 242, 243, 245, 253, 282, 334, 344, 354, 356–358, 396–401, 419, 426, 438, 469, 480, 574, 576 Wirkungsästhetik 19 Wortsemantik 533–535 Wortzeichen 142, 143, 341