Handbuch Sprache in der Medizin 9783110296174, 9783110295788

New Handbook Series HSW Language in medicine is more than a means of communication – it is a diagnostic and therapeuti

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German Pages 486 Year 2015

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I Historische Konstruktion von Medizinkommunikation
1. „Venter id est hwamba“ – „Sprach“-Geschichte der Medizin aus der Perspektive des Unterrichts
2. Medizinische Textsorten vom Mittelalter bis zum Internet
3. Ärzte und ihre Patienten im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit
II Interaktive Konstruktion von Medizinkommunikation: Ärztliche Gespräche
4. Handlungsstrukturen ärztlicher Gespräche und ihre Beeinflussung durch institutionelle und soziale Rahmenbedingungen
5. Beschwerdenexploration und Diagnosemitteilung im ärztlichen Erstgespräch
6. Dialogische Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient
7. Subjektive Theorien zu Krankheit und Gesundheit
8. Emotionen in medizinischer Kommunikation
9. Closing clinical consultations
10. Pädiatrische Gespräche
11. Verstehenssicherung zwischen Anästhesist und Patient im Aufklärungsgespräch
12. Heilung durch Sprache und Sprechen – Linguistik und Psychotherapie
13. Sprache am Lebensende: Chancen und Risiken ärztlicher Gesprächsführung in der Palliativmedizin
14. Linguistisch-interaktionale Differentialdiagnose in der Anfallsambulanz
15. Asymmetrie und (Patienten-)Expertise in der HIV-Sprechstunde
16. Ärztliche Gespräche mit MigrantInnen
17. Veränderung verbaler Kommunikation bei Alzheimer-Demenz: Zwischen Früherkennung und Ressourcenorientierung
18. Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Ausbildung
19. Leitlinien für das Arzt-Patient-Gespräch – sinnvolle Hilfestellung für den ärztlichen Alltag?
III Mediale Konstruktion von Medizinkommunikation
20. Medizindiskurse: Mediale Räume der Experten-Laien-Kommunikation
21. Fachinterne und fachexterne Textsorten in der Medizin
22. Internetforen: Laiendiskurs Gesundheit
23. Arzneimittelanzeigen als Beispiel für Textsorten unter Berücksichtigung ihres Wissensaspekts
24. Bioethik- und Medizinethikdiskurse als Mediendiskurs
25. Markenkommunikation in Medizin und Gesundheitswesen
Sachregister
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Handbuch Sprache in der Medizin
 9783110296174, 9783110295788

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Handbuch Sprache in der Medizin HSW 11

Handbücher Sprachwissen

Herausgegeben von Ekkehard Felder und Andreas Gardt

Band 11

Handbuch Sprache in der Medizin Herausgegeben von Albert Busch und Thomas Spranz-Fogasy

ISBN 978-3-11-029578-8 e-ISBN [PDF] 978-3-11-029617-4 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-039520-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Typesetting: fidus Publikations-Service GmbH, Nördlingen Printing and binding: CPI books GmbH, Leck ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Vorwort 

I

 IX

Historische Konstruktion von Medizinkommunikation

Wolfgang U. Eckart 1. „Venter id est hwamba“ – „Sprach“-Geschichte der Medizin aus der Perspektive des Unterrichts   3 Eva Martha Eckkrammer 2. Medizinische Textsorten vom Mittelalter bis zum Internet 

 26

Anja Lobenstein-Reichmann 3. Ärzte und ihre Patienten im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit   47

II

Interaktive Konstruktion von Medizin­kommunikation: Ärztliche Gespräche

Florian Menz 4. Handlungsstrukturen ärztlicher Gespräche und ihre Beeinflussung durch institutionelle und soziale Rahmenbedingungen   75 Thomas Spranz-Fogasy/Maria Becker 5. Beschwerdenexploration und Diagnosemitteilung im ärztlichen Erstgespräch   93 Armin Koerfer/Christian Albus 6. Dialogische Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient  Karin Birkner/Ivan Vlassenko 7. Subjektive Theorien zu Krankheit und Gesundheit  Katrin Lindemann Emotionen in medizinischer Kommunikation  8.

 154

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 116

VI 

 Inhaltsverzeichnis

Sarah J. White 9. Closing clinical consultations  Jenny Winterscheid 10. Pädiatrische Gespräche 

 170

 188

Maike Klüber 11. Verstehenssicherung zwischen Anästhesist und Patient im Aufklärungsgespräch   208 Klaus-Peter Konerding 12. Heilung durch Sprache und Sprechen – Linguistik und Psychotherapie   225 Heide Lindtner-Rudolph/Hubert J. Bardenheuer 13. Sprache am Lebensende: Chancen und Risiken ärztlicher Gesprächsführung in der Palliativmedizin   243 Markus Reuber/Katie Ekberg 14. Linguistisch-interaktionale Differentialdiagnose in der Anfallsambulanz   264 Alexandra Groß 15. Asymmetrie und (Patienten-)Expertise in der HIV-Sprechstunde  Kristin Bührig/Bernd Meyer 16. Ärztliche Gespräche mit MigrantInnen 

 282

 300

Britta Wendelstein/Johannes Schröder 17. Veränderung verbaler Kommunikation bei Alzheimer-Demenz: Zwischen Früherkennung und Ressourcenorientierung   317 Marlene Sator/Jana Jünger 18. Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Ausbildung 

 333

Peter Nowak 19. Leitlinien für das Arzt-Patient-Gespräch – sinnvolle Hilfestellung für den ärztlichen Alltag?   348

Inhaltsverzeichnis 

III

 VII

Mediale Konstruktion von Medizinkommunikation

Albert Busch 20. Medizindiskurse: Mediale Räume der Experten-LaienKommunikation   369 Cornelia Weinreich 21. Fachinterne und fachexterne Textsorten in der Medizin  Sonja Kleinke 22. Internetforen: Laiendiskurs Gesundheit 

 389

 405

Katja Guder 23. Arzneimittelanzeigen als Beispiel für Textsorten unter Berücksichtigung ihres Wissensaspekts   423 Constanze Spieß 24. Bioethik- und Medizinethikdiskurse als Mediendiskurs  Uta Buchmann 25. Markenkommunikation in Medizin und Gesundheitswesen  Sachregister 

 473

 438

 459

Vorwort Menschen ohne Medizin? Medizin ohne Sprache? Undenkbar. Von jeher haben sich Menschen mit medizinischen Fragen beschäftigt, medizinisches Wissen geschaffen, versprachlicht und weitergegeben. Dabei haben Sie Routinen für die Verständigung innerhalb medizinischer Fächer und darüber hinaus entwickelt und die jeweiligen medialen Möglichkeiten genutzt, die ihre Zeit ihnen geboten hat. Medizinisches Wissen und medizinisches Handeln sind sprachgebunden, man könnte so weit gehen, zu sagen: „Ohne Sprache keine Medizin“. Dies gilt für die medizingeschichtliche Überlieferung ebenso wie für Terminologiebildung und die fachinterne wie fachexterne Kommunikation. Eine angemessene und interdisziplinär ausgewogene Summa der Vielzahl von Themen, Aspekten, Zusammenhängen und Interdependenzen zu liefern, überfordert jedes Handbuch. Um aber Konturen des Zusammenhangs von Sprache und Medizin sichtbar zu machen, konzentriert sich dieses Handbuch darauf, Schlüsselthemen in den Blick zu nehmen, um einen nähernden Überblick über wichtige Formen medizinischer Kommunikation anzubieten. Schlüsselthemen der Medizinkommunikation darzustellen, das bedeutet zuallererst, die medizinische Primärkommunikation, prototypisch das Arzt-PatientGespräch, in den Blick zu nehmen. Die Beiträge hierzu werden kontextualisiert durch Beiträge zum Medialisierungs-Medikalisierungs-Konnex, zu medizinischen Textsorten und zur medizinischen Sprach- und Wissensgeschichte. Die Sprache der Medizin, dies sei ein weiteres Mal betont, ist ein derart weites Feld, dass ein Handbuch, dass Schlüsselthemen der Medizinkommunikation anbietet, Entscheidungen für exemplarische Themen treffen muss, um den übergreifenden Zusammenhang von Sprache und Wissen herauszupräparieren. Der Leitgedanke dieses Handbuchs ist dabei der der sozialen Konstruktion von Medizin und Medizinkommunikation: historisch – interaktiv – medial. Besonders darüber geben die Beiträge dieses Handbuchs Auskunft und lassen sich jeweils schwerpunktmäßig einer der drei Dimensionen zuordnen: I. Historische Konstruktion von Medizinkommunikation Zur historischen Dimension der medizinischen Kommunikation geben besonders die Beiträge 1, 2 und 3 näheren Aufschluss. Dabei werden neben Terminologie und Terminologiegeschichte auch historische Textsorten und, soweit in schriftlicher Überlieferung auffindbar, historische Aspekte der Arzt-Patient-Kommunikation in den Blick genommen. II. Interaktive Konstruktion von Medizinkommunikation: Ärztliche Gespräche Die mündliche ärztliche Kommunikation mit Patienten stellt buchstäblich das Herz der Medizin und dieses Handbuchs dar (besonders in den Beiträgen 4–19). Die Spanne der Gesprächssorten ist, abhängig von den jeweiligen Handlungszielen, sehr

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 Vorwort

breit. Sie umfasst die prototypischen kommunikativen Handlungsaufgaben ebenso wie ärztliche Kommunikation in unterschiedlichen Konstellationen, seien es Fachbereiche und Krankheitsbilder, spezifische Patientengruppen oder die Gesprächsausbildung. III. Mediale Konstruktion von Medizinkommunikation „Medizin geht immer“, so heißt es in der Themenkonkurrenz von Medienredaktionen. Die massenmediale Medizinkommunikation ist allgegenwärtig und bestimmt in diesem Band die Beiträge 20–26. In unserer medialisierten und medikalisierten Kommunikationsgesellschaft sind wir mit Textsorten der medizinischen Wissenschaftskommunikation konfrontiert wie mit der Kommunikation in Internetforen, werden begleitet von Arzneimittelanzeigen und der wertschöpfenden Markenkommunikation in Medizin und Gesundheitswesen, und wir sind diskursiv eingebunden etwa in biomedizinische und medizin-ethische Diskurse. Die aufgeführte Vielfalt von Themen und Fragestellungen macht Leerstellen und Auslassungen in diesem Handbuch unvermeidlich. In allen Beiträgen werden jedoch auch weiterführende Entwicklungslinien aufgezeigt und dem Leser damit die Möglichkeit gegeben, viele weitere Aspekte des Zusammenhangs von Sprache und Medizin zu verfolgen. Albert Busch und Thomas Spranz-Fogasy

I Historische Konstruktion von Medizinkommunikation

Wolfgang U. Eckart

1. „Venter id est hwamba“ – „Sprach“Geschichte der Medizin aus der Perspektive des Unterrichts Abstract: Die Fachsprache der westlichen Medizin durchlief einen bis heute ungebrochenen dynamischen Entwicklungsprozess, dessen Anfänge ins 6. vorchristliche Jahrhundert zurückreichen. Es handelt sich hierbei um einen sprach- und kulturhistorischen Vorgang, dessen Ursprünge in der griechisch-hippokratischen Medizin liegen. Bis heute ist daher die medizinische Fachsprache von Begriffen insbesondere der klinischen (altgr. κλίνη klinē „Bett, Liege“) Medizin der griechischen Klassik geprägt. Ihre lateinischen Sprachwurzeln weisen auf die medizinische Enzyklopädik des 1. nachchristlichen Jahrhunderts zurück und erfahren in der spätantiken und mittellateinischen Epoche eine starke Anreicherung. Aber auch arabische und he­bräische Einflüsse sowie eine lebendig gebliebene griechische Sprachtradition bilden zusammen mit der ungebrochenen lateinischen Überlieferung das Quellenfundament für die philologisch geprägte Suche humanistischer Ärzte und Botaniker nach den Archetypen der antiken Medizin-Überlieferung. Bereits im Mittelalter beginnt jedoch auch die Herausbildung der nationalsprachlichen Kommunikation in der Medizin. Für die akademische Medizin bleiben allerdings das Lateinische und mit abnehmender Bedeutung auch das Griechische bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die wesentliche Verständigungsgrundlage in Unterricht und Publikationswesen, während es in den Bereichen der Chirurgie, der medizinischen Botanik sowie in der Arzneikunde zu einer frühen Durchsetzung der nationalsprachlichen Kommunikation kommt. In der Neuzeit schließlich bildet sich eine um internationale Normalisierung bemühte Anatomische Nomenklatur als Grundlage der modernen gemischtsprachlichen medizinischen Fachterminologie heraus, in der die klassischen griechischen und lateinischen Grundworte in sehr unterschiedlicher Weise nationalsprachlich angeglichen werden. Seit der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts entwickelt sich das Englische allmählich – zumindest in der Forschung – zu einer neuen Lingua franca der Medizin, ohne dabei freilich auf ihre griechischen und lateinischen Ursprünge ganz zu verzichten. 1 Überblick 2 Die antike medizinische Fachsprache 3 Vom Griechischen zum Lateinischen als Sprache der Medizin. Die westliche Überlieferung 4 Die anatomische Nomenklatur der Neuzeit als Grundlage der modernen gemischtsprachlichen medizinischen Fachsprache 5 Lexikographie 6 Eponyme und Akronyme 7 Literatur

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 Wolfgang U. Eckart

1 Überblick Das komplexe Gebilde der Fachsprache der westlichen Medizin ist in einem Zeitraum von mehr als 2.500 Jahren entstanden; es fußt in seinen bis heute onomasiologisch anerkannten anatomischen, physiologischen und medizintheoretischen Lexemen wesentlich auf dem Griechischen und Lateinischen. Der ursprünglich ausschließlich der griechischen Gemeinsprache entlehnte oder durch Wortneubildungen ergänzte fachsprachliche Grundbestand wurde etwa seit dem 1. Jh. n. Chr. durch lateinische Übersetzungen oder Neubildungen ergänzt. Während in den oströmischen Provinzen des Kaiserreichs und des byzantinischen Imperiums Griechisch bis in die Mitte des 15. Jh.s Grundlage der medizinischen Fachsprache blieb, gewann das Lateinische (zunächst als Hochlatein, in der Spätantike dann als sprachlich reduziertes Umgangslatein) zunehmend an Bedeutung. Etwa seit dem 6. Jh. wurden neben Griechisch und Latein in Südosteuropa, Vorderasien und Nordafrika indogermanische und semitische Sprachen als gemeinsprachliche Grundlagen der medizinischen Fachsprache genutzt, vor allem das Persische (nachfolgend Turksprachen bis hin zum Türkischen) sowie das Hebräische und Arabische. Für die Ausbreitung des antiken medizinischen Wissens im afroasiatischen Bereich wurde aber besonders das klassische Hocharabisch, die Sprache des Korans, bedeutungsvoll. Sie – und mit ihr das medizinische Wissen  – verbreitete sich seit dem 7. Jh. bis zur Mitte des 8. Jh.s als offizielle Verwaltungssprache vom Zentrum der arabischen Halbinsel im Zuge der islamischen Eroberungen über den ganzen vorderen Orient und Nordafrika bis nach Spanien und Südwestfrankreich, wobei auch in den nur kurzzeitig eroberten (Sizilien) oder seit dem 8. Jh. unter permanentem sarazenischen Druck stehenden Regionen des Mittelmeerraumes der kulturelle Einfluss des Arabischen kaum überbewertet werden kann. In den christlich-islamischen Übergangsbereichen der arabischen Sprachkultur entstanden dann bedeutende Übersetzungs- und Unterrichtszentren – in Spanien (Toledo, Cordoba, Sevilla, Granada), ebenso in Italien (Salerno)  –, in denen arabische Texte ins Lateinische übertragen wurden. Dem übersetzungsbedingten Kulturtransfer aus dem islamischen Raum in den lateinischen Westen ging allerdings ein nicht gering zu schätzender spätantik-frühmittelalterlicher Übersetzungstransfer aus Byzanz voraus. Religiöses Schrifttum aller Art wurde aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen. Philosophische und medizinische Schriften begleiteten diesen Transfer. Es ist nicht überraschend, dass sich in die lateinische medizinische Fachsprache während des Mittelalters eine kleine Gruppe arabischer Fachbegriffe oder verballhornte Übersetzungen aus dem Arabischen oder aus dem Hebräischen ins Mittellateinische mischten. Beispiele hierfür sind etwa Nucha (ae, f., Nacken), das direkt vom Arabischen (nukhā`, hier: Rückenmark) übernommen wurde, oder die dura mater (harte Hirnhaut) vom arabischen umm al-dimāgh aṣ-ṣafīqah, die kräftige Matrix des Gehirns (vgl. Hyrtl 1879, 108–9). Von größter Bedeutung sowohl für die Tradierung naturkundlicher und medizinischer Texte der Antike als auch für die Frühgeschichte der medizinischen Fachspra-



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che im Deutschen ist der klösterliche Raum. In ihm und seinem Umfeld entstehen die ersten alt-, mittel- und frühneuhochdeutschen medizinischen Traktate als Übersetzungen oder mit mehr oder weniger eigenständigem Charakter. Manche der oft in zahlreichen Abschriften verfügbaren Manuskripte bilden die Grundlage für erste Wiegendrucke (Inkunabeln) in deutscher Sprache. Im Humanismus schließlich entstanden insbesondere in der Botanik, Zoologie und Chirurgie umfangreiche deutschsprachige Textkorpora, die die Grundlage für die Verbreitung der frühneuhochdeutschen medizinischen Fachsprache bildeten und lange vor der Etablierung des Deutschen als Unterrichts- und Publikationssprache der Medizin an den Universitäten (beginnend um 1800) zur Etablierung des Deutschen als Literatur- und Verkehrssprache in der Medizin beitrugen. Der Übergang vom ausschließlich Lateinischen in der akademischen Fachsprache der Medizin in die Nationalsprachen, die nur noch sprachintegrierend lateinische oder griechische Fachausdrücke als termini technici übernehmen, vollzieht sich fließend im 19. Jahrhundert. Dennoch verläuft er in den Nationalsprachen durchaus unterschiedlich (vgl. Wulff 2004, 188). Während in den germanischen Nationalsprachen, also im Deutschen, im Niederländischen oder in den skandinavischen Sprachen die lateinischen Fachausdrücke als Einzelwörter oder Wortgruppen direkt und mit korrekten Endungen aus dem Lateinischen übernommen werden, erfolgt in den romanischen Sprachen häufig eine den grammatikalischen Normen angepasste Inkorporation oder Naturalisierung der ursprünglich lateinischen termini technici. So werden etwa im Französischen aus dem lateinischen nervus musculocutaneus oder dem ulcus ventriculi ein nerf musculo-cutané und ein ulcère gastrique, im Italienischen ein nervo musculocutaneo oder ulcera gastrica. In den slawischen Sprachen hingegen wird häufig in die jeweilige Nationalsprache übersetzt, sodass im Russischen aus dem Hautmuskelnerven ein kožno-myšečnyj nerv wird, während im Griechischen – wo immer möglich – nur griechische Wörter Verwendung finden, selbst wenn man dazu auf Textgrundlagen vor Aulus Cornelius Celsus, dem bedeutenden römischen Enzyklopädisten, zurückgreifen muss. So wird der Hautmuskelnerv dort zum to myodermatiko neuro. Naturalisierungen kommen allerdings auch gelegentlich im Deutschen oder Englischen vor wie etwa bei den coronary arteries (engl.) bzw. den Koronararterien. Übersetzungen in die jeweilige Nationalsprache sind durchaus nicht ungewöhnlich im Kontext einer medizinischen Fachsprache, die sich wie im Arztbrief nicht unmittelbar an den Patienten wendet, so etwa beim Magengeschwür (Ulcus ventriculi), beim Hirnschlag (Apoplex), beim Nierensteinleiden (Nephrolithiasis) oder bei fast allen Krebsarten. Notwendige Neologismen bedienen sich häufig des griechischen Wortschatzes, zum Beispiel bei den Komposita Nephrektomie (operative Nierenentfernung) oder Ophthalmoskopie (Augenspiegelung); hier kommen auch griechisch-lateinische Hybridformen vor, wie etwa bei der Hypertension (Bluthochdruck).

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 Wolfgang U. Eckart

2 Die antike medizinische Fachsprache Die wissenschaftliche Medizin des Westens erlangt ihre Sprachlichkeit etwa im 5./4. Jh. vor unserer Zeitrechnung, wobei die historische Figur des Hippokrates (ca. 460–ca. 375/351 v. Chr.) allgemein als ihr Begründer bzw. als einer der ersten ärztlichen Lehrer gilt, die eine schriftliche Dokumentation ärztlichen Heilhandelns verlangt haben sollen. Worauf eine solche Annahme gegründet werden darf, hierauf hat zu Recht Renate Wittern hingewiesen (vgl. Wittern 2005, 414–415), bleibt indessen so ungeklärt wie die Frage nach der bis heute ungesicherten Authentizität vieler der unter dem Namen des Hippokrates überlieferten Werke selbst. Ihre Entstehungszeit erstreckt sich vom 4. Jh. vor bis etwa ins 1. Jh. nach Christi Geburt. Es darf wohl vermutet werden, dass die Ursprünge der Medizinischen Terminologie in den frühen anatomischen Nomenklaturen des 5. und zu Beginn des 4. vorchristlichen Jh.s zu suchen sind. Ansätze einer medizinischen Fachsprache zeigen sich allerdings auch bereits in der schriftlichen Überlieferung der ägyptischen Medizin, die bis in die griechisch-römische Zeit hineinreicht (vgl. Leven 2005, 11 f.), offensichtlich aber in den Texten der griechischen und römischen Autoren nur wenige Spuren hinterlassen hat. Immerhin gibt es zu den Befunden einige neuere Arbeiten. Vermutet wird, dass sich manches der ägyptischen Medizin in koptischen Lehren ebenso erhalten haben könnte wie in griechischen Überlieferungen, die in ptolemäisch-römischer Zeit gelegentlich zum Vehikel traditioneller ägyptischer Vorstellungen wurden (Quack 2003, 3 ff.). Die griechische medizinische Terminologie des 5./4. Jh.s vor Chr. dürfte sich noch unwesentlich von der Sprache des Laien unterschieden haben. In der klassischen Antike ist, so legt es zumindest das Fehlen entsprechender Überlieferungen nahe, eine systematische Anatomie (von gr. ἀνατέμνειν, anatém­ nein, aufschneiden) nicht betrieben worden. Anatomische Kenntnisse orientierten sich an zufälligen Beobachtungen, die an Kranken, Verletzten oder beim Schlachten von Tieren gewonnen wurden. Systematische anatomische Werke sind erst für Diokles von Karystos (3. Jh. v. Chr.) sowie für Herophilos (ca. 330–ca. 255 v. Chr.) und Erasistratos (ca. 305–ca. 250 v. Chr.) – beide in Alexandria – nachgewiesen. Keines dieser Werke, die in der Antike erwähnt und vergleichbar denen des Herophilos und des Erasistratos hoch gelobt wurden, ist außer in Fragmenten erhalten. Ein geschlossenes anatomisches Werk, das wiederum überwiegend auf Erkenntnissen der Tiersektion oder zufälliger Humanbeobachtungen aufbaut, liegt erst für den griechischen Arzt und Anatomen Galēnos von Pergamon (129–ca. 210 n. Chr.) [weiterhin Galēn] vor. Belegt durch das bis in die Frühe Neuzeit kanonische Werk Galēns, war die anatomisch-medizinische Terminologie „dem Erkenntnisfortschritt entsprechend weit entwickelt“ (Leven 2005, 847); von einer einheitlichen Fachsprache kann aber auch hier noch nicht die Rede sein. Galēn selbst war zwar bereit, neue Namen für medizinische Sachverhalte zu bilden (gr. ὀνοματοποιεῖν, onomatopoiein, einen Namen prägen), hielt allerdings die Beschäftigung mit terminologischen Problemen für müßig, solange klar sei, wovon geredet werde (Leven, ebd.). Wenngleich also auch bei Galēn



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von einer Vereinheitlichung der anatomisch-medizinischen Fachsprache noch nicht die Rede sein kann, so hat doch das Gesamtkorpus des medizinischen Wortschatzes im weitesten Sinne durch den in der Latein und Griechisch lesenden und sprechenden Metropole des Römischen Kaiserreichs ausschließlich griechisch schreibenden Arzt und Forscher Galēn zweifellos eine Kanonisierung erfahren, die bis in die Frühe Neuzeit hineinreichen sollte (Eckart 2013; Eckart/Gradmann 2006).

3 Vom Griechischen zum Lateinischen als Sprache der Medizin 3.1 Die westliche Überlieferung Der Übergang ins Lateinische vollzog sich auch im Wissensbereich der Medizin durch die Übernahme klassischer griechischer Wissensbestände in die lateinische römische Enzyklopädik. Hier ist herausragend der Enzyklopädist Celsus (1. Jh. n. Chr.) zu nennen, über dessen Leben so gut wie nichts bekannt ist. Auch ärztlich hat er sich nicht betätigt, gleichwohl enthält seine Enzyklopädie den umfassendsten Überblick zur Medizin als Disziplin und zu ihrer Geschichte. Celsus’ Enzyklopädie war breit angelegt, und aus den Berichten anderer antiker Autoren ist bekannt, dass sie neben fünf Büchern über Landwirtschaft Abhandlungen über das Kriegswesen, die Philosophie, die Rhetorik sowie über die Rechtslehre der Zeit enthielt. Während von diesen Büchern keines erhalten ist, stellt De Medicina mit acht überlieferten Büchern den wohl umfangreichsten Teil der Enzyklopädie insgesamt. Zwar hat Celsus darin noch eine Vielzahl griechischer medizinischer Fachausdrücke beibehalten, das meiste allerdings bereits ins Lateinische übersetzt oder in eine latinisierte Form überführt. Sein Latein ist klassisch und in vielen Passagen stilistisch durchaus elegant (Celsus galt als „Cicero medicorum“), dennoch hat er auch Ausdrücke aus dem Vulgär-Latein übernommen, vermutlich in Ermangelung fachsprachlicher Bezeichnungen. Die sprachliche Höhe des Werkes insgesamt hat zu seiner breiten Rezeption vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit beigetragen. Auf der Grundlage vieler früh- und hochmittelalterlicher Handschriften erfolgte 1478 in Florenz eine erste Drucklegung, die ihrerseits wieder den Ausgangspunkt für eine breite lateinische Rezeption in der frühen Neuzeit lieferte. Neben Celsus hat Plinius der Ältere (23–79  n. Chr.) die lateinische Enzyklopädik mit seinen Beiträgen über Naturkunde sowie über die Anthropologie (Anatomisches und Physiologisches) bereichert und die lateinische Fachsprachlichkeit der Medizin mit geprägt. Besonders populär war bis ins Mittelalter der wohl im 4. Jh. entstandene und als Medicina Plinii verbreitete Auszug aus seinem Werk (lib. xxxvii), der leicht zu beschaffende Laienrezepte (Eupórista), aber auch derbe Polemik gegen die Habgier der Ärzte enthielt. Zur „Latinisierung“ der Medizin dürfte Plinius

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bereits zu Lebzeiten zudem durch seine kritisch-ablehnende Haltung gegenüber der griechischen Medizin (eine „Verschwörung gegen Leben und Gesundheit der Römer“) beigetragen haben (Leven 2005, 714 f.). Von erheblicher Bedeutung für die westliche Tradierung des medizinischen Wissens und ihrer lateinischen Fachsprache aus dem spätantiken Wissensbestand des Frühen Mittelalters war schließlich der gelehrte Erzbischof Isidor von Sevilla (ca. 570–636) mit seiner enzyklopädischen Etymologia (Originum seu etymologiarum libri XX). Das vierte Buch der Etymologie widmet sich der Medizin und ihrer Geschichte von den Anfängen, ist aber vor allem durch seine Christianisierung in Physiologie, Krankheitslehre und Heilkunde gekennzeichnet. Isidors Schriften liefern die Grundlage nicht nur für die weite Verbreitung des Mittellateins als Wissenschaftssprache über ganz Europa, sondern auch für frühe Bemühungen, lateinisch-althochdeutsche Glossare zu den antiken Wissensbeständen zu erstellen. Typisch hierfür ist Walahfrid Strabo mit seinem breit rezipierten Text De homine et partibus eius, der – vielleicht auf der Grundlage des mündlichen Unterrichts seines Lehrers Hrabanus Maurus – Buch XI der Etymologia des Isidor exzerpiert, dabei aber auch neu ordnet und strafft (vgl. Moulin/Klaes 2009, 570 ff.). Hrabanus selbst hatte in enger Anlehnung an Isidors Origines eine umfassende, aus 22 Büchern bestehende Enzyklopädie Physicas de universo niedergeschrieben, die klar und übersichtlich in den Büchern 6 und 7 vom Menschen und seinen Teilen handelt. Von sprachwissenschaftlicher Bedeutung ist ein im 6. Band enthaltenes Verzeichnis der wichtigsten Körperteile des Menschen, eine frühe lateinisch-althochdeutsche Wortkunde, die vielleicht den Novizen der Klöster für das Verständnis der lateinischen Texte nützlich sein sollte. Beispiele hieraus sind die gelegentlich sogar in kurzen Erklärsätzen präsentierten lateinisch-deutschen Wortpaare: „Vertex Scheitila [Scheitel]“  – „Pupilla seha [Pupille]“  – „Supercilia id est uvindbrauna [Augenbraue]“  – „Dentes ceni [Zähne]“– „Costae ribbi [Rippen]“  – „Polmon lungun [Lunge]“  – „Jecor lebera [Leber]“  – „Splen id est miltzi [Milz]“  – „Fel id est galla [Galle]“  – „Stomachus id est mago [Magen]“ – „Intestina id est tharma [Eingeweide, Darm]“ – „Venter id est hwamba [Bauch, Wampe]“ – „Vesica blatra [Blase]“ – „Renes lendibraton [Nieren]“ – „Lumbi lendin [Lenden]“ – „Umbilicus nabulo [Nabel]“ – „Surae Wadon [Waden]“ – „Pes phuoz [Fuß]“ (Neuburger 1911, 269–270; zu den ahd. Wörtern Schilter 1728, Riecke, Bd. 2, 2004). Parallel dazu wurde das literarische Erbe der lateinischen Antike auf der italienischen Halbinsel, wenngleich in stark reduzierter Auswahl, auch durch eine kleine Elite gebildeter Wohlhabender bewahrt. Zu dieser Gruppe gehörte der aus einer senatorischen Familie stammende Cassiodor (ca. 485–ca. 580), der im 6. Jh. die für ihn noch erreichbaren Reste antiker Literatur sammelte und im kalabrischen Vivarium die Quellenvoraussetzungen für die klösterliche Buchproduktion des Mittelalters schuf.



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3.2 Die byzantinische Überlieferung Anders als im westlichen Teil des Römischen Reiches, wo das Lateinische nicht nur als erste Amtssprache bestehen blieb, sondern sich in der Spätantike, insbesondere nach der Reichsteilung, auch mehr und mehr zur – freilich vulgarisierenden – Wissenschaftssprache entwickelte bzw. als solche weiterlebte, hatte sich bereits vor der Reichsteilung im Osten des Imperiums das Griechische als wichtigste Verkehrs- und Literatursprache sowie als zweite Amtssprache behauptet. Die Erhebung von Byzanz zum zweiten, zum christlichen Rom und seine Umbenennung in Konstantinopel durch Konstantin I. (280–337) im Jahre 330 markierte endgültig den Zerfall des alten Römischen Weltreichs in einen westlichen und einen östlichen Teil. Dieser Niedergang und die mit ihm verbundene Trennung in zwei römische Herrschafts- und Kulturbereiche wurde durch die Reichsteilung unter Theodosius I. (346–395) im Jahre 395 besiegelt. Bald festigte sich das neue östliche Reich der Rhomäer, wie die Byzantiner ihren Herrschaftsbereich selbst nannten. Die seit dem Hellenismus „bereinigte“ Form des Altgriechischen blieb auch nach 395 die Literatursprache des spätantiken Oströmischen Reiches. Nach dem Verlust der lateinischsprachigen Balkangebiete wurde um 630 auch die lateinische Parallel-Amtssprache aufgegeben. Für die sprachliche Überlieferung der Künste, mithin auch für die medizinischen Wissens- und Handlungsgebiete, bedeutete dies ein Fortdauern der griechischen Tradition, die bis zum Fall Konstantinopels in der Mitte des 15. Jh.s anhalten sollte. Die Bewahrung der antiken Medizin in der byzantinischen Welt ist damit eine wesentliche Grundlage ihrer Rezeption im arabischen Mittelalter und ebenso für die textkritische Auseinandersetzung mit den antiken Quellen und ihrem Traditionsschicksal im europäischen Humanismus von großer Bedeutung. Die Kompilation der antiken Quellen und die vorsichtige Einbeziehung eigener klinischer Erfahrung charakterisieren die byzantinische Medizin. Aber auch Erfahrungszugewinn – etwa in der Chirurgie – ist zu registrieren. Zudem entstanden ärztliche Ausbildungs- und medizinische Übersetzungszentren im vorderasiatischen Raum. Von Byzanz nahm der Weg des antiken Heilwissens in die mittelalterliche und frühneuzeitliche Welt Europas seinen Ausgang (Eckart 2013; Eckart/ Gradmann 2006).

3.3 Die arabisch-islamische Überlieferung Die Rezeption der antiken Medizin in der arabisch-islamischen Welt wurde  – zu einem bedeutenden Teil – erst durch innenpolitische Spannungen im Byzantinischen Reich möglich. Von dort wanderten ab Mitte des 5. Jh.s die Nestorianer  – Anhänger des wegen eines Dogmenstreites 436 verbannten Bischofs von Konstantinopel Nestorius – nach Syrien (Edessa) und Persien aus. Hier gründeten einige von ihnen medizinische Ausbildungszentren (Gondishapur, Nisibis) und Xenodochien (Fremdenherbergen) nach byzantinischem Muster. Vor allem aber übersetzten sie ihre aus

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der Heimat mitgebrachten medizinischen Texte aus dem Griechischen vorwiegend ins Syrische. So wurden die entscheidenden Voraussetzungen für die Rezeption der antiken Medizin im arabischen Raum geschaffen, die im Verlauf der großen arabischislamischen Expansionswelle des 7. Jh.s einsetzte. Parallel zu den nestorianischen Übersetzungszentren entstanden in dieser Zeit ähnliche Zentren in Damaskus, Kairo, Antiochia, Basra und – besonders gefördert durch den Kalifen al-Ma'mûn (813–833) – in Bagdad. Als berühmtester Übersetzer arbeitete dort der christliche Hunain ibn Ishāq (809–873), der sich vor allem um die Übertragung der Werke Galēns bemühte (Eckart 2013; Eckart/Gradmann 2006).

3.4 Die klösterliche Überlieferung Die Anfänge der klösterlichen Überlieferung medizinischen Wissens und seiner lateinischen Fachsprache entstanden in Monte Cassino, der Keimzelle des Benediktinerordens. Dort wurden neben anderen antiken Manuskripten auch einige Schriften des Hippokrates und des Galēn, das Kräuterbuch des Dioskurides (1. Jh. n. Chr.) und das Buch des Caelius Aurelianus (um 400 n. Chr.) Über die chronischen und akuten Krankheiten ins Lateinische übersetzt, studiert und vervielfältigt. Besonderes Augenmerk richtete man dabei auf die medizinisch-praktischen Erfordernisse des Klosterlebens, insbesondere die Heilkräuterkunde und die Anlage von Herbarien. Monte Cassino stand hierin nicht allein. In Sevilla war es Bischof Isidor (560–636) mit seinem Werk De natura rerum, vor allem aber mit der umfassenden Etymologia (Bücher 4 und 11 für Medizin und Anthropologie). In Deutschland befasste sich der Abt des Klosters Fulda, Hrabanus Maurus (780–856), mit den antiken naturkundlichen und medizinischen Texten. Sein enzyklopädisches Werk De rerum naturis erfuhr eine reiche handschriftliche Überlieferung vom 9. bis ins 15. Jahrhundert. In Reichenau fasste der Abt Walafried Strabo (808–849) in seinem Liber de cultura hortuorum (um 840, „Das Buch über die Gartenpflege“, auch bekannt als Hortulus), der wohl bedeutendsten botanischen Abhandlung des Mittelalters, die Kräuterlehren des Dioskurides und des Plinius zusammen; im englischen Kloster Wearmouth schrieb Beda Venerabilis (672/73–735) nicht nur über Aristoteles, sondern auch über Seuchen und Wunderkuren. Beda ist es wie keinem anderen seiner Zeit gelungen, aus seiner umfangreichen, direkten Kenntnis der kirchlichen und heidnischen Schriften ein Gesamtwerk zu schaffen, das dem christlichen Bildungsideal des 8. Jh.s voll und ganz entsprach. Von den naturbezogenen Schriften Bedas ist vor allem sein kosmologischer Traktat De natura rerum zu nennen. Daneben entstand jedoch im Umfeld der Klöster auch ein eigenständiges mittelhochdeutsches Textkorpus, das zunächst in Handschriften seit dem letzten Drittel des 15. Jh.s, aber auch bereits in einer Reihe von Frühdrucken Verbreitung fand und den Grundstock einer deutschen medizinischen Fachsprache bildete. Hier müssen in erster Linie die folgenden Texte genannt werden: Das Arznȋenbuoch Ipocratis (12. Jh.),



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das Innsbrucker Arzneibuch (12. Jh.), die im Bartholomäus zusammengefassten Arzneibücher des 13. Jh.s, Hildegard von Bingens (1098–1179) Physica, eine Abhandlung über die einfachen Arzneimittel (Liber simplicis medicinae) mit deutschem Vokabular oder  – herausragend  – Konrad von Megenbergs (1309–1374) Buch der Natur (Buch von den natürlichen Dingen) mit mehr als 100 Handschriften des 14. Jh.s (vgl. Riecke 2004, 493 ff.; Schnell 2001). Das ausgehende Mittelalter schließlich wird  – trotz früher Pionierarbeiten – durch eine große und immer noch nicht gänzlich bearbeitete Zahl deutschsprachiger medizinischer Inkunabeln geprägt. Hier sind in erster Linie die ärztlichen und naturkundlichen Volksbücher zu nennen, Drucke zur Diätetik und Körperpflege, Pest- und Syphilisschriften in großer Zahl, aber auch Aderlasskalender und entsprechende Einblattdrucke (Sudhoff 1908; Schlechter/Ries 2009).

3.5 Renaissance und Humanismus Im Humanismus schließlich stand nach dem Fall Konstantinopels und der Zusammenführung der östlich-griechischen mit der westlich-lateinischen sowie der arabischen Textüberlieferung auch in der Medizin die Sicherung des antiken Erbes durch textkritische philologische Arbeit im Vordergrund. Ihre Vertreter bemühten sich vor allem um die Stemmata (gr.: στέμμα = „Binde“) der überlieferten Texte und verfolgten als oberstes Ziel deren Archetypisierung. Daneben entstanden jedoch insbesondere in der Botanik und Tierkunde, aber auch in der Wundarzneikunde, im Verlauf des 16. Jh.s umfangreiche deutschsprachige Textkorpora. Lange vor dem Fall Konstantinopels (1453) waren bereits griechische Manuskripte in großer Zahl nach Westeuropa gelangt (vgl. Rotzoll 2014, 604 ff.), die im 14. Jh. etwa in Padua durch Petro d’Abano (1250/57–1316) oder am Neapolitaner Hof durch Niccolò da Reggio (1308–1345) übersetzt wurden. Zu cultural brokers der italienischen Renaissance sollten jedoch auch für die Medizin polyglotte Gelehrte wie die byzantinischen Humanisten Basilius Bessarion (1403–1473) oder Johannes Argyropulos (1415–1487) und, nach dem Fall des kleinen Restbyzanz auf dem Stadt-Territorium Konstantinopels, Humanisten wie Giorgio Valla (1447–1499), Nicolò Leoniceno (1428–1524), Ermolao Barbaro (1454–1493) oder Lorenzo Lorenzi (Laurentius Laurentianus, gest. 1515) werden. In Deutschland legte Andreas Vesal (1514–1564) seine in ciceronischem Latein verfassten De humani corporis fabrica libri septem (1543) vor und kanonisierte damit nicht nur einen sprachlich und sachlich radikal korrigierten Galēn für die Frühe Neuzeit, sondern wurde zugleich zur philologischen Leitfigur des humanistischen Latein, das allerdings in der Folgezeit kaum Beachtung fand. Für die deutsche medizinische Fachsprache wurden insbesondere die großen Wundarzneien und Kräuterbücher des 16. Jh.s bedeutsam. Beispielhaft stehen hierfür Hieronymus Brunschwig (ca. 1430–1512) mit seinem Buch der Cirurgia (1497) (Dis ist das buch der Cirurgia  – Hantwirckung der Wundartzny von Hyerõnimo Brũnschwig)

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und Hans von Gersdorff (um 1450/60–1529) mit seinem Feldtbuch der Wundartzney (1515/17). Unter den Kräuterbüchern ist dies, aufgrund seiner anschaulichen und exakten Illustrierung, das richtungsweisende Werk Contrafayt Kreüterbüch nach rechter vollkommener Art, und Beschreibungen der Alten, besstberümpten Ärtzt, vormals in teütscher Sprach, der masßen nye gesehen (1532–37) des Arztes Otho Brunfels (1488–1534), ein Pflanzenatlas mit mehr als 300 naturgetreuen Holzschnitten, dem 1530 eine lateinische Ausgabe (Herbarum vivae eicones) vorausgegangen war. Ihm folgten schon wenig später das New Kreütterbuch von underschydt, würckung und namen der kreütter so in teutschen landen wachsen / auch der selbigen eygentlichem vnd wolgegründtem gebrauch in der Artznei (1539) des Straßburgers Hieronymus Bock (1498–1554) und das New Kreüterbuch (1543) des Tübinger Humanisten Leonhard Fuchs (1501–1566), dem 1542 ebenfalls eine lateinische Version (De historia stirpium commentarii) vorausgegangen war (Eckart 2013; Eckart/Gradmann 2006). Der zeitgenössische Konkurrenzkampf in der Herausgabe deutschsprachiger Kräuterbücher, bei denen es sich weniger um Botaniken als vielmehr um voluminöse Handbücher des pflanzlichen Arzneischatzes handelte, folgte zweifellos einem gesteigerten Interesse an der Verfügbarkeit solchen Wissens eben auch in deutschsprachigen Texten. Es handelte sich daher um einen Konkurrenzkampf des Buchmarktes, der nicht nur um des Gegenstandes, sondern auch um der Sprache willen geführt wurde. Gelegentlich kam es jedoch vor, dass mit einem griechischen Initialwort im Titel eines deutschsprachigen Werkes dessen inhaltliche Gelehrsamkeit sprachlich unterstrichen werden sollte; so etwa bei der Ophthalmodouleia – Das ist, Augendienst, Newer und wolgegründter Bericht von ursachen und erkenntnüs aller Gebrechen, Schäden und Mängel der Augen und des Gesichts (1583) des sächsischen Arztes Georg Bartisch (1535–1607). Ähnlich wie in der Chirurgie oder im Bereich der Kräuterbuchliteratur sind es auf dem Gebiet der Pharmazeutik die zahlreichen Arzneibücher in deutscher Sprache, die ganz wesentlich zur Herausbildung einer deutschen medizinischen Fachsprache beigetragen haben. Unter den zahlreichen deutschsprachigen Arzneibüchern des 16. Jh.s kann hier exemplarisch nur auf Christoph Wirsungs voluminöses Artzney Buch (1568) verwiesen werden (Friedrich/Müller-Jahncke 2005, 42 f.).

4 Die anatomische Nomenklatur der Neuzeit als Grundlage der modernen gemischtsprachlichen medizinischen Fachsprache Nachdem sich um 1800 das begriffliche Wirrwarr der anatomischen Bezeichnungen so weit entfaltet hatte, dass von einer einheitlichen Sprache der Anatomie als Grundlage einheitlicher Forschungsbestrebungen und der ärztlichen Kommunikation kaum



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mehr geredet werden konnte, bemühte sich der Wittenberger Anatom Christian Heinrich Theodor Schreger (1768–1833) gar um eine eigene anatomische Synonymik (Schreger 1805), allerdings ohne großen Erfolg. Nachträglich renovieren ließ sich die im Laufe der Jahrhunderte aus den Fugen geratene anatomische Grundlage der lateinischen medizinischen Fachsprache nicht mehr. Einen letzten Versuch, den Bestand der anatomischen Bezeichnungen nicht nur zu sichten, sondern auch semasiologisch zu sichern, etymologisch herzuleiten und Wort für Wort auf seine Funktionalität hin zu überprüfen, unternahm der Wiener Anatom Joseph Hyrtl (1811–1894) im Jahre 1880 mit der Veröffentlichung seiner als Alterswerk entstandenen Onomatologia Anatomica (Hyrtl 1880). Hyrtl beabsichtigte allerdings mit seinem „historisch-linguistischen Quellenwerk zum anatomischen Wortvorrat“ (Weimann 1970, 3) nicht nur eine Kritik der ihm vorliegenden anatomischen Sprache, sondern mit besonderem Augenmerk auf die medizinisch-praktische Anwendung zugleich eine Handreichung zur „praktischen Erfordernis einer zukünftigen Verbesserung der anatomischen Literatur“ (ebd.). Hyrtl lag dabei keineswegs nur die lateinische oder griechische Terminologie am Herzen, sondern ihm waren auch sinnfällige Übersetzungen der termini technici ins Deutsche wichtig. Man könne, so Hyrtl im Vorwort seines Werkes, „die von den griechischen und römischen Aerzten ererbten anatomischen Ausdrücke, welche auf physiologischen Vorstellungen unserer Vorfahren beruhen […] aus Pietät gegen das Alterthum noch ferner dulden […]. Aber [man könne] nicht gleichgiltig zusehen, wenn die jüngere Generation […] sich darin gefällt, für unbedeutende anatomische Wahrnehmungen, lange griechische Worte zu schmieden […]. Ist denn unsere Muttersprache, welche in der Wahl der anatomischen Benennungen immer das Richtigste zu treffen wusste, nicht reich und bildbar genug, um allen anatomischen Beobachtungen zu bezeichnenden Namen zu verhelfen […]?“ (Hyrtl 1880, IV f.)

Selber die anatomische Sprache „reformiren zu wollen“, sei ihm aber nicht in den Sinn gekommen: „Dazu gehört ein ad hoc gewählter Ausschuss sprachkundiger Anatomen, mit philologischer Assistenz, – eine Academia della crusca anatomica“ (ebd.). Ganz dezidiert hat sich Hyrtl dann vier Jahre nach Erscheinen seiner Onomatologia noch den älteren deutschsprachigen anatomischen „Kunstworten“ (vgl. Riecke 2013, 304 ff.) gewidmet und damit die bis heute wohl vollständigste Sammlung mittelalterlicher und frühneuhochdeutscher anatomischer Bezeichnungen vorgelegt (Hyrtl 1884). Hyrtls Wunsch nach einer umfassenden Reform der auf lateinischem Fundament errichteten anatomischen Fachsprache sollte tatsächlich in Erfüllung gehen, wenngleich erst ein Jahr nach seinem Tod. Grundlegend für die moderne Anatomische Nomenklatur wurden die großen anatomischen Nomenklaturkonferenzen der Jahre 1895 (Basel), 1935 (Jena) und 1955 (Paris). An der Erstellung der ersten internationalen Anatomischen Nomenklatur, die auf der 9. Tagung der Anatomischen Gesellschaft 1895 in Basel präsentiert wurde, hatten sich namhafte Anatomen des deutschsprachigen Raumes  – Albert von Kölliker (1817–1905), Oskar Hertwig (1849–1922), Wilhelm His (1831–1904), Julius Kollmann (1834–1918), Johann Friedrich Merkel (1845–1919), Gustav Albert Schwalbe

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(1844–1916), Carl Toldt (1840–1920) und Wilhelm von Waldeyer (1836–1921), Karl von Bardeleben (1849–1918) und Wilhelm Krause (1833–1910) – beteiligt. Die in der Baseler Anatomische[n] Nomenklatur (BNA) festgelegten anatomischen Namen und Schreibweisen setzten sich zunächst im deutschsprachigen und zögerlich im europäischen Raum durch. Immerhin war mit dieser ersten Anatomischen Nomenklatur ein Zustand beseitigt worden, den Wilhelm His als sprachliche „Anarchie“ bezeichnet hatte, „unter welcher Lehrende und Lernende in gleichem Maße litten, und welche auch die Forschung schädigen musste“ (Leutert 1963). Notwendige Korrekturen der BNA, aber auch eine Reihe von Wortneuschöpfungen erfolgten 1935 auf der 43. Versammlung der Anatomischen Gesellschaft in Jena insbesondere unter der Ägide von Hermann Stieve (1886–1952); sie setzten sich aber nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges international nicht weiter durch, so dass fortan zwei unterschiedliche Anatomische Nomenklaturen nebeneinander existierten. Auch die Arbeit eines vom 4. Internationalen Anatomenkongress in Mailand 1936 initiierten International Nomenclature Committee wurde durch den Krieg unterbrochen. Erst um 1950 war es möglich, die Arbeiten an einer international breit akzeptierten Anatomischen Nomenklatur wieder aufzunehmen. Als deutscher Vertreter wurde Dietrich Starck (1908–2001) Mitglied des 1952 vom 5. Internationalen Anatomenkongress (Oxford) mit der Überarbeitung der älteren Vereinbarungen betrauten International Anatomical Nomenclature Committee. Schließlich konnte 1954 ein erster Entwurf der neuen Internationalen Anatomischen Nomenklatur fertiggestellt werden, der auf dem 6. Internationalen Anatomenkongress 1955 in Paris vorgelegt wurde (Muschong [Zähne] 2013, A1 ff.). Die 1955 verabschiedeten und mit Unterstützung der UNESCO gedruckten Pariser Nomina Anatomica (PNA) sollten immerhin bis in die 1970er Jahre uneingeschränkte Gültigkeit haben. Seit 1973 gab es allerdings Bestrebungen, die PNA um Nomenklaturen der Embryologie und Histologie zu ergänzen. Ein Beschluss, die zwischenzeitlich entstandenen Terminologien der Histologie und der Embryologie zu einer Trias der Anatomischen Nomenklatur zu vereinigen, erfolgte 1989 auf dem Weltkongress für Anatomie in Rio de Janeiro. Beauftragt wurde mit dieser Aufgabe das durch den Kongress ins Leben gerufene Federative Committee of Anatomical Terminology. Eine medizinische Nomenklatur im engeren Sinne existierte bis in die frühen 1970er Jahre nicht. Sie wurde erst 1974 mit der vom College of American Pathologists (CAP) veranlassten und inzwischen digital verfügbaren Systematisierten Nomenklatur der Medizin (SNOMED) (engl.: Systematized Nomenclature of Human and Veterinary Medicine) geschaffen. SNOMED wiederum fußt auf der Systematized Nomenclature of Pathology (SNOP), die seit den 1950er Jahren entwickelt und 1965 auf Anregung des CAP erstmals veröffentlicht, inzwischen aber wieder eingestellt wurde. Ziel von SNOMED ist es, alle medizinischen Aussagen so unzweideutig zu formulieren und zu indizieren, dass sämtliche Suchanfragen umfassend und mit hoher Relevanz beantwortet werden können. Eine Vernetzung mit Literaturdatenbanken und anderen Wissensdokumentationen ergänzt das System, das in englischer Sprache vorliegt. (Leiner u. a. 2003).



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5 Lexikographie 5.1 Antike Obwohl der medizinischen Lexikographie (vgl. Müller 2001, 467 ff.; vgl. Eckart/Jütte 2014 97 ff.) und Glossographie weder in der griechisch-römischen Antike noch im Mittelalter eine große Rolle in der Wissensvermittlung zukam, sind durchaus allgemeine Nachschlagewerke und Lexika in dieser Zeit verfasst worden. Sie enthielten immer auch medizinische Lemmata, so etwa in der lexigraphischen Sammlung (Synagogè pasôn léxeon) des Hesychios von Alexandria (5./6. Jh. n. Chr.) oder in der Suda, einem um 1000 n. Chr. in Konstantinopel entstandenen Konversationslexikon. Häufig handelt es sich auch um Glossare mit lexigraphisch-enzyklopädischen Ansprüchen. Eine solche Tradition bestand seit dem 2. Jh. v. Chr. hinsichtlich des Corpus Hippocraticum. Zu nennen sind etwa die Glossare des Bakcheios von Tanagra (2. Jh. v. Chr.), des Dioskurides Phakas (1. Jh. v. Chr.), des Erotian (1. Jh. n. Chr.) oder des Dioskurides Glossographos (1./2. Jh. n. Chr.). Rufus von Ephesus (1. Jh. n. Chr.) verfasste beispielsweise eine Schrift über die Benennung der menschlichen Körperteile mit dem Versuch einer vollständigen Nomenklatur.

5.2 Mittelalter und Frühe Neuzeit Die fachlexikographischen Drucke zur Naturkunde (Botanik, Zoologie, Mineralogie), Medizin und Alchemie der Frühen Neuzeit mit deutschen Einträgen sind entweder als Wortverzeichnisse auf die Reihung von (synonymen) Wortäquivalenten beschränkt, oder sie enthalten darüber hinaus auch sachlich-enzyklopädische Informationen. Die meisten der frühen Fachwörterbücher spiegeln das für den Humanismus typische philologisch-kritische Bemühen – auch in der Medizin (vgl. Rotzoll 2014, 604 ff.) – um die Bereitstellung verlorener oder im Mittelalter korrumpierter Texte der Antike. Im Vordergrund stehen hierbei Versuche, Synonymenhäufungen zu entwirren oder Verballhornungen zu identifizieren und zu korrigieren. Andererseits sind sie aber gerade auch durch das Vorhaben charakterisiert, antike mit lebendsprachlichen deutschen Bezeichnungen als Voraussetzung für praktische Anwendungen (z. B. Rezepturen) zu kombinieren (vgl. Müller 2001, 467). Zu den ersten gedruckten medizinischen Lexika allgemeiner Art gehören vermutlich die Synonima medicinae seu Clauis sanationis (Venedig 1486) des Simon Ianuensis (Ende 13. Jh.), die einige Auflagen erlebten (1510, 1514), im Grunde aber auf knapp 100 Druckseiten nicht mehr als die griechischen und arabischen simplicia medicinalia in alphabetischer Ordnung wiedergaben. Höhere Ansprüche verfolgten erst die umfassenderen humanistischen Lexika; so etwa das Onomasticon medicinae continens omnia nomina (1534) des humanistischen Theologen, Arztes und Botanikers Otto Brunfels (1488–1534), das Dictionarium medicum

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(1545) des spanischen Humanisten und Grammatikers Elio Antonio de Nebrija (1444–1522) oder das Dictionarivm medicum (1564) des humanistischen Arztes Henri Estienne (1528 od. 1531–1598). Estienne hatte seinem Werk den gesamten Kanon der antiken Klassiker und ihrer byzantinischen Kompilatoren zugrunde gelegt und mit lateinischen Erklärungen versehen. Von fachsprachlich sehr spezifischer Natur ist das Onomasticum Theophrasti Paracelsi (1574) des Adam von Bodenstein (1528–1577), dem der Verfasser 1575 zusammen mit Gerhard Dorn (um 1530–vor 1584) noch ein Dictionarium Theophrasti Paracelsi (Basel, 1575; Frankfurt, 1584) folgen lässt. In die Tradition der humanistischen Diktionarien der Medizin ist auch das Lexicon medicum Graeco-Latinum (1628, 1657) des Messinenser Humanisten Bartholomeo Castelli (ca. 1550–1607) einzuordnen, das als Castellus renovatus noch 1682 in Nürnberg und zuletzt 1746 in Genf aufgelegt wurde. Die Neubearbeitung des Lexikons durch den Altdorfer Jakob Pankraz Bruno (1629–1709), die als Amaltheum Castello-Brunonianum sive lexicon medicum zuerst in Nürnberg (1688) erschien, erweitert das Lexikon Castellis um das pathologisch-anatomische, chemische und technische Vokabular neuerer und neuester Autoren und verlässt damit den Bereich der humanistischen Lexika bzw. Diktionarien ebenso wie der ganz theologischen Interessen verpflichtete Triumphus bibliorum sacrorum seu encyclopaedia biblica (1625) des Theologen und Polyhistors Johann Heinrich Alsted (1588–1638), der auch der biblischen Medizin Rechnung trägt. Der Vollständigkeit halber ist hier auch der in alphabetischer Anordnung organisierte Schau-Saal Der Arzeney-Kunst (1719) des Ulmer Arztes, Tierarztes und Scharfrichters Johannes Deigendesch (um 1700) aufgeführt, dem – wie der Titel bereits betont – ein „Vocabularium“ beigefügt ist, „worauß alle übliche und mehreste Lateinische Wörter / so in diesem Tractat vorkommen / werden zu verteutschen seyn“, ähnlich auch Erhardt Norrs Chirurgischer Wegweiser (1722), dem der Stuttgarter Stadtarzt – ebenfalls bereits im Titel der Schrift – ein „Vocabulario Aller einfachen, unvermischten Gewächsen und Artzneyen, Namen, Natur und Complexionen“ angehängt hatte, Der Ehrliche Teutsche […] Hauß-Artzt (1734) des Johann Scheiddegen mit einem „Wörter-Buch  / Wie in diesem Tractat zu Latein vorkommende Wörter verteutscht werden müssen [Titel]“ oder noch die Krankenwartung (1859) des O. von Weißenhorst (Pseudonym für Szymanowski, Oswald Korwin, 1820–1895), die für das Lesepublikum – wie bereits im Titel angekündigt – mit „mit einem kurzen Vocabularium in vier Sprachen versehen“ war.

5.3 Das 17. und 18. Jahrhundert Die medizinisch-enzyklopädische Literatur des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jh.s ist – verglichen mit den humanistischen Diktionarien des 16. Jh.s – überwältigend. Sie zeugt von einem vollkommen neuen Bedürfnis, einerseits dem Wissenszuwachs einer sich nun an der experimentellen Methodik orientierenden Medizin, andererseits aber auch  – ohne substantiellen Verzicht auf den Wissenskanon der



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antiken Medizin – der neuen Konzeptvielfalt (Chymiatrie, Mechanismus, Animismus) einer Medizin im Niedergang des antiken qualitäten- und säftepathologischen Paradigmas Rechnung zu tragen. Die meisten dieser Werke erleben einige Neuauflagen, bleiben allerdings noch der lateinischen Sprache verpflichtet. Zu nennen sind hier unter den allgemeinen Lexika exemplarisch etwa die Encyclopaedia medicinae theoretico-practicae (1684, 1691 u. 1695, Encyclopaedia medica dogmatica) des Johann Dolaeus (1651–1707) oder Steven Blankaarts (1650–1702) überaus erfolgreiches Lexicon medicum Graeco-Latinum, in quo termini totius artis Medicae, secundum Neotericorum placita (1679 ff., Faksimile der Ausgabe 1748 erst 2005). Blankaarts Lexikon ist auch eines der ersten, das ins Englische übersetzt wurde (A physical dictionary in which all the terms relating either to anatomy, chirurgery, pharmacy, or chymistry, are very accurately explain’d, 1684). Unter den englischen Lexika ist besonders das Lexicon physico-medicum or, A new medicinal dictionary (1719) des Apothekers und Iatrophysikers John Quincy (gest. 1722) zu nennen, das sich zahlreicher Neuauflagen bis ins beginnende 19. Jh. (seit 1811 auch als The American medical lexicon) erfreute. Quincys Lexikon wurde erst durch das bis in die zweite Hälfte des 19. Jh.s ebenso erfolgreiche New medical dictionary (1817) Robert Hoopers (1773–1835) ersetzt. George Motherbys (1732–1793) New medical dictionary erlebte nur zwei Auflagen (1775, 1785). Unter den medizinischen Speziallexika sind besonders die der nachparacelsischen Iatrochemie verpflichteten zu nennen, also etwa William Johnsons Lexicon chymicum cum obscuriorum verborum et rerum hermeticarum, tum phrasium paracelsicarum (2  Bände 1652/53), Christoph von Hellwigs Lexicon medico-chymicum (1711) oder Johann Christoph Sommerhoffs Lexicon pharmaceutico-physicum (1701). Zum zweifellos bedeutendsten Werk der medizinischen Lexikographie des 18. Jh.s wurde Robert James’ (1703–1776) Medical dictionary, das er in drei engbedruckten großformatigen Bänden von 1743 bis 1745 veröffentlichte. James’ Werk steht am Beginn einer neuen Ära in der Medizinlexikographie und markiert klar den Übergang vom dictionnaire des mots zum dictionnaire des choses. Das Lexikon behandelt systematisch und in je nach Bedeutung des Begriffes abgestufter Ausführlichkeit den gesamten Bereich der Medizin. Bereits während seines Erscheinens entstand der Plan Diderots, das Werk schnellstmöglich ins Französische zu übersetzen. Es erschien – übersetzt von Denis Diderot, Marc Antoine Eidous und François-Vincent Toussaint – tatsächlich bereits zwischen 1746 und 1748, und zwar unter dem Titel Dictionnaire universel de médecine. Dieses sechsbändige Werk prägte die medizinische Lexikographie der europäischen Aufklärung.

5.4 Moderne Viele medizinische Nachschlagewerke des 18. Jh.s werden noch im 19. Jh. wiederaufgelegt. Gänzlich neue Bearbeitungen liefern indessen der Arzt und Übersetzer Hirschmann Brandeis (geb. 1793) mit seinem Werk Medizinisches Wörterbuch enthaltend

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die etymologische Erklärung der im Gebiete der Arzneikunde vorkommenden griechischen Wörter, die pathognomonischen Zeichen der Krankheiten […] ( 2. Aufl., Tübingen 1820) sowie Ludwig August Kraus’ (1777–1843) Kritisch-etymologisches medizinisches Lexicon für die in der Sprache der Aerzte vorkommenden Wörter Griechischen Ursprungs (Göttingen, 1820), das danach noch in mehreren – teils erweiterten – Auflagen (1821, 1826, 1831, 1844) erschien und sich seit 1826 zugleich als „Beispielsammlung für jede künftige Physiologie der Sprache“ [Vorwort] verstanden wissen wollte. Zur Herausgabe vergleichbarer Wörterbücher ist es in der ersten Hälfte des 19. Jh.s nicht mehr gekommen, vermutlich bedingt durch die mit der vollkommenen Neuorientierung der Medizin an den Naturwissenschaften (Histologie, Embryologie, Physiologie, Physiologische Chemie) und ihrer experimentellen Erkenntnismethode (scientific turn) verbundenen Wissensexplosion einerseits, andererseits aber auch vor dem Hintergrund neuer Arbeitsbedingungen und Erkenntniszuwächse in der Klinischen Pathologie (Zellularpathologie, Bakteriologie) und diagnostisch-therapeutischen Medizin (Anästhesie, Antisepsis, Organchirurgie). In nahezu allen Weltsprachen erscheinen nun auch neue Nachschlagewerke, die der schnellen Wissensexpansion und Spezialisierung in der Medizin Rechnung tragen wollen. In diese Zeit des Umbruchs fällt die Veröffentlichung der Real-Encyklopädie der gesammten Heilkunde, die den in Deutschland für das 19. Jh. ambitioniertesten Versuch darstellt, das neue medizinische Wissen der Zeit in enzyklopädischer Vollständigkeit mit ausführlichsten Quellenbelegen darzubieten. In Konzeption und Redaktion ist das Werk ein „Kind“ des Pharmakologen Albert Eulenburg (1840–1917). Die erste Auflage erschien bei Urban und Schwarzenberg in 15 Bänden von 1880 bis 1883 und bald darauf in zweiter Auflage in 22 Bänden von 1885 bis 1890, gefolgt von neun weiteren Jahrbüchern zur laufenden Aktualisierung. Die dritte Auflage von 1894 bis 1901 bot in 26 Bänden abermals eine gründliche Bearbeitung und wurde wiederum 1903 bis 1911 durch neun Encyklopädische Jahrbücher der gesammten Heilkunde ergänzt. Eine vierte und letzte Ausgabe wurde in fünfzehn Bänden 1907 bis 1914 publiziert, diesmal unter der gemeinsamen Leitung mit dem Internisten Theodor Brugsch (1878–1963). Eulenburgs Real-Encyklopädie darf fraglos als das konkurrenzlos führende medizinische Nachschlagewerk des deutschen Sprachraums in der Zeit um die Jahrhundertwende angesehen werden. Es ist noch heute für seine Epoche ein wertvolles Findmittel. Unter den medizinischen Speziallexika des 19. Jh.s ist wegen seiner medizinhistorischen Bedeutung besonders das von Max Höfler (1848–1914) verfasste und 1899 veröffentlichte Deutsche Krankheitsnamen-Buch (Nachdruck 1979) erwähnenswert (Riecke 2013). Abschließend sei noch auf das seit 1937 bis heute im deutschen Sprachraum führende Klinische Wörterbuch Pschyrembel (2014 in 266. Aufl.) hingewiesen. Der Name Pschyrembel wird meist als Kurztitel für das lange von Willibald Pschyrembel (1901– 1987) bearbeitete Wörterbuch Pschyrembel Klinisches Wörterbuch verwendet. Vorausgegangen war „dem“ Pschyrembel das von Otto Dornblüth (1860–1922) verfasste und 1894 veröffentlichte Wörterbuch der klinischen Kunstausdrücke (seit 1901 Klinisches



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Wörterbuch  – Die Kunstausdrücke der Medizin). Nach Dornblüths Tod wurde das Lexikon zunächst bis 1933 durch Carl von Noorden (1858-1944) betreut, danach erst von W. Pschyrembel.

6 Eponyme und Akronyme Der Archon eponymos (ἄρχων ἐπώνυμος), Amt und Amtsbezeichnung des „Oberbeamten“ Athens in klassischer Zeit, verlieh als Leiter der Polis den jeweiligen Jahresnamen. Aus dieser spezifischen Funktion ist wohl auch die neuzeitliche Bedeutung des Begriffs „Eponym“ hergeleitet, mit dem wir alle anatomischen Strukturen und klinischen Erscheinungen bezeichnen, die mit dem Namen ihres Entdeckers oder Erstbeschreibers versehen sind (Anthroponyme). Einen Sonderfall stellen Bezeichnungen für medizinische Sachverhalte dar, die mit einem Namen aus der Mythologie versehen wurden (Mythonyme), wie etwa die Achillessehne, der Narzissmus und der Ödipus-Komplex oder der Priapismus (Karenberg 2006). Bei einem eponymischen Benennungsverfahren, so Leiber/Olbert (1968), werde „der ursprüngliche individuelle Personenname recht bald zu einer durch Gebrauch und Konvention festgelegten, mehr symbolischen Sachbezeichnung, ja gelegentlich sogar zu einer persönlichkeitsfreien Chiffre“ (ebd., Vorwort). Der Vorteil eponymischer Bezeichnungen liegt in ihrer Kürze. Hinter einem meist kurzen Eigennamen verbirgt sich ein komplexer medizinischer Sachverhalt. Die Schwäche der Eponyme erklärt sich indessen aus dem gleichen Charakteristikum: Der durch das Eponym bezeichnete Sachverhalt ist nicht mehr aus der Bezeichnung erschließbar, sondern er muss in Verbindung mit dem Eponym erinnert werden. Seit den 1960er Jahren sind daher umfangreiche lexikalische Hilfsmittel zu den Eponymen in der Anatomie (Olry 1995; Dobson 1962), besonders jedoch zu klinischen Sachverhalten (Leiber/Olbrich 1966; Leiber/Olbert 1968), aber auch zu medizinischen Spezialfächern oder Teilgebieten wie etwa der Orthopädie (Albrecht 1990), der Gynäkologie und Geburtshilfe (Baskett 1998), der Dermatologie (Löser/Plewig/ Burgdorf 2013; Schwarz/Alex 2000), der Neurologie (Koehler 2000) und Psychiatrie (Arenz 2001) oder der Phlebologie (Rabe/Pannier-Fischer/Rabe 2002) vorgelegt worden. Gesamtzugriffe auf das weite Feld der medizinischen Eponyme ermöglichen inzwischen umfangreiche Lexika (Winkelmann 2009; Forbis/Barolicci 1998). Eine besondere Herausforderung stellen die zahlreichen Abkürzungen (Abbreviaturen) und Akronyme (von altgr. ἄκρος ákros „Spitze, Rand“) der zeitgenössischen medizinischen Fachsprache dar (Heister 1989). Unter einem Akronym wird ein abstraktes Kurzwort verstanden, das sich aus den Anfangsbuchstaben oder Anfangssilben eines längeren – aus einer Wortgruppe oder einem Kompositum bestehenden – deutschen oder fremdsprachlichen (häufig englischen) Fachausdrucks zusammensetzt. Dabei können zusätzlich solche Akronyme, deren gesprochene Buchstaben silbi-

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schen Wert annehmen (GABA für gamma-aminobutric acid), von anderen unterschieden werden, die ausbuchstabiert und mit Endbetonung gesprochen werden (i. v., i. m. für intravenös und intramuskulär), sowie von wieder anderen, die man ausbuchstabiert und mit Anfangsbetonung (EKG, EEG für Elektrokardiogramm und Elektroenzephalogramm) spricht, und solchen, deren Initialen sich zu einem phonetischen Wort zusammenfügen (AIDS, SIDA, SPID für Acquired immunodeficiency syndrome  – dt. erworbenes Immundefekt-Syndrom  – und Syndrome d’Immuno-Déficience Acquise oder im Russischen синдром приобретённого иммунодефицита, sindrom priobretënnogo immunodeficita, Syndrom des angenommenen Immundefizits). Daneben können Mischformen vorkommen. Unterschieden werden hiervon einfache Abkürzungen oder Kürzel, die in der Regel nicht als solche gelesen werden, sondern nur stellvertretend für das gelesene Wortgefüge stehen. Typische Formen hierfür finden sich in der Anatomie (A., V., N., M., Gl., Lig. für arteria, vena, nervus, musculus, glandula/Drüse, ligamentum/Band). Während die Pluralbildung solcher Abkürzungen nach anatomischer Konvention durch Buchstabenverdopplung bei den einfachen Kürzeln oder Verdoppelung des jeweils letzten Buchstaben bei den zusammengesetzten gebildet werden, folgt die (nicht immer mögliche) Verdoppelung der Akronyme den Regeln der jeweiligen Umgangssprache. Alle Abbreviaturen gehen ursprünglich auf die antike römische Epigraphik zurück und sind über lateinisch-mittelalterliche Handschriften in die modernen Gemeinsprachen transportiert worden. Mit dem Buchdruck sank zunächst der Abkürzungsbedarf, nahm aber seit der zweiten Hälfte des 19. Jh.s zusammen mit der schnell wachsenden Komplexität gesellschaftlicher und kultureller Organisationsformen in Politik, Recht, Religion, den Wissenschaften oder der Technik und ihren sprachlichen Ausdrucksformen explosionsartig zu. Gleichzeitig unterliegen die Eponyme bis heute einem stetigen Wandel. Auch gemeinsprachliche Unterschiede sind ihnen durchaus zu eigen, obwohl sich (mit Ausnahme der Philologien) in vielen Bereichen von Technik und (Natur-)Wissenschaft das Englische als zugrunde liegende Lingua franca herausgebildet hat. Den Anfang dieses schnellen Zuwachses bildeten wohl die in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s in so großer Zahl und mit teils hoch differenzierten und langen Titeln erscheinenden wissenschaftlichen Zeitschriften, sodass Abkürzungsverzeichnisse bald notwendig wurden. Exemplarisch hierfür steht sicherlich das entsprechende Verzeichnis des Index-catalogue of the Library of the Surgeon General’s Office, United States (Alphabetical list of abbreviations 1895). Für viele Organisationsund Wissensbereiche sind inzwischen umfang- und zahlreiche Abkürzungs- bzw. Akronymen-Verzeichnisse notwendig geworden, so auch für die Medizin (Peyser 1950; Heister 1980 f.; Deschka 2010; Beckers 2011; Klonk 2012; Böhm 2014).



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7 Fazit Die medizinische Fachsprache gehört seit der europäischen Antike zu den zentralen Aspekten der Akkumulation und Weitergabe ärztlichen Wissens. Mit der hippokratischen Forderung, empirisches Fachwissen der Medizin schriftlich zu fixieren und so für die eigene Praxis, aber auch für die Weitergabe im Unterricht zu sichern, ist die Aneignung medizinischen Textwissens unabdingbare Voraussetzung für die Professionalisierung angehender Ärzte geworden. Im Verlauf der medizinischen Sprachgeschichte vollzog sich ein Wandel von den ursprünglich griechisch verfassten Sachund Handlungstexten über das Lateinische hin zu den regional vorherrschenden Sprachen und schließlich zu den frühen europäischen Nationalsprachen. Im Prozess dieses sprachlichen Übergangs waren Sach- und Handlungstexte aber nicht nur sprachlichen, sondern in ganz erheblichem Maße auch inhaltlichen Transformationen und Neuschöpfungen unterworfen. Diese spiegeln sich noch heute in der international kodifizierten medizinischen Nomenklatur und Terminologie ebenso wie in den nationalen medizinischen Terminologien.

8 Literatur Albrecht, Thomas (1990): Analyse und Kathalogisierung der orthopädisch relevanten Eponyme von diagnostischen Untersuchungszeichen, Röntgenzeichen und Syndromen der Wirbelsäule und des Rumpfes. Herzogenrath. Alphabetical List of Abbreviations of Titles of Medical Periodicals Employed in the Index-Catalogue of the Library of the Surgeon-General’s Office, United States Army, 1/16 (1895). Alsted, Johann Heinrich (1625): Triumphus bibliorum sacrorum seu encycklopaedia biblica: exhibens triumphum philosophiae, iurisprudentiae, & medicinae sacrae, itemque sacrosanctae theologiae, quatenus illarum fundamenta ex Scriptura V. & N. T. colliguntur. Frankfurt. Arenz, Dirk (2001): Eponyme und Syndrome in der Psychiatrie: biographisch-klinische Beiträge. Köln. Bartisch, Georg (1583): Ophthalmoduleia, das ist Augendienst: newer vnd wolgegruendter Bericht Von vrsachen vnd erkentnues aller Gebrechen, Schaeden vnd Maengel d. Augen vnd des Gesichtes […]. Dresden. Baskett, Thomas F. (1998): On the Shoulders of Giants: Eponyms and Names in Obstetrics and Gynaecology. London. Beckers, Heinz (2011): Abkürzungslexikon medizinischer Begriffe, einschließlich Randgebiete – über 150.000 Abkürzungen, Akronyme und Symbole. Köln. Blankaart, Steven (1684): A Physical Dictionary in which all the Terms Relating either to Anatomy, Chirurgery, Pharmacy, or Chymistry, are very Accurately Explain’d. London. Blankaart, Steven (2005): Lexicon medicum Graeco-Latinum, : In quo termini totius artis Medicae, secundum Neotericorum placita, definiuntur vel circum scribuntur, Graeca item vocabula ex originibus suis deducuntur, antehac; Belgicis quoque prioris editionis nominibus Germanica, si qua significantia adfuerunt, in hac sunt substituta. Göttingen (Faksimile der Ausg. Halle/ Magdeburg 1748).

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Fuchs, Leonhard (1543): New Kreüterbuch: in welchem nit allein die gantz histori, das ist, namen, gestalt, statt und zeit der wachsung, natur, krafft und würckung des meysten theyls der Kreüter so in Teütschen unnd andern Landen wachsen, mit dem besten vleiß beschriben sonder auch aller derselben wurtzel, stengel, bletter, blumen, samen, frücht, und in summa die gantze gestalt, allso artlich und kunstlich abgebildet und contrafayt ist das desgleichen vormals nie gesehen noch an tag kom̄en; mit dreyen nützlichen Registern. Gersdorff, Hans von (1517): Feldtbuch der Wundartzney. Straßburg. Heister, Rolf (1980): Lexikon medizinisch wissenschaftlicher Abkürzungen (LMWA). Stuttgart. Heister, Rolf (1989): Dictionary of Abbreviations in Medical Sciences – with a List of the Most Important Medical and Scientific Journals and their Traditional Abbreviations, Berlin u. a. Hellwig, Christoph von (1711): Neu eingerichtetes Lexicon medico-chymicum, Oder: Chymisches Lecicon: Worinnen Nicht alleine die Nahmen der nöthigsten Laborum Chymicorum, sondern auch die gebräuchlichsten Vasa, Oefen, Instrumenta, &c. benennet; nebst andern nützlichen Dingen. Worbey auch unterschiedliche Stücke, was vor Composita daraus prarpariret und laboriret werden, und von deren Tugenden, Kräfften, Dosibus, &c. zu finden. Lateinisch und Teutsch, nach dem Alphabet eingerichtet. Frankfurt/Leipzig/Erfurt. Höfler, Max (1899): Deutsches Krankheitsnamen-Buch. München. Hooper, Robert (1817): New Medical Dictionary: Containing an Explanation of the Terms in Anatomy … and the Various Branches of Natural Philosophy Connected with Medicine. Philadelphia. Hyrtl, Joseph (1880): Onomatologia anatomica – Geschichte und Kritik der Anatomischen Sprache der Gegenwart, mit besonderer Berücksichtigung ihrer Barbarismen, Widersinnigkeiten, Tropen, und grammatikalischen Fehler. Wien. Hyrtl, Joseph (1884): Die alten deutschen Kunstworte der Anatomie. Wien. Ianuensis, Simon (1486): Synonima medicinae seu Clauis sanationis. Venedig. Isidor Hispalensis (ca. 1473): Etymologiae [Erstdruck]. Straßburg. James, Robert (1743–1745): Medical Dictionary, 3 Bde. London. James, Robert (1746–1748): Dictionnaire universel de médecine (übersetzt von Denis Diderot, Marc Antoine Eidous und François-Vincent Toussaint), 6 Bde. Paris. Johnson, William (1652/1653): Lexicon chymicum cum obscuriorum verborum et rerum hermeticarum, tum phrasium paracelsicarum. 2 Bde. London. Karenberg, Axel (2006): Amor, Äskulap & Co.: Klassische Mythologie in der Sprache der modernen Medizin. Stuttgart/New York. Klonk, Sabine (2012): Wörterbuch medizinischer Fachbegriffe. Mannheim. Koehler, Peter J. (2000): Neurological Eponyms. Oxford. Kraus, Ludwig August (1820): Kritisch-etymologisches medizinisches Lexicon für die in der Sprache der Aerzte vorkommenden Wörter Griechischen Ursprungs. Göttingen. Leiber, Bernfried/Gertrud Olbrich (1966): Die klinischen Syndrome. München u. a. Leiber, Bernfried/Theodor Olbert (1968): Die Klinischen Eponyme – Medizinische Eigennamenbegriffe in Klinik und Praxis. München. Leiner, Florian u. a. (2003): Medizinische Dokumentation: Grundlagen einer qualitätsgesicherten integrierten Krankenversorgung. Stuttgart. Vgl. zur Weiterentwicklung von SNOMED bis heute: http://de.wikipedia.org/wiki/Systematisierte_Nomenklatur_der_Medizin. Leutert, Gerald (1963): Die anatomischen Nomenklaturen von Basel, Jena, Paris in dreifacher Gegenüberstellung. Leipzig. Leven, Karl-Heinz (2005): Antike Medizin – Ein Lexikon. München. Lexikon medizinischer Abkürzungen, Sandoz AG, Nürnberg 1966–1991. Löser, Christoph/ Gerd Plewig/ Walter Burgdorf (2013): Pantheon of Dermatology: Outstanding Historical Figures. Berlin.

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Eva Martha Eckkrammer

2. Medizinische Textsorten vom Mittelalter bis zum Internet Abstract: Der Beitrag skizziert die Entwicklung der kommunikativen Handlungsmuster der Heilkunde vor einem text- und medienlinguistischen Hintergrund vom Mittelalter bis in die digitale Ära in groben Zügen. Er zeigt auf, dass medizinische Text­ sorten in den europäischen Kultursprachen in der Mündlichkeit wie Schriftlich­keit eine Konstante darstellen, deren Wurzeln in der Antike liegt und deren Aus­gliederung eng an die disziplinäre Entwicklung gekettet erfolgt. Zunächst be­stimmt die antike Medizin, die über die arabische Welt angereichert und vermit­telt das Fach vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert prägt, den medizinischen Diskurs. Die in diesem Sog entstehenden (mittel)lateinischen Textsorten bilden wiederum die Grundlage, auf der sich die vernakularsprachlichen Kommunikati­onsmuster im späten Mittelalter herausbilden. Bereits im 14. Jahrhundert sind verschiedene Ebenen der Fachlichkeit nachweisbar. Der nachfolgende Ausgliede­rungsprozess, der parallel zur Typographisierung stattfindet, führt im Fahrwasser der fachlichen Ausdifferenzierung und den jeweiligen kulturellen Usancen zu einer großen Vielfalt schriftlicher und mündlicher, fachinterner und fachexterner Textsorten. Die Medikalisierung der Gesellschaften und der zweite Medienwech­sel hin zur computervermittelten Kommunikation ziehen weitere Entwicklungs­schübe nach sich, welche die interaktionale Ebene in den Vordergrund rücken. 1 Einleitung 2 Theoretische und sachgeschichtliche Rahmung 3 Diachronische Entwicklungslinien medizinischer Textsorten 4 Schlussfolgerungen 5 Literatur

1 Einleitung Die Sprache der Medizin hat zu allen Zeiten im Mittelpunkt der Heilkunde gestanden und die theoretischen Voraussetzungen der Medizin wie auch das Verhältnis von Arzt und Pa­tient we­sentlich bestimmt (Schipperges 1988, 9).

Kommunikative Handlungsmuster mit medizinischen Inhalten sind in den Kultur­ sprachen heute allgegenwärtig. Die Bandbreite reicht dabei von mündlichen Pri­ märerfahrungen aus der Interaktion mit Ärzten, mit Pflegepersonal und anderen Berufsgruppen der Disziplin, mitunter sogar im Rahmen computervermittelter Kon-

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sultationen, bis zu einem umfassenden, fachlich differenzierten Kanon schriftlicher Textsorten. Fachmedizinische Inhalte werden in großen Mengen in Zeitschriften, Handbüchern, Kongressakten, Lexika und Monographien publi­ziert. Manuale, Lehrund Handbücher vermitteln die notwendige Sachkenntnis einem beruflich informierten Publikum. Divulgative, also öffentlichkeitsorientierte Texte vielfältiger Art, vom onkologischen Ratgeber-Comic für Kinder bis zum umfangreichen laienmedizini­ schen Lexikon oder Spezialratgeber, zerlegen komplexe fachliche Informationen in verdauliche, oftmals multimodale Informationseinheiten. Das Internet punktet mit medizinischen Websites, Archiven, Chats und elektronischen Hilfeforen – für Experten und Laien, und selbst der Zugang zu einem kommentierten Life-Stream einer Operation ist keine Seltenheit mehr. Nicht selten mutieren medizinische Inhalte in audiovisuellen Medien auch zur Unterhaltung. Wie und vor welchem Hintergrund hat sich jedoch dieses reichhaltige Feld des kommunikativen Handelns in der Medizin herausgebildet und zu welchen mus­ terhaften Formen gerinnt es im Laufe der Jahrhunderte inmitten einer bewegten Fachgeschichte? Wenngleich der erhebliche Beobachtungszeitraum nur stark kon­ densierte Betrachtungen zulässt, sei hier der Versuch unternommen, die Genese und Ausfaltung der medizinischen Textsorten vor dem Hintergrund der medizin­ historischen Entwicklung vom Mittelalter bis in die digitale Ära in groben Zügen zu beschreiben. Zielsetzung ist dabei das Herausarbeiten genereller Entwick­lungslinien sowie deren Einbettung in text- und medienlinguistische Theorien, welche dem Lesepublikum eine Einordnung der Einzelbeiträge des Bandes in einen breiten kommunikationsgeschichtlichen und textlinguistischen Kontext ermöglichen soll. Es liegt auf der Hand, dass die kommunikativen Handlungsmuster der Medi­zin sich mit dem Fach herausbilden und gleichermaßen als Katalysator für die Entwicklung der Disziplin und ihres Gegenstandsbereichs wirken. Denn erst die sprachliche Fixierung ermöglicht sowohl die für die Wissenschaftlichkeit not­wendige Systematisierung als auch die Tradierung und Weitergabe des Wissens. Einerseits geben sie dem fachinternen Diskurs Raum und erlauben seit der Antike – zunächst vorrangig in griechischer, später auch in arabischer und lateinischer Sprache – die schriftliche Fixierung des vorhandenen medizinischen Wissens sowie dessen Rezeption durch die Gelehrten der nachfolgenden Epo­chen. Andererseits ebnen sie auch den Weg zur Divulgation dieses Wissens in den Kreisen interessierter Studiosi anderer Disziplinen aber auch der Allgemein­heit, wenngleich diese über lange Zeit auf Vermittlung angewiesen ist, z. B. durch lautes Vorlesen oder Rezitation. Da sich für den mündlichen Bereich vor dem 20. Jahrhundert keine Daten nachweisen lassen und allenfalls durch metasprachliche Hinweise Rückschlüsse auf kommunikative Handlungsmuster der Oralität möglich sind, konzentrieren sich die Ausführungen zwangsläufig auf schriftliche Textsorten, ohne jedoch die Relevanz mündlichen Interaktionen sowie deren Wirkung auf die Skripturalität im Textsortenrepertoire der Medizin außer Acht zu lassen.

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 Eva Martha Eckkrammer

2 Theoretische und sachgeschichtliche Rahmung Situationsbezogenes Kommunizieren ist stets einem sprachlichen, gedanklichen und sachlichen Bezugsbereich unterworfen (vgl. Steger 1984, 188), so dass die funktionalen Notwendigkeiten, die von einer Sprache eingefordert werden, auch deren Entwicklung mitbestimmen. Bei der Herausbildung fachlicher Kommunikationsformen muss damit zunächst ein sozialer Bedarf vorhanden sein, der fachbezogenes Sprechen und Schreiben auf unterschiedlichen Ebenen motiviert, wobei die treibende Kraft in der Interaktion liegt. Dafür muss nach Kalverkämper (vgl. 1998a,1) neben einer entsprechenden gesamtgesellschaftlichen Rahmung, ein spezifisches soziokulturelles Aktionsumfeld und ein konkreter Gegenstandsbe­reich oder Handlungszusammenhang vorhanden sein, der wiederum im Kontext einer fachsystematischen oder fächerrelativen Konstellation zu einem Text führt. Die Fachlichkeit des Texts wird dabei von allen genannten Faktoren mitbestimmt und unterliegt aus sozialer Perspektive der Systematizität, Zielgerichtetheit, Transparenz, Methodizität, regelhaften Erfassbarkeit und Lehrbarkeit (vgl. Kalver­kämper 1998a). Aus theoretischer Perspektive gilt es damit zunächst – als Grundlage der nachfolgenden diachronischen Betrachtung – den textlinguistischen, medienwissenschaft­ lichen und medizinhistorischen Rahmen zu skizzieren. Dabei beschränken wir uns auf eine Abgrenzung und theoretische Konturierung von Textsorte und Diskurs­ tradition, von Medienwechsel und Medienwandel, die zentralen Entwicklungslinien der Disziplin sowie einige textsortenklassifikatorische Überle­gungen.

2.1 Textsorten und Diskurstraditionen Textsorten, als funktional wie thematisch abgrenzbare kommunikative Hand­ lungsmuster werden vielfach als Routineformeln auf der Textebene bezeichnet, da sie musterhaft konventionalisiertes Kommunikationsverhalten widerspiegeln (vgl. Adamzik 1995, 28). Textuelle Routinen folgen demgemäß einer Musterhaf­tigkeit, die sich über die Jahrhunderte im stetigen Wechselspiel zwischen Tradi­tion, Konvention und Innovation verändert. Das (fach)kommunikative Handeln ist damit zwangsläufig generisch geprägt. Generizität gilt als „Bedingung inter­aktioneller Verständigung“ (vgl. Stempel 1975, 175). Um der historischen Dimension Tribut zu zollen und die Traditionalität der kommunikativen Routinen in den Vordergrund zu rücken, hat sich in der deutsch­ sprachigen Linguistik der Terminus der Diskurstradition etabliert (vgl. Koch 1997, zur Rezeption Kabatek 2011), der nach Wil­helm (2001) je nach Komplexitätsgrad auf der Ebene der Diskursuniversen (im konkreten Fall ist vor allem jenes der Wissenschaft, aber auch jenes des Alltags berührt), der Text- und Diskursgattungen (hier Textsorten), oder der sprachlichen Formeln festzumachen ist. Die Diskurstradition erlaubt auf diese Weise sowohl eine kleinteilige mikrosprachliche Herangehensweise, z. B.

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Beobachtungen zu bestimmten formelhaften Versprachlichungsmustern, aber auch die Beschäftigung mit Generizität (Textsorten) oder der ihr übergeordneten Ebene tiken. Alle Aspekte sind für die Herausbildung kommunikativer diskursiver Prak­ Handlungsmuster der Medizin – die mit der Ebene der Textgattungen aber auch deren Versprachli­chungsmuster korreliert  – relevant. Für die vorliegende diachronische Über­blicksdarstellung, empfiehlt sich jedoch eine Beschränkung auf die funktional abgrenzbaren generischen Handlungsmuster und damit die Ebene der Textsorten, da eine gezielte Analyse von sprachlichen Mustern, deren Entstehungs- und Wanderungsprozessen, den Rahmen überschreitet. Medizinische Textsorten verstehen wir demnach als aus sozialer Notwendig­ keit heraus etablierte, funktional abgrenzbare kommunikative Handlungsmuster mit medizinischem Inhalt. Der Begriff der Diskurstradition wird komplementär dazu benutzt, wenn Generizität auf kulturell fest verwurzelte sprachliche Hand­ lungstraditionen projiziert werden soll.

2.2 Medizinhistorische Grundlagen Jede Epoche folgt bewussten und unbewussten Leitlinien, die wiederum der Ent­ wicklung epochentypischer Vorstellungen zugrunde liegen (Dinzelbacher 1993, IX). Diese gerinnen zu mentalitätsgeschichtlich relevanten Konturen, welche gerade den heilkundlichen Bereich fundamental beeinflussen. Auf diese Weise ist einer mehrere Jahrhunderte umfassenden Darstellung vorwegzuschicken, dass sowohl die Medizin als Disziplin, also auch ihre perzeptiven Grundlagen und involvierten Gruppen (Experten, Laien etc.) mentalitätsgeschichtlichen Wandel­ prozessen unterliegen, diese aber gleichermaßen mitbestimmen. In diesem Sinne ist etwa bei der Wahrnehmung von Krankheit für das Mittel­alter ein hohes Maß an Alterität gegeben, das eine präzise Rekonstruktion der Textpragmatik utopisch werden lässt. Die Motivationen und genauen Dispositive, die Erlebensund Gefühlswelt der TextproduzentInnen und –rezipientInnen zum Zeitpunkt der Entstehung der Textsorten kann damit nur mit Einschränkungen erschlossen werden. Schipperges (1990) unterscheidet zunächst zwischen laienmedizinischer, theo­ retisch-wissenschaftlicher und ärztlicher Wahrnehmung von Krankheit. Diese unterliegen einem Wandel, wobei die das Mittelalter prägende Perzeption von Krankheit sich im Sog des Einflusses der christlichen Lehre deutlich von je­ner der Antike, deren Medizin für das Mittelalter bestimmend ist, unterscheidet. Wenngleich Krank­heit nach wie vor als Strafe gilt, wird von der Annahme eines Befalls durch Dämonen oder böse Geister zunehmend abgewichen. Vielmehr macht sich die Sichtweise der Strafe Gottes breit, wobei die ätiologischen Erklä­rungsmuster weitgehend konstant bleiben (vgl. Vanja 1993). Fundamental anders ist jedoch, dass durch das Christentum der Krankheit und dem durch sie hervorge­rufenen Leiden nunmehr ein höherer Sinn zugesprochen wird.

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Krankheit wurde daher trotz des Rückgriffes auf die antike Säftelehre nicht als biologi­scher Zustand oder als pathologischer Prozeß verstanden, sondern war ein sehr viel weiter rei­chender modus deficiens, der das Unterwegssein des Menschen auf dem Weg zum Heil deut­lich machte. Krankheit rief immer wieder die Gebrechlichkeit menschlicher Existenz ins Ge­dächtnis und forderte zum Überdenken der Lebensweise (regula vitae) auf. Der ganze Mensch war durch das Auftreten von Krankheit betroffen und gefordert (Vanja 1993, 195).

Krankheit hat damit im christlichen Denken des Mittelalters eine Funktion: sie bewahrt den Menschen vor Hochmut, legt Zeugnis von der Größe Gottes ab. Die­ser Standpunkt erklärt auch, dass die Heilkunst im Mittelalter der Theologie ver­pflich­ tet, wenn nicht sogar unterworfen wird und in einem engen Zusammenhang mit der Philosophie und Astronomie bzw. Astrologie sowie religiös-magischen Praktiken zu sehen ist. Im frühen Mittelalter stagniert der heilkundliche Wissensstand weitgehend und bleibt christlich fundier­ten kultischen Heilpraktiken unterworfen. Überdies bleibt Europa vom 7. bis zum 13. Jahrhundert von größeren Epidemien verschont und durchlebt eine weitgehend positive demografische wie ökonomische Ent­wicklung (vgl. Karlen 1996, 127 ff.). Bis ins 12. Jahrhundert sind die Klöster auch die für die medizinische Versorgung der Bevölkerung hauptverantwortlichen Institutionen. Erst mit dem plötzlichen Ende der monastischen Medizin durch ein Edikt des Konzils von Clermont im Jahr 1130 bilden sich jene von Herlihy (1998) differenzierten heilkundlich tätigen Gruppen heraus: a) akademisch ausgebildete Ärzte mit humoralpathologischer Theoriekenntnis und hohem Prestige, die in der Pflege von Kranken kaum direkt mitwirken, b) in der Heilpraxis versierte Wund­ärzte mit geringerem Ansehen, die in engem Kontakt mit den zu pflegenden Kranken stehen und vor allem chirurgische Techniken beherrschen, c) in der Pra­xis versierte Barbiere, Bader, Starstecher etc., die ohne theoretisches Wissen kleine (chirurgi­sche) Eingriffe vornehmen, d) in der Volksheilkunde bewanderte Frauen (seltener Männer), welche die traditionellen Heilmittel der monastischen Medizin direkt bei den Kranken anwenden. Schriftliche Überlieferungen beschränken sich hauptsächlich auf akademische und didaktische Textsorten, die bei der Wiedererschließung des antiken Medi­ zinwissens über die arabischen Übersetzer, Kompilatoren und Kommentatoren nach Europa zurückgelangen. Inhaltlich orientiert sich die Disziplin an den antiken Meistern, v. a. Hippokrates und Galen, greift aber in der Entwicklung eines Ka­nons die arabische Medizinkenntnis, z. B. Avicenna oder Rhazes, auf. Die Heilkunde bleibt im Mittelalter zudem an die aristotelisch orientierte Na­tur­ philosophie gebunden, wobei der aristoteli­sche Kanon vor allem im Anschluss an die Assi­milation durch die Schule von To­ledo (um 1200) in allen geistigen Zentren Europas rezipiert wird. Die institutionelle Veran­kerung der Medizin an neugegründeten Universitäten, z. B. Montpellier, Paris, Bologna oder Oxford, stehen in diesem Sog und leiten eine zunehmende Professio­nalisierung des Ärzte­standes ein. Die Universitäten fungieren nunmehr als instituti­oneller Rahmen der Disziplin und sorgen über das Mittalter hinaus für die Persistenz der antiken Doktrin. Das mit ihr verbundene

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Prestige beschert der Disziplin eine gewisse Selbstzu­friedenheit, aber auch Erstarrung, die sich auch in den Textsorten wider­spiegelt. Insbesondere in der Hochscholastik steht dieses Prestige medizinischem Fortschritt weitgehend im Wege. Kritik am antiken Lehrkanon wird kaum gedul­det, so dass selbst in der frühen Neuzeit Erkenntnisse, z. B. in der Anatomie, kaum in der medizinischen Praxis Platz greifen können (vgl. 3.2.). Andererseits ermögli­chen 1) die ungemein breite wissenschaftlichen Fundierung bei den Hippokrati­kern, 2) die umfassen­de Systematisierung durch die Alexandrinische Medizin, 3) die vollständige Verpflanzung in die arabische Kultur sowie 4) die Wieder­erschließung und Kanoni­sierung im Zuge der latei­nischen Scholastik der Medizin eine sehr einheitliche Terminologie, die sich vorrangig aus dem Griechischen, Lateinischen und Arabischen speist (vgl. Schipperges 1988). Bereits an der Schwelle zur Neuzeit kommt in die Wahrnehmung von Krank­heit Bewegung. Angetrieben wird der Wandel von neuen Krankheiten wie der aus Amerika von den „Entdeckern“ eingeschleppten Syphilis, deren offenkundig sexuelle Übertragung die Annahme einer Strafe Gottes immer schwieriger werden lässt. Der parallele Bruch mit dem auf das Jenseits ausgerichteten mittelalterlichen Denken befördert diese Wahrnehmungen. Der diesseitige Körper rückt in der Renaissance zunehmend in den Fokus, eine Wahrnehmung, die auch von den Reformatoren deutlich unterstützt wird. Das Reformationszeitalter bedingt über­dies eine neue christlich-ethische Gesinnung, die im 16.  Jahrhundert zur Gründung zahlreicher heilkundlich-caritativer Einrichtungen führt. Ordensgemeinschaften engagieren sich zunehmend in der Pflege und Versorgung Kranker und als Ar­beitgeber von Ärzten. Die akademische Medizin wiederum legt den Fokus ad fontes und wendet sich vermehrt den antiken Originalquellen zu, für wirkliche Innovationen bleibt damit kaum Raum (vgl. 3.3.). Dennoch entsteht, mentalitätsge­schichtlich motiviert, eine neue Wahrnehmung von Krankheit, welche diese als menschenverschuldet charakterisiert und die Medizin dazu aufruft, den Menschen zu gesundem Leben anzuleiten. Im Zuge der Mechanisierung des Weltbildes im 17. Jahrhundert rückt wiede­rum die Evidenz in den Vordergrund. Die Medizin fokussiert mehr und mehr faktische Einzelheiten und blendet, wie Schipperges (1990, 283) hervorhebt, umfassende Zusammenhänge weitgehend aus. Neue methodische Prinzipien grei­fen Raum, die Medizin wird praktischer und anwendungsorientierter. Überdies greift die Obrigkeit im Sinne einer Medikalisierung zunehmend ein und ent­wickelt ein öffentliches Gesundheitswesen. Der soziale Prozess der Medikalisierung nimmt Bezug auf die Rationalisierung, Professionalisierung und Disziplinierung der Medizin und lässt die Verbindungslinien zwischen der Sozial-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Medizin und der Mentalitätsgeschichte deutlich werden. Trotz dieser Entwicklung verlässt die akademische Medizin in der Aufklärung den vorgegebenen Doktrinenrahmen kaum. Auf aka­demischer Ebene werden trotz aller Beobachtungen (z. B. des menschlichen Kreis­laufs) nach wie vor die antiken Lehren perpetuiert. Eine Neuorientierung erfolgt erst im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt angesichts der offensichtlichen Ohnmacht der humoralpathologisch geprägten Medizin im Umfeld der steigenden Industria­lisierung

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und den damit einhergehenden Epidemien (v. a. der Cholera und Tuber­kulose). Die genaue Beobachtung der Phänomene, deren präzise Beschreibung, die notwendige Hygienisierung, vorangetrieben durch ein öffentliches Gesund­heitswesen, das große Epidemien nicht mehr hinnehmen möchte, sowie eine neu­zeitliche Wahrnehmung von Krankheit bereiten den Boden für eine Ablöse der antiken Doktrin. Die mit Koch und Pasteur in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhun­derts einsetzende mikrobiologischen Wende der Medizin, welche die Disziplin von einer Geistes- zu einer Naturwissenschaft werden lässt, bereitet der Medikali­sierung der Gesellschaften vollends den Boden und lässt die Medizin zu jener hochgradig ausdifferenzierten Naturwissenschaft avancieren, die wir heute ken­nen.

2.3 Medienwandel und Medienwechsel Kommunikative Handlungsmuster bilden sich stets auf der Grundlage der vor­ handenen medialen Möglichkeiten aus und determinieren deren Entwicklung gleichermaßen mit. In unserem Beobachtungszeitraum kommt es zu zahlreichen Wandelerscheinungen, z. B. zur Erschließung kostengünstiger Beschreibstoffe (z. B. Papier ab dem 11.  Jahrhundert) oder zur Entstehung der audiovisuellen Medien, aber nur zwei Phasen verändern die zentralen Dispositive der menschlichen Sinnge­bung dergestalt, dass man von einem Medienwechsel, d. h. einer fundamentalen Neuorientierung sprechen kann. Dies sind einerseits die Erfindung des Buchdrucks und die nachfolgenden Jahrhunderte der Typographisierung, die den Wechsel vom Manuskript zum Buch mit sich bringen und wesentlich bahnbrechender die Neuorientierung der Gesellschaften an der Schriftlichkeit bewirken. Andererseits ist dies der derzeit noch Platz greifende Wechsel von der Druckkultur zur com­putervermittelten, digitalen Kommunikation und ihren Praktiken (digital turn). Beide Wechselphasen haben deutliche Auswirkungen auf die Quantität und Qua­lität medizinischer Textsorten, u. a. auch auf die Multimodalität der Kommuni­kate, aber auch deren Kosten und damit Verfügbarkeit (vgl. Eckkrammer 2004). Zudem gilt es die an die medialen Bedingungen geknüpften Praktiken und Kompetenzen zu berücksichtigen. So hatten während des Mittelalters in der Regel nur die Gruppe der akademisch Gebildeten sowie der Klerus Lesekompetenzen. Textkompendien mit kondensiertem Wissen entstehen ab dem späten Mittelalter auch zunehmend für praktische Zwecke und dehnen sich auf die nicht akademisch gebildete Gruppe (z. B. Chirurgen) aus, wobei in der Regel angesichts der spezifi­schen mnemotechnisch ausgelegten Vertextung von einer mündlichen Weitergabe auszugehen ist (z. B. die multimodalen Darstellungen des Wundenmanns und des Pestlassmännchens). Im Zuge der Literalisierung und Typographisierung (vgl. Raible 2006) ändert sich auch der Umgang mit dem Bild­ma­terial. Einerseits lässt sich ein höheres Maß an Präzision und Uniformität bei der Herstellung der zunächst hölzernen, später metallischen Druckformen beobachten. An­dererseits zeigt sich, dass es bei der Übertragung

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der Bilder den Druckern oftmals an Sorgfalt mangelt, z. B. kommt es häufig zu Inversionen. Dennoch manifestiert sich vor allem ab dem 16. Jahrhundert ein Anstieg bei der Bebilderung, der auch die Entwicklung der Dis­ziplin antreibt, u. a. auch durch die Möglichkeit des Sezierens von Leichen. Das Bild ersetzt vor allem in der Anatomie die verbale, oftmals verzerrende Ebene, und erlaubt einen direkten Zugang zu den Inhalten (vgl. Ong 1995). Die beiden Codes stellen sich in der ty­pografischen Kultur konventionell aufei­nander ein (vgl. dazu Giesecke 1980) und ermöglichen in ihrem Zusammenspiel eine intensive Entwicklung der Disziplin. Gleichwohl lässt sich im 18. und 19. Jahrhundert stellenweise auch eine deut­liche Dominanz des Verbalen beobachten, das sich nunmehr nicht mehr ontologi­schen Organisationsschemata verpflichtet fühlt (wie in den mittelalterlichen Traktaten a capite ad calcem, vom Scheitel bis zur Sohle), sondern immer mehr dem alphabetischen Schema, das vor allem im Bereich der kompilatorischen Be­schreibungen zum zentralen textuellen Ordnungsmodell avanciert (vgl. 3.3.). Diese Ordnungsmuster bleiben auch im Hypertext erhalten, genießen jedoch nicht mehr die vorherige Exklusivität. Denn die digitale Wende erlaubt durch den Schritt vom Bit zum Byte engmaschige Relationen zwischen Text und Bild sowie bewegte Texte. So basiert ein anatomisches Manual im Web heute durchaus be­reits auf einem dreidimensionalen Körpermodell, das die Abschichtung verschie­dener Ebenen (Haut, Muskeln, Blutgefäße, Knochen) erlaubt, um in das Innere des Körpers zu sehen. Der gläserne Mensch, der noch im 20. Jahrhundert mit auf­wändig präparierten Körpern oder technisierten Glasmodellen greifbar gemacht wurde, kann in aktuellen Webanwendungen nach individuellem Belieben abge­tragen und vergrößert, durchleuchtet und gedreht werden, stets begleitet von der adäquaten verbalen oder audiovisuellen Zusatzinformation. Die Beschäftigung mit Fachtextsorten der Medizin erzwingt damit stets die Mitberücksichtigung der medialen Bedingungen und der beiden Medienwechsel im Besonderen.

2.4 Klassifikationsmodelle medizinischer Textsorten Die Klassifikation von Textsorten ist ein Unterfangen, das  – wenngleich seit den 1980er Jahren mit Vehemenz betrieben  – keiner befriedigenden Lösung zugeführt werden konnte. Zumeist konkurrieren inhaltsbezogene mit theoriebezogenen Modellen. Im Kontext der theoretisch konturierten Ansätze beobachten wir in der Regel wiederum eine Unterscheidung von textpragmatischen (u. a. nach kommu­nikativer Situation, Interaktionspartnern), funktionalen und formalen Kriterien. Während bei der funktionalen Differenzierung nach wie vor auf die bei Jakobson (1960) differenzierten Textfunktionen zurückgegriffen wird, kann im formalen Bereich sowohl die Makro- als auch die Mikroebene herangezogen werden. Dass sowohl die Textstruktur als auch die konkreten sprachlichen Merkmale von der Pragmatik und der Funktion der Textsorte abhängen, aber auch gleicher­maßen

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themengebunden sind, liegt auf der Hand. Auf diese Weise wird deutlich, dass jeglicher Ansatz, der den medizinischen Textsorten in ihrer Gesamtheit ge­recht werden will, integrativ sein muss, d. h. sowohl funktionale und formale, als auch pragmatische und inhaltliche Kriterien berücksichtigen muss. Aus zeitgenössischer nicht jedoch historischer Perspektive dürfen die medi­ zinischen Textsorten der Naturwissenschaft/Technik zugeordnet werden, die Heinemann (2001, 309) auf der Ebene der Fachtexttypen in juristisch-normative, fortschrittsorientiert-aktualisierende, didaktisch-instruktive sowie wissenszusam­ menstellende Texte unterteilt. Die Grenzen zwischen den einzelnen Typen schei­nen bereits auf den ersten Blick unscharf und bleiben es auch über die verschie­denen graduellen Abstufungen hinweg (vgl. Heinemann 2001). Es empfiehlt sich deshalb vielmehr ein Verschneidungsmodell, das abseits einer Zuordnung von Texttypen das Textsortenfeld zwischen Theorie- und Verteiler­ebene als Kontinuum liest, in das ausgehend von funktionalen und pragmatischen Kriterien die Wahrscheinlichkeit bestimmter textueller Strukturen und sprachli­cher Formen bestimmt werden kann. In Anlehnung an Sabatini (1990) könnte hier auch die Bindungskraft eines medizinischen Fachtextes auf funktional-pragmati­scher Ebene herangezogen werden. Auf diese Weise spannt sich das Kontinuum von Gesetzestexten (z. B. Ärztegesetz, Arzneimittelgesetz) mit der höchsten Bindungskraft, über den ge­samten Bereich der wissenschaftlichen und instruktiven Textsorten, denen eine mittlere Bindungskraft zukommt, bis zur Divulgationsebene, auf der ExpertInnen mit Laien kommunizieren oder Laien, die in einem bestimmten Bereich aufgrund von Betroffenheit eine hohe Expertise entwickelt haben, mit ihresgleichen.

3 Diachronische Entwicklungslinien medizinischer Textsorten Die Genese der Vertextungskonventionen medizinischer Textsorten erfolgt als sprachenübergreifender Prozess, so dass die Mehrsprachigkeit der kommunikati­ ven Haushalte der Gesellschaften (vgl. Luckmann 1988) und insbesondere der Fächer ebenso von Bedeutung ist wie Übernahme- und Translationsprozesse. Die konkreten Formen der Übersetzung, wenngleich diese keinesfalls die einzige Mög­lichkeit intersprachlicher generischer Übernahmen darstellt, spielen in den Ausgliederungsprozessen eine zentrale Rolle. Erst im Zuge der fortgeschrittenen Vernakularisierung entstehen eigenständige Textsorten. Der antike medizinische Diskurs, d. h., die übergeordneten Praxen des Sprechens und Schreibens in der Medizin, bildet gemeinsam mit den hinzutretenden arabischen Kommentaren und Mustern formal wie inhaltlich das Dispositiv, vor dem sich die einzelsprachlichen Kommunikationsmuster formen. Albrecht (2003) betont die Unwahrscheinlichkeit einer Polygenese von Dis­ kurstraditionen innerhalb der europäischen Einzelsprachen:

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Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, daß die Imitation von Diskurstraditi­onen auf dem Wege von Übersetzung im engeren und im weiteren Sinn die üb­lichste Form der Beein­flussung von Zielsprachen darstellt. Sprachwandel im enge­ren Sinne liegt erst dann vor, wenn eine Diskurstradition nicht nur in der Diskurs­tradition auftritt, innerhalb derer sie ent­standen ist. Die Kategorie des „Diskurses“ ist das trojanische Pferd, in dessen Bauch sich er­oberungslustige Krieger befinden, „Diskurstraditionen“, die die Sprachen, in die sie eindrin­gen, von innen her umge­stalten (Albrecht 2003, 51).

Damit wäre der medizinische Diskurs im Foulcault’schen Sinne als Gesamtheit der sozial, fachlich wie inhaltlich konturierten kommunikativen Praktiken jener Rahmen, in dem sich medizinische Textsorten herausbilden und fortentwickeln. Die Textsorten bilden dabei hierarchische Verhältnisse ebenso ab wie heterogene Wissensstände. Die Hierarchien betreffen gleichermaßen die Ebene der sprachli­ chen Muster: So gelten die kommentierten arabischen Konvolute im Mittelalter als Wissenskerne, während man sich in der Renaissance von ihnen abwendet, um eine direkte Rezeption der griechischen Originale ins Auge zu fassen. Überdies ist davon auszugehen, dass die Schreiber der jeweiligen Versionen auch strukturelle Anpassungen an bekannte (abendländische) Muster vornehmen und damit hyb­ride Strukturen entstehen, die sich in der Folge etablieren. Für die Einzelsprache kann damit parallel zur monogenetisch auf die Rezeption der antiken Texte in mittellateinischen Formen ausgerichteten Sichtweise von einer Polygenese ausge­gangen werden. „Somit könnte auch der Nachweis der Entste­hung nicht-ge­mein­romanischer Diskurstraditionen“, so vermutet Albrecht (2003, 52) für die Roma­nia, „als Kriterium für die endgültige Verselbstän­digung der betreffenden romani­schen Sprache herangezogen werden.“ Kommunikatives Handeln in der Medizin ist damit über die Jahrhunderte hinweg ein sprachenübergreifender Prozess, in dessen Mittelpunkt zunächst die griechischen, lateinischen und arabischen Formen in ihren jeweiligen Übertra­gungen stehen. Diese bilden nicht nur das Dach, sondern im Falle des Lateini­schen eine kontinuierliche Reibungsfläche, deren Ablöse erst mit dem Nieder­gang der mittellateinischen Fachkommunikation und dem Erstarken der Verna­kularsprachen erfolgt. Neben die einzelsprachlichen Textsortentraditionen tritt als fachliche lingua franca ab dem 17. Jahrhundert nach und nach das Französische (und punktuell im 19.  Jahrhundert das Deutsche) auf, bis es Mitte des 20. Jahr­hunderts durch das Vordringen der englischen Wissenschaftssprache auf der Theo­rieebene zu einem neuen Referenzpunkt kommt. Das Englische bildet heute die entsprechende diskursive Reibungsfläche, welche eine Umgestaltung der Sprachen bedingt, v. a. bei der Erweiterung um neue fach­ sprachliche Register. Dabei beobachten wir erstmals auch die immer stärkere sprachspezifische Ausdif­ferenzierung der Theorie-, Werkstätten- und Divulgationsebene, verbunden mit der Gefahr, dass, wenn über bestimmte hochspezialisierte Inhalte gar nicht mehr im Deutschen, Dänischen oder Spanischen gesprochen und geschrieben wird, sondern ausschließlich in englischer Sprache, die betreffenden Register und Ter­minologien gar nicht mehr entstehen. Insofern steht heute die Gefahr der Entver­ nakularisierung im Raum, die deshalb als Gefahr zu werten ist, da die Werkstät­ten-

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und Divulgationsebene der Theorieebene bedürfen, um sich fruchtbar entwi­ckeln zu können. Dies verdeutlicht auch die nachfolgende kondensierte Darstel­lung der Epochen.

3.1 Das Mittelalter: Vernakularisierung im Manuskriptzeitalter Wenngleich wir die kommunikativen Haushalte des Mittelalters und deren Formen und Inhalte aufgrund des hohen Maßes an Alterität nicht vollends durch­dringen können, lassen die überlieferten Textsorten selbst doch einige Schlussfol­gerungen zu und untermauern die Annahme, dass die Übernahme antiker Dis­kurstraditionen via Übersetzung einen zentralen Baustein für die mittelalterlichen Textsorten bildet. Medizinische Textsorten basieren im Mittelalter auf antiken Quellen, die über komplexe Rezeptions- und Übersetzungsprozesse ins arabische und in der Folge europäische Mittelalter überliefert werden, wobei die iberische Halbinsel und Süditalien eine Schlüsselrolle spielen. Die Übersetzungen der antiken Schriften der Griechen und Römer (v. a. Hippokrates und Galen) durch arabische Gelehrte und Kommentatoren transportieren Lexeme, idiomatische Strukturen, Textmus­ter wie auch die betreffenden Denkmuster. Diese lösen sich erst allmählich aus den Textsorten heraus, ziehen eigenständige Ausgliederungsstränge nach sich und entwickeln sich in den Einzelsprachen – im Zuge eines fortschreitendenden Ver­nakularisierungsprozesses – weiter. Dadurch entsteht in der mittelalterlichen Me­dizinkultur ein Spannungsfeld zwischen Universalität und Lokalität, wobei die Mittlerrolle des Mittellatei­nischen und Arabischen für die jeweiligen Volkssprachen ebenso evident ist wie die Originalquellen selbst, deren direkte (Teil)Erschließung zumeist erst in der frühen Neuzeit erfolgt (vgl. 2.2.). Überdies lässt sich feststellen, dass bereits im späten Mittelalter die fach­ sprachlichen Ebenen der Theorie, der Werkstätte und der Divulgation  – wie sie Ischreyt (1965) in seinem dreiteiligen Modell unterscheidet – nachweisbar sind. Das medizinische System ist dabei jedoch anderen Prämissen unterworfen als heute (vgl. 2.2.). Gleichermaßen darf Literalität im Mittelalter nur für einen sehr kleinen Anteil der Bevölkerung vorausgesetzt werden (vgl. 2.3.). Auffällig ist, dass zwischen den verschiedenen fachsprachlichen Ebenen Wechselwirkungen nach­weisbar sind, die zumeist durch sprachliche Übertragungen eingeleitet werden, d. h., Teile berühmter Rezepte bzw. Rezeptsammlungen oder Arzneibücher finden den Weg in die Theorieebene, Traktate werden dahingegen für den laienmedizini­schen Kontext vernakularisiert. Die Ebenen sind durchlässiger als dies heute der Fall ist, wobei für das arabische Mittelalter eine breitgestreute Leserschaft als erwiesen betrachtet werden darf (vgl. Conrad 1995). Conrad (1995, 122) berichtet alleine für die Türkei von über 500 überlieferten medizinischen Manuskripten in Arabisch, Türkisch und Persisch, die über 100 Werke und über 400 Autoren ab­decken, wobei alleine 50 davon vollständige oder teilweise Überlieferungen des „Qanun“ des Ib Sina bzw. Avicenna sind.

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Auch Keil (1989, 185) bestätigt, dass „medizinische Werke zu den verbrei­tetsten mittelalterlicher Literatur“ zählen. Dies gelte im Besonderen für die deut­sche Sprache, aber auch für das Englische (vgl. Taavitsainen/Pahta 2004). Beide Sprachen warten bereits vor den romanischen Sprachkulturen mit volkssprachli­chen Medizin(teil) texten auf, die bis ins 8. Jahrhundert zurückreichen. Zumeist handelt es sich um einfache Rezepte für Heilmittel oder kurze Anweisungen zur Heilung bestimmter Symp­ tome, wobei es sich oftmals, wie etwa bei den Basler Rezepten (vgl. Eis 1962), um lateinische Texte handelt, in die volkssprachliches Wortmaterial hereingenommen wird. Dabei sind bereits formelhafte Diskurs­traditionen nachweisbar, die sich bis weit ins 18. Jahrhundert halten, z. B. die Formulierung „reib bis es blute“ für das Aufreiben einer kranken Stelle (vgl. Eis 1962, 57). Neben den Rezepten, die sich im Hochmittelalter in allen großen europäi­ schen Sprachkulturen etablieren, finden sich vor allem Traktate bzw. Kurztrak­tate, eine Textsorte, die im mittelalterlichen Fachschrifttum mit divergenten The­matiken und Strukturen mit hoher Frequenz auftritt (vgl. Werthmann-Haas 1983, 15). Hinzu kommen allgemeine Medizinbücher, die sich an der gängigen impli­ziten Dialogstruktur (Quaestiones) orientieren. Beispielhaft seien hier etwa Hunains „Fragen zur Medizin“ (vgl. Conrad 1995) oder „Medizinische Fragen“ genannt, die bereits im 11. Jahrhundert latinisiert werden und in der lateinischen Version eine neuartige Struktur aufweisen. Besonders populär sind auch Arznei­bücher wie etwa das Würzburger Arzneibuch, ein Lehrbuch der Allgemeinmedi­zin. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Wissensaufbereitung auf medizinischem Sektor keineswegs allein aus dem akademisch-lateinischen Bereich heraus in die Landessprache er­folgt, sondern dass sich seit dem 14. Jahrhundert auch gegenläufige Bewegungen fest­stellen lassen, wobei es durchaus zu den gängigen Beobachtungen gehört, dass die (Rück-)Übertra­gung ins Lateinische mit einem Informationsverlust einhergeht, der den akademi­schen Text gegenüber seiner volkssprachigen Vorlage geradezu ausgedünnt erscheinen lässt: Ortolfs „Wundenmann“ gibt dafür ein Beispiel (Keil 1993, Xvii).

Die Ausfaltung der einzelsprachlichen Textsortenkonventionen kann damit als Produkt eines Wechselspiels zwischen verschiedenen Sprachkulturen und Fach­ lichkeitsebenen gesehen werden, wobei der Vernakularisierungsprozess kein einseitiges Unterfangen darstellt. An der Schwelle zur Neuzeit treffen wir damit auf eine Fülle an medizini­schen Inkunabeln und Manuskripten, welche Versatzstücke medizinischen Wis­sens unter stetigem Verweis auf die antiken und arabischen Meister kombiniert in Traktaten und Rezeptsammlungen, in – oftmals laienmedizinisch und didaktisch orientierten – Arznei- und Medizinbüchern, in kondensierten Wundenmanndar­ stellungen oder in klar strukturierten Regimina darbieten. Dabei ist gerade bei wirkungsmächtigen Texten ein Oszillieren zwischen den verschiedenen Ebenen der Fachlichkeit offensichtlich (vgl. Keil 1993).

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Für die einzelnen Sprachkulturen lassen sich jeweils besonders einflussreiche Schriften festmachen (für das Spanische etwa Chirinos „Me­nor daño de la medi­cina“ oder für das Deutsche auch das „Deutsche salernitanische Arzneibuch“), deren Textstrukturen sich in der Folge als besonders einflussreich erweisen. Der Schock der Pest von 1348 und den Folgejahren sitzt tief und treibt sowohl die Vernakularisierung medizinischer Texte als auch unterschiedliche Eingriffe der Obrigkeit voran. Zahlreiche Gutachten, Sendbriefe, Pestbriefe, Pestregeln, Pest­belehrungen etc. zeugen von diesen Entwicklungen. Im ausgehenden Mittelalter, als eine neue Perzeption von Krankheit langsam Platz greift (vgl. 2.2.), rücken Anleitungen zum gesunden Leben, die sogenannten Regimina deutlich in den Fokus und diversifizieren sich. Diese sollen auch für die frühe Neuzeit noch cha­rakteristisch bleiben.

3.2 Neuzeitliche Entwicklungen der frühen Druckkultur Während die Vernakularisierung der medizinischen Textsorten im Mittelalter weitgehen funktional-pragmatischen Prämissen zu folgen scheint, wird die Nut­zung der Volkssprachen in der frühen Neuzeit zunehmend zum Politikum. 1540 fordert die Florentiner Akademie explizit, dass alle Wissenschaften in die Volks­sprache zu übertragen sind (vgl. Kalverkämper 1998b, 311). Ähnliche Ansätze manifestieren sich auch in anderen europäischen Sprachgemeinschaften, mit dem erklärten Ziel, die Volkssprachen in ihrer fachlichen Ausdruckkraft auf das Ni­veau des Lateinischen zu heben. Die fachsprachlichen Register der Volkssprachen werden nicht zuletzt dadurch beim Übergang zur Renaissance intensiv ausgebaut. Auch das Studium des Griechischen erlebt eine Renaissance (vgl. Herlihy 1998), ein Faktor, der vor allem für die sich herausbildende medizinische Fachtermino­logie aber auch für die Textstrukturen, bei denen nunmehr auf Originale rekurriert wird, von Bedeutung ist. Die zahlreichen Universitätsneugründungen (v. a. nörd­lich der Alpen) bewirken zudem eine Lockerung des interna­tionalen Zusammen­haltes im Fach, der im Mittelalter durch die Dominanz einiger transnationaler Bildungszentren stets manifest war. Die einzelnen Sprachkulturen werden durch die nunmehr stärker national geprägten Stu­dentenschaften der jeweiligen Univer­sitäten stärker und bereiten der Herausbildung der fachsprachlichen Register der Volkssprachen einen fruchtbaren Boden. Das Lateinische bekommt als Lehr- und Wissenschaftssprache zunehmend Konkurrenz. Diese Entwicklung wird durch den Schwenk des reformierten Klerus zur Vernakularsprache nochmals verstärkt sowie durch die intensiven Alphabetisie­ rungsbestrebun­gen und die Bedürfnisse eines wachsenden Lesepublikums. Text­ verständlichkeit wird zu einer prioritären Forderung, wodurch sich interessanter­weise die Entwicklung des Mittelalters umkehrt und die romanischsprachigen Länder die Vernakularisierung besonders rasch vorantreiben.

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At the end of the sixteenth century, the situation regarding medical books varied from coun­try to country. Treatises on food hygiene and healthy living were common in all lan­guages. By contrast English and German doctors remained faithful to Latin (the latter until the twen­tieth century), while in France, French was the main language of medical treatises (Sournia 1992, 257).

Grundlegende Verbesserungen in der Qualität der Heilbehandlung sowie der allgemei­nen medizinischen Versor­gung der Bevölkerung bringt die Neuzeit je­doch nicht mit sich. Das durch das Ende der monastischen Medizin entstandene Vakuum (vgl. 2.2.) lässt sich durch die Zunahme an medizinischen Ordnungsäm­tern (mit Stadt­ ärzten und spezifischen Reglements v. a. bei Epidemien) und Kran­kenhäusern nicht abfangen, so dass der Zugang zu schriftsprachlichen Informa­tion und Instruktion an Bedeutung gewinnt. Shortcomings in institutional medical provision in England and elsewhere may have been counterbalanced by the growth, thanks to the development of printing, of writings popu­lari­zing health advice. These sprang largely from the regimen and hygiene traditions incor­po­ra­ted within the Salernitan Regime. Such works, stressing the non-naturals, instructed readers to monitor their constitutions (Porter 1997, 198f).

Auf diese Weise zirkulieren im 16. Jahrhundert und darüber hinaus neben den angestammten mittelalterlichen Traktaten, Arzneibüchern und Rezeptsammlun­gen immer spezifischere Schriften, z. B. im Bereich der Geburtshilfe und Säug­lingspflege. Als erstes nicht-lateinisch ver­fasstes Lehr- und Ratgeberbuch für Frauen und Hebammen erscheint etwa in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts „Der Swangern Frawen under Hebammen Rosengarten“ von Eucharius Rößlin, ein Buch, das bis weit ins 18. Jahrhundert Verwendung findet (vgl. Eis 1962, 38). Das Werk stellt nach Eis (vgl. 1971, 533) das meist­übersetzte Buch der älteren deutschen Lite­ratur dar. Die genauen Rezeptionswege sowie das Lesepublikum des Werkes sind jedoch bis heute umstritten, wenngleich typisch für das 16. Jahrhundert ist, dass nunmehr die Volkssprache zum Ausgangspunkt wird und erst nachzeitig eine lateinische Version angefertigt wird. In jedem Fall kann die Renaissance, wie Sournia (vgl. 1992, 256) hervorhebt, als ambivalente Epoche zwischen gesellschaftlichem Wissensdurst und einer in der antiken Doktrinen erstarrten akademischen Medizin, die sich mittels des Lateini­ schen abriegelt, betrachtet werden. Es häuft sich Kritik an dieser Kluft, v. a. sei­tens verschiedener Vordenker wie Paracelsus (1493–1541) oder Wilhelm Fabry von Hilden (1560–1634). Erstgenannter fordert explizit die Verwendung des Deut­ schen ein. Dennoch wird es in dieser Zeit nicht für die neuzeitlichen Verwen­dungszwecke funktionstüchtig gemacht und gattungstechnisch ausgebaut wie dies etwa beim Spanischen, Italienischen oder Englischen der Fall ist (vgl. Steger 1984, 198). Bedeutungsvoll wird hingegen die Wiedererschließung der antiken (griechi­ schen) Originalquellen, da die arabischen Kommentatoren und Übersetzer als veraltet und im mittelalterlichen Denken verhaftet kategorisiert werden. Die Heil­kunde der Renaissance erschöpft sich damit mit wenigen Ausnahmen in einem philologischen

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Quellenstudium des Galenismus. Dies kommt auch den politi­schen Entwicklungen nach dem Fall des Nasridenreichs entgegen, verstellt jedoch den Blick auf notwendige Neuerungen, z. B. die anatomischen Erkenntnisse des Vesal. Beispielhaft sei hier auf Jakob Sylvius (1478–1555) verwiesen, der die anatomischen Darstellungen von Vesal mit jenen Galens vergleicht und dabei stets dem antiken Meister Recht gibt, d. h. die sezierten Leichname als defekt qualifiziert (Porter 1997, 171). Die neu hinzukommenden Textsorten der Consilia und höfischen Ratge­ber vermögen an dieser Starre wenig zu verändern und halten an etablierten Kom­munikationsmustern fest. Aber auch die populären Almanache, Lunare und Ka­lender perpetuieren überliefertes medizinisches Wissen.

3.3 Die Ausfaltungsphase im Zuge der Typographisierung und Aufklärung Als die Gesundheit den Idealen der Aufklärung unterworfen wird, erfahren vor allem Divulgationsschriften große Po­pularität. Unterschiede zwischen den ver­schiedenen Ebenen der Fachlichkeit manifestieren sich dadurch mit wachsender Deutlichkeit. Medizinische Hausbücher (im Englischen als Domestic Medicine betitelt), die als in medizinischen Dingen verlässlicheres Pendant der Volksalma­nache gelten, bleiben zwar zunächst noch mit magisch-religiösen Inhalten durch­setzt, trennen sich jedoch immer mehr von diesen und werden sehr populär. Ei­nige Exemplare erfahren eine über eine einzelne Sprachgemeinschaft hinausrei­chende Rezeption. Das „Avis au peuple sur sa santé“ betitelte Hausbuch des schweizerischen Calvinisten SamuelAuguste Tis­sot (1728–1779) aus dem Jahr 1761 übt nachhaltige Wirkung auf die Text­ sorte aus (vgl. Ramsey 1992, 110). Das Zielpublikum bleibt heterogen und umfasst neben der ärmeren Landbevölkerung v. a. auch weiterhin die heilkundlichen Praktiker wie Bader, Wundärzte oder Hebammen. Oftmals ist ein medizinisches Hausbuch neben einem Andachts- bzw. Gebetsbuch das einzige Druckwerk in ländlichen Haushalten, wobei vielfach weiterhin ein lesekundiger Mittler notwendig ist. Volksalmanache bieten punktuell ebenfalls noch medizinische Informationen dar, wandeln sich jedoch – angesichts der Konkurrenz der periodischen Presse – zunehmend zu Schriften, die vor allem der Verbreitung aufklärerischer Ideale dienen (vgl. Greilich 2002). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts steigt die Literalisierung zunehmend an. Medizinische Ma­nuale und Handbücher erfreuen sich großer Popularität und drängen die frühneu­zeitlichen Consilia in den Hintergrund. Während der Praxisbezug der laienmedi­zinischen Werke deutlich zunimmt, bilden sich in akademischen Kreisen neben den angestammte Traktaten, Lehrbriefen und Lehrgedichten fachliche Textsorten heraus, die in der Tradition der Enzyklopädie stehen. Textstrukturell ist für diese Zeit ein Siegeszug des Alphabetschemas abzule­sen, d. h. von ikonisch-ontologischen Strukturmustern wird weitgehend abgegan­gen und

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die wachsenden Informationsmengen werden, nicht zuletzt um den Wer­ken enzyklopädischen Charakter zu verleihen, nach alphabetischem Muster auf­gebaut (vgl. Gutiérrez Rodilla 2001). Nachteilig ist allenfalls, dass die Universitä­ten im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend auf die Lehre reduziert werden, während die Forschung an neugegründeten wissenschaftlichen Akademien stattfin­det. In dieser Zeit wird die antike Säftelehre bereits punktuell hinterfragt, z. B. durch Morgagnis „De sedibus et causis morborum“ von 1761, das in der Folge auch auf Französisch, Englisch und Deutsch erscheint. Die Kluft zwischen dem fachinternen Schrifttum und den durch die Druck­ technik sowie den Zeitgeist begünstigten fachexternen Schriften wächst in dieser Zeit er­heblich, nicht zuletzt da sich parallel zu den genannten Prozessen in der gelehr­ ten Welt auf gesellschaftlicher Ebene erste systemati­sche Eingriffe im Sinne eines öffentlichen Gesundheitswesens abzeichnen. Teilhabe am Wissen durch Aufklärung des Volkes wird zum Programm, so erscheinen zunehmend periodische Publikationen wie die Breslauischen Sammlungen (ab 1718) oder Einzelwerke wie der „Gesundheits-Katechismus“ von Bernhard Christoph Faust (1794). Letzterer erfährt bis 1830 deutschsprachige Auflagen und wird in sieben Sprachen übersetzt.

3.4 Die umfassende Medikalisierung und Wende zur Naturwissenschaft Als die Humoralpathologie im 19.  Jahrhundert zunehmend einer Solidarpathologie weicht, mutiert die Gesundheit vollends zu einem Gegenstand der Politik, was deutliche Auswirkungen auf das Textsortenspektrum hat. Angetrieben durch gesellschaftliche Entwicklungen, v. a. der Industrialisierung und der mit ihr ein­hergehenden Landflucht, wird insbesondere der städtische Mensch zunehmend von einem medizinischen System erfasst, instruiert und angeleitet, während auf dem Land Ärzte noch lange eine untergeordnete Rolle spielen. Nicht akademische Heilberufe werden zunehmend akademisiert, die universitäre Fachausbildung grundlegend reformiert, wobei die akademische Medizin in das Terrain der Chi­rurgen und Wundärzte vordringt. Die Chirurgie wird als akademisches Fach ka­nonisiert. Das medizinische System tritt dem Menschen auf der Textebene in unter­ schiedlicher Weise entgegen: Der Arzt als Vertreter einer anerkannten und regle­ mentierten Profession kommuniziert und untersucht. Er zieht seinerseits seine Erkenntnisse aus entsprechenden Manualen und Lexika sowie aus periodisch erscheinenden Fachpublikationen. So erscheint z. B. ab 1864 die Berliner Klini­sche Wochenschrift und ab 1875 die Deutsche Medizinische Wochenschrift, ge­folgt von einer stetig wachsenden Fülle fachinterner Periodika. Die laienmedi­zinische Textualität des 19. Jahrhundert reagiert auf diese Entwicklung, indem sie zunehmend die Rolle des Arztes hervorkehrt und bestimmte Einschätzungen und Maßnahmen expli-

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zit an ihn delegiert, die praktisch orientierten Anteile der Rat­geber nehmen ab (vgl. Eckkrammer 2005). Die gesteigerte Methodizität und die Entwicklungen in der Optik ermöglichen Pionieren wie Koch und Pasteur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erste bakteriologische Nachweise, welche die Bildlichkeit der Texte nachhaltig prägen wird. Umfangreiche Schriften in Buchform entstehen auf allen drei Fachlichkeitsebenen: Theoretische Abhandlungen, Instruktionen, Hygienemanuale, Ratgeber, medizinische Lexika und Hausbücher, während Consilia, Almanache und Regimina ebenso wie Arzneibücher mehr und mehr verschwinden. Das 20. Jahrhundert bringt eine weitere Ausfaltung in Richtung kleinerer Schriften (v. a. Pamphlete, Broschüren, Plakate) sowie Periodika mit sich und im laienmedizinischen Bereich vollends die Wende von der Praxis zur Theorie. Komplexe Inhalte werden reich bebildert und zielgruppenspezifisch erklärt. Die entsprechenden Druckwerke mutieren zu kostengünstig herstellbaren Gütern, die von öffentlichen Instanzen oder karitativen Vereinigungen massenhaft verteilt werden, um Volksaufklärung zu betreiben. Die gesellschaftliche Funktion der Medizin bzw. die Erwartungen, die an das Fach geknüpft werden, spiegeln sich in den Textsorten deutlich wieder. So treffen wir gerade in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts (zumeist im Fahrwasser poli­ tischer Entwicklungen) auf eine Fülle an „volksaufklärerischen“ Medizintextsor­ten, die sich durch die neuen medialen Möglichkeiten stark ausdifferenzieren. Neben Aufklärungsschriften, v. a. zu ansteckenden Krankheiten (insbesondere Geschlechtskrankheiten) und körperlicher Ertüchtigung, zeugen (sozialhygie­nisch) orientierte Radio- und Filmbeiträge sowie Wanderausstellungen, welche etwa die Begehung von Mikroben ermöglicht, von einer neuen Vermittlungskul­tur, die im Zuge des digital turn neue Ausprägungen erfährt. Eine umfassende Demokratisierung des Wissens ist nicht aufzuhalten.

3.5 Demokratisierung des Wissens und Interaktion: Effekte des digital turn Während das Fach in seiner uneingeschränkten Fortschrittsutopie stetig neue Subdisziplinen ausbildet und auf der Ebene des Theoriediskurses enorme Text­mengen erzeugt, weiterhin v. a. in der Form von Fachzeitschriftenartikeln und kompilatorischen Textsorten wie Lexika und Manualen, tritt Ende des 20.  Jahr­hunderts eine gewisse Ernüchterung ein. Die oftmals als reparaturmedizini­sch geltenden Ansätze der naturwissenschaftlich geprägten Schulmedizin geraten in die Kri­tik und geben alternativen Ansätzen Raum, die ganzheitliche Herangehensweisen einfordern. Frappierend ist für diese letzte Phase die Zugänglichkeit und Vielfalt des medizinischen Wissens und die Interaktivierung des Textsortenrepertoires in hypertextuellen Umgebungen, die durch den digital turn möglich wird. Die durch die neuen

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putergestützten Kommunikationstechnologien und globalisierungsbedingten com­ Veränderungen entstehenden sozio-kommunikativen Praktiken des Cyberspace (vgl. zu den Folgen u. a. Barton 2001) führen zu einer umfassenden Erweiterung des Text­ sortenspektrums. Medizinische Webgenres replizie­ren zunächst vor allem vorhandene Textsorten (z. B. Fachartikel, Ratgeber, medizinische Lexika etc.), um diese in der Folge zu variieren, teilweise bis zur Entstehung neuer Textsorten (vgl. Crowston/Williams 1997). Das hypertextuelle Konzept und neue Kommunikationsformen des Internets, u. a. Foren, Videotele­fonie, E-Mail, Internet Relay Chat, Instant Messaging, wirken dabei katalysato­risch. Häufig koexistieren sie in umfassenden Gesundheitsportalen (z. B. Onmeda) und beginnen aufeinander zu wirken. Die Cyberkonsultation, d. h. die Anamnese und Diagnose via Experten-Laien-Netzinteraktion, führt etwa zur Variation des ver­traulichen Arzt-Patient-Gesprächs. Dieses wird zur interaktiven ChatSprechstunde oder multimodalen medizinischen Informationsveranstaltung mit Live-Stream aus dem Operationssaal. Inwiefern dadurch eine Anonymisierung und Entpersonalisierung Platz greift, welche das klassische Sender-Empfänger-Modell auflöst, ist fraglich und wirft gleichermaßen die Frage auf, ob das Generizitätspostulat (vgl. Stempel 1975, 175) unter diesen Bedingungen noch erhalten bleiben kann. Eine Zentralisierung der Identität ist im Web 2.0 zwar angelegt, führt jedoch noch lange nicht dazu, dass in verschiedenen digitalen Kommunikationsformen keine Anonymität mehr herrscht. Gerade Hypertextsorten wie medizinische Hilfeforen operieren mit einem hohen Maß an Anonymität und in vielen Fällen erlaubt gerade diese Anonymität das Funktionieren der Kommunikation (z. B. bei tabuisierten Themenbereichen). Es entstehen Nutzer-Gemeinschaften, in denen sich die Interaktanden respektieren und vertrauen, mit Informationen und Tipps versorgen, Trösten und Mut machen. Ziehen wir die Kommunikationsform als zusätzliche Ebene ein, welche formal auf die Vertex­tung Einfluss nimmt, bleibt es funktional bei kommunikativen Handlungsmustern mit klaren Konturen, deren Musterhaftigkeit in abgrenzbaren Einheiten (z. B. hypertextuellen Sub- und Teiltextsorten) beschrieben werden kann. Insofern lassen sich medizinische Online-Interaktionen und Kommunikate in den um die Ebene der Kommunikationsform erweiterten Textsortenkategorien fassen und analysieren, wenngleich ein deutlicherer Fokus auf die interaktionale Ebene gelegt werden muss.

4 Schlussfolgerungen Die diachronische Erforschung der medizinischen Textsorten und ihrer Entwick­ lungsstränge ist nach wie vor bruchstückhaft und angesichts der fach- und sozial­ geschichtlichen Alterität früherer Gesellschaften schwer in direkten Bezug zu heutigen kommunikativen Haushalten zu setzen. Dennoch lassen sich Entwick­lungslinien

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ablesen, welche einerseits eine starke Verankerung in antiken Schreibmodellen sowie die hohe Relevanz der translatorischen Aktivitäten des Mittelalters verdeutlichen. Griechisch-lateinische und arabische Muster finden erst über die Sprachmittlung den Weg in die Vertextung und entwickeln sich dort eigenständig weiter. Sobald die Vernakularisierung sich stabilisiert, werden auch volkssprachliche Muster zu Modellen, die sich über Sprachgrenzen hinweg be­wegen. Die Bezeichnung der Textsorten selbst, z. B. jene des medizinischen Traktats, verhalten sich in den Übernahme- und Wandelprozessen in der Regel wesentlich konservativer als die Textebene. Auf diese Weise können sie nicht als zentrale Grundlage der Textsorten-Klassifikation dienen (vgl. Kabatek 2011, 93). „Die Lebenswirklichkeit schafft nicht ein­heitliche Kommunikations­anlässe, son­ dern ein konfliktbeladenes, weil im Wissensgefälle stehendes schriftliches und mündliches Kommunizieren“, so Kalverkämper (1998a, 12). Für die Textsorten­entwicklung und -vielfalt in der Medizin kann diese Sichtweise nur unterstützt werden. Die Vertikalität der Kommunikation bestimmt diese stetig mit, wobei sich bei der Ausfaltung der medizinischen Textsorten im Mittelalter nachweislich Wechselwirkungen zeigen. Durch Diversifikation, Konvergenz und Mischung vorhandener Muster (vgl. Koch 1997) manifestiert sich in den Einzelsprachen eine stetig steigende Zahl prototypischer verbaler wie multimodaler Vertextungsmuster, welche mit der Erfindung des Buchdrucks einem Typographisierungs- und schriftsprachlichen Ausfaltungsprozess unterworfen werden. Das intensive Zusammenspiel exakter Verbildli­chung und Verbalisierung gibt der Disziplin hier zweifellos wichtige Entwicklungsimpulse. Die Textmuster erfahren eine stetige Adaptation an die gesellschaftlichen und medialen Gegebenheiten und führen auf diese Weise von antiken Heilungsformeln, über die quaestiones disputatae der mittelalterlichen Scholastiker hin zu den Regimina und Consilia der frühen Neuzeit sowie zur Dialektik (und Apodiktik) moderner medizinischer Fach­kommunikation. Die Typographisierung der Gesellschaften führt nicht nur zu neuen Ord­ nungsmustern in der medizinischen Fachkommunikation – v. a. zu alphabetisch fundierten –, sondern weitet vor allem die Rolle der Schriftlichkeit per se aus. Sobald für Schriftliches eine große Öffentlichkeit entsteht, wird der Prozess re­versibel (Schanze 2001, 249), so dass die Mündlichkeit, v. a. in Form konzeptio­nell mündlicher Schriftlichkeit, derzeit an Boden gewinnt: Das elektronische Hilfeforum zu einer spezifischen Krankheit gewinnt gegenüber dem gedruckten Ratgebertext an Terrain. Im Zuge des digital turns etablieren sich neue, oftmals konzeptionell mündliche OnlineInteraktionen, welche das Textsortenspektrum cybermedizinisch erweitern. It is now confidently predicted that, with the internet explosion, written communication will quantitatively outstrip oral communication in the foreseeable future. If it does, that will cer­tainly be a landmark in human history: speech will for the first time be the ‘minor’ form of communication (Harris 2001, 240).

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Diese Entwicklung hält uns auf theoretischer Ebene dazu an, das gesamte Text­ sortenrepertoire der Medizin über Sprachgrenzen hinweg als komplementäres Feld zu betrachten, das in wechselseitiger Abhängigkeit steht und auch nur in der Zusammenschau analysiert werden kann.

5 Literatur Adamzik, Kirsten (1995): Textsorten – Texttypologie. Eine kommentierte Biblio­graphie. Münster. Albrecht, Jörn (2003): Können Diskurstraditionen auf dem Weg der Übersetzung Sprach­wan­del auslösen. In: Aschenberg, Heidi/Raymund Wilhelm (Hg.): Ro­manische Sprachge­schichte und Diskurstraditionen. Tübingen, 37–54. Barton, David (2001): Directions for literacy research: analysing language and social practices in a textually mediated world. In: Language and Education 15, 2/3, 92–104. Conrad, Lawrence I. (1995): The arab-islamic medical tradition. In: Ders. u. a. (Hg.): The Western Medical Tradition 800BC to AD1800. Cambridge, 93–138. Crowston Kevin/Williams Mary (1997): Reproduced and emergent genres of communication on the world-wide web. In: Proceedings of the Thirtieth Annual Hawaii International Conference on System Sciences, Maui, Hawaii, Bd. 6, 30–39. Dinzelbacher, Peter (Hg.) (1993): Europäische Mentalitätsgeschichte. Stuttgart. Eckkrammer, Eva M. (2004): Von Konversionen, Transpositionen und Multimo­dalität: Fach­textsorten im Medienwechsel. In: Fachsprache 26, 1/2, 51–73. Eckkrammer, Eva M. (2005): Medizin für den Laien vom Pesttraktat zum digitalen Ratgebertext. Ausgliederung, Pragmatik, Struktur-, Sprach- und Bildwandel fachexterner Textsorten unter Berücksichtigung des Medienwechsels, Salzburg (Habilitationsschrift). Eis, Gerhard (1962): Mittelalterliche Fachliteratur. Stuttgart. Eis, Gerhard (1971): Mittelhochdeutsche Literatur: Fachprosa. In: Schmitt, Ludwig Erich (Hg.): Kurzer Abriß der germanischen Philologie bis 1500. Bd II. Literaturgeschichte. Berlin, 528–572. Giesecke, Michael (1980): „Volkssprache“ und „Verschriftlichung des Lebens“ im Spätmittel­alter – am Beispiel der gedruckten Fachprosa in Deutschland. In: Gum­brecht, Hans Ulrich (Hg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Heidel­berg, 39–70. Greilich, Susanne (2002): Textsorten und Erzählformen in französischsprachigen „Volksal­ ma­nachen“ des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Drescher, Martina (Hg.): Textsorten im ro­manischen Sprachvergleich. Tübingen, 187–207. Gutiérrez Rodilla, Bertha M. (2001): El orden alfabético como instrumento de divulgación mé­dica en el siglo XIX. In: Brumme, Jenny (Hg.): La historia de los lenguajes iberorrománicos de especiali­dad. La divulgación de la ciencia. Actas del II Coloquio Internacional, 27–29 de mayo de 1999. Frankfurt a. M./Madrid, 145–160. Harris, Roy (2001(2)): Rethinking Writing. London. Heinemann, Wolfgang (2001): Textsorten der geschriebenen Sprache. In: Helbig, Gert u. a. (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin/New York, 300–313. Herlihy, David (1998): Der Schwarze Tod und die Verwandlung Europas. Berlin. Ischreyt, Heinz (1965): Studien zum Verhältnis von Sprache und Technik. Düsseldorf. Jakobson, Roman (1960): Closing statement. Linguistics and poetics. In: Seboek, Thomas A. (Hg.): Style in Language. Cambridge/Mass., 350–377. Kabatek, Johannes (2011): Diskurstraditionen und Genres. In: Dessì Schmid, Sarah u. a. (Hg.): Rahmen des Sprechens. Beiträge zur Valenztheorie, Varietätenlinguistik, Kreolistik, Kognitiver und Historischer Semantik. Tübingen, 89–100.

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Anja Lobenstein-Reichmann

3. Ärzte und ihre Patienten im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Abstract: Auf der Basis schriftlicher Quellen des Frühneuhochdeutschen wird der Versuch unternommen, der historischen Kulturalität der Arzt-Patienten-Kommunikation sowie des Sprechens über körperlichen Schmerz nachzugehen. Es wird dabei nicht nur gezeigt, dass der frühneuhochdeutsche Sprachgebrauch eine ganzheitliche Vorstellung von Körper, Geist und Seele spiegelt, sondern auch, dass medizinische Heilung nicht ohne seelisches Heil, das heißt: nicht ohne theologische Seelsorge gedacht werden kann. 1 2 3

Sprachgeschichtliche Zugänge Das Exemplum – ein Fallbeispiel zur Einführung Die sprachliche Nichttrennbarkeit von Leib und Seele, von physischem und psychischem Schmerz 4 Die Heiler, die Patienten und ihre Krankheiten 5 Fazit 6 Literatur

1 Sprachliche und sprachgeschichtliche Zugänge Im Januar 1955 schreibt Hannah Arendt in ihrem Denktagebuch: „Nur der Schmerz entfernt radikal aus der gemeinsamen Welt, er ist der große Individualisator“ (Arendt 2003, 1, 510). Hannah Arendts Aussage ist phänomenologisch und ontologistisch. Schmerz und Schmerzempfinden werden als anthropologische Konstanten betrachtet, die zu jeder Zeit und für jeden Menschen gleich sind und gleich wirken. Der Historiker hat die Aufgabe, die Allgemeingültigkeit solcher Aussagen auf den Prüfstand zu stellen. Zwar ist sich der Mensch im Schmerz unbestritten insofern selbst überlassen, dass er ihn allein ertragen muss, doch der Schmerz, „the Interface of Biology and Culture“ (Coakley/Kaufman Shelemay 2007) ist eben auch historisch, kulturell und psychosozial (vgl. Seeber/Stock 2010, 9; Le Breton 2003, 7 f.; Morris 1996, 9; Scarry 1987), in letzter Konsequenz sprachlich konstituiert. Das bedeutet: Schmerz ist wie alles Soziale, Historische und Kulturspezifische, so formuliert es Peter Handke in seinem Stück Kaspar radikal aus, ohne Sprache nicht einmal denkbar. Sprache ist Ausdrucksform des Schmerzes, Ort der Anbindung des an ihm Leidenden an den Anderen im Schmerz, Ort, für den Anderen helfend mit einem Betroffenen in Kontakt zu kommen, tröstende Sinnstiftung und nicht zuletzt auch Fachsprache der Ärzte. Ganz im Sinne Hannah Arendts ist Krankheit für den Psychoanalytiker Hermann

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Lang eine existentielle Form der Kommunikationsbeeinträchtigung, die bis hin zum Kommunikationsverlust (Lang 2009, 122) gehen kann. Der Theologe Philipp Stoellger (2012, 98) ergänzt: „Sprachverbot und Sprachverlust verengen die Welt, in der wir leben […]. Die psychoanalytische Arbeit an und in der Sprache ist daher Sprachgewinn als Weltgewinn: erzählen, um zu überleben“. Welche Sprachen, welche sprachlichen Handlungsmuster standen den Menschen zu welchen Zeiten für welchen Schmerz zur Verfügung, zunächst damit er sich selbst des Schmerzes bewusst werden kann, dann zur Kommunikation mit dem Anderen, damit dieser verstehen (Wittgenstein 1990, 302 ff.), mitfühlen, helfen kann, damit nicht zuletzt auch der Arzt wissen kann, wo er mit seiner Medizin ansetzen muss? Was ist unter „Schmerz“ zu verstehen? Sprache hat je nach Antwort auf diese Fragen unterschiedliche Funktionen. Wäre Schmerz nur eine Nervenerregung, biologisch messbar wie der Strom, der durch die Leitungen fließt, so wäre er reduzierbar auf rein körperliche Phänomene und die Sprache spielte gerade einmal als medizinisch-biologische Fachsprache eine Rolle. Psychische Formen des Schmerzes wären dann entweder nur Metaphern für etwas Körperliches oder das Wort Schmerz selbst würde zur Metapher für etwas, das sonst nicht fassbar oder gar nicht existent wäre und damit auch nicht schmerzhaft. Entzieht sich der Schmerz am Ende gar der Repräsentation durch den Sprecher, weil er sprachlos macht, weil dem Menschen die Worte dazu fehlen, und weil er nicht kommunizierbar in einem selbst verschlossen bleibt? Mit Sprache sind hier Sprechweisen gemeint, Worte und Sätze zum Artikulieren und Vermitteln des Schmerzes für den Arzt, zum Verstehen, zum Einbinden des Schmerzes in das Leben für sich selbst, Worte zum Heilen und Trösten, Fachworte zum Kategorisieren von Krankheiten und Medikamenten. Dass es oft genug schwierig ist, die richtigen Worte in einer gemeinsamen Gegenwart zu finden, wird einleuchten, dass sich zudem nicht auch die Sprechweisen der modernen Menschen über Krankheit und Schmerz, somit auch ihre Heilmethoden von denjenigen ihrer Vorfahren unterscheiden, auch (vgl. dazu Lang 2009, 115). Der nachfolgende Versuch, Einblicke in frühneuhochdeutsche Sprechweisen der Arzt-Patienten-Verhältnisse, der Schmerzrepräsentationen sowie der Frage nach der Einsamkeit des Kranken zu erhalten, kann aufgrund der Überlieferungslage nur eine Spurenlese sein. Reflexe der in der Regel mündlich stattfindenden Arzt-PatientenKommunikation sowie des Schmerzsprechens finden sich äußerst selten. So werden literarische Verarbeitungen zu wichtigen Quellen. Eine davon soll im Folgenden als exemplarischer Ausgangstext herangezogen werden.

2 Das Exemplum – ein Fallbeispiel zur Einführung Im Jahre 1519 verfasste ein anonymer Autor, der sich selbst dem Leser mit dem Pseu­ donym Johann Franciscus Cottalembergius vorstellt, und von dem man schon damals annahm, dass sich dahinter der Nürnberger Humanist Willibald Pirckheimer ver-

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steckt, eine ganz besondere Krankengeschichte. Mit dem Titel dieses fiktiven lateinischen Dialoges, der schnell als Satire oder Spottschrift identifiziert werden kann, wird der Patient vorgestellt. Es geht um „Eccius dedolatus“, auf Deutsch: um den „ent-eckten“ Eck oder, weniger eckig, um den „gehobelten“ Eck. Gemeint ist Johannes Eck, Professor der Theologie in Ingolstadt, einer der wichtigsten papsttreuen Kontrahenten Martin Luthers. Weitere Handelnde sind sein Famulus, einige Freunde, darunter der Leipziger Freund Johannes Rubeus, die Hexe Canidia, ein Chirurg aus Leipzig, ein Bader, ein Beichtvater und im Hintergrund der Chorus. Das Ereignis: Der Patient ist gerade von der Leipziger Disputation mit dem Reformator Martin Luther zurückgekehrt, bei der er als Vertreter des Papstes einen moralischen Sieg über die Protestanten errungen hatte. Kaum ist Dr. Eck zuhause angekommen, wird er von unsäglichen Schmerzen gepeinigt, die er in folgende Wort zu fassen sucht (Übersetzung von Niklas Holzberg): O welch ein Krater, voll von Ätnas Feuersglut, | mir den geplagten, den bejammernswerten Leib | durchströmt vom Kopf bis tief hinunter in die Zeh’n | Mit übler Jauche und der Galle bitt’rem Saft! | Ja, durch die Eingeweide läuft der Seuche Brand | die mit des Feuers Wüten mir das Fleisch verzehrt. (Eck, 5)

Statt sein Leiden im Vertrauen auf Gott stumm und geduldig zu ertragen, wie es die christliche Krankenethik der Zeit, geprägt von den moralphilosophischen Schriften Plutarchs und Senecas, verlangen würde, klagt und jammert Eck lautstark und versucht, den Schmerz, das immer schlimmer werdende innere Brennen, durch maßloses Weintrinken zu löschen. Er klagt: Ach, welcher Skorpion in mir, verhaßter Tag, | o welcher inn’re Krebs verbrennt mir das Gedärm, | zersprengt’s? Es trocknen Galle mir und Leber aus, | schleichende Hitze hat mein ganzes Blut verzehrt. (Ebd., 9)

Sein Famulus wird schließlich ausgeschickt, um, wie im Krankheitsfalle allgemein üblich, die Freunde ans Krankenbett zu bitten, „damit ich wenigstens zusammen mit ihnen überlege, was in meiner Lage zu tun ist“ (ebd.). Die Freunde raten ihm, einen Arzt zu konsultieren. Mit Hilfe der Hexe Canidia holt man aus Leipzig einen Chirurgen, der allerdings auch als Henker tätig ist (ebd., 37). Zurück beim Patienten beginnt dieser sofort mit der zeittypischen Anamnese. In der Tradition der Viersäftelehre erkundet er, „welcher Saft im Überfluss vorhanden ist“. Er befragt den Patienten nicht nur, wo er sich die Krankheit zugezogen haben könnte, er will auch ausführlich über seinen Lebenswandel informiert werden. Der Patient berichtet von den beschwerlichen Reisen und Kämpfen für den wahren Glauben, aber auch von seinem Umherziehen in Wirtshäusern und Bordellen (ebd., 51). Nach der üblichen Harnschau und der Pulsdiagnose unterbreitet der Chirurg ihm die niederschmetternde Diagnose:

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Pfui, wie übel das riecht! Das deutet auf den körperlichen Zerfall hin; die Farbe ist sehr blaß und weißlich, das kündigt glühendes Fieber und beginnenden Wahnsinn an; wenn das Fieber nicht wäre, würde ich sagen, du hast die Tollwut, denn der kleiige Bodensatz ist ein Zeichen für Wahnsinn, Dummheit und Raserei. Aber strecke auch deine Hand aus, damit ich deinen Puls messe. Oh, wie träge und schwach er schlägt! Es ist zu träge und zu viel schwarze Galle vorhanden. (Ebd., 53)

Eck sei, so das Diagnoseurteil, nur durch eine lebensgefährliche Operation zu retten. Für alle Fälle wird der Beichtvater gerufen. Doch da Eck sich in den entscheidenden theologischen Fragen uneinsichtig zeigt, verweigert ihm der lutherische Beichtvater die Absolution, so dass die körperlich-medizinische Behandlung der „Ent-eckung“ ihren schmerzvollen Lauf nehmen muss. Mit Knüppeln wird er nun traktiert, was ihn von außen glattbügeln soll. Zur Reinigung wird er von einem Bader geschoren, wobei statt Läusen Sophismen, Syllogismen, größere und kleinere Propositionen, Corollarien [>SchlussfolgerungenFolgesätzeetw. durch Hitze oder Chemikalien zerstören, verätzenStrafe< abgeleitet ist, was Irit Ruth Kleiman (2010, 112) mit den Worten kommentiert: „Daher wird die Frage, warum Hiob leidet, irrelevant.“ Was Augustinus in seinen „Zweiundzwanzig Büchern über den Gottesstaat“ zu Schmerz schreibt, ist prägend für die nachfolgende Zeit: Sehen wir jedoch genauer zu, so bezieht sich selbst das, was wir leiblichen Schmerz nennen, mehr auf die Seele. Denn der Seele ist es eigentümlich, Schmerz zu empfinden, nicht dem Leibe, auch dann, wenn die Ursache der Schmerzempfindung für sie vom Leibe kommt; […] in Wirklichkeit kann dem Leibe nur von der Seele her Schmerz erwachsen, so gut wie von der Seele aus dem Leibe Gefühl und Leben zugeht. (Augustinus 21, 3, 43 ff.)

Die Seele, so ist denn auch in den Hieronymus-Briefen zu lesen, erleidet in der Vorstellung der Zeit den Schmerz, nicht nur der Körper. Als nu mein sël an dem vodern tag sich schied von dem leichennamen mit grosser angst vnd mit grossen schmerczen. (Bauer, Haller. Hieronymus-Br. 82, 1; tir., 1464)

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Der Mensch wurde ganzheitlich betrachtet, auch in seinen Schmerzempfindungen; entsprechend musste er ganzheitlich kuriert werden. Körperliche Gesundheit, psychisches Wohlergehen und das Seelenheil hingen in dieser Vorstellungswelt existentiell voneinander ab, was sich bis heute in den sprachlichen Repräsentationsformen spiegelt. Dies hat Auswirkungen auf das spezifische Umgehen mit Gesundheit und Krankheit, auf die Akzeptanz und die Sinnstiftung von Leiden und Schmerz, aber auch auf die verschiedenen Wege und Formen der Heilung, damit nicht zuletzt auf die Formen der Arzt-Patienten-Kommunikation. Die nachfolgenden Ausführungen zum Sprachspiel Heilung basieren auf dem Corpus des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches, in dem der Wortschatz der Zeit zwischen 1350 und 1650 bearbeitet und dokumentiert wird.

3 Die sprachliche Nichttrennbarkeit von Leib und Seele, von physischem und psychischem Schmerz Schon ein oberflächlicher Blick auf den frühneuhochdeutschen Wortschatz und die entsprechenden semasiologischen Felder zeigt, dass Körper, Geist und Seele gemeinsam gedacht werden, eine semantische Ausdifferenzierung höchstens innerhalb der beiden Sinnwelten Medizin und Theologie erfolgt. Das Wortbildungsfeld von heil-, mit den Substantiven heil, heiler, heilerin, heiland, heilmacher, den Adjektiven heil, heilbar, heilhaft, heilig und dem Verb heilen zeigt dies besonders deutlich. So beschreibt das Adjektiv heil in seiner Polysemie den ganzheitlich gedachten Charakter des menschlichen Seins. Die ersten beiden Bedeutungsansätze sind körperbezogen, der dritte betrifft die Seele: 1. >gesund, (körperlich) unversehrt, unverletztgeheilt, genesen (von einer Krankheit)selig, erlöst, befreit (von Sünden)ganz, vollständig; unversehrt, glattHeiland; Heilbringer, Retter, Erlöser< bedeuten. Bedeutungsverwandt sind dazu: himlischer arzt, heiland, tröster. Im zweiten Ansatz bezieht es sich auf den irdischen Arzt, der zwar nicht die Seele, aber den Körper heilen kann: 2. >j./etw. (z. B. ein Tier), der/das heilt, gesund machtMediziner, ArztHeiland; Heilsbringer, Erlöser (aus dem Zustand der Sünde)körperlich sowie […] geistig und psychisch gesund, im Besitz der Lebenskräfte, die man mit guter körperlicher und sonstiger Verfassung verbunden siehtvon Sünden erlöst, befreit (oft von der Seele gesagt), gerechtfertigt, seligheilbringend, befreiendMedikament für den Körper< und 2. >Heilmittel zur Wiedererlangung des SeelenheilsArzt, Medicus< und 2. >Heiler, Heilbringer, Tröster, Retter der SeeleArznei< und 3. >Heil, Rettung, Erlösung< und nicht zuletzt das Verb heilen, das 1. >jemanden gesund machen, kurieren, heilen< bedeutet, und 4. >jm. das Heil bringen; jn. von der Sünde erlösen, befreien, errettenjn. (auch: sich) […] medizinisch behandeln, heilenjn. von Seelenpein befreien; (der Seele) Heil, Erlösung bringen< (ähnlich auch arzeteien und gesundmachen, heilsam, heilung 1, heilbar). Dieser Befund ist sprachsystematisch relevant, da er sich in vielen Wortschatzbereichen spiegelt. So betrifft auch beleidigung Physisches wie Psychisches. Das Adjektiv krank bedeutet zum einen: >(von Menschen, Tieren) körperlich schwach (z. B. aus Alters- oder Krankheitsgründen, auch ohne Bezug auf Krankheit)< und zum zweiten: >geistig schwach, unzulänglich; sündhaftschwermütigdas menschliche Dasein kennzeichnende Erleben und Empfinden von Unglück, Leid, Ungemach, Beschwernis, eigener Defizienz […]das körperliche Gebrechen, z. B. körperlichen Schmerz, Krankheit, Hunger, Mangel, Not, psychischer Schmerz, z. B. um Trauer, Sorge, Pein, Qual (als schicksalhaftes Einzelereignis, chronischen Zustand oder als menschlichen Elementarzustand)Gebrechen durch Sünde und Sündhaftigkeit; religiöser Zweifel, Anfechtung­Kränkung, Schmähung, die jm. von jm. zugefügt wirdVerdammung des Menschen durch den vom Teufel angezettelten SündenfallSchmerz, Leid, Weh, tiefer Verdruß, Not, die jm. körperlich oder seelisch durch individuelle oder durch kollektive Handlungen (z. B. Kriege) zugefügt werdenschmerzhaft, leidvollLeid,

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Beschwernisse aller ArtKrankheit, Verfolgung; körperlicher Schmerz, physische Bedrängung, die der Mensch zu erleiden hatLeid, psychischer Schmerz, innere QualLiebesleid und der LiebesschmerzLeiden, Qual der Hölle, ewige Verdammnis der Gottferne< (in den Belegen teilweise mit Betonung des Strafcharakters der Höllenqual); >zeitliche Qual des FegefeuersWundbrandsich traurig machen, sich niedergeschlagen fühlen< (ebd. 8, 154, 10). Paracelsus Ideal ist ein Arzt, der umfassend und allgemein gebildet ist (ebd. 8, 326, 7). In der Praxis lehnt er demzufolge die übliche Trennung von akademischem Arzt und praktischem Wundarzt ab und sieht Ersteren in der Pflicht, auch die Aufgaben des Wundarztes zu übernehmen: „ist der arzt gezwungen zu sein ganz und nicht halber, das ist leib- und wundarzt in einem“ (ebd. 7, 305, 21). Dafür dass die Realität oft anders aussieht, spricht nicht nur, dass Paracelsus so explizit darauf hinweisen muss, wie ein Arzt zu sein hat. Es zeigt sich auch in den

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üblichen Sprichwörtern der Zeit. In Ihnen drückt sich warnend und spöttisch aus, was man von den Ärzten dachte. Warnung vor jungen und unerfahrenen Ärzten: Alte badmutter / vnd alte Ärtzt sind die besten. Ein junger artzt muß drey Kirchhöff haben. […]. Ein vnerfahrner artzt […] meid bistu weiß. […]. Hüt dich für dem artzt / der an dir lernen will […]. (Henisch, 128 ff.)

Warnung vor ungelehrten / inkompetenten Ärzten: Es ist in diser verlognen Welt fehrlich ein artzt sein / dann es hat zu vil kuhartzt / vnd eigenwillige krancken […]. Die vngelehrten artzt verursachen mehr die kranckheiten / denn das sies vertreiben. (Ebd.)

Warnung vor geschwätzigen Ärzten: Ein geschwätziger artzt / ist dem krancken ein sondere kranckheit […]. (Ebd.)

Warnung vor geldgierigen Ärzten: Tröst Gott den krancken / der den artzt zum erben setzt. (Ebd.)

Hilflosigkeit und Vergeblichkeit der ärztlichen Möglichkeiten: Dem artzt folgt der Pfarrherr  / dem Pfarrherren der kirchner  / vnd leutet zu grab. (Henisch, 128 ff.; Augsb. 1616)

Das nachfolgende Sprichwort verweist auf das Verhältnis der Patienten zu ihren Ärzten und damit auf die besonderen Bedingungen der Arzt-Patienten-Kommunikation in einer Zeit, in der Uringlas, Kräutertopf und Amputationssäge die wichtigsten Werkzeuge darstellten. Mit liegen betreugt einer sich selbst / nicht den artzten. (Henisch, 128; Augsb. 1616)

4.2 Die Patienten, ihre Schmerzen und Krankheiten Dass es nicht im Interesse des Patienten sein kann, den Arzt zu belügen, gilt prinzipiell. Doch in einer Zeit, in der es noch keine Medizintechnik gab und der Arzt nicht in den Körper seines Patienten hineinschauen bzw. hineinhorchen konnte (das Stethoskop z. B. ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts), war das Gespräch und damit auch die Wahrhaftigkeit der Patientenaussagen die wichtigste Voraussetzung für

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jede Behandlung. In der Regel musste der Patient dem Arzt erst ausführlich beschreiben, was ihm fehlte, wo genau er Schmerzen hatte, schließlich, wie die Behandlung anschlug bzw. welche Wirkungen sie auf ihn hatte. Das Arzt-Patienten-Verhältnis basierte entsprechend in einem ganz anderen Maße auf einem Vertrauensbündnis (vgl. Jütte 1991, 209 f.) und auf dem Dialog zwischen dem Arzt und seinem Patienten. Paracelsus forderte gar, dass der Arzt dem Patienten „ehelich zugetan“ sei (Schipperges 1980a, 14). Das medizinsoziologisch neu entdeckte Prinzip der compliance, des Arzt-Patienten-Bündnisses, war notwendige Basis für jede Heilung. Um jedoch in einen Dialog mit dem Arzt treten zu können, brauchte man die Fähigkeit, sich und seinen Schmerz auszudrücken, das heißt, man benötigte einen entsprechenden Wortschatz und medizinisches Wissen. Die Fachsprache der Medizin half bei diesem Dialog wenig, da sie lateinisch war und damit dem Patienten zumeist gänzlich unbekannt. Erst durch den Buchdruck kommt es zu einer größeren Verbreitung von medizinisch-pharmakologischem Wissen, zu zahlreichen Übersetzungen ins Deutsche bzw. zu deutschsprachigen Veröffentlichungen, so dass das ehemalige Geheimwissen sich auch langsam in Laienkreisen durchsetzen konnte. Es entstehen deutschsprachige Textsorten, vor allem Arzneibücher, Hausapotheken, Kalender, Pflanzen- und Tierbücher, Werke zur Destillierkunst, Schriften zum Badewesen, zur Hebammenkunst, Wundarzneien, Pestschriften, Kunst- und Wunderbücher, Oeconomica, Roßarzneibücher (mehr dazu: Telle 1988, 51–133). Erklärtes Ziel der Autoren war es, den Menschen auch dort Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, wo Ärzte fehlten, so vor allem auf dem Land. In der Arzt-Patienten-Kommunikation half jedoch auch die Kenntnis dieser Bücher nicht weiter, wenn man im Moment der Not beschreiben sollte, was im eigenen Körper oder in der eigenen Psyche vor sich geht. „Whatever pain achieves, it achieves in part through its unsharability, and it ensures this unsharability through its resistance to language“, schreibt Elaine Scarry (1987, 4). Tatsächlich ist die Liste der Unsagbarkeits­ topoi groß, die immer dann eingesetzt wird, wenn jemand sein Schmerzempfinden zum Ausdruck bringen will (vgl. Lechtermann 2010). Dieser sprachliche Widerstand gegen die Repräsentation des Schmerzes, die Heiko Christians als „rituelle Ausrufung des Sprachnotstandes“ (1999, 49) beschreibt, hat jedoch keineswegs zum Verstummen der Schmerzgeplagten geführt, sondern vielleicht haben sich gerade deswegen die Sprecher aller Jahrhunderte mit andauernd hoher Kreativität an Metaphern, Vergleichen und Phrasemen immer wieder neue sprachliche Brücken zu den ihnen zuhörenden Anderen gebaut.

4.2.1 Schmerzsprechen Obwohl die Patienten des 21. Jahrhunderts nicht selten mit vorgefertigten Laien-Diagnosen in die Arztpraxis laufen, medizinische Halbbildung an den Tag legen, waren die Menschen damals zumindest nach Aussage Robert Jüttes kompetenter darin, ihren Schmerz in Worte zu kleiden.

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Der Umgang mit Schmerzen hat nicht nur im medizinischen Bereich eine Entwicklung durchlaufen, auch die Artikulation des Leidens hat sich gegenüber früher verändert. Auffallend ist die Verarmung des Wortschatzes und die Unfähigkeit, seinen Schmerz näher zu beschreiben und ihm vielleicht dadurch sogar einen Sinn zu geben. Man vergleiche in diesem Zusammenhang etwa die Vielzahl der Bezeichnungen für die Qualität und die Intensität des Schmerzes, die man in frühneuzeitlichen Patientenakten noch antrifft, mit dem eher bescheidenen Vokabular des Kranken, das empirische Studien von Medizinsoziologen in der Sprechstunde des praktischen Arztes oder bei der Visite im Krankenhaus festgehalten haben.“ (Jütte 1991, 37)

Die Überprüfung dieser Aussage wäre einer groß angelegten lexiko-pragmatischen Untersuchung wert. Der Patient Eck hatte, zumindest in der Feder Pirckheimers, eine außerordentlich bildhafte Sprache. Von Feuer und Hitze, Brennen und Zersprengen, vom Verzehren und Durchströmen war da die Rede. Wo heute Maschinen, Zahlen und Befunde den Patienten sprachlos werden lassen, musste sehr viel intensiver mit Metaphern und Vergleichen gearbeitet werden. Wie sollte man sonst Art und Weise, Ausprägung und Qualität eines Schmerzes beschreiben? Bei Hans Sachs (Sachs 12, 388, 12): „bidmet“ [bebte] „der ganze leib vor Schmerzen“. Der Schmerz sticht nicht nur in den Rücken oder in den Bauch (s. v. stechen 8), er beißt auch (s. v. beissen 9). In den Hieronymus-Briefen aus dem Jahr 1464 zerbricht jemandem das gedärm in dem leib (Bauer, Haller. Hieronymus-Br. 116, 15). Metaphern von Feuer und Hitze wie brünstig oder kochen sind allgemein üblich. Bei Luther kocht das Herz (Luther, WA 32, 138, 33) und in einem Arzneibuch kann der Mensch „prunstig an der leberen und an dem milcz“ sein (Haage, Hesel. Arzneib. 4r, 5). Wir finden intensivierende Wortbildungen, die heute kaum mehr bekannt sind wie marterwe, immerwe oder angstweh für heftigen Schmerz bei Hans Sachs: „Helfft, daß der doren herauß-kumb, | Der thut mir in dem fuß angstweh“ (Sachs 17, 275, 13). Sprechend sind Wortbildungen wie angst­ hitze für höchste Angst, angstbad, angstbäre, angstbarkeit, angstberg, angstbiebung, angstfältig, angsthaft, angsthaftigkeit, ängstig, angstsam, angstnot, angstwe, angsthaus, angstherz usw., aber auch Phraseme wie jn. die angstläuse beissen >die Angst packt jn.< oder sich den kopf vor angstläusen kratzen >heimliche Angst habeninnerlichen Schmerz< empfinden. Das sie inbluͦtend vnd selbst sich | In jamer nagent ewiklich. (Lemmer, Brant. Narrensch. 22, 33) min bruoders tod, der yglet mich. (Kottinger, Ruffs Adam 2921)

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Üblich damals wie heute sind Interjektionen wie a, ach, au, auwe: Ah oder ach / nach Teutscher art / wirdt nach bewegung menschliches anmuͦts auff mancherley weiß gebraucht / als in schmertzen für weh / in zorn / inn reuh / inn verlangen. Jn freundtlicher straff / als / Ach lieber was zeuchst du dich. (Rot, 288)

Aufgrund allgegenwärtiger Todesnähe gehört der Tod nicht nur des dramatischen Effekts wegen zu den üblichen Vergleichs- und Parallelsetzungen: So mich der schmerz begreiffet | und dent mich zu dem tod. (Klein, Oswald 24, 17; oobd., 1424)

Eine genauere Untersuchung des Wortschatzes wäre auch deshalb sinnvoll, weil man nur so einen Einblick in die Bewertungen von Schmerzen erhalten kann. Werden die Geburtswehen einer Frau als arbeit bezeichnet, so verleiht ihnen dies im Selbstverständnis der Zeit einen völlig anderen Sinn (vgl. v. Tscharner, Md. Marco Polo 26, 3). Als arbeit galt auch die Passion Christi wie die Todesnot. Es mag die hier unterstellte Bereitschaft, sehr viel expliziter über Schmerz zu sprechen, jammersage, jammersang, jamerschrei, jammerseufzen und jammersklage zu führen, nicht nur daran liegen, dass die Welt in jenen Tagen tatsächlich härter, grausamer, ohne schmerzstillende Medikamente wohl auch wirklich schmerzhafter, eben ein jammersee, jammerteich bzw. ein jammertal war. Das „laute“ Schmerzsprechen mag auch dadurch begründet werden, dass der im Christentum sozialisierte Mensch zwar wie Hiob oder der Ackermann aus Böhmen sein Schicksal zu akzeptieren hatte, nun aber dennoch das Recht erhielt, laut Klage über seine Qualen zu führen. Man konnte sich dazu vorbildhaft an den theologischen Texten, z. B. der devotio moderna wie der Mystiker, sicher aber vor allem an den schriftlichen wie bildlichen Darstellungen der Bibel orientieren. So entstammt das heute übliche, wenn auch archaische Phrasem heulen und zäneklappen als Ausdruck großer Angst und Verzweiflung der Lutherbibel (nach Mt. 8, 12 u. Luk. 13, 28). Schmerzbeschreibungen in der Literatur der Zeit dienten didaktischen, adhortativen, autoritativen, erlösenden wie ästhetischen Zwecken. Der Schmerzensmann Christus war das semiotische Vorbild für ausgehaltenen Schmerz, aber er war auch derjenige, der den Schmerz für sich und andere überwindet. In ihm verkörpern sich Leidender und Heiler zugleich. In einem Leipziger Passionale aus dem Jahre 1587 hofft der Betende: „dieser getrewer HERR wird wol meine Kranckheit wegnemen  / vnnd meine Angst vnnd Jammersthrenen“ (Mathesius, Passionale 55r, 25; Leipzig). Die besonders zu Beginn des Frühneuhochdeutschen in der Mystik und zu seinem Ende hin im Barock vorherrschende religiöse Bewegung der Imitatio Christi/Dei forderte den leibseelischen Nachvollzug der Passion, der bis hin zum körperlichschmerzvollen Nachschreiten des Kreuzweges ging. So hatte gerade die Anbetung des Schmerzensmannes ihre eigene durchaus drastische Sprache (vgl. z. B. Reichert, Gesamtausl. Messe 145, 18), die von barocken Dichtern wie Fleming (24, 340) nicht selten durch das Kumulieren von expressiv anschaulichen Adjektiven betont wird:

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ausgespannt, geädert, abgefleischt, zerstochen, strimenvoll, entleibet, ausgekreischt. Die Passionswerkzeuge fesseln, ruten, hammer, nägel, dornenkrone symbolisierten zum einen die erlittene Qual des Menschen Christus, aber auch seinen Weg zur Erlösung. Den Gläubigen wurde deren Betrachtung zum meditativen Hilfsmittel und nicht selten tatsächlich zur mystischen Erfahrung. Das Frühneuhochdeutsche zeugt von einer immer realistischer und drastischer werdenden Darstellung der Passionsgeschichte und der Schmerzdarstellung in Wort und Bild. Das Mitleiden des Lesers oder Betrachters, die compassio mit dem Schmerzensmann, sollte auf diese Weise sinnlich erregt werden, letztlich die Akzeptanz des Leidens an sich, das alle Menschen angeht und ein Leben lang begleitet. Lohn und damit auch Sinnstiftung dieser Anstrengungen war nach gläubiger Betrachtung des Leidens Christi offensichtlich: „leiden ist hie ain schwäre pürden | und schaffet ewigen gemach. Dort“ (Sappler, H. Kaufringer 26, 30). Die Ausdrücke Passion und leid / leiden sind dadurch gekennzeichnet, dass sich in ihnen die Ursachen von körperlichem sowie psychischem Schmerz, dessen Sinnhaftigkeit und Folgen verbinden. Dies zeigt, dass in frühneuhochdeutscher Zeit auch sprachlich von einem besonderen Verständnis der Ganzheitlichkeit des Menschen ausgegangen werden muss. Körper und Seele können im Diesseits nicht getrennt gesehen werden, sitzen im selben Gefäß gefangen. Das Sitzen im selben Gefäß, oft auch metaphorisch in gleicher Weise dargestellt, bezieht sich außerdem auf Gefühl und Verstand. Diese haben ebenfalls denselben Ort. Der Ort des psychischen wie des physischen Empfindens, aber auch der kognitiven wie der emotionalen Erkenntnisfähigkeit war das Herz. Was das Herz am meisten in Bewegung bringt oder besser: entzündet, wie es u. a. auch bei Luther heißt, ist das Leid, zum einen das Leiden Christi und zum anderen die gläubige Betrachtung der mit Pathos dargebrachten textlichen oder bildlichen Darstellungen (vgl. Lobenstein-Reichmann 2005). Schmerzsprechen, so sollte damit angedeutet werden, hat im Frühneuhochdeutschen nicht nur eine literarische wie eine theologische Tradition, sie hat möglicherweise auch Vorbildfunktion für das individuelle Sprechen, sicher aber für die sinnstiftende Annahme des Schmerzes an sich. Die Ausdrucksformen spiegeln eine hohe Kreativität an Metaphern, Vergleichen und Phrasemen. Diese Kreativität könnte zum einen durch die Literarizität der Texte und die ihnen eigenen rhetorischen Stilisierungen bedingt sein, sie könnte aber auch die noch fehlende Norm und damit die viel größere Offenheit, mit Sprache zu spielen, aufzeigen. Ob sich hier ein vielfältigeres, ausdrucksstärkeres Schmerzsprechen ausdrückt, muss in einer komparatistisch diachron übergreifenden Untersuchung geprüft werden.

4.3 Die Krankheiten, Ursachen und Erscheinungsorte des Schmerzes Das Recht zur medizinischen Hilfe muss wie das Recht zur Klage, das sich der Ackermann erst von Gott gewähren lassen muss, begründet werden. Das Argument liefert

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 Anja Lobenstein-Reichmann

die Hl. Schrifft Sir. 38, 4: „DEr HERR lesst die Ertzney aus der Erden wachsen.“. Um diese zu erhalten war es nicht notwendig, in das Wartezimmer und dann in das Sprechzimmer einer fernen Arztpraxis zu gehen. Der Ort der Behandlung war in der Regel der private Raum des Patienten. Der Arzt ging zum Kranken und traf diesen im Kreise der ihn versorgenden Familie an. Dennoch herrschte am Krankenbett keine intime Atmosphäre. Wie bei Eccius dedolatus saßen da Familienmitglieder, Freunde und Bekannte, gaben Ratschläge und redeten bei der Behandlung mit (vgl. Jütte 1991, 211). Sie bildeten eine „herzhafte Hausgemeinschaft“, wie Paracelsus sie am Krankenbett erwartete (Schipperges 1980a, 14). Dies hatte positive wie negative Folgen. Auf der einen Seite war eine direkte Kontrolle der ärztlichen Leistungen durch das Laiensystem möglich, auf der anderen konnte das allgemeine Mitreden dazu führen, dass mehrere Therapien gleichzeitig angewendet wurden. Mit den großen Epidemien wird Krankheit jedoch immer mehr zu einer Sache des institutionell-öffentlichen Interesses, die offiziell geregelt werden musste. Der Patient musste sich den angeordneten körperlichen Untersuchungen unterziehen, verlor im schlimmsten Fall nicht nur seine geographische Privatheit und sein Privatleben, sondern wurde in öffentliche Anstalten oder in Quarantäne geschickt (z. B. durch Ausgrenzung in Leprosorien, Pesthäusern, Syphilishäusern, vgl. Lobenstein-Reichmann 2013, 292 ff.). Der behandelnde Arzt wird verpflichtet, die Krankheit seines Patienten zu melden (vgl. Schmidt, Frankf. Zunfturk. 1, 429, 13). Auch in der Architektur der Krankenhäuser  / Siechenhäuser  / Blatternhäuser, deren Mittelpunkt nicht das Krankenzimmer, sondern die Kapelle, der Ort für die Kommunikation mit Gott, bildete, spiegelt sich die Religiosität der Zeit und der Glaube daran, dass es am Ende nur Gott ist, der helfen kann (vgl. Eckart/Jütte 2007, 42). Doch die Krankheiten, die die Menschen befielen, werden oft auf eine Weise beschrieben, die es dem heutigen Leser kaum möglich macht, sie genau zu bestimmen. Viele Bezeichnungen sind motivationell sprechend, anderen dagegen kryptisch: Anris 2 >Schwächeeine HautkrankheitAsthmaPestWassersuchtDarmblähungenvenerische KrankheitGürtelrosefalsche Eide< swern“, von der Ûzsetzikeit am velle: „die sich schminken und färben“, von der Ûzsetzikeit an der kelwin >Kahlstelle A: Okay 02 Preclosing sequence -> B: Okay 03 Terminal sequence -> A: Bye bye 04 Terminal sequence -> B: Bye 05 ((interaction ends))

This example illustrates how preclosing sequences and terminal exchanges (or sequences) work to end an interaction in mundane conversation and this format can

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be used in medical interactions. As we shall see however, in medical consultations possible preclosings are often managed through different techniques, which while maintaining the same sequential structure of two consecutive adjacency pairs, draw on the participants’ roles and on the institutional nature of the interaction.

2 Closing medical interactions There has been little research into the closing sequence of medical interactions and even less that focuses on how the closing is co-constructed by participants. As previous research has shown, medical consultations are generally composed of a set of sequential activities (Byrne/Long 1976; Robinson 2003). These activities are centred around the presentation, diagnosis, and treatment of a problem (White 2011; White et al. 2014). This problem-solving structure relies on processing a single problem with additional problems requiring another problem-solving project of activities. This structure concludes with the closure of the interaction at which point the parties negotiate the closing. That is, participants in doctor-patient interactions orient to the structural relevance of closing following the discussion of treament (Robinson 2001). As closing is the next relevant activity after treatment recommendation, raising additional concerns or other questions can occur in the activity of preclosing. In several of the studies identified here, there is a focus on unstated concerns (White/ Levinson/Roter 1994; White et al. 1997; Robinson 2001; West 2006; Park 2013). While it has been documented that doctors are frustrated by patients raising previously unstated concerns at the end of the visit, research has shown that it only occurs between 4 % (West 2006) to 21 % (White/Levinson/Roter 1994) of the time. In conversation analytic studies, the percentage peaks at 5 % (Park, 2013). The studies by White et al (1994, 1997) use a coding system that does involve the turn-by-turn analysis of the closing, so the percentage may be overstated. In addition, data from research into surgeon-patient consultations found that only one consultation in 35 included the introduction of an entirely new additional concern (White 2012). For the purposes of this chapter, four key conversation analytic studies into closings in medical interactions are considered (Robinson 2001; West 2006; White 2012; Park 2013) along with additional data collected by the author. These studies include research into primary care (English and Korean), internal medicine, and surgical consultations and the additional data includes surgical consultations and pre-operative consultations (surgical and anaesthetic). The data used here comes from two sources. The first is a study of surgeon-patient interactions that was conducted under the auspices of the Applied Research on Communication in Health (ARCH) group at the University of Otago, Wellington in New Zealand (White 2012; White et al. 2013; White et al. 2014). This data was collected in 2004–2005 as part of ongoing projects and is permanently archived with participant

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 Sarah J. White

consent in the ARCH Corpus of Health Interactions (ARCH Group website). This consists of 35 interactions collected between 2005 and 2006. Some of the extracts used here have been analysed and published elsewhere (White 2012). The second is a small corpus of interactions (14 doctor-patient) collected at Macquarie University in Australia in 2012 as part of research into communication education in medicine (White/ Berger 2013). All data was collected with participant consent and approval from the Central Regional Ethics Committee in New Zealand and Macquarie University Human Research Committee respectively, including for the publication of transcripts and images. The extracts were transcribed and analysed using conversation analysis. The transcription conventions were taken from ten Have (1999) and Gardner (2001). The conventions for CA transcription originally stem from the transcription system developed by Gail Jefferson (ten Have 1999). Further detail on conversation analysis can be found in ten Have (1999) and Clayman/Gill (2004), while further detail regarding the transcription notation used here can be found in Gardner (2001). This section provides analysis and discussion of preclosing sequences in medical interactions. This is followed by an example of how transition to closing is managed non-verbally by the participants and then by an exploration of how participants using the possible preclosing sequences to raise additional concerns or questions.

2.1 Possible preclosings There are four different types of possible preclosings that have been identified in medical interactions. While the content of these can vary depending on the visit type, the structures are the same (White 2012). These are: arrangement making, final-concern sequences, preclosing announcements, and passing a turn. None of these structures are mutually exclusive and can be used within the same possible preclosing sequence as well as across the same interaction if several possible preclosings occur. All four of these identified in previous research (Robinson 2001; West 2006; White 2012; Park 2013) also occur in the data analysed for this chapter.

2.1.1 Arrangement making Arrangement making is used as a way to close both mundane and institutional interactions and, as Robinson notes, it is “socially understood as a last topic” (Robinson 2001:642). In research into primary care interactions, it has been shown to involve the reiteration of arrangements already discussed during the treatment recommendation phase of the consultation and can act as a way in which to improve continuity of care (West 2006). However, it does not offer a formal opportunity for patients to raise further questions or additional concerns (Robinson 2001). In surgeon-patient

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consultations, six different types of arrangement making have been identified (White 2012): arranging surgery; referring back; referring on; arranging diagnostic testing; organising a follow-up; and instructions regarding front desk paperwork. To illustrate preclosing achieved through arrangement making, an example of organising a follow-up visit is found in Extract 1. Follow-up visits are scheduled for different reasons depending on the outcome of the current visit (e. g. post surgery or post-diagnostic testing) and in this case it is a regular follow-up after cancer surgery several years ago. Extract 1 – IS-SP03-01 (ARCH, Otago) 01 S:→ so i’ll just (keep) that appointment for six 02 months then; (.) and the for:ms. okay¿ 03 (0.6) 04 P: if i: um wandered up to ward twenty ni:ne to 05 visit someone¿ would they (.) (bring me up) 06 ( )? ((14 lines omitted)) 07 S:→ okay so i’ll just give those for:ms for 08 [six (months)] 09 P: [thank you? ]

In Extract 1, the surgeon (S) initiates a possible preclosing in line 1 by confirming that a scheduled post-surgery follow-up will be kept for the patient in six months time. The surgeon also mentions forms, which are necessary to book in the follow-up appointment. The response from the patient (P) in line 4 shows that he understood surgeon’s turn as a possible preclosing as he takes the opportunity to raise a previously unmentioned mentionable, in this case a question regarding visiting a friend in hospital. Following on from this the surgeon again pursues closing by referring to the forms required for booking the follow-up appointment in line 7. This is accepted by the patient (line 9), making a closing the consultation the next relevant activity. By using arrangement making for a follow-up appointment, the surgeon is able to create a closing relevant environment. The first possible preclosing is understood by the patient as such and he is able to raise a question prior to the closure of the visit, which is achieved after another possible preclosing. The patient’s non-acceptance of the original preclosing highlight both the co-constructed and “possible” nature of preclosings.

2.1.2 Final-concern sequences Final-concern sequences involve the doctor asking the patient if he or she has any questions or any other concerns (often designed to elicit no-type responses (Heritage et al. 2007)). In contrast to arrangement making preclosings, final-concern sequences

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 Sarah J. White

provide a formal place for patients to raise new questions or concerns (Robinson 2001). In primary care interactions patients may raise an entirely new medical concern, however this happens rarely (West 2006; Park 2013). In surgeon-patient consultations, which are generally monotopical, the final-concern sequence is often understood as referring to the presenting problem, the diagnosis or treatment recommendation (White 2012). Two extracts below illustrate final-concern sequences. In Extract 2, the surgeon and patient have just discussed the patient’s upcoming surgery. Extract 2 – SS-SP08-02 (ARCH, Otago) 10 P: thank you,= 11 S:→ =alri:ght? do you have any questions. or 12 worries. 13 P: ↑no 14 S: no (1.6) tlk alright¿ .hh you’ll be (.) uh i 15 hospital for about four day:s? 16 P: mm [“tlk” and “tsk” (see extract 5) are representations of clicking vocalisations]

In Extract 2, the surgeon initiates a possible preclosing in line 2 after describing the treatment recommendation to the patient (not shown), asking if the patient has any questions. Similar to the data analysed by Robinson (2001), the design of this question prefers a no-response from the patient through the use of the negative polarity item any (Heritage et al. 2007) and the patient produces such a response in line 4. Similarly, Extract 3 is also prior to surgery, however on this occasion it occurs in an anaesthetics bay. The anaesthetist (A) has just finished answering a question the patient had in regard to some ongoing pain related to the surgery he is about to have. Extract 3 – MQ-CARM12-13 (Macquarie) 01 A:→ do you have anything else th’t (.) you wanted to 02 [talk about?=( )] was there something? 03 P: [(( shakes head ))] 04 P: nope (.) that’s it,

In Extract 3, the anaesthetist directly asks the patient about additional questions or concerns (line 1). As in Extract 2, this is designed to prefer a no-response with the negative polarity item anything. Although the patient responds to this by shaking his head (line 3), the anaesthetist re-frames the question with the positive polarity item something (line 2). The patient responds in line 4 with a verbal “no” response. Final-concern sequences are an explicit way for doctors to ask if patients have questions or additional concerns. While this appears to be a positive approach to enabling patient agency in the closing moments of the consultation, these turns are often designed to prefer a no-response from patients, as in Robinson (2001) and shown in two out of three preclosing turns above. As previous research has shown (Heritage et

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al. 2007), patients are less likely to raise additional concerns when asked about them with a turn designed to elicit a “no” response.

2.1.3 Preclosing announcements Possible preclosings can be initiated through an announcement with one participant stating a need to end the conversation. West (2006) found that these occurred rarely in her data – in only three out of 48 consultations. In the data presented here, one surgeon initiated a possible preclosing using an announcement. Extract 4 is from preoperative interaction between the surgeon and the patient in the anaesthetics bay outside of the operating theatre. Extract 4 – MQ-CARM12-12 (Macquarie) 01 S: $we’ll see i’ll see if there’s there’s still$ 02 → any evidence. alright, (.) well look we’ll fly 03 into it. 04 P: okay =um (.) tanya said can (.) one of you guys 05 give her a ca:ll [when it’s done.] 06 S: [yeah:: i can.] and i should 07 have her numbah? [but >but= 08 P: [yeah 09 S: you have it on the top of y[ah 10 P: [>it’s on the 11 system.< ((omitted 30 seconds regarding post-operative call)) 12 S:→ alright, (0.2) so (1.0) fly into it. (.) 13 [( very good ) ] 14 P: [(do a good job)] heh [heh heh] 15 S: [okay: ] thank you.

In Extract 4 the surgeon initiates a possible preclosing in line 2 by saying we’ll fly into it. This does not explicity announce a preclosing, such as “I have to go”, but does signal to the patient that the interaction is coming to a close as the surgery is about to commence. The patient orients to this because in line 4 he moves the interaction abruptly out of preclosing with a latched um after the original agreement of okay to request the surgeon ensure that his wife is called after the surgery. After some discussion around this, the surgeon recycles his original possible preclosing first pair part in line 12. Even though this type of preclosing can display the need for the doctor to attend to his obligations as a doctor to others besides the current patient (West 2006), announcing the transition to closing the consultation occurs rarely in the studies considered here in the same way that passing a turn also does not occur with any frequency.

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 Sarah J. White

2.1.4 Passing a turn Passing a turn involves yielding the floor to other pariticpants in the interaction (Schegloff/Sacks 1973). As medical encounters are service driven, doctors can draw upon arrangement making and final-concern sequences to close the consultation instead of passing a turn, which implies that the participants have nothing left to say (West 2006). The overall structure of consultations, however, does make closing the next relevant activity after treatment recommendation (Robinson 2001; White et al. 2013), meaning that passing a turn after the discussion of treatment can be hearable as a possible preclosing. In Extract 5 we see an example of passing a turn in a surgical visit. Extract 5 – MQ-CARM12-2 (Macquarie) 01 S: we might even hang on to you overnight_ 02 (0.4) 03 P: i was going to say is it a [day] job or a yeah= 04 S: [mm ] 05 P: okay 06 S: which means you could (.) drive yourself down 07 drive yourself home [the] next [day,] 08 P: [mm ] [yeah] 09 S: potentially, 10 W: .hh hmhh hmhh 11 P:→ yeah (.) sounds good. (0.4) tsk ok[ay? 12 W: [okey dokey; 13 S:→ good_ co[me and see] pam. 14 W: [alri::ght?] 15 P: will do. 16 S: [okay 17 P: [thank you very much for you time?] 18 W: [ thank you very] much? 19 S: pleasure

In this consultation, which includes the patient’s wife (W), the participants have been discussing the patient’s upcoming surgery. Instead of the surgeon moving the interaction towards closure, the patient does so in line 11, delivering a turn-passing okay following on from a pause after the previous sequence (that ended with sounds good). His wife also delivers a similar turn in line 12 and surgeon responds to them in line 13 with another turn-passing utterance, good. While this can be heard as a possible preclosing given its positioning directly after the activity of treatment recommendation, the surgeon then moves on a type of immediate arrangement making, requesting the patient to follow him to see the clinic nurse, Pam, which is accepted. The consultation is then closed through terminal exchanges in lines 17 to 19. As in this example, West (2006) noted that when participants did pass a turn in possible preclosings it was done in conjunction with another type of preclosing. Given

Closing clinical consultations 

 179

that medical interactions are service driven, participants “tend to employ closing items that display their standing as beneficiaries and providers” (West 2006:390).

2.1.5 Patient-initiated preclosing Using the techniques described above, doctors tend to initiate closing in their role as interviewers in medical interactions (Heath 1986). However, on occasion, patients will initiate possible preclosings. In Extract 6a-c, the patient initiates two possible preclosing sequences. In Extract 6a, the patient uses arrangement making to initiate a possible preclosing. Extract 6a – IS-SP02-01 (ARCH, Otago) 01 P:→ and uh:m (0.6) tlk so from here to the 02 ultrasound and then [(back to) see you again. 03 S: [mm 04 S: yeah=

In line 1 the patient reiterates the management recommendation (in this case an ultrasound and a follow-up visit). This is confirmed by the surgeon, however the consultation moves away from closing for several minutes prior to the next possible preclosing. Extract 6b – IS-SP02-01 (ARCH, Otago) 01 P:→ °uh:m no i don›t think i had any other 02 questions.° (3.4) what (0.4) so you got any more 03 thoughts on whether that first rib needs to come 04 out or; 05 S: .hh uh:m (0.8) yeah i mean that- th- th- (.) the 06 the situation with taking thee first rib out it07 it’s (.) it’s a very sort of controversial (0.8) 08 area in you know in in in this particular 09 problem.

After further discussion (51 lines), the patient again moves towards closing the interaction in Extract 6b, pre-empting a final-concern sequence by the doctor, stating that he has no other questions (line 1). Interestingly, after saying that he has no further questions, the patient then asks a question starting in line 2. Through this question the patient raises an alternative treatment option to that recommended by the surgeon, making it possibly a sensitive or stressful concern to raise, which can occur during doctor-led final concern sequences (Robinson 2001). This discussion is also pursued prior to another possible preclosing sequence. Extract 6c – IS-SP02-01 (ARCH, Otago) 01 S:→ so le- let’s do an ultrasound and see what’s 02 happening .hh and then we’ll talk about it some

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03 04 05 06 07 08

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P: S: P: S: P:

more¿ °yeah° °yeah° °yeah° tlk okay? yep¿

Finally in lines 1–3 of Extract 6c (and 86 lines after the previous possible preclosing sequence), the surgeon initiates a possible preclosing that addresses the patient’s previous two possible preclosings with the re-iteration of the arrangements and by offering to discuss the treatment options more in a follow-up appointment. Patient-initiated preclosing is uncommon as doctors have an epistemic advantage in medical interactions (White 2012) as they are able to determine when the activity of treatment recommendation has concluded and, therefore, when closing is the next relevant activity. This does not, however, completely preclude patients from moving towards closing an interaction.

2.2 Embodiment of transition to closing Non-verbal resources have been shown to be key parts in the transition between activities in clinical consultations (Robinson/Stivers 2001; Dowell et al. 2013). By using non-verbal resources in conjunction with verbal resources, participants are able to work together to achieve this transition. Park (2013) analysed the use of non-verbal resources in the transition to closing in Korean primary care consultations showing how doctors use body orientation and gaze to encourage (and discourage) more talk from patients during the closing sequences of these encounters. Extract 7 provides one example of how a doctor uses non-verbal resources to indicate a transition toward closure prior to a preclosing sequence. Extract 7 – MQ-CARM12-10 (Macquarie) 01 P:→ but that’s alright i’ll be like if if it’s a 02 → couple of months i’ll be coming down 03 to sydney or canberr(h)a, huh= 04 P: =[to family, heh heh] 05 S: [°(oh good work and] be) safe_° 06 P:→ yeah:. 07 S:→ o[kay? 08 P: [alright= 09 S: =take [care and let me see ] you in one year’s= 10 P: [thank you very much_] 11 S: =time with [your ] M R I [scan.]

Closing clinical consultations 

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Fig. 1:

In this extract the surgeon begins moving toward closure as the patient finishes talking about her future living arrangements. In figure 1 we see the doctor has turned to look at his laptop and has reached out his arm to the top of it, suggesting that he intends to close it. This occurs as the patient says but that’s alright in line 1.

Fig. 2:

Figure 2 occurs as the patient says i’ll be like also in line 1. In this image we see the surgeon has returned his gaze to the patient, displaying attentiveness to the patient. The surgeon holds his hand on his laptop in effect pausing his embodied move toward transition.

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 Sarah J. White

Fig. 3:

In figure 3, which occurs in line 2 after the patient says i’ll be coming, the surgeon has closed his laptop while maintaining his gaze toward the patient. This demonstrates his dual orientation to the patient who is still talking and to the business of closure which is the next relevant activity in the interaction.

Fig. 4:

In line 6 the sequence regarding the patient’s future living arrangements concludes and it is during this turn that the surgeon picks his laptop of the table, as shown in figure 4.

Closing clinical consultations 

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Fig. 5

The surgeon inititates a possible preclosing in line 7 by passing a turn with okay which occurs in conjunction with him reaching out his hand to the patient, as shown in figure 5. This leads on to an arrangement making closing sequence and the surgeon and patient taking leave of each other both verbally and non-verbally. This extract exemplifies how doctors and patients utilise verbal and non-verbal resources to create a closing relevant environment. It also shows that it is possible for doctors to simultaneously display attentiveness toward the patient while still embodying transition to closure through other movements.

2.3 Opening up closings Participants can resist moves to closing an interaction by raising previously unmentioned mentionables following from the first pair part of a possible preclosing sequence. Even when a preclosing sequence is successfully completed, an interaction can be opened up by either participant. Several of the extracts already analysed here have examples of how participants move away from closing during a possible preclosing sequences. In this data, some preclosing first pair parts were responded to with minimal acceptance second pair parts, which then moved the consultation into terminal exchanges. Previous research has found that these first pair parts can be responded to in non-minimal ways that still accept the preclosing and they can also be responded to with non-minimal resistance (White 2012). Extract 8 (part of which was analysed in Extract 3) illustrates the former of these phenomena.

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Extract 8 – MQ-CARM12-13 (Macquarie) 01 A: if it becomes a really major issue there are a 02 lots of other things that can be done for it, 03 but 04 P: mm: 05 A: °we’ll wait and see.° 06 P: yep_ 07 (1.0) 08 A: ? 09 P: okay_ (0.5) sounds good, 10 A: do you have anything else th’t (.) you wanted to 11 [talk about?=( )] was there something? 12 P: [(( shakes head ))] 13 P: nope (.) that’s it, 14 A:→ as i said to you i can’t give you any guarantees 15 about that because the damage has already been 16 do:ne,

In this consultation a possible preclosing occurs beginning in line 10. This preclosing is accepted by the patient who informs the anaesthetist that he has nothing else to discuss. Even though the next relevant activity is now the terminal exchange, the anaesthetist re-opens the interaction in line 14 by further discussing an issue previously raised by the patient. Extract 9, on the other hand, shows how the preclosing can be resisted by a patient. Extract 9 – SS-SP07-02 (ARCH, Otago) 01 S: uh::m so i’ll i’ll give you a form for those 02 blood tests fasting lipids and everythi:ng? 03 P: mm hm,= 04 S: =uh:m i’ll (.) get an appointment with paul 05 wellington? Our endocrinologist? 06 P: mm: [hm, 07 S: [and if you’re alright off the: fos’max jus 08 stay off it until you see him¿ 09 P: ok[ay 10 S: [he may wanna do th- repeat the bone density 11 scan, 12 P: mm [hm 13 S: [and consider something else if needed; 14 P: [right, 15 S: [uhm (.) yih know 16 P:→ .hhh yeah i had a bone density scan jus before i 17 left [america

In this extract, surgeon uses arrangement making to initiate a possible preclosing sequence (lines 1–15). While the patient provides continuers throughout this (lines 3, 6, 9, 12, and 14), he does not produce a second pair part that would complete the pos-

Closing clinical consultations 

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sible preclosing sequence. This is evidenced by the surgeon who pursues a response in line 15. The patient resists this in line 16 by challenging one of the possible next steps in his treatment suggested by the surgeon. Despite the concern regarding “by-the-way” syndrome (Byrne/Long 1976), it is uncommon for patients to raise additional concerns (West 2006; Park 2013). Robinson (2001) argues that the closing of the consultation can be the most logical place for additional concerns to be raised given the possible patient anxiety about raising an additional concern and the interactional barrier to raising new topics, particularly in doctor-patient interactions that follow a problem-solving structure. Thus the preclosing sequence allows an important opportunity for patients and doctors to ensure they have raised everything they wish to discuss prior to terminating the consultation.

3 Discussion Across the literature that does exist in this area, there are several common findings. While there are four basic structures of possible preclosing, as described above, only two types occur with frequency in medical interactions: final-concern sequences and arrangement making (Robinson 2001; West 2006; White 2012; Park 2013). Robinson (2001) suggests that final-concerns sequences are an ideal component of closing consultations as they provide a formal, albeit often a ‘no’-preferring, place for patients to raise additional concerns and questions. However West (2006) proposes that arrangement making sequences assist in maintaining and improving continuity of care for patients. Both of these arguments stand to reason and would be interesting avenues for future research. As none of these preclosings are mutually exclusive, it may be in the best interest of patients for doctors to elicit further questions or concerns and to ensure that the patient confirms the next steps in their care. The research into closings in medical consultations covers primary care, secondary care, and preoperative care. While there are similarities in how closings are achieved, the different reasons for the visits provides variation in the design of preclosing sequences (e. g. the patient is about to wheeled into theatre as opposed to a regular check up). This is because each instance of closing a consultation is locally managed by the participants within that interaction and is done so with reference to the turns that have preceded it along with what is expected to follow it. The closing can be a place for patient agency, allowing patients to raise other concerns and, as such, doctors could use this opportunity to encourage participation through consideration of their gaze and positioning as well as the implications of the choices they make in designing the closing of the consultation.

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 Sarah J. White

Acknowledgements I am grateful to the Applied Research on Communication in Health (ARCH) group at the University of Otago, Wellington, New Zealand for providing access to data collected and archived in the ARCH Corpus of Health Interactions for the purposes of my doctoral research and subsequent analyses. I would also like to thank Maria Stubbe, Kevin Dew, Rod Gardner, Tony Dowell, and Lindsay Macdonald for their previous input into aspects of the analyses discussed in this chapter, and the doctors and patients who generously allowed their consultations to be recorded and analysed.

4 References Applied Research on Communication in Health (ARCH) Group Website. Accessed 13/1/2014,  http:// www.otago.ac.nz/wellington/research/arch/ Byrne, Patrick Sarsfield/Barrie E. L. Long (1976): Doctors Talking to Patients: A Study of the Verbal Behaviour of General Practitioners Consulting in their Surgeries. London, H.M.S.O Clayman, Steven E./Virginia T. Gill (2004): Conversation analysis. In: Alan Byman/Melissa Hardy (Eds.): Handbook of Data Analysis. Beverly Hills/CA, Sage 589–606. Dowell, Anthony et al. (2013): Talking with the alien: interaction with computers in the GP consultation. In: Australian Journal of Primary Health 19(4), 275–282. Drew, Paul/John Heritage (Eds.) (1992): Talk at Work. Cambridge, Cambridge University Press. Gardner, Rod (2001): When Listeners Talk: Response Tokens and Listener Stance. Amsterdam/ Philadelphia, John Benjamins Publishing Company. Heath, Christian (1986): Body Movement and Speech in Medical Interaction. Cambridge, Cambridge University Press. Heritage, John (1984): Garfinkel and Ethnomethodology. Cambridge, Polity Press. Heritage, John et al. (2007): Reducing patients’ unmet concerns in primary care: the difference one word can make. In: Journal of General Internal Medicine 22(10), 1429–33. Park, Yujong (2013): Negotiating last-minute concerns in closing korean medical encounters: the use of gaze, body and talk. In: Social Science & Medicine 97(0), 176–191. Robinson, Jeffrey D. (2001): Closing medical encounters: two physician practices and their implications for the expression of patients’ unstated concerns. In: Social Science and Medicine 53, 639–656. Robinson, Jeffrey D. (2003): An interactional structure of medical activities during acute visits and its implications for patients’ participation. In: Health Communication 15(1), 27–59. Robinson, Jeffrey D./Tanya Stivers (2001): Achieving activity transitions in physician-patient encounters. In: Human Communication Research 27(2), 253–298. Sacks, Harvey, Emanuel A. Schegloff/Gail Jefferson (1974): A simplest systematics for the organization of turn-taking for conversation. In: Language 50(4), 696–735. Schegloff, Emanuel A. (2007): Sequence Organization in Interaction. Cambridge, Cambridge University Press. Schegloff, Emanuel A./Harvey Sacks (1973): Opening up closings. In: Semiotica 7, 289–327. ten Have, Paul (1999): Doing Conversation Analysis. London, Sage.

Closing clinical consultations 

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Jenny Winterscheid

10. Pädiatrische Gespräche Abstract: Dieser Artikel beschäftigt sich mit Besonderheiten der pädiatrischen Kommunikationssituation im Allgemeinen. Es wird ein Überblick über die Publikationen zur triadischen Kommunikation in der Kinderarztpraxis gegeben und deren Vergleichbarkeit anhand von einzelnen Aspekten erörtert. 1 Einleitung 2 Übersicht über die Beschäftigung mit pädiatrischer Kommunikation 3 Vergleichbarkeit der Studien zur pädiatrischen Kommunikation 4 Beteiligungsrollen und epistemische Autorität 5 Strategien der Patienten 6 Compliance 7 Ausblick 8 Literatur

1 Einleitung „Im Grunde sind Ärzte ja nichts anderes als Dienstleister – Profis in Sachen Krankheit“ (Renz-Polster/Menche/Schäffler 2012, 18). So beginnt das Kapitel zur „Fachliche[n] Hilfe: Der Kinderarzt“, eines von drei Ärzten geschriebenen Gesundheitsratgebers mit dem Titel „Gesundheit für Kinder“ und auch Graf/Spranz-Fogasy, wenn sie „[a]ls algemeinste[n] Typ helfender Interaktion [den] Interaktionstyp Beraten“ (Graf/ Spranz-Fogasy i. v.) identifizieren, verweisen auf die signifikanten Anforderungen an den Besuch der Eltern mit ihren kranken Kindern in der ärztlichen Praxis. Kallmeyer beschreibt die Grundstruktur dieses „Gegenstandsbereich[s]“, der auch für ärztliche Gespräche mit Patienten angesetzt werden kann, folgendermaßen: Im Sinne einer prototypischen Definition kann man den Kern des Konzepts „Beraten“ als eine Verknüpfung der folgenden Eigenschaften darstellen: Eine Partei, der Ratsuchende (RS), hat ein Problem; RS veranlasst oder lässt zu, dass sich eine andere Partei, der Ratgeber (RG), mit seinem Problem in helfender Funktion beschäftigt; RG schlägt als Problemlösung ein zukünftiges Handeln von RS vor; RS entscheidet über die Annahme des Lösungsvorschlags, und die Realisierung der Lösung bleibt Aufgabe von RS. (Kallmeyer 2000, 228)

Doch die Anforderungen an einen Kinderarzt sind noch erheblich diffiziler. Ableiten kann man dies zum einen bereits anhand der besonderen Beteiligungsstruktur, da sich in den meisten Fällen nicht nur der „Ratsuchende“ an einen „Ratgeber“ wendet, sondern der „Ratsuchende“ überdies von mindestens einem „Laienexperte[n] […] und entscheidungsbefugte[n] Fürsprecher“ (Renz-Polster/Menche/Schäffler 2012,

Pädiatrische Gespräche 

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18) – in der Regel von einem Elternteil – begleitet wird (Spranz-Fogasy/Winterscheid 2013). Zum anderen verfügen Kinder nur zum Teil über das notwendige Krankheitswissen oder das „soziokulturell vermittelt[e] gemeinsam[e] Handlungswissen“, welches die Interaktionspartner dazu „befähigt, zu wissen, was jeweils von ihnen an Beteiligungsleistungen erwartet wird und welche Beteiligungsleistungen sie von den anderen erwarten können“ (Schröder/Reitemeier/Notdurft 1994, 9). Pädiatrische Gespräche zeichnen sich nach Green/Adelmann demnach per se durch Asymmetrien aus, denn „[t]he differences in knowledge, power, and communication competence clearly place the child in a subordinate status“ (2013, 139). Daneben handelt es sich bei der „Kinderheilkunde“ um ein sehr weit gefächertes medizinisches Fachgebiet, das sich mit der Erkennung u. Behandlung (einschließlich Prävention, Schutzimpfungen, pädiatr. Intensivmedizin, Sozialpädiatrie) aller körperlichen u. seelischen Erkrankungen sowie Reifungsstörungen des Kindes von der Geburt bis zum Abschluss seiner somatischen Entwicklung befasst, (Roche 2003, 1001)

sodass „pädiatrische Kommunikation“ einen Oberbegriff für viele sich zum Teil eklatant voneinander unterscheidende Interaktionstypen darstellt.

2 Übersicht über die Beschäftigung mit ­pädiatrischer Kommunikation Entsprechend der Komplexität sind auch die Studien zu pädiatrischen Interaktionen sehr heterogen. Auffällig ist darüber hinaus die große Anzahl der Studien, in denen Kommunikationssituationen im medizinischen Kontext mit Kindern untersucht werden, die exzeptionell oder in irgendeiner Weise gestört sind: So gibt es beispielsweise einige Studien zur Interaktion mit Kindern, bei denen eine schwerwiegende Krankheit wie etwa Epilepsie oder eine Fehlbildung vorliegt (z. B. Schwabe 2006, Streeck 2002, Tannen/Wallat 1986). Ebenfalls wurden häufig auch Gespräche in der Klinik (z. B. Aronsson/Rundström 1988, van Dulmen 2004) oder in Therapiesitzungen analysiert (z. B. O’Reilly 2008). Gerade bei früheren Studien wurde jedoch die Rolle der Kinder nicht explizit untersucht, denn „[r]esearch focuses mainly on dyadic interactions between adults“ (Tates/Meeuwesen 2001, 839). In anderen untersuchten Gesprächen bilden die Kinder zwar den Gesprächsgegenstand, wohnen dem Gespräch aber entweder selbst nicht bei oder sind aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, mit den anderen Gesprächsbeteiligten zu interagieren (z. B. Gordon u. a. 2009, Tiitinen/Ruusuvuori 2014). Verständigungsprobleme anderer Art – wie etwa der Muttersprache der Patienten und/ oder der Begleitpersonen – und der Einsatz von Dolmetschern etc. bilden ebenfalls die Grundlage einer Reihe von Studien (z. B. Leanza 2007) und schließlich gibt es

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 Jenny Winterscheid

auch Studien, in denen mehrere dieser aufgeführten Merkmale analysiert werden. So bilden beispielsweise in der Studie von Babur/Kroffke/Meyer (2008) nicht nur Interaktionen in der logopädischen Praxis den Untersuchungsgegenstand, sondern auch der Migrationshintergrund eines der untersuchten Kinder, wobei „bei allen drei Kindern die gleiche Art von Sprachentwicklungsstörung“ vorzuliegen scheint (Babur/Kroffke/Meyer 2008, 6). Ferner gibt es – zumeist stammen diese eher aus dem medizinischen Bereich – einige Kommunikationsratgeber für Ärzte (z. B. Voss 2001) sowie Artikel über Studien zu Kommunikationstrainings (z. B. Sands/Stanley/Charon 2008, Bosse u. a. 2008). Relativ selten hingegen wurden die alltäglichen Sprechstundengespräche in der gemeinen Kinderarztpraxis erforscht (z. B. Stivers 2001; Spranz-Fogasy/Winterscheid 2013), obgleich diese einen erheblichen Teil der ärztlichen Kommunikation ausmachen: „In a substantial proportion of primary care consultations, the patient is a child“ (Cahill/Papageorgiou 2007, die sich auf die Studie von Saxena/Majeed/Jones 1999 beziehen).

3 Vergleichbarkeit der Studien zur pädiatrischen Kommunikation 3.1 Berührungspunkte Auch wenn die Studien sehr heterogen sind, sind sich die Autoren zumeist in ein paar Punkten einig: Es gibt bisher sehr wenig Literatur zur Kommunikation beim Kinderarzt (s. z. B. Schwabe 2006, 44; Stivers/Majid 2007, 425) und die Beteiligung der Patienten, um die es ja in diesen Gesprächen in der Regel geht, fällt durchweg sehr gering aus (beispielsweise Cahill/Papageorgiou 2007, 910; Schwabe 2006, 50; Tates/ Meeuwesen 2000, 151; Tates/Meeuwesen 2001, 839). Eine Beschäftigung mit der Beteiligung der drei Gesprächsparteien im pädiatrischen Gespräch scheint angebracht, da dies bei Sichtung des Materials sofort augenfällig ist und zudem vorwiegend mit den Phänomenen  – wie sie Schwabe (2006, Kap. 4.1 und 4.2) genannt hat – „Sprechen über jemanden“ und „Sprechen für jemanden“ einhergehen und laut Tates u. a. „institutionally co-constructed“ (2002, 5) sind. Wenn die pädiatrische Kommunikation qualitativ untersucht wird, geht dem folglich in den meisten Fällen eine quantitative Analyse voraus.

Pädiatrische Gespräche 

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3.2 Gründe für eingeschränkte Vergleichbarkeit Trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmungen lassen sich die ermittelten Resultate dennoch nicht uneingeschränkt einander gegenüberstellen, da z. B. „[t]hese studies use different methods to reach these estimates“ (Cahill/Papageorgiou 2007, 908; vgl. auch z. B. Tates/Meeuwesen 2000). Neben der unterschiedlichen Herangehensweise werden in den einzelnen Artikel noch weitere Gründe angeführt, warum die Zahlen bisweilen divergieren: So führen Tates und Meeuwesen (2000, 159) etwa neben dem Setting das unterschiedliche Durchschnittsalter der Patienten als Kriterium an, welches zur Unterscheidung bei den Ergebnissen der verschiedenen Studien geführt habe. Das basiert auf den Ergebnissen ihrer Studie, nach denen die Beteiligung sowie die Kompetenzzuschreibung durch die Ärzte konstant zum Alter ansteigen (Tates/Meeuwesen 2000, 159). Obwohl Stivers und Majid zu ähnlichen Ergebnissen kommen, verweisen sie darauf, dass bei bestimmten Fragen, nämlich bei „questions about their own lives (social/background), their preparedness for examination, and what they feel and otherwise perceive (experience questions)“ (2007, 433) das Alter der Patienten keine Rolle spielt. Tates u. a. ermittelten anhand ihrer Daten, dass die Beteiligung der Kinder in den Interaktionen am höchsten war, „where the GP [JW: Allgemeinmediziner] assumes a supportive role“, „[a]lthough both GP and parent predominantly assume a non-supportive role in interaction with the child“ (2002, 12), während Aronsson/Rundström (1988, 186) aufgrund ihrer Analyse diese entscheidende Rolle eher den Eltern zuschreiben. Winterscheid (i. V.) zeigt anhand der quantitativen Auswertung ihrer Daten, dass die Beteiligung der Kinder nicht im gesamten Gespräch, sondern phasenweise mehr oder weniger ausgeprägt ist (vgl. a. Tates/Meeuwesen 2000, 159; Schwabe 2006, 50; Pantell u. a. 1982, 398): So nimmt die Beteiligung nicht unbedingt im Zusammenhang mit dem Alter, sondern vielmehr gekoppelt an die Handlungsaufgaben zu oder ab, was Abweichungen bei dem für ärztliche Erstgespräche aufgestellten Handlungsschema (vgl. Spranz-Fogasy 2005, 20ff) für Erstkonsultationen in der niedergelassenen Kinderarztpraxis erzwingt (SpranzFogasy/Winterscheid 2013, 5 ff.; Winterscheid i. V.). Nach van Dulmen besprechen Ärzte Inhalte je nach vorliegendem Problem, dem Alter der Kinder und sogar der eigenen Erfahrung eher mit der einen oder anderen Partei, weil sie sich damit schwer tun, „to accomplish a true multi-party talk instead of communicating with either the child or the parent“ (2004, 8). Mittels einer Longitudinalstudie (der Erhebungszeitraum umfasst insgesamt beinahe 20 Jahre und verlief in mehreren Episoden) konnten Tates und Meeuwesen (2000) des Weiteren aufzeigen, dass es sogar gesellschaftliche Veränderungen binnen weniger Jahre gibt, die sich ebenfalls auf die Beteiligung der Kinder auswirken und eine Gegenüberstellung verschieden alter Daten für gewisse Fragestellungen ausschließen. Als ein Ergebnis konnte festgestellt werden, dass „[t]he increase in the GP’s child-orientation is in accordance with a general shift to more patient-centeredness in doctor-patient communication“ (Tates/Meeuwesen 2000, 160).

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Erschwerend kommt hinzu, dass es kaum Studien zu deutschen Gesprächen beim Kinderarzt gibt. Das ist deswegen bedeutsam, da zum Beispiel die Studie von Stivers (2007) zwar außerordentlich aufschlussreich in Bezug auf eine mögliche Einflussnahme der Eltern auf die Therapieplanung ist, die von ihr untersuchten Interaktionen jedoch nur bedingt mit den pädiatrischen Arzt-Patient-Gesprächen in Deutschland verglichen werden können, weil die Rahmenbedingungen in den USA sich gerade hinsichtlich des untersuchten Phänomens maximal zu denen in Deutschland unterscheiden. Stivers erforscht das „inappropriate prescribing of antibiotics for viral upper respiratory tract infections (URTIs) among children in the United States“ (Stivers 2007, 9; vgl. hier auch z. B. Studien von Mangione-Smith u. a. 2004, MangioneSmith u. a. 2006, Stivers 2005). Anhand verschiedener Gespräche zeigt Stivers auf, wie sich Ärzte und Eltern wechselseitig auf eine Therapie mit Einsatz von Antibiotika verständigen, obgleich ein Virusinfekt vorliegt und Antibiotika in diesen Fällen kontraindiziert sind (Stivers 2007, 188f). Überdies hat sie herausgefunden, dass die Eltern zwar hin und wieder tatsächlich mit dem Wunsch nach der Verordnung eines Antibiotikums in die Sprechstunde kommen, aber dies in anderen Fällen erst dann einfordern, nachdem etwa die Legitimität des Arztbesuches infrage gestellt wurde oder die Krankheit des Kindes durch den Arzt eine Verharmlosung erfährt (Stivers 2007, 187). Weiterhin konnte sie zeigen, dass [i]n all cases, the use of online commentary has been shown to help prepare parents for a nonproblem, no-antibiotics treatment outcome while maintain the legitimacy of the visit

und dass across-the-board use of affirmative, nonminimized, and specific diagnoses and treatment recommendations reduces parent resistance yet also educates parents to the idea that viral illnesses are real illnesses with real treatments (Stivers 2007, 190).

Die Autorin geht – wobei sie sich auf die Ergebnisse des „Alexander Project[s] 1998– 2000“ bezieht – auf die kulturellen Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern ein, und führt selbst an, dass „the United States has one of the highest rates of Streptococcus pneumoniae resistance to penicillin worldwide“, während die Resistenz u. a. in Deutschland äußerst niedrig ist (Stivers 2007, 8–9). Schon alleine wegen der konträren Einstellungen gegenüber Antibiotika und der unterschiedlichen Verschreibungsraten in diesen Ländern lassen sich die gewonnenen Erkenntnisse Stivers in Bezug auf diese Therapieempfehlung nur schwer auf die pädiatrische Kommunikation in Deutschland übertragen. Demgemäß geben beispielsweise auch die anfangs zitierten Ärzte den Eltern, an die sich der Gesundheitsratgeber richtet, den Tipp:

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[w]enn Sie Bedenken gegen einen Behandlungsvorschlag haben (etwa Antibiotika), so ist es für den Arzt besser, wenn Sie ihm Ihre Gedanken mitteilen, als dass Sie den verordneten Saft einfach im Kühlschrank alt werden lassen oder in den Abfluss kippen. (Renz-Polster/Menche/Schäffler 2012, 18)

Dass Antibiotika auch in diesem Zusammenhang beispielhaft für eine typisch dispräferierte Medikation angeführt wird, dokumentiert ebenfalls, dass die Einstellung gegenüber Antibiotika in der deutschen Bevölkerung generell nicht so positiv ist bzw. so positiv wahrgenommen wird, wie dies in den USA der Fall zu sein scheint. Spranz-Fogasy/Winterscheid (2013) haben an verschiedenen Sequenzen erschwerte Kommunikationssituationen in pädiatrischen Sprechstundengesprächen präsentiert, die sich zwar ebenso durch eine gewisse Gegenwehr der Eltern auszeichnen, welche jedoch auf die subjektiven Krankheitstheorien zurückzuführen sind, die zuvor aufgestellt wurden. Außerdem hat eine Analyse dieser Sequenzen ergeben, dass „verdeckte Orientierungen […] den Gesprächsprozess behindern oder verzögern“ können, aber dieser Widerstand der Eltern – anders als in den von Stivers untersuchten Interaktionen – keine Veränderung der Diagnose oder Therapieplanung nach sich ziehen (Spranz-Fogasy/Winterscheid 2013, 31). Daneben wurden in den untersuchten Daten (n=35 Gespräche) nur zweimal tatsächlich ein Antibiotikum verschrieben. Da dies in beiden Fällen annähernd analog ausgehandelt wird, soll hier nur einer der Fälle kurz umrissen werden: Die Mutter führt an, dass eine Erstkonsultation mit der Kinderärztin verabredet wurde, obgleich es dem Patienten nach dessen eigener Aussage inzwischen wieder besser geht. Diese Rahmung der Beschwerdenschilderung lässt die Mutter zwar verantwortungsvoll erscheinen, da sie nach einer für sie als beunruhigend geschilderten Situation eine Expertin aufsucht, gleichzeitig signalisiert sie der Ärztin aber auch, dass sie eigentlich keinen Handlungsbedarf mehr sieht und somit vermutlich von der Ärztin auch keine Medikamentenverordnung einfordern würde, wenn diese ausbleiben sollte. Die Ärztin reagiert darauf, indem sie sofort nach der Therapieempfehlung, die den Einsatz eines Antibiotikums beinhaltet, mit einer Begründung ansetzt, warum sie trotz der gefühlten und beobachteten Verbesserung die Behandlung mit einem Antibiotikum in diesem Fall für notwendig erachtet. Gerade dieser erhöhte Aufwand, den die Ärztin gleich im Anschluss an ihre Empfehlung produziert, macht deutlich, dass sie davon ausgeht, dass es sich bei der vorgeschlagenen Medikation eher um eine dispräferierte Empfehlung handelt, und dass sie versucht der von ihr angenommenen Abwehrhaltung der Mutter frühzeitig entgegenzuwirken. Versuche von Eltern, neben der Unterbreitung von subjektiven Krankheitstheorien an der Therapieplanung mitzuwirken, indem sie dem Arzt eigene Therapievorschläge, die sie für sinnvoll erachten, unterbreiten oder Einwände gegenüber der vorgeschlagenen Medikation vorbringen, können in gewisser Weise analog zu den von Stivers herangezogen Fällen bewertet werden.

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Als charakteristisch für solche Initiativen der Eltern kann etwa der Medikationsvorschlag des Vaters im folgenden Beispiel angeführt werden, der erst nach der Diagnosemitteilung und der Therapieempfehlung durch den Arzt eingebracht wird: #1: APEG_02_(09:16-09:25)_die BRINgen überhaupt nichts; (bei allen Transkripten gilt: A=Arzt, Ä=Ärztin, P=Patient/in, M=Mutter, V=Vater; G=Großelter) 001 V_02 da hab ich DIEse rinder (.) äh maul 002 V_02 (.) gibt_s doch diese äh (0.2) °h (.) s: (0.49) SALben; 003 V_02 (.) dass man ma[l oder ] 004 A_01 [die BRI ]Ngen überhaupt ni[chts; ] 005 V_02 [BRINGT ni ] 006 A_01 (.) mhmh 007 V_02 bisschen KÜHLT oder so. 008 A_01 [ach– ] 009 V_02 [nee, ] 010 A_01 (0.3) HILFT nich; (Die Transkripte wurden konform zu den GAT2-Transkriptionskonventionen nach Selting u. a. 2009 transkribiert.)

In diesem Fall spricht sich der Arzt zwar ausdrücklich gegen den Einsatz der durch den Vater vorgeschlagenen Salbe aus (Zeilen 1/2), in anderen Fällen werden Vorschläge der Eltern jedoch unterstützt. So bejaht die Ärztin z. B. im zweiten Beispiel den Einsatz des vorgeschlagenen Medikaments, da sie ebenfalls „GRAD“ (Z. 8) im Begriff war, der Mutter dasselbe Medikament vorzuschlagen: #2: 001 002 003 004

APEG_30_(10:26-10:38)_otovoWENtropfen gefunden;=ja? (0.43) M_30 °h also dann brauchen wir eigentlich nur NAsentropfen–= M_30 =und dieses äh oto:: äh M_30 °h ich hab noch otovoWENtrop[fen ge]f[unden;=ja? °h ] 005 Ä_03 [ja, ] 006 Ä_03 [des könnte man AU noch überle]gen–= 007 M_30 [da hab ich auch geDACHT, ] 008 Ä_03 [=des war jetz GRAD was ich mir ][noch; ] 009 M_30 [aber da ]wusst ich auch die doSIErung nich [mehr. ] 010 Ä_03 [s ]kann ich noch mal NACHgucken. 011 (1.45)

Auch hier erfolgt der Vorschlag der Mutter bezüglich einer anderen Medikation innerhalb der Phase der Therapieplanung. In dieser Phase werden solcherlei Vorschläge, die in den meisten Fällen zusätzliche oder andere Medikamente oder auch weitere mögliche Behandlungsvorschläge betreffen, vornehmlich unterbreitet. Gleicherma-

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Pädiatrische Gespräche 

ßen werden Therapievorschläge des Arztes infrage gestellt (Beispiel #4, Z. 6), expliziert oder bestimmte Maßnahmen oder Vorschläge bezüglich der Medikation aus der Diagnose heraus abgeleitet (Beispiel #3, Z. 6), wie in den nächsten beiden Fallbeispielen nachzuvollziehen ist: #3: 001 002 003 004 005 006 007 008 009

APEG_02_(08:46-08:57) des is einfach ne überLAStung– A_01 und der schmerz is ja bei dir HIER, A_01 des is einfach n[e überLAStung–=ne– ] P_02 [des is von HIER ]bi[s HIER; A_01 [geNAU. A_01 (.) °h des is einfach überlasTUNG. V_02 weniger SPIElen (.) bisschen ruhe haben; A_01 (1.2) das kann er SELBST (0.21) V_02 ents[cheiden; ] A_01 [regeln; ]

] ]

Das dritte Fallbeispiel beinhaltet eine mögliche Handlungsanweisung, die der Vater anführt, jedoch als eine logische Konsequenz der Diagnose präsentiert und zur Diskussion stellt. Im vierten Beispiel hinterfragt die Großmutter das vorgeschlagene Medikament mit einer Nachfrage bezüglich eines enthaltenen Wirkstoffs, der im Allgemeinen als umstritten eingestuft werden kann, da dieser zumindest in höheren Dosen als Opiat unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Allerdings veranlasst dies die Ärztin nicht dazu, einen Alternativvorschlag zu unterbreiten, sondern die Entscheidung zu rechtfertigen: #4: 001 002 003 004 005 006 007 008 009 010 011 012 013 014 015 016

APEG_33_(05:26-06:08)_un wenn er das capval nicht NIMMT, Ä_03 °hh gut dann (0.22) könn_ma noch mal GUCKen; Ä_03 es gibt noch das codiPRONT; ((Ärztin gibt etwas am Computer ein)) Ä_03 (0.22) h° (0.42) h° (0.32) V_33 [((unverständlich)) ] G_33 [(da is dann) codeIN, ] P_33 ((unverständlich)) Ä_03 (.) °h da is codein DRIN.= Ä_03 =des is [t halt ] G_33 [, ] Ä_03 (.) das s capval is des einzigste OHne codein–= ((Auslassung von 13 Sek.)) Ä_03 genau;=ab ZWEI jahre is der schon zugelassen– Ä_03 also des is halt das einzigste husten STILLende noch; Ä_03 (.) °h [es ]gibt halt EINfachere sachen monapax sedotussin aber 017 V_33 [hm; ] 018 Ä_03 (0.29) ich glaub das HILFT bei ihm nicht so fürch[terlich ]viel–=

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019 G_33 020 Ä_03 021 Ä_03 022 Ä_03 023 Ä_03

[; ] =weil wenn er dann so_n REIZ hat, °h dann würd ich ihm lieber einmal was geben was HILFT und (ihm runterdr)= =un wenn er das capval nicht NIMMT, °hhh dann geht halt nur–=

Zusätzliche Therapievorschläge der Eltern werden entweder abgelehnt oder aber  – wenn diese in den Therapieplan der Ärzte passen  – bestätigt. Kritische Einwürfe, Nachfragen zu den vorgeschlagenen Medikamenten oder Therapieplänen der Ärzte werden stattdessen eher verhandelt, als dass diese zu einer Umgestaltung des Therapieplans führen. Die Reaktion des Arztes auf die aus der Diagnose vermeintlich abzuleitende Verhaltensempfehlung durch den Vater im dritten Fallbeispiel berührt ein weiteres Phänomen, welches aufgrund der divergierenden Gesprächssituationen oder Bedingungen auch in den verschiedenen Untersuchungen von Gesprächen in deutschen Kinderarztpraxen respektive der Praxen in den Kinderkliniken nicht vergleichend untersucht werden kann: die epistemische Autorität (Heritage/Raymond 2005), die den Kindern in verschiedenen Fällen zugestanden oder auch abgesprochen wird.

4 Beteiligungsrollen und epistemische Autorität Gemeinhin ist zunächst davon auszugehen, dass zwar den Patienten die Wissenshoheit über ihre Leiden obliegt, da sie „unmittelbar von einem Problem betroffen [sind und nur] nicht in ausreichendem Maße über Ressourcen zur Lösung oder Bewältigung des Problems verfügen“ (Reitemeier 1994, 230). Dementsprechend werden Selbstzuschreibungen […] in der Sprachgemeinschaft als Ausdruck einer hochgradig verlässlichen Wissensform behandelt, was sich in einem signifikanten epistemischen Kredit ausdrückt: Selbstzuschreibungen werden in der Regel nicht korrigiert und bezüglich der Einschätzung seiner eigenen mentalen Zustände hat der Sprecher das letzte Wort. (Michel/Newen 2007, 2)

Dies hängt damit zusammen, „dass jede Person einen in einzigartiger Weise unmittelbaren epistemischen Zugang zu den Inhalten ihres eigenen Geistes habe, die beste Beobachterin der Inhalte ihres eigenen Geistes ist“ und damit einhergehend prinzipiell über bestimmte Rechte verfügt, über diese Auskunft zu geben (Lauer 2010, 6). Denn obwohl „in bestimmten Situationen […] Beobachter ähnliche Erlebnisse habe[n] wie das betroffene Subjekt, so ist doch die Intensität und Qualität wesentlich verschieden und führt zu anderen mentalen Zuständen“ (Michel/Newen 2007, 26). Gelegentlich haben jedoch die Eltern die epistemische Autorität auch alleine inne: in jenen Fällen nämlich, in denen die Symptome, derentwegen der Arzt aufgesucht wird, lediglich

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den „Eltern aufgefallen“ sind und gleichzeitig „keine spürbare Beeinträchtigung vorliegt“ (Winterscheid i. V.). Das Arzt-Patient-Gespräch ist dadurch geprägt, dass es bestimmte Inhalte [gibt], deren Entfaltung dem Arzt aufgrund seines Fachwissens, seiner diagnostischen und therapeutischen Aufgaben, kurz: aufgrund seiner Zuständigkeit, obliegen und solche Inhalte wie subjektive Befindlichkeiten, Beschwerden, Vorgeschichten etc., zu denen nur der Patient Zugang hat, für die er zuständig ist. (Quasthoff 1990, 74)

Gerade bei triadischen Arzt-Patient-Gesprächen ist diese Unterscheidung nicht mehr ohne Weiteres möglich. Zwar ist in ärztlichen Gesprächen  – ob triadisch oder dyadisch  – der Arzt generell aktiver als die anderen beiden Gesprächsteilnehmer, was nach Quasthoff zum einen „auf das Ausmaß [zurückzuführen ist], in dem entsprechende Gesprächsgegenstände in der Interaktion eine Rolle spielen“ (Quasthoff 1990, 74) und zum anderen darauf, dass die Gesprächsbeteiligten „einen der Beteiligten als für die Interaktion Verantwortlichen [definieren] und […] ihn mit entsprechenden Sonderrechten aus[statten]“ (Quasthoff 1990, 76). Im ärztlichen Gespräch ist dies qua Rolle der Arzt. Dass die Patienten als Betroffene allerdings einen so geringen Redeanteil haben, ist bemerkenswert, lässt sich aber auf verschiedene Konzepte zurückführen, die typisch für diesen Interaktionstyp mit dieser besonderen Beteiligungsstruktur sind. Zunächst handelt es sich in einigen Fällen, in denen die Eltern einschreiten, um Unterstützungssequenzen (vgl. Winterscheid i. V.): Dies kann völlig klassisch verlaufen, indem „[u]nterstützende Sprecher […] dem primären Sprecher nicht sofort zur Seite [springen], sondern warten, bis erkennbar wird, dass der primäre Sprecher sich nicht selber helfen kann“ (Schmitt 1997, 57) oder selbst direkt oder indirekt um diese Unterstützung bittet. In anderen Fällen wird die „Präferenz zur interaktiven Selbstvertretung“ (Schmitt 1997, 52) von den Eltern missachtet und kein solcher „Vorfall“ (ebd.,  56) abgewartet, bevor diese den turn übernehmen, und hin und wieder geschieht dies sogar simultan mit Äußerungen des Kindes. Wenn die Eltern den turn für den Patienten/die Patientin übernehmen, nach einem Vorfall einschreiten oder das Gesagte ergänzen, etablieren sie sich meistens als primärer Sprecher und fahren mit der Beschwerdenschilderung fort, wodurch sie zugleich das „Prinzip der Zuständigkeit“ (Quasthoff 1990) missachten (vgl. Winterscheid i. V.). Einige Fragen des Arztes richten sich allerdings auch von vornherein an die Eltern. Stivers/Majid konstatieren, dass „[w]hen a child is asked a question this represents a judgment of interactional and cognitive competence by the physician“ (2007, 426). Die Autoren erklären aber auch, wobei sie sich auf die Studien von Clayman (2002) und Stivers/ Robinson (2006) beziehen, dass die Ärzte „a strong preference for answer over nonanswer response“ (2007, 426) verfolgen und demzufolge bestimmte Fragen ausnahmslos den Eltern stellen, da sie ihnen deren Beantwortung eher zutrauen. Heritage und Raymond (2005) stellen fest, dass Personen unter bestimmten Umständen angesichts ihrer sozialen Rolle Anspruch gegenüber der epistemischen Autorität bezüglich des

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Empfindens anderer geltend machen und auch zugestanden bekommen. In ihrem Artikel führen sie beispielhaft Hunde- und Katzenbesitzer an, die als Experten für Haustiere im Allgemeinen auftreten und Großeltern unter gewissen Voraussetzungen als Experten für die Enkel (ebd., 20). In besonderem Maße gilt dies natürlich auch für die Eltern gegenüber ihren Kindern und der Bewertung dieser und ihrer Leiden (ebd., 25), zumal sie die kranken Kinder mit ihrer Krankheit erlebt haben und überdies verantwortlich für die Kinder sind (Spranz-Fogasy/Winterscheid 2013, 29). In Schwabes Untersuchungen werden einige Phänomene beleuchtet, die in vielen pädiatrischen Gesprächen zu beobachten sind, wie etwa die bereits zu Anfang aufgeführten Phänomene des „Sprechen[s] über jemanden“ und des „Sprechen[s] für jemanden“ (2006, Kap. 4.1 und 4.2), aber etwa auch die „Darstellung von Agency“ (2006, Kap. 6) in neuropädiatrischen Sprechstundengesprächen, die per se eng mit dem Begriff der epistemischen Autorität verbunden sind. In den untersuchten Gesprächen in der Klinik zwischen „Anfallspatienten“, deren Eltern und den Ärzten, legt – selbst wenn die beobachteten Phänomene prinzipiell auch in anderen pädiatrischen Interaktionen vorkommen – bereits die Krankheitsgeschichte nahe, dass es sich hier um eine besondere Situation handelt, die sich gerade hinsichtlich der epistemischen Autorität erheblich von Interaktionen in der gemeinpädiatrischen Praxis abheben. Die Wissenshoheit über das verhandelte Leiden liegt hier nicht durchweg bei den Patienten, da ein epileptischer Anfall häufig mit einer „Bewusstseinsstörung“ oder „Sinnestäuschung“ einhergeht (Roche 2003, 546f). Aus diesem Grund gibt es zwar einige vergleichbare Phänomene, doch lassen sich die Ergebnisse von Schwabe (2006) nur bedingt mit Erstkonsultationen in der Kinderarztpraxis vergleichen. Auch Stivers (2007) präsentiert in dem Kapitel „Overt Forms of Negotiation“ in „Prescribing under Pressure“ anhand des Teiltranskripts eines Gesprächs die Herabstufung der epistemischen Autorität des Patienten durch den anwesenden Elternteil (Stivers 2007, 133), genauso gut kann die epistemische Autorität der Patienten jedoch auch hochgestuft werden. Aronsson und Rundström haben herausgestellt und dabei den familiären Umgangsstil innerhalb der Familie als Begründung herangezogen, dass die Ausführungen der Kinder zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt unterbrochen oder ihre Antworten hoch- oder heruntergestuft werden und ein Ausschluss der Kinder auch „facethreatening“ sein kann (Aronsson/Rundström 1988, 187; vgl. a. Winterscheid i. V.).

5 Strategien der Patienten Doch Kinder sind ebenfalls dazu in der Lage, ihre epistemische Autorität oder ihre Beteiligungsrolle innerhalb der Interaktion auszuhandeln oder darauf zu verweisen.

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Hierbei lassen sich beispielhaft verschiedene Strategien ausmachen, die sich mehr oder weniger ausgeprägt in einigen Gesprächen wiederfinden (diese Strategien wurden rudimentär bereits in Winterscheid 2012 vorgestellt): 1.) Sie treten als aufmerksame Patienten auf, die stark Anteil daran nehmen, was mit ihnen geschieht, geschehen soll oder verhandelt wird. 2.) Die Patienten verweisen explizit auf ihre eigenen Kompetenzen und Erfahrungen und machen damit deutlich, dass sie neben den Eltern ebenfalls kompetente Ansprechpartner darstellen oder präsentieren sich als routinierte Patienten, die mit der Situation vertraut sind. 3.) Sie zeigen an, dass sie mit der bisherigen Entwicklung im Gespräch – inhaltlicher Natur oder bezogen auf die Gesprächsorganisation –unzufrieden sind, indem sie z. B. widersprechen oder auch nonverbal eine Abwehrhaltung signalisieren. Mit Hilfe von drei weiteren Gesprächsausschnitten sollen solche Strategien kurz exemplifiziert werden: #5: 001 002 003 004 005 006 007 008 009 010 011 012

013 014 015 016 017 018 019

APEG_30_(14:32-15:03)_müssen wir dich auch Impfen; Ä_3 °hh un wenn du wieder FIT bist maus– Ä_3 müssen wir dich auch IMpfen; (1.58) M_30 hm–=hab [(ich) au ]geMERKT;=[ja, ] Ä_3 [ja, ] Ä_3 [diph]therie tetanus KEUCHhusten is fällich; Ä_3 °h und meningoKOKKen; (0.9) Ä_3 d[es weiß ]ich nich ob des schon an i[hnen voRÜberging oder nich, M_30 [hmhm, ] P_30 [°h mama was is IMpfen; ] Ä_3 des is jetzt auch (0.26) seit zw]ei drei jahren empfohlen f[ür alle KINder ] (also/des is) eine form von bakt[eriellem meningi]tis [is das– ] P_30 [maMI, ] M_30 [hmhm; ] M_30 [ham wir sie ni ]ch geIMPFT dageg[en, ] Ä_3 [nee;=] zumindest steht_s HIER nich drauf.=ja– Ä_3 (0.48) müsst man ja vielleicht einfach noch mal dann (.) auch im IMpfausweis gucken; P_30 maM[A:– ] M_30 [hmhm– ]

200 

020 021 022 023 024 025 026

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P_30 M_30 Ä_3 M_30 Ä_3 Ä_3 P_30

(0.4) was (.) is denn IMpfen– (1.21) IMpfen, °hh °h (0.58) [ähm– ] [((schmatzt)) is ei]nmal so_n PIKS machen; (.) aber des schaffen wer wenn_s so sein muss. ((Lachansatz))

Die Patientin meldet sich in dem Moment zu Wort, als am Ende der Sprechstunde etwas besprochen wird, was sie unmittelbar betrifft und wozu sie nicht das nötige Wissen besitzt. Nachdem die Ärztin und die Mutter sich auf die Notwendigkeit der für die Patientin undurchsichtigen – aber von der Ärztin als unumgänglich beschriebenen und von der Mutter ratifizierten  – Handlung (Z. 1–4) verständigt haben und die Ärztin darauf aufbauend mit der Mutter verhandelt, welche der angekündigten Impfungen an der Patientin vorzunehmen seien, wendet sich die Patientin simultan zu der Aushandlung mit der Frage nach dieser Handlung an ihre Mutter (Z. 11). Als die Mutter auf die Frage nicht eingeht, setzt die Patientin erneut an und nachdem abermals die eingeforderte Antwort ausbleibt, sogar ein drittes Mal (Z. 13/18). Sie zeigt durch das mehrmalige Nachfragen an, dass sie dem Gespräch nicht nur aufmerksam gefolgt hat, sondern auch für sich das Recht in Anspruch nimmt, Informationen zu ihrer Person etc. einzufordern und darauf sogar pocht. In allen drei Fällen geht ihrer Frage die „appellative“ Rollenbezeichnung voraus, „die die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners wecken soll“ (Spiegel 1995, 73), beim dritten Mal jedoch wartet die Patientin zudem den nächsten transition relevant point – den nächsten „möglichen Übergangspunkt“ (Auer 1990, 43) – ab, bevor sie einen weiteren Versuch startet. Nun reagiert die Mutter (Z. 21) mit der Wiederholung des zu definierenden Begriffs und signalisiert damit, dass sie nun gewillt ist, der Tochter die Frage zu beantworten. Gleichzeitig macht sie durch das längere Einatmen, die Pause und das Häsitationsphänomen deutlich, dass ihr die Beantwortung der Frage nicht so leicht fällt. Ob die Antwort, die dann von der Ärztin, welche der Mutter zu Hilfe eilt, gegeben wird (Z. 24), die Frage beantwortet und die Patientin zufriedenstellt, soll an dieser Stelle nicht weiter betrachtet werden, zumindest wird die Frage nun auf irgendeine Art und Weise bearbeitet. Die Patientin hat dreimal in die laufende Diskussion eingegriffen und markiert, dass sie die Frage, die sie selbst als für sich wesentlich kennzeichnet, geklärt wissen möchte, zumal es ja auch eine Handlung an ihr bedeutet. Dass diese Frage zunächst übergangen wird, entmutigt die Patientin nicht. Sie wartet kurz ab und bringt ihre Frage erneut an. Nachdem die Mutter anzeigt, dass sie die Frage zu beantworten versucht, reagiert auch die Ärztin auf die Frage der Patientin. In einigen Gesprächen präsentieren sich die jungen Patienten als interessierte Interaktionsbeteiligte, die sich auf denselben Wissensstand bringen wollen wie die anderen Gesprächsbeteiligten, und zum Teil explizit nachfragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben oder sie den Namen einer Krankheit erfahren wollen etc.

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Eine weitere Strategie, die man in den pädiatrischen Gesprächen findet, ist das Auftreten der Patienten als Experten: #6: APEG_04_(04:37-04:52)_is dass du NAsentropfen nimmsch; 001 A_02 und des (.) EINzige was man da machen kann (.) und machen (0.23) SOLLte, 002 P_04 (.) °h 003 A_02 is dass du NAsentropfen nimmsch; 004 A_02 (0.68) JA? 005 (1.74) 006 A_02 damit die schleimhäute in dem verbindungsgang abSCHWILLT; 007 A_02 (.) des wieder AUFgeht– 008 P_04 (.) °h 009 A_02 un da wieder die LUFT reingeht, 010 A_02 (0.72) un[d äh ] 011 P_04 [ich hab schon mal NA]sentropfen genommen; 012 A_02 (.) JA; 013 A_02 (.) des solltescht du DREImal am tag jetz nehmen noch– 014 A_02 (.) °h so e WOche lang– 015 A_02 (.) NE? 016 P_04 °h 017 A_02 un ansonschten en harmloser viRUSinfekt; 018 A_02 (.) da is sie au bissle SCHLAPP–

In diesem Beispiel wehrt sich die Patientin dagegen, dass der Arzt die Behandlungsempfehlung nach dem Hinweis auf die Art der Verabreichung mit dem anwesenden Elternteil statt mit ihr bespricht und verweist explizit auf ihre eigene Erfahrung (Z. 11). Der Arzt wendet sich daraufhin an die Patientin (Z. 12–14) und führt ihr gegenüber an, wie häufig sie das ihr gegenüber erwähnte Medikament einzunehmen hat. Hiermit reagiert der Arzt auf die von der Patientin eingeforderte Anerkennung ihrer Beteiligungsrolle und benennt gegenüber dem Vater die ermittelte Diagnose und eine Folge, die in der Beschwerdenschilderung durch den Vater angesprochen wurde. Auch wenn der Arzt sich unmittelbar danach wieder an den Vater wendet, hat die Patientin sich wieder kurzzeitig als aktive Gesprächsbeteiligte etablieren können, indem sie den Arzt darauf aufmerksam gemacht hat, über die notwendige Erfahrung zu verfügen, um eine geeignete Ansprechpartnerin für Dosierungsempfehlungen etc. zu sein. Eine dritte Strategie geht über den Verweis auf die eigene Kompetenz und die Etablierung einer erwünschten Beteiligungsrolle sowie die Einforderung des Rechts auf Wissen hinaus, indem die Patienten anzeigen, dass sie mitentscheiden wollen. Das äußert sich etwa, wenn Behandlungsempfehlungen der Ärzte oder Vorschlägen der Eltern widersprochen oder anderweitig angezeigt wird, dass sie mit der bisherigen Entwicklung nicht einverstanden sind, wie im nächsten Fallbeispiel:

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#7: APEG_02_(08:00-08:15)_einzige was man SONST noch machen kann– 001 A_01 (0.24) und dann sollte es eigentlich innerhalb von nen paar tagen weg[GEHN; ] 002 V_02 [wegGEHN– ] 003 A_01 °h (.) einzige was man SONST noch machen kann– 004 A_01 (.) °h dass_n orthopäde versucht ihn einzuRENken; 005 (0.65) 006 P_02 NEI[n. ] 007 V_02 [wenn de]r v (.) sagen wir mal– 008 V_02 (.) aber wenn_s NICH weggeht; 009 V_02 (.) in [maxim ] 010 A_01 [also i][ch denke: ] 011 V_02 [wenn ++++++ NICH ]mehr; 012 A_01 in ner WOCHe is das [weg– ] 013 P_02 [hm– ] 014 A_01 (.) ne?

Hier widerspricht der Patient einer Behandlungsempfehlung (Z. 6), die dem Vater gegenüber als eine Behandlungsoption dargestellt wurde, falls die akuten Probleme nicht von selbst verschwinden sollten, so wie der Arzt dies eigentlich erwarten würde (Z. 1–4). Obgleich diese Möglichkeit zwischen Arzt und dem Vater erörtert wird, widerspricht hier der Patient nach Offenlegung der Handlungsoption klar. Durch den Protest stellt sich der Patient zum einen als jemand dar, der über das nötige Wissen verfügt, um diese Entscheidung treffen zu können, und zum anderen als ein Patient, der selbst über die an ihm vorzunehmenden Handlungen entscheiden möchte. Diese und andere Beispiele zeigen, wie die Patienten versuchen, trotz der „strong turn taking control“ durch die Erwachsenen (Tates/Meeuwesen 2000, 159), aktiv an der Interaktion teilzunehmen, die ja wegen ihnen anberaumt wurde und ohne sie nur in Ausnahmefällen zustande käme.

6 Compliance Tates/Meeuwesen empfehlen im Übrigen  – analog zu der beispielsweise auch von Greene/Adelman beobachteten „steady progression of the recognition of the significance of the recognition of the significance of children’s involvement in pediatric visits“ (2013, 140)  – generell einen stärkeren Einbezug der Kinder durch die Ärzte (2000, 160). Dabei stützen sich die Autoren auf zwei etwas ältere Studien von Pantell/ Lewis 1982 sowie Holtzheimer/Mohay/Masters 1998, wenn sie damit die Ziele formulieren, die Beziehung zu den Patienten zu festigen, die „compliance“ aufseiten der Kinder zu sichern und ihnen letztendlich „a sense of responsibility for their own health care“ zu vermitteln (Tates/Meeuwesen 2000, 160). Andere Autoren (vgl. bspw. Streeck 2002) versuchen Ärzten aufzuzeigen, wie sie auf die Patienten und die für diese verantwortlichen Begleitpersonen (besser) eingehen können, um „eine [stär-

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kere] Einbindung der Eltern und Kinder in das interaktive Geschehen der Sprechstunde“ und damit eine „Chance […] zum Gelingen einer symmetrischen Verständigung [eröffnen]“ zu können. Compliance, „die Bereitschaft des Pat., bei diagnostischen u. therapeutischen Maßnahmen mitzuwirken“ (Roche 2003, 353), ist prinzipiell in jeder Arzt-PatientInteraktion von großer Bedeutung. Dass in Gesprächen mit triadischer Struktur sowohl die compliance der Eltern als auch der Patienten sichergestellt werden muss, kann man daran sehen, dass in einigen Gesprächen (z. B. in Beispiel #4, Z. 28) auch erwähnt wird, dass die Kinder sich an die Empfehlung der letzten Konsultation nicht gehalten haben und bestimmte Medikamente von ihnen abgelehnt wurden (s. a. Spranz-Fogasy/Winterscheid 2013, 15). Im Übrigen klingt dies auch in dem anfangs zitierten Ratgeber an, der diesen Sachverhalt – die non-compliance der Eltern – als häufig gegeben annimmt (vgl. Renz-Polster/Menche/Schäffler 2012, 18).

7 Ausblick Wie in diesem Artikel dargelegt wurde, gibt es, trotz einer verstärkten Auseinandersetzung mit pädiatrischen Gesprächen und den kindlichen Patienten „seit Ende des 19. Jahrhunderts“ (Schwabe 2006, 43), noch viele Leerstellen bei der Erforschung der pädiatrischen Kommunikation. Triadisch-pädiatrische Gespräche unterscheiden sich nicht nur elementar von (dyadischen) Arzt-Patient-Gesprächen außerhalb der Pädiatrie, sie sind zudem auch noch interaktionstypologisch zu differenzieren. Schon anhand der wenigen aufgeführten Beispiele (vgl. vor allem Kapitel 3 und 4) konnte gezeigt werden, dass die Studien zur pädiatrischen Kommunikation nicht uneingeschränkt miteinander verglichen oder ohne Weiteres für Metastudien herangezogen werden können (vgl. Tates/Meeuwesen 2001, 849): Entscheidend hierfür sind ganz verschiedene Bedingungen, bspw. welche Interaktionstypen in den Studien zu pädiatrischer Kommunikation untersucht wurden, welcher kulturelle Hintergrund jeweils vorliegt (z. B. Stivers 2007) oder welche Unterstützung die Kinder erfahren (z. B. Tates u. a. 2002). Bestimmte Phänomene können zwar interaktionstypenübergreifend analysiert werden, andere sind diesen jeweils so typspezifisch, dass es keinen Sinn macht, sie in einem anderen Kontext zu untersuchen. Auch wenn in diesem Zusammenhang nur relativ wenige Aspekte zu Erstkonsultationen in der pädiatrischen Praxis präsentiert werden konnten, konnten dennoch bereits anhand der kurzen Beispiele und der umrissen Untersuchungsergebnisse die charakteristischen Besonderheiten dieses Interaktionstyps in mehrerlei Hinsicht  – vor allem in Bezug auf die Beteiligung und die epistemische Autorität – herausgestellt werden. Im Hintergrund wirksame übergreifende Gesichtspunkte, wie etwa das face der Gesprächsbeteiligten (s. z. B. Goffman 1955), haben, wie andeutungsweise sicht-

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 Jenny Winterscheid

bar wurde, im Zusammenhang der triadischen Beteiligungskonstellation ebenfalls einen besonderen Einfluss auf das Interaktionsgeschehen  – dies kann hier jedoch nur als Desiderat benannt werden.

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Pädiatrische Gespräche 

Winterscheid Jenny (i. V.): Verstehen in pädiatrischer Kommunikation mit triadischer Struktur (Arbeitstitel).

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11. Verstehenssicherung zwischen Anästhesist und Patient im Aufklärungsgespräch Abstract: Präoperative anästhesiologische Aufklärungsgespräche sind rechtlich vorgeschrieben. Der Patient muss nach der Anamnese, Verfahrensentscheidung und Aufklärung seine schriftliche Zustimmung zur Narkose geben. Da die Gespräche sehr komplex sind, ist es notwendig, dass die Gesprächsteilnehmer regelmäßig ihr Wissen abgleichen. Nur wenn der Patient die Sachverhalte verstanden hat, kann er seine Zustimmung leisten. Um das juristisch geforderte Verständnis zu sichern, sind die Anästhesisten dazu angehalten, den Patienten Fragerechte einzuräumen. Die Platzierung, Sequenzierung und Formulierungsweise der Frageangebote zeigen jedoch, dass die Patienten eher entmutigt werden, Fragen nach diesen Angeboten zu stellen. Vielmehr machen die Patienten an anderen Stellen deutlich, dass sie über die ärztliche Aufklärung hinaus Informationsbedarf haben und wenden sich eigeninitiativ mit Fragen an die Ärzte. 1 Präoperative Aufklärung als Forschungsgegenstand 2 Kontext der Aufklärungsgespräche 3 Handlungsstruktur und -aufgaben 4 Zentrale Verfahren der Verstehenssicherung 5 Zusammenfassung 6 Literatur

1 Präoperative Aufklärung als Forschungsgegenstand Der Ausdruck „anästhesiologisches Aufklärungsgespräch“ leitet leicht in die Irre. Er vermittelt, dass es sich bei den Gesprächen um reine Aufklärungsarbeit handelt. Der Interaktionstyp ist aber weitaus komplexer und die Narkoseaufklärung nur ein Teil – wenn auch ein zentraler – von mehreren: In den Gesprächen gilt es darüber hinaus, relevante Informationen für die Narkose zu erfragen, eine Entscheidung über das Narkoseverfahren zu treffen und die schriftliche Zustimmung des Patienten zur Narkose einzuholen. Die Fokussierung der Aufklärung ist sinnvoll, da die Gespräche sachlich sehr komplex und rechtlich vorgeschrieben sind. Nur wenn der Patient Absichten und Zusammenhänge kennt, kann er selbständig entscheiden und seine Zustimmung geben (Harms/Kindler 2009).

Verstehenssicherung zwischen Anästhesist und Patient im Aufklärungsgespräch 

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Positive Auswirkungen der anästhesiologischen Aufklärung auf die Patientenzufriedenheit werden schon früh festgestellt (s. z. B. Egbert u. a. 1963; Ebert-Hampel/ Hölzle 1983). Ebenso wird schon früh die Verbesserung der Gesprächsführung gefordert (Bökamp/Pfeiffer 1984). Ein weiterer Aspekt, der schon früh in den Blick der Forschung gerückt ist, sind die rechtlichen Rahmenbedingungen der Aufklärungsgespräche. Loock/Martius/Potthoff (1981, 591) kommen beispielsweise zu dem Ergebnis, dass „bei einer derart strengen Verpflichtung der Arzt seine Patienten durch die Aufklärung schnell überfordert“. Neuere Untersuchungen beschäftigen sich aus medizinischer und psychologischer Sicht mit dem Verhältnis von Patientenzufriedenheit zu prä-, peri- und postoperativen Verläufen (Schiff u. a. 2010; Straessle u. a. 2011). Harms/Kindler (2009) untersuchen die gemeinsame Entscheidungsfindung im anästhesiologischen Aufklärungsgespräch. In Hinblick auf ihre Aufgabenstellungen, ihre Verlaufstypik und die einhergehenden Kommunikationsprobleme sind die Gespräche jedoch noch kaum analysiert (s. jedoch Zollo u. a. 2009). Mit der chirurgischen Aufklärung hat sich ausführlich Jung (2005) befasst. Die folgende Darstellung beruht auf einer Untersuchung von präoperativen Aufklärungsgesprächen (s. Klüber/Motsch/Spranz-Fogasy 2012 und Spranz-Fogasy/ Klüber/Motsch 2012), die in einer Anästhesiesprechstunde eines Prämedikationszentrums in der chirurgischen Klinik eines deutschen Universitätsklinikums geführt wurden. Insgesamt wurden 18 Gespräche mit unterschiedlicher Dauer aufgezeichnet. Die Gesamtlänge der Daten beträgt über fünf Stunden. Zum Zeitpunkt der Aufnahme verfügte die chirurgische Station über 120 Narkoseärzte, die im Wechsel die Aufklärungsgespräche führen. Häufig laufen mehrere Gespräche parallel, teilweise verlassen die Ärzte für die Aufklärung nur kurzfristig den Operationssaal. Pro Tag kommen nach Angaben der Klinik 50 bis 60 Patienten zur Sprechstunde.

2 Kontext der Aufklärungsgespräche Wie bei jedem ärztlichen Gespräch handelt es sich bei den anästhesiologischen Aufklärungsgesprächen um Experten-Laien-Interaktion. Der Anästhesist handelt als Institutionsvertreter, der Patient als individuell Betroffener. Was den Interaktionstyp von anderen unterscheidet ist, dass anästhesiologische Aufklärungsgespräche obligatorischer Bestandteil der Operationsvorbereitung und rechtlich vorgeschrieben sind (Biermann 2008). Arzt und Patient sind dazu angehalten, die medizinischen und juristischen Sachverhalte zu erfüllen. Im Vergleich zum ärztlichen Erstgespräch kommt der Patient mit einer feststehenden Diagnose und einem entwickelten Therapieplan zum Gespräch. Er hat bereits eine Krankheitskarriere durchlaufen, eine Reihe von Arztgesprächen und Untersu-

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chungen hinter sich und steht kurz vor einem operativen Eingriff. Das Krankheitsbild ist also unfraglich, der Patient muss sich nicht mehr als solcher legitimieren. Des Weiteren strukturieren und standardisieren eine Reihe von Formalia die Aufklärungsgespräche von vornherein. Patientenakte, Anästhesieprotokoll sowie Frageund Aufklärungsbögen bestimmen die Interaktion wesentlich. Anhand der Akte verschafft sich der Arzt im Vorfeld des Gesprächs einen ersten Überblick. Während des Gesprächs dient dem Arzt außerdem ein Fragebogen zur Orientierung, den der Patient vor dem Gespräch eigenständig mit Angaben zu seinem Gesundheitszustand ausgefüllt hat und schließlich zum Gespräch mitbringt. In dem Bogen findet der Patient außerdem wichtige Informationen zu verschiedenen Anästhesieverfahren und deren Verlauf, zu Risiken und therapeutischen Maßnahmen. Gegen Ende des Gesprächs leistet er darauf seine schriftliche Einwilligung. Der Bogen dient also zur beidseitigen Informationsvermittlung und zu juristischen Zwecken. Während des Gesprächs füllt der Anästhesist zusätzlich das Anästhesieprotokoll aus. Er vermerkt dort relevante Informationen für die Narkose wie aktuelle Medikationen des Patienten oder Allergien. Das Anästhesieprotokoll wird später an die Ärzte weitergegeben, die schlussendlich die Narkose durchführen. Der Arzt des Gesprächs ist nur selten auch der behandelnde Narkosearzt. In der Regel sehen sich die Interaktionspartner zum ersten Mal und der Kontakt wird über die Aufklärung nicht fortgeführt. Patientengruppen und Beteiligungskonstellationen können im Gespräch variieren. Deshalb ist der Arzt dazu angehalten, die Gespräche situations-, operations- und patientenspezifisch anzupassen. Die Patienten haben unterschiedliche Krankheitsbilder und -karrieren – entsprechend fallen beispielsweise die Medikation oder die Schwere der Operation und damit die Wirkungsdauer der Narkose aus. Manche Patienten bringen einen Angehörigen, beispielsweise den Ehepartner, zum Gespräch mit. Bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren muss ein Erziehungsberechtigter im Gespräch dabei sein (zu triadischer Kommunikation s. Winterscheid in diesem Band).

3 Handlungsstruktur und -aufgaben Das Aufklärungsgespräch ist ein einheitlicher Interaktionstyp. Ziele sind relevante Informationen zum Gesundheitszustand des Patienten zu ermitteln, die Entscheidung über das Narkoseverfahren zu treffen, ausreichend aufzuklären, gegenseitiges Verständnis zu sichern und die wirksame Zustimmung des Patienten einzuholen (Klüber/Motsch/Spranz-Fogasy 2012, 240). Aus den Zielen ergeben sich klare Aufgabenstellungen für die Beteiligten mit einer handlungslogisch motivierten Abfolge. Es lassen sich sechs zentrale Handlungsaufgaben feststellen. Bestimmte Teilaufgaben können dabei vorgezogen oder nachgeholt werden. Im Vergleich zum ärztlichen Erstgespräch (vgl. beispielsweise Spranz-Fogasy/Becker in diesem Band) bestimmen

Verstehenssicherung zwischen Anästhesist und Patient im Aufklärungsgespräch 

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vor allem Formalitäten das Gespräch. Patientenakte und Anästhesieprotokoll dienen z. B. der Organisation von Behandlungsschritten, der institutionellen Krankenverwaltung und als rechtliche Grundlage.

3.1 Gesprächseröffnung In der Gesprächseröffnung müssen sich die Beteiligten ihre Bereitschaft zum Gespräch signalisieren und den Rahmen für die Interaktion herstellen. Dieser Punkt ist wesentlich, da im Gegensatz zu ärztlichen Erstgesprächen das Gespräch nicht auf Initiative des Patienten stattfindet. Es wird aufgrund von juristischen Vorgaben und zur Operationsvorbereitung geführt. Die Interaktionspartner kennen sich in der Regel vor dem Gespräch nicht. Die Zuordnung von Arzt und Patient erfolgt in der Regel willkürlich. Der Arzt nimmt sich die nächstliegende Patientenakte, orientiert sich kurz und bittet dann zum Gespräch. Nach der Begrüßung stellt sich der Arzt vor. Teilweise folgt eine kurze Orientierung über den Gesprächsverlauf, die Themen und Aufgabenstellungen, wie das folgende Beispiel zeigt. #1: PA_13 01 A: vom ablauf her (.) ich geh mit ihnen kurz den 02 fragebogen [durch] 03 P: [hm_hm] 04 (.) 05 A: hab eventuell weitere [fragen] 06 P: [ts ] 07 A: zu ihrer vorgeschichte gesundheit 08 P: hm_hm 09 A: danach sprechen wir über die narkose 10 (.) 11 P: hm_[hm ] 12 A: [über] den ablauf 13 so wie die risiken (Die Transkription der Gesprächsausschnitte erfolgt nach den Konventionen des Minimaltranskripts von GAT 2, Selting u. a. 2009).

Eine solche Orientierung ist sinnvoll, da der Arzt Unklarheiten in Bezug auf Gesprächsstruktur und -inhalte vorbeugt und das Nicht-Wissen des Patienten ausgleicht. Der Patient erwartet häufig nur eine Aufklärung und ist überrascht, wenn der Arzt unmittelbar mit Fragen zum medizinischen Status einsteigt. Zudem leitet der Arzt zum Kern des Gesprächs über. Im obigen Ausschnitt kündigt er die Anamnese an (Z. 1–5, 7) sowie die Entscheidung über die Narkose und die Aufklärung zum Narkoseverfahren (Z. 9, 12–13).

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3.2 Gesprächskern Der Gesprächskern besteht aus vier Teilen: Anamnese, Verfahrensentscheidung, Narkoseaufklärung und schriftliche Einwilligung. Alle Teile bauen aufeinander auf, die Reihenfolge ist handlungslogisch motiviert. Die schriftliche Einwilligung wird von den Ärzten häufig erst in der Gesprächsbeendigung thematisiert bzw. am Übergang dazu, sollte jedoch relevante Handlungskomponente des Gesprächskerns sein.

3.2.1 Anamnese Der Arzt holt in der Anamnese anästhesiespezifische Informationen ein, um das angemessene Narkoseverfahren auswählen und absichern zu können. Anhand der Informationen ergänzt er das Anästhesieprotokoll. Er fragt nach Vorerkrankungen des Patienten, aktuellen und früheren Medikationen sowie ggf. Reaktionen darauf. Vielfach hat der Patient diese Angaben bereits im Fragebogen gemacht. Wenige Ärzte klären über das doppelte Abfragen auf und beugen damit Irritationen auf Patientenseite vor. Ein unkommentiertes doppeltes Abfragen signalisiert mangelnde Vorbereitung des Arztes, Ignoranz und Misstrauen in die Angaben des Patienten.    Im Wesentlichen bestimmen ärztliche Fragen den Handlungsabschnitt. Aufgabe des Patienten ist es, Auskunft zu geben. Dies macht er nach Aufforderung des Arztes und selten eigeninitiativ. Anhand dieses Frage-Antwort-Verfahrens kann der Arzt Risiken einschätzen und ggf. die Auswahl des Narkoseverfahrens anpassen. Der folgende Ausschnitt veranschaulicht ein solches Verfahren. #2: PA_16 01 A: waren sie ansonsten längere zeit im krankenhaus 02 gewesen außer das was sie mir aufgezählt haben 03 (3.0) 04 oder beim hausarzt über wochen mal (.) behandelt 05 wegen irgendwelcher erkrankungen 06 (1.0) 07 P: ne eigentlich net (--) 08 ja gut weche de bronche mol 09 also do °h die war n eh mol arch ohgschlage 10 aber ich denk des war halt ah noch dene oh pehs (-) 11 °h das do halt ja 12 (-) 13 A: aber das macht ihnen jetzt seit_m halben 14 ja[hr auch keine probleme] 15 P: [ne ne ne ne ] ne 16 überhaupt net 17 aso [eigen]tlich

Verstehenssicherung zwischen Anästhesist und Patient im Aufklärungsgespräch 

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18 A: [gut ] 19 P: bin ich (-) eigentl (-) eigentlich bin i kern gsund 20 A: okay (.) und der blutdruck is auch in ordnung 21 [von dem was sie wissen °h thrombosen ] 22 P: [ja es is alles es is alles in ordnung]

Der Arzt fragt nach Vorerkrankungen und dem allgemeinen Gesundheitszustand. Die Patientin gibt Auskunft. Auffällig ist, dass die Ärzte in dieser Gesprächsphase die Patienten in ihrem Äußerungsraum häufig einschränken. Die Ärzte übernehmen das Rederecht, wenn ihnen die Informationen ausreichen oder behandeln thematische Relevanzmarkierungen des Patienten nur mangelhaft (zu Relevanzmarkierungen s. Sator 2003).

3.2.2 Verfahrensentscheidung Dieser Teil des Gesprächskerns bleibt oft unauffällig im Gespräch. Die Entscheidung über das Narkoseverfahren wird meist von den Ärzten im Stillen getroffen und in einem Zug mit der Narkoseaufklärung mitgeteilt. Handlungslogisch ist die Komponente jedoch notwendig und ihre Mitteilung kann zur Vertiefung des Arbeitsverhältnisses beitragen.

3.2.3 Narkoseaufklärung Die Narkoseaufklärung ist der wohl komplexeste Teil des Interaktionstyps. Auf Arztseite ist in diesem Gesprächsabschnitt die Weitergabe von Wissen zu medizinischen und technischen Sachverhalten und Handlungsanweisungen wesentlich. Der Patient ist dazu angehalten, aufmerksam zu folgen, (Nicht-)Verstehen zu signalisieren und ggf. nachzuhaken. Im Vergleich zur Anamnese ändern sich hier also die Beteiligungsrollen und -aufgaben. Die Narkoseaufklärung ist die Grundlage für die anschließende Einwilligung des Patienten. Die Informationen, die dem Patienten weitergegeben werden, betreffen drei zeitlich geordnete Abschnitte: den präoperativen, den operativen und den postoperativen Verlauf. Der Patient muss also inhaltliche Aspekte und deren Einordnung in eine zeitliche Struktur überblicken. Harms/Kindler (2009) sprechen davon, dass in solchen Aufklärungsgesprächen bis zu 60 Informationen vermittelt werden, was an die Grenze des menschlichen Auffassungsvermögens stößt. Entsprechend niedrig ist die Behaltensquote. In Hinblick auf Verstehen und Wissensvermittlung ist diese Gesprächsphase die schwierigste.

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3.2.4 Einwilligung Die schriftliche Einwilligung des Patienten auf dem Fragebogen ist eine Besonderheit des Interaktionstyps. Ohne eine nachweisbare Aufklärung darf der anästhesiologische Eingriff nicht durchgeführt werden, da dies den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt (Biermann 2008, Parzeller u. a. 2007). Die juristische Bedeutung wird in den Gesprächen jedoch meist nicht erläutert. Vielmehr wird die Einwilligung als integraler Bestandteil der Gesprächsbeendigung betrachtet und en passant formuliert, wie im folgenden Ausschnitt: #3: PA_02 01 A: gut (.) dann war 02 gut herr schmitt 03 dann einmal noch 04 wo ich das kreuz

s das schon (1.6) sie mü:ssten (-) hier unterschreiben (--) gemacht hab

Häufig sind mit der Aufforderung zur Unterschrift Signale verbunden, welche die Gesprächsbeendigung unmittelbar einleiten, im obigen Ausschnitt in Z. 1 gut (.) dann war s das schon. Der Arzt signalisiert, dass alle relevanten Sachverhalte besprochen wurden und aus seiner Sicht das Gesprächsende eingeleitet werden kann. Diese Verbindung von Kernhandlungsaufgabe und Gesprächsabschluss enthält eine hohe Suggestionskraft in Richtung Einwilligung. West (2006) zeigt in ihrer Arbeit zu medizinischen Erstgesprächen, dass die Gesprächsbeendigung oft schon früh vorgebahnt wird durch Themenbeendigungsinitiativen, explizite Beendigungsankündigungen und implizite Vorbeendigungsaktivitäten. White (in diesem Band) legt verschiedene Techniken dar, mit denen Ärzte in ihrer Rolle als Interviewer systematisch Gesprächsbeendigungen initiieren. In den Aufklärungsgesprächen fassen die Ärzte vor der Einwilligung die Inhalte teilweise noch einmal zusammen. Damit reduzieren sie die Komplexität, rufen dem Patienten die relevanten Sachverhalte in Erinnerung und schaffen Vertrauen. Spätestens an dieser Stelle soll der Patient Wissenslücken thematisieren und für ihn relevante Aspekte ansprechen können. So können die Ärzte der Vorgabe des Patientenfragebogens Rechnung tragen, die lautet: „Ich konnte im Aufklärungsgespräch alle mich interessierenden Fragen stellen“ (Weißauer 2007). Der Patient leistet anschließend seine Zustimmung.

3.3 Gesprächsbeendigung Nach der Zustimmung wird das Gespräch in der Regel beendet. Die Ärzte wünschen den Patienten meist noch alles Gute für die Operation.

Verstehenssicherung zwischen Anästhesist und Patient im Aufklärungsgespräch 

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4 Zentrale Verfahren der Verstehenssicherung Die Absicherung des Wissens ist deshalb wesentlicher Bestandteil der Aufklärungsgespräche, da sich der Arzt schon allein aus rechtlichen Gründen darüber versichern muss, dass der Patient die Informationen verstanden hat. Der Arzt ist dazu angewiesen, dem Patienten Fragerechte einzuräumen. Nur wenn sich die Interaktionspartner gegenseitig Verstehen versichern, ist die Basis für das Einverständnis geschaffen. Um sich gegenseitiges Verstehen zu versichern, stehen den Beteiligten unterschiedliche Verfahren zur Verfügung, die sich je nach Beteiligungsrolle unterscheiden. Diese werden im Folgenden hinsichtlich ihres Gehalts, ihrer Platzierung und ihrer sequenziellen Typik dargestellt. In einem ersten Schritt werden die Angebote der Ärzte, die Raum für Rückfragen anbieten, in den Blick genommen. Angesichts der Komplexität der Gespräche (vgl. Klüber/Motsch/Spranz-Fogasy 2012) erstaunt die Tatsache, dass Patienten das Angebot, Rückfragen zu stellen, nur selten nutzen. Die Patienten vermitteln damit, dass sie alle Informationen verstanden haben. Im zweiten Schritt wird gezeigt, dass die Patienten über die Angebote der Ärzte hinaus Bedarf haben, Wissenslücken zu schließen und initiativ Fragen stellen.

4.1 Angebote der Ärzte Im Folgenden werden vier Formen aufgeführt, mit denen Ärzte ihren Patienten die Möglichkeit für Rückfragen einräumen: syntaktische Fragen wie „haben Sie noch Fragen“, Konditionalsätze, z. B. „wenn noch Fragen sind, dann“, tag questions wie „ne“ und Pausen.

4.1.1 Syntaktische Fragen Syntaktische Fragen bzw. Entscheidungsfragen sind sogenannte echte Fragen. Sie weisen sowohl rein strukturell mit dem Verb in Erststellung als auch semantisch die Form einer Frage auf. Mit den syntaktischen Fragen beendet der Arzt die Informationsvermittlung und gibt den turn an den Patienten ab. Eine Antwort des Patienten wird konditionell relevant. Hier drei Beispiele aus unterschiedlichen Gesprächen, die sich nur in Nuancen unterscheiden: – haben sie denn noch irgendwelche fragen zur narkose – ham sie noch fragen zum: ablauf zur narkose – ham sie zur narkose an sich noch irgendwelche fragen Die Ärzte tendieren – bis auf wenige Ausnahmen – dazu, syntaktische Fragen erst am Übergang zur Gesprächsbeendigung bzw. zur schriftlichen Einwilligung zu stellen. An dieser Stelle können neue Sachverhalte allerdings nicht mehr effektiv in den

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Gesamtzusammenhang eingebunden werden (Heritage u. a. 2007). Boyd/Heritage (2006) sprechen von sogenannten doorknob concerns. Das folgende Beispiel zeigt eine syntaktische Frage (Z. 13–15) im handlungsorganisatorischen und sequenziellen Kontext. #4: PA_10 01 A: °hh äh:m (1.0) 02 genau und dann werden sie noch den piks mit kriegen 03 und ab dem moment schlafen sie dann schon (-) 04 °h wenn sie wieder aufwachen ham sie s schon hinter 05 sich 06 P: 07 (-) 08 A: gut 09 ((Papier raschelt, 1.6)) 10 A: so: 11 ((Papier raschelt, 1.4)) 12 A: jetzt überlegen se noch mal 13 ham sie denn noch irgendwelche fragen zur operation 14 selber (-) 15 oder beziehungsweise zum zur narkose halt 16 (1.8) 17 P: hm_h° (--) 18 hm_im grunde genommen nich nein

Die Ärztin hat den Patienten über die Narkose, die Risiken und die Handlungsanweisungen aufgeklärt. Während der Pausen (Z. 9, 11) macht sie die letzten Notizen auf dem Fragebogen und markiert schließlich mit der Aufforderung zu überlegen und der syntaktischen Frage einen Schnitt im Gespräch. Die Ärztin beendet die Informationsvermittlung und signalisiert, dass sie alle Themen abgearbeitet hat. Das Rederecht überlässt sie dem Patienten. Dieser kann mit ja, nein oder einer Gegenfrage antworten. Die Antworten sind dabei nicht gleichwertig. Verneint der Patient, dass er noch Rückfragen hat, kann er unterschreiben und die Ärztin die Interaktion zu Ende führen. Bejaht der Patient, dass er noch eine Frage hat, beansprucht er das Rederecht für sich. Die Frage, die anschließend folgt, macht eine Antwort der Ärztin wiederum konditionell relevant und das Gespräch kann noch nicht beendet werden. Durch die Eingrenzung der Antwortmöglichkeiten übt die Ärztin von vornherein eine starke Kontrolle auf die Interaktion aus. Auch die Platzierung der Frage am Ende des Gesprächs drückt eine Präferenz für die Antwort nein aus. Sie macht deutlich, dass von Arztseite alle Anliegen bearbeitet wurden und allein der Patient für die Verlängerung der Interaktion verantwortlich wäre. Auch White (in diesem Band) stellt fest,

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dass Ärzte solche „Final-concern sequences“ so gestalten, dass ihre Präferenz für die Antwort nein deutlich wird. Auch mit der Art der Formulierung drückt die Ärztin eine Präferenz für die Antwort nein aus: noch wird in der Bedeutung von darüber hinaus verwendet und suggeriert dem Patienten, dass er etwas Zusätzliches anschließen würde. irgendwelche drückt eine unbestimmte Angabe aus und lässt den Patienten mit der Menge an Informationen alleine. Der Patient müsste aus der Informationsflut einen spezifischen Aspekt herausgreifen. In dem obigen Auszug wird irgendwelche spezifiziert durch oder beziehungsweise zur narkose halt (Z. 15). Damit grenzt die Ärztin den Frageraum ein bzw. markiert ihren Zuständigkeitsbereich. Besonders bei komplexen Gesprächen ist es sinnvoll, an früherer Stelle einen Schnitt zu machen, wie die Ärztin im folgenden Beispiel. Sie sichert das Wissen der Patientin und deren Ehemanns während der Aufklärungsphase mit fragen bis hier her zum ablauf erst mal ab. Mit der Formulierung bis hier her und zum ablauf erst mal bezieht sich die Ärztin auf die Gesprächsstruktur – alles, was bis zu diesem Zeitpunkt besprochen wurde. Sie leitet damit nicht zum Gesprächsende über, sondern zu einem nächsten thematischen Abschnitt. Durch erst mal markiert sie, dass es später im Gespräch weitere Möglichkeiten für Fragen gibt. Der Ehemann der Patientin nimmt das Angebot wahr.

4.1.2 Konditionalsätze Konditionalsätze weisen eine wenn-dann-Konstruktion auf, d. h. aus einer Bedingung wird eine Folge vorausgesagt. Als bedingenden Umstand setzt der Arzt voraus, dass keine Fragen mehr bestehen. Es muss zwischen Konditionalsätzen mit einem Jetzt-Bezug und solchen mit einem vorausschauenden Bezug unterschieden werden. Wie schon bei den syntaktischen Fragen fällt der hohe Grad der Standardisierung auf. Hier jeweils drei Beispiele: Konditionalsätze mit Jetzt-Bezug: – wenn sie sonst jetzt zum eingriff keine fragen mehr haben dann unterschreiben (.) sie noch mal hier – wenn das zutrifft (-) bitte ich sie hier um eine unterschrift – wenn sie ansonsten keine fragen mehr zur narkose haben (-) bräucht ich von ihnen da eine unterschrift Konditionalsätze mit vorausschauendem Bezug: – und wenn noch irgendwelche fragen sein sollten melden sie sich vorher – falls jetzt doch noch fragen kommen (--) wenden sie sich einfach noch mal an uns – wenn sie noch fragen haben sagen sie bescheid

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 Maike Klüber

Zunächst zu den Konditionalsätzen mit Jetzt-Bezug. Sie enthalten mit den Negationsausdrücken nicht oder kein eine negative Bedingung dafür, dass keine Fragen mehr bestehen. Fast alle kommen am Gesprächsende vor, nachdem die syntaktische Frage – wenn es eine gegeben hat – gestellt wurde. Den Konditionalsätzen folgt das Einverständnis des Patienten bzw. bedingen sie es. Dem Patienten wird zwar nicht direkt die Redeübernahme angeboten, er hat aber theoretisch die Möglichkeit, einzugreifen. Ein Widerspruch bedeutet jedoch einen hohen Aufwand. Zudem müsste sich der Patient gegen die Handlungserwartung  – die schriftliche Zustimmung zur Narkose – des Arztes verhalten. Die Konditionalsätze mit Jetzt-Bezug verstärken die Funktion der syntaktischen Fragen. Die Dispräferiertheit von Fragen wird hier explizit indiziert – in den syntaktischen Fragen geschieht dies noch implizit. Die Konditionalsätze mit vorausschauendem Bezug werden bis auf wenige Ausnahmen in der Gesprächsbeendigung bzw. am Übergang dazu formuliert. Innerhalb dieser variiert die Platzierung jedoch und ist nicht so systematisch vorzufinden wie in den vorhergehenden Beispielen. Teilweise haben die Patienten zu diesem Zeitpunkt ihr Einverständnis bereits gegeben, teilweise hat der Patient die syntaktische Frage gerade verneint, wie im folgenden Beispiel: #5: PA_02 01 A: haben sie denn irgendwelche fragen noch zur narkose 02 (2.1) 03 P: °hhh hh° (--) 04 die kommen garantiert (-) 05 °h aber im ((lacht)) [((lacht))] 06 A: [°hhh ] 07 sobald [noch mal was] 08 P: [is klar ] 09 A: kommt 10 sagen sie einfach bescheid (-) 11 da können sie auch noch mal am abend vorher mit jemandem von uns sprechen (-) 12 hie:r steht noch mal alles drin 13 das können sie sich ein[fach mal durchlesen] 14 P: [ja ja ja is klar ] 15 A: das nehmen sie sich mit 16 der is für sie

In Z. 1 stellt die Ärztin die syntaktische Frage, die vom Patienten implizit verneint wird. Die Ärztin greift diese Verneinung auf und verweist in Z. 7, 9–11 auf einen zukünftigen Zeitpunkt außerhalb des Gesprächs. Durch das Einatmen in Zeile 6, das sich mit dem Lachen des Patienten überlappt, zeigt die Ärztin an, dass sie das Rederecht wieder für sich beansprucht. Die Verweise auf andere Informationsquellen machen deutlich,

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dass an dieser Stelle die Möglichkeit für Fragen nicht mehr gegeben ist (vgl. auch Klüber/Motsch/Spranz-Fogasy 2012, 256). Wie bei den Konditionalsätzen mit Jetzt-Bezug handelt es sich bei den vorausschauenden Konditionalsätzen nur bedingt um Angebote. Die Ärzte verneinen zwar nicht explizit Fragen, das Angebot überschreitet jedoch die Grenzen der Interaktion. Der Arzt unterstellt dem Patienten, dass er zu diesem Zeitpunkt keine Fragen mehr hat. Auf Patientenseite bedeutet dies einen manifesten Einspruch, falls doch Fragen an dieser Stelle bestehen sollten.

4.1.3 Tag questions Tag questions wie ne oder okay kommen hauptsächlich während der Aufklärung vor, andernfalls in der Gesprächseröffnung. In redezugfinaler Position fordern sie das Feedback des Patienten ein und/oder bieten das Rederecht an. Häufig verbindet der Arzt mit tag questions Handlungsanweisungen, deren Umsetzung im Verantwortungsbereich des Patienten liegt. In der Regel fahren die Ärzte nach Zustimmung der Patienten fort und produzieren einen multi-unit-turn. Nach Deppermann/Schmitt (2008) handelt es sich bei solchen Signalen um Verstehensappelle, die den Adressaten zu einer vertieften kognitiven Verarbeitung des Gesagten auffordern. Dem Redner geht es nicht um eine explizite verbale Rückmeldung. Trotzdem dienen sie der Prüfung von Verstehen und implizieren die Möglichkeit eines Einspruchs. Häufig tauchen die Signale z. B. nach der Aufklärung über die einzuhaltende Nüchternheit auf. Die Nüchternheit wird von den Ärzten häufig betont, da sie außerhalb ihres Kontrollbereichs liegt. Sie ist für den Operationsverlauf jedoch wichtig, da eine Nichteinhaltung intraoperative Risiken mit sich bringen kann. In der Regel wird nach tag questions ein Thema beendet und ein neues eröffnet. Sie takten ein Gespräch thematisch und verstehensbezogen. Häufig werden die tag questions von Pausen eingeleitet, es folgt eine Pause oder sie sind von Pausen eingerahmt. Die Pausen unterstreichen, dass ein Schnitt im Gespräch stattfindet.

4.1.4 Pausen Auch durch Pausen bieten Ärzte den Patienten die Redeübernahme an bzw. setzen sie als Verstehensappelle ein – mittels Prosodie, Platzierung und kommunikativer Folgen (Schwitalla 2006, Auer/Selting 2001). Nach einer Pause des Arztes signalisiert in der Regel der Patient sein Verstehen und der Arzt fährt mit dem turn fort. Ein Thema wird so abgeschlossen und ein neues eröffnet. D. h. Pausen elizitieren nicht per se Patientenfragen. Trotzdem haben die Patienten die Möglichkeit, einzugreifen und die Pausen als Angebote wahrzunehmen. Der Einsatz von Pausen wiederholt sich systematisch. Das folgende Beispiel zeigt einen Ausschnitt aus der Aufklärungsphase.

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 Maike Klüber

#6: PA_06 01 A: °h sie wissen wahrscheinlich 02 für ne vollnarkose 03 man muss nüchtern sein (-) 04 °h also man darf [ab heute nacht ] 05 P: [i hab ja kein al] i hab ja kein 06 alkohol da 07 A: ((lacht)) °h genau 08 °hh sie dürfen heut abend (--) normal essen (--) 09 °h ab mitternacht würd ich sie bitten 10 nichts mehr zu essen 11 P: hm_hm hm_[hm] 12 A: [ja] (-) 13 °h schluckweise klares wasser (-) 14 geht noch länger (.)

Die Ärztin gibt dem Patienten Anweisungen zur Nüchternheit. Dabei lässt sie regelmäßig Pausen (Z. 3, 8, 12), mit denen sie ihren Schilderungen Nachdruck verleiht und die Verstehenssignale des Patienten einfordert. Das Verstehen kann der Patient auch nonverbal beispielsweise mittels Kopfnickens ausdrücken.

4.2 Patientenreaktionen Die syntaktischen Fragen der Ärzte machen eine Antwort des Patienten konditionell relevant. Knapp Zweidrittel der Fragen werden von den Patienten verneint. Meist relativieren sie die Verneinung mit Formulierungen wie eigentlich nicht oder im grunde genommen nich nein. In der Regel ratifizieren die Ärzte die Antwort kurz, z. B. mit gut, und fahren mit der Interaktion fort. Die Reaktion der Mutter eines 15-jährigen Patienten ist besonders interessant. Sie antwortet auf die syntaktische Frage des Arztes mit doch eine einzige. #7: PA_09 01 A: ja (-) des is so der rahmen in dem sich des bewegt 02 eigentlich (-) 03 ja (--) 04 °h ham sie noch fragen zum: ablauf zur narkose 05 M: doch eine einzige 06 (--) 07 A: (…) ((lacht)) 08 M: mit knapp sechzehn 09 °h geht da die mutter noch mit in den aufwach[raum]

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Doch wird in der Regel als Antwort auf eine verneinte Entscheidungsfrage verwendet: Sie haben keine Fragen mehr? – Doch. Andernfalls kann doch als Antwortpartikel verwendet werden, wenn der Fragende zweifelt: Liebst du mich noch? (Duden 2005, 603). Die Mutter interpretiert die Frage des Arztes so, dass dieser eine Präferenz für die Antwort nein hegt und macht einen Einspruch geltend. Mit eine einzige verdeutlicht sie, dass keine ausschweifenden Fragen folgen. Ihre Antwort ist dispräferiert. Nach Boyd/Heritage (2006) und Schegloff (2007) fallen dispräferierte Antworten häufig ausführlicher aus, verursacht durch Pausen, Vorworte, Erklärungen oder Ablehnungen. Präferierte Antworten werden meist auf kurze und einfache Art und Weise strukturiert. White (in diesem Band) zeigt, dass Ärzte häufig abblocken, wenn Patienten am Ende des Gesprächs dispräferiert reagieren und bis dahin unbesprochene Anliegen äußern. Nach Konditionalsätzen mit Jetzt-Bezug leisten die Patienten ihre Unterschrift, ohne Fragen zu stellen. Auch die Reaktionen auf vorausschauende Konditionalsätze sind minimal. Die Patienten machen keinen Einspruch geltend und stellen keine Frage. Die Patienten reagieren mit kurzen Bestätigungen wie hm_hm, okay oder des machen wir. Dieses Ergebnis unterstreicht, dass die Konditionalsätze die Patienten in ihrem Antwortraum stärker einschränken als die syntaktischen Fragen. Die Präferenz für die Antwort nein bei den syntaktischen Fragen wird in den wenn-dann-Konstruktionen weiter gesteigert. Hier wird von den Ärzten bereits als Bedingung formuliert, dass keine weiteren Fragen mehr bestehen. An die Bedingung wird die Formulierung einer Folge geknüpft. Tag questions und Pausen fordern als Verstehensappelle nur minimale Rückmeldesignale. An wenigen Stellen ergreifen die Patienten das Rederecht und reagieren mit einer Frage – verglichen mit ihrer Häufigkeit der Verstehensappelle jedoch nur selten. Tag questions und Pausen stellen als einzige Möglichkeit in der Aufklärungsphase die Möglichkeit dar, Fragen zu stellen.

4.3 Eigeninitiative Patientenfragen Im Durchschnitt stellen die Patienten in einem Gespräch 2,4 Fragen. 73,5 Prozent der Fragen sind jedoch eingeninitiativ. 80 Prozent der eigeninitiativen Fragen werden in der Aufklärungsphase gestellt. In der Aufklärungsphase besteht demnach der größte Bedarf, dort werden die meisten Informationen ausgetauscht. Es fällt auf, dass sich die Fragen fast immer auf Bereiche beziehen, die in der Eigenverantwortung des Patienten liegen oder sich auf die persönliche Betroffenheit des Patienten beziehen. Fragen zur Narkose selbst kommen nur selten vor. Bei knapp zwei Drittel der Fragen kommt es zu Überlappungen mit Äußerungen des Arztes, d. h. Patienten müssen das Rederecht interventiv erkämpfen. Die Ärzte überlassen den Patienten jedoch meist das Rederecht und immer geht der Arzt auf die Frage des Patienten ein.

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 Maike Klüber

Am häufigsten stellen die Patienten Deklarativsatzfragen (58,8 Prozent), die bereits ein relativ deutliches Wissen ausdrücken, z. B. abends muss ich dann einrücken ne. Der Patient will sein Wissen von der Ärztin bestätigt haben, und er drückt eine deutliche Antwortpräferenz für ja aus. Mit 23,5 Prozent folgen W-Fragen. Mit ihnen drückt der Patient aus, dass er über eine bestimmte Komponente nicht Bescheid weiß. Der Patient im folgenden Fall wird beispielsweise an einer ausgelagerten Stelle des Klinikums operiert, die er noch nicht kennt. Mit wo ist das genau erfragt er die Angaben. Fragen mit Verb-Erstellung (V1-F) tauchen am wenigsten auf (17,6 Prozent). Wie bei den Deklarativsatzfragen implizieren die V1-F ein Wissen des Patienten, jedoch wird dieses nicht als so gewiss markiert. muss ich dann am abend schon komme praktisch indiziert ein nicht so starkes Wissen wie abends muss ich dann einrücken ne.

5 Zusammenfassung Die Darstellungen haben gezeigt, dass die Gespräche von vornherein stark standardisiert sind. Dies ist bedingt durch die institutionellen und rechtlichen Vorgaben. Frage- und Aufklärungsbögen bestimmen zudem die Gespräche durchgängig mit. Die Standardisierung schlägt sich bis auf einzelne Formulierungen durch, wie an den syntaktischen Fragen und den Konditionalsätzen der Ärzte zu sehen ist. Sie unterscheiden sich nur in Nuancen und werden an den gleichen Stellen im Gespräch platziert. Die Platzierung und die Formulierungsweise regen jedoch nicht dazu an, Fragen zu stellen, was an den Patientenreaktionen deutlich wird. Die Angebote werden kaum wahrgenommen. Syntaktische Fragen bieten als einzige „echte Angebote“ Nachfragen an. Konditionalsätze, tag questions und Pausen fordern den Patienten nur bedingt zu elaborierten Rückmeldungen auf. Deshalb kann auch die Eingrenzung getroffen werden, dass mit wenigen Ausnahmen ausschließlich in der Gesprächsbeendigung oder am Übergang dazu „echte Angebote“ für Rückfragen gemacht werden. Denn in anderen Gesprächsphasen wird den Patienten mit keinen anderen Äußerungen außer den Verstehensappellen das Rederecht angeboten. Bis dahin nicht besprochene Inhalte bleiben am Ende des Gesprächs schwach und können nicht mehr in den Gesamtzusammenhang eingebunden werden. Die Platzierung der Angebote ist nach Heritage u. a. (2007) gesprächsstrukturell ungünstig und unkooperativ. Das Gespräch ist so gut wie beendet. Die sogenannten doorknob concerns (Boyd/Heritage 2006) können bestenfalls als separate Einschubsequenz behandelt werden. Im Gesprächskern werden dem Patienten also so gut wie keine Angebote gemacht, Nachfragen zu stellen. Die Anzahl der eigeninitiativen Fragen zeigt jedoch, dass genau in dieser Phase besonders Bedarf an Information und Verstehenssicherung bei den Patienten besteht. Hier werden die meisten Informationen ausgetauscht. Eine regelmäßige Verstehenssiche-

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rung und ein kontinuierlicher Wissensabgleich in diesem Abschnitt werden deshalb zwingend empfohlen.

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 Maike Klüber

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Klaus-Peter Konerding

12. Heilung durch Sprache und Sprechen – Linguistik und Psychotherapie Abstract: Schenkt man zeitgenössischen Erhebungen Glauben, so ist gegenwärtig ein Drittel der Bevölkerung der westlichen Gesellschaften psychisch erkrankt oder von psychischen Erkrankungen unmittelbar bedroht. Als probates Mittel der Heilung gilt heute, neben dem Einsatz einschlägiger Medikamente, vor allem die verbale Psychotherapie, das therapeutische Gespräch. Wie aber ist Heilung durch Sprache und Sprechen möglich? Was sind die Spezifika des therapeutischen Gesprächs? Wie und warum wirkt verbale Psychotherapie? – Die vorliegenden Ausführungen versuchen eine umfassende Bestandsaufnahme zur Beantwortung dieser Fragen aus linguistischer Sicht. Im Anschluss an einen Überblick zur Forschungsgeschichte wird ein aktueller Vorschlag zur Beantwortung eingehender diskutiert. Der Vorschlag erweist sich als zu kurz greifend. Auf dieser Grundlage werden weitere wichtige Faktoren der Wirkung psychotherapeutischer Gespräche bestimmt, in Bezug zu linguistischen Beschreibungsparametern gesetzt und in den Zusammenhang prominenter linguistischer Theorien gestellt. Abschließend wird eine breite Agenda für die zukünftige linguistische Forschung formuliert. 1 2 3 4

Sprache und die Heilung der Seele Überblick zur Forschungsgeschichte Heilung durch Sprache und Sprechen – Zugänge zu einer linguistischen Klärung Therapeutische Allianz, Coping, Emotionalität, Expressivität, Indexikalität, Face, Politeness und Modi sprachlicher Interaktion 5 Agenda für die Forschung 6 Literatur

1 Sprache und die Heilung der Seele Dass wir mit Worten „die Seele berühren“ können, wissen nicht nur die Liebenden. Es wird uns immer dann besonders bewusst, wenn poetische Zeilen oder die Worte uns nahe stehender Menschen bei uns tiefe Gefühle und zugehörige Befindlichkeiten hervorrufen. Und dass wir mit Worten die Seelen verändern können, und zwar zum Guten wie zum Schlechten, wissen wir nicht erst seit den fundamentalen Einsichten der modernen Bindungstheorie, und aktuell der Neuropsychologie. Die gesamte Tradition der Pädagogik und die der Bildungsgeschichte handeln schließlich (auch) von diesem Thema, die religiöse „Seelsorge“ und die archaische Heilkunst des Schamanismus nicht zu vergessen.

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 Klaus-Peter Konerding

Freud hat mit seinen Vorstellungen die moderne Seelenlehre aus der Taufe gehoben, und die Psychologie und Psychiatrie des 20. Jahrhunderts, und nun auch die Neurowissenschaften, haben das Ihrige dazu beigetragen, dass wir mit Beginn des 21. Jahrhunderts vor einem großen Fundus weiteren Wissens und umfassender Erkenntnisse zu diesem Bereich stehen. Schon Freud hatte aber auch Methoden entwickelt, mit denen „Erkrankungen“ und Beeinträchtigungen der Seele behandelt werden können, mit Worten allein, durch eine „Redekur“ (Talking Cure). Das therapeutische Gespräch hat bis heute, in welcher theoretisch-methodischen Ausrichtung auch immer, seinen zentralen Stellenwert im kurativen Bereich behalten. Es hat sich zudem eine eigene Richtung der klinischen Forschung etabliert, die Forschung zur verbalen Psychotherapie. Die Anzahl der Publikationen zu diesem Bereich nimmt in den letzten 20 Jahren mit einem rasanten Tempo zu. Dies liegt nicht zuletzt an der besonderen Relevanz, die die Forschung und die kurative Praxis für die zeitgenössischen westlichen Gesellschaften besitzt. Dass die einschlägige Forschung diese Relevanz gewonnen hat, ist vor allem zwei Entwicklungen zu verdanken: Schenkt man zum einen einschlägigen Erhebungen und Untersuchungen der letzten Jahre Glauben, so wird deutlich, dass psychische im Verhältnis zu physischen Erkrankungen in den westlichen Gesellschaften in den letzten 50 Jahren in einem erheblichen Maße zugenommen haben. Danach soll ein Drittel der Bevölkerung an psychischen Erkrankungen leiden oder das Risiko zu einer kurzfristigen Erkrankung aufweisen. Zumindest ist davon auszugehen, dass die zeitgenössische Wissenschaft und die medizinisch-therapeutische Versorgung in den letzten Jahrzehnten immer differenziertere Mittel und Methoden entwickelt haben, das Phänomen psychischer Erkrankungen bzw. Beeinträchtigungen genauer zu bestimmen und in den Bereich gesellschaftlicher Wahrnehmung und Problembestimmung zu rücken. Und immer häufiger werden für physische Erkrankungen psychische Ursachen verantwortlich gemacht. Auf der anderen Seite hat die physikalische Grundlagenforschung der Medizin und Psychologie neue Techniken beschert: Die bildgebenden Verfahren zur In-vivoBeobachtung zerebraler Prozesse sowie die moderne Gehirnforschung allgemein haben die psychologische Forschung in den letzten 20 Jahren außerordentlich befruchtet und zudem an die einschlägige Forschung im Bereich der Neurobiologie anschlussfähig gemacht. Hier ist in der Folge ein vollkommen neues Feld experimenteller und theoriebildender Aktivitäten entstanden, die auch in den übrigen Bereichen der Psychologie, und allgemeiner, im Bereich des interdisziplinären Verbundes der Kognitiven Wissenschaften – und damit auch im Bereich der Kognitiven Linguistik – zu neuen und fruchtbaren Entwicklungen wesentlich Anstoß gegeben haben. Aufgrund dieser Entwicklungen stehen ganz oben auf den aktuellen Agenden der Forschung zu den Bereichen der Persönlichkeitspsychologie, der Emotionspsychologie und der Psychotherapie Prozesse der erfolgreichen Selbstregulation des Menschen. Hiervon abhängig ist sein so genanntes Well-Being, in individueller wie sozial-gesellschaftlicher Perspektive. Nachdem im 20. Jahrhundert die äußere Erfah-

Heilung durch Sprache und Sprechen – Linguistik und Psychotherapie 

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rungswelt des Menschen und die zugehörigen physischen Phänomene im Zentrum der Forschung gestanden haben, scheint mit Beginn des 21. Jahrhunderts die Welt der inneren Erfahrungen des Menschen und ihre Bedeutung für die menschliche Existenz, auch für die physische Existenz, zunehmend wissenschaftlich erschlossen zu werden. Entsprechend erfuhr in diesem Zusammenhang gerade auch die Psychotherapieforschung in den letzten 20 Jahren erheblich Auftrieb und zentrale gesellschaftliche Relevanz. Was aber geschieht nun in der therapeutischen Interaktion und Kommunikation? Was sind die Spezifika von psychotherapeutischen Gesprächen? Wie ist es möglich, dass Gespräche und der Austausch von Worten die Seele verändern oder sogar „heilen“ können? Wie werden Worte heilend wirksam? Kann es auf diese Fragen auch eine linguistisch bestimmte Antwort geben? Haben mögliche Antworten aus diesem Bereich der Forschung dann auch Relevanz für die Erklärung der Funktion von Sprache allgemein, für menschliche Interaktion, Kommunikation, Kooperation und Begegnungskultur generell? Haben sie Relevanz für unser gegenwärtiges Menschenbild? Die folgenden Ausführungen bieten eine umfassende Bestandsaufnahme zur einschlägigen linguistischen Forschung, sowie, daran anschließend, wichtige weiterführende Überlegungen, die letztlich in eine Agenda für die zukünftige Forschung münden.

2 Überblick zur Forschungsgeschichte Untersuchungen und Publikationen zu sprachlich kommunikativen Aspekten der Psychotherapie existieren schon seit geraumer Zeit. Die Anfänge gehen auf die späten 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, in denen die ersten Audio- und Video-Aufnahmen von therapeutischen Gesprächen als Grundlage von Analysen Verwendung fanden. Die Entwicklung der Anzahl von einschlägigen Untersuchungen bleibt über die nächsten 30 Jahre noch tendenziell verhalten. Seit der Jahrtausendwende jedoch intensiviert sich die Forschung – auch von linguistischer Seite ‒ sehr auffällig, was insbesondere die schnell anwachsende Zahl der einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen dokumentiert. Auf Seiten der Linguistik finden sich forschungshistorisch dabei zwei methodisch-paradigmatisch geprägte Zugriffsweisen: Da ist zum einen diejenige, die das komplexe Methoden- und Begriffsarsenal der ethnomethodologischen Konversationsanalyse zum Einsatz bringt; zum anderen diejenige, die alternativ dazu durch handlungstheoretisch orientierte Zugangsweisen verschiedener Ausprägung bestimmt ist. Ein detaillierterer aktueller Überblick zur Forschungsgeschichte, mit einem Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Bereich, ist aktuell bei Scarvaglieri (2013, 7 ff.) zu finden; die folgende Kurzübersicht ist wesentlich an seiner Darstellung orientiert.

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 Klaus-Peter Konerding

Am eigentlichen Beginn der neueren Forschungsgeschichte steht die Arbeit von Labov und Fanshel (1977), die das neue Forschungsfeld entscheidend mitbegründete. Der Schwerpunkt lag hier auf der handlungsorientierten Analyse wissensbezogener Interaktion. Weitere frühe Arbeiten sind die von Roy Turner (1976) zu Gruppentherapien, der einen konversationsanalytischen Zugang wählte, und die von Wodak (1981), die Thesen von Bernstein (1970) zur Therapiefähigkeit von Mitgliedern sozialer Unterschichten revidierte, dies auf der methodischen Grundlage einer kritischen Diskursanalyse. Wesentliche weitere Stationen bilden im deutschsprachigen Bereich seit Ende der 70er Jahre die Arbeiten von Flader (etwa Flader 1979, 1982, Flader/Grozicki 1982), die unter anderem auf Untersuchungen von Robin Lakoff (1982) Bezug nehmen. Fladers Untersuchungen sind stark durch den Theorierahmen der Psychoanalyse geprägt. Wichtig sind im Weiteren die Untersuchungen von Sabine Streeck: Sie weist in mehreren Beiträgen zu Kurzzeittherapien nach, dass psychotherapeutische Kommunikation trotz struktureller Eigenarten wesentlich Alltagsverfahren der Gesprächsführung zur Grundlage hat (Streeck 1989, 1990). Mit Beginn der 90er Jahre werden spezielle sprachliche Handlungen von psychotherapeutischen Gesprächen zum Gegenstand eingehender Betrachtung und der Analyse linguistischer Untersuchungen. Hier ist zunächst und vor allem das patientenseitige Erzählen von Erlebnissen als zentrale Kategorie zu nennen. Es liegen hierzu eine Vielzahl unterschiedlich orientierter Untersuchungen vor (z. B. Hausendorf/Nordmeyer/Quasthoff 1991, 1993, Eisenmann 1995, Flader 1994, Deppermann/ Lucius-Hoene 2005, Gülich 2005, 2007, Pawelczyk 2011, Lindemann 2012). Weitere wichtige Kategorien, denen sich einschlägige Untersuchungen widmeten, sind durch die zentralen therapeutenseitigen Handlungen Formulieren, Fragen und Fokussieren bestimmt (vgl. auch Scavaglieri 2013, 36 ff.). „Formulierungen“ sind dadurch gekennzeichnet, dass Sie auf eine Äußerung des Patienten unmittelbar folgen, zentrale Aspekte des inhaltlichen Gehalts dieser Äußerung mit wenigen Worten reformulieren bzw. paraphrasieren und dabei – dies ist wesentlich ‒ in der Regel spezielle Aspekte des Gehalts der Äußerung des Patienten in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rücken (vgl. etwa Antaki 2008, 31). Formulierungen ermöglichen es dem Therapeuten, dem Patienten die Initiative bei der sprachgetragenen Bearbeitung seines Erlebens zu belassen, Verständnis, Aufmerksamkeit und empathische Zuwendung zu signalisieren und trotzdem eine behutsame Strukturierung und indirekte Steuerung der Bearbeitung im Dialog vorzunehmen (vgl. auch Scarvaglieri 2013, 37  – dort werden weitere Untersuchungen der einschlägigen Forschungsgeschichte genannt und besprochen: etwa Davis 1986, Streeck 1989, 1990, Buttny 1990, 1996, Hak/de Boer 1996, Grossen/Apothéloz 1996, Vehviläinen 2003, Antaki 2008, Bercelli/Rossano/Viaro 2008). Hier ist vor allem festzuhalten, dass Formulierungen es ermöglichen, durch nahezu unmerkliche inhaltliche Rekonzeptualisierungen nach und nach eine neue, von Patient und Therapeut wechselseitig geteilte Perspektive auf das Erleben des Patienten interaktiv zu erarbeiten. Diese kann dann vom Therapeuten in den Rahmen einer kognitiv-mentalen

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Be- und Verarbeitungsstrategie überführt werden, die aus Sicht des Therapeuten für den Patienten angemessen und zugleich auch therapeutisch erfolgversprechend und bewährt erscheint. Daneben ermöglichen es Formulierungen, durch patientenseitigen Widerspruch ‒ und durch die sich hierdurch entwickelnde wechselseitige Abstimmung ‒ tiefere Verständigungs- und Verständnisebenen zu erreichen (Elaboration eines Common Ground). Dabei finden besonders die Ebene der Semantik, die Beziehungsebene und die Ebene der Identitätskonstruktion Berücksichtigung (vgl. etwa Grossens/Apothéloz 1996). „Fragen“ und Fragehandlungen als zentrale kommunikative Aktivitäten des Therapeuten wurden bisher von linguistischer Seite weniger intensiv erforscht, dies im Gegensatz zur medizinischen Kommunikation allgemein (dazu auch Scarvaglieri 2013, 439 und Spranz-Fogasy 2010). Neben einer frühen Arbeit von Holly (1983) sind hier die Untersuchungen von MacMartin (2008) und Pain (2009) zu nennen. Therapeutenseitige Fragehandlungen, in welcher Form auch immer, tragen vor allem dazu bei, dass der Patient die Selbstexploration weiter entwickelt. Unter „Fokussierung“ als therapeutenseitig bestimmter sprachlicher Handlung versteht man eine sprachliche Technik, die speziell in der psychodynamischen Therapietheorie beheimatet ist und die, gemäß der üblichen Verfahrensweise der einschlägigen Therapietradition, der interaktionalen thematischen Ausrichtung der therapeutischen Arbeit dient (hierzu etwa Thomä/Kächele 2006, 366). Dazu sind die konversationsanalytischen Untersuchungen von Streeck (1989) erhellend, die Fokussierungsprozesse anhand von Therapieverläufen in ihren sequentiellen und qualitativ-globalen Auswirkungen genauer bestimmen. Die dominanten Richtungen der Psychotherapie zu Beginn der linguistischen Untersuchungen sind die psychodynamisch-psychoanalytisch bestimmten Traditionen sowie die auf Carl Rogers zurückgehende „Personzentrierte“ Verfahrensweise (Person Centered Approach). (Letztere ist in Deutschland von Reinhard Tausch unter der etwas unglücklichen Benennung „Gesprächspsychotherapie“ eingeführt worden.) Entsprechend sind die frühen linguistischen Untersuchungen an den spezifischen Verfahrensweisen des einen oder des anderen Bereiches interessiert und greifen dabei in erheblichem Umfang auf das jeweils bereichsspezifische Kategorien- und Gegenstandsinventar zurück. Die „Kognitive Verhaltenstherapie“ nach Aaron Beck, die heute in den institutionellen Versorgungsbereichen neben den tiefenpsychologisch verfahrenden Ansätzen fest etabliert ist, begann in diesem Zeitraum in Deutschland erst langsam Fuß zu fassen. Grundlegende sprachliche Handlungen von Therapeuten, die über die drei genannten (Formulierung, Frage, Fokussierung) hinausgehen, sind entsprechend nahezu ausschließlich im Rahmen des personzentrierten Ansatzes oder der psychoanalytisch bestimmten Verfahren eingehender betrachtet und analysiert worden: Im Zentrum stehen hier die jeweils wichtigsten Handlungstypen: zum einen (personzentriert verfahrend) das „Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts“ und zum anderen (psychodynamisch orientiert) das „Deuten“ (im Detail dazu etwa Scarvaglieri 2013, 52 ff.).

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Eine frühe Untersuchung, die umfassend dem erstgenannten Handlungstyp gewidmet ist, liegt mit Baus/Sandig (1985) vor. Die besondere Technik des „Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts“ bestehe danach vor allem darin, dass der Therapeut durch behutsame (Re-)Formulierungen mit dem Patienten aushandelt, was der Patient bei der Bearbeitung emotional belastender Erlebnisse empfindet, vorstellt bzw. erlebt. Dabei ist der Therapeut konsequent um die Übernahme der Perspektive des Patienten bemüht. Weitere Beiträge zu dieser Thematik stammen von Weingarten (Meyer-Hermann/Weingarten 1982, Kindt (1984) und Schlobinski (1988). Diese untersuchen vor allem speziellere Mittel der sprachlichen „Abschwächung“ der assertiven Kraft im Rahmen des „Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts“ (etwa Vagheitsmarker, freie dass-Sätze). „Deuten“  – als zentraler Bestandteil therapeutischer Aktivität im psychoanalytisch bestimmten Paradigma sogenannter „tiefenpsychologischer“ Intervention – ist nach Gutwinski-Jeggle „das zentrale Behandlungsinstrument, das die ärztliche Hand durch einen verbalen Eingriff ersetzt“ (Gutwinski-Jeggle 1987, 38). Deutungen leisten danach eine „Bewusstseinserweiterung“, durch die „abgespaltete Anteile des Ich reintegriert“ werden (ebd.). Sie sollen in einer Form präsentiert werden, die der Patient „annehmen, ja aushalten“ (ebd.) und bearbeiten kann, und die entsprechend – wie schon im Zusammenhang mit dem „Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts“ betont  – reduziert in ihrer assertierten Kraft geäußert werden. Deutungen sind vor allem von Flader und Ehlich auf handlungsbezogener Grundlage mit funktionalpragmatischer Orientierung linguistisch untersucht worden (Flader/Grodzicki 1982, Ehlich 1990). „Deutungen“ unterscheiden sich gegenüber „Formulierungen“ und Interpretationen vor allem dem Umfang nach. Der Therapeut konstruiert zunächst eine umfassende Vorstellung vom spezifischen Befinden und Erleben des Patienten. Diese Vorstellung wird vom Therapeuten um weiteres eigenes professionelles Wissen ergänzt und schließlich als „Deutung“ verbalisiert in den therapeutischen Dialog eingebracht (etwa Ehlich 1990, 212 ff.). Neben linguistischen Analysen der Deutungen mit handlungstheoretischer Orientierung gibt es eine Vielzahl von konversationsanalytisch bestimmten Untersuchungen zu Deutungen, die häufig von analytisch arbeitenden Therapeuten selbst durchgeführt wurden. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Beiträge von Peräkylä und Vehviläinen zu nennen (etwa Peräkylä 2004, 2005, 2010, 2011; Vehviläinen 2003). Dort wird die psychoanalytisch verfahrende Technik der Vorbereitung und der Realisierung einer Deutung sequenzanalytisch im Detail klassifiziert und bestimmt. Da die orthodoxe Konversationsanalyse keine mentalistischen Begrifflichkeiten duldet, greifen Peräkylä und Vehvilainen komplementär auf den psychoanalytischen Kategorien- und Theorieapparat zurück (Peräkylä 2008, Vehviläinen 2008). In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass eine rein linguistisch orientierte Analyse, will diese interdisziplinär von Relevanz sein, bemüht sein sollte, auch die kognitiv und interaktional bestimmte Funktionsweise und Wirksamkeit therapeutischer Gespräche mit eigenen Kategorien zu klären. Hier weisen bloße sequenzana-

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lytische Betrachtungen ein erhebliches Defizit auf. Genau an diesem Punkt setzt der aktuelle umfassende Beitrag von Scarvaglieri (2013) kritisch an, und zwar mit einer handlungstheoretisch bestimmten linguistischen Analyse. Seine Vorschläge werden nachfolgend kurz vorgestellt und hinsichtlich ihres Stellenwerts und ihrer Erklärungskraft bewertet und eingeordnet.

3 Heilung durch Sprache und Sprechen – Zugänge zu einer linguistischen Klärung Scarvaglieri (2013) beansprucht eine bisher fehlende, exklusiv linguistisch bestimmte Antwort auf die Frage zu liefern, wie und warum verbal orientierte Psychotherapie wirkt. Er stellt fest, dass man zur Beantwortung der Frage nach der Wirkungsweise von Psychotherapie nicht umhin kommt, das Wesen des Zusammenhangs zwischen sprachlichen und mentalen Prozessen zu klären (vgl. Scarvaglieri 2013, 81). Als zentrales Moment der psychotherapeutischen Wirkung identifiziert Scarvaglieri – unter Bezug auf die einschlägige interdisziplinäre Forschung – eine „sprachlich vermittelte Wissensumstrukturierung“ (ebd., 104), die eine mangelnde Handlungsfähigkeit auf Seiten des Patienten beseitige bzw. diesem die Entwicklung neuer Fähigkeiten, situationsbezogen bedürfnisgerecht und erfolgversprechend zu handeln, ermögliche (ebd.: 102 ff.). Hinsichtlich der handlungstheoretischen Grundlagen der Wirkungsweise von Psychotherapie orientiert sich Scarvaglieri in diesem Zusammenhang an den grundlegenden Arbeiten von Flader zur Psychoanalyse (Flader 1994, 1995) sowie an denen von Rehbein (1977) zur Handlungstheorie allgemein. Psychisch erkrankte Menschen sind danach in ihrer Handlungsfähigkeit, in ihrem „Handlungsfeld“, wesentlich eingeschränkt. Sie können ihre elementaren Bedürfnisse nicht befriedigen, insbesondere im Rahmen der Interaktion mit wichtigen Bezugspersonen. Und sie sind sich der Ursachen dieser Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit nicht oder kaum bewusst. Die Situation der dauerhaft nicht adäquaten Bedürfnisbefriedigung führe zu pathogenen Verhaltensweisen und Entwicklungen bei den Patienten. Der Patient sei situativ nicht gestaltungsmächtig, sondern erlebe sich den Umständen und Prozessen ausgeliefert. Sein handlungsbezogener Wissensraum sei erheblich beschränkt. Der Therapeut sei in dieser Situation als ein besonderer Aktant zu verstehen, der dem Patienten helfend zur Seite trete und mit ihm gemeinsam – im Anschluss an verfügbare Fähigkeiten und Ressourcen des Patienten – ein neues handlungsorganisierendes und -leitendes Wissen zur erfolgreichen und bedürfnisgerechten Gestaltung der einschlägigen Situationen erarbeite (vgl. Scarvaglieri 2013, 109). Die zentral wirksamen Mittel der exklusiv sprachlichen, therapeutischen Intervention seien hierbei, je nach Therapieparadigma, die bereits zuvor charakterisierten Handlungen der „Verbalisieren des emotionalen Erlebnisgehalts“ bzw. der „Deutung“. Hierüber werde es nach Ansicht der einschlägigen Therapietheorien möglich, dass der Patient sich

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zum einen seiner Erfahrungen und der damit verbundenen handlungsverhindernden inneren Einstellungen sowie der handlungs- und verhaltensbestimmenden Bedürfnisse bewusst werde. Zum anderen ermögliche dies, dass der Patient die maladaptiven Einstellungen zu neuen, handlungsorganisierenden wie handlungsleitenden Konzeptualisierungen und Einstellungen mental weiterverarbeiten könne. Es resultiere daraus in der Regel eine neue Handlungs- und Verhaltenskompetenz, die eine sozial angemessene und akzeptable sowie individuell erfolgreiche Form der Bedürfnisbefriedigung ermögliche. Es bleibt nun für Scarvaglieri die grundlegende Frage zu beantworten, wie dieser Prozess der „Heilung“ durch sprachliche Interaktion, im Sinne der Handlungspotentiale erschließenden Wissensumstrukturierung und -erweiterung, im Detail linguistisch geklärt bzw. erklärt werden kann. Seine Antwort – gestützt auf die funktionalpragmatisch bestimmten Analysen von Transkripten zu 6 Kurzzeittherapien – lautet wie folgt (vgl. Scarvalieri 2013, 115 ff.): Durch sprachliche Benennung des Erlebten werde das singulär partikulare, episodisch gebundene Erleben des Patienten „auf eine abstraktere Stufe gehoben, damit aus einer allgemeingültigen, gesellschaftlich anschlussfähigen Perspektive sukzessive rekonzeptualisiert“ (Scarvaglieri 2013, 163; auch 170 ff., 266 ff.). Hierbei wird das singuläre, individuelle, situativ-episodisch bestimmte Erlebenswissen (zugehörige Gedächtnisgehalte) über die sprachlichsemantische Topik der Sprechergemeinschaft typisiert und darüber an allgemein bewährte, kollektiv geteilte und evaluierte Handlungs- und Bearbeitungsmuster anschlussfähig gemacht (vgl. ebd., 140, 277, dort unter Rückgriff auf bekannte Überlegungen bei Wygotski 1969; vgl. zu diesem Moment auch aktueller Nelson 1996, 2007 oder Konerding 1993:81 ff., 2008, 2010, 2014): Mit den Worten Scarvaglieris: Indem das Erleben neu ausgedeutet und durch neues Wissen zusätzlich beleuchtet wird, wird für PA [= Patient ] verstehbar, warum er in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art handelt und empfindet. PAs Gefühle werden damit von etwas Unverstehbarem, Regellosem, das ihm zustößt, dem er ausgeliefert ist, zu etwas Durchschaubarem, das im Handeln entsteht, somit bestimmten Regeln und Regelmäßigkeiten unterworfen ist und das entsprechend, nachdem es in seinem Wirkungszusammenhang, seiner inneren Systematik verstanden ist, auch verändert und gestaltet werden kann. (Scarvaglieri 2013, 163)

Es lässt sich Scarvaglieri hier zunächst einmal generell in wesentlichen Teilen zustimmen. Und es ist zweifellos Scarvaglieris Verdienst, die Problematik um die Frage nach der Wirksamkeit therapeutischer Gespräche auf der Grundlage einer etablierten und akzeptierten linguistischen Theorie – hier der Funktionalen Pragmatik – aus linguistischer Sicht in einem ersten Schritt wesentlich erhellt zu haben. Fraglich bleibt allerdings, ob die Lösung, die hier angeboten wird, nicht doch etwas zu kurz greift. „Verstehen“ ist eine Seite der Medaille: „Mentalisierung“ des subjektiven Erlebens durch symbolgetragene Rekonzeptualisierung des Erlebten und, darauf gründend, die selbstgesteuerte, bewusstseinskontrollierte Handlungs- und Verhaltensmodifikation sind erwiesenermaßen wesentliche Momente einer erfolgreichen Psychotherapie

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(vgl. dazu etwa die renommierte Theorie von Fonagy u. a. 2004). Wäre da nicht auch die andere Seite der Medaille, die große Macht des Impliziten, des „Unbewussten“, der weitgehend bewusstseinsentzogen rein prozedural wirksamen Bewältigungsverhaltensstrukturen (Coping), die durch implizite, automatisierte emotionale Bewertungsprozeduren kontrolliert und gesteuert werden (zum Verhältnis von explizitem zu implizitem Wissen vgl. auch Konerding 2008, Konerding 2014; zur Rolle der Emotionalität im Rahmen der kognitiven, auch sprachlichen, Informationsprozessierung vgl. etwa Holodynski 2006, Schwarz 2013, aktuell Barrett/Wilson-Mendenhall/Barsalou 2014). Rein symbolgetragenes Verstehen und rational reflektierte wie kontrollierte Handlungssteuerung werden kaum wirksam werden, wenn nicht zugleich explizit oder implizit eine Bearbeitung und Veränderung der emotional reaktiven Motivationen und Prozeduren sowie eine Bearbeitung und Veränderung der damit verbundenen, emotional getragenen situativen Haltungen und Einstellungen vorgenommen wird (etwa Roediger 2011, 33 ff.; Barrett/Wilson Mendenhall/Barsalou 2014; klassisch aber auch schon Wygotski 1969, Kap. 7). Dies kann und sollte zum einen im Rahmen des therapeutischen Dialogs selbst erfolgen, zum anderen aber auch ergänzend im Rahmen psychoedukativer Maßnahmen und Skill-Trainings, etwa wie es die kognitivbehavioralen Therapieverfahren in der Regel vorsehen (vgl. z. B. Roediger 2011, 33 ff.). Es fehlt bei Scarvaglieri also die Erklärung der Wirkungsweise von Psychotherapie im wichtigen Bereich des Zusammenhangs zwischen implizitem, prozeduralem Wissen, emotiv-affektiv bestimmten Einstellungen und Verhaltensdispositionen, personalen Haltungen und Selbstbildern, Bewusstsein, Symbolisierung und sprachlich getragener sozialer Interaktion. Bei Scarvaglieri wirkt sich zudem negativ aus, dass die von ihm an zentraler Stelle bemühten Begriffe des „Wissen“, der „Wissensumgestaltung“ sowie der des „Mentalen“ letztlich unhinterfragt und inhaltlich unbestimmt als Grundbegriffe gebraucht werden (zur Präzisierung der Wissensbegriffe für den vorliegenden Zusammenhang vgl. etwa Konerding 2008, 2010, 2014). Dies liegt sicherlich nicht zuletzt auch daran, dass bei Scarvaglieri eine Version der Funktionalen Pragmatik Verwendung findet, die den revolutionären Entwicklungen der letzten 20 Jahre im Bereich der Kognitiven Wissenschaften nicht mehr gerecht wird. Im Folgenden sollen darum Überlegungen präsentiert werden, die eine entsprechende Ergänzung ermöglichen. Diese Überlegungen werden, wie angekündigt, in eine wichtige Agenda für die einschlägige linguistische Forschung resultieren.

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4 Therapeutische Allianz, Coping, Emotionalität, Expressivität, Indexikalität, Face, Politeness und Modi sprachlicher Interaktion An dieser Stelle soll ein weiterer, bisher unberücksichtigter Schlüsselaspekt der therapeutischen Interaktion betrachtet werden. Seine Beachtung ist für das Gelingen von Psychotherapie unabdingbar. Insofern erfährt er in der neueren Psychotherapie-Forschung besondere Aufmerksamkeit. Es handelt sich um die sogenannte „therapeutische Allianz“: Das Herstellen und Aufrechterhalten der therapeutischen Allianz ist grundlegend für den Erfolg einer Therapie (vgl. etwa Safran/Muran 2006, Herpertz/ Caspar 2008). Im Rahmen der aktuellen Forschung wird zwischen zwei zentralen Aspekten der Allianz unterschieden: zwischen Affiliation und Alignment. Affiliation und Alignment betreffen zwei tragende Qualitäten der interpersonalen Beziehung, in der Patient und Therapeut sich zueinander befinden können: Alignment kennzeichnet die beiderseitige Bereitschaft und Intention zur sachlich thematisch bestimmten Kooperation, zum willentlichen Verfolgen und kooperativen Bearbeiten eines geteilten Zieles. Affiliation hingegen kennzeichnet eine grundlegendere Qualität: die emotionale Konsonanz und vertrauensgetragene Beziehung und Bindung zwischen Kooperationspartnern, bzw., hier thematisch, zwischen Patient und Therapeut (vgl. etwa Muntigl/Horvath 2013, unter Verweis auf Stivers/Mondada/Steensig 2011). Wie wichtig gerade letztere für den sensiblen Bereich der Therapie – und wohl auch für den Bereich menschlicher Kommunikation und Kooperation generell – ist, zeigen uns nicht nur die psychoanalytische Bindungstheorie, sondern vor allem auch die zeitgenössische Emotionsforschung sowie die aktuelle Entwicklungs- und Neuropsychologie. Emotionen sind die Grundlage dafür, dass wir überleben, dass wir lernen und wie wir lernen, womit wir uns kognitiv beschäftigen, wie wir uns generell verhalten und handeln, wie wir anderen Menschen begegnen und mit diesen umgehen, und zu welcher Art Mensch wir werden und wie wir uns als Individuen zeitlebens weiter entwickeln (im Überblick etwa Holodynski 2006). Wie ist dieser wichtige Zusammenhang nun an die vorausgegangenen Überlegungen – gerade auch unter linguistischem Aspekt – anschließbar? Vor dem Hintergrund der Ausführungen von Scarvaglieri (2013) zur Wirkungsweise verbaler Psychotherapie ist an dieser Stelle zunächst auf einen aktuellen Beitrag von Hoffmann hinzuweisen (Hoffmann 2011). Hoffmann vollzieht in diesem Beitrag einen längst überfälligen Schritt und skizziert grob den Anschluss der Theorie der Funktionalen Pragmatik an die revolutionären Ergebnisse der zeitgenössischen Kognitionswissenschaften. Und er thematisiert dabei gerade auch die zentrale und grundlegende Rolle der Emotionalität für die menschliche Kommunikation, insbesondere für die Face-to-Face-Kommunikation (vgl. ebd., 170 ff.). Emotionen erhalten danach Ausdruck etwa in Mimik, Gestik, Körperhaltungen und -bewegungen sowie, wichtig, Tongebungen. Letztere werden im Rahmen von Prosodie und Intonation notwendigerweise über jeden sprach-

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lichen Ausdruck realisiert. Wir wissen nun weiterhin aus eingehenden Studien zum Erstspracherwerb, dass sich der Sprach- und Grammatikerwerb nur auf der Grundlage einer inkrementellen Entwicklung feinstimmiger und hochdifferenzierter emotionsgeladener Interaktion und Kommunikation innerhalb der Mutter-Kind-Dyade entwickeln kann, und zwar schrittweise aus der präverbalen Interaktion heraus (vgl. etwa Stern 2003, Delavenne u. a. 2008, Threvarthen 2003, 2008). In dieser Dyade kommt die  – für die interpersonale Begegnung und Kooperation  – unverzichtbare interaktive Affektabstimmung und die Einregulierung der affektiv bestimmten Intentionalität als Grundlage sozial und kulturell angemessenen Verhaltens und – darauf gründend – des sprachlichen Handelns zustande (vgl. ebd.). Neben den lautlich prosodischen Formen der expressiv malenden Prozeduren, die wesentlich die interaktiv relevante emotionale Qualität der sprachlichen Handlungen und mit ihr die Qualität der momentan erlebten Beziehung bestimmen (die übrigens schon der Fötus rezipiert und kognitiv-emotional verarbeitet), sind es, wie wir wissen, später gerade auch die jeweiligen lexikalischen und grammatischen Präferenzstrukturen, die den „Ton“ der Kommunikation und die emotionale „Stimmung“ oder „Atmosphäre“ einer Interaktionssituation sowie die damit erlebten „Haltungen“, „Einstellungen“ der Interaktionspartner bestimmen. Die „expressiv-malende“ Prozedur des oralen Ausdrucks – inklusive der Gesamtheit der zugleich verwandten sprachlichen und parasprachlichen Mittel – moduliert und steuert subliminal die wechselseitigen Resonanzen der emotional-neuronal bestimmten Bewertungs- und Motivationssysteme der jeweiligen Interaktanten (etwa Stern 2003, Threvarthen 2008, Hoffmann 2011, Weiste/Peräkylä 2014). Einschlägige Ausdrucksformen elizitieren grundlegende, emotional spezifizierte, tief in der somatischen Natur verwurzelte handlungsbestimmende Haltungen und Einstellungen zur jeweiligen Situation (dazu speziell Barrett/Wilson-Mendenhall/Barsalou 2014). Dies wird in großen Teilen vorbewusst, vorkonzeptuell und entsprechend vorpropositional prozessiert (ebd. u. Hoffmann 2011, Roediger 2011: 10 ff.; Roediger, der insbesondere aktuelle neuropsychologische Erkenntnisse verarbeitet, baut auf Überlegungen von Jeffrey Young auf, der in der Nachfolge von Aaron Beck tiefenpsychologische Dimensionen in den kognitiv-behavioralen Ansatz integriert hat). Macht man sich bewusst, dass jede Form der Interaktion für die Interaktanten, geprägt vor allem durch die jeweiligen frühen Beziehungserfahrungen, mit verhaltens- und handlungsorganisierenden emotionalen wie motivationalen Einstellungen bzw. Haltungen verbunden ist und dass mit diesen Haltungen jeweils individuelle Dispositionen zu spezifischen sprachlichen Verhaltensweisen relativ fest verknüpft sind, dann wird die besondere Rolle der Einstellungen bzw. Haltungen für den Kontext der verbalen Psychotherapie deutlich. Genau an dieser Stelle erhält nun eine prominente – in der Forschungsgeschichte so gelobt wie gescholtene  – linguistische Theorie wesentlich Relevanz, die Politeness-Theorie nach Brown und Levinson (1987). Diese Theorie beschäftigt sich mit den vorgenannten Zusammenhängen in alltäglichen interpersonalen Begegnungen, und zwar gerade mit besonderem Bezug auf das sprachliche Handeln. Das zentrale

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Moment dieser Theorie ist das des „Face“ (nach Goffman 1967), des immer durch vergangene Beziehungserfahrungen bestimmten Selbstkonzepts und Selbstwertempfindens von Interaktanten. Das Selbstwertempfinden (self-esteem) ist in sozialen Begegnungen und Interaktionen, auch und gerade innerhalb jeweils sozial bestimmter Rollen, und das ist entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang, potentiell immer mehr oder weniger bedroht. Dies bestätigt nachdrücklich die zeitgenössische Neuropsychologie: Das situative Bedrohungspotential wird auf einer subliminalen (bewusstseinsentzogenen) Ebene der emotionalen neuronalen Zentren des menschlichen Gehirns auf der Grundlage individueller Vorerfahrungen und sozialer Normen fortlaufend prozessiert und evaluiert. Ist das subjektiv registrierte Bedrohungspotential zu groß, so wird dasjenige Verhalten elizitiert, das in den psychoanalytischen Traditionen „Abwehr“ genannt wird und das auf stammesgeschichtliche wie sozialbiographische Wurzeln zurückgeht (vgl. aktuell auch Ribeiro u. a. 2013). Die Theorie der Politeness nach Brown und Levinson sollte, unter Berücksichtigung notwendiger Updates und Modifikationen, für die linguistische Analyse und Beschreibung der einschlägigen Zusammenhänge einen sehr geeigneten Ausgangsrahmen bereitstellen können. Entscheidend für den Erfolg einer Therapie ist neben der Herstellung einer umfassend vertrauensgetragenen Beziehung die Herstellung eines situationsangemessenen Coachings durch den Therapeuten (etwa Ribeiro u. a. 2012, Barrett/Wilson-Mendenhall/Barsalou2014), letzteres in funktionaler Analogie und Ergänzung zur frühen Mutter-Kind-Dyade (vgl. etwa Roediger 2011). Die grundlegende Aufgabe des Beraters/Therapeuten ist es danach, den Patienten – in einer für diesen als „sicher“ und vertrauenswürdig erfahrenen Beziehung  – weder zu unterfordern noch zu überfordern, sondern ihn während seiner Entwicklung zunehmender Selbsterfahrung kleinschrittig in einer sich sukzessive verändernden „Zone der nächsten Entwicklung“ zu begleiten (Wygotski 1969, 159 ff., Ribeiro u. a. 2013, 4 ff.). Entsprechend muss der Therapeut kommunikative Kontexte bzw. kommunikative Modi schaffen, die in der vom Patienten erlebten Beziehung zum Therapeuten ausreichend Sicherheit bieten, dass der Patient sich anvertrauen und es wagen kann, im Rahmen dieser Zone sich auf die geführte Selbstexploration und die tentative Neuerfahrung  – mit subjektiv zum Teil sehr bedrohlichen, emotional stark beladenen Erlebensqualitäten – Schritt für Schritt weiterführend einzulassen, jenseits der habituierten pathogenen Abwehrund Bewältigungsmechanismen des problematischen Selbstkonstrukts (bzw. Selbst­ ideales = Face) (vgl. aktuell etwa Muntigl/Horvath 2013, Ribeiro u. a. 2013, dort gerade auch mit konkreten Beispielen zu geeigneten Formen sprachlicher Handlungen). Ein weiterer Schlüssel zur Gestaltung einer entsprechenden Gesprächssituation durch den Therapeuten aus linguistischer Sicht, die beide genannten Momente berücksichtigt, ist etwa bei dem anthropologischen Linguisten William Foley zu finden – dort im Rahmen seiner kulturvergleichenden Betrachtungen zur interaktiven Konstruktion von Personalität; Foley hält speziell fest:

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Ochs (1990) notes […] that the affective dimension or background feeling tone of a context can be carefully crafted by the use of particular indexical elements […]. […] the meaning of particular forms, i. e. indexical elements, depends on who says them in what context […]. (Foley 1997, 182/183)

Foley verweist in diesem Zusammenhang auf die hier bahnbrechenden linguistischen Arbeiten von Gumperz aus den 70er und 80er Jahren (Gumperz 1982, 1993), worin das Phänomen der kollaborativen Herstellung von Kontexten und zugehörigen partizipativen Rollen im Gespräch – in Abhängigkeit von kulturellen Normen – eingehend untersucht und wissenschaftlich erschlossen wurde. D. h., durch kommunikative Signale und zugehörige kommunikative Displays können in dyadischen Begegnungen Kontexte sowie Partizipations- bzw. Rollenformate und, in deren Folge, affektiv-kommunikative Modi geschaffen werden, die die Befindlichkeiten des Patienten sensibel respektieren und die die Auslöser für situativ bestimmte Selbstschutz-, Abwehr- und Bewältigungsautomatismen (Coping-Dispositionen) beim Patienten abschwächen. Entsprechende Signale gestatten es zudem, die therapeutische Kooperation und Exploration innerhalb von Affiliation und Alignment (s. o.) in einer „Zone der nächsten Entwicklung“ zu halten (vgl. besonders Ribeiro u. a. 2013, spez. 4 ff.). Die zugehörigen situativen Rollenformate sind z. T. sehr komplex, und es ist davon auszugehen, dass die neuronalen Spiegelsysteme bei der zugehörigen interpersonalen affektiven Abstimmung und Haltungsinduktion eine wesentliche Rolle spielen, analog zur Einregulierung der emotionalen und intentionalen Haltungen beim Kleinkind im Rahmen der Mutter-Kind-Dyade (vgl. Stern 2003, Schore 2003, Bauer 2006). Damit wäre aber auch die mimetische Dimension der Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen angesprochen: Der Therapeut bietet ein Modell, nicht nur für den kognitiv-mentalen, sondern auch für den emotional-motivationalen Umgang mit Situationen. Auf dieser Grundlage kann die angestrebte behutsame Transformation der grundlegenden handlungsbestimmenden Haltungen und Einstellungen des Patienten – gerade auch auf Basis des Einbezugs zunächst noch weitgehend dysfunktional agierender emotionaler Funktionskreise – wesentlich in die Wege geleitet werden, auch auf neuroplastischer Ebene (vgl. aktuell Barrett/Wilson-Mendenhall/Barsalou 2014). Und nur auf dieser Grundlage kann ein Mechanismus greifen, der durch eine kognitive Reorientierung, auch im Sinne Scarvaglieris (2013), „Heilung durch Worte“ ermöglicht (vgl. Abschnitt 2). Aus diesen Überlegungen ergeben sich nun wichtige Konsequenzen für die Formulierung einer Agenda für die zukünftige linguistische Forschung.

5 Agenda für die Forschung Ausgehend von den aktuellen Ergebnissen, die die Forschung zur psychotherapeutischen sprachlichen Interaktion erarbeitet hat, bieten sich mehrere strategische

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Zugriffsweisen für die linguistische Forschung: Zum einen ist generell auf den Prüfstand zu stellen, ob sich die prinzipiell sehr fruchtbare Konversationsanalyse weiterhin einem historisch überholten Antimentalismus verschreiben sollte (vgl. auch Stivers/Mondada/Steensing 2011, Deppermann 2012). Die Methoden der Konversationsanalyse finden vor allem im Bereich der klinischen Forschung selbst Verwendung, dort jedoch mit der Ergänzung analytischer Kategorien, die den jeweiligen therapietheoretischen Traditionen entnommen sind. An deren Stelle sollten Kategorien treten, die dem Forschungsstand der kognitiven Wissenschaft allgemein entsprechen und die darüber eine Anschlussstelle für genuin linguistische Theoriebildungen und Untersuchungen bieten. Zum anderen ist auf der Seite der Funktionalen Pragmatik, die bereits mit dem Wissensbegriff an zentraler Stelle operiert, unbedingt eine Anpassung an den erreichten Forschungsstandard im Feld der Kognitiven Wissenschaften erforderlich; anderenfalls droht die Funktionale Pragmatik jede Relevanz für die zeitgenössische Forschung zu verlieren. Drittens ist der gesamte Bereich der emotionsbestimmten interpersonalen Haltungen sowie der emotionsbestimmten Interaktionsdispositionen für den Bereich der linguistischen Forschung systematisch zu erschließen und sprachtheoretisch zu erfassen. Mögliche Ausgangstheorien auf Seiten der Linguistik sind hier, wie zuvor ausgeführt, die Politeness-Theorie nach Brown und Levinson und die Theorie der interaktiven Kontextualisierung nach John Gumperz. Gerade die aktuellen Entwicklungen zur Multimodalität im Rahmen der sprachlichen Interaktionsforschungen (vgl. etwa Deppermann 2013) sind hier direkt und mit Vorteil anschließbar. Für die genannten Aktualisierungen (Updates) und Anpassungen liegt es natürlich nahe, die gegenwärtigen konstruktionsgrammatisch bestimmten Zugänge im Rahmen der Sprach- und Grammatiktheorie an zentraler Stelle zu berücksichtigen. Diese stehen in enger Verbindung mit dem für die vorliegenden Zusammenhänge hochrelevanten Spracherwerbsszenario (vgl. etwa Tomasello 2003, Hoffmann/Leimbrink/Quasthoff 2011), wie zuvor ausführlich skizziert; sie sind streng sprachpragmatisch fundiert, d. h. prinzipiell gebrauchs- und handlungsbasiert, und damit an die genannten Rahmentheorien ebenfalls direkt anschließbar. Entsprechend bedarf es der Ausarbeitung einer interaktionstypologisch bestimmten Konstruktionsgrammatik, -semantik und -pragmatik, einerseits für psychotherapeutische Interventionen speziell, und andererseits – darauf aufbauend und an die Politeness-Forschung anschließend  – für sprachlich-kommunikative Modi menschlicher Begegnung und Kooperation generell. Mögliche Rahmentheorien und praktische Ansätze liegen in der Linguistik bereits vor. Es geht nun darum, das zugehörige Programm Schritt für Schritt zu realisieren. Die einschlägige linguistische Forschung wird zweifellos neue, tiefe Einsichten in die Funktionsweise des sozialen Mediums Sprache und in uns Menschen als zutiefst soziale Wesen erzielen. Die breite interdisziplinäre Forschung zur psychotherapeutischen Kommunikation, zur „Heilung durch Sprache und Sprechen“, weist hier den Weg.

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Heide Lindtner-Rudolph/Hubert J. Bardenheuer

13. Sprache am Lebensende: Chancen und Risiken ärztlicher Gesprächsführung in der Palliativmedizin Abstract: Anhand von Fallbeispielen führt dieser Artikel in Besonderheiten der ArztPatienten-Interaktion in palliativen Situationen ein. Einerseits zeigen sich scheinbar unlösbare Probleme zwischen Arzt und Patient, wenn belastende, hochsensible Themen von den Gesprächsparteien mit kontradiktorischen kommunikativen Strategien bearbeitet werden. Andererseits offenbaren sich neben dem Konfliktpotenzial von Sprache auch ihre verbalen und nonverbalen Ressourcen: Sprache in der Palliativmedizin kann nicht nur ein Mittel der Verständigung sein wie in Alltagsgesprächen, nicht nur ein diagnostisches und therapeutisches Instrument wie in Arzt-Patienten-Gesprächen der kurativen Medizin, sondern auch ein wichtiges Werkzeug zum Aufspüren und Bearbeiten der individuellen, sich gerade in der Palliativmedizin ggf. rasant ändernden sozialen und spirituellen, psychischen und physischen Bedürfnissen von Menschen in der letzten Phase ihres Lebens. 1 Palliativmedizin als aktive Lebenshilfe 2 Kommunikative Anforderungen an Arzt und Patient 3 Gesprächspraktiken in heiklen Behandlungssituationen 4 Patientenorientierte Gesprächsführung 5 Literatur

1 Palliativmedizin als aktive Lebenshilfe Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben. Cicely Saunders (1918–2005)

Wer erstmals mit Palliativmedizin in Kontakt kommt, dem mag dieser Leitspruch wie blanker Hohn klingen: Laut Definition der WHO befindet sich ein Patient in einer „palliativen Situation“, wenn er „an einer oder an mehreren aktiven, progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung(en) leidet und seine Lebenszeit stark begrenzt ist“. Auf Heilung abzielende Therapien werden sinnlos und eingestellt. Dennoch ist eine Palliativstation keine Sterbestation! Die WHO betont auch, dass der Schwerpunkt palliativmedizinischer Arbeit auf der Steigerung der Lebensqualität des Patienten liegt: Am Ende seines Lebens steht der Patient wieder mit all seinen Bedürfnissen, Ängsten und Sorgen im Mittelpunkt – nicht als bloßes Behandlungs-

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 Heide Lindtner-Rudolph/Hubert J. Bardenheuer

objekt. Palliativmedizin versteht sich als aktive Lebenshilfe: Respekt vor der Persönlichkeit des Patienten, bewusster Umgang mit Leben, Sterben und Tod, Förderung der Familienzugehörigkeit, Erhalt von Autonomie und Würde Schwerstkranker und Sterbender sind Prinzipien, die sich auf das Gesprächsverhalten der Ärzte und den gesamten Stationsalltag auswirken. Palliativstationen sind klinische Einrichtungen für eine professionelle, interdisziplinäre medizinische Therapie in einer kritischen Lebensphase: Ein Team aus Ärzten und Pflegenden, Physiotherapeuten, Musik- oder Kunsttherapeuten, Psychologen, Sozialarbeitern, Seelsorgern und ehrenamtlichen Mitarbeitern bemüht sich um das Aufspüren und Behandeln von „Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art“ (Husebø/Klaschik 2009, 2). Das bedeutet medikamentöse Symptomkontrolle z. B. von Schmerzen, Atemnot, Schwindel, Erbrechen, Verstopfung, Verwirrtheit oder Todesrasseln. Ziel ist eine Verbesserung von Beschwerden, die Lebensqualität, -lust und -willen rauben. Palliativmedizinische Arbeit kümmert sich ganzheitlich um Bedürfnisse von Patienten, Angehörigen und des Behandlungsteams im Verlauf der Krankheit, beim Sterben sowie in der Zeit danach. Angehörige werden systematisch mit einbezogen, da sie die Lebensqualität des Patienten stark beeinflussen können. Häufig benötigen sie selbst eine umfassende Betreuung, auch über den Tod des Patienten hinaus. Zentrales Element von Therapie und Betreuung ist das Gespräch, das angesichts der Schwere der Situation und der gesellschaftlichen Tabuisierung des (Umgangs mit) Sterbens enorme kommunikative Anforderungen an den Arzt stellt. Intensives Zuhören und ein hohes Maß an Sensibilität sind ebenso wichtig wie die Fähigkeiten, Angedeutetes richtig zu interpretieren, Missverständnisse (und damit belastende Verunsicherungen) zu vermeiden, Kreativität zu entwickeln um Patienten aus schwierigen Situationen zu befreien, Probleme, Sorgen und Nöte jederzeit ernst zu nehmen und aufrichtiges Verständnis in einem hektischen Arbeitsalltag für jeden einzelnen Patienten immer wieder neu aufzubringen. Gespräche in palliativen Situationen können kraftspendend und therapeutisch, aber auch belastend und überfordernd sein: Ärzte klagen dann über „schwierige“ Patienten oder „beratungsresistente“ Angehörige und diese über Ärzte, die „nicht alles für den Patienten tun wollen“ oder „Patienten verhungern lassen“. Wiederkehrende Missverständnisse und Konflikte belasten nicht nur die Gesprächsbeteiligten, sondern verhindern u. U. Therapieerfolge. Empirische qualitative Untersuchungen könnten Ursachen von Kommunikationsstörungen aufdecken, die in bestimmten Arten sprachlichen Handelns, sog. Gesprächspraktiken (Deppermann 2008) von Arzt oder Patient liegen. Sowohl für die deutschsprachige, linguistisch-ethnografische Gesprächsanalyse (nach Kallmeyer/Schütze 1976 sowie Deppermann 2000, 2008) als auch für die englischsprachige Conversation Analysis (nach Sacks u. a. 1974, Schegloff u. a. 1977) stellen Untersuchungen von Arzt-Patienten-Interaktionen palliativmedizinischer Behandlungssettings jedoch weitestgehend ein Desiderat dar (vgl. Fine u. a. 2010). Grundlagenforschung zu Besonderheiten der

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einzelnen Interaktionstypen einer Palliativstation, spezifischen kommunikativen Aufgaben, Rechten und Pflichten der beteiligten Gesprächsrollen wurde bis dato kaum geleistet (einen Überblick gesprächsanalytischer Studien zu Arzt-PatientenInteraktionen kurativer Behandlungssettings liefert Nowak 2010). Der vorliegende Artikel verbindet daher einen Überblick über gesprächsanalytische Forschungen zu Interaktionen in palliativmedizinischen Settings mit ersten Ergebnissen eigener Arbeiten, gestützt durch medizinische Literatur. Insofern keine anderen Literaturangaben angegeben werden, bildet die Datengrundlage eine in Arbeit befindliche qualitative Studie, die o. g. Forschungslücken schließen soll (Lindtner-Rudolph i. V.). Ihr Korpus: Eine Feldstudie sowie 19 Arzt-Patienten-Diskurse einer Palliativstation – 211 Gespräche zwischen Ärzten, Patienten und Angehörigen  –, die in drei Zeiträumen nach Methoden der ethnografisch-linguistischen Gesprächsanalyse (Deppermann 2000, 2008, Kallmeyer/Schütze 1976) erhoben und analysiert wurden. Theoretisches Fundament bilden Kallmeyer und Schützes Ebenen der Interaktionskonstitution (Kallmeyer/Schütze 1976), die jeweils unterschiedliche und interaktionstypisch spezifische kommunikative Aufgaben für Gesprächspartner vorsehen.

2 Kommunikative Anforderungen an Arzt und Patient 2.1 Charakteristika palliativmedizinischer Behandlungssituationen So sehr sich palliative Patienten hinsichtlich Alter, Lebenslauf, Charakter, physischem Krankheitsverlauf und psychischem Umgang mit der neuen Lebenssituation unterscheiden, so verschiedenartig verlaufen die realen Gespräche. Dennoch lassen sich konstitutive Merkmale explizieren, die allen Arzt-Patienten-Interaktionstypen einer Palliativstation innewohnen und sie von Gesprächsformen kurativmedizinischer Settings unterscheiden. Sie lassen sich zu sog. Situationsparametern subsumieren (Deppermann 2000), die die Interaktionsdynamik wesentlich beeinflussen. Bausewein u. a. (2010) bezeichnen Palliativmedizin als „high person low technology“: Der Personalschlüssel erhöht den zur Verfügung stehenden zeitlichen Rahmen für Arzt-Patienten-Gespräche auf bis zu 60 min. Dies ermöglicht eine intensive, sensible Aushandlung und Bearbeitung schwieriger Themen, mehr Raum für Patientenbedürfnisse. Die Dauer einzelner Gespräche schwankt dabei stark, da sie sich weniger an der Agenda des Arztes als vielmehr an den Bedürfnissen des Patienten, an seinem Bewusstseins- und Orientierungsgrad orientiert. Auch Rollenverständnis und -erwartungen des Patienten bestimmen, wie viel Zeit er für eigene Belange beansprucht. Für mehr Ruhe und Intimität liegen palliative Patienten möglichst in Einzelzimmern – so

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trägt auch der Schauplatz dazu bei, dass Gespräche ungestört verlaufen. Unterstützt wird dies von einem Personal, das Ärzte nur in dringenden Fällen aus einem Patientengespräch holt. Gesprächsinhalte beleuchten in diesem geschützten Raum nicht nur physische Aspekte wie Art, Verlauf und Schwere der Erkrankung, sondern auch psychisches Erleben, subjektives Befinden sowie biografische Aspekte des Patienten. Themen werden häufig mit anderen sprachlichen Handlungen bearbeitet als in der kurativen Medizin: Um Patienten zu ausführlichen Erzählungen zu motivieren, potenziell heikle Themen sensibel in das Gespräch einzuführen oder ggf. bewusstseinsverminderten Patienten Orientierungs- und Verstehenshilfen zu Zielen und Zwecken der Interaktion zu geben, kann der Arzt kaum auf klassische ärztliche Fragetechniken wie eine systematische Kombination aus W-Fragen, syntaktischen Fragen und DeklarativsatzFragen (vgl. Spranz-Fogasy/Lindtner 2009, Spranz-Fogasy 2010) zurückgreifen. Ein Blick auf die Redeverteilung des Korpus zeigt, dass Patienten in palliativen Interaktionssettings einen wesentlich höheren Redeanteil haben und bei der Aushandlung des Rederechts ein größeres Gewicht bekommen als Patienten der meisten kurativen Gesprächssettings. Dies hängt zusammen mit einer spezifischen Teilnehmerstruktur, da Palliativmediziner qua Blick- und (non-) verbalem Verhalten sowie ihrer Positionierung im Raum systematisch die interaktionstypologisch bedingte Asymmetrie von Arzt-Patienten-Gesprächen mindern: Eine demonstrativ entspannte, bspw. zurückgelehnte sitzende Körperhaltung, betont ruhige Gesten oder ein offener, überwiegend dem Patienten zugewandter Gesichtsausdruck unterstreichen, dass der Arzt im Moment der Interaktion alle Zeit und Aufmerksamkeit auf den Patienten richtet. In Visitengesprächen zeigt auch das begleitende Team ein besonderes Verhalten: Es distanziert sich räumlich von den primären Interaktanten Arzt und Patient, setzt sich möglichst außerhalb des Wahrnehmungsfeldes des Patienten. Begleitende Sozialarbeiter, Pflegekräfte oder andere Ärzte greifen tunlichst nicht in die Interaktion zwischen dem Visite leitenden Arzt und dem Patienten ein, unterhalten sich kaum untereinander. Qua Positionierung im Raum und Redeverhalten erleichtern sie dem Patienten so die Fokussierung auf den Hauptgesprächspartner. Auch unterscheiden sich palliative Patienten von den meisten anderen Patientengruppen bezüglich ihrer Wissensvoraussetzungen: Liegt die Erstdiagnose ihrer Grunderkrankung Jahre oder Jahrzehnte zurück, verfügen sie über ein breites HalbExperten-Wissen zu ihrer Krankheit, so dass sich Arzt-Patienten-Interaktionen palliativer Behandlungssituationen nur bedingt unter die Kategorie „Experten-LaienInteraktion“ subsumieren lassen. Diese Charakteristika dienen der Abgrenzung zu akutmedizinischen Interaktionstypen. Nach innen lassen sich Arzt-Patienten-/Angehörigen-Diskurse palliativmedizinischer Kontexte weiter unterteilen in Aufnahme- und Erstgespräche, Visitengespräche, zusätzliche Beratungsgespräche mit den Patienten, Aufklärungs- und Beratungsgespräche mit Angehörigen, Entlassungsgespräche bzw. Abschiedsgespräche mit Angehörigen, wenn ein Patient in ein Hospiz bzw. nach Hause entlassen wird

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oder auf der Station verstorben ist. Entsprechend unterschiedlich sind die kommunikativen Anforderungen an Arzt und Patient.

2.1.1 Eine doppelte Neuorientierung für Patienten Gerät ein Patient von einer kurativen in eine palliative Behandlungssituation, steht er vor zwei enormen Herausforderungen. Er muss sich damit auseinandersetzen, am Ende seines Lebens angekommen zu sein  – in einer existenziell verunsichernden Lebensphase, in der es sich neu zurechtzufinden gilt. Die Sinnfrage kann sich aufdrängen und u. U. unbeantwortet bleiben, dazu kommen Ängste vor dem Sterben: Angst vor Abhängigkeit oder davor, anderen eine unerträgliche Last zu werden; Angst vor Isolation und Einsamkeit, vor physischem Leiden, Schmerz und Luftnot, vor unwürdigem oder fremdbestimmten Sterben in einer Klinik inmitten medizinischer Hochtechnologie (vgl. Husebø/Klaschik 2009). Diese Verunsicherung wird dadurch verstärkt, dass auch die Orientierung an vertrauten Handlungsmustern kurativer Interaktionssettings in der vermeintlich bekannten Umgebung einer klinischen Station kaum weiterhilft oder gar Missverständnisse fördert: Durch den palliativmedizinischen ganzheitlichen Ansatz weichen Verhaltensformen des Arztes stark von klassischen schulmedizinischen Interaktionsformen ab. Bis ein Patient hinter dem anfangs irritierenden Verhalten der Ärzte neue Handlungsmuster erkennt, eigene Rollenerwartungen anpasst, neue Rechte sieht und annimmt, vergehen i. d. R. mehrere Tage. In Aufnahme- und Erstgespräche bringen ältere oder hilflose Patienten häufig die Rollenerwartung eines fürsorglichen Arztes mit, der die Interaktion dominant steuern möge, den sie auf der Palliativstation jedoch selten finden. Sie reagieren auf ärztliche Frageaktivitäten und Verstehensanweisungen anstatt die Interaktionsdynamik aktiv mitzugestalten, stellen eigeninitiativ kaum Fragen. Ärztliche Angebote, bspw. ausführliche biografische Episoden zu erzählen, werden kaum angenommen. Fragen nach dem eigenen Befinden werden von Angehörigen nur oberflächlich beantwortet, Patienten wie Angehörige sprechen kaum über inneres Erleben, Sorgen oder Ängste. Da Aufnahme- und Erstgespräche dem gegenseitigen Kennenlernen dienen, eine erste Möglichkeit zur Identitäts- und Beziehungskommunikation bieten, zeigen Patienten hier bei aller Passivität hinsichtlich der Gesprächsentwicklung, dem Wechsel zwischen Themen oder Gesprächsphasen neben patiententypischen Wissensarten wie subjektivem Krankheitswissen allerdings möglichst häufig eigenes medizinisches Fachwissen: Unter der Verwendung von Fachtermini stellen sie sich damit nicht nur als Patient, sondern auch als Experte vor. Im Rahmen der Selbstinszenierung schildern Patienten ihre Beschwerden anfangs häufig intensiver als in Folgegesprächen. So wird der Behandlungsauftrag an den Arzt in aller Deutlichkeit und Dringlichkeit gestellt, dieser gerät etwa bei Aufnahme nach einer eskalierten häuslichen Schmerzsituation als „Retter in der Not“ dadurch verstärkt unter Handlungszwang.

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Im Laufe folgender Visiten- und zusätzlicher Beratungsgespräche stellen sich Patienten, die in Erwartung eines paternalistischen Kommunikationsverhaltens und/oder eines Arztes mit wenig Zeit gekommen waren, allmählich um: Sie erhöhen eigene Redeanteile signifikant, nehmen Angebote wahr, große Abschnitte der Interaktion gesprächsorganisatorisch selbst zu steuern, sprechen eigeninitiativ Ängste, Beschwerden oder Bedürfnisse an, signalisieren mit der Wahl ihrer sprachlichen Ausdrucksmittel, dass sie dem Arzt auf Augenhöhe begegnen und ihn themenabhängig bis auf Weiteres eher als Freund denn als hierarchisch höher stehenden Arzt sehen. Patienten, die noch in Erstgesprächen eindrückliche, drastische Beschwerdenschilderungen äußerten, signalisieren in Visitengesprächen häufig maximale Kooperation, indem sie möglichst positiv ihr Befinden verharmlosend oder herunterspielend antworten (umso mehr, wenn der Gesprächspartner Chefarzt der Station ist). Kann die Gesamtsituation eines Patienten so weit verbessert werden, dass eine Entlassung nach Hause oder in ein Hospiz greifbar wird, versuchen Patienten in Entlassungsgesprächen u. U. wiederum eine Verbesserung im Befinden zu verschleiern, um nicht aus der schließlich vertraut gewordenen, Schutz bietenden Welt der Palliativstation gerissen und erneut in eine ggf. überforderte Familie oder in die fremde Welt eines Hospizes gestoßen zu werden.

2.1.2 Aufgaben und Herausforderungen für Ärzte Palliativmedizin leitet sich ab von lat. pallium, Mantel: Sie soll sich schützend um schwerkranke, besonders hilfsbedürftige Menschen legen. Patienten Orientierung und Schutz in der neuen, letzten Phase ihres Lebens zu geben, stellt den Arzt je nach Interaktionstyp dabei vor unterschiedliche Herausforderungen. In Aufnahme- und Erstgesprächen vermittelt der Arzt den palliativmedizinischen Ansatz möglichst en passant. Direkt werden Selbstverständnis und Hintergründe palliativmedizinischer Arbeit selten, meist nur als letzter Ausweg aus missverständlichen Situationen thematisiert – wenn etwa ein Patient um aktive Sterbehilfe bittet. Aus interaktionsökonomischer Sicht höchst effektiv: Indem sich der Arzt nonverbal, körpersprachlich und via Blickverhalten nahezu ausschließlich seinem Gesprächspartner zuwendet, ruhig und langsam spricht, signalisiert er, dass er sich im Moment des Gesprächs ausschließlich auf den Patienten konzentriert, sich mit viel Zeit voll und ganz zur Verfügung stellt. Unterstützt durch sensibles, respektvolles Sprechen nimmt der Arzt eine positive Selbstbewertung der eigenen Rolle als Palliativmediziner sowie eine positive Fremdbewertung der Partnerrollen vor: Bei verunsicherten, ängstlichen Patienten kann sich diese Handlung positiv auf den gesamten Diskurs auswirken. Ausdrücklich bespricht der Arzt dagegen den Behandlungsauftrag von Patient an Arzt und Station. Explizite Verstehensdokumentationen beruhigen dabei zusätzlich.

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In Erstgesprächen wird nicht nur eine medizinische, sondern auch eine ausführliche psychosoziale Anamnese erhoben. Herauszufinden ist, welche Wissensbestände Patient und Angehörige mitbringen, welchen Bedarf an Wissenszuwachs, welche Einstellungen zum Leben, zur Krankheit, zur aktuellen Situation. Pessimistische, verzweifelte Aussagen von Patienten und Angehörigen versucht der Arzt abzuschwächen und durch positive Bilder zu ersetzen, (zu) optimistische Vorstellungen lässt er bis auf Weiteres stehen. Es gilt, keine Hoffnung zu zerstören, keine Zahlen zu nennen auf die Frage, wie lange jemand noch zu leben habe, und gleichzeitig einen offenen, ehrlichen Gesprächsstil zu verfolgen. Patientenorientierte Themenentwicklung bedeutet oft eine springende Gesprächsführung, bei der die eigene Agenda nicht vergessen werden darf. Bei Patienten in der Terminalphase können sich Beschwerden innerhalb von Tagen oder Stunden verändern, so dass die Behandlungsaufträge in Visitengesprächen – dem Löwenanteil der Interaktionen – stets neu aufzuspüren sind. Hohe Sensibilität und absolute Aufmerksamkeit gegenüber Form wie Inhalt von Patientenäußerungen sind gefragt bei belastenden Themen, Sorgen, vagen oder unreflektierten Ängsten vor dem Sterben, die oft nur angedeutet werden und mit klassischen Fragetechniken kaum aufzuspüren sind. Der ausgeprägte zeitliche Rahmen hilft auch bei überschießend kooperativen Patienten, „hinter die Maske“ zu schauen und Ängste aufzudecken, das Wohlbefinden des Patienten durch eine sensible Gesprächsführung zu steigern, psychische Tiefs aufzufangen und therapeutisch zu arbeiten. Der Redestil wird dabei an Verstehensvermögen und Wachheitsgrad des Patienten angepasst qua überzähliger Rückmeldesignale, ruhigem, langsamen, repetitiven Sprechen, zahlreicher langer Pausen und überdeutlicher nonverbaler Ausdrucksmittel. Die Übernahme von Ausdrücken oder Sprechweisen des Patienten dient Verstehensarbeit, Aufbau und Sicherung einer tragfähigen Vertrauensbeziehung. Sollten biografische Details in Erst- und Aufnahmegesprächen helfen, Patienten wie Angehörige einschätzen zu können, erfüllen sie in Visitengesprächen andere Zwecke: Verfallen Patienten in Niedergeschlagenheit oder entziehen sich aus anderen Gründen der Kommunikation, bemüht sich der Arzt, den Patienten aus seiner Interaktionsrolle Patient bis auf Weiteres herauszuheben und ihm stattdessen eine Selbstinszenierung als Individuum und Experte des eigenen Lebens zu ermöglichen. In eine Zeit vor der Erkrankung zurückzugehen oder an vertraute Menschen zu denken, ermöglicht Patienten eine Auszeit von Fokussierungen auf aktuelle Belastungen. Positive Kontexte wie berufliche oder private Leistungen treten in den Gesprächsmittelpunkt. Danach fällt es leichter, auf belastende Themen zurückzukommen, Patienten beteiligen sich aktiver am weiteren Gesprächsverlauf. Der vermeintliche Umweg über biografische Patientenerzählungen zur Abarbeitung der ärztlichen Agenda lohnt sich: In Situationen, in denen Patienten Gefahr laufen, dem Arzt Vertrauen zu entziehen, nimmt der Arzt mit seinem Interesse an biografischen Details und Episoden auch eine deutliche Aufwertung des Gesprächspartners vor und kann aufkommende Konflikte auf der Beziehungsebene frühzeitig lösen. Nicht selten bedanken

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sich Patienten für diese vermeintlich zusätzliche Zeit, die der Arzt ihnen geschenkt hat. Dieselbe Funktion erfüllen Small Talk-Phasen, die von Ärzten zu Beginn eines Gespräches oder in kritischen Interaktionssituationen eingeschoben werden. Beide Gesprächspraktiken zeigen eine deutliche Orientierung am Prinzip der Handlungsprogressivität des Arztes (vgl. Heritage 2007, Stivers/Robinson 2006): An Stelle von Ursachen werden Symptome von Kommunikationsschwierigkeiten bearbeitet. Beratungsgespräche mit Patienten oder Angehörigen dienen der Lebensplanung sowie dem Aufspüren eventueller psychischer Belastungen der Angehörigen – einerseits aufgrund des palliativmedizinischen Ansatzes, Angehörige mit zu betreuen, andererseits um aufzudecken, in welche familiären Verhältnisse und Spannungen ein Patient ggf. entlassen wird. Das dyadische Beratungsgespräch mit Angehörigen schafft zwar eine vertrauliche Atmosphäre, bewirkt aber auch, dass überforderte Angehörige schneller ein aggressives Verhalten an den Tag legen als im Beisein des Patienten. Da es in palliativen Behandlungssituationen nicht „den einzig wahren“ Behandlungsweg gibt, zeigen Ärzte eher eine beratende Gesprächshaltung. Benötigen hilflose Angehörige einen fürsorglich auftretenden Arzt, evozieren diese Differenzen bzgl. der Rollenerwartungen Konflikte und Missverständnisse. Entlassungsgespräche werden im Vergleich auffallend kurz gehalten. Wesentlicher Zweck ist  – vergleichbar mit der Beendigungsphase akutmedizinischer ArztPatienten-Gespräche (vgl. Nowak 2010)  – die Beziehungsarbeit, charakteristische Handlungen sind der Austausch von Höflichkeiten. Aus anderen Gründen dauern Abschiedsgespräche mit Angehörigen nur wenige Minuten. Trauert die Familie um den soeben verstorbenen Patienten, ist sie kaum in der Lage, Gespräche zu führen. Wichtiger als konkrete Inhalte sind das ärztliche Angebot, zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung zu stehen, Empathiebekundungen oder der Rat, die Trauerphase ernst zu nehmen und ihr ausreichend Zeit (auch vor Ort) zu geben. Abschiedsgespräche bestehen größtenteils aus monologischen Redeteilen und standarisierten Äußerungen des Arztes: Routinierte Praktiken helfen ihm, sich auch in hochdiffizilen, potenziell heiklen Gesprächssituationen sicher zu bewegen (vergleichbar in wesentlich abgeschwächter Form mit der Eröffnungs- oder Beendigungsphase von Interaktionen allgemein: vgl. Brinker/Sager 2006, Levinson 2003, Schegloff 1972, Schegloff/Sacks 1973). Zugleich entbindet der Arzt Angehörige durch einen dominanten Gesprächsführungsstil von Handlungslasten, bietet Orientierung und Halt. Dass er sich dabei körpersprachlich und nonverbal stark zurücknimmt – bei zugewandter Körperhaltung nur kurz Blickkontakt hält, sich stimmlich und gestisch zurück nimmt – lässt sich im Sinne Goffmans als eine besondere Form von face work sehen (vgl. Goffman 1955), wobei es hier um eine respektvolle Distanzund Gesichtswahrung gegenüber überforderten Gesprächspartnern geht.

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3 Gesprächspraktiken in heiklen Behandlungssituationen Bei sprichwörtlich aus ihrer Lebensbahn geworfenen Patienten zählt jedes gesprochene wie unterlassene Wort, jede Pause, jede Geste. Die Art der Gesprächsführung trägt dabei nicht nur zum Gelingen oder Misslingen einer einzelnen Interaktion bei, sondern kann Konflikte entschärfen oder verstärken, die den gesamten Diskurs um einen Patienten folgenschwer beeinflussen. Die Wahl der Gesprächsstrategie hat maßgeblichen Anteil daran, ob und in welchem Ausmaß Patienten kooperieren, Therapien erfolgreich verlaufen, wie lange ein Patient stationär bleibt oder wann sein physischer wie psychischer Zustand stabil genug für eine Entlassung ist. Die viel geforderte patientenorientierte Gesprächsführung hat also ethische wie gesundheitsökonomische Aspekte. Nur, wie kann Patientenorientierung in schwierigen Interaktionssituationen aussehen?

3.1 Fallbeispiele: Mangelnde compliance und Kommunikationsentzug Nachdem zehn Jahre lang Möglichkeiten der kurativen Medizin ausgeschöpft wurden, mehrere Operationen, Chemo- und Strahlentherapien erfolglos verliefen, die Grunderkrankung Krebs zahlreiche weit verstreute Metastasen in Lunge, Leber und Knochen bildete, kommt ein 65jähriger Patient auf die Palliativstation. Er wird von den Ärzten nach einigen Tagen als „schwierig“ eingestuft: Er habe laut Patientenakte eine „fragliche compliance“, da er Medikamente nicht wie besprochen nehme (unter compliance versteht die Medizin Therapietreue bzw. die „Bereitschaft des Patienten, bei diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen mitzuwirken“, Roche Lexikon Medizin 2003). Der Patient stelle die Ärzte vor massive schmerztherapeutische Probleme, zeige eine „eher verdrängende Grundhaltung“ hinsichtlich seiner Lebenssituation, „trotz intensivem Gesprächsangebot und vollständiger Aufklärung über den fulminanten Krankheitsprogress“. Er erscheine „sehr nervös, sprunghaft“, entziehe sich bei schwierigen Themen immer wieder der Kommunikation. Eine zielführende Besprechung und damit eine erfolgreiche schmerztherapeutische Arbeit ist den Ärzten über zahlreiche Interaktionen hinweg unmöglich. Der Fall wird wiederholt innerhalb des interdisziplinären Behandlungsteams besprochen, die Ärzte bleiben lange ratlos. Die Ursachen hinter solchen oder ähnlichen, aus Arzt-Perspektive höchst unkooperativen, problematischen Verhaltensweisen können gesprächsinterner wie -externer Natur sein. Verunsicherungen und Ängste werden einerseits durch eine missverständliche, missglückte Kommunikation zusätzlich verstärkt. Oft reichen alltagssprachliche Worte, die für Arzt und Patient mit unterschiedlichen Bedeutungen

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und Kontexten verknüpft sind. Oder nicht aufgedeckte Wissensdifferenzen zwischen Arzt und Angehörigem etwa zu der Frage, ob ein Patient „verhungere“, wenn er bei mangelndem Appetit nicht künstlich ernährt würde. Gründe für eine aus Arzt-Sicht „verweigernde Gesprächshaltung“ können andererseits auch außerhalb der Interaktion liegen, etwa in der existenzbedrohenden Konfrontation mit dem eigenen Sterben: Psychische Reaktionen reichen von Aggressivität  – gereiztem Verhalten, häufigen Vorwürfen an die behandelnden Ärzte, welche nichts recht machen können – über Verleugnen der Erkrankung oder depressivem Verhalten – Weinen, Gesprächsverweigerung, wie im o. g. Fall – bis hin zu einer Annahme des Lebensendes, bei der Patienten eine gelöste Stimmung erreichen, sagen können, ein gutes Leben gehabt zu haben, und in friedlicher Atmosphäre beachtliche Behandlungserfolge hinsichtlich der Steigerung der Lebensqualität gewonnen werden (Bausewein u. a. 2010). Dem Prinzip der Handlungsprogressivität folgend, erfragen die Ärzte der untersuchten Daten meist nicht explizit die Ursachen problematischen Gesprächsverhaltens von Patienten, sondern bekämpfen dessen Symptome en passant, mittels unterschiedlichster Gesprächspraktiken. Formen, Funktionen und Erfolgsraten einiger typischer Gesprächspraktiken werden im Folgenden dargestellt.

3.2 Gesprächspraktiken zur Aushandlung und Bearbeitung sensibler Themen in der Terminalphase 3.2.1 Von „schwierigen“ Patienten und „groben“ Ärzten: Das Konfliktpotenzial von Sprache Das o. g. Fallbeispiel sang das unter Palliativmedizinern verbreitete Klagelied von Patienten, die mit schwierigen Emotionen behaftete Sachverhalte nicht wahrhaben wollten  – unabhängig davon, wie ausführlich und intensiv Themen besprochen würden (Husebø/Klaschik 2009). Das Verständnis vom „schwierigen“ Patienten mit „sprunghaftem Gesprächsverhalten“ ist jedoch nur eine mögliche Sicht auf das Interaktionsgeschehen – die des Arztes. Aus gesprächsanalytischer Vogelperspektive handelt jeder Interaktionsteilnehmer methodisch und aus guten Gründen (Deppermann 2008), und so auch der vermeintlich beratungsresistente, unkooperative Patient. Die gesprächsanalytische Frage lautet wertfrei, mit welcher Art sprachlichen Handelns  – mit welchen Ausdrucksmitteln, mit welchen Methoden – ein Patient reagiert, um interaktionstypologisch bedingte oder individuelle Ziele im Gespräch zu erreichen: was, wie, wozu. So dient das Gesprächsverhalten dieser Patienten der Vermeidung eines Themas, das für sie potenziell gesichtsverletzend und heikel ist. Ausweichen ist schwierig, da das Thema „mangelnde compliance“ unter dem Einfluss des spezifischen Handlungsmusters Arzt-Patienten-Interaktion von den gesprächsorganisatorisch dominanten Ärzten wiederholt und aufwändig relevant gesetzt wrid: Die Nicht-Bearbeitung des

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Themas würde Beziehungskonflikte evozieren. Als Lösung dieses Problems finden sich bei o. g. und anderen Patienten vier verschiedene Gesprächspraktiken, mit denen möglichst beziehungsschonend Themen abgewehrt werden sollen: Ignorieren, Minimales Reagieren, Fokuswechsel-Operationen sowie Insistieren nach erfolgreichem Fokuswechsel (vgl. hierzu Lindtner-Rudolph i. V.). Sie unterscheiden sich in Bezug auf ihren gesprächsorganisatorischen Aufwand, ihre Erfolgsaussichten sowie das Ausmaß ihrer Beziehungspflege bzw. -gefährdung, werden von Patienten methodisch eingesetzt und systematisch miteinander kombiniert. Unterschiedliche Gesprächspraktiken wenden auch Ärzte an, um die Bearbeitung eines medizinisch relevanten Themas entgegen der offensichtlich konträren Handlungsziele des Patienten durchzusetzen. Unter dem Begriff verdeckte Strategien der Gesprächsführung lassen sich Gesprächspraktiken subsumieren, mit denen Patienten dazu gebracht werden, das Rederecht zu übernehmen und relevant gesetzte Themen doch zu bearbeiten: Unterscheiden lassen sich nonverbale Aufforderungen, indirekte verbale Aufforderungen sowie explizite verbale und metakommunikative Aufforderungen zur Redeübernahme und Themenbearbeitung. Wie der Patient bei der systematischen Vermeidung des Themas, so beginnt auch der Arzt in diesen Konfliktsituationen zunächst mit gesprächsorganisatorisch unaufwändigen Praktiken und greift erst nach deren Scheitern zu sequenziell aufwändigeren und potenziell heikleren Aufforderungen. Zentrales Ausdrucksmittel nonverbaler Aufforderungen ist das Aushalten einer Pause von bis zu 20 Sekunden, nachdem der Patient die Übernahme des Rederechts zur Bearbeitung des Themas an einem pragmatisch bedeutenden und bspw. syntaktisch deutlich markierten transition relevant place (Sacks u. a. 1974), d. h. einer übergaberelevanten Stelle des Gesprächsbeitrags abgelehnt hatte: Unter dem Einfluss des spezifischen Handlungsmusters und der damit verbundenen asymmetrischen Rederechtsverteilung fällt die Redeverpflichtung automatisch an den Patienten, wenn der Arzt das Rederecht abgibt. Qua mimischer Mittel kann der Arzt während seines Schweigens den Reaktionsdruck auf den Patienten erhöhen. Sequenzorganisatorisch betrachtet sind nonverbale Aufforderungen höchst effektiv: unaufwändig, schnell zu produzieren und oft erfolgreich. Das gleiche gilt für indirekte verbale Aufforderungen, die aus sog. question tags oder Rückversicherungssignalen (vgl. Duden. Die Grammatik 2005, Schank/Schoenthal 1976, Rath 1979), Wiederholungen oder Rephrasierungen eigener Äußerungen (Kotschi 2001) bestehen können, die zuvor vom Patienten ignoriert wurden. Der vom Patienten zu bearbeitende Aspekt wird erneut in den Gesprächsmittelpunkt gestellt, das Rederecht erneut dem Patienten überlassen, der Zugzwang für den Patienten erneut aufgebaut. Nicht nur der zeitliche und gesprächsorganisatorische Aufwand wird dabei gering gehalten, auch die Verstehensanweisungen für den Patienten fallen schwach aus: der Patient versteht i. d. R., dass er reagieren soll, jedoch nicht, wie oder warum.

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Anders bei expliziten verbalen Aufforderungen zur Redeübernahme und Themenbearbeitung wie kategorialen W-Fragen (Transkriptauszüge folgen den Konventionen eines Minimaltranskripts nach GAT 2 (vgl. Selting u. a. 2009)): (a) WIE ham se denn ihre tabletten genommen

Sie sind wie metakommunikative Aufforderungen in Hinblick auf die Binnensequenzorganisation (vgl. Goodwin 1981, Wilson 1991), Formulierungsdynamik (vgl. Deppermann 2008) oder Prosodie (vgl. Selting 1995, Couper-Kuhlen/Selting 1996) mit einem wesentlich höheren gesprächsorganisatorischen Aufwand verbunden und werden daher i. d. R. erst eingesetzt, wenn andere Gesprächspraktiken ohne Erfolg bleiben. Auch metakommunikative Aufforderungen können aus Fragen mit starkem Befehlscharakter bestehen und fokussieren verstehenstechnisch klar, gesprächsorganisatorisch unausweichlich, worauf der Patient reagieren muss, will er die Interaktion nicht scheitern lassen: (b) ne aber (.) jetz (.) eh könn wer nochmal über die tabletteneinnahme sprechen

Dass diese Gesprächspraktiken systematisch kombiniert kurzfristig greifen, hat interaktionstypologische Ursachen: Die hierarchische Rollenverteilung, eine Gesprächsorganisation mit asymmetrischer Rederechtsverteilung und die dominante Gesprächsführung einer paternalistischen Arztrolle bringen den Patienten dazu, auch bei mangelndem Situationsverständnis oder entgegen eigener Handlungsziele eingeforderte Antworten zu liefern. Bei der Analyse vollständiger Diskurse fällt jedoch auf, dass der Arzt auf diesem Wege punktuell zwar Themen im Interaktionsmittelpunkt halten kann, diese in Folgegesprächen allerdings immer wieder neu besprochen werden müssen: Patienten halten sich nicht an getroffene Absprachen, das Thema bspw. der mangelnden compliance muss über Wochen hinweg immer wieder bearbeitet werden. Gesprächsübergreifend betrachtet führen diese Gesprächspraktiken zu Verzögerungen in der Themenentwicklung, sie scheinen Konflikte auf der Beziehungsebene hervorzurufen, die sich auf Folgegespräche, die Therapieplanung sowie die compliance des Patienten negativ auswirken. Das Bild eines aus Patientensicht groben, unsensiblen Arztes kann entstehen. Eine zweite, im Moment des aktuellen Interaktionsgeschehen zeitaufwändigere Strategie der offenen Gesprächsführung steigert dagegen das Partner- und Situationsverstehen auf Arzt- wie Patientenseite, kann dadurch die Kooperationsbereitschaft des Patienten erhöhen und durch eine patientengerechte Themenentwicklung langfristig betrachtet zu einer effizienteren Gesprächsführung beitragen. Erreicht wird dies durch das explizite Erfragen der Handlungsabsichten des Patienten oder – häufiger – die Explikation von Inferenzen, die sich der Patient offensichtlich nicht eigenständig erschließen konnte:

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(c) ja wenn sie sagen (.) sie haben se [= die Tabletten] mal genommen (.) und mal nich genommen °h äh das wichtige bei der schmerztherapie is ja °h dass man (.) seine medikamente (.) regelmäßig nimmt [...] wenn man die nicht regelmäßig nimmt (.) hört deren wirkung auf (.) und das dauert vielleicht n tag oder so aber dann gehts richtig los (0.30) ja (0.79) und auch we dann (.) wenn man dann (.) nach der einnahme der medikamente (.) keine schmerzen mehr hat (0.46) dann hat man keine schmerzen mehr (.) weil man medikamente genommen hat (.) aber man muss die weiter nehmen (.) ne

Bei dem Offenlegen von Inferenzen gegenüber dem Patienten kann es sich sowohl um Agenda bezogene Interaktionsziele des Arztes als auch um medizinische Zusammenhänge handeln, die dem Patienten scheinbar verborgen blieben. So zeigt das Zusammenführen der mangelnden compliance des Patienten mit dem bisherigen Scheitern schmerztherapeutischer Maßnahmen dem Patienten, warum er wie worauf reagieren soll. Dem Patienten werden Hintergründe des evtl. als aggressiv wahrgenommenen ärztlichen Handelns verständlich: Das Nachhaken des Arztes, ob Tabletten wie vereinbart genommen wurden oder nicht, verliert seine gesichtsbedrohenden Aspekte – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Patientenkooperation. Auch durch das Erfragen der Handlungsmotive des Patienten erhöht der Arzt sein Partnerverstehen und kann ein heikles Thema patientenorientiert relevant setzen. Zugleich nimmt er damit eine positive Partnerbewertung vor: Er signalisiert Interesse am Patienten, an dessen Sorgen und Bedürfnissen und kann durch die Begegnung auf Augenhöhe eine bessere Kooperation des Patienten erreichen als durch die bloße Erhöhung des Handlungsdrucks. Beide Gesprächspraktiken benötigen im aktuellen Interaktionsgeschehen einen relativ hohen gesprächsorganisatorischen Aufwand und kostbare Zeit, da der Arzt mit ihnen das Prinzip der Handlungsprogressivität missachten und nach den Ursachen suchen muss, die das Interaktionsgeschehen stocken lassen. Die Strategie der verdeckten Gesprächsführung bekämpft lokal effektiv lediglich die Symptome von Kommunikationsstörungen, in der Hoffnung, die thematische Entwicklung so schnellstmöglich voranzubringen. Da Strategien der offenen Gesprächsführung jedoch den Patienten nicht rein formell bzw. unter Rückgriff auf den übergeordnete Handlungsrahmen zum Reagieren zwingen, sondern auch inhaltlich die Notwendigkeit des auffälligen Handelns explizieren, fördern sie als patientenzentrierte Strategien Patientenautonomie und -verstehen und damit eine nachhaltige Kooperation. Themen werden eingehend besprochen, müssen nicht unzählige Male in das Interaktionsgeschehen zurückgeholt werden. Indem der Patient „dort abgeholt wird, wo

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er steht“, kommt der Arzt zugleich einer der Hauptforderungen der Palliativmedizin nach (Bausewein u. a. 2010).

3.2.2 Von schwer zugänglichen Patienten und feinfühligen Ärzten: Sprache als diagnostisches und therapeutisches Instrument Die Aushandlung und Bearbeitung sensibler, potenziell heikler Themen wird nicht nur dadurch erschwert, dass Patienten aus verschiedenen Gründen eine verdrängende Grundhaltung einnehmen, bestimmte Themen oder therapeutische Maßnahmen ablehnen. Auch bei Patienten mit initialer Ablehnung gegenüber der neuen Umgebung einer Palliativstation werden relevante Aspekte palliativmedizinischer Arbeit wie Beziehungs- und Vertrauensaufbau oder Therapieplanung eine Herausforderung. Sind Patienten aufgrund der existenziellen Veränderungen in ihrem Leben verunsichert oder verzweifelt, aufgrund jahrelanger Schmerzen oder fataler Diagnosen lebensmüde, wünschen sie u. U. nichts mehr als „die Spritze“. Ihre Verschlossenheit kann das Aufspüren und adäquate Behandeln tatsächlicher Bedürfnisse oder psychischer Lasten nahezu unmöglich machen. In Erstgesprächen mit noch unbekannten Patienten, vor allem aber in Visitenund anderen Folgegesprächen mit tendenziell verschlossenen Patienten scheint eine Form von Angebotskommunikation zielführend zu sein, die für klassische Arzt-Patienten-Interaktionen untypisch ist. Während in der medizinischen Lehre trainiert wird, Äußerungen gegenüber Patienten und Angehörigen eindeutig zu formulieren – verbreitet ist etwa die Vermittlung des KISS-Prinzips „Keep It Short and Simple“ oder des SPIKES-Modells (vgl. Baile u. a. 2000) –, zeichnen sich Formen der Angebotskommunikation durch ihre Mehrdeutigkeit aus. Um den Sinn hinter diesem sprachlichen Phänomen zu erschließen, muss man sich grundlegende Mechanismen der meist unterschwellig verlaufenden Hervorbringung und Aushandlung interaktiv relevanten Verstehens in Gesprächen vor Augen führen: Bei der gemeinsamen Produktion eines Gesprächs gehören Aushandlung und Sicherung interaktiv relevanten Verstehens zu den grundlegenden Aufgaben aller Gesprächsteilnehmer. Bei jeder Äußerung geht es stets auch darum, wie der Patient in seinen vorangegangenen Äußerungen vom Arzt verstanden wurde, wie der Arzt in seiner Bezugsäußerung vom Patienten verstanden werden soll, welche Folgeaktivitäten der Patient entsprechend anschließen soll (vgl. Spranz-Fogasy/Lindtner 2009, Spranz-Fogasy 2010). Markiert der Arzt bspw. prosodisch und syntaktisch einen Redebeitrag als Frage, versteht der Patient, dass seine Folgehandlung eine Antwort sein muss, deren inhaltliche Ausgestaltung durch den vom Arzt gewählten Frage-Typ i. d. R. ebenfalls begrenzt ist (vgl. Spranz-Fogasy 2010). Ärztlichen Verstehensanweisungen nicht entsprechende, d. h., nicht präferierte Folgehandlungen bedeuten für den Patienten einen erheblichen gesprächsorganisatorischen Aufwand sowie eine potenzielle Gefährdung der Beziehung zwischen den Gesprächspartnern.

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Konträr zu akutmedizinischen Gesprächsmodellen sind im Stil der Angebotskommunikation formulierte Äußerungen hinsichtlich progressiver Verstehensanweisungen derart ungenau, dass Patienten keine präferierte Folgehandlung angedeutet wird. Stattdessen werden zwei oder mehr denkbare Handlungsmöglichkeiten angeboten, Patienten können Folgeäußerungen entsprechend ihrer Bedürfnisse frei gestalten. An sprachlichen Mitteln stehen dem Arzt hierfür auf lexikalischer Ebene semantisch mehrdeutige, offene Ausdrücke wie ambige Verben, Partikeln, Metaphern o. a. bildhafte Ausdrücke zur Verfügung, auf syntaktischer Ebene offene Fragen ohne erkennbare Antwortpräferenz, auf pragmatischer Ebene mehrdeutige Bezugnahmen. Um Handlungsziele wie das Aufspüren von Bedürfnissen verschlossener Patienten zu erreichen, verzichten Ärzte bei diesen Praktiken bewusst auf semantisch enge oder präzise Ausdrücke wie Fachtermini oder auf Codes mit einem hohen Maß an Explizitheit: Innerhalb eines Diskurses, innerhalb einer Interaktion wendet derselbe Arzt systematisch, situations- und handlungszielabhängig unterschiedliche Gesprächspraktiken mit nahezu gegensätzlichen Redestilen an, etwa dominante Fragetechniken und eine ausgeprägte Fachsprache bei der Erhebung einer medizinischen Anamnese. Formen der Angebotskommunikation: (d) wie geht es ihnen (1.28) [...] hat sich irgendwas gebessert (.) oder geändert (.)

Mit dem Indefinitpronomen „irgendetwas“ überlässt es der Arzt dem Patienten, sich zu seinem psychischen oder physischen Befinden zu äußern. Die Selbstkorrektur von einem eindeutig positiven zu einem neutralen Verb deutet auf eine bewusste Wortwahl hin und signalisiert dem Patienten, dass er nicht als „musterhafter“ Patient gegenüber dem Chefarzt nur Verbesserungen anbringen müsse, sondern ebenso ggf. Verschlechterungen seiner Situation anbringen dürfe. Entsprechend wird die Patientenantwort dem Arzt nicht nur medizinischen Wissenszuwachs, sondern auch Einblicke in das subjektive Erleben des Patienten bringen. (e) des is nich mehr (.) is nich mehr

Auf eine rein medizinische Frage nach der Mobilität eines Patienten reagiert dieser mit erheblichen Formulierungsschwierigkeiten bei dem Versuch, zu erläutern, was ihm das Schwinden der Kräfte bedeute. Der Arzt hilft mit dem Anbieten dieser mehrdeutigen Zusammenfassung bei der Vervollständigung des turns  – zugleich offen lassend, ob er sich auf rein physischen oder auch psychischen Kontext beziehe, ob es also auch um schwer in Worte zu fassende Konzepte wie „Lebensqualität“ und „Lebenswille“ gehe. Nach einer erfolglosen Suche nach veranschaulichenden Metaphern und Bildern ratifiziert der Patient diese Zusammenfassung schließlich mit der

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Reformulierung „s nix mehr“. Mehr braucht der Arzt nicht zu erfahren, mehr (Belastendes) muss der Patient nicht sagen. (f) A: seit wann haben sie den tumor (1.23) P: seit (1.49) also s seit einem viertel jahr unge[fähr] A: [mhm ] also gar net so lang is der bekannt

Mit Methoden der Angebotskommunikation sollen Patienten nicht nur eigeninitiativ wählen, welche Inhalte präferiert angesprochen werden sollen: Mit der Deklarativsatz-Frage also gar net so lang is der bekannt bietet der Arzt dem Patienten unverbindlich einen Wechsel der Gesprächsphasen an. Mitten in der Erhebung der medizinischen Anamnese eines Erstgesprächs ermöglicht sie Antworten zum subjektiven Befinden des Patienten und damit den Übergang zur psychosozialen Anamnese. Je nach Reaktion des Patienten würde die medizinische Anamnese bis auf Weiteres unterbrochen und erst später fortgesetzt. Die Funktionen hinter den Formen der Angebotskommunikation wirken auf verschiedenen Ebenen der Hervorbringung von Gesprächen. Unter gesprächsorganisatorischen Aspekten – hinsichtlich des Lokalisierungs- und Formulierungsaufwands – ist das Produzieren einer unterschwellig mehrdeutigen Äußerung für den Arzt unaufwändiger als eine kaum realisierbare Explikation aller denkbarer Lesarten. Mit Blick auf diskursbezogene Operationen wie übergeordnete Themenbezüge zeigt sich, dass vor allem sensible, mit schwierigen Emotionen behaftete Themenbezüge via Angebotskommunikation hergestellt werden. Umso häufiger bei Patienten, zu denen Ärzte nur schwer einen Zugang finden oder deren Reaktionen sie noch nicht gut einschätzen können. Über mehrere Interaktionen hinweg relevant gehaltene Themen können sich um Zeitpunkt und Art der Entlassung (nach Hause/ins Hospiz) drehen, um die Frage nach seelsorgerischem Bedarf oder um die heiklen Aspekte Lebensqualität und Lebenswillen. Je schwerer Inhalte für Patienten in Worte zu fassen sind, desto leichter fällt ihnen dies bei mehrdeutigem Sprechen: Bietet der Arzt eine Bearbeitung mittels ambigem oder bildhaftem Sprechen an, kann der Patient schwierige Inhalte ebenfalls unscharf oder zweideutig ansprechen. Mit dem unverbindlichen Anbieten verschiedener Kontexte und Inhalte umgehen Ärzte zudem potenzielle Konflikte, die bei anderen Arten der Gesprächsführung entstehen. Indem sie neue Gesprächsthemen resp. thematisch neue Aspekte lediglich zur Verfügung stellen anstatt sie qua Vollzug unausweichlich zu fokussieren, vermeiden sie Konflikte auf der Ebene der Sachverhaltskonstitution. Indem sie mögliche Diskrepanzen zwischen der Agenda des Arztes und den Bedürfnissen des Patienten sensibel „abklopfen“, vermeiden sie Konflikte auf der Ebene der Handlungskonstitution. Indem qua Angebotskommunikation angebotene Kontexte gesichtswahrend getilgt oder ignoriert werden, lassen sich Konflikte auf der Identitäts- und Beziehungsebene vermeiden, die den Arzt-Patienten-Diskurs nachhaltig schädigen.

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Diese flexible, offene Art der thematischen Entwicklung kann den Patienten in schwierigen Situationen entlasten, da er autonom entscheidet, welche Kontexte er aufgreift, einengt, weiterführt oder ignoriert. Auch macht sich der Arzt ein Bild darüber, wie der Patient seine Gesamtsituation verarbeiten und welche (Gesprächs-) Bedürfnisse er haben könnte: Worüber spricht der Patient zum aktuellen Zeitpunkt, worüber nicht? Die Antwort ermöglicht es, rein beobachtend weiche wie harte Fakten über den Patienten zu sammeln, ohne ihn mit direkten Fragen oder deplatzierten Themen zu verunsichern oder zu überfordern. So lassen sich mit Strategien der offenen Gesprächsführung und der Angebotskommunikation Patienten dort abholen, wo sie stehen, sowie unnötige Belastungen vermeiden.

4 Patientenorientierte Gesprächsführung Neben Wissen über die Pathogenese von Symptomen und Optionen medizinischer, v. a. schmerztherapeutischer oder onkologischer Therapien, neben der Fähigkeit, Therapieerfolge auch in emotional aufgeladenen Situationen fachlich kompetent zu beurteilen, benötigen Palliativmediziner vielfältige kommunikative Kompetenzen. Die sich häufig abrupt ändernden psychischen Belastungen und physischen Beschwerden der Patienten sind täglich neu behutsam aufzuspüren, Patienten und Angehörige sind sensibel zu informieren, im Prozess der Krankheitsverarbeitung empathisch zu begleiten  – unabhängig davon, wie aggressiv-fordernd überforderte Angehörige oder wie anstrengend verschlossene, verdrängende Patienten sein mögen. Trotz der Verpflichtung zu helfen, können jedoch nicht alle Probleme eines Patienten gelöst werden: Ärzte benötigen auch die Fähigkeit zu erkennen, wann einem Patienten Lasten genommen werden können und wann nicht. Zu guter Letzt erzeugen gesundheitsökonomische Zwänge latenten Zeitdruck. Was zeichnet unter diesen Bedingungen eine patientenorientierte und zugleich effiziente ärztliche Gesprächsführung aus? In einem Großteil der analysierten Arzt-Patienten-Diskurse palliativmedizinischer Settings scheinen die o. g. Parameter der Angebotskommunikation sowie der offenen Gesprächsführung wesentlich zum Gelingen der Interaktionen beizutragen: Beide Gesprächspraktiken verbindet, dass sie eine besonders ausgeprägte Form des recipient design darstellen (vgl. Sacks u. a. 1974, Hartung 2001) und durch jeweils charakteristische Formen der Beziehungs- und Verstehensarbeit des Arztes gekennzeichnet sind. Im Sinne der Angebotskommunikation produzierte Äußerungen sind in besonderem Maße auf das aktuelle Patientenbefinden zugeschnitten: Sprechen über inneres Erleben, Sorgen, Ängste u. ä. kann Patienten überfordern oder geradezu therapeutisch wirken. Was zutrifft, hängt vom physischen wie psychischen Zustand des Patienten ab und lässt sich für den Arzt vorab nur erahnen. Wollte sich ein Patient noch am Vortag nur auf rein schulmedizinische Themen einlassen, kann das Ansprechen psychischer Aspekte bereits am Folgetag wichtig und sinnvoll sein. Mit dem

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unverbindlichen, indirekten Anbieten von Themen qua Angebotskommunikation kann der Arzt für den Patienten gesichtswahrend Gesprächsbedarf aufspüren: anhand der thematischen Kontexte, die der Patient in seinen Folgeäußerungen aufnimmt oder ignoriert. Während sich Angebotskommunikation durch offene, mehrdeutige Verstehensanweisungen auszeichnet, sind für Strategien der offenen Gesprächsführung explizite Verstehensdokumentationen und -anweisungen charakteristisch: Mit dem Aufdecken von Inferenzen, die sich Patienten offensichtlich nicht selbst erschließen können, sowie dem Erfragen von Handlungsabsichten des Patienten muss dieser nicht nur aus sequenzorganisatorischen und interaktionstypologischen Zugzwängen heraus handeln, sondern kann aufgrund eines gesteigerten Partner- und Situationsverstehens autonom reagieren. Das Schließen von Verstehenslücken trägt so zu einer patientengerechten Themenentwicklung bei. Weitere Merkmale einer aus palliativmedizinischer Perspektive gelungenen Gesprächsführung lassen sich in Anlehnung an Kallmeyer und Schütze (1976) unterscheiden je nach Ebene der Interaktionskonstitution, auf der sich spezifische Aufgaben für den Arzt ergeben. Unter handlungsorganisatorischen Aspekten bedeutet Patientenorientierung, dass aufgespürte Patientenbedürfnisse Vorrang vor einer stringenten Abarbeitung der ärztlichen Agenda haben: Deuten Patienten von den Handlungszielen des Arztes abweichende (Gesprächs-) Bedürfnisse an, verlässt dieser unmittelbar, mittels Turnabbrüchen oder prosodischem Zurücknehmen bei Simultanpassagen bis hin zur Abgabe des Rederechts bis auf Weiteres seine Agenda. Häufige, relativ lange Pausen, in denen der Arzt dem Patienten mimisch und körpersprachlich voll zugewandt bleibt, öffnen potenziellen Gesprächsbedürfnissen proaktiv Raum. Patientenorientierte Gesprächsführung beginnt dabei bereits vor der Eröffnung der Interaktion: Möchte der Patient nicht reden oder schläft er, wird die Interaktion i. d. R. vertagt. Deutliche Markierungen von Anfang, Ende und Überleitungen einzelner Gesprächsphasen geben hilfsbedürftigen Patienten Orientierung im Gespräch sowie das nötige Situationswissen, um autonom und aktiv am Interaktionsgeschehen teilzunehmen: Wechsel zwischen Gesprächsphasen wie der Übergang von Small Talk zur Anamnese benötigen signifikante Relevanzhochstufungen, metakommunikative oder sequenzorganisatorisch komplexe Vorbereitungen relevanter Themen und/oder das Aushalten langer Pausen. Ein deutlicher Abschluss von Gesprächen gelingt durch wiederholte Verabschiedungssequenzen, ausführliche Vorbeendigungsaktivitäten wie Rückfragen an den Patienten zu ggf. offen geblieben Sachverhalten, unerreichten Handlungszielen oder individuellen Wünschen. Auf der Ebene der Reziprozität benötigt der Arzt die Fähigkeit, sprachliches Handeln, die Aushandlung und Darstellung von Sachverhalten nicht nur an den jeweiligen Gesprächsbedürfnissen, sondern auch am aktuellen Bewusstseins- und Orientierungsgrad der Patienten auszurichten. Gegenüber neuen, desorientierten oder bewusstseinsverminderten Patienten gehört hierzu eine verglichen mit klassi-

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schen Arzt-Patienten-Interaktionen überdeutliche, aufwändige Herstellung interaktiv relevanten Verstehens. Auf der Ebene der Identitäts- und Beziehungskonstitution scheint es wichtig, dass der Arzt bspw. in der Eröffnungsphase klare, mehrfache Identifizierungen der eigenen Rolle und Person vornimmt. (Non-) Verbale Ressourcen sind Wiederholungen, Rephrasierungen, langsames, lautes, betontes Sprechen, ausgeprägtes Händeschütteln, Blickkontakt oder körpersprachliche Orientierung. Existenzielle Ängste und Verunsicherungen durch die Konfrontation mit dem eigenen Sterben erfordern den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung – v. a. bei Patienten mit initialer Ablehnung gegenüber der palliativmedizinischen Umgebung – sowie eine kontinuierliche Aufwertung der Patientenrolle. Dies geschieht, indem Ärzte Teile unmittelbar vorausgegangener oder weiter zurückliegender Patientenäußerungen oder einen bestimmten Code des Patienten übernehmen, aktives Zuhören deutlich mit Rückmeldesignalen, mittels Mimik oder Gestik markieren, biografische Narrationen fördern und Small Talk-Phasen zulassen. Neben der Schaffung von Nähe wird die Herstellung situationsadäquater Distanz relevant, wenn Patienten oder Angehörige mit einer Situation emotional überfordert sind: In Trauersituationen ist mittels (non-) verbaler Distanzierungen Raum zu lassen, anstatt durch zu viel Nähe übergriffig zu wirken. Die Orientierung an den individuellen Bedürfnissen eines Patienten, das sensible Aufspüren psychischer Lasten und dadurch erfolgreiche Behandeln physischer Beschwerden hilft nicht nur Patienten und Angehörigen bei der Bewältigung der letzten Phase des Lebens. Eine potenziell konfliktvermeidende Gesprächsführung, mit der eine heikle Interaktionssituation für alle Beteiligten möglichst stressfrei bewältigt wird, vermeidet bei Ärzten Überforderungsgefühle, die andernfalls bis zum Burn Out führen können: Im missglückten Umgang mit vermeintlich „aggressivfordernden“ oder „beratungsresistenten“ Patienten erfahren Mediziner Hilflosigkeit, Verunsicherung, Autonomieverlust oder Geringschätzung, wie Studien zum Überbringen schlechter Nachrichten zeigen (Baile u. a. 2000, Baile u. a. 2002, Buckman 1984, Husebø/Klaschik 2009, Ptacek/Eberhardt 1996). Eine im Sinne der Palliativmedizin gelungene Gesprächsführung steigert daher die Lebensqualität von Patient und Arzt.

5 Literatur Baile, Walter u. a. (2000): SPIKES – A six-step protocol for delivering bad news: application to the patient with cancer. In: The Oncologist 5, 302–311. Baile, Walter u. a. (2002): Oncologists’ attitudes toward and practices in giving bad news: an exploratory study. In: Journal of Clinical Oncology 20 (8), 2189–2196. Bausewein, Claudia/Susanne Roller/Raymond Voltz (2010): Leitfaden Palliative Care: Palliativmedizin und Hospizbetreuung. 4. Aufl., München.

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 Heide Lindtner-Rudolph/Hubert J. Bardenheuer

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Markus Reuber/Katie Ekberg

14. Linguistisch-interaktionale Differentialdiagnose in der Anfallsambulanz Abstract: Die Differentialdiagnose epileptischer und sogenannter „psychogener“ nicht-epileptischer Anfälle (NEA) ist ein typisches Beispiel dafür, wie Diagnosen von der Interpretation der Beschwerdenbeschreibung abhängen. Allerdings haben zahlreiche klinische Studien belegt, dass konventionelle Methoden der Anamneseerhebung, die vor allem auf das Abfragen faktischer Informationen ausgerichtet sind, häufig zu Fehldiagnosen führen. Dieses Kapitel beschreibt in vier Teilen das Potenzial linguistischer Methoden als zusätzliche differenzialdiagnostische Hilfsmittel: Zunächst erläutern wir die Ätiologie von Epilepsie und NEA und die Entwicklung der Idee, konversationelle Untersuchungsmethoden differentialdiagnostisch einzusetzen. Im zweiten Teil stellen wir eine Reihe von Studien vor, die belegen, dass gesprächsanalytische Verfahren zur Differenzialdiagnose epileptischer und nicht-epileptischer Anfälle beitragen können, wenn die der Analyse zugrundeliegenden Patientengespräche ungewöhnlich offen geführt wurden. Im Verlauf dieser Studien wurden linguistische und interaktionale Faktoren operational definiert und hinsichtlich ihrer differenzialdiagnostischen Nutzbarkeit überprüft. Im dritten Teil dieses Kapitels vergleichen wir die Forschungsgespräche, die für die in Teil 2 beschriebenen Arbeiten geführt worden sind, mit Gesprächen aus dem Klinikalltag. Der vierte Teil dieses Beitrags exploriert, inwiefern die in Teil 2 beschriebenen, differentialdiagnostisch relevanten linguistischen Beobachtungen in Gesprächen aus der klinischen Routine identifiziert werden können. Abschließend diskutieren wir, welche Bedingungen zu erfüllen sind, bevor die linguistische differentialdiagnostische Methode im Klinikalltag eingesetzt werden kann. 1 Einleitung 2 Differenzialdiagnostisches Potenzial linguistischer Beobachtungen in Gesprächen mit Anfallspatienten 3 Forschungsinterviews und Ambulanzgespräche im Vergleich 4 Linguistische Differentialdiagnose in Forschungsinterviews und ambulanten Routinegesprächen 5 Diskussion 6 Literatur

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1 Einleitung In der traditionellen Ausbildung werden Ärzte vor allem geschult, beim Erheben der Anamnese besonders darauf zu achten, was ihnen Patienten berichten. Am Beispiel der Differenzialdiagnose epileptischer und sogenannter psychogener nicht-epileptischer Anfälle (NEA) stellt dieses Kapitel eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten vor, die zeigen, dass die Art und Weise, wie Patienten in Erstgesprächen über Symptome sprechen, einen wichtigen Beitrag zur Diagnosestellung leisten kann. Bei der Untersuchung und Behandlung von Patienten mit transientem Bewusstseinsverlust (TBV) basiert die Diagnose zumeist ganz oder vorwiegend auf der Anfallsbeschreibung des Patienten, da medizinische Tests, die in der Phase zwischen Anfällen (also „interiktal“) durchgeführt werden, nicht hinreichend sensitiv oder spezifisch sind, und die Aufzeichnung von Anfällen in der Praxis zumeist nicht durchführbar ist (Malmgren/ Reuber/Appleton 2012). Während einige diagnostische Entscheidungen im Zusammenhang mit TBV recht einfach sind (z. B. die Unterscheidung von Synkopen und epileptischen Anfällen), stellen andere (wie die Unterscheidung epileptischer Anfälle und NEA) eine größere Herausforderung dar. Dies ist insofern nicht überraschend, als NEA klinisch als Anfallszustände definiert sind, die epileptischen Anfällen oberflächlich ähneln, obwohl sie ganz andere Ursachen haben. Diese Schwierigkeiten sind der Grund dafür, dass gegenwärtig etwa bei einem Fünftel aller NEA-Patienten zunächst eine irrtümliche Epilepsiediagnose gestellt wird und dass es im Durchschnitt über sieben Jahre dauert, bis NEA korrekt diagnostiziert werden (Leach u. a. 2005, Reuber u. a. 2002). Während epileptische Anfälle durch exzessive und ungewöhnlich stark synchronisierte Entladungen von Neuronenverbänden im Gehirn verursacht werden, werden die meisten NEA als ein pathologischer Reizverarbeitungsmechanismus verstanden (Reuber/Kurthen 2011). Während Antiepileptika die erste Wahl bei der Therapie epileptischer Anfälle sind, sind psychotherapeutische Verfahren die Behandlung der Wahl für NEA (Reuber/Howlett/Kemp 2005). Eine korrekte Diagnose ist also für die erfolgreiche Behandlung von Patienten von ganz zentraler Bedeutung. Angesichts dieser diagnostischen Probleme in der Anfallsambulanz verdient folgende Beobachtung aus Gesprächen mit Anfallspatienten besondere Bedeutung: Patienten mit Epilepsie und solche mit NEA gehen offensichtlich ganz anders mit der Herausforderung um, dem Arzt von ihren Anfällen zu berichten, bei denen ihr Bewusstsein häufig ganz oder zumindest teilweise eingeschränkt war. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe in Bielefeld machte es sich zur Aufgabe, diese Unterschiede zu beschreiben. Zunächst untersuchten die Forscher Audio- und Videoaufnahmen von authentischen, sehr offenen und patientenzentrierten Anamnesegesprächen, die in der Abteilung für Psychosomatische Epileptologie in Bethel aufgezeichnet worden waren. Auf dieser Grundlage entwickelten die Kliniker in Zusammenarbeit mit den Linguisten einen Gesprächsleitfaden, der es dem Patien-

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ten erlaubte, selbst Relevantsetzungen vorzunehmen und den Ablauf des Gespräches maßgeblich mitzubestimmen (Schwabe/Howell/Reuber 2007). Die analytische Methodik, derer sich die Arbeitsgruppe in Bielefeld bediente, basierte auf Prinzipien der Konversationsanalyse (KA) (Sidnell/Stivers 2013). Obwohl KA inzwischen eine zur Untersuchung und Beschreibung interaktioneller Phänomene in der Medizin gut etablierte Methode ist (eine Übersicht findet sich bei Pilnick/Hindmarsh/Gill 2009), war ganz neu an diesem Ansatz, dass eine auf der KA aufbauende, qualitative Forschungsmethode als differenzialdiagnostisches Werkzeug eingesetzt werden sollte. Basierend auf ihrer Analyse von über 100 Transkripten beschrieben Elisabeth Gülich, Martin Schöndienst und ihre Mitarbeiter zwei kontrastierende Konversationsprofile und stellten dann fest, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen diesen Profilen und den klinischen Diagnosen gab, die unabhängig von diesen Analysen mit Hilfe anderer diagnostischer Verfahren formuliert worden waren. Während Patienten mit Epilepsie üblicherweise ohne spezifische Aufforderung detailliert ihr subjektives Anfallserleben beschrieben, tendierten Patienten mit NEA dazu, die Situationen, in denen Anfälle aufgetreten waren oder die Konsequenzen ihrer Anfälle relevant zu setzen. Dabei zeigten sie Phänome wie „Detaillierungssperre“ (das Aussparen von Details in der Anfallsschilderung auch bei mehreren Beschreibungsdurchgängen) oder „Fokussierungsresistenz“ (interaktioneller Widerstand gegen den ärztlichen Fokus auf bestimmte, besonders gut erinnerliche Anfallserlebnisse) (Gülich/Schöndienst 1999; Gülich/Schöndienst/Surmann 2002; Schöndienst 2001a, 2001b; Surmann 2005). An diesem Punkt wurde die weitere Erforschung der Verwendung gesprächsanalytischer Methoden in der Differenzialdiagnose von TBV von Forschern an der Universität Sheffield in Großbritannien aufgegriffen. Die folgenden Darstellungen beziehen sich auf die Arbeit der Gruppe aus Sheffield und sind in drei Teile aufgeteilt: Teil 2 fasst eine Reihe von in Sheffield durchgeführten Studien zusammen, in denen belegt werden konnte, dass durch die Verwendung von KA (sowie anderer linguistischer Methoden) medizinische Diagnosen vorhergesagt werden können. Teil 3 beschreibt Unterschiede zwischen der Struktur der in Sheffield zu Forschungszwecken durchgeführten Patienteninterviews, die den in Teil 2 beschriebenen Studien zugrunde lagen, und Gesprächen, die Ärzte, die mit diesen Studien und dem darin verwendeten Gesprächsleitfaden nicht vertraut waren, „natürlicherweise“ im klinischen Ambulanzbetrieb mit Patienten führen. Teil 4 untersucht, in welchem Maße die differenzialdiagnostisch linguistischen Beobachtungen, die in den etwas ungewöhnlichen Forschungsinterviews identifiziert werden konnten, auch in „natürlicherweise“ auftretenden (und zeitlich stark beschränkten) Gesprächen im klinischen Alltagsbetrieb identifiziert werden können.

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2 Differenzialdiagnostisches Potenzial ­linguistischer Beobachtungen in Gesprächen mit Anfallspatienten 2.1 Die Forschungsinterview-Daten Das Potenzial der genauen linguistischen Analyse als diagnostisches Hilfsmittel wurde anhand von Gesprächen herausgearbeitet, die besonders zu Forschungszwecken aufgenommen worden waren und nicht im klinischen Routinebetrieb „natürlich“ aufgetreten waren. Die Patienten, die an diesen Studien teilnahmen, waren alle zur simultanen Video-Elektroencephalografischen (VEEG)-Beobachtung im Royal Hallamshire Hospital in Sheffield aufgenommen worden, weil sich der überweisende neurologische Facharzt unsicher in der Diagnose war. Dem Arzt, der mit dem Patienten sprach, war zum Zeitpunkt des Gesprächs die VEEG gestützte medizinische „Goldstandard“-Diagnose unbekannt. Die Gespräche wurden mithilfe der im VEEG-Zimmer montierten Wandkamera und des Wandmikrofons aufgezeichnet und dauerten 25 bis 35 Minuten. Der Neurologe folgte dem in Bielefeld entwickelten Gesprächsleitfaden mit einigen geringfügigen Veränderungen. Mit einer offenen Eröffnungsfrage nach den Erwartungen bei Aufnahme (ohne Erwähnung der Anfälle) wurde der Patient zunächst aufgefordert, selbst Relevantsetzungen vorzunehmen und ohne Unterbrechung durch den Arzt zu reden. Nach zehn bis fünfzehn Minuten forderte der Arzt den Patienten dann auf über den ersten, letzten und schlimmsten Anfall zu berichten (Reuber u. a. 2009). Der Arzt war angehalten, auf die Themenwahl und den Redefluss des Patienten möglichst wenig Einfluss zu nehmen.

2.2 Analytische Methode: Prospektiver Einsatz der ­Konversationsanalyse in der Differenzialdiagnose ­epileptischer und nicht-epileptischer Anfälle Die aufgenommenen Video- und Audiodaten wurden gemäß der von Jefferson (2004) entwickelten Konventionen transkribiert. Zur Datenanalyse wurde eine auf konversationsanalytischen Prinzipien aufbauende Methodik (KA) verwendet (Schwabe/Howell/ Reuber 2007). Um zu zeigen, dass die in Deutschland beschriebenen interaktionalen, inhaltlichen und sprachlichen Beobachtungen auch prospektiv genutzt werden und auch dann zur Diagnosestellung beitragen können, wenn diese Diagnose zuvor unbekannt war, entwickelte die Arbeitsgruppe in Sheffield zunächst ein Arbeitsblatt mit operationalisierten Definitionen von 17 verschiedenen sprachlichen bzw. kommunikativen Phänomenen mit diagnostischem Potenzial, also eine „Diagnostische Auswertungshilfe“ (DAH). Die DAH fordert den Analysierenden auf, zunächst zu jedem

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einzelnen Punkt einen qualitativ wertenden kurzen Bericht zu erstellen. Dabei soll bei der Beantwortung jeden Punkts der Verlauf des gesamten Gesprächs berücksichtigt werden. Zusätzlich verlangt die DAH zu jedem Punkt eine nummerische Entscheidung (1: typisch für Epilepsie, 0: Beobachtung kommt in diesem Transkript nicht vor oder kann nicht diagnostisch gewertet werden, -1: typisch für NEA) und schließlich eine zusammenfassende qualitative Wertung und eine diagnostische Entscheidung: eher typisch für Epilepsie oder eher typisch für NEA– (eine genauere Beschreibung der DAH findet sich in Reuber u. a. 2009). In unserer Studie füllten für jedes Gespräch zwei Linguisten unabhängig voneinander eine DAH aus. Dabei hatten die Linguisten keinen Zugang zu Patientendaten, die nicht aus der Videoaufnahme oder dem Transkript hervorgingen; im Besonderen war ihnen das Ergebnis der VEEG-Untersuchung unbekannt

2.3 Ergebnisse der prospektiven Studie mit Blindanalysen Auf der Grundlage ihrer qualitativen Analyse sagten beide Linguisten 17 von 20 (85 %) der mit VEEG belegten Diagnosen korrekt voraus (Kappa 0.59). Sowohl die Ergebnisse der qualitativen als auch der quantitativen (hier nicht näher beschriebenen) DAHgestützten Analyse sind nicht zuletzt deshalb beeindruckend, weil durch die VEEGUntersuchung nur 40 % der Diagnosen der überweisenden Neurologen bestätigt wurden. Diese prospektive Studie konnte somit das differenzialdiagnostische Potential der beschriebenen linguistischen Beobachtungen in Arzt-Patientengesprächen, die nach dem zunächst in Bielefeld entwickelten Leitfaden geführt wurden, bestätigen.

2.4 Zusätzliche differentialdiagnostische linguistische Untersuchungen Im Anschluss an die oben beschriebene Studie wurde das gesammelte Datenmaterial und die für diese Studie erstellten Transkripte mit Hilfe von drei anderen linguistischer Untersuchungsmethoden exploriert, um weitere differenzialdiagnostisch verwertbare sprachliche Erscheinungen zu identifizieren und zu beschreiben. Die erste dieser Studien befasste sich mit der metaphorischen Konzeptualisierung von epileptischen Anfällen und NEA (Plug/Sharrack/Reuber 2009b). In der zweiten Studie wurden alle Substantive untersucht (z. B. „seizure“, „fit“, „attack“, „blackout“), die Patienten für ihr Hauptsymptom verwenden. Unterschiede in der Verwendung der am häufigsten verwendeten Substantive wurden konversationsanalytisch beschrieben und statistisch ausgewertet (Plug/Sharrack/Reuber 2009c). Die dritte Studie analysierte im Besonderen wie Patienten mit Anfällen über Dritte reden, die während des Gesprächs mit dem Arzt

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nicht anwesend sind (Robson/Drew/Walker/Reuber 2012). Diese Studien können hier nicht im Einzelnen besprochen werden, allerdings identifizierten alle drei zusätzlichen Beobachtungen mit differentialdiagnostischer Relevanz, die in der oben beschriebenen Studie noch nicht berücksichtigt wurden. Es gibt noch andere linguistische Untersuchungsverfahren, die im Zusammenhang mit Arztgesprächen mit Anfallspatienten eingesetzt worden sind, allerdings bislang nicht in größeren Patientengruppen. Prosodische und multimodale Analysen sind beispielsweise mit Erfolg bei der Differenzierung epileptisch-bedingter Angstzustände und anderer Angstattacken eingesetzt worden (Gülich/Couper-Kuhlen 2007; Gülich/Lindemann 2010).

3 Forschungsinterviews und Ambulanzgespräche im Vergleich Die oben zusammengefassten Studien demonstrieren das differentialdiagnostische Potenzial interaktioneller und linguistischer Beobachtungen in den Gesprächsbeiträgen von Patienten mit Epilepsie und NEA. Die Interviews fanden allerdings in einer ungewöhnlichen Umgebung statt (im Video-EEG-Beobachtungszimmer), in der weder Arzt noch Patient unter dem Zeit- und Entscheidungsdruck standen, der üblicherweise ambulante Routinegespräche kennzeichnet. Ambulanzgespräche, in denen sich Patienten zum ersten Mal vorstellen, müssen in der Regel nach 30–45 Minuten abgeschlossen werden. In diesem Zeitraum müssen die Patienten (und, wenn vorhanden, Anfallszeugen) nicht nur die Anfälle beschreiben, sondern der Arzt muss sich auch nach anderen medizinischen Problemen erkundigen, eine Familienanamnese erheben, soziale Fragen besprechen (z. B. bezüglich des Arbeitsplatzes oder der Fahrtauglichkeit), etwaige Tests, die Diagnose und die Behandlung erklären. Daten aus dieser Ambulanzsituation wollen wir nun vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus den Forschungsinterviews betrachten.

3.1 Vergleichsmethode Grundlage des Vergleichs bilden neben den Daten aus den oben zusammengefassten Studien Aufzeichnungen, die im Rahmen einer anderen Studie in der Anfallsambulanz des Royal Hallamshire Hospitals in Sheffield und der General Infirmary at Leeds (beide in Großbritannien) aufgezeichnet wurden. Den daran teilnehmenden Ärzten waren die Forschungsergebnisse aus den vorangegangenen Studien nicht bekannt, ebenso wenig wie der Gesprächsleitfaden. Sie hatten jedoch bereits mehrere Jahre in der Neurologie gearbeitet und ihre neurologische Fachausbildung fast abgeschlossen (sogenannte „Specialist Registrars“). Von Ärzten dieser Seniorität wird erwartet,

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dass sie selbständig Diagnosen stellen und Behandlungspläne formulieren, sie sind jedoch deutlich weniger auf die Behandlung von Anfallskrankheiten spezialisiert als die Ärzte, deren Gespräche im Rahmen der Studien aufgezeichnet worden waren. Zudem fanden die Gespräche aus der Ambulanzroutine unter wesentlich höherem Zeitdruck statt. Insgesamt wurden zwischen September 2012 und März 2013 in der Ambulanz 39 Erstgespräche mit zehn verschiedenen Ärzten aufgezeichnet. Zum Zweck des Vergleichs der ärztlichen Gesprächsführung konzentrieren wir uns hier nur auf den Beginn der Gespräche – von der Gesprächseröffnung bis zum Abschluss der Anamneseerhebung. Gespräche mit Patienten mit anderen Diagnosen als Epilepsie oder NEA wurden nicht berücksichtigt. Begrüßung und Anamneseerhebung in den hier untersuchten Ambulanzgesprächen dauerten 6 ½ bis 59 Minuten (Median 17 Minuten) – ein deutlicher Unterschied zu der 25 bis 35 minütigen Dauer (Median 30 Minuten) der zu Forschungszwecken aufgezeichneten Gespräche. Wir benutzten die Methodologie der Konversationsanalyse (KA), um die Methoden zur Erhebung der Anfallsanamnese zu beschreiben und zu vergleichen. Insbesondere verglichen wir die Eröffnungsfragen, das Ausmaß und die Art weiterer kommunikativer Eingriffe des Arztes sowie die Formen ärztlicher Nachfragen im Verlauf der Anamneseerhebung.

3.2 Vergleichende Analyse der Methoden zur Anamneseerhebung 3.2.1 Eröffnungsphase des Ambulanzgesprächs Die in Sheffield zu Forschungszwecken aufgezeichneten Gespräche begannen mit einer Frage, in der die Beschwerden des Patienten bewusst nicht erwähnt wurden (z. B. „Was waren Ihre Erwartungen, als Sie ins Krankenhaus kamen?“). Diese wenig spezifische und „offene“ Frage eröffnete Patienten einen großen Beantwortungsspielraum und gab ihnen die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob und wie sie dem Arzt gegenüber ihr Anfallsleiden bereits zu diesem Zeitpunkt erwähnen oder zunächst über ein anderes Thema reden wollten. Da diese offene Frage den Arzt als jemanden positioniert, der über die Beschwerden des Patienten nichts weiß, überlässt sie dem Patienten epistemische Autorität über seine Anfallserfahrung. Diese Darstellung des „Nicht-Wissens“ in einem Interrogativsatz fordert den Gesprächspartner zu Elaboration und Sequenzexpansion auf (Heritage 2010; Spranz-Fogasy 2010). In der Eröffnungsphase ambulanter Routinegespräche hingegen benutzten Neurologen häufig Formen von Fragesätzen, die für einen traditionellen Anamneseerhebungsstil typisch sind, wie das folgende Beispiel zeigt („N“ steht für Neurologe, „P“ für Patient):

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(1) [002 Andrew Gesprächseröffnung] 1 N: → Yep? So when did you fi:rst have these attacks? 2 P: Um, they started about thre- three years ago. (2) [003 Annabell Gesprächseröffnung] 1 N: Okay. ↑Do you mind if we start from the top then if 2 [tha]t’s okay, so [t↑ell me]: (.) u::m (.) when  3 P: [No,] [’s fine.] 4 N: these: seizures started hap[pening?] 5 P: [Oh I ] can’t 6 °remember that° I can’t remember yesterday.

In den Transskriptfragmenten (1) und (2) stellt der Arzt kategorial eingrenzende Fragen, die eine bestimmte Art von Antwort des Patienten erwartbar machen. Diese im englischen „wh-“ Fragen genannten Interrogative fokussieren die Antwort des Gesprächspartners auf ein bestimmtes Thema (oder eine bestimmte thematische Agenda) (Boyd/Heritage 2006; Spranz-Fogasy 2010), in diesem Fall: den Zeitpunkt, zu dem die Anfälle des Patienten begannen. Die Frageformulierung setzt außerdem voraus, dass der Patient tatsächlich Anfälle hat. Diese Form der Informationsgewinnung ist eine sehr effektive Methode, um den Anamneseerhebungsprozess schnell voranzutreiben. Allerdings ist der Patient nicht aktiv an der Themenauswahl beteiligt und hat kaum Möglichkeiten, von dem vom Arzt gewählten Thema abzuweichen. In vielen Fällen bestand die Eröffnungsphase in den Routinegesprächen in der Ambulanz aus einer langen Sequenz geschlossener, deklarativer und kategoriengebundener Fragen. Wie in Gesprächsfragment 3 verfielen Neurologen und Patienten häufig in eine aus minimalen Frage-Antwort-Paaren bestehende Gesprächsroutine (Fragen des Arztes sind durch Pfeile markiert). (3) [022 Evan Gesprächseröffnung] 1 N: That’s fine. Okay l- let’s start from the beginning. 2 P: Yeah, okay.= 3 N: → =Are you right handed or left handed? 4 P: Right. 5 (3.1) 6 N: → And what was your j↑ob during your working life? 7 P: E::r (0.2) that’d be a teacher. 8 (.) 9 N: Teacher? 10 P: Yeah. 11 N: → Which grade did you teach? 12 P: Primary school. 13 (10.4) 14 N: → A::nd (0.5) in the past did you had any significant 15 medical problems? 16 P: No never. 17 (0.4)

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N: → Diabetes? (1.1) P: Nope, I’ve got u:m (0.4) N: → Hi[gh blood pressure?] P: [High- high blood ] pressure yeah. I’ve got the: (0.7) that’s what I’m on now. ((10 lines omitted where P gives N documents)) N: → Quite a f↑ew er blood pressure tablets you have got? P: Yes, mm. (2.4) N: → Did you ever had any: e:r stroke? P: No. (1.8) N: → Did you ever lost the function ? P: No.

In diesem Gesprächsfragment bestimmt eine lange Abfolge thematisch eingegrenzter, deklarativer, mit einem Verb beginnender Ja/Nein-Fragen die gesamte Eröffnungsphase (das Frage/Antwort-Muster setzt sich auch über das Fragment hinaus fort). Bei den Interrogativen handelt es sich um geschlossene Fragen, die die möglichen Gesprächsbeiträge der Patienten stark einschränken: Auf diese Fragen werden vom Patienten minimale, nicht-elaborierte Antworten erwartet (Boyd/Heritage 2006; Raymond 2003). Solche Fragen geben dem Patienten nicht die Möglichkeit, sein eigenes Wissen über die Anfälle mit dem Arzt zu teilen (Spranz-Fogasy 2010). Die langen Sequenzen von Fragen des Arztes und minimalen Antworten des Patienten dieser Art unterschieden sich deutlich von der sehr offenen Eröffnungsfrage und den großen interaktionalen Freiräumen, die Patienten im Rahmen der zu Forschungszwecken durchgeführten Interviews zur Verfügung standen.

3.2.2 Nachfragen des Arztes Im Anschluss an die Eröffnungssequenz in den Forschungsinterviews fragte der Arzt die Patienten nach besonders gut erinnerlichen bestimmten Anfallsepisoden (z. B. „Was können Sie mir über den ersten/letzten/schwersten Anfall sagen, an den Sie sich erinnern?“) (Plug/Sharrack/Reuber 2009a). Auch diese Fragen forderten Patienten dazu auf, ausführlich und elaboriert über ihre Anfallserfahrungen zu berichten. Die Nachfragen der Ärzte in den Ambulanzgesprächen schränkten die Antwortmöglichkeiten des Patienten dagegen thematisch und grammatikalisch viel deutlicher ein – z. B. indem Patienten (wie in Gesprächsfragment 4) dazu aufgefordert wurden, etwas detaillierter über bestimmte Aspekte des Anfallsverlaufs zu berichten oder indem die Nachfragen nur minimale Antworten erwartbar machten.

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(4) [001 Anthony Nachfragen] 1 N: → Okay. Were there any occasions where you’ve actually 2 come to any harm because of these? 3 P: Er I [remember fffff ] 4 F: [(You said the)] one- well when your mum had to 5 go chasing after yah, 6 P: Yeah that one and I remember one- what- first one I 7 found out uh I’d been walking from town (0.2) down 8 to me sister’s eh got close to her- (0.2) well got 9 to her crossing er as I’ve come round there’s a car 10 side of me beeping his horn at me.

Die mit einem Verb beginnende Ja/Nein-Frage des Arztes in Zeilen 1–2 grenzt das Gesprächsthema stark ein. Durch die Art der Frage ist die Antwort des Patienten kategorial gebunden: er ist gebeten worden, über Situationen zu berichten, in denen Anfälle aufgetreten sind, also muss er dies nun tun. Die Struktur dieser Frage steht im Gegensatz zur Struktur der Fragen, die in den Forschungsinterviews gestellt wurden. Die dort verwendeten Fragen luden Patienten dazu ein, selbst zu entscheiden, welche Aspekte ihrer Anfallserlebnisse sie in den Vordergrund stellen wollten.

3.2.3 Beiträge des Arztes zum weiteren Gesprächsverlauf In den Forschungsinterviews war der Neurologe bemüht, eine ungewöhnlich passive Rolle einzunehmen. Durch den Gesprächsleitfaden war er angehalten, zwischen den Redebeiträgen lange Pausen zu tolerieren und den Patienten durch seine Aufmerksamkeit und sein Interesse bestätigende Rezeptionsmarker wie „mmhm“, „okay“ oder „right“ zu elaborierten Darstellungen zu ermutigen (siehe Plug/Reuber 2009). Im Gegensatz dazu waren die Neurologen in den ambulanten Routinegesprächen viel aktiver an der Strukturierung des weiteren Gesprächsverlaufs beteiligt, wie Beispiel (5) zeigt: (5) [002 Andrew Wortsuche] 1 N: Okay, .hh and u:m .tch (1.0) DO YOU remember 2 ↑anything about the attack itself when it 3 happens?=Are you able to hear people:: 4 P: Yeah [I can- I can hear people ] yeah. 5 N: → [You can he- can hear people?] 6 N: [Yeah? ] 7 P: [But I-] I ca::n’t (0.5) um 8 N: → But you [can’t talk?] 9 P: [Ta:lk o:r ] communicate.

In diesem Beispiel beginnt der Arzt mehrere seiner Redebeiträge in Überlappung mit dem Patienten (Zeilen 5 und 8), anstatt zu warten, bis der Patient seine Ausführun-

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 Markus Reuber/Katie Ekberg

gen beendet hat. Die ärztliche Nachfrage in Zeile 8 unterbricht den Patienten sogar, während er gerade bemüht ist, seine Anfallserfahrungen zu beschreiben. Die Deklarativfragen des Arztes vermitteln deutlich die Erwartung einer positiven Antwort und fordern den Patienten dazu auf, das zu bestätigen, was der Arzt bereits vermutet (Heritage 2010; Spranz-Fogasy 2010). Dieser Fragestil demonstriert somit, dass dem Arzt das Wissen des Patienten um seine Krankheit eigentlich nicht so wichtig ist. Von größerer Bedeutung ist das, was der Arzt wissen möchte. Ärzte verwenden also in ambulanten Routinegesprächen üblicherweise mehr geschlossene, kategoriengebundene Fragen und beeinflussen aktiver die Strukturierung des Gesprächsverlaufs als es der Arzt in den Forschungsinterviews tut. Das Gesprächsverhalten der Ärzte in den Routinegesprächen bedeutet für Patienten, dass sie weniger Gelegenheit haben, ihre Anfallserlebnisse ausführlich zu schildern. Aufgrund dieser strukturellen Unterschiede zwischen Forschungs- und Routinegesprächen ist also durchaus in Frage zu stellen, ob die gesprächsanalytischen Merkmale, die sich auf der Grundlage der Forschungsinterviews als differenzialdiagnostisch relevant erwiesen haben, auch in Routinegesprächen beobachtet werden können.

4 Linguistische Differentialdiagnose in Forschungsinterviews und ambulanten Routinegesprächen Unsere vorläufige Analyse der Routinegespräche aus der Ambulanzpraxis zeigte, dass den Patienten durch die Benutzung von kategoriengebundenen Fragen und durch die aktivere Steuerung des ärztlichen Gesprächspartners weniger Gelegenheit geboten wurde, von sich aus spontan Anfallsbeschreibungen zu liefern und in ihren Gesprächsbeiträgen differenzialdiagnostisch verwertbare interaktionelle und linguistische Merkmale (wie sie in Tabelle 2 aufgelistet sind) zu zeigen. Dies war am klarsten hinsichtlich der „interaktionellen“ sowie der linguistischen Beobachtungen zu Formulierungsverfahren festzustellen.

4.1 Unterschiede in der Darstellung interaktioneller ­differentialdiagnostisch relevanter Beobachtungen Die verschiedenen Beobachtungen, die im „interaktionellen“ Teil der DAH aufgelistet sind, zeigen, in welchem Ausmaß der Patient dem Arzt seine Anfallserfahrungen ohne spezifische Nachfrage mitteilt (also selbst-initiiert von diesen Erfahrungen berichtet) oder nur fremd-initiiert über solche Anfallserfahrungen spricht. Die Nutzung diese interaktiven Praktiken durch den Patienten setzt sehr allgemein gehaltene Eröffnungs- und Nachfragen von Seiten des Arztes voraus. Solche Fragen müssen offen sein und dem Patienten viele verschiedene Antwortmöglichkeiten geben (im

Linguistisch-interaktionale Differentialdiagnose in der Anfallsambulanz 

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äußersten Fall sogar einschließlich der Option, gar nichts über Anfallserfahrungen zu sagen). Die Verwendung weniger offener und kategoriengebundener Fragen in den ambulanten Routinegesprächen macht es wesentlich schwerer zu erkennen, ob Patienten ihre Anfallserfahrungen selbst-initiiert hätten beschreiben können oder wollen. Hier ein Beispiel: (6) [024 Fred Gesprächseröffnung] 1 N: So he’s told- I’ll- I’ll tell you what he has 2 referred you on to me:, 3 (0.3) 4 N: You’re on >Sodium Valproate< at the moment fo:r what 5 he thinks are seizures, (0.2) u:::h which a::re 6 sometimes (0.4) preceded by: visual hallucinations 7 and then afterwards you can [get ] quite e:r 8 P: [Yeah] 9 N: [agitated. ] A[ggressive.] 10 P: [Aggressive.] [I do get a]ggressive as [well.] 11 N: [Yeah.] 12 P: I’ve been told.

In diesem Ausschnitt eröffnet der Arzt das Gespräch mit einem kurzen Bericht darüber, was der überweisende Hausarzt ihm vorab über die Anfälle mitgeteilt hat. Er erwähnt die Anfälle, benutzt die Benennung „seizures“ und nennt einige der Anfallssymptome des Patienten (Zeilen 4 bis 9). Diese Eröffnung durch den Arzt bestimmt die inhaltliche Gesprächsagenda und fordert vom Patienten die Bestätigung der aufgelisteten Symptome ein. Eins der wichtigsten differenzialdiagnostisch relevanten interaktionellen Merkmale liegt in der Unterscheidung, ob Patienten subjektive Anfallssymptome selbst-initiiert erwähnen und charakterisieren (was auf eine Epilepsiediagnose hinweisen würde) oder ob der Arzt sie ausdrücklich auffordern muss, von solchen Symptomen zu berichten (was man eher bei Patienten mit NEA erwarten würde). Die Beschreibung des Arztes in Beispiel (6) fungiert als Anregung an den Patienten, über seine Symptome zu berichten. Man kann aber schlecht abschätzen, ob Details vom Patienten ohne die „Nachhilfe“ selbst-initiiert worden wären (wie z. B. das vom Patienten zuerst verwendete Wort „aggressive“, Zeile 10). Während Patienten mit NEA selten selbst-initiiert über Anfallssymptome sprechen, geben sie dem Arzt durchaus (zumeist minimale) Beschreibungen ihrer Symptome, wenn sie direkt dazu aufgefordert werden. Fragen, die die Antwort des Patienten von vornherein inhaltlich eingrenzen, reduzieren somit die Möglichkeit des Zuhörers, die interaktionellen diagnostischen Beobachtungen überhaupt machen zu können.

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4.2 Unterschiede in der Darstellung differentialdiagnostisch ­relevanter Beobachtungen zu Formulierungsverfahren Die Beobachtungen im „linguistischen“ Teil der DAH beziehen sich insbesondere auf die Formulierungsarbeit, die der Patient aufwendet, und auf die metaphorische Konzeptualisierung der Anfälle. Die Analyse der zu Forschungszwecken aufgenommenen Gespräche hatte gezeigt, dass sich Patienten mit epileptischen und nicht-epileptischen Anfällen deutlich in der Intensität der von ihnen geleisteten Formulierungsarbeit in Anfallsbeschreibungen unterschieden. Patienten mit Epilepsie bemühten sich zumeist stark  – und trotz der mit der intersubjektiven Kommunikation subjektiver Symptome verbundenen Schwierigkeiten –, dem Arzt ihre Anfallserfahrung und ihre Selbstwahrnehmung in der Anfallsphase klar zu vermitteln. Ihre Antworten auf die offenen Fragen des Arztes beinhalteten oft ohne weitere Nachfragen selbst-initiierte und sehr ausführliche Beschreibungen von subjektiven Anfallssymptomen (Schwabe/ Howell/Reuber 2007). Solche Antworten waren von ausgiebiger Formulierungsarbeit in Form von Selbstkorrekturen, Reformulierungen, Verzögerungen, Selbstunterbrechungen und Neustarts gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu war in den Antworten von Patienten mit NEA im Zusammenhang mit der Beschreibung von Anfallssymptomen kaum Formulierungsarbeit zu finden. Diese Patienten neigten stattdessen dazu, die Situationen, in denen ihre Anfälle aufgetreten waren, oder die Konsequenzen dieser Anfälle relevant zu setzen. Die Formulierungsarbeit in den Beiträgen der Patienten in den Forschungsinterviews konnte deshalb beobachtet werden, weil der Arzt eine ungewöhnlich zurückhaltende Rolle einnahm. In den Gesprächen aus dem ambulanten Routinebetrieb wurden Patienten dagegen häufig von Ärzten in ihrer Äußerungsproduktion unterbrochen, wenn sie gerade Anfallserfahrungen beschreiben zu wollen schienen. Wie das nächste Beispiel zeigt, folgt daraus, dass man in solchen Situationen nicht abschätzen kann, wieviel Formulierungsarbeit der Patient bei der Beschreibung der Symptome geleistet hätte. (7) [002 Andrew Wortsuche] 1 Neu: Okay, .hh u:m (1.9) AND when you come round how do 2 you feel? 3 (0.2) 4 Pat: Um, I feel really tired [an’] 5 Neu: [Mm ]hm, 6 Pat: sleepy 7 (0.2) 8 Pat: [I d-] 9 Neu: [DO y]ou feel angry o::r kind’ve hh .hh 10 Pat: I feel (0.4) [uh] 11 Neu: [Sa]::d, 12 Pat: Panicky. 13 Neu: Mm hmm,

Linguistisch-interaktionale Differentialdiagnose in der Anfallsambulanz 

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In Zeile  8 scheint der Patient die Beschreibung seiner Anfallssymptome, die er in Zeilen 4 und 6 begonnen hatte, weiter ausführen zu wollen, aber der Arzt unterbricht ihn in Überlappung und redet weiter, bis der Patient den Abschluss des geplanten Redebeitrags abbricht. Es ist somit nicht abzuschätzen, wie ausführlich die Beschreibung der Anfallssymptome gewesen wäre. Nach der Unterbrechung beginnt der Patient seine Antwort auf die nächste Frage des Arztes in Zeile 10 mit einer Wortsuche. Diese Suche ist möglicherweise von differenzialdiagnostischer Bedeutung weil sie ein Hinweis auf symptombezogene Formulierungsarbeit sein könnte. Allerdings bleibt unklar worauf sich die Wortsuche bezieht und ob andere Hinweise auf Formulierungsarbeit erkennbar gewesen wären, wenn der Arzt nicht in Zeile 11 seinen Redebeitrag von Zeile 9 durch seinen Vorschlag „sad“ fortgesetzt hätte (obwohl der Patient bereits begonnen hatte, auf die in Zeile  9 gestellte Frage zu antworten). In Zeile 12 antwortet der Patient schließlich mit einem minimalen „panicky“. Vielleicht hätte er dieses Gefühl ausführlicher beschrieben, wenn der Arzt ihn in Zeile 9 und 11 hätte ausreden lassen. Dieses Beispiel zeigt, dass die aktivere Beteiligung der Ärzte an der Strukturierung ambulanter Routinegespräche einen deutlichen Einfluss darauf hat, wie Patienten ihre Anfallserlebnisse beschreiben. Unterbrechungen, häufige interaktionelle Hilfestellungen oder Formulierungsvorschläge durch den Arzt können die Beschreibungen der Patienten verkürzen und ihre Möglichkeiten einschränken, Anfallserfahrungen aus ihrer eigenen, subjektiven Perspektive zu schildern. Dies wiederum reduziert die Wahrscheinlichkeit, dass differenzialdiagnostisch relevante Beobachtungen in den Gesprächsbeiträgen der Patienten analytisch aufgespürt und ausgewertet werden können. Im klinischen Routinebetrieb würde der interaktionelle Raum, den Patienten zur Entfaltung der beschriebenen differenzialdiagnostisch relevanten linguistischen Merkmale brauchen, zusätzlich noch durch die Anwesenheit weiterer Personen (wie z. B. von Anfallszeugen, Familienangehörigen oder Freunden) eingeschränkt. Patienten werden in vielen Anfallsambulanzen routinemäßig aufgefordert, solche „dritten“ Personen bei der Erstvorstellung mitzubringen. In einer prospektiven Studie, die auf der Untersuchung von 48 konsekutiven Erstvorstellungen beruhte, kamen zwei Drittel der Patienten in Begleitung. Diese Studie zeigte, dass die Anwesenheit einer „dritten“ Person den Diskursraum von Patienten (den Anteil der Wörter, die der Patient zum Gespräch beitrug) etwa auf die Hälfte des Diskursraumes reduzierte, die dem Patienten zur Verfügung stand, wenn er allein mit dem Arzt sprach (Robson/Drew/Reuber 2013).

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5 Diskussion Dieses Kapitel hat die Ergebnisse einer Serie von Studien zusammengefasst, die das Potenzial verschiedener linguistischer (insbesondere konversationsanalytischer) Verfahren belegen, hilfreiche Beiträge zu medizinisch schwierigen Differenzialdiagnosen zu leisten. Die Tatsache, dass für epileptische bzw. nicht-epileptische Anfallsleiden typische Konversationsprofile zunächst in Gesprächen mit deutschen, dann aber auch mit englischen und jüngst auch italienischen Patienten beschrieben wurden (Cornaggia u. a. 2012), zeigt, dass die beschriebenen Verfahren nicht an bestimmte Sprachen oder landestypische Besonderheiten der Interaktion zwischen Ärzten und Patienten gebunden sind. Obwohl bislang noch nicht untersucht, ist es wahrscheinlich, dass die hier beschriebenen Methoden auch in anderen medizinischen Fachgebieten eingesetzt werden könnten. Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass die hier untersuchten Gespräche ungewöhnlich ausführlich waren und einem psychotherapeutisch inspirierten Leitfaden folgten. Deutlich wurde, dass sich diese Gespräche von Erstgesprächen im klinischen Routinebetrieb unterscheiden. Die genauere Untersuchung der im Klinikbetrieb aufgenommenen Gespräche zeigt, dass die aktivere Beteiligung des Arztes an der Strukturierung der Interaktion die Möglichkeit für Patienten reduziert, die differentialdiagnostisch relevanten soziolinguistischen Merkmale realisieren zu können. Vor allem bietet der „traditionelle“ Anamneseerhebungsstil, der von den Ärzten in den Routinegesprächen praktiziert wird, Patienten kaum Gelegenheit, selbst Anfallsbeschreibungen zu initiieren oder ihre Anfallszustände selbst zu benennen. Außerdem lässt dieser Anamneseerhebungsstil Patienten nicht den Diskursraum, den sie brauchen würden, um versuchen zu können, ihre subjektiven Anfallserlebnisse ausführlich zu beschreiben. Dies bedeutet, dass unklar bleibt, wieviel Formulierungsarbeit Patienten im Zusammenhang mit solchen Anfallsbeschreibungen aufgewendet hätten. Unsere Untersuchung von Gesprächen aus der Ambulanzroutine zeigt, dass Ärzte ihr Interaktionsverhalten an dem in den Studien verwendeten Leitfaden orientieren müssten, der von ihnen offene Fragen, aufmerksames Zuhören und einen zurückhaltenderen Kommunikationsstil verlangt, um differenzialdiagnostisch relevante Merkmale beobachten und nutzen zu können. Während es vielerorts im klinischen Routinebetrieb unmöglich sein wird, den offeneren Kommunikationsstil vollständig zu praktizieren, müsste eine Veränderung der Eröffnungsphase des Gesprächs in den meisten Fällen möglich sein. Viele der in den Studien beschriebenen diagnostischen Merkmale waren bereits in den ersten zehn Minuten der aufgezeichneten Gespräche zu beobachten. Es könnte also zu differenzialdiagnostischen Zwecken schon ausreichen, wenn der Arzt sich während der ersten zehn Minuten eines Erstgesprächs mit Fragen deutlich zurückhält, und dann erst im weiteren Verlauf des Gesprächs etwaige Informationslücken in der Krankheits-, Familien- oder Sozialanamnese durch direkte faktenorientierte Nachfragen schließt.

Linguistisch-interaktionale Differentialdiagnose in der Anfallsambulanz 

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Die beschriebenen differenzialdiagnostischen Merkmale würden im medizinischen Routinebetrieb nur dann unmittelbar von Nutzen sein, wenn Ärzte (wenigstens einige) diese(r) Merkmale direkt während des laufenden Gesprächs mit dem Patienten beobachten können. Kliniker, die mit den Arbeiten aus Bielefeld und Sheffield vertraut sind, berichten, dass dies möglich ist. Allerdings wurden ihre Einschätzungen bislang noch nicht durch den Vergleich zwischen unmittelbar nach dem Gespräch festgehaltenen Beobachtungen und den Ergebnissen einer sorgfältigen, transkriptgestützten post-hoc Konversationsanalyse bestätigt. Dies bedeutet, dass weitere Forschungen nötig sind, bevor die linguistischen Methoden, die hier beschrieben wurden, Klinikern als verlässliche diagnostische Hilfsverfahren empfohlen werden können. Diese Forschungen müssen zunächst zeigen, dass es möglich ist, dass Ärzte ihren Kommunikationsstil in der Klinikroutine so ändern, dass Patienten die Möglichkeit haben, in ihren Beschreibungen die differenzialdiagnostisch relevanten interaktiven und linguistischen Merkmale zu realisieren. Ärzte müssten den zurückhaltenden Kommunikationsstil auch im zeitarmen Ambulanzbetrieb durchhalten können. Des Weiteren müssen Studien noch nachweisen, dass Kliniker tatsächlich die hier beschriebenen interaktiven, linguistischen und inhaltlichen Beobachtungen machen können, während sie mit Patienten sprechen. Während also noch einige Fragen offen bleiben, bevor die Beobachtung interaktioneller, linguistischer und inhaltlicher Merkmale im Sprechen von Patienten als differenzialdiagnostische Methode für den klinischen Routinebetrieb empfohlen werden kann, zeigen die hier zusammengefassten Arbeiten eindeutig das Potenzial solcher Merkmale als diagnostische Hilfsmittel. Wie Patienten über ihre Beschwerden reden, kann also zumindest im Prinzip helfen, oberflächlich ähnliche Krankheitsbilder mit unterschiedlichen Ursachen (und verschiedene Therapiestrategien) voneinander zu differenzieren. Vergleichbare Unterschiede in der Beschreibung ihrer Beschwerden wurden auch bei Patienten mit epileptischen Angstauren oder Patienten mit Panikattacken (Gülich/Lindemann 2010), oder bei Patienten mit Demenz oder nicht-progressiven Gedächtnisbeschwerden beschrieben (Jones/Drew/Reuber 2013). Es ist wahrscheinlich, dass diese Studien erst den Beginn der Erschließung konversationsanalytischer Methoden als diagnostischer Verfahren darstellen.

Danksagung Die Autoren wurden für diese Arbeit von Epilepsy Action gefördert. Wir danken Frau Professor Elisabeth Gülich für Ihre Hinweise zur Verbesserung unseres Manuskripts.

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Linguistisch-interaktionale Differentialdiagnose in der Anfallsambulanz 

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Alexandra Groß

15. Asymmetrie und (Patienten-)Expertise in der HIV-Sprechstunde Abstract: Arzt/Patient-Gespräche als eine Form der Experten/Laien-Kommunikation gelten traditionell als asymmetrisch, was die (fachmedizinischen) Wissensbedingungen und die Gesprächsbeteiligung der Teilnehmenden betrifft. Dieser Beitrag diskutiert, ausgehend von Befunden der medizinischen Gesprächsanalyse zu Asymmetrien im Arzt/Patient-Gespräch, drei eng miteinander verbundene Komponenten von Asymmetrie: die interaktive, die wissensbezogene und die epistemische. Während erstere auf der Handlungslogik von Arzt/Patient-Gesprächen sowie auf der Sequenzialität von Interaktion basiert, betreffen letztere beiden die Wissensterritorien der Interagierenden. Die interaktive Konstitution und Modifikation dieser drei Ebenen von Asymmetrie wird fallbezogen anhand eines Ausschnitts aus einem Routinegespräch in der HIV-Ambulanz veranschaulicht. 1 Einleitung: Medizinisches Wissen in einer „chronischen“ Arzt/Patient-Beziehung 2 Asymmetrie als konstitutives Merkmal der Arzt/Patient-Interaktion 3 Patientenexpertise und Asymmetrie in der HIV-Sprechstunde – das Fallbeispiel „Libido“ 4 Diskussion des Fallbeispiels „Libido“ 5 Literatur

1 Einleitung: Medizinisches Wissen in einer „­chronischen“ Arzt/Patient-Beziehung Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem der zahlreichen Verknüpfungspunkte zwischen „Sprache und Medizin“ kommt man nicht an dem vorbei, was die Herausgeber dieses Bandes an anderer Stelle als Ziele eben jener Auseinandersetzung formulieren, nämlich „das ‚Herz der Medizin‘ […] das Gespräch mit dem Patienten“ sowie „den Zusammenhang von Sprache, Wissen und Wissensentwicklung in der Medizin“ zu beleuchten (Busch/Spranz-Fogasy 2014, 336). In diesem Beitrag sollen diese beiden Vermittlungsziele am Beispiel eines besonderen Zusammentreffens von Arzt und Patient verfolgt werden: dem ambulanten Routinegespräch zwischen HIVPatientInnen und auf HIV spezialisierten MedizinerInnen. Hierbei soll fokussierend die in der medizinischen Soziologie und medizinischen Gesprächsanalyse viel zitierte „Asymmetrie“ als konstitutive Eigenschaft des Arzt/Patient-Verhältnisses in den Blick genommen und im Zusammenhang mit wissensbezogenen Aushandlungsprozessen im Arzt/Patient-Gespräch in der HIV-Ambulanz „auf Herz und Nieren“ geprüft werden.

Asymmetrie und (Patienten-)Expertise in der HIV-Sprechstunde 

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Weshalb in der HIV-Sprechstunde in Bezug auf die dem Arzt/Patient-Gespräch zugesprochenen asymmetrischen Wissens- und Interaktionsbedingungen Besonderheiten vermutet werden können, hat – zunächst gesprächsexterne – Gründe, die mit der Chronizität der HIV-Infektion sowie mit Spezifika der lebenslangen HIV-Therapie zusammenhängen: HIV gilt seit der Einführung der antiretroviralen Kombinationstherapie in den 1990er Jahren  – zumindest in westlichen Industrienationen  – als chronische Infektion; sie mündet nur noch in schwerwiegenden Einzelfällen in AIDSdefinierende Erkrankungen. Die meisten HIV-PatientInnen setzen sich daher bereits seit einigen Jahren mit ihrer eigenen Infektion auseinander. In Internetforen, Selbsthilfegruppen sowie im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Kontrollbesuche in auf HIV spezialisierten Ambulanzen eignen sich viele PatientInnen zunehmend fachmedizinisches Wissen über HIV an, was in Bezug auf die Durchführung der Therapie funktional, wenn nicht sogar notwendig ist, da hier eine überdurchschnittliche Compliance und Eigenständigkeit seitens der PatientInnen gefordert ist: Sie müssen nicht nur die HIV-spezifische HAART-Medikation (HAART = highly active antiretroviral therapy) regelmäßig einnehmen, sondern sind zudem gefragt, potenzielle Interaktionen mit HIV-unspezifischen Medikamenten zu antizipieren und HIV-Spezifika an andere behandelnde FachmedizinerInnen zu kommunizieren. Da HIV selbst asymptomatisch ist, ist hier besondere Aufmerksamkeit seitens der PatientInnen gefragt; die körperliche Erfahrbarkeit als typische patientenseitige Wissensquelle fällt weg (wenn man von potenziell auftretenden Nebenwirkungen der HAART-Medikation einmal absieht); an ihre Stelle treten die Ergebnisse der regelmäßigen Bluttests. Neben allgemeinen Blutmarkern wie Leber- und Nierenwerten machen die erhobenen Parameter Aussagen über den (durch HIV potenziell angegriffenen) Immunstatus der PatientInnen sowie über die Anzahl der HI-Viruskopien im Blut; diese werden im Gespräch mitgeteilt und besprochen (Groß, eingereicht). Das Wissen der PatientInnen über HIV-spezifische und -unspezifische Blutparameter als externalisiertes, professionalisiertes Körperwissen ist unerlässlich, um den eigenen physischen Zustand einschätzen und das gesundheitsbezogene Handeln hierauf einstellen zu können. Bei HIV-PatientInnen, insbesondere jenen, die schon länger behandelt werden, handelt es sich also um eine Patientenklientel, die im Vergleich zu „akut erkrankten“ Patientengruppen meist ein Mehr an medizinischem Wissen (über HIV), zumindest jedoch eine reiche und langjährige Erfahrung in Bezug auf die Institution „HIV-Ambulanz“ beziehungsweise den untersuchten Gesprächstyp aufweist. Es wurde bereits mehrfach angemerkt, dass das „semi-professionelle“ medizinische Wissen (Löning 1994) chronischer PatientInnen umfangreich sein kann und auch im Gespräch mit behandelnden ÄrztInnen kommuniziert wird (Brünner 2009). Die oben beschriebenen besonderen „Wissensbedingungen“ zwischen HIV-MedizinerIn und HIV-PatientIn werfen so die Frage auf, wie sich interaktive Verfahren der Wissensgenerierung (Bergmann/Quasthoff 2010) wie Displays und Zuschreibungen (ärzte- und patientenseitiger) medizinischer Erfahrung und (semi)professionellen fachmedizinischen Wissens im Gespräch zwischen HIV-MedizinerIn und Patien-

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 Alexandra Groß

tIn ausgestalten und wie sich dies mit dem asymmetrischen beziehungsweise komplementären (Gesprächs-)Verhältnis von medizinischen Laien und medizinischen ExpertInnen verträgt. Der Beitrag ist folgendermaßen gegliedert: In Abschnitt 2 soll zunächst dargelegt werden, von welcher Warte aus Asymmetrie zwischen Arzt und Patient in Forschungslinien der medizinischen Soziologie und Gesprächslinguistik betrachtet wurde und in welchen Formen Asymmetrie im Arzt/Patient-Gespräch in Erscheinung treten kann. Letztere Überlegungen gründen auf Befunden der medizinischen Gesprächsanalyse und sollen durch die Darstellung entsprechender Forschungsergebnisse konkretisiert werden. Da Asymmetrie im Arzt/Patient-Gespräch zumeist in einem Atemzug mit dem Expertenstatus der MedizinerInnen genannt wird, soll in diesem Zusammenhang verdeutlicht werden, inwiefern die asymmetrische Kommunikation mit der Relevantsetzung medizinischer Expertise einhergeht und welche Rolle gesprächsimmanente und gesprächsfunktionale Aspekte hierbei spielen. Hiervon ausgehend sollen in Abschnitt 3 anhand eines Fallbeispiels aus der HIV-Sprechstunde lokale Ereignisse der Relevantsetzung patientenseitigen medizinischen Wissens veranschaulicht und in Abschnitt 4 in Bezug auf wissensbezogene und gesprächsorganisatorische Dimensionen von Asymmetrie konkretisiert werden.

2 Asymmetrie als konstitutives Merkmal der Arzt/ Patient-Interaktion Die Verteilung der einleitend genannten „professionellen“ und „laienhaften“ Anteile medizinischen Wissens auf die Interaktionsteilnehmer Arzt/Ärztin und PatientIn ist unmittelbar mit der Perspektive des Arzt/Patient-Verhältnisses als einer asymmetrischen (Interaktions-)beziehung verknüpft. Dabei ist jedoch die Beziehung zwischen Fachwissen und Asymmetrien im Gespräch keineswegs geklärt. Zudem spielen in der Forschungsliteratur noch weitere Faktoren eine Rolle, die zeigen, dass mit Asymmetrie unterschiedliche Konzepte verknüpft und diverse Erklärungsmodelle konstruiert wurden. Abhängig also vom theoretischen Hintergrund und von der methodischen Herangehensweise an das Phänomen „Asymmetrie“ wurde dieses unterschiedlich gefasst und in Bezug auf gesellschaftliche und kommunikative Konzepte wie „professionelle Dominanz“, „Patientenzentriertheit“ und „Wissenstransfer“ diskutiert. Der folgende Überblick (2.1) dient der Eingrenzung des Gegenstands mit Hinblick auf eine vertiefte interaktionale Betrachtungsweise im Zuge der medizinischen Gesprächs­ analyse (2.2).

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2.1 Globaler und lokaler Blick auf Asymmetrie in der Arzt/ Patient-Interaktion Die medizinsoziologische Perspektive auf Eigenschaften der Arzt/Patient-Beziehung, die in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts einen Aufschwung erlebte, kann insofern als global bezeichnet werden, als für sie die Verknüpfung mikrosozialer (also zum Beispiel mündlich-kommunikativer) mit gesamtgesellschaftlichen Prozessen konstitutiv ist. Asymmetrie zwischen den InteraktionsteilnehmerInnen wird hier also in erster Linie als ungleiches Machtverhältnis definiert und makrosoziologisch hergeleitet. Als repräsentativ für das Paradigma, dass Interaktion in der ärztlichen Praxis eine Manifestationsfläche für die Ausübung institutioneller Macht ist, gilt die Arbeit von Parsons (1951), der ab den späten 1930er Jahren Gespräche in der medizinischen Praxis untersuchte. Asymmetrie zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn gründet nach dieser Auffassung in der Gesellschaft und zeigt sich als (stark normativ besetztes) Beziehungsmerkmal in entsprechenden kommunikativen Situationen. Hiermit assoziierte paternalistische Gesprächsführungspraktiken auf Seiten der ÄrztInnen wurden nicht nur als Spiegel der Gesellschaft, sondern auch wiederholt als dysfunktional mit Hinblick auf gesundheitsbezogene Ergebnisparameter des Arzt/ Patient-Gesprächs beschrieben (Roter u. a. 1997), was die oft formulierte Forderung nach einer egalitäreren Beziehungsform und patientenzentrierten Interaktionsstilen anschloss, auch wenn sich die Befundlage zum Zusammenhang zwischen paternalistischen versus patientenzentrierten Interaktionsstilen und Patientenzufriedenheit sowie gesundheitsbezogenen Parametern als divers darstellt (vgl. auch Pilnick/ Dingwall 2011). Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang als einstimmiges Desiderat das Schlagwort shared decision making (z. B. Charles/Gafni/Whelan 1997). Aus psychodynamischer Perspektive setzt hier auch das Wirken von Michael Balint an (Balint 1957), der ein grundsätzliches ärztliches Verständnis für die Belange der PatientInnen als essenziellen therapeutischen Faktor in den Fokus stellte. Wissenschaftliche Bemühungen, die Beurteilung der Asymmetrie im Arzt/Patient-Verhältnis auf eine empirische Basis zu stellen, führten ab den 1970er Jahren zu einer vertieften Auseinandersetzung damit, was im Arzt/Patient-Gespräch eigentlich tatsächlich passiert und damit zu einer lokaleren Betrachtung von Asymmetrie. Nach den methodischen Zugängen zum Untersuchungsgegenstand „Arzt-PatientGespräch“ kristallisierten sich hier zwei Forschungslinien heraus: die quantitative und die qualitative (siehe auch Pilnick/Dingwall 2011). Beide nutzten erstmals systematisch audiographisch und videographisch aufgezeichnete Arzt/Patient-Gespräche als Hauptdatenquelle. Auf die quantitative Forschungstradition kann an dieser Stelle nur verwiesen werden; sie ist vor allem mit dem Kodiersystem „Roter Interaction Analysis System“ (RIAS) verknüpft (Roter/Larson 2002) und stellte asymmetrische Interaktionstendenzen im Arzt/Patient-Gespräch unter anderem mit Hinblick auf eine Priorisierung biomedizinischer Aufgaben fest.

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Die zweite Forschungslinie, zu der vor allem die medizinische Gesprächsanalyse (oder: medical CA) gehört (Gill/Roberts 2013), versucht, Asymmetrie und verwandte latente Konstrukte wie „Dominanz“ und „ärztliche Autorität“ als interaktives Geschehen durch die Analyse gesprächsimmanenter Prozesse „sichtbar“ zu machen und in ihrer sozialen oder organisatorischen Einbettung zu beschreiben (vgl. auch Pilnick/ Dingwall 2011). Trotz des dieser Forschungslinie inhärenten induktiven Ansatzes und der interaktiven Betrachtungsweise von Asymmetrie als mikrosoziales Geschehen unterscheiden sich entsprechende Forschungsarbeiten doch in ihrer Sicht auf Asymmetrie. Sie wird recht vielschichtig in Bezug auf ihre sprachlich-interaktiven Manifestationsformen, in der Reichweite der Faktoren, die zur Erklärung beziehungsweise als Pendant asymmetrischen Interaktionsverhaltens herangezogen werden, sowie in der Normativität ihres Charakters analysiert. In Forschungsarbeiten, die Pilnick und Dingwall in einem kritischen Review unter der „critical version“ medizinischer Gesprächsanalyse subsummieren (Pilnick/Dingwall 2011, 1375), wurde unter anderem befunden, dass Ärzte mehr Fragen stellen, dass sie Patienten öfter unterbrechen als umgekehrt (West 1984) und insgesamt den Gesprächsverlauf thematisch dominieren (Davis 1988), was als Ausübung institutioneller Macht interpretiert wurde. Auch Brünner (2009, 171) schreibt: „Autorität und Definitionsmacht des Experten führen zu einer strukturellen Asymmetrie, einem Machtgefälle in der ELK (= Experten/Laien-Kommunikation, A. G.)“; als bedingende Faktoren interaktionaler Asymmetrie werden also die Ausübung gesprächsexterner Rollenmerkmale der Interaktanten angesehen (Robinson spricht hier von exogeneous accounts; Robinson 2001). In Verbindung hiermit ist Mishlers Konzeptionalisierung des Arzt/PatientGesprächs als ein ständiger Kampf zwischen „voice of the medicine“ und „voice of the lifeworld“ zu nennen, die große Bekanntheit erlangte (Mishler 1984). Letztere wird nach dieser Auffassung mittels ärztlicher Gesprächskontrolle paternalistisch unterdrückt (Waitzkin 1991). Die genannten „kritischeren“ Arbeiten um West, Mishler und Davis sowie Studien im Bereich der Angewandten Gesprächsforschung schauten und schauen nicht nur mit einem analytischen Blick auf Asymmetrie, sondern betrachten diese zudem als prinzipiell änderbar und zum Teil als änderungswürdig. Bei ersterer Strömung führte dies zur Aufdeckung interaktiver Problematiken im Arzt/PatientGespräch, bei letzterer zu wichtigen Impulsen für Gesprächsführungstrainings in der medizinischen Ausbildung (z. B. Sator/Jünger in diesem Band). Weniger normativ und dafür streng lokal aus der konversationsanalytischen Tradition argumentierend betrachten Forschungsarbeiten der medical CA interaktionale Asymmetrien als kollaborativ hergestellt in und durch Interaktion. Das Gespräch zwischen MedizinerInnen und PatientInnen ist nach dieser Auffassung nicht nur ein Ort, an dem sich Asymmetrien manifestieren, sie werden durch das Gespräch erst situativ und sequenziell konstituiert (vgl. Maynard 1991; ten Have 1991; Drew/ Heritage 1992). Gesprächsexterne Faktoren wie patriarchalische Gesellschaftsstrukturen oder eine mangelhafte ärztliche Gesprächsführungsausbildung werden zwar nicht negiert, jedoch als nicht ausreichend zur Erklärung struktureller Asymmetrien

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angesehen; das analytische Primat liegt folglich in gesprächsimmanenten Prozessen wie Sprecherwechsel und Sequenzialität (Robinson 2001) sowie in den Funktionen typischer Gesprächshandlungen des Arzt/Patient-Gesprächs (Pilnick/Dingwall 2011). Unterschiedliche Partizipationsrollen, die Gesprächsteilnehmenden in diesen Gesprächshandlungen einnehmen, werden daher vor allem funktional und gesprächsimmanent beschrieben: „A person’s status is functionally no different from a sign that precedes or co-occurs with a piece of their behavior“ (Enfield 2011, 292). Die Rolle medizinischen Wissens bei der Herstellung asymmetrischer Interaktionsverhältnisse wird dabei unterschiedlich explizit herausgestellt. Im folgenden Abschnitt soll die funktionale Perspektive der medizinischen Gesprächsanalyse auf Asymmetrie etwas differenzierter betrachtet werden.

2.2 Dimensionen von Asymmetrie in der Arzt/Patient-Interaktion Inwiefern ist Asymmetrie zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn in der Funktionalität der Kommunikation beziehungsweise in allgemeinen Funktionsweisen von Kommunikation selbst begründet? Welche Rolle spielt dabei medizinisches Wissen? Aus einer handlungslogischen Perspektive auf medizinische Experten/LaienInteraktion ist leicht nachvollziehbar, weshalb das Auftreten asymmetrischer Interaktionsmuster immer auch aus funktionaler Perspektive betrachtet werden muss: Asymmetrie „is (…) founded in what doctors are there for“ (Pilnick/Dingwall 2011, 1374). Das Arzt/Patient-Gespräch beinhaltet in seinen vielfältigen sprachlich-interaktiven Manifestationsformen (vgl. Menz in diesem Band sowie Nowak 2010) die Bearbeitung typischer Gesprächshandlungen (z. B. Anamnese, Diagnoseentwicklung und -mitteilung, Therapieplanung) und in diesen die Ausübung spezifischer, komplementärer Gesprächsrollen. Hierfür sind Verfahren der Relevantsetzung unterschiedlicher (medizinischer) Wissensbestände vonnöten. Zur interaktiven Konstitution einer Experten/Laien-Interaktion ist es zudem naheliegend, dass nicht nur eine sprachlich-interaktiv realisierte Relevantsetzung medizinischen Fachwissens einen Experten auch als solchen im Gespräch auszeichnet, konstitutiv ist vielmehr auch das Einnehmen einer spezifischen epistemischen – nämlich in der Regel einer sicheren – Haltung in Bezug auf fachbezogene Wissensinhalte. Das asymmetrische Gefüge eines Arzt/Patient-Gesprächs zeigt sich also in (mindestens) drei eng miteinander verknüpften Komponenten: Als interaktive, als wissensbezogene und als epistemische Asymmetrie. Diese werden im Folgenden unter Bezugnahme auf entsprechende Befunde der medizinischen Gesprächsanalyse ausgeführt: Die erste Komponente von Asymmetrie, die als primär interaktive Asymmetrie gelten kann, subsummiert interaktionale Erklärungsansätze von Asymmetrie, die entweder die Funktionalität von Arzt/Patient-Interaktionen in den Vordergrund stellen oder Asymmetrien vor dem Hintergrund allgemeiner Funktionsweisen von Interaktion diskutieren. Ersteres entspricht den oben genannten komplementären Gesprächsrol-

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len, die Arzt und Patient im Gespräch ausüben (Gülich 2003): Beide Interaktanten haben in gesprächstypischen Handlungen unterschiedliche Rechte und Pflichten, die funktional mit der Zweckerfüllung von Gesprächs­aufgaben verknüpft sind. So ist es zum Beispiel ärztliche Pflicht, im Rahmen der Anamnese Fragen zu stellen, die auf die kategoriale Eingrenzung der Beschwerden der PatientInnen abzielen (vgl. SpranzFogasy 2010). Dabei ist der Arzt oder die Ärztin auf ihre Auskünfte angewiesen, so dass die komplementäre kommunikative Pflicht der PatientInnen darin besteht, Angaben zu den Beschwerden zu machen und die Fragen zu beantworten. Interaktive Asymmetrien zeigen sich in allen Gesprächsaufgaben akutmedizinischer Arzt/ Patient-Gespräche, die erstmals von Byrne und Long (1976) mit den Kernelementen Anamnese, Diagnose, Therapieplanung als ein typisches, handlungslogisches Verlaufsschema beschrieben wurden (siehe auch Spranz-Fogasy 2010). Zudem wird aufgabenübergreifend das Recht, innerhalb der genannten Gesprächshandlungen Themen zu initiieren und den Übergang zwischen Elementen des Handlungsschemas festzulegen, dem Arzt/der Ärztin zugesprochen, was aus dieser lokalen Perspektive der Gesprächsanalyse nicht primär die Ausübung institutioneller Macht bedeutet, sondern die funktionale Bearbeitung institutionsspezifischer Gesprächsaufgaben. Robinson (2001) spricht diesbezüglich von einer Asymmetrie der Initiative, wenn ÄrztInnen  – z. B. innerhalb anamnestischer Aktivitäten  – primär Aktivitäten initiieren und Antworten elizitieren. Robinson führt solche Asymmetrien aber nicht nur darauf zurück, dass Arzt/Patient-Interaktionen aus einem Set gesprächstypspezifischer Aktivitäten bestehen, sondern postuliert einen noch lokaleren, einen „mundane account“ für Asymmetrien, wie auch zuvor Maynard (Maynard 1991, 486): „The asymmetry of discourse in medical settings may have an institutional mooring, but it also has an interactional bedrock“. Sowohl Maynard als auch Robinson richten also ihren analytischen Fokus darauf, dass Aktivitäten in institutioneller wie in informeller Kommunikation aus Sequenzen von Äußerungen bestehen, die kontextunabhängige Handlungen (actions) formen: „Action must be built by doctors and patients with the bricks and cement of mundane conversation“ (Robinson 2001, 44). Die normative Erwartung einer adäquaten Äußerung auf eine initiierende erste (=konditionelle Relevanz) als „Zement“ in einer Paarsequenz gilt dabei gleichermaßen für institutionelle wie für informelle Interaktionsformen, deren Funktion für kontextsensitive Aktivitäten immer geprüft werden müsse. So ließe sich aus der bloßen Verteilung initiativer und responsiver Äußerungen auf keinen Fall ableiten, dass mit einem Übermaß initiativer Äußerungen institutionelle Macht ausgeübt wird. Zur Ausübung oben genannter komplementärer Gesprächsrechte und -pflichten im Rahmen gesprächstypischer Aufgaben eines Arzt/Patient-Gesprächs jedenfalls ist zumeist die Relevantsetzung oben genannter teilnehmerspezifischer Arten von Wissen notwendig. Asymmetrie im A/P-Gespräch manifestiert sich also auch in der Regel als Wissensasymmetrie, die wiederum eng mit der Funktionalität von Arzt/ Patient-Kommunikation verknüpft ist: ÄrztInnen werden von PatientInnen nämlich

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aufgrund ihres (institutionell erworbenen) Wissens konsultiert, und dieses Wissen hilft ihnen wiederum bei der Erfüllung gesprächstypspezifischer Aufgaben. Wie zeigen sich aber nun wissensbezogene Asymmetrien im Gespräch? Zum einen erscheinen diese mittels Relevantsetzung teilnehmer- und aufgabenspezifischer Wissensbereiche. Um bei dem Beispiel der Anamnese zu bleiben: PatientInnen setzen in ihren Beschwerdenschilderungen vorwiegend biographisches Wissen und Körperwissen ein, um die Fragen der ÄrztInnen zu beantworten; ÄrztInnen ziehen dagegen insbesondere ihr kategorial-medizinisches Wissen heran, um zielführende Fragen zu stellen und aus den Angaben der PatientInnen diagnoserelevante Schlüsse ziehen zu können (vgl. Brünner, 2009). Unterschiedliche Wissensarten werden dabei nicht nur aus Forscherperspektive als „professionell“ oder als „laienhaft“ deklariert, sondern von den GesprächsteilnehmerInnen selbst als solche behandelt beziehungsweise als unterschiedlich adäquat für die jeweils aktuell ablaufende Gesprächsaufgabe ausgehandelt. Heath (1992) beispielsweise zeigte bei seiner Analyse allgemeinmedizinischer Diagnosemitteilungen, dass PatientInnen selbst zwischen ihrem eigenen „laienhaften“ Verständnis ihrer Erkrankung und der professionellen Diagnose unterscheiden. Die kommunikative Relevantsetzung, d. h., das sprachlich-interaktive „Auftauchen“ von Wissen an der Gesprächsoberfläche, erfolgt dabei auf unterschiedlich explizite Weise. Die Wissensvermittlung, beispielsweise die Mitteilung der Blutwerte in der HIV-Sprechstunde (Groß, eingereicht), macht das Wissen und bisweilen auch die Wissensquelle selbst zum kommunikativen Gegenstand. Im deutschsprachigen Raum beschäftigten sich vor allem Gülich und Brünner mit kommunikativen Techniken, die ExpertInnen anwenden, um fachmedizinisches Wissen an medizinische Laien (z. B. PatientInnen, aber auch Fernsehpublikum) zu vermitteln (Brünner 2009; Brünner 2005; Gülich 1999; Gülich 2003). Sie identifizierten und beschrieben unterschiedliche Verfahren der Veranschaulichung fachmedizinischer Zusammenhänge, wie Metaphern, Vergleiche sowie Beispiele und Beispielerzählungen, Konkretisierungen und Szenarios, die alle aus der Aufgabe der medizinischen ExpertInnen herrühren „das zu vermittelnde medizinische Wissen auf das Laienwissen hin zu bearbeiten und zuzuschneiden, um es anschlussfähig und integrierbar zu machen“ (Brünner 2009, 173). Dagegen wird Wissen ebenfalls implizit beziehungsweise en passent relevant gesetzt, beispielsweise wenn TeilnehmerInnen aufgrund von Wissenszuschreibungen interagieren oder beim funktionalen Einsatz von Wissen zur Erfüllung von Handlungsaufgaben (siehe interaktive Asymmetrie), ohne dass dieses selbst expliziert wird. Beispielsweise können Diagnosen mitgeteilt werden, ohne dass das Wissen, das zu ihrer Herleitung relevant war, geäußert wird (vgl. Peräkylä 1998). Die zwei bisher genannten Dimensionen von Asymmetrie, die interaktive und die wissensbezogene, können Aussagen darüber machen, wann welches Wissen zu welchem kommunikativen Zweck des Arzt/Patient-Gesprächs relevant gesetzt wird. Letzteres, also die Funktionalität des eingesetzten Wissens in Bezug auf lokal ablau-

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fende Handlungen und Gesprächsaufgaben determiniert darüber hinaus die Art und Weise, wie explizit dieses Wissen eingebracht wird (siehe oben) und insbesondere, von welchem Gesprächsteilnehmer. Es herrscht also in der Arzt/Patient-Kommunikation auch eine funktionale Passung zwischen Teilnehmerkategorie („membership category“ nach Sacks 1972) und geäußertem Wissensinhalt in Bezug auf gesprächstypische Aktivitäten: „Asymmetry of knowledge does not simply relate to knowing or not knowing. Participants in consultations also display normative entitlements to knowledge which are related to their identities in the interaction“ (Ariss 2009, 908). Dies hängt eng zusammen mit einem dritten relevanten Aspekt von Asymmetrie, der ebenfalls die Art und Weise der Relevantsetzung von Wissen betrifft: In Bezug auf die interaktive Konstitution einer Wissensasymmetrie zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn ist es auch die epistemische Positionierung des/der „Wissenden“ zu relevant gesetzten Wissensinhalten – in der Literatur (vgl. z. B. Heritage 2013) und im Folgenden epistemic stance  – , die das Experten-Laien-Verhältnis konstituiert und zudem die enge Bindung von Wissen und Wissensträger (als Teilnehmerkategorie in der Interaktion) verdeutlicht. Diese epistemische Asymmetrie zeigt sich im Arzt/PatientGespräch als wissensterritoriales Gesprächsverhalten in Bezug auf spezifische Wissensinhalte: Während MedizinerInnen in Bezug auf fachmedizinische Wissensbereiche üblicherweise eine hohe epistemische Sicherheit kommunizieren, markieren PatientInnen das Betreten dieses „fremden“ Wissensterritoriums üblicherweise als unsicher. Epistemische Asymmetrie bedeutet also zugleich epistemische Kongruenz zwischen Teilnehmerkategorie und teilnehmerspezifischem Wissen. Meiner Ansicht nach kann hier, also an der epistemischen Behandlung unterschiedlicher Wissensbereiche, am ehesten hergeleitet werden, ob im Einzelfall institutionelle Autorität ausgeübt wird und/oder Funktionalität in Bezug auf die Bearbeitung von Gesprächsaufgaben vorliegt. Diesbezüglich sei auf die Arbeiten von Birkner (2006) sowie Gill/Maynard (2006) verwiesen. Die AutorInnen nahmen sogenannte „subjektive Krankheitstheorien“ (SKT bzw. lay theory) von psychosomatischen und akutmedizinischen PatientInnen in den Blick und stellten fest, dass PatientInnen bei der Äußerung von Vermutungen über die Ursache und die Beschaffenheit der eigenen Erkrankung Unsicherheitsmarker wie Heckenausdrücke und verba sentiendi verwenden. Gill und Maynard belegten zudem, dass die patientenseitige Äußerung subjektiver Krankheitstheorien durch MedizinerInnen in vielen Fällen nicht als diagnoserelevante Information behandelt wird, was wiederum entweder als Ausübung professioneller Autorität beziehungsweise als wissensterritoriales Verhalten interpretiert werden kann (Heritage 2005) oder aber in Richtung einer Funktionalität in Bezug auf die ablaufende Gesprächsaufgabe: Die assertive Äußerung der SKT konstituiert keine konditionelle Relevanz; „stört“ MedizinerInnen also nicht in ihrer anamnestischen Aktivität. Es hat sich gezeigt, dass die epistemische Asymmetrie in Bezug auf fachmedizinische Wissensinhalte nicht „in Stein gemeißelt“ ist, sondern immer auch funktional eingesetzt beziehungsweise gelockert wird. Spranz-Fogasy (2014), Stivers (1998)

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und Heritage/Stivers (1999) stellten beispielsweise in Bezug auf die prädiagnostische Phase fest, dass „prädiagnostische Mitteilungen“ (prediagnostic commentaries, online commentaries) während der Anamnese oder körperlichen Untersuchung in einer epistemisch unsicheren Formulierungsweise für die PatientInnen den Weg des diagnostischen Schlussfolgerns dokumentieren und auch patientenseitige Erwartungen formen können. Peräkylä (1998) sowie Heath (1992) belegten zudem unterschiedliche Grade epistemischer Sicherheit in der Diagnosemitteilung, die die Autoren auf Unterschiede in der evidentiellen Transparenz zwischen Untersuchungsbefunden und Diagnose zurückführten und in Bezug auf ein Spannungsverhältnis zwischen ärztlicher authority und accountability  – letzteres in diesem Zusammenhang vielleicht mit „Erklärungsbedürftigkeit“ oder auch mit „Anfechtbarkeit“ übersetzbar  – interpretierten (für einen Überblick siehe Heritage 2005). Als aus Teilnehmerperspektive bestehende Relevanz der epistemischen Komponente von Asymmetrie kann auch ein weiterer Befund Peräkyläs (2006) gewertet werden, der nach der Diagnosemitteilung eine signifikante Passivität seitens der PatientInnen vermerkte, die allerdings aufgeweicht wurde, wenn ÄrztInnen diese gewisse accountability bezüglich ihrer Diagnose zeigten. Hier zeigt sich auch ein Zusammenhang zur oben ausgeführten interaktiven Komponente von Asymmetrie, denn: Das komplementäre Gesprächsverhalten von Experte und Laie in einer funktionalen Bearbeitung einer Gesprächsaufgabe erscheint hier unmittelbar an die gezeigte epistemische Sicherheit gebunden.

2.3 Asymmetrie und medizinische Expertise Die in Abschnitt 2.2 ausgeführten Komponenten von Asymmetrie im Arzt/PatientGespräch definieren im Gesamten im Prinzip auch das, was die fachmedizinische Expertise der MedizinerInnen im Gespräch ausmacht. Nachdem Asymmetrie im vorherigen Abschnitt nicht nur wissensbezogen, sondern auch funktional definiert wurde, wird Expertise ebenfalls gleichermaßen wissensbezogen wie gesprächsfunktional gefasst: Sie stellt folglich nicht nur ein außergewöhnliches Maß fachlichen Wissens dar, wie die Definition von Expertise zumeist in der psychologischen Literatur lautet (vgl. z. B. Gruber/Ziegler 1995), sondern braucht kommunikative Situationen, in der dieses fachliche Wissen interaktiv zum Tragen kommen kann und in der (mindestens) ein/e GesprächsteilnehmerIn funktional, d. h., auf einen lokalen oder globalen interaktiven Zweck hin ausgerichtet, als ExpertIn interagiert. Als Konsequenz seiner Interaktivität ist Expertise ein relationales Konstrukt, das komplementär „Laientumin-Interaktion“ fordert (vgl. Gülich 2003). Die Beschäftigung mit Expertise im Arzt/ Patient-Gespräch ist so immer auch eine Analyse des interaktiv konstituierten Laientums, das sich ebenfalls in allen drei beschriebenen analytischen Komponenten von Asymmetrie äußern kann und als Herstellungsprodukt zudem nicht a priori dem Gesprächsteilnehmer Patient zugeordnet werden kann, auch wenn institutionelle Rahmenbedingungen dies zunächst nahelegen. So können PatientInnen auch als

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Experten agieren, und zwar auf allen drei oben beschriebenen Ebenen, und ÄrztInnen umgekehrt als Laien. Um das Verhältnis zwischen Asymmetrie und Expertise in einer Gesprächssituation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen zu beleuchten und zu veranschaulichen, welche möglichen Auswirkungen ein patientenseitiges Expertise-Display (bzw. eine ärztliche Zuschreibung von Expertise an den Patienten) hat, kann das Bild zweier Waagen herangezogen werden: Eine Waage steht für den Arzt/die Ärztin, eine für den Patient/die Patientin. Beide Waagen zusammen symbolisieren die Kommunikationssituation zwischen Arzt und Patient: Auf der Arzt-Waage befinden sich in der Regel viele Gewichte auf der Expertise-Waagschale, die Patienten-Waage dagegen hat viele Gewichte auf der anderen Waagschale, der Laien-Waagschale. Was passiert nun mit der asymmetrischen Experten/Laien-Konstellation, wenn der/die PatientIn (oder der/die Arzt/Ärztin) Gewichte auf die Expertise-Waagschale der Patienten-Waage legen oder wenn Laien-Gewichte auf die ärztliche Waage gelegt werden? Mit welchen sprachlich-interaktiven Verfahren tun die GesprächsteilnehmerInnen dies? Die übergreifende Frage ist also nicht nur, ob sich die einzelnen Waagen im Gleichgewicht oder Ungleichgewicht befinden (d. h. ob ÄrztInnen oder PatientInnen als Experte und Laie agieren beziehungsweise als solche behandelt werden), sondern welche Auswirkungen dies auf die Imbalance der interaktiven und wissensbezogenen Gesprächsdynamik hat.

3 Patientenexpertise und Asymmetrie in der HIV‑Sprechstunde – das Fallbeispiel „Libido“ In diesem Abschnitt soll fallbezogen ein lokales Ereignis (fach)wissensbezogener Konstitutions- und Aushandlungsprozesse in Bezug auf das oben erklärte Verständnis von Asymmetrie und Expertise vorgestellt und diskutiert werden. Hierzu ist eine kurze Erläuterung zum Gesprächstyp „Routinesprechstunde in der HIV-Ambulanz“ vonnöten: Eine Hauptaufgabe dieser Arzt/Patient-Gespräche besteht darin, den Verlauf der medikamentösen Therapie zu kontrollieren und zu evaluieren, um bei dysfunktionalen Entwicklungen des HIV-Status oder im Falle starker Nebenwirkungen der HAART-Medikation korrigierend eingreifen zu können. Die PatientInnen suchen die Sprechstunde routinemäßig in regelmäßigen Abständen auf, unabhängig von ihrem körperlichen Wohlbefinden. Sie stehen hierdurch folglich, anders als akutmedizinische PatientInnen, nicht unter dem Rechtfertigungsdruck, ihren Besuch legitimieren zu müssen. Aufgrund der Regelmäßigkeit der Besuche bei HIV-MedizinerInnen übernehmen letztere auch hausärztliche Aufgaben, da die PatientInnen die HIV-Sprechstunden bisweilen nutzen, um akute – wie im folgenden Fallbeispiel auch HIV-beziehungsweise HAART-unspezifische sowie psychosoziale – Beschwerden zu äußern. Dies zieht typischerweise explorierendes (ärztliches) Handeln nach sich,

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allerdings kommt es auch vor, dass diagnostische Aktivitäten (vor allem die Diagnosemitteilung) gänzlich ausbleiben oder zugunsten HIV-obligatorischer Gesprächshandlungen, wie zum Beispiel der Mitteilung der Blutwerte, abgebrochen werden (Groß, in Vorbereitung). Das folgende Fallbeispiel zeigt einen Gesprächsausschnitt in der HIV-Sprechstunde, in dem eben dies passiert: Nachdem der Patient ein Problem geäußert hat, wird es rudimentär diagnostisch bearbeitet. Es kommt hier zu einer Art diagnostischem Aushandlungsprozess, was Querverbindungen zu bisherigen Befunden zu prädiagnostischen Mitteilungen und Sequenzen eröffnet (u. a. Spranz-Fogasy 2014; Spranz-Fogasy/Schöffler 2012; Stivers 1998; Spranz-Fogasy/Becker in diesem Band, Groß 2013). Ferner kann eine weitere Verbindung zu Birkner/Vlassenko (in diesem Band) gezogen werden, insofern sich der HIV-Patient im folgenden Fallbeispiel durch das Einbringen eigener diagnostischer Interpretationen (= SKT) aktiv in der Beschwerdeninterpretation engagiert. Der folgende Transkriptausschnitt einer Audio-Aufnahme stammt aus einem Gespräch mit einem Patienten, der schon länger bei der Ärztin in Behandlung ist; er äußert Probleme in seinem Sexualleben. Fallbeispiel: Libido (Patient i-1207; HIV-Korpus) 01 P: ach SO02 meine poTENZ ist völlig am arsch. ((lacht leise)) 03 (--) ((Summen des Blutdruckmessgeräts)) 04 meine libido is . 05 (1.0) 06 ich habe kEIne lust mehr auf !IR!gendwelche aktionen in IRgendeiner form. 07 A:

; 08 (1.9) 09 LEIdeste dadrunter? 10 (1.5) 11 P: solange kIm nicht da ist NICH12 (1.2) 13 wenn er dA is is_es: n bisschen SCHWIErig; 14 (1.0) 15 A: also ich ka‘ eh et16 ich kann_s dir_eh‘ nur auf priVATrezept verschreiben aber17 also18 P: was; 19 (---) 20 A: na ehm21 ich komm [jetz nich-] 22 P: [viAGra? ] 23 A: ja. 24 P: ach hab ich daHEIM. 25 (--) 26 es geht ja nicht DArum. 27 es geht ja HIERum.

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A:

. P: ja. (---) A: ((atmet schwer aus)) (-) P: dA brauch ich sowieSO nich. (1.3) es interessIErt (.) monsIEUr ja nich gott sei DANK; also !SACHT! er jedenFALLS. A: [hm_hm; ] [((Klettverschluss wird gelöst))] P: ob das stImmt weiß ich AUCH nicht. A: ((lacht leise)) (1.0) blUtdruck is GUT. (--)

Der Patient nutzt hier eine Gesprächspause während des Blutdruckmessens, um den Verlust seiner Libido initiativ zu thematisieren. Die Formulierungsweise (meine poTENZ ist völlig am arsch. meine libido is ., Zeile 02/04) ist sehr informell und kontextualisiert, dass sich Ärztin und Patient schon länger kennen. Die Ärztin produziert zunächst ein Rezipientensignal in Zeile 07, aber nachdem der Patient sich nicht in weiteren Ausführungen engagiert, stellt sie nach einer Pause eine Frage zum Leidensdruck. Dies kommt im untersuchten Korpus häufiger vor und entscheidet bisweilen darüber, ob die Anamnese und/oder Prozess und/ oder Therapieplanungsaktivitäten fortgesetzt werden oder nicht. Der Patient nennt eine Bedingung, unter der der Libidoverlust n bisschen SCHWIErig; ist (Zeile  13), nämlich, wenn sein Partner anwesend ist. Interessant ist, was danach passiert: Das Problem wird von der Ärztin nicht weiter exploriert, sondern sie bietet die Möglichkeit an, ihm etwas zu verschreiben (Zeile 16). Dieses Etwas wird durch die Pronominalisierung nicht expliziert, was eine Reparaturinitiierung seitens des Patienten zur Folge hat (was; Zeile  18). Überlappend mit Formulierungsbemühungen der Ärztin, in denen sie anzeigt, dass sie nicht auf den Namen des Medikaments kommt, führt der Patient eine Fremdreparatur durch: [viagra?], was die Ärztin bestätigt. Dadurch, dass hier direkt ein Therapievorschlag geäußert (bzw. ko-konstruiert) wird, wird der diagnostische Prozess durch die Ärztin zunächst beendet; eine diagnostische Interpretation der Beschwerden kommt so nur implizit zum Tragen. Der Therapievorschlag verdeutlicht dabei zugleich, dass die Problemdefinition für die Ärztin abgeschlossen ist. Mit der Äußerung ach hab ich daHEIM. (Zeile 24) disqualifiziert der Patient den Therapievorschlag; er begründet dies gleich im selben Turn mittels seiner eigenen diagnostischen Interpretation der Beschwerden: es geht ja nicht DArum. es geht ja HIERum (Zeile  26/27). Was mit dem deiktischen DArum gemeint ist (höchstwahrscheinlich sein Geschlechtsteil) beziehungsweise mit HIERum, wird durch die Ärztin rückversichernd expliziert:

. (Zeile 28), woraufhin der Patient kon-

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trastierend, und wieder deiktisch referierend, äußert: dA brauch ich sowieSO nich. (Zeile 33). In den nächsten Zeilen gibt der Patient weitere Informationen zu seinem Beziehungsproblem, auf die die Ärztin minimale Rückmeldesignale gibt, es jedoch nicht weiter exploriert. In Zeile 42 evaluiert sie den Blutdruck des Patienten, woraufhin sich auch der Patient der Evaluation des Blutdrucks zuwendet (nicht gezeigt).

4 Diskussion des Fallbeispiels „Libido“ Ausgehend von dem oben erläuterten Verständnis von medizinischer Expertise sollen nun Verfahren ihrer interaktiven Relevantsetzung innerhalb des gezeigten Ausschnitts identifiziert und in Verbindung mit den drei Dimensionen von Asymmetrie diskutiert werden. Mit dem analytischen Fokus auf „Patientenexpertise“ wird angenommen, dass die interaktive Konstitution wissensbezogener Relationen zwischen den Gesprächsteilnehmern alle drei Komponenten der „traditionellen“ Asymmetrie tangieren kann, also: Übernimmt der Patient lokal ärztliche Aufgaben? Betritt er das Wissensterritorium der Ärztin? Mit welchem epistemischen stance? Interaktive Asymmetrie. Der Misplacement-Marker ach SO- zu Beginn der patientenseitigen Beschwerdenexploration kontextualisiert die sequenzielle Fehlplatzierung, dass eine Beschwerdenschilderung typischerweise eine responsive Handlung als Reaktion auf eine entsprechend offene Frage darstellt. Im gesamten Ausschnitt gibt es nur eine einzige anamnestische Frage (Zeile 09); diese folgt initiativ auf das vorläufige Ende der Problemdarstellung. Die für die Anamnese typische asymmetrische Frage-Antwort-Verteilung tritt hier lediglich in dieser Paarsequenz auf. Traditionelle interaktive Asymmetrie zeigt sich zudem darin, dass die Ärztin an zwei Stellen den Übergang zwischen Aktivitäten bestimmt, nämlich einmal in Zeile  15, als sie abrupt eine Therapiemöglichkeit vorstellt (und damit die Diagnosefindung beendet und die Therapieplanung im engeren Sinne überspringt), und in Zeile 42, als sie zur Evaluation des Blutdrucks übergeht, ohne das Problem des Patienten weiter zu explorieren beziehungsweise weitere Therapieoptionen zu eruieren. Im vorliegenden Ausschnitt sind aber auch gegenläufige Tendenzen erkennbar, und zwar ab Zeile  24: Der Patient weist den Therapievorschlag der Ärztin explizit zurück und begründet dies mit einer von der ärztlichen Meinung abweichenden Interpretation seines Problems. Er übernimmt damit zum einen die ärztliche Aufgabe der Diagnosestellung (also: Was ist die Ursache des Libidoverlusts?), nachdem die Ärztin ihre diagnostische Interpretation lediglich impliziert. Indem er zur Problemdarstellung zurückgeht und weitere Aspekte des Problems expliziert, die seine Interpretation „Kopfproblem“ untermauern, untergräbt er (zumindest lokal) die professionelle Agenda, die mit dem Therapievorschlag „Viagra“ ja bereits weiter vorangeschritten ist.

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Wissensasymmetrie. Im gezeigten Ausschnitt findet zunächst die Herstellung von Intersubjektivität über das genannte Problem statt. Die Ärztin geht zunächst (implizit durch den Therapievorschlag) von einem körperlichen Problem aus (die erste Äußerung des Patienten meine poTENZ ist völlig am arsch. (Zeile 3) lässt selbiges vermuten), was unterschiedliche Problemdefinitionen der Interaktanten offenbart. Daraufhin findet ein Versuch der Herstellung von Intersubjektivität über die Beschaffenheit des Problems statt; die Ärztin dokumentiert ihr Verstehen über die eigentliche (vage) Ursache des Problems, als sie das Deiktikum des Patienten verbal paraphrasiert. Beide Interaktanten zeigen zudem Wissen über die Möglichkeiten der Behandelbarkeit physisch bedingter Potenzprobleme; sie ko-konstruieren diese sogar, indem der Patient der Reparaturinitiierung der Ärztin nachkommt und den Medikamentennamen als erster nennt. Wissensasymmetrie ist hier insofern erkennbar, als der Patient nicht nur fachmedizinisches Wissen, sondern vor allem Körperwissen und psychosoziale Reflexionen heranzieht, um seinen Libidoverlust zu erklären. Dennoch ist deutlich, dass er zwar sein Problem als „Kopfproblem“ vage definieren kann; die genauen Ursachen bleiben jedoch im Dunklen. Ein funktionales Relevantsetzen fachmedizinischen Wissens auf Seiten der Ärztin ist an dieser Stelle nicht zu erkennen, was womöglich auch damit zusammenhängt, dass sexuelle Störungen zwar mittelbar mittelbar mit der HIV-Infektion in Verbindung stehen können, aber nicht direkt in der fachmedizinischen Spezialisierung von behandelnden HIV-Medizinern liegen. Letzteres ist womöglich ebenfalls relevant in Bezug auf die epistemische Asymmetrie, die sich hier in Form des Aushandlungsprozesses um die intersubjektive Deutung der Sexualstörung zeigt. Das „Überspringen“ der Diagnose sowie der Therapieplanung zugunsten einer konkreten Therapieumsetzung (bzw. das Verschreiben des Medikaments) zeigt zwar eine hohe epistemische Sicherheit hinsichtlich der (implizierten) ärztlichen Interpretation der Beschwerden, allerdings übernimmt der Patient, indem er erfolgreich widerspricht, die Wissenshoheit, indem er sein Wissen mit epistemischer Überlegenheit präsentiert. Seine lokale Definitionsmacht zeigt, dass seine „subjektiven“ Wissensquellen funktionaler sind mit Hinblick auf seine psychosoziale Interpretation. Das Fallbeispiel „Libido“ verdeutlicht, wie kleinschrittig medizinische Expertise im Arzt/Patient-Gespräch ausgehandelt wird und dass Asymmetrie sich turn by turn als lokales Phänomen offenbart. Ohne eine Aussage über die HIV-Spezifität der im Fallbeispiel auftretenden lokalen Manifestationen und Aufweichungen der traditionellen Asymmetrie zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn treffen zu können, zeigt das Beispiel, dass diese weder den traditionellen (Gesprächs-)Rollen entsprechen noch eine totale Umkehrung wissensbezogener und interaktiver Ressourcen mit sich bringen. Ob die Ärztin hier trotz der lokalen, vor allem epistemischen „Umkehrungen“ als Expertin interagiert, ist dementsprechend differenziert zu betrachten und natürlich auch durch das Verhalten des Patienten mitkonstituiert: Dieser zeigt kookkurrierend interpretative Überlegenheit und orientiert sich zugleich an der ärztlichen Autorität, indem er zum Schluss des Ausschnitts der institutionellen Agenda

Asymmetrie und (Patienten-)Expertise in der HIV-Sprechstunde 

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folgt (Übergehen zum Blutdruck). Asymmetrie (bzw. Expertise) offenbart sich also als vielschichtiges Phänomen, dessen Komponenten in Einklang oder einander zuwiderlaufend auftreten können. Eine sich hieran anschließende übergreifende Frage, die für unterschiedliche medizinische Gesprächstypen individuell beantwortet werden muss, soll hier als Ausblick dienen: Müssen lokale Aufweichungen von Asymmetrie mittels wissens- und handlungsbezogener Modifikationen und Verteilungen professionellen Gesprächshandelns auch eine globale Neuperspektivierung der Arzt/PatientKommunikation (zumindest in chronischen Kontexten wie HIV) nach sich ziehen?

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Kristin Bührig/Bernd Meyer

16. Ärztliche Gespräche mit MigrantInnen Abstract: In diesem Beitrag werden Besonderheiten von ärztlichen Gesprächen mit MigrantInnen diskutiert. Im Mittelpunkt stehen dabei die Dimensionen der Mehrsprachigkeit und der Interkulturalität. Bezogen auf zentrale Gesprächstypen (Anamnese, Aufklärung, Überbringen schlechter Nachrichten, Beratung) und Anforderungen (Partizipative Entscheidungsfindung, Therapietreue) werden spezifische Probleme des Arzt-Patienten-Gesprächs herausgearbeitet. 1 „MigrantInnen“ im deutschen Gesundheitswesen 2 Allgemeine Charakteristika von Gesprächen mit MigrantInnen 3 Gesprächstypen 4 Besondere Anforderungen in Gesprächen 5 Verbesserungsmöglichkeiten 6 Literatur

1 „MigrantInnen“ im deutschen Gesundheitswesen In ihrer Kritik des Begriffs „Migrationshintergrund“ machen Scarvaglieri/Zech (2013) deutlich, dass dieser Ausdruck sowohl aufgrund seiner Etymologie als auch in seinem aktuellen Gebrauch als ein sprachliches Verfahren zur Kennzeichnung von Nichtzugehörigkeit zur Gemeinschaft der Deutschen angesehen werden muss: „‚Migrationshintergrund‘ erlaubt eine Tradierung des Abstammungsprinzips“ (ebd., 219). Ungeachtet der Konzeptualisierung als statistische Kategorie (die betreffende Person oder eines der Elternteile ist im Ausland geboren) hat der Ausdruck „Migrationshintergrund“ nach dieser Auffassung durch den alltäglichen öffentlichen Sprachgebrauch eine bestimmte Deutung bekommen, die eine Andersartigkeit der so bezeichneten Personen unterstellt. Ähnliches kann für den Ausdruck „Migrantin/ Migrant“ angenommen werden. Gespräche mit MigrantInnen müssen jedoch nicht notwendigerweise Besonderheiten aufweisen, die sie von Gesprächen mit anderen Personen unterscheiden. Die Kategorie „MigrantIn“ kann jedoch in Konstellationen relevant werden, die durch Sprachbarrieren und/oder spezifische kulturelle Unterschiede geprägt sind. Mehrsprachige und interkulturelle Konstellationen können im Gesundheitswesen punktuell häufig auftreten und besondere Anforderungen an alle Gesprächsbeteiligten stellen. Zu beachten ist dabei, dass vermehrt auch medizinische Fachkräfte mit anderen Muttersprachen und kulturellen Hintergründen im deutschen Gesundheitswesen tätig sind. MigrantInnen sind also in verschiedener Weise in Arzt-Patienten-Gesprä-

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che involviert. Insbesondere der Umgang mit Sprachbarrieren spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, wie sich Gespräche mit MigrantInnen von anderen Gesprächen im Gesundheitsbereich unterscheiden. Aber auch voneinander abweichende Vorstellungen der Arzt-Patienten-Beziehung und des ärztlichen Handelns können zur Quelle von Verstehensproblemen und kommunikativen Fehlschlägen werden.

2 Allgemeine Charakteristika von Gesprächen mit MigrantInnen In diesem Abschnitt werden allgemeine Charakteristika der mehrsprachigen und interkulturellen Arzt-Patienten-Kommunikation exemplarisch zusammengefasst. Zwei Aspekte stehen im Mittelpunkt: Sprachbarrieren und Interkulturalität.

2.1 Sprachbarrieren In deutschen Gesundheitseinrichtungen finden ohne Zweifel täglich zahllose Gespräche zwischen dem deutschsprachigen medizinischen Personal und Personen mit anderen Muttersprachen statt. Im Zuge der Zuwanderung von ÄrztInnen und Pflegekräften aus anderen Ländern nehmen umgekehrt auch Fälle zu, in denen die in medizinischer Einrichtungen tätigen Fachkräfte Deutsch sprechen, ohne Muttersprachler des Deutschen zu sein. Solche Gespräche zwischen Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern gelten gemeinhin als anfällig für Missverständnisse und kommunikative Fehlschläge. Entsprechend fordert etwa die Vertreterversammlung der Ärztekammer Baden-Württemberg in einer Entschließung vom 24.11.2012, dass alle in Deutschland angestellten ausländischen Ärzte Deutschkenntnisse über dem Niveau B2 nachweisen müssen und darüber hinaus eine fachspezifische Sprachprüfung absolvieren sollten. Die erforderlichen Sprachkenntnisse sollten durch zertifizierte Testzentren überprüft werden. Andererseits werden für die Kommunikation zwischen deutschsprachigen ÄrztInnen und nichtdeutschsprachigen PatientInnen keine besonderen sprachlichen Kompetenzen des ärztlichen Personals gefordert. Offenbar geht man davon aus, dass es in diesem Fall die Aufgabe der PatientInnen ist, sich ausreichende Deutschkenntnisse anzueignen. Immerhin zeigen solche Forderungen, dass die besonderen Anforderungen mehrsprachiger Kommunikationssituationen stärker als bisher Beachtung finden (vgl. hierzu auch Schön 2012). Trotzdem liegen konkrete Zahlen zur Häufigkeit und Ausprägung von Sprachbarrieren im deutschen Gesundheitswesen nicht vor. Anders als in vielen anglophonen Ländern werden in Deutschland keine statistischen Daten zur Verbreitung der Landessprache erfasst (vgl. Extra/Yagmur 2011), sodass kaum

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Kenntnisse darüber vorliegen, über welche Deutschkompetenzen PatientInnen oder im Gesundheitswesen Tätige in der Regel verfügen. In einer umfangreichen quantitativen Untersuchung hat Pöchhacker (2000) die Kommunikation mit nichtdeutschsprachigen PatientInnen in den Wiener Krankenanstalten untersucht. Diese Fragebogenstudie ist die bisher einzige Quelle, die Aufschlüsse über Art, Umfang von und Umgang mit Sprachbarrieren in einer europäischen Großstadt gibt. Ausgangspunkt waren allerdings Konstellationen zwischen deutschsprachigen Krankenhausmitarbeitern und nichtdeutschsprachigen PatientInnen, die sich nicht oder nur mühsam auf deutsch verständigen konnten. KrankenhausmitarbeiterInnen mit geringen Deutschkenntnissen wurden im Rahmen dieser Studie nicht angesprochen und waren Mitte der neunziger Jahre in den therapeutischmedizinischen Arbeitsfeldern wahrscheinlich auch seltener als heute anzutreffen. Die Wiener Studie zeigte, dass die Wahrnehmung von Sprachbarrieren von Station zu Station erheblich variiert. Innerhalb der einzelnen Berufsgruppen waren jedoch 90 %-98 % der Angestellten mit PatientInnen konfrontiert, die nur über geringe Deutschkenntnisse verfügten. Im Wochendurchschnitt lagen die Medianwerte in der Gynäkologie am höchsten (10 Patientinnen/Woche), während in der Psychiatrie der niedrigste Durchschnittswert ermittelt wurde (1 PatientIn/Woche). Allerdings gab es in einzelnen Einrichtungen je nach medizinischer Fachrichtung erhebliche Ausreißer. Bestimmte Abteilungen in bestimmten Krankenhäusern waren offenbar sehr viel stärker von Sprachbarrieren geprägt als andere (Pöchhacker 2000, 155). Wie Pöchhacker ebenfalls aufzeigt, werden in der Regel keine systematischen Verfahren zur Überbrückung von Sprachbarrieren angewandt. In der Regel sind Angehörige und mehrsprachige Krankenhausangestellte als DolmetscherInnen tätig, wenn die sprachlichen Unterschiede zwischen Arzt und Patient zu groß sind (ebd., 159, Ahamer 2013). Dies birgt Verstehensrisiken für alle Beteiligten. So zeigen zahlreiche Arbeiten, vgl. z. B. Bührig/Meyer (2004), Elderkin-Thompson/Silver/Waitzkin (2001), Flores (2006), dass ungeschulte und unerfahrene Dolmetscher den Diskurs inhaltlich und handlungsbezogen erheblich verändern und damit erfolgreiches medizinisches Handeln erschweren. In anderen Arbeiten wird diese Einschätzung jedoch relativiert. Meyer/Kliche/Pawlack 2010 und Ahamer 2013 zeigen, dass dolmetschende Angehörige im Zuge ihrer Dolmetschtätigkeit häufig ein umfangreiches fallbezogenes Wissen akkumulieren, dass im ärztlichen und pflegerischen Kontakt abgerufen werden kann. Die betreffenden Personen agieren daher häufig im Sinne eines Case Managements und begleiten den gesamten Behandlungsprozess kontinuierlich über verschiedene Stadien hinweg. Dies kann für die PatientInnen und das medizinische Personal eine erhebliche Ressource darstellen. In ähnlicher Weise zeigt Jansson (2014) in einer Fallstudie, wie die mehrsprachigen Ressourcen von Pflegekräften für die Arbeit mit anderssprachigen PatientInnen Relevanz bekommen können. Auch begrenzte, formelhafte Sprachkompetenzen können dabei eine erhebliche Bedeutung haben, da sie den Beziehungsaufbau zu den PatientInnen erleichtern.

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Bezogen auf die Institution Krankenhaus und die medizinische Versorgung insgesamt muss jedoch eine naive Translationskultur (Meyer u. a. 2003, 153) und ein unreflektierter Umgang mit Sprachbarrieren angenommen werden, der teilweise auch Ausdruck einer Einsprachigkeitsideologie sein mag („hier wird deutsch gesprochen“). Die Schwierigkeiten beim Ausbalancieren von kommunikativen Erfordernissen und Sprachideologien diskutiert Moyer (2011) in einer ethnografischen Studie zur Mehrsprachigkeit in einer katalanischen Klinik, die von verschiedensprachigen Patientengruppen genutzt wird. Wie verschiedene Studien zeigen, erfolgt auch dort, wo systematische Sprachmittlungsmöglichkeiten institutionell implementiert sind, die Nutzung nicht immer in dem erforderlichen Umfang (Bischoff/Hudelson 2010, Kale/Syed 2010). Dies könnte auch damit zu tun haben, dass der Bedarf der PatientInnen an sprachlicher Mittlung nicht immer erkannt wird. Demographische Daten zeigen, dass Sprachbarrieren in der Regel tatsächlich durch begrenzt vorhandene Deutschkenntnisse der PatientInnen geprägt sind, sodass in vielen Fällen der Eindruck entstehen mag, eine Verständigung sei möglich. Im Durchschnitt halten jedoch 25 % der Patienten mit Migrationshintergrund ihre Deutschkenntnisse für begrenzt (Meyer 2009, 2012). Je nach Alter, Herkunft und Geschlecht kann die Gruppe der Personen mit geringen Deutschkenntnissen auch erheblich größer sein. Wie aus einer Untersuchung von Khwaja u. a. (2006) zu steigenden Einsatzzahlen eines hausinternen Dolmetscherdienstes in Manchester gefolgert werden kann, fragen PatientInnen Dolmetschleistungen darüber hinaus auch dann nach, wenn sie über ausreichende Kenntnisse der Landessprache verfügen. Möglicherweise entsteht durch muttersprachliche Kommunikation eine zusätzliche Vertrauensebene.

2.2 Interkulturalität Anhand von Fallbeispielen kann gezeigt werden, dass auch dann, wenn eine direkte sprachliche Interaktion zwischen Arzt und Patient möglich ist, kulturelle Unterschiede bestehen, die besondere Herausforderungen darstellen und auf den Verlauf sowie auf die Ergebnisse der Gespräche Einfluss nehmen. Bevor in den nachstehenden Kapiteln entsprechende Forschungsergebnisse zu einzelnen Gesprächstypen aus sprachwissenschaftlichen bzw. qualitativen Studien vorgestellt werden, soll an dieser Stelle etwas allgemeiner auf die Berücksichtigung von Interkulturalität in der Forschung zur Arzt-Patienten-Kommunikation eingegangen werden. Vorweg ist zu konstatieren, dass dem Thema innerhalb sozialwissenschaftlicher und medizinpsychologischer Forschung wesentlich häufiger als in der sprachwissenschaftlichen Forschung nachgegangen wurde. „Interkulturalität“ bzw. „interkulturelle Kommunikation“ wird in der Betrachtung medizinischer Kommunikation sowohl in der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten als auch in der Forschung seit über vierzig Jahren berücksichtigt (vgl. Überblick in

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Schouten/Meuuwesen 2006, die Artikel von 1974 bis 2004 in den Blick nehmen). In Anlehnung an Masumoto (2013) lassen sich gemäß der zu rekonstruierenden Konzepte von „Kultur“ und „Kommunikation“ verschiedene analytische Zugänge unterscheiden. Im Mittelpunkt stehen häufig sog. ethnische bzw. kulturelle Besonderheiten der Gesprächsteilnehmer, vor allem der Patientinnen und Patienten, die Auswirkungen auf das Verstehen und den Umgang mit Krankheiten und somit auch auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient haben sollen. Die betreffenden Studien gehen von einer direkten bzw. kausalen Relation zwischen „Kultur“ (als mehr oder minder statischem System) und bestimmten Wahrnehmungen, Einstellungen und Handlungsweisen aus (für eine programmatische Darstellung dieses Zusammenhangs vgl. etwa Betancourt 2004, Helman 2000). So gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die ethnische Besonderheiten der Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung von Symptomen annehmen (vgl. etwa Zola 1966, Zborowski 1969, Zimmermann 2000). Andere Studien thematisieren das patientenseitige Krankheitsverständnis (vgl. etwa Berg 1998, Pfleiderer/Bichmann 1985), oder Erwartungen an medizinische Behandlungen (vgl. etwa Schipperges 1978), wobei man davon ausgeht, dass eine direkte bzw. kausale Relation zwischen patientenseitiger kultureller Zugehörigkeit und dem Umgang mit Krankheiten vorliegt. Interkulturelle Kompetenz beinhaltet entsprechend ein Wissen über die kulturspezifischen Besonderheiten der Patientinnen und Patienten. Als spezielles Thema ist eine Untersuchung von Auswirkungen von ethnozentristischen Einstellungen auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient in der Forschungsliteratur auszumachen. Inwiefern auf der Seite des medizinischen Personals ethnozentrische Einstellungen einer kulturell kompetenten Behandlung im Wege stehen, untersuchen etwa Capell/Dean/Veenstra (2008). In jüngerer Zeit werden auch patientenseitige ethnozentrische Einstellungen, die die Wahrnehmung ärztlichen Gesprächsverhaltens in den Blick nehmen, als Forschungsgegenstand bearbeitetet (vgl. etwa Ahmed/Bates 2010). Ausgehend von Ungleichheiten in der medizinischen Versorgung, die insbesondere Migrantinnen und Migranten bzw. gesellschaftliche Minderheiten betrifft, werden Unterschiede zwischen Gesprächen mit und ohne Beteiligung der betroffenen Gruppen untersucht. Ein Großteil der Untersuchungen basiert auf video-graphierten Arzt-Patienten-Gesprächen, die nach unterschiedlichen Verfahren kodiert werden (vgl. die Kritik und den Überblick in Schouten/Meeuwesen 2006). Gegen die pauschalen Interkulturalitätsannahmen formulieren Johnson/Hardt/Kleinmann (1995) an Kliniker den Vorschlag, im Sinne einer „mini ethnography“ (vgl. a. a. O., 153) das Krankheitsverständnis eines jeden Patienten im Gespräch herauszufinden, um unter dessen Berücksichtigung den arztseitigen Blick ins Gespräch einbringen zu können. Auch aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist kritisiert worden, kulturelle Zugehörigkeit als direkte Ursache für Verständigungsschwierigkeiten zwischen Arzt und Patient zu betrachten (vgl. z. B. Hartog 2005, Bührig 2009). In jüngerer Zeit weisen

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z. B. Menz/Reisigl/Sator (2013) darauf hin, dass Kommunikationsprobleme beispielsweise aus dem Umstand resultieren können, dass Schmerz zunächst immer individuell erfahren werde, so dass Mitteilungen über das Erleben von Schmerz in jedem Fall „die Hürde der Subjektivität“ nehmen müsse (vgl. a. a. O., 18). Darüber hinaus merken Menz/Reisigl/Sator (2013) kritisch an, dass „Kultur“, „Transkulturalität“ und „Interkulturalität“ insgesamt sehr weit gefasst und variable analytische Konzepte seien, die mannigfaltige Momente umfassen, zudem stellen kulturbezogene Kategorien wie z. B. „kulturelle Mitgliedschaft“ keine fixen Größen dar, sondern werden maßgeblich erst in Interaktionen hervorgebracht, reproduziert, transformiert und relevant gesetzt oder auch hinterfragt (vgl. a. a. O., 18). Schwierigkeiten in der Kommunikation mit Migrantinnen und Migranten im Gesundheitswesen resultieren nach Sicht einiger Praktikerinnen und Praktiker zudem nicht aus kulturellen Unterschieden zwischen Arzt und Patient, sondern aus systematischem Zeitmangel für Gespräche.

3 Gesprächstypen 3.1 Anamnese (Medical Interview) Die Beschwerden des Patienten bzw. die Gründe für eine Kontaktaufnahme mit dem Arzt werden im Gespräch zwischen Arzt und Patient im Rahmen der Anamnese zum Thema. Grob unterscheiden lassen sich Krankengeschichte (Beschwerdenvortrag), Sozialanamnese (Fragen zum Leben des Patienten und seinem Umfeld) sowie ggfs. die Krankheitsgeschichte (im Rahmen von Folgegesprächen oder im Gespräch mit chronisch erkrankten PatientInnen) (vgl. auch Spranz-Fogasy/Becker (in diesem Band) Beschwerdenexploration und Diagnosemitteilung im ärztlichen Erstgespräch). Aus diskursanalytischer Sicht sind Anamnesegespräche als eine »Diskursart« beschrieben worden (vgl. z. B. Rehbein 1986). Der Begriff »Diskursart« impliziert, dass in einem Anamnesegespräch verschiedene Typen sprachlicher Handlungen zusammenwirken und es konstituieren, wie etwa das »Frage-Antwort-Muster« als zentraler Handlungstyp, oder das »Beschreiben« von Lebensumständen oder Krankheitswahrnehmungen durch den Patienten. Mit Blick auf Charakteristika der Gespräche mit Migrantinnen und Migranten zeigen Roberts/Sarangi/Moss (2004), dass sich vor allem der Stil der Beschwerdenpräsentation bei Patientinnen und Patienten mit einer anderen Muttersprache von demjenigen der Patientinnen und Patienten unterscheidet, die dieselbe L1 wie der Arzt sprechen. So sind etwa viele Patientinnen und Patienten, die mit dem westlichen Gesundheitssystem weniger vertraut sind, von der Symptomorientierung der Ärzte überrascht und vermissten gerade zu Gesprächsbeginn Raum für eine kommunikative Kontaktherstellung und Gelegenheit zum small talk (vgl. auch Roberts/Sarangi

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2005). In eine ähnliche Richtung weist die Untersuchung von Roberts/Sarangi/Moss (2004), die im Rahmen der Untersuchung zur Selbst- und Symptomdarstellung von Patientinnen und Patienten nicht-englischer Muttersprache (PLEDGE) eine Vielfalt individueller Selbst- und Symptomdarstellungen fanden, mit der Konsequenz, dass sich die interaktive Ordnung der initialen Sequenz der Konsultation ändere: Die Eröffnungssequenz werde in die Länge gezogen und die interaktive Bearbeitung wird für beide beteiligte Parteien aufwändiger, mit der Gefahr von Irritationen, Missverständnissen und thematischen Fehlfokussierungen, so dass der gesamte Gesprächsablauf weniger planbar werde. Für dieses Phänomen prägen die Autorinnen und Autoren den Begriff der „interactional uncertainity“ (vgl. a. a. O., 167), „which contains an essential part of medical consultations in multicultural societies“ (vgl. ebd.). Wie Lalouschek (2013) ausführt, kann es rasch dazu kommen, dass in Konsultationen mit Patientinnen und Patienten einer von der Behandlungssprache divergenten Muttersprache vor allem „Basisprobleme“ behandelt werden, damit geplantes ärztliches Tun überhaupt ausgeführt werden kann, was vergleichbar sei mit ärztlichen Gesprächen unter „erschwerten Bedingungen“, z. B. sehr alten oder reduziert kommunikationsfähigen Patientinnen und Patienten (vgl. a. a. O., 381 bzw. Lalouschek/Menz/ Wodak 1990). Innerhalb der Anamnese kommt neben den patientenseitigen (selbstinitiierten) Ausführungen vor allem den ärztlichen Fragen eine entscheidende Rolle zu (vgl. u. a. Rehbein 1993). In einer quantitativen Auswertung kommt Menz (2013) zu dem Ergebnis, dass Patientinnen und Patienten mit einer anderen L1 als der Behandlungssprache weniger mit sog. „Fragebatterien“ konfrontiert werden, sondern stärker mit inhaltlichen Fragen vom Typus Entscheidungsfragen. Er wertet diesen Unterschied dahingehend aus, dass seiner Einschätzung nach Ärztinnen und Ärzte sich in ihrem Sprachverhalten an die vermutete Sprachkompetenz der MigrantInnen anpassen und die Häufigkeit komplexer Gesprächseröffnungen reduzieren (vgl. a. a. O., 341). Es gäbe jedoch keinerlei Evidenz dafür, dass diese Form der Anpassung tatsächlich auch die Verständigung auf Seiten der Patientinnen und Patienten steigere oder fördere (vgl. a. a. O., 347, Reisigl 2011). Inwiefern der Einsatz von ad-hoc-dolmetschenden Personen charakteristische arztseitige Fragen nach der Qualität von Schmerzen beeinträchtigt, zeigen z. B. Bührig/Meyer (2009): Die von ärztlicher Seite mittels alternierender Entscheidungsfragen vorgebrachten Formulierungsangebote werden seitens der ad-hoc-Dolmetscherin zu Bestätigungsanforderungen, die der Funktion der ursprünglichen Fragen entgegenstehen. Eine Benachteiligung von nicht-muttersprachlichen Patientinnen und Patienten innerhalb der Sozialanamnese sieht Roberts (2006) dadurch gegeben, dass Aufgaben der Patientenadministration an computergestützten Dokumentations- und Verwaltungsaufgaben ausnahmslos an muttersprachlichen Patientinnen und Patienten orientiert seien und Patientinnen und Patienten mit eingeschränkten Kenntnissen der Behandlungssprache benachteiligen. Über den Rahmen des medizinischen Gesprä-

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ches mit nicht-muttersprachlichen Patientinnen und Patienten hinaus zeigt ValeroGarcés (2002), dass sich die kommunikativen Aufgaben der Ärztinnen und Ärzte stärker auch auf verwaltungsspezifische Probleme richten.

3.2 Patientenaufklärung (Informed consent) Die Aufklärung von PatientInnen über Verlauf und Risiken diagnostischer und therapeutischer Methoden ist eine Diskursart, die in Deutschland aus rechtlichen Gründen die Hinzuziehung dolmetschender Personen erfordert, wenn PatientInnen nicht ausreichend deutsch sprechen (Meyer 2004). Die bisherige Rechtsprechung fordert jedoch lediglich die Beteiligung einer „sprachkundigen Person“ (OLG Düsseldorf: Urteil vom 12.10.1989, 8 U 60/88). Diese vage Formulierung erlaubt Krankenhausbetreibern, Angestellte oder Angehörige von PatientInnen ad hoc als DolmetscherInnen einzusetzen. Besondere Qualitätserwägungen in Bezug auf den Umgang mit Mehrsprachigkeit sind bisher aus rechtlicher Sicht nicht erforderlich. Die kommunikativen Anforderungen der Patientenaufklärung bestehen darin, PatientInnen über die geplante medizinische Handlung zu orientieren und zusätzlich dazu ihre rechtlich wirksame Einwilligung in die Ausführung dieser Handlung zu erwirken. Es geht also um die Vermittlung von Handlungswissen, das durch das Ankündigen und Beschreiben der geplanten Handlung geleistet wird. Auf diesen Abschnitt des Aufklärungsgesprächs folgt systematisch die Risikoaufklärung, die oft auch metakommunikativ angekündigt wird („Ich muss Ihnen dazu sagen  …“) und eine eigene Strukturiertheit aufweist (Benennen der Risiken, Einschätzen der Schwere und der Häufigkeit) (Bührig/Meyer 2003, 2004, Meyer 2004). Auf das Hinweisen auf Risiken folgt eine Abschlussphase, in der der weitere Informationsbedarf des Patienten abgefragt wird und schließlich zur Unterschrift auf dem Aufklärungsbogen aufgefordert wird (vgl. Bührig/Meyer 2007, Klüber in diesem Band). Beim Dolmetschen von Aufklärungsgesprächen können neben fachkommunikativen und lexikalischen Herausforderungen auch Probleme der eigenen Involviertheit dolmetschender Personen aufgezeigt werden, etwa wenn Risiken anders dargestellt werden, um den Entscheidungsprozess des Patienten zu lenken (Clifford 2005, Johnen/Meyer 2007). Generell gilt jedoch, dass ohnehin schwierige kommunikative Aufgaben durch die Dolmetschsituation weiter verkompliziert werden. Durch die Einbeziehung von ungeschulten Dolmetschern sind Aufklärungen oftmals inhaltlich fehlerhaft und damit vermutlich rechtlich unwirksam. Eine richterliche Beurteilung der bisherigen Aufklärungspraxis bei nichtdeutschsprachigen PatientInnen steht jedoch noch aus.

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3.3 Überbringen schlechter Nachrichten (Bad News Delivery) Die Mitteilung von Befunden kann mit Maynard (2003) als eine kommunikative Handlung begriffen werden, bei der die emotionalen Reaktionen der Adressaten antizipiert werden müssen, um eine korrekte Aufnahme der Befundinformation zu gewährleisten. Unerwünschte Befunde sind dabei von erwünschten insofern grundsätzlich unterscheiden, als mit ihnen ein Einbruch in die „benign order of everyday life“ (ebd., 160) verbunden ist. Gemeinsam ist der guten und der schlechten Nachricht hingegen, dass beide zunächst als in ihrer Wertigkeit kenntlich gemacht werden müssen. Für das Überbringen der schlechten Nachricht ist ein wichtiger Aspekt der „good news exit“, also die Verbindung mit einem Ausweg, der Hoffnung und bestehende Handlungsmöglichkeiten offeriert („being HIV-positive is not a death sentence“, Maynard 2003, Chapter 6; Maynard 2004). Wie Butow u. a. 2013 zeigen, ist das Überbringen schlechter Nachrichten kulturell jedoch unterschiedlich organisiert. Gerade im medizinischen Kontext und bei schlechten Prognosen der Krankheitsentwicklung besteht in manchen Fällen die Auffassung, dass eine ungefilterte Weitergabe der Prognose die ohnehin schwierige Situation des Patienten weiter verschärft und damit eine unzulässige Belastung darstellt (Butow u. a. 2013, 251, vgl. auch Spranz-Fogasy/Becker in diesem Band). Die Angehörigen stehen dann aus ihrer Sicht vor der Aufgabe, dem Patienten den wahren Zustand zu verheimlichen, um ihn zu schützen. Diese Auffassung kollidiert offensichtlich mit Prinzipien der Selbstbestimmung und Patientenautonomie. Auch im monolingualen Fall besteht für Ärzte ein Ermessensspielraum bei der Mitteilung von Befunden, der jedoch nicht die Verheimlichung des Befundes einschließt. In ihrer Studie zu gedolmetschten Befundmitteilungen in der Onkologie stellten Butow u. a. fest, dass 23 % der Befundmitteilungen nicht gedolmetscht wurden. Sowohl Angehörige als auch externe Dolmetscher tilgten schlechte Nachrichten, oder milderten sie ab. Das Überbringen schlechter Nachrichten kann daher als eine Konstellation gelten, in der kulturelle Unterschiede eine besondere Rolle spielen und der Umgang mit Mehrsprachigkeit daher besonders genau reflektiert werden muss.

3.4 Beratung (Counselling) Tätigkeiten des Beratens bzw. Ratgebens sind in der Untersuchung medizinischer Kommunikation entweder mit Blick auf spezifische Beratungsgespräche, wie z. B. genetische Beratungsgespräche (Hartog 1996, Michie/McDonald/Marteau 1996), HIV Counselling (Silverman 1997) untersucht worden, wobei auch Medienformate zunehmend in den Blick geraten (z. B. Brünner 2011). Zum Teil wird aber auch das Besprechen von Medikationen bzw. die die Thematisierung einer Verarbeitung des Krankheitsgeschehens im Allgemeinen im Rahmen medizinischer Konsultationen mit Blick auf bzw. als „Beraten“ behandelt. Wie Lalouschek (2013) ausführt, ist seit den 1990er

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Jahren innerhalb der Medizin eine zunehmende Fokusausbildung auf die Patientenbeteiligung zu beobachten, die Erfordernisse eines „modernen, flexiblen Beziehungsmodells zwischen ÄrztInnen und PatientInnen und entsprechend kompetente Formen der Gesprächsführung“ mit sich bringt (vgl. a. a. O., 358): So wiesen die kommunikativen ärztlichen Aufgaben generell eine stärkere Komplexität und Vielfalt auf, aufklärende und beratende Tätigkeiten flankierten selbstverständlich nahezu ubiquitär das Durchführen einer Untersuchung bzw. die Mitteilung von Untersuchungsergebnissen. Besonderer Beratungsbedarf besteht für chronisch kranke PatientInnen, Dowrick u. a. (2005) fordern sogar, die Behandlung von chronischen Krankheiten als eigenständige Komponente der Gesundheitsversorgung zu definieren. Im Sinn einer Unterstützung von PatientInnen als ManagerInnen ihrer eigenen Krankheit, bestehen die kommunikativen Aufgaben von ÄrztInnen darin, vor allem zu betreuen und zu beraten (Haskett 2006). Im Rahmen der Sprachwissenschaft wird das Beraten als eine Form sprachlichen Handelns angesehen, das dem Zweck folgt, einen Handlungswiderstand zu überwinden. Der Handlungswiderstand kann von einer Wissenslücke bis hin zu komplexen Problemen reichen. Kommunikativ betrachtet bildet der Handlungswiderstand das Anliegen für eine Beratung, die Anliegensklärung ist ein interaktiver Prozess, der aus Anliegensformulierung (Klient) und Anliegensexploration (Agent) besteht (vgl. zusammenfassend Becker-Mrotzek/Brünner 2007). Mit Blick auf die Teilnahme von Migrantinnen und Migranten widmet sich aus sprachwissenschaftlicher Sicht Rehbein (1985a,b) Beratungsgesprächen, in deren Rahmen Eltern türkischer Kinder im Sinne einer Vorsorgemaßnahme über Behandlungsmöglichkeiten unterschiedlicher Kinderkrankheiten informiert werden. Auch wenn in diesen Gesprächen die Anliegen der Eltern erst nach einer Thematisierung von Symptomen und hypothetischen Ratschlägen formuliert werden, findet sich die kommunikative Charakteristik des Beratens innerhalb der arztseitigen Reaktionen auf die elternseitig formulierten Anliegen (i. d. R. Fragen oder auch Äußerung von Skepsis) statt, nämlich ein Umwerten patientenseitiger Bewertungen unter Nutzung professioneller medizinischer Maßstäbe statt (vgl. a. a. O., 357 ff.). Im Unterschied zu monolingualen Daten, in denen dieses Umwerten interaktiv durch ein arztseitiges Rephrasieren vorbereitet wird, konstatiert Rehbein in den untersuchten Gesprächen mit türkischen Müttern, dass das Umwerten eher mit einer „ja-aber-Strategie“ (Koerfer 1979) eingeleitet wird, nach Rehbein Ausdruck eines Maximenkonfliktes, der dem ärztlichen Bedürfnis entspricht, die Mütter nicht zu verprellen, obwohl er ihnen widersprechen muss, da er für sich bereits eine Umwertung vollzogen hat (vgl. a. a. O., 358). Als weiteres Verfahren des Ausschlusses der Mütter rekonstruiert Rehbein den taktischen Import medizinischer Erklärungen und die Nutzung eines professionellen, fachlichen Registers (vgl. a. a. O., 377). Aus seinen weiteren analytischen Beobachtungen kommt Rehbein zu dem Schluss, dass medizinische Beratungen nur dann ihren Zweck erfüllen, wenn das Wissen der PatientInnen bewusst mit in die Kommunikation mit einbezogen wird (vgl. a. a. O., 414 f.). Dass diese Schlussfolgerung nach wie vor aktuell ist, macht u. a.

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Lalouschek (2013) deutlich: Sie geht davon aus, dass Ergebnisse zu Beratungsgesprächen mit nicht-deutschen Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern (vgl. RostRoth 2003) auf Gespräche mit Migranten in der Arzt-Patienten-Kommunikation zu übertragen sind: Die Gruppe dieser Patientinnen und Patienten stehen zum einen vor der sprachlichen Schwierigkeit, ihr Anliegen zur formulieren. Darüber hinaus liegt eine Schwierigkeit für sie darin, ihr Anliegen situationsspezifisch zuzubereiten, entsprechende Relevantsetzungen vorzunehmen, ihre Relevanzen zu verdeutlichen, zu positionieren etc.

4 Besondere Anforderungen in Gesprächen 4.1 Partizipative Entscheidungsfindung (Shared Decision Making) Auch in Bezug auf Entscheidungsprozesse können im medizinischen Rahmen kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen. Levinson u. a. (2004) stellen in einer für die englischsprachigen EinwohnerInnen der USA repräsentativen Umfrage fest, dass die partizipative Entscheidungsfindung grundsätzlich nicht von allen PatientInnen gleichermaßen präferiert wird. Dieser Befund gilt unabhängig von etwaigen ethnischen Hintergründen der Befragten, sodass die Autoren konsequenterweise für eine am Individuum ausgerichteten Kommunikationsstrategie des medizinischen Personals argumentieren: Our finding that roughly half of this representative sample prefers a physician-directed approach makes it imperative for physicians to be aware of the views and preferences of individuals so they can tailor care. (ebd., 533)

Gleichzeitig ist die Zurückhaltung gegenüber dem Modell der partizipativen Entscheidungsfindung bei Befragten mit afro-amerikanischem und hispanischem Hintergrund besonders hoch, sodass hier möglicherweise kulturelle Prägungen einzelner ethnischer Gruppen eine Rolle spielen können. Suurmond/Seeleman (2006) argumentieren, dass aufgrund von sprachlichen und kulturellen Barrieren entscheidende Prämissen des SDM-Modells in Gesprächen mit MigrantInnen keine Gültigkeit haben könnten. Die Autorinnen befragten ÄrztInnen und PatientInnen mittels eines semi-strukturierten Interviews zu möglichen Kommunikationsproblemen im Zusammenhang von SDM. Dabei ergaben sich vier Bereiche, die von den Befragten als relevant eingestuft wurden: unterschiedliche sprachliche Hintergründe, unterschiedliche Krankheitskonzepte, unterschiedliche Rollenvorstellungen in Bezug auf die Beteiligung am Behandlungsprozess sowie Vorurteile in Bezug auf die anderen Interaktionspartner.

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Unterschiedliche Sprachbeherrschung kann nach Auffassung der Befragten die Übermittlung von entscheidungsrelevanten Informationen behindern. Unterschiedliche Krankheitskonzepte können dazu führen, dass Befundmitteilungen falsch eingeschätzt werden oder PatientInnen die medizinisch indizierten Therapien durch alternative Behandlungsmethoden ersetzen oder zumindest den Behandlungserfolg durch mangelnde Therapietreue konterkarieren. Unterschiede in der Auffassung der institutionellen Rolle können zu Störungen im Beziehungsaufbau führen, etwa wenn ein direkter offener Kommunikationsstil von PatientInnen als zu konfrontativ empfunden wird. In Bezug auf Vorurteile und Stereotypen kommen die Autorinnen zu dem Schluss, dass das SDM-Modell einen unvoreingenommenen Austausch voraussetzt, der jedoch vor dem Hintergrund rassistischer Strömungen und Segregationstendenzen nicht immer gegeben sein kann. Stattdessen kommt es zu Stereotypisierungen oder mangelnder Aufmerksamkeit für patientenseitige Kundgaben, und in der Folge zu Fehleinschätzungen und fehlerhaften Diagnosen. Die Autorinnen fordern daher, dass ÄrztInnen ihren eigenen kulturellen Hintergrund und die daraus sich ergebenden Grenzen der Kommunikation stärker reflektieren sollten.

4.2 Therapietreue (Compliance, Adherence) Formen des Umgangs und der Behandlung einer Erkrankung bzw. einer Diagnose können im Gespräch zwischen ÄrztInnen und PatientInnen i. d. R. nur als Vorschläge und Empfehlungen verbalisiert werden. Zwar ist oft von „ärztlichen Anweisungen“ die Rede, es sind jedoch die PatientInnen, die die vom Arzt thematisierten „Anschlusshandlungen“ ausführen. Der Blick auf die patientenseitigen Anschlusshandlungen ist in der Forschung zur Arzt-Patienten-Beziehung unter unterschiedlichen Bezeichnungen zu finden. So ist etwa von „compliance“ oder „adherence“ die Rede. Der Unterschied dieser Bezeichnungen liegt in dem Rollenverständnis von Ärztinnen und PatientInnen begründet. Die patientenseitige Mitarbeit wird mit dem Begriff der „compliance“ vorausgesetzt, er oder sie befolgt ärztliche Anweisungen. Nach Lalouschek (2013) ist der Begriff der „compliance“ einem direktiven Beziehungsmuster zuzuordnen, das einer eher paternalistischen Medizin nach dem Motto „the doctor knows best“ entspricht (vgl. a. a. O., 364). Demgegenüber umfasst der Begriff „adherence“ die Therapiemotivation und Therapietreue von PatientInnen, die erst aufgrund der positiven Qualität der Arzt-Patienten-Interaktion entsteht. Es ist ein kooperatives bzw. partnerschaftliches Arzt-Patienten-Verhältnis, in dessen Rahmen es zu einer partizipativen Entscheidungsfindung kommt, dem der Begriff „adherence“ zuzuordnen ist. Die Rollenverteilung in diesem Beziehungstyp sieht vor, dass Ärztinnen die ExpertInnen für medizinische Fragen, Symptome, Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten sind, die PatientInnen sind mündige Menschen und ExpertInnen für die Umstände ihrer Lebenswelt. Dementsprechend sind ihre Sorgen,

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Wünsche, Fragen und Wertvorstellungen als behandlungsrelevante Kategorien ernst zu nehmen (Lalouschek 2013, 365). Es liegen mittlerweile mehrere Untersuchungen zur sog. non-compliance vor, die zeigen, dass es gerade Formen des direktiven Beziehungsmusters zwischen Ärztinnen und PatientInnen sind, die eine non-compliance mit sich bringen (z. B. Barry u. a. 2002, Stevenson u. a. 2004, Anderson/Fanell 2005). In konkreten qualitativ-sprachwissenschaftlichen Analysen prägt Rehbein (1994) den Begriff „Widerstreit“ für das Diskursphänomen, dass arztseitige Therapievorschläge auf patientenseitigen Widerstand treffen.

5 Verbesserungsmöglichkeiten Abschließend gehen wir auf die Frage ein, wie die Kommunikation mit MigrantInnen im Gesundheitswesen verbessert werden kann. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen mehrsprachigen und interkulturellen Konstellationen lassen sich zwei Ansatzpunkte für institutionelles Handeln feststellen: der Umgang mit Sprachbarrieren und die Berücksichtigung kultureller Unterschiede. In Bezug auf den Umgang mit Sprachbarrieren fällt vor allem auf, dass dieser oftmals unreflektiert und naiv ist. Beispielsweise werden zwar in vielen Krankenhäusern unterschiedliche Dolmetschertypen (Angestellte, Angehörige, externe Dolmetscher) genutzt, die Nutzung erfolgt jedoch unsystematisch und ohne Bezug zu den jeweiligen Gesprächsanlässen. Zu einem systematischen Umgang mit Sprachbarrieren gehören jedoch mindestens die Erfassung des Bedarfs, etwa im Rahmen der Krankenakte bei der Aufnahme einer Person ins Krankenhaus, die Erfassung von dolmetschenden Personen mit unterschiedlichen Kompetenzprofilen im Rahmen der Personalverwaltung, und die Bewertung der kommunikativen Anforderungen, die im Einzelfall zu erwarten sind. In der Regel würde dies bedeuten, dass für einfache Routinegespräche die sprachlichen Ressourcen von ausgewählten Angestellten oder Angehörigen genutzt werden, während anspruchsvollere Gespräche, etwa über schlechte diagnostische Nachrichten oder komplexe Behandlungsmethoden zumindest im Beisein speziell qualifizierter DolmetscherInnen geführt werden müssten. Solche Vorschläge wirken angesichts der finanziellen und organisatorischen Probleme deutscher Krankenhäuser deplatziert, sind aber, wie ein Blick auf europäische Projekten aus dem Netzwerk der „Migrant Friendly Hospitals“ (http://www.mfh-eu.net/) zeigt, durchaus mit einem vertretbaren organisatorischen Aufwand umsetzbar. Neben der Frage, wie der Umgang mit Sprachbarrieren organisatorisch angegangen wird, wäre dabei auch zu klären, wie Ärzte auf die Arbeit mit Dolmetschern vorbereitet werden können (vgl. Meeuwesen u. a. 2009). In den von Bührig/Meyer 2013 ausgewerteten Interviews mit ÄrztInnen wurde deutlich, dass die Beteiligung von DolmetscherInnen zu Veränderungen im kommunikativen Handeln führen kann, etwa wenn Inhalte, für

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die sonst mehrere Termine erforderlich sind, in einem Gespräch zusammengefasst werden, weil nur dann ein Dolmetscher verfügbar ist. Anders als der Umgang mit Sprachbarrieren erfordert Interkulturalität vor allem eine Sensibilisierung und einen Wissenstransfer im Bereich des medizinischen Personals. Im Anschluss an Untersuchung wie Suurmond/Seelemann (2006), Rehbein (1985, 1994) oder Lalouschek (2013) wären Schulungen zum Umgang mit unterschiedlichen Rollenverständnissen und Krankheitskonzepten sinnvoll, aber auch zum Umgang mit eigenen und fremden Stereotypien. Wie in der Einleitung zu diesem Beitrag angesprochen wurde, sind Gespräche mit MigrantInnen nicht zwangsläufig „anders“.

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Britta Wendelstein/Johannes Schröder

17. Veränderung verbaler Kommunikation bei Alzheimer-Demenz: Zwischen Früherkennung und Ressourcenorientierung Abstract: Als häufigste Demenzform führt die Alzheimer-Demenz (AD) zu Störungen des deklarativen Gedächtnisses und anderer kognitiven Domänen wie der Sprache. Diese Defizite beschränken sich nicht auf die Wortfindung sondern erfassen im Verlauf fast alle Ebenen der verbalen Kommunikation und können in mutistische Endzustände münden. Zusätzlich wird die Kommunikation der Patienten durch psychopathologische Begleitsymptome, v. a. apathischer und depressiver Art, belastet. Erste eigene Befunde zeigen, dass die Sprachproduktion bei der AD schon in ihren klinischen Vorstufen – der leichten kognitiven Beeinträchtigung – beeinträchtigt wird. Aus diesen Defiziten ergeben sich besondere Kommunikationsbedingungen. Ziel im Umgang mit Demenzpatienten ist der weitgehende Erhalt von Selbständigkeit und Selbstbestimmung. Daher gilt es verbale Informationen in leicht verständlicher Form darzubieten und die Ressourcen der im Krankheitsverlauf länger erhaltenen nonverbalen Kommunikation verstärkt zu nutzen. Diese Forderung gilt auch für die Aufklärung der Patienten über die Demenzerkrankung und ihre Therapie. 1 Einleitung 2 Die Alzheimer-Demenz 3 Sprachabbau bei Alzheimer-Demenz 4 Erklärungsversuche zu sprachlichen Defiziten bei Alzheimer-Demenz 5 Auswirkungen auf die Kommunikation, Nutzen von Ressourcen 6 Fazit 7 Literatur

1 Einleitung Demenzen sind schwere Erkrankungen, die kaum einen Lebensbereich unbeeinträchtigt lassen. Ihre Prävalenz steigt mit zunehmendem Alter deutlich an; während von den unter 70-Jährigen lediglich 1,2 % betroffen ist, leiden von den Über-90-Jährigen mehr als ein Drittel (34,6 %) an demenziellen Erkrankungen (Bickel 2012). Demenzen können durch eine Reihe verschiedenartiger Erkrankungen verursacht werden, wobei etwa 2/3 aller Fälle auf die Alzheimer-Demenz (AD) zurückgehen. Der folgende Beitrag

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 Britta Wendelstein/Johannes Schröder

bezieht sich deshalb vorwiegend auf diese Erkrankung; andere demenzielle Erkrankungen werden nur erwähnt, wenn sich hieraus besondere Rückschlüsse ergeben. Die AD entwickelt sich zumeist schleichend aus ersten kognitiven Defiziten, die meist die Merkfähigkeit und die Umstellungsfähigkeit bei Situationen, die verschiedene Kompetenzen gleichzeitig erfordern, betreffen. Diese Anfangsstadien werden als leichte kognitive Beeinträchtigung (lkB) bezeichnet und können unter Rückgriff auf geeignete neurokognitive Testbatterien und Neuroimagingverfahren in der klinischen Praxis zuverlässig erkannt werden. Eine derartige diagnostische Abklärung ist entscheidend, um schon mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln behandelbare Demenzursachen zu erkennen bzw. präventive Maßnahmen, die wie körperliches und kognitives Training den Verlauf der lkB günstig beeinflussen, frühzeitig einleiten zu können. Eine manifeste AD ist definitionsgemäß dann gegeben, wenn kognitive Defizite und psychopathologische Symptome die Selbstständigkeit der Betroffenen im Alltag beeinträchtigen. Eine kurative Therapie der AD ist leider nicht bekannt; allerdings kann der Verlauf mit den verfügbaren Mitteln zumindest verlangsamt werden. In der Versorgung der Patienten spielt die Kommunikation eine wichtige Rolle. Einerseits müssen die Patienten in für sie verständlicher Weise über Diagnose und Therapie aufgeklärt werden, anderseits gilt es, die Patienten zur Teilnahme an präventiven Maßnahmen zu motivieren. Veränderungen der Kommunikation können die häusliche Situation erheblich belasten und in schwer zu bewältigende Konflikte münden. Auch für professionell Pflegende und die behandelnden Ärzte stellen die Kommunikationsdefizite der AD-Patienten eine Herausforderung dar, die nur mit grundlegendem Wissen um Sprachabbauphänomene gelöst werden kann. Im Folgenden werden zunächst typische Befunde bei der AD entlang ihrer Bedeutung für den Sprachabbau in kurzer Form dargestellt. In einem zweiten Teil werden typische Veränderungen der Sprache mit ihren möglichen Erklärungen diskutiert. Auf dieser Grundlage werden dann Auswirkungen und Konsequenzen für die Kommunikation mit AD-Patienten für Angehörige, Pflegende und Ärzte beschrieben.

2 Die Alzheimer-Demenz Achsensymptom einer AD sind deklarative Gedächtnisdefizite, die auch autobiographische Inhalte betreffen (Schröder/Pantel 2011). In der deutschen Modifikation der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI)/Bearb. von Bernd Graubner 2012) wird die AD wie folgt beschrieben:

Veränderung verbaler Kommunikation bei Alzheimer-Demenz 

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Die Alzheimer-Krankheit ist eine primär degenerative zerebrale Krankheit mit unbekannter Ätiologie und charakteristischen neuropathologischen und neurochemischen Merkmalen. Sie beginnt meist schleichend und entwickelt sich langsam aber stetig über einen Zeitraum von mehreren Jahren. […] Beginn ab dem 65. Lebensjahr, meist in den späten 70er Jahren oder danach, mit langsamer Progredienz und mit Gedächtnisstörungen als Hauptmerkmal.

Dabei handelt es sich nicht um eine landläufig benannte „Altersvergesslichkeit“ sondern um einen deutlichen Abbau kognitiver Fähigkeiten im Vergleich zum Ausgangsniveau, der neben dem deklarativen Gedächtnis auch andere Domänen beeinträchtigt. Nach dem DSM VI (Saß u. a. 2003), einem gängigen diagnostischen Manual für psychische Störungen, werden u. a. auch Sprachdefizite als Kriterium für die Demenzdiagnostik angelegt. Demnach liegt eine Demenz vor, wenn zu Gedächtniseinbußen mindestens noch eine weitere kognitive Störung aus den Bereichen Störung der Sprache, Apraxie, Agnosie oder Störung der Exekutivfunktionen vorhanden ist und die Betroffenen durch die kognitiven Defizite im Alltag deutlich eingeschränkt sind. Die drei herausragenden Symptome sind dabei sicherlich die Gedächtnisdefizite, die Störungen der Exekutivfunktionen und der Sprachabbau. Im Bereich des Gedächtnisses sind in Frühstadien vor allem Defizite des episodischen und autobiographischen Gedächtnisses und bei der Bildung neuer Gedächtnisinhalte zu beobachten. AD-Patienten haben oft Schwierigkeiten, sich Termine oder Verabredungen zu merken und verlegen häufig Gegenstände. Im Stadium einer lkB sind kognitive Defizite vorhanden, die jedoch noch nicht alltagseinschränkend sind. Die lkB kann als eine Vorstufe der AD gesehen werden, mit einer hohen Konversionsrate zur AD. Es gibt jedoch auch stabile Formen, wobei es bei diesen leichteren Beeinträchtigungen bleibt und nicht zu einer progredienten Verschlechterung kommt. Im weiteren Verlauf fällt auf, dass Erzählungen von AD-Patienten weniger detailreich werden und bei autobiographischen Erinnerungen statt konkreter Ereignisse oft Allgemeinplätze erzählt werden. Im späteren Krankheitsverlauf ist auch das Altgedächtnis betroffen, wobei nach dem sogenannten Ribot’schen Gradienten die zuletzt erworbenen Gedächtnisinhalte schwerer betroffen sind und lange zurückliegende Ereignisse länger erhalten bleiben (Schröder/Pantel 2011). Störungen der Exekutivfunktionen werden mit einer herabgesetzten Umstellungsfähigkeit vor allem in Situationen deutlich, in denen mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigt werden müssen und somit eine höhere kognitive Komplexität besteht. Beispiele aus dem Alltagsleben sind die Beantwortung von Anfragen Dritter bei Telefonaten oder Gespräche beim Autofahren. Diese Störungen lassen sich im Trail-MakingTest (Tombaugh 2004) schon bei lkB oder beginnender AD darstellen. Abbildung 1 zeigt den Trail-Making-Test eines Patienten mit lkB. In der A-Version sollen Zahlen in aufsteigender Reihenfolge verbunden werden, in der B-Version abwechselnd Buchstaben und Zahlen. In der B-Version, bei der Umstellungsfähigkeit gefordert ist, sind deutliche Einbrüche in Bearbeitungszeit und Fehleranzahl zu erkennen.

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Diplom-Betriebswirt mit lkB, 66 Jahre Trail-Making-Test A Zeit: 35 s

Trail-Making-Test B Zeit: 192 s

Abb. 1: Ergebnisse des Trail-Making-Tests eines Patienten mit lkB: Links die A-Version, in der Zahlen in aufsteigender Reihenfolge verbunden werden sollen; Rechts die B-Version, in der abwechselnd Zahlen und Buchstaben in aufsteigender Reihenfolge verbunden werden sollen. Patienten fällt es schwer, ständig von Zahlen auf Buchstaben umzustellen. Die Fehler sind in dieser Abbildung mit zwei kurzen parallelen Strichen markiert.

Sprachabbauphänomene sind im Rahmen einer AD weit verbreitet. Auch wenn Demenzen meist mit „Vergesslichkeit“ verbunden werden, sind im Alltag kommunikative Fähigkeiten von zentraler Bedeutung im Umgang mit den Betroffenen. Zudem verstärken sich die Sprachdefizite regelmäßig im Krankheitsverlauf. In diesem Artikel werden Sprachabbauphänomene, wie sie bei einer AD auftreten, anhand des Forschungsstands dargestellt und mit Beispielen aus der Interdisziplinären Längsschnittstudie des Erwachsenenalters (ILSE) (siehe auch: Wendelstein/Sattler 2011) und aus dem klinischen Alltag illustriert.

3 Sprachabbau bei Alzheimer-Demenz Sprachliche Defizite betreffen fast alle Menschen mit AD bereits in frühen Stadien der Erkrankung. Für die Klassifizierung von Demenzerkrankungen und die Diagnostik spielen sie daher eine wichtige Rolle. Selbst in frühen Stadien einer AD sind nahezu alle linguistischen Ebenen von der Wortebene über die Syntax bis hin zu Textstrukturierung, Kohärenz und pragmatischen Fähigkeiten von Sprachabbauphänomenen betroffen. Im Folgenden wird auf die meistbeforschten und auffälligsten Merkmale des Sprachabbaus bei AD eingegangen – Wortfindungsstörungen und herabgesetzte Wortflüssigkeit – die auch in der

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gängigen Demenzdiagnostik Anwendung finden. Diese werden für ein umfassendes Bild des Sprachabbaus bei AD durch die Beschreibung weitergehender Defizite auf Satz- und Textebene sowie die Sprachdifferenzen im Vorfeld der AD ergänzt und um Aspekte nonverbaler Kommunikation erweitert.

3.1 Klinisches Bild und Sprache in der Diagnostik Das wohl auffälligste Merkmal von Sprachabbauphänomenen bei AD sind Wortfindungsstörungen, welche bereits früh im Krankheitsverlauf auftreten. Betroffene beschreiben Wortfindungsstörungen als sehr belastend, wie der folgende Bericht eines 68-jährigen ILSE-Probanden verdeutlicht (Hinweise zur Transkription: orthographische Transkription, keine Interpunktion, unverständliche Passagen sind mit „xxx“ gekennzeichnet, Hesitationssignal „äh“ in eckigen Klammern, Pausen in runden Klammern): es war heute morgen habe ich xxx gesprochen manchmal [äh] wenn wenn man so wenn man so einen ausdruck sucht und dann ist er nicht da und da hatte ich mal ein gespräch mit meiner frau und […] dann zack bumm dann das ist wie ein sperre ganz unangenehm

Wortfindungsstörungen und Störungen der Wortflüssigkeit werden in der Diagnostik der AD eingesetzt. In den gängigsten neuropsychologischen Testbatterien zu Demenzen (z. B. CERADplus) werden Wortfindungsstörungen mit Hilfe von Benenntests und der Bereich der Wortflüssigkeit mit Tests zu semantischer und phonematischer Wortflüssigkeit erhoben. In dem in der CERADplus-Batterie (Morris u. a. 1989) verwendeten Boston Naming Test, bei dem schwarz-weiß Strichzeichnungen vorgelegt werden und benannt werden sollen, zeigen sich bereits bei leichter AD Standardabweichungen zwischen -1 und -2 im Vergleich zu gesunden Probanden. Beim Untertest verbale Flüssigkeit, bei dem in einer Minute möglichst viele Wörter aus der Kategorie Tiere genannt werden sollen, unterscheiden sich bereits Probanden mit lkB signifikant von gesunden Probanden. (Schröder/Pantel 2011) Die obengenannten Phänomene zu Wortfindung und Wortflüssigkeit schlagen sich auch in gesprochener Sprache in der alltäglichen Kommunikation nieder (Forbes-McKay/Venneri 2005). Das Sprechen von Demenzpatienten ist ab einem moderaten AD-Schweregrad gekennzeichnet durch Wortfindungsstörungen und Verlangsamung. Im Frühstadium sind diese Defizite jedoch häufig nicht augenfällig, was durch ein hohes Kompensationsvermögen der Betroffenen erklärbar ist. AD-Patienten behelfen sich mit Überbegriffen, Umschreibungen (Hier u. a. 1985) und Floskeln, die Wortfindungsstörungen überdecken können.

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3.2 Sprachabbauphänomene bei leichter AD Allein durch Störungen der Wortfindung und Wortflüssigkeit lässt sich das Erscheinungsbild des progressiven Sprachabbaus bei AD jedoch nicht hinreichend beschreiben. In der Literatur finden sich Hinweise zu Defiziten in vielen linguistischen Bereichen von der lexikalischen Ebene über die syntaktische bis zur Textebene in Sprachproduktion und Sprachverständnis (siehe Abbildung 2). Dies betrifft nicht nur mündliche Sprachproduktion und -rezeption sondern in besonderem Maße auch die schriftliche Kommunikation, die nach Bayles/Tomoeda (2007) sogar noch früher und stärker betroffen wird. Wegen ihrer höheren Alltagsrelevanz wird im Folgenden jedoch die gesprochene Kommunikation betrachtet.

Lexikalische Ebene

Syntaktische Ebene

Textebene/ Pragmatik

Benennen Verbale Flüssigkeit Lexikalische Reichhaltigkeit Komplexe Syntax Pronomen Konjunktionen Pronominalisierung Mehrdeutigkeiten/bildhaftes Sprechen Kohärenz

Abb. 2: Übersicht der durch den Sprachabbau in Produktion und Verständnis betroffenen Ebenen bei leichter AD

Zu den obengenannten Defiziten auf lexikalischer Ebene lassen sich Befunde zur Reduktion der Reichhaltigkeit des Wortschatzes in verbalen Äußerungen von Patienten ergänzen (Bucks u. a. 2000). Auch in der Rezeption werden Wortschatzreduktionen beobachtet (Bayles/Tomoeda 2007; Hier u. a. 1985). Hier sind vor allem niederfrequente Wörter betroffen. Durch Kompensationsmechanismen wie das häufigere Verwenden von Überbegriffen und Umschreibungen oder auch die in der Literatur häufig benannten empty words (z. B. Hier u. a. 1985) – semantisch relativ leere Wörter wie „Ding“, „Teil“ oder auch Pronomen – kann der Eindruck einer flüssigen, relativ ungestörten Sprachproduktion erhalten bleiben. Auch auf syntaktischer Ebene treten bei AD-Patienten anfangs subtile, im Verlauf immer deutlicher werdende Einschränkungen auf. So haben AD-Patienten spätestens in moderaten Stadien Schwierigkeiten beim Verstehen syntaktisch komplexer Sätze (Bickel u. a. 2000). In der Sprachproduktion zeigen sich schon in früheren Stadien der AD Unterschiede auf syntaktischer Ebene dahingehend, dass Sätze von AD-Patienten eher kürzer sind und weniger untergeordnete Nebensätze vorkommen (Croisile u. a.

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1996; Hier u. a. 1985). Diese Beobachtungen auf syntaktischer Ebene sind in Frühstadien jedoch weit weniger auffällig als die Sprachabbauphänome auf lexikalischer Ebene; Satzabbrüche treten gehäuft erst später im Krankheitsverlauf auf. Defizite in Produktion und Rezeption von Pronomen sind ein Befund, der ebenfalls bereits in frühen Stadien der AD auftritt. So haben Patienten Schwierigkeiten mit Texten, die viele Pronomen enthalten. Erleichtert wird das Verständnis dieser Texte, wenn Pronomen durch Vollformen ersetzt werden (Almor 2000), was für einen gesunden Leser/Hörer eher irritierend wirkt, da die Verwendung einer Vollform einen Wechsel in der Handlungskonstellation anzeigt, oder bei Ambiguität des Referenten auftritt. In der Sprachproduktion verwenden AD-Patienten im Vergleich zu Gesunden häufiger Pronomen (Almor 2000) und produzieren häufiger solche Pronomen, bei denen der Referent nicht eindeutig zuzuordnen ist (Ulatowska u. a. 1988; Wendelstein/Felder 2012). Folgendes Beispiel aus der Nacherzählung einer Bildergeschichte einer 81-jährigen Probandin mit moderater AD illustriert dies: […] und dann nimmt er [der Junge] (-) was hat er da in der hand was ist denn das was er da hat (-) die mütze ne die mütze und schlägt auf den hund ne will auf den hund oder was weiß ich ne will ihn verscheuchen mhm dann springt er auf den fenstersims ne und springt zum fenster raus ne (Probandin mit moderater AD)

Mit dem markierten „er“ ist der Hund gemeint, also hätte hier mit der Verwendung der Vollform der Wechsel in der Konstellation der Handlungsträger markiert werden müssen. So ist der Referent des Pronomens nicht eindeutig zu identifizieren. Ein weiteres Defizit auf Textebene bezieht sich auf das Verständnis mehrdeutiger Äußerungen und bildhafter Sprache (z. B. Sprichwörter oder Metaphern). So haben AD-Patienten Schwierigkeiten bei der Auflösung von Homonymen (Chenery u. a. 1998)  – Wörtern, die je nach Kontext zwei oder mehr Bedeutungen haben können (z. B. Bank als Sitzbank oder Geldinstitut). AD-Patienten fällt es schwerer, die jeweils zutreffende Bedeutung zu identifizieren. Im Bereich der bildhaften Sprache ist das Verstehen von Idiomen beeinträchtigt (Papagno 2001); hier gelingt es nicht, die bildhafte Bedeutung von der wörtlichen zu lösen. So neigen AD-Patienten dazu, bildlich gemeinte Äußerungen wörtlich zu verstehen. Insgesamt erscheinen Erzählungen von AD-Patienten häufig inhaltsarm und weniger detailreich. Autobiographische Gedächtnisinhalte werden reduziert wiedergegeben und es werden eher allgemeine Episoden erzählt als einzelne Ereignisse (Schröder/Pantel 2011). Wichtige Informationen fehlen oft; weniger wichtige Informationen werden dagegen häufiger verbalisiert (Forbes-McKay/Venneri 2005; Ulatowska u. a. 1988). Es entsteht der Eindruck einer unzusammenhängenden Sprache, die einen „roten Faden“ missen lässt. Hier u. a. (1985) sprechen bei AD-Patienten von einem „failure to use language to convey information“ (Hier u. a. 1985, 127) und nennen diese geringe inhaltliche Dichte in Zusammenhang mit der überhäufigen Verwendung von semantisch relativ leeren Wörtern empty speech. Dieser Eindruck

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wird teilweise noch verstärkt durch inadäquate  – oder durch mangelnde Fähigkeit der hörerorientierten Sprachproduktion von AD-Patienten inadäquat erscheinende – Antworten in Kommunikationssituationen.

3.3 Beeinträchtigung bereits im Vorfeld/bei lkB Wie bereits oben anhand der Ergebnisse der CERADplus-Batterie dargestellt, gibt es bereits vor der klinischen Manifestation einer Demenz – bei einer lkB – Veränderungen in der Sprache. Es stellt sich jedoch die Frage, ob bereits vor ersten kognitiven Beeinträchtigungen Unterschiede im Sprachgebrauch auftreten. Hinweise auf die Entwicklung der Sprache im Vorfeld demenzieller Erkrankungen können prospektive Langzeitstudien liefern. In der Nun-Study, einer Langzeitstudie, in der die Alternsverläufe von Nonnen als relativ homogene Probandengruppe untersucht wurden, wurden auch sprachliche Parameter erhoben. Befunde aus der Untersuchung der handschriftlichen Lebensläufe, die die Nonnen im jungen bis mittleren Erwachsenenalter verfasst haben, zeigen einen Zusammenhang von linguistischen Parametern und kognitiver Altersentwicklung bereits Jahrzehnte vor Stellung der Diagnose einer AD. Probandinnen mit einem niedrigeren Wert im inhaltlichen Maß „propositional content“ zeigten ein höheres Risiko, im fortgeschrittenen Alter an AD zu erkranken (Snowdon u. a. 1996). Erste eigene Befunde deuten ebenfalls auf einen Unterschied im Sprachgebrauch zwischen Menschen, die in einem 12-Jahres-Verlauf eine AD entwickeln und Menschen, die länger gesund bleiben. In gesprochener Sprache verwendeten Probanden, die später an AD erkrankten, bereits bis zu 12 Jahre zuvor mehr kürzere Sätze, als die gesunden Kontrollprobanden (Wendelstein/Sattler 2011). Auf lexikalischer Ebene ließ sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls eine Überproduktion von Pronomen bei späteren AD-Patienten feststellen. Diese Befunde können einerseits auf eine Langzeitenwicklung kognitiver Fähigkeiten hindeuten wie sie z. B. auf neurobiologischer Ebene nachgewiesen wurden; demnach lassen sich schon lange Zeit vor einer AD-Erkrankung neuropathologische Veränderungen im Gehirn nachweisen (Schröder/Pantel 2011, 41 ff.). Andererseits können hochkomplexe kognitive Fähigkeiten wie Sprache auch ein Hinweis auf die kognitive Reserve sein (s. Abschnitt 4).

3.4 Aspekte nonverbaler Kommunikation Die Kommunikationsfähigkeit von AD-Patienten verschlechtert sich im Verlauf auf allen Ebenen auch im Bereich der nonverbalen Kommunikation. Der Ausdruck von Gestik und Mimik kann z. B. durch apraktische Störungen beeinträchtigt werden. Jedoch scheinen gerade nonverbale Kommunikationsmittel auch eine große Res-

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source in der Verständigung mit AD-Patienten zu sein. Verbale Information kann durch Gestik unterstützt werden (Sachweh 2008, 120 ff.). Ein häufiger Hinweis ist, auf Stimmigkeit zwischen Gesagtem und dem Gesichtsausdruck sowie der Körperhaltung zu achten, so kann die verbale Information mit der nonverbalen in Einklang gebracht werden. Nonverbale Kommunikationsfähigkeit ist im Verlauf tendenziell weniger stark und später beeinträchtigt als die verbale. Eine weitere wichtige Ressource scheint die emotionale Ebene/Beziehungsebene zu sein, auf der leicht bis mittelschwer beeinträchtigte Demenzerkrankte signifikant besser als verbal-inhaltlich kommunizieren können (Knebel u. a. in Vorb.). Zusätzlich erschweren jedoch auch psychopathologische Defizite, wie apathische und depressive Symptome die Kommunikation mit AD-Patienten. So kann zum einen geringerer Antrieb ein Hindernis sein und zum anderen können die reduzierten mimischen und gestischen Signale der Erkrankten schnell übersehen oder falsch gedeutet werden.

4 Erklärungsversuche zu sprachlichen Defiziten bei Alzheimer-Demenz Zu den Sprachabbauphänomenen bei AD werden verschiedene Erklärungsansätze herangezogen. Weit verbreitet sind die Diskussionen um einen Zusammenbruch des semantischen Systems, Störungen beim lexikalischen Zugriff oder Abnahme von Arbeitsgedächtnisleistungen und Exekutivfunktionen. Als Erklärung der Wortfindungsstörungen werden häufig Störungen beim lexikalischen Zugriff genannt. Lexikalischer Zugriff und die daraus resultierenden Wortfindungsstörungen werden auch als eine mögliche Ursache für die Überproduktion von Pronomen gesehen (Hier u. a. 1985). Da die Sprachabbauphänomene bei AD jedoch weit über die lexikalische Ebene hinausgehen, müssen weiterreichende Erklärungsansätze herangezogen werden. Bei der Vorstellung von Störungen im Bereich des semantischen Systems wird von einer Ausdünnung semantischer Merkmale ausgegangen. Dies führe zur Verwendung von Überbegriffen oder allgemeineren Begriffen (z. B. Ding, Sache usw.). Merkmale, die spezifisch für ein Konzept stehen, gehen danach zuerst verloren, wobei Merkmale, die auf mehrere Konzepte einer Kategorie zutreffen, länger erhalten bleiben (Salmon/Butters Chan 1999). Daher wäre ein Überbegriff wie der Kategorienname für AD-Patienten leichter abrufbar. Derartige semantische Störungen sind plausibel, jedoch nicht hinreichend geeignet für die Erklärung von Sprachdefiziten bei AD. Die häufig auftretenden Wortfindungsstörungen wären mit einem ausgedünnten semantischen Netz und dem Rückgriff auf Oberbegriffe zwar zu erklären; die Steigerung von Benennleistungen durch Anreicherung des Materials (z. B. Fotos oder Realien anstatt Schwarz-Weiß Strichzeichnungen) lassen sich jedoch durch ausgedünnte oder zer-

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störte semantische Netze schwer erklären (Schecker 2010). Auch bei der Erklärung der Schwierigkeiten bei Rezeption und adäquater Produktion von Pronomen stößt dieser Erklärungsansatz an seine Grenzen. Als zentrale kognitive Fähigkeiten für die Sprachverarbeitung sind Arbeitsgedächtnisleistungen und vor allem Exekutivfunktionen zu nennen. Hierbei sind nicht nur Arbeitsgedächtnisleistungen gemeint wie etwa das Aufrechterhalten einer begonnenen syntaktischen Konstruktion bis zu ihrer Fertigstellung sondern auch darüberhinausgehende Leistungen, die den gesamten Kommunikationsprozess betreffen wie Planungs- und Umstellungsfähigkeiten, die in den Bereich der Exekutivfunktionen fallen. Während der Sprachproduktion und -rezeption ist eine ständige Aufrechterhaltung der Repräsentation vom Informationsstand des Hörers sowie des Sprechers nötig. Es muss abgeglichen werden, was bereits gesagt wurde, was aus dem Kontextoder Weltwissen ableitbar ist und was noch gesagt werden muss. Kurz: der Sprecher muss ständig über das Maß der Explizitheit seiner Äußerungen entscheiden. Das Ergebnis der oben aufgeführten kognitiven Defizite ist somit auch ein pragmatisches Defizit (Schecker 2010). D. h., einem AD-Patienten gelingt es nicht, seine Äußerungen in adäquater Art und Weise auf den Hörer abzustimmen und diesem genügend Informationen zur Entschlüsselung seiner Äußerungen zu geben – so kommt es zum Eindruck einer inhaltsleeren und zusammenhanglosen Sprache von AD-Patienten. Schecker (2010) führt die Defizite der Exekutivfunktionen auf die Verlangsamung kognitiver Prozesse zurück, was zur Folge hat, dass bestimmte Prozesse nicht mehr innerhalb der vorhandenen Gedächtnisspanne abgeschlossen werden können. Als „Folgedefizite“ nennt er die tatsächliche Rückbildung nicht mehr genutzter Vernetzungen und auch eine Überforderung der AD-Patienten durch ständige Kompensationsleistungen. Im Hinblick auf Befunde zu Unterschieden im Sprachgebrauch im Vorfeld einer AD kann die Theorie der kognitiven Reserve (Stern 2002; Whalley u. a. 2004) Erklärungsansätze bieten. Dieser Theorie liegt die Beobachtung zugrunde, dass Menschen mit einem gleichen Grad an Hirnatrophie in unterschiedlichem Ausmaß beeinträchtigt sind. Verschiedene Faktoren die eine solche Kompensationsfähigkeit beeinflussen, werden unter dem Begriff der kognitiven Reserve zusammengefasst. Dabei sind sowohl gegebene (z. B. Genetik) als auch früh erworbene (z. B. Schulbildung) sowie den späteren Lebensstil betreffende Faktoren (z. B. Ernährung und Bewegung) relevant für das Ausmaß der kognitiven Reserve (Sattler u. a. 2012). Das Maß der kognitiven Reserve hat Einfluss darauf, inwieweit ein AD-Patient den Zellabbau im Gehirn kompensieren kann. In diesem Zusammenhang wird die Fähigkeit zur Aktivierung alternativer Netzwerke als Ressource bei Menschen mit hoher kognitiver Reserve diskutiert. Untersuchungen von Multilingualen unterstreichen die Bedeutung der Sprache als wichtigen Teil der kognitiven Reserve: Menschen, die regelmäßig mehr als eine Sprache sprechen, erkranken später an demenziellen Erkrankungen als Monolinguale (Bialystok/Craik/Freedman 2007). Sprachgebrauch kann einerseits als trainierende kognitive Leistung gesehen werden. Andererseits könnten Unterschiede

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im Sprachgebrauch auf eine geringere Ausprägung der kognitiven Reserve oder auf eine Frühsymptomatik – noch ohne klinische Auffälligkeiten – hindeuten.

5 Auswirkungen auf die Kommunikation, Nutzen von Ressourcen Die oben beschriebenen Phänomene des Sprachabbaus bei AD haben nicht nur diagnostische und prognostische Relevanz; gerade die Auswirkungen auf die alltägliche Kommunikation und somit auch die Lebensqualität der Betroffenen sind nicht zu unterschätzen. Im Folgenden werden auch andere demenzielle Erkrankungen einbezogen, da die Konsequenzen für die Kommunikation vergleichbar sind. Kommunikationsschwierigkeiten führen häufig zu belastenden Situationen im Umgang zwischen Demenzpatienten und Angehörigen sowie in Pflegesituationen. Ein weiterer wichtiger Aspekt betrifft auch Gespräche zwischen Arzt und dem Patienten mit AD gerade bei Aufklärungsgesprächen und der Einwilligungsfähigkeit zu Therapien.

5.1 Kommunikation mit Angehörigen und Pflegenden Die oben beschriebenen Sprachabbauphänomene schlagen sich in der alltäglichen Kommunikation von Demenzerkrankten mit ihrem Umfeld vor allem mit fortschreitendem Schweregrad deutlich nieder. Nicht nur die sich entwickelnden und immer deutlicher zutage tretenden kognitiven Defizite, sondern vor allem auch die Kommunikationsschwierigkeiten führen oft dazu, dass sich Betroffene immer weniger verstanden fühlen, bzw. Angehörige den Eindruck erhalten, der Demenzerkrankte „tue einfach nicht, was man ihm sage“. Durch das Nicht-Wissen um Art und Hintergründe von Sprach- und Kommunikationsdefiziten kommt es zwischen Patienten und pflegenden Angehörigen oder auch professionell Pflegenden häufig zu Missverständnissen und Konfliktsituationen. Diese können die Lebensqualität der Betroffenen und auch der Pflegenden erheblich negativ beeinflussen. Hier herrscht für Pflegende und auch nicht-pflegende Kontaktpersonen ein hoher Informationsbedarf hinsichtlich der Sprach- und Kommunikationsdefizite und der vorhandenen Ressourcen, die zu einer erfolgreichen Kommunikationssituation beitragen können. Für den Angehörigen oder Pflegenden stellen sich im Alltag ständig zwei Herausforderungen: zum einen den Menschen mit Demenz, so wie er Informationen darbietet, zu „verstehen“ (auf der verbal-inhaltlichen Ebene oder auch „nur“ auf emotionaler Beziehungsebene) und die Gesprächssituation dementsprechend zu gestalten; zum anderen die eigenen Äußerungen so zu wählen, dass dem Patienten das Verstehen erleichtert wird.

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Haberstroh/Pantel (2011) nennen neben den Beeinträchtigungen und in späten Stadien oft reduzierten verbalen-inhaltlichen Äußerungen auch das Verhalten des Demenzkranken, Singen oder stetig wiederkehrende Fragen als Kommunikationsformen, die objektiv betrachtet auf verbal-inhaltlicher Ebene als gescheitert bewertet werden könnten, jedoch deutlich das Bedürfnis nach Kommunikation zeigen. An dieser Stelle zeigt sich, wie wichtig die Beziehungsebene in der alltäglichen Kommunikation für Demenzerkrankte ist. Die Arbeitsgruppe hat deshalb ein manualisiertes Training für Angehörige und professionell Pflegende vorgelegt, mit dem Ziel, ressourcenorientiert individuelle Kommunikationsstrategien zu entwickeln. Es wird z. B. eine gewisse Gelassenheit bezüglich der inhaltlichen Korrektheit der Äußerung eines Demenzkranken empfohlen, anstatt zu korrigieren und so den Gesprächsfluss zu unterbrechen (Haberstroh/Pantel 2011, 53). Eine zugewandte Körperhaltung, das Sprechen über bekannte Themen und auch einfühlsame Unterstützung bei verbalen Äußerungen können Demenzerkrankten die Kommunikation erleichtern (Haberstroh/Pantel 2011, 51 ff.). Demenzerkrankte profitieren von Explizitheit (vgl. das Verstehen von Pronomen vs. Vollformen siehe oben) und eindeutigen Äußerungen. So empfehlen Haberstroh/Pantel (2011) inhaltliche Mehrdeutigkeiten zu vermeiden, Gesagtes im gleichen Wortlaut zu wiederholen und auch nur einen prägnanten Inhalt pro Äußerungseinheit zu formulieren. Nonverbale Aspekte wie Blickkontakt, Berührungen, Sprechen in ruhigem Tonfall können effektiv als unterstützende Ressource eingesetzt werden (Haberstroh/Pantel 2011, S. 62 ff.). Zentral ist dabei immer eine wertschätzende Kommunikationsweise. Ein Ansprechen der Betroffenen in der ersten Person Plural (das sogenannte Pflege-wir) ist wie andere degradierende Kommunikationsweisen („elder speech“ oder auch das Sprechen über den Demenzkranken anstatt mit ihm) unangemessen.

5.2 Kommunikation zwischen Ärzten und Demenzerkrankten Die Kommunikation mit Ärzten stellt einen wichtigen Faktor bei der Kommunikation mit demenzerkrankten Menschen dar. In Gesprächen müssen Ärzte ihren Patienten und oft auch deren Angehörigen Informationen über Wesen, Verlauf und Perspektive der Erkrankung vermitteln. Auch wenn es das Recht des Menschen auf Nicht-wissenWollen gibt, gilt die Aufklärung doch als Regelfall und wird von Gedächtnisambulanzen deutlich empfohlen. Lämmler/Stechl/Steinhagen-Thiessen (2007) beschreiben die Patienten- und Angehörigenaufklärung als Prozess, bei dem auf individuelle Gegebenheiten eingegangen und schrittweise und behutsam vorgegangen werden muss. Hierbei solle die Wortwahl an die Patienten mit kognitiven Defiziten angepasst werden. Es wird als hilfreich beschrieben, das Gespräch schriftlich zu fixieren und dem Patienten zugänglich zu machen. Ein Aufklärungsgespräch kann als eine Gratwanderung zwischen klarer und direkter Sprache und behutsamem Vorgehen gesehen werden. Es muss darauf geachtet werden, den Patienten nicht zu beschämen

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oder depressive Gedanken, die in der Anfangsphase einer AD häufig auftreten, zu verstärken (Lämmler/Stechl/Steinhagen-Thiessen 2007). Ebenfalls eine hohe Relevanz erfährt die verbale Vermittlung bei Einwilligung in Diagnostik und ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, ist die Aufklärung zu medikamentösen Therapiemöglichkeiten, da diese selbst bei nicht über ihre Erkrankung aufgeklärten Patienten stattfinden muss. Die Frage nach der Einwilligungsfähigkeit spielt hierbei stets eine tragende Rolle. Vor allem beim sogenannten Off-Label-Use von Medikamenten besteht besondere Aufklärungspflicht. Einem kognitiv eingeschränkten Menschen müssen in adäquater Weise Konsequenzen von Diagnostik und Behandlungen so unterbreitet werden, dass dieser die Bedeutung der Maßnahmen oder auch ihre Unterlassung in vollem Umfang erfassen kann. Hierbei steht der Arzt vor der Herausforderung, komplexe Sachverhalte einfach und verständlich zu erklären, ohne wichtige Einzelheiten auszulassen und ohne den Patienten zu überfordern. Kurz u. a. (2004) nennen sich aus der Besonderheit der Kommunikationssituation mit Demenzerkrankten ergebende Konsequenzen für eine Gesprächsgestaltung zwischen Arzt und Patienten. Besonders bei AD-Patienten, die oft stark verlangsamt und auch leicht ablenkbar sind, sei eine ruhige Atmosphäre ohne Ablenkung und Zeitdruck von großer Wichtigkeit. Es wird empfohlen, Gesagtes mit den gleichen Wörtern zu wiederholen, wichtige Wörter besonders zu betonen und Fachtermini ebenso wie metaphorische oder mehrdeutige Ausdrücke zu vermeiden (Haberstroh/ Pantel 2011; Kurz u. a. 2004). Um der Verlangsamung Demenzerkrankter Rechnung zu tragen, sollte deutlich und langsam gesprochen werden, ohne dies jedoch zu übertreiben. Sätze sollten möglichst kurz und nicht komplex gehalten werden, d. h., pro Äußerungseinheit sollte möglichst nur ein prägnanter Inhalt formuliert werden. Der Einsatz von nonverbalen Kommunikationsmitteln wie Blickkontakt, Übereinstimmung des Gesprächsinhalts mit Mimik und Gestik, Körperkontakt (Händedruck), kann das Verstehen für Demenzpatienten deutlich erleichtern, da nonverbale Kommunikationssignale auch bei schwerer Beeinträchtigten häufig noch gut erhalten sind. (Haberstroh/Pantel 2011; Kurz u. a. 2004; Sachweh 2008).

6 Fazit Kommunikation ist ein wichtiger Faktor in der Versorgung demenziell erkrankter Menschen. Das Wissen um Sprachabbauphänomene ist Grundlage für das erfolgreiche Führen von Gesprächen mit Betroffenen. Für behandelnde Ärzte kann dieses Wissen helfen, der Informations- und Aufklärungspflicht nachzukommen. Pflegende und Angehörige können so die Kommunikation mit dem Demenzerkrankten verbessern, um Konfliktsituationen und daraus entstehende erhebliche Belastungen zu vermeiden. Zum Transfer der wissenschaftlichen Grundlagen in die Praxis existieren bereits einige Ratgeber und eine geringe Zahl von Trainingsangeboten zur

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Kommunikation mit dementiell erkrankten Menschen. Inhaltlich orientieren sich die Ratgeber und Trainings an der Nutzung von Ressourcen Demenzerkrankter und der daran angepassten Darbietung von verbaler und nonverbaler Information, wobei eine empathisch zugewandte und wertschätzende Haltung als Grundregel gesehen werden kann. In der alltäglichen Praxis- und Pflegerealität herrscht jedoch ein großer Informationsbedarf bezüglich Sprachabbauphänomenen bei (Alzheimer-) Demenz und deren Konsequenzen für die Kommunikation mit demenzerkrankten Menschen. Es gilt das Angebot vorhandener Trainings zu nutzen und zu erweitern. Diese Erkenntnisse sollten in die Ausbildung von Fachärzten wie Allgemeinmedizinern einfließen und in Kommunikationstrainings berücksichtigt werden. Das Wissen über Sprachabbauphänomene kann also zum einen effektiv zur Diagnostik und Früherkennung von Demenzen eingesetzt werden, da Sprache selbst – im weiteren Sinne verbale Kommunikation in Gesprächssituationen als hochkomplexe kognitive Leistung – Rückschlüsse auf kognitive Fähigkeiten liefern kann und zudem auch in nicht-medikamentösen Therapieansätzen genutzt und geübt werden kann. Zum anderen sind Sprachabbauphänomene ein wichtiger Faktor im alltäglichen Leben demenzerkrankter Menschen. Das Ziel, das dabei stets im Hintergrund steht, ist es, die Selbstbestimmung und Selbständigkeit von Menschen mit Demenz möglichst lange zu erhalten. Eine adäquate und angepasste Kommunikation kann helfen, die noch vorhandenen Ressourcen zu stützen und Entscheidungs- und Einwilligungsfähigkeiten noch länger zu erhalten.

Dank Ein herzlicher Dank gilt dem Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg für die finanzielle Unterstützung und strukturelle Einbettung in das Projekt „Perspectives of Ageing in the Process of Social and Cultural Change“. Weiterer Dank gilt dem Neurolinguistischen Labor Freiburg und dem Zentrum für Geriatrie und Gerontologie Freiburg (ZGGF) für Unterstützung und Hilfe bei der Rekrutierung der Patientinnen für die Studie zu Pronomen. Diese Publikation basiert z. T. auf Daten der „Interdisziplinären Längsschnittstudie des Erwachsenenalters“ (ILSE), die aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (AZ: 301-1720-295/2 und 301-6084/035) und der Dietmar-Hopp-Stiftung gefördert wird. Wir danken allen Projektbeteiligten für ihren Beitrag.

Veränderung verbaler Kommunikation bei Alzheimer-Demenz 

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Marlene Sator/Jana Jünger

18. Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Ausbildung Abstract: Vor dem Hintergrund der empirischen Evidenz zur Relevanz von gelungener Arzt-Patienten-Kommunikation sowie zu deren Lehr- und Lernbarkeit und der veränderten Rahmenbedingungen (Lernzielkataloge und gesetzliche Verankerung) wird der Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Ausbildung auch im deutschsprachigen Raum ein immer größerer Stellenwert eingeräumt. Dieser Artikel beleuchtet Lehre und Prüfung von Kommunikation im Rahmen der medizinischen Ausbildung und zeigt aktuelle Entwicklungen wie den Ausbau der Kommunikationslehre hin zu integrativen, interdisziplinären, longitudinalen Kommunikationscurricula auf. Am Beispiel der Medizinischen Fakultät Heidelberg wird gezeigt, wie ein solches Curriculum in das Gesamtcurriculum integriert ist, wie konkrete Unterrichtseinheiten aussehen und wie damit Lernziele zum Bereich Kommunikation abgedeckt werden. Abschließend wird ein Projekt zur Unterstützung der medizinischen Fakultäten bei ihrer Aufgabe der Implementierung solcher Kommunikationscurricula vorgestellt, und es werden beispielhaft einige Desiderate aus linguistischer Sicht formuliert und daraus folgende Einsatzgebiete für die Linguistik dargestellt. 1 Einleitung 2 Arzt-Patienten-Kommunikation in der Lehre 3 Fazit und Ausblick 4 Literatur

1 Einleitung 1.1 Evidenz zur Arzt-Patienten-Kommunikation Die Relevanz gelungener Arzt-Patienten-Kommunikation ist inzwischen vielfach belegt und gut dokumentiert: Eine gelungene patientenzentrierte Kommunikation zwischen ÄrztInnen und PatientInnen kann die Patientenzufriedenheit (Venetis u. a. 2009), das Gesundheitsverhalten wie beispielsweise die Kooperationsbereitschaft (Compliance) (Kerse 2004), die Anzahl der Krankenhausaufnahmen und Notfallaufnahmen von PatientInnen (Clark u. a. 2000) sowie die Arztwahl durch PatientInnen (Vedsted/Heje 2008) und schließlich den Gesundheitszustand von PatientInnen (Brown u. a. 2001, Alamo/

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 Marlene Sator/Jana Jünger

Moral/Pérula de Torres 2002, Chassany u. a. 2006, del Canale u. a. 2012) nachweislich positiv beeinflussen. Fehlende patientenzentrierte Kommunikation, Kommunikationsstörungen und -defizite im Arzt-Patienten-Gespräch können hingegen zu einer Reihe von unerwünschten Effekten führen, welche den Therapieerfolg (Fehlbehandlungen: Chen u. a. 2008), die Arzt-Patienten-Beziehung (Klagen gegen den Arzt: Tamblyn u. a. 2007), aber auch die ärztliche Gesundheit (emotionale Belastung und Burnout bei Ärzten: Graham/Potts/Ramirez 2002, Travado u. a. 2012) nachhaltig beeinflussen. Dass Kommunikation wirksam gelehrt werden kann, zeigen Meta-Studien zur Bewertung der Effekte von Interventionen für Gesundheitspersonal: Positive Effekte von Kommunikationstrainings auf Arzt-Patient-Gespräche zeigen sich v. a. hinsichtlich der Klärung von Patientenanliegen, der Kommunikation von Behandlungsoptionen, ärztlicher Empathie sowie der wahrgenommenen ärztlichen Aufmerksamkeit Dwamena u. a. 2012). Studien zum Einfluss von Kommunikationscurricula auf die kommunikativen Fertigkeiten von Studierenden konnten die Wirksamkeit von Kommunikationstrainings in der medizinischen Ausbildung nachweisen (Yedidia u. a. 2003, Jünger u. a. 2005). Auch in der Weiterbildung erwiesen sich Kommunikationstrainings als wirksam (Fallowfield u. a. 2002, Jünger 2013, Bürmann u. a. i. Vorb., Moore/Wilkinson/Mercado 2004). Bislang wurde der Schulung kommunikativer Kompetenzen im Medizinstudium jedoch nur ein geringer Stellenwert eingeräumt: Viele Medizinstudenten geben an, im Laufe ihrer Ausbildung nie direkt bei einer Anamneseerhebung beobachtet worden zu sein (Howley/Wilson 2004). Nicht nur die unzureichende Vermittlung dieser Fertigkeiten, auch der verspätete Zeitpunkt nach Übertritt in den klinischen Studienabschnitt sowie fehlende Kontinuität widersprechen lerntheoretischen Konzepten, denen zufolge unsystematisches und unreflektiertes Lernen die Entstehung fundamentaler Attributionsfehler und festgefahrener Verhaltensmuster begünstigt (Amir 1994, Ross 1977).

1.2 Rahmenbedingungen In den letzten Jahren haben die empirischen Befunde zur Bedeutung sowie zur Lehr- und Lernbarkeit gelungener Arzt-Patienten-Kommunikation jedoch dazu beigetragen, dass eine mehr an Patientin und Patient orientierte Kommunikation in der Aus- und Weiterbildung von Studierenden und ÄrztInnen eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Dies zeigt sich u. a. an der Reformierung der Curricula der medizinischen Ausbildungsstätten (vgl. hierzu z. B. Silverman/Kurtz/Draper 2004, Jünger/Köllner 2003, Brown/Bylund 2008) und an der Entwicklung und Evaluation neuer Lehr- und Prüfungsmethoden zur Förderung der Arzt-Patienten-Kommunikation, insbesondere auch unter Einbezug standardisierter PatientInnen (Nikendei u. a. 2003, Nikendei u. a. 2005a, Nikendei u. a. 2005b, Nikendei/Jünger 2006, Nikendei u. a. 2007).

Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Ausbildung  

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Lernzielkataloge als Referenzrahmen: In Deutschland wurde nach Beauftragung durch den Medizinischen Fakultätentag (MFT) 2009 die Projektgruppe „Nationaler Kompetenzbasierter Lernzielkatalog Medizin“ (NKLM) gebildet (Hahn/Fischer 2009). Ähnlich dem Schweizer Lernzielkatalog (Bürgi u. a. 2008) oder dem der Niederlande (Laan/Leunissen/van Herwaarden 2009) soll sie einen konsentierten Qualifikationsrahmen für das Medizinstudium in Deutschland schaffen. Über die Rolle des Arztes als Medizinischer Experte hinaus werden in Anlehnung an das CanMEDS-Rollenkonzept (Frank 2005, Frank/Danoff 2007) die Lernziele hinsichtlich der im ärztlichen Berufsalltag zu erfüllenden Aufgabenfelder erweitert. Dazu zählen auch die Lernziele für das Aufgabenfeld „Kommunikation“, die in zwei eigenen Arbeitspaketen erarbeitet wurden (Jünger u. a. eingereicht). Darüber hinaus werden im NKLM „Kompetenzen“ in Abgrenzung zu „isoliertem“ theoretischen Wissen hervorgehoben. Kommunikative Kompetenzen sind erst vorhanden, wenn diese neben dem Wissen über Kommunikationsstrategien im Arbeitsalltag mit PatientInnen auch erfolgreich eingesetzt werden. Gesetzliche Verankerung: Die vom Bundesministerium für Gesundheit vorgelegte und am 11.05.2012 vom Bundesrat verabschiedete Erste Verordnung zur Änderung der Approbationsordnung für Ärzte (ÄAppO), aufgrund der die ärztliche Gesprächsführung ausdrücklich als Gegenstand der ärztlichen Ausbildung und Inhalt der abschließenden Staatsprüfung in die Approbationsordnung aufgenommen wurde, ist eine logische Konsequenz dieser Entwicklungen und der empirischen Befundlage (BR-Drs. 238/12 vom 11.05.2012).

2 Arzt-Patienten-Kommunikation in der Lehre 2.1 Von der Insellösung zum integrierten, interdisziplinären und longitudinalen Kommunikationscurriculum Die Fakultäten stehen durch diese Entwicklungen aber auch vor einer neuen Herausforderung: der Integration der kommunikativen Lernziele und Kompetenzen in die Curricula und die konkrete Umsetzung in Lehre und Prüfungen (Silverman 2009). Dabei ist es insbesondere wichtig, dass kommunikative Kompetenzen – zusammen mit klinischen Kompetenzen – in den verschiedenen vorklinischen und klinischen Fächern – auf jeweils verschiedenen Kompetenzlevel (Faktenwissen, Handlungs- und Begründungswissen, Handlungskompetenz: unter Aufsicht selber tun bzw. selbstständig tun können, vgl. Tiefendimension im NKLM) – und im Studienverlauf um immer neue Aspekte erweitert (Lernspirale),

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 Marlene Sator/Jana Jünger

d. h., im Rahmen eines integrierten, interdisziplinären und longitudinalen Kommunikationscurriculums (van Dalen u. a. 2002, Bachmann u. a. 2009, Mortsiefer u. a. 2012) gelehrt werden. Während es international bereits an immer mehr Standorten derartige Curricula gibt (z. B. van Dalen u. a. 2002), existierten an den deutschen medizinischen Fakultäten bislang zumeist lediglich Insellösungen, bei denen Kommunikation weder integriert noch longitudinal in Form einzelner Unterrichtseinheiten in ausgewählten Fächern gelehrt wurde. Der Kommunikationsunterricht war dabei kaum curricular verankert. In jüngerer Zeit gibt es jedoch auch im deutschsprachigen Raum vermehrt Bestrebungen, den Kommunikationsunterricht nicht nur als Insellösung zu gestalten, sondern als integriertes, interdisziplinäres und longitudinales Kommunikationscurriculum zu implementieren (Kiessling/Langewitz 2013, Mitzkat u. a. 2006, Arends u. a. 2012, Frischenschlager/Hladschik-Kermer (Hg.) 2013: Kap. 5). Für die effektive Umsetzung einer guten Kommunikationslehre ist neben dem Studierendenunterricht die medizindidaktische und kommunikativ-fachliche Qualifizierung der Lehrenden eine zentrale Voraussetzung: So gilt es, studentische Tutoren und Dozenten, die in der Lehre ärztliche Kommunikation unterrichten, in konkreten Gesprächstechniken, Modellen zur Arzt-Patienten-Kommunikation sowie der Vermittlung interaktiver Lehrmethoden zu schulen bzw. fortzubilden.

2.2 Lehre und Prüfung kommunikativer Kompetenzen am Beispiel der Medizinischen Fakultät Heidelberg Am Beispiel Heidelberg soll im Folgenden dargestellt werden, wie Arzt-PatientenKommunikation in die medizinische Ausbildung integriert ist. An der Medizinischen Fakultät Heidelberg wurde 2001 im Rahmen des reformierten Curriculums HEICUMED gezielt mit der nachhaltigen Förderung kommunikativer und klinischer Kompetenzen durch Implementierung eines interdisziplinären longitudinalen Curriculums „Kommunikation und Interaktion“ begonnen. Nach und nach wurden vom 1. Fachsemester bis zum Praktischen Jahr über verschiedene Fächer hinweg unterschiedliche Lehrformate zur Förderung kommunikativer Kompetenzen implementiert (Abbildung 1).

Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Ausbildung  

Block II

Block III

Block IV

PJ Innere Medizin, Chirurgie

Seminare, Tutorien, Hospitationen, Vorlesungen

Block I

Gynäkologie, Pädiatrie

Allgemeine Medizin (Aal-Plus, HeiPrax)

1. Staatsexamen

Medizinische Psychologie und Soziologie

Propädeutik

Neurologie, Psychiatrie, Psychosomatische Med., Kinder- und Jugendpsychatrie Dermatologie

Sem. 4

Chirurgie, Palliativmedizin

Sem. 3

Innere Medizin

Sem. 2

Pathologie, Blockpraktikum Innere Medizin & Chirurgie

Sem. 1

 337

Kurse mit SP Einsatz MediKIT, Bed-Side-Teaching, Praktika, Skillslab, Kurse, Hospitationen, Seminare

Lehrformate zur Förderung der kommunikativen Kompetenzen Fächer zur Förderung der kommunikativen Kompetenzen

Abb. 1: Das interdisziplinäre longitudinale Curriculum „Kommunikation und Interaktion“ an der Medizinischen Fakultät Heidelberg

Beispielhaft werden im Folgenden je eine Unterrichtseinheit einer Veranstaltung zur Förderung kommunikativer Kompetenzen aus der Vorklinik und einer aus der Klinik beschrieben.

2.2.1 Vorklinik: Umgang mit Tabu-Themen am Beispiel Inkontinenz bei Multipler Sklerose Vom 1. bis zum 4. Fachsemester besuchen Heidelberger Medizinstudierende eine verpflichtende Einführung in Anamnese und klinische Untersuchung („Aal-Plus“). Diese wird weitgehend durch Peer-Teaching realisiert (Teams aus 2 studentischen Tutoren ab dem 3. Fachsemester) und von erfahrenen Dozenten supervidiert. In Gruppen à 10 bzw. 20 Studierenden werden die Studierenden in 4 Themen (à 1,5–2 h) je Fachsemester unterrichtet. Dabei werden klinische und kommunikative Kompetenzen integriert vermittelt. Eine Vorlesung von Fachdozenten in Zusammenarbeit mit den studentischen Tutoren bereitet auf die Themen im Tutorium vor. Die studentischen Tutoren erhalten eine umfassende Schulung zu didaktischen, fachlich-klinischen und fachlich-kommunikativen Inhalten. Ein Thema im 3. Fachsemester bildet der Umgang mit Tabu-Themen am Beispiel Inkontinenz. Neben allgemeinen Fertigkeiten und Aufgaben der ärztlichen Kommunikation wie der Beziehungsgestaltung, der Gesprächsstrukturierung und der Bewältigung verschiedener Gesprächsaufgaben unter Berücksichtigung des Gesprächstyps und der aktuellen Gesprächsphase geht es bei diesem Thema in erster Linie darum, dass die Studierenden den Umgang mit starken oder schwierigen Emotionen beim

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 Marlene Sator/Jana Jünger

Patienten lernen und typische sensible Themenfelder, die im ärztlichen Berufsalltag auftreten können, kennenlernen und lernen, entsprechende Gespräche bzw. Beratungen durchzuführen. Die wichtigsten spezifischen Lernziele gemäß der Arbeitspakete zur ärztlichen Gesprächsführung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM, Entwurffassung; siehe http://www.nklm.de) lauten: – situative und individuelle Unterschiede der Emotionsbewältigung erkennen und angemessen berücksichtigen und dafür Modelle zur Emotionsanalyse und -regulation nutzen (AP14c: 3.1.1.) – tabuisierte Themen und stigmatisierte Erkrankungen wahrnehmen, akzeptieren und wenn eine Vertiefung sinnvoll bzw. notwendig erscheint, dieses Thema angemessen ansprechen (AP14c: 3.2.1.) In der Tutoriumssitzung kommen unterschiedliche Lehrmethoden zum Einsatz: Nach dem Einstieg geben die TutorInnen einen kurzen Input zu den zentralen Aspekten im Umgang mit Tabu-Themen. Dann werden die Studierenden auf das Kernelement der Sitzung vorbereitet, einem Gespräch mit einem standardisierten Patienten, d. h. einem Laienschauspieler, der in Trainings auf seine Rolle als Patient und seinen Einsatz im studentischen Unterricht vorbereitet worden ist: Die Studierenden wiederholen gemeinsam die Feedbackregeln, sammeln die zentralen klinischen Inhalte zum Krankheitsbild der Multiplen Sklerose (MS) und verteilen die Rollen für das Gespräch. Eine Studierende schlüpft in die Rolle einer niedergelassenen Hausärztin und führt das Gespräch mit dem standardisierten Patienten. Der Patient, Herr „Lenard Schmitt“, ist gemäß Rollenskript 25 Jahre alt, unverheiratet, hat keine Kinder und lebt in einer Partnerschaft. Vor sechs Monaten wurde bei ihm die Diagnose MS gestellt. Der Patient hatte insgesamt drei Schübe. Die ersten beiden Schübe führten neben einer kurzzeitigen Bewegungsstörung beider Beine zu einer bleibenden Sehschwäche. Seit dem letzten Schub vor sechs Wochen hat Herr Schmitt Probleme mit dem Halten von Urin (Inkontinenz). Seine Lebensqualität ist hierdurch erheblich beeinträchtigt, er traut sich kaum mehr das Haus zu verlassen, da er befürchtet, nicht rechtzeitig eine Toilette zu finden. Zur ambulanten Weiterversorgung stellt sich der Patient heute beim Hausarzt vor, nachdem er zuvor stationär eine Therapie mit Kortikosteroiden erhalten hatte. Er möchte gerne mit seinem Arzt über seine aktuelle Situation sprechen, um gemeinsam eine Lösung zu finden. Allerdings fällt es ihm schwer, seine Sorgen zu formulieren. Er ist momentan emotional zu sehr betroffen, als dass er mit ihm sprechen könnte, ohne sofort in Tränen auszubrechen. Es ist ihm sehr peinlich, das Inkontinenzproblem zu thematisieren. In Freundeskreis und Familie kann er nicht über seine Erkrankung sprechen. Die gesprächsführende Studierende soll eine Anamnese zur neurologischen Evaluation der Krankheitsprogredienz erheben und dabei einen adäquaten kommunikativen Umgang mit dem Tabuthema Inkontinenz zeigen. Nach dem Gespräch führt die gesprächsführende Studierende zunächst eine Eigenreflexion durch, in der sie ihr kommunikatives Verhalten selbst einschätzt.

Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Ausbildung  

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Danach erhält sie Feedback von dem standardisierten Patienten, der aus seiner Rolle heraus rückmeldet, wie er die Ärztin erlebt hat. Schließlich bekommt sie ein stellvertretendes Feedback aus der Gruppe der Studierenden, die das Gespräch nach festgelegten Aufträgen (Beobachtungen auf verbaler, paraverbaler und nonverbaler Ebene) beobachtet haben. So melden sie beispielsweise ihre Beobachtung zurück, dass der Patient durch Signale im Gespräch auf verbaler Ebene (vage oder umständliche Umschreibungen), paraverbaler Ebene (leises, undeutliches Sprechen) und nonverbaler Ebene (Nervosität, allgemeine Unruhe, Meiden von Blickkontakt) zu erkennen gegeben hat, dass es sich um ein für ihn schwieriges Thema handelt. Die Studierenden benennen sowohl positive als auch negative Aspekte der Gesprächsführung ihrer Kommilitonin und geben konkrete Verhaltensalternativen, etwa dass die Studierende das Tabuthema Inkontinenz durch offenes, direktes, persönlichen Ansprechen mit einer direkten angemessenen Frage, mit Akzeptanzsignalen in Form von wertschätzend-empathischem Spiegeln und Gesprächsangeboten, oder aber mit einer allgemeinen Information zum Thema Inkontinenz ohne direkten Bezug auf den Patienten vertiefen hätte können. Eine abschließende Diskussionsrunde zum kommunikativen Inhalt beendet den 1. Teil der Tutoriumssitzung. Im zweiten Teil der Sitzung geht es um die klinischen Inhalte: Die Studierenden lernen, eigenständig und sicher eine Untersuchung der Reflexe und der Koordination als einen Teil der neurologischen Untersuchung durchzuführen. Darüber hinaus lernen sie ein standardisiertes Modell zur Dokumentation von Patientendaten anzuwenden. Die Inhalte des Tutoriums werden in einer klinisch-praktischen Prüfung, einem OSCE (Objektive Structured Clinical Examination), abgeprüft. In diesem OSCE müssen Studierende an drei Stationen klinisch-praktische Aufgaben wie z. B. eine Anamnese oder eine körperliche Untersuchung an einem standardisierten Patienten durchführen. Die klinische und kommunikative Leistung der Studierenden wird von geschulten studentischen Prüfern anhand von Checklisten bewertet. Es handelt sich um eine formative Prüfung, d. h. die Studierenden erhalten keine Noten aber Feedback durch die Prüfer.

2.2.2 Klinik: Aufklärung bei einem Patienten nach Herzinfarkt Vom 5. Fachsemester bis zum Praktischen Jahr durchlaufen Medizinstudierende in Heidelberg in verschiedenen Fachbereichen das Medizinische Kommunikationsund Interaktionstraining (MediKIT). Für eine Unterrichtseinheit sind i. d. R. jeweils 90 Minuten geplant. Kleingruppen zu 3 bis 12 StudentInnen (ein übender Student und mehrere beobachtende Studenten) führen Gespräche in wechselnden Rollen mit standardisierten Patienten durch, um verschiedene kommunikative Situationen zu trainieren. Didaktisch und inhaltlich begleitet werden die Unterrichte von einem ärztlichen, psychologischen oder pädagogischen Fachdozenten.

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 Marlene Sator/Jana Jünger

Eine MediKIT-Einheit im Praktischen Jahr hat die Aufklärung bei einem Patienten nach Herzinfarkt zum Thema. Die Studierenden sollen eine ressourcenaktivierende und die Autonomie fördernde Gesprächsführung und die Darstellung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen mit deren Vor- und Nachteilen und dem zu erwartenden Erfolg lernen. Auch hier stehen neben den allgemeinen Fertigkeiten und Aufgaben der ärztlichen Kommunikation spezifische Kompetenzen im Vordergrund: Risikokommunikation und Aufklärung, Informationsvermittlung, Entscheidungsfindung, Berücksichtigung der wesentlichen Merkmale und Anforderungen unterschiedlicher Gesprächstypen, Kommunikationsstrategien in herausfordernden klinischen Kontexten und Kommunikation zu gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen. Die wichtigsten spezifischen Lernziele gemäß der Arbeitspakete zur ärztlichen Gesprächsführung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) lauten: – die Patientenperspektive wahrnehmen, einnehmen und respektieren (Ideen, Gefühle, Autonomie, Werte, Genderaspekte, soziales, kulturelles und materielles Umfeld) und in Entscheidungen einbeziehen (AP14c: 2.1.3.) – diagnostische und therapeutische Maßnahmen mit deren Vor- und Nachteilen und dem zu erwartenden Erfolg mit Hilfe von Techniken der transparenten Risikokommunikation darstellen, sowie Nutzen, Risiken und Kosten abwägen und kommunizieren (AP14c: 4.2.1.) – eigene und fremde Emotionen und Gefühle, wie Scham oder Ekel wahrnehmen und situativ angepasst entsprechende Modelle zur Gesprächsführung professionell einsetzen (AP14c: 2.1.6.) – zur Ressourcenaktivierung und Förderung von Eigenverantwortlichkeit entsprechende Techniken anwenden (AP14c: 2.1.12.) – eine verständliche und empathische Aufklärung und Beratung durchführen (AP14c: 2.5.1.) – erhobene Befunde in ihrer Bedeutung für Patientinnen und Patienten angemessen kommunizieren (AP14c: 2.5.3.) – das Beteiligungsbedürfnis von Patientinnen und Patienten individuell klären und Entscheidungsprozesse gemeinsam mit diesen gestalten (AP14c: 2.6.3.) – die Erwartungen, Sorgen und Präferenzen von Patientinnen und Patienten ermitteln und in Bezugnahme dazu die eigenen Erwartungen und Behandlungspräferenzen kommunizieren (AP14c: 2.6.4.) – ein Gespräch mit nicht-adhärenten Patientinnen und Patienten führen und dabei spezifische Modelle berücksichtigen (AP14c: 4.1.1.) – auf Basis von grundlegendem Wissen Beratungen und ggf. Interventionen zur Verhaltens- und Lebensstilveränderung durchführen (AP14c: 4.3.2.) Die MediKIT-Einheit zum Thema Aufklärung bei einem Patienten nach Herzinfarkt beginnt mit einer Einführung in den Fall und in die Aufgabenstellung durch den

Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Ausbildung  

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Dozenten und der Klärung von offenen Fragen. Der standardisierte Patient, Herr „Behrens“, hat laut Rollenskript vor 2 Tagen einen Herzinfarkt erlitten und ein Stent wurde gesetzt. Nun möchte er schnellstmöglich wieder nach Hause, da er ja nun wieder gesund sei. Änderungen in seinem Lebensstil (er bringt einige Risikofaktoren wie Nikotin, Bewegungsmangel, Übergewicht mit) sieht er kaum ein, da er sich ja wieder sehr wohl fühle und auch schmerzfrei sei. Eine Anschlussheilbehandlung hält er für überflüssig. Ein Studierender führt nun in der Rolle des Arztes auf einer kardiologischen Station der hiesigen Universitätsklinik eine Stationsvisite inklusive Vorund Nachbesprechung, Anordnungen etc. durch, begleitet wird er von einer/einem Stationsschwester/-pfleger. Das Gespräch wird mit der Videokamera aufgezeichnet. Die übrigen Studierenden nehmen Beobachterrollen ein und sammeln ihre Eindrücke nach Beobachteraufträgen. Der Patient begrüßt zunächst den gesprächsführenden Studierenden, der mit seinem Team an sein Bett tritt, mit der Frage „Guten Morgen, Herr Doktor! Sagen Sie, wie sieht’s denn nun aus mit meinem Herzen?“ Aufgabe des Studierenden ist es nun zu erklären, was für Untersuchungen inzwischen gemacht wurden und weshalb und die Ergebnisse mitzuteilen. Herr Behrens möchte weiter wissen: „Herr Doktor, wo sitzt denn dieser Stent überhaupt? Bleibt der denn da oder kommt der wieder raus?“, woraufhin ihn der gesprächsführende Studierende über Lage und Funktion des Stent aufzuklären hat. Der Patient fragt nun nach weiteren notwendigen Untersuchungen: „Ja, dann ist ja eigentlich alles gemacht, oder? Alles andere, außer meinem Herz, ist doch in Ordnung.“ Daraufhin sieht sich der gesprächsführende Studierende noch einmal das Krankenblatt an und macht Herrn Behrens auf noch ausstehende Untersuchungen aufmerksam und spricht den bei dem Patienten krankhaft erhöhten Blutzuckerwert an. Herr Behrens Aufmerksamkeitsfokus liegt jedoch auf seiner erwarteten baldigen Entlassung: „Das heißt also, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, kann ich nach Hause! Was meinen Sie, Herr Doktor, wann wird das ungefähr sein? Wie viele Tage muss ich noch bleiben?“ Der gesprächsführende Studierende klärt den Patienten nun vorsichtig über notwendige Veränderungen seiner zukünftigen Lebensweise und die anstehende Anschlussheilbehandlung auf. Herr Behrens reagiert darauf aufgebracht: Er kann sich das alles gar nicht vorstellen und diese Lebensumstellung scheint ihm doch zu drastisch. Er führt zur Untermauerung Leute aus seinem Bekanntenkreis und auch Prominente an, die auch rauchen und fülliger sind. Zum anspruchsvollen Gespräch mit dem Patienten kommt für den Studierenden noch eine weitere Aufgabe hinzu: Die Pflegekraft wartet auf eventuelle Anweisungen seitens des Arztes, die die Pflege oder noch ausstehende Untersuchungen betreffen. In der dem Gespräch folgenden Auswertung schaut der „Arzt“ sein Video an und beobachtet und reflektiert sein Verhalten. Währenddessen tauschen die restlichen Teilnehmer ihre Beobachtungen unter der moderierenden Begleitung des Dozenten aus, wobei ein Beobachter die Eindrücke sammelt. In einer moderierten Feedbackrunde führt zunächst der „Arzt“ eine Eigenreflexion durch, in der er sein kommunikatives Verhalten selbst einschätzt. Dann bekommt

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er ein Feedback vom standardisierten Patienten und schließlich ein stellvertretendes Feedback aus der „Gruppe“. In einer abschließenden Diskussion werden offene Fragen zum Fall geklärt, konkrete Verhaltensalternativen können benannt und ggf. ausprobiert werden und der Lernerfolg wird reflektiert. Die Aufgaben der Dozenten umfassen die Moderation der Unterrichtssequenz, die Klärung medizinisch-inhaltlicher Fragen, die Begleitung der Feedbackrunde, und die Unterstützung bei der Erarbeitung möglicher Handlungsalternativen auf kommunikativer Ebene. Ein inhaltlich ähnlich gelagerter Fall wird im Rahmen eines OSCEs auch geprüft.

3 Fazit und Ausblick Der Stellenwert von Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Aus- und Weiterbildung ist also auf Basis der empirischen Befunde zur Bedeutung sowie zur Lehr- und Lernbarkeit gelungener Arzt-Patienten-Kommunikation, einschlägiger Lernzielkataloge als Referenzrahmen und der gesetzlichen Verankerung in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Die medizinischen Fakultäten stehen nun vor der Aufgabe der Integration der kommunikativen Lernziele und Kompetenzen in die Curricula und der konkreten Umsetzung in Lehre und Prüfungen in Form integrierter, interdisziplinärer und longitudinaler Kommunikationscurricula. Nationales longitudinales Mustercurriculum Kommunikation in der Medizin Um die Fakultäten bei dieser Aufgabe zu unterstützen, wurden von der Arbeitsgruppe „Nationales longitudinales Mustercurriculum Kommunikation in der Medizin“ unter der Leitung von Prof. Dr. med. Jana Jünger (MME) und unter der Schirmherrschaft des Bundesministeriums für Gesundheit die Aktivitäten und das Engagement der unterschiedlichsten Arbeitsgruppen, die in den letzten Jahren an diesem Thema gearbeitet haben, aufgegriffen und gebündelt. Dazu wurden die Akteure und Verantwortlichen im Bereich der Curriculumsgestaltung an allen deutschen medizinischen Fakultäten eingeladen, gemeinsam an der Ausarbeitung eines Nationalen longitudinalen Mustercurriculums Kommunikation in der Medizin zu arbeiten. Im Rahmen des Projekts werden Best Practice-Beispiele aus allen Fakultäten gesammelt, diese nach den Lernzielen der Arbeitspakete zur Ärztlichen Gesprächsführung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) kategorisiert und klassifiziert, Lücken identifiziert und gezielt gefüllt und Materialien optimiert, um schließlich ein Mustercurriculum zusammenzustellen, zu diskutieren und allen TeilnehmerInnen kostenlos in Form einer „Toolbox“ zur Verfügung zu stellen. Das Mustercurriculum wird paradigmatisch für den Bereich der Onkologie

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ausgearbeitet, zumal insbesondere Krebserkrankungen Ärztinnen und Ärzte und Medizinstudierende vor höchste kommunikative Herausforderungen stellen. Darüber hinaus wird an den deutschen medizinischen Fakultäten eine differenzierte Analyse des IST-Standes zur Lehre und Prüfung kommunikativer Kompetenzen auf Basis der im NKLM erarbeiteten Lernziele zur ärztlichen Gesprächsführung durchgeführt, um herauszufinden, welche Lernziele bereits gelehrt werden bzw. wo Entwicklungspotential besteht und gezielt eine fakultätsübergreifende Zusammenarbeit hilfreich wäre. Weiterhin werden gut funktionierende Modelle der fächerübergreifenden Kooperation und fachbezogenen Integration im Bereich Ärztliche Gesprächsführung identifiziert und diskutiert. Das Ziel des Projektes ist es, für alle Lernziele Best Practice-Beispiele zur Verfügung zu stellen und bis 2016 das Mustercurriculum Kommunikation bereitzustellen. An der Erarbeitung des Nationalen longitudinalen Mustercurriculums Kommunikation wirken mittlerweile über 300 VertreterInnen aus allen 36 Fakultäten mit, und das Projekt wird aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages durch das Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Desiderate aus linguistischer Sicht und Einsatzgebiete der Linguistik: Im Rahmen der medizinischen Kommunikationsausbildung bestehen aus linguistischer Sicht einige Desiderate, deren Erfüllung der linguistischen Gesprächsanalyse vielfältige Einsatzgebiete in Forschung, Lehre, Prüfung und Curriculumsentwicklung ermöglicht. Dazu zählt u. a. – die interaktiven Realisierungen von normativen Empfehlungen auf der sprachlichen Oberfläche zu spezifizieren, also z. B. zu spezifizieren, was es genau heißt, ein tabuisiertes Thema wahrzunehmen, zu akzeptieren und wenn eine Vertiefung sinnvoll bzw. notwendig erscheint, dieses Thema angemessen anzusprechen (AP14c: 3.2.1.), mit welchen sprachlichen Strategien und Verfahren erhobene Befunde in ihrer Bedeutung für Patientinnen und Patienten angemessen kommuniziert werden können (AP14c: 2.5.3.) etc., – vorhandene Modelle, die konkrete interaktive Techniken zur Verfügung stellen, interaktionsanalytisch zu überprüfen, ggf. auszudifferenzieren und eine breitere Evidenzgrundlage dafür zu schaffen, z. B. für die Technik des aktiven Zuhörens „Warten-Wiederholen-Spiegeln-Zusammenfassen“ (AP14c: 2.1.4.) oder die CALM -Technik für den Umgang mit fordernden und aggressiven Patienten (Contact, Appoint, Look ahead, Make a decision) (AP14c: 2.1.6.), – die Arbeit mit standardisierten PatientInnen zu optimieren, z. B. Rollentrainings in Hinblick auf Authentizität der standardisierten PatientInnen zu verbessern, – authentische Transkript- und Videoausschnitte und gesprächsanalytische Basiskonzepte als didaktische Instrumente im Kommunikationsunterricht im Sinne eines Sensibilisierungstrainings aufzubereiten und einzusetzen (vgl. Sator/ Schultz/Jünger 2013) – gemeinsam mit KlinikerInnen train-the-trainer-Schulungen zur ärztlichen Gesprächsführung, d .h. Schulungen von ärztlichen DozentInnen oder medi-

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zinstudentischen TutorInnen, die den studentischen Kommunikationsuntericht durchführen, zu konzipieren und durchzuführen, – Schwachstellen vorhandener Kodiersysteme zur quantitativen Analyse von ArztPatienten-Kommunikation wie beispielsweise das Roter Interaction Analysis System (RIAS) (Roter 1977, Roter 1991) aus gesprächsanalytischer Sicht zu identifizieren und ein differenziertes, theoretisch und empirisch gesprächsanalytisch fundiertes Analyse- und Bewertungsinstrument für Arzt-Patienten-Kommunikation zu entwickeln (vgl. Sator u. a. 2012, Sator u. a. 2013). Mit dem größeren Stellenwert von Arzt-Patienten-Kommunikation in der medizinischen Aus- und Weiterbildung ist verstärkt auch linguistische Expertise auf diesem Gebiet gefragt. Es lohnt sich u. E., sich den Herausforderungen einer medizinisch-linguistischen interdisziplinären Zusammenarbeit, die sich aus dem Aufeinandertreffen von naturwissenschaftlich-quantitativem Paradigma einerseits und geisteswissenschaftlich-qualitativem Paradigma andererseits ergeben, zu stellen: Der Lohn ist ein multi-perspektivisches und vertieftes Verständnis von Arzt-Patienten-Kommunikation im Rahmen der medizinischen Ausbildung.

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Peter Nowak

19. Leitlinien für das Arzt-Patient-Gespräch – sinnvolle Hilfestellung für den ärztlichen Alltag? Abstract: Leitlinien sind ein Instrument, um im Behandlungsalltag ein an aktueller wissenschaftlicher Evidenz orientiertes ärztliches Handeln zu ermöglichen. Die Wirksamkeit von Leitlinien scheint unter Einhaltung bestimmter Implementationsbedingungen gut belegt. Der Beitrag widmet sich der Frage, ob Leitlinien auch zur Unterstützung von qualitätsvoller Arzt-Patient-Interaktion nutzbar sind. Es konnten insgesamt nur sieben Leitlinien im deutschsprachigen Raum identifiziert werden, die sich vorwiegend dem ärztlichen Gespräch widmen. Handlungsempfehlungen werden in diesen Leitlinien auf vier Ebenen gegeben: medizinische Gesprächsinhalte, Gesprächssetting, psychosoziale Beziehungsgestaltung und sprachlich-interaktive Handlungen. Aspekte des sprachlich-interaktiven Handelns von ÄrztInnen werden nur marginal und unsystematisch beschrieben, und Ergebnisse der Gesprächsforschung werden bisher für Leitlinienentwicklung nicht berücksichtigt. Der Beitrag analysiert die Hinderungsgründe und leitet Weiterentwicklungsperspektiven für die zukünftige Gesprächsforschung ab. 1 Einleitung 2 Leitlinien und ihre Wirksamkeit im ärztlichen Handeln 3 Leitlinien für das ärztliche Gespräch 4 Diskussion und Schlussfolgerungen 5 Literatur

1 Einleitung Trotz der vielfältigen, wenn auch keinesfalls ausreichenden Belege für die Bedeutung des Gesprächs zwischen Ärztin/Arzt und PatientInnen für Gesundung (de Haes/Bensing 2009; Street u. a. 2009) und Zufriedenheit der PatientInnen mit ihrer Betreuung und Behandlung (Stahl/Nadj-Kittler 2013) scheint die Gesprächspraxis im ärztlichen Alltag kaum „besser“ geworden zu sein (Øvretveit 2012, 25ff). Vielmehr gibt es Hinweise darauf, dass sich das Arzt-Patient-Gespräch in den letzten Jahren mehr in Richtung einer stärkeren Technik- und Krankheitsorientierung entwickelt und sogar weniger an den Anliegen der PatientInnen orientiert ist als in den 1980er Jahren (Bensing u. a. 2006). Nicht zuletzt aufgrund dieser und ähnlicher Befunde sind wichtige internationale Strategiepapiere (z. B. Duffy u. a. 2004; Kiessling u. a.

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2010; Simpson u. a. 1991; von Fragstein u. a. 2008) zur Weiterentwicklung der kommunikativen Ausbildung von Studierenden der Medizin entstanden. Europaweit sind kommunikative Fertigkeiten stärker in den Vordergrund der Curricula an den medizinischen Universitäten getreten. Es ist anzunehmen, dass verbesserte Ausbildungsstandards erst mit einigen Jahren Verzögerung in der täglichen ärztlichen Gesprächspraxis wirksam werden, weshalb gegenwärtig noch kaum Verbesserungen zu beobachten sein dürften. Doch die Fortbildung von bereits in der ärztlichen Versorgung tätigen Medizinerinnen und Medizinern in kommunikativen Fertigkeiten zeigt zumindest in Studienkontexten erste Erfolge (Dwamena u. a. 2012). Gleichzeitig ist anzunehmen, dass bei den komplexen Rahmenbedingungen von Gesprächssituation und Gesundheitssystem nicht nur die Ausbildung, sondern auch andere Einflussfaktoren das Gesprächsverhalten von ÄrztInnen und PatientInnen mitbestimmen. Steuerungskonzepte für das Gesundheitssystem legen nahe, dass ein umfassender Zugang mit sich wechselseitig unterstützenden Maßnahmen auf der gesundheitspolitischen Makro-Ebene und auf der Meso-Ebene der Organisationen des Gesundheitswesens einen erfolgversprechenden Weg darstellen könnte, um den notwendigen Paradigmenwechsel zu mehr Gesundheits- und Patientenorientierung auf der Mikro-Ebene der Gesprächspartner voranzutreiben (Nowak 2013). Dieser Beitrag greift nun ein Instrument in einem solchen umfassenden Veränderungsprozess heraus, das möglicherweise einen Beitrag zur Weiterentwicklung der ärztlichen Gesprächspraxis leisten kann: die Verwendung von Leitlinien, die in den letzten 20 Jahren in der Qualitätsentwicklung des Gesundheitswesens erprobt wurden. Es wird also der Frage nachgegangen, ob Leitlinien neben interaktiver Unterstützung der Ärzte (z. B. Supervision, Balintgruppen, Qualitätszirkel; vgl. Pucher-Matzner 2013) ein geeignetes Instrument zur Qualitätsverbesserung der ärztlichen Gesprächs­ praxis sein können bzw. der Aufrechterhaltung qualitativ hochstehender Gesprächsprozesse dienen könnten. Zunächst werden die bisher vorliegenden Erfahrungen und die Evidenz zur Anwendung von Leitlinien in der Qualitätssicherung ärztlichen Handelns zusammengefasst und Erfolgsbedingungen für deren Anwendung identifiziert. Eine erste Durchsicht von deutschsprachigen Leitlinien, in denen Gesprächsführungs­ aspekte berücksichtig werden bzw. im Mittelpunkt stehen, soll Einblick in den Status quo der bisherigen Anwendungspraxis ermöglichen. Vor diesem Hintergrund werden Schlussfolgerungen für zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten gezogen. Dieser Beitrag versteht sich als (meines Wissens nach) erster Diskussionsimpuls zur Verwendung von Leitlinien in der Qualitätssicherung von ärztlicher Gesprächsführung und will damit auch einen Anstoß zur Weiterentwicklung der Gesprächsforschung und ihres Einflusses auf die tatsächliche ärztliche Gesprächspraxis leisten.

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2 Leitlinien und ihre Wirksamkeit im ärztlichen Handeln Leitlinien wurden als Praxisunterstützung in der evidenzbasierten Medizin bzw. im Qualitätsmanagement der medizinischen Behandlung seit den 1980er Jahren entwickelt und werden weltweit in sehr unterschiedlichen Feldern des ärztlichen Handelns eingesetzt. Leitlinien versuchen, das aktuelle wissenschaftliche Wissen zur Wirksamkeit spezifischer diagnostischer und therapeutischer Prozesse in eine Anleitung für den ärztlichen Behandlungsalltag zu gießen (Sackett u. a. 1997). Die für die einzelne Ärztin unüberschaubare Menge an neuen Erkenntnissen der medizinischen Forschung soll über praxistaugliche Leitlinien Eingang in das ärztliche Handeln finden. Damit sollen bestmögliche Behandlungsergebnisse erreicht und die Effizienz ärztlichen Handelns im Kontext beschränkter Gesundheitsbudgets maximiert werden. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive scheint beachtenswert, dass Leitlinien durch ihre Entwicklung und Implementation auch das gesellschaftliche Umfeld verändern, wie z. B. Zuständigkeiten von Berufsgruppen für bestimmte medizinische Verfahren, aber auch das grundlegende Verständnis des medizinischen Problems (Wilson u. a. 2014). Damit ist die Entwicklung von Leitlinien ein wichtiges Feld für Machtkämpfe zwischen Interessensgruppen im Gesundheitswesen (ebenda S. 139). In der internationalen Literatur werden zum Teil unterschiedliche Begriffe (wie Leitfaden, Richtlinie, klinischer Pfad, Versorgungsleitlinie, Handlungsempfehlung, Manual etc.) mit geringfügig unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, die für den Zweck dieses Artikels alle unter dem Überbegriff „Leitlinie“ zusammengefasst werden. Trotz der weltweiten Anwendung liegt bisher nur überraschend wenig systematische Evidenz für die Wirksamkeit von Leitlinien vor. Eine systematische Überblicksarbeit über niederländische Leitlinien (Lugtenberg u. a. 2009) zeigt, dass Leitlinien das Einhalten von empfohlenen Behandlungsprozessen durch die behandelnden Ärzte unterstützen, und es liegen auch Hinweise auf verbesserte Behandlungsergebnisse vor. Die Daten zu den patientenseitigen Ergebnissen sind jedoch wesentlich weniger zuverlässig als die zur Einhaltung der Behandlungsprozesse. Ein Cochrane-Review (Rotter u. a. 2010) fasst die vorliegende Evidenz zur Wirksamkeit von Leitlinien (clinical pathways) auf die professionelle Praxis, die Behandlungsergebnisse und die Spitalskosten zusammen. Demnach verbessern Leitlinien insbesondere die Dokumentation der Behandlungen und damit die Voraussetzungen für die Kommunikation zwischen mehreren Behandlern. Bei den Behandlungsergebnissen konnten reduzierte Komplikationsraten gut belegt werden. Das unterstreicht die Bedeutung von Leitlinien für die Patientensicherheit. Auch die Reduktion von Spitalskosten konnte vielfach belegt werden. In der Studie wird darauf hingewiesen, dass dies allerdings nicht unbedingt ein Ergebnis im Sinne guter Behandlungsqualität bedeuten muss (ggf. Kostenverschiebungen in andere Versorgungsbereiche).

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Rotter u. a. (2010, 4 f.) weisen auf zehn Entwicklungs- und Implementationsbedingungen für Leitlinien hin, die eine erfolgreiche Umsetzung unterstützen können: 1. Der Leitlinieninhalt ist evidenzbasiert. 2. Die Inhalte sind an den lokalen Anwendungszusammenhang angepasst. 3. Die Leitlinie wurde gemeinsam mit klinisch tätigen ÄrztInnen entwickelt. 4. Eigene Implementationsteams unterstützen die Einführung. 5. Vorweg wird die Lücke zwischen klinischer Praxis und vorliegender Evidenz identifiziert. 6. Mögliche Veränderungsbarrieren werden identifiziert. 7. Erinnerungssysteme für die Alltagspraxis werden miteingeführt. 8. Rückmeldesysteme für die Anwender werden implementiert. 9. Spezifische Schulungsmaßnahmen werden gesetzt. 10. Lokale Meinungsbildner werden in den Einführungsprozess eingebunden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine aktuelle Überblicksarbeit (Brusamento u. a. 2013), die sich auf die Bewertung von Leitlinien in der EU konzentriert. Argumentiert wird, dass für die Wirksamkeit von Leitlinien sowohl die Qualität der Leitlinie selbst als auch die Bedingungen ihrer Implementierung entscheidend sind. Zur Beurteilung der Qualität von Leitlinien wird in den meisten Studien das AGREE-Bewertungsinstrument (Brouwers u. a. 2010) verwendet, das als international anerkannter Qualitätsstandard für Leitlinien gilt. Zusammenfassend wird von Brusamento u. a. (2013) festgehalten, dass die untersuchten Leitlinien von sehr unterschiedlicher Qualität sind. Insbesondere fehlt oft die Einbindung von „Stakeholdern“ (klinischen Anwendern) in der Entwicklung der Leitlinien, die die Anpassung an die praktischen Bedürfnisse der Anwender ermöglichen kann. Kritisiert wird auch die methodische Sorgfalt bei der Entwicklung von Leitlinien, da die zugrunde gelegte wissenschaftliche Evidenz nicht sorgfältig geprüft bzw. nachvollziehbar gemacht wird. Kritisch gesehen wird auch die praktische Anwendbarkeit vieler Leitlinien, weil organisationale und finanzielle Implikationen der Leitlinie zu wenig berücksichtigt werden. Am wenigsten entwickelt ist das Bewusstsein für Interessenkonflikte in den Empfehlungen, da die Unabhängigkeit der Herausgeber von Leitlinien nur unzureichend dargestellt wird. Wenig bekannt ist über die Kosten der Leitlinienentwicklung, die aber als sehr aufwendig eingeschätzt werden. Bei den Implementationsbedingungen unterstreicht diese Überblicksarbeit den Erfolg von Strategien, die mehrere Maßnahmen gleichzeitig zur Anwendung bringen (z. B. Schulungen und Feedbacksysteme und schriftliche Unterlagen für die Anwender). Für die Qualität der Implementation scheinen Feedbacksysteme für die Anwender und spezifische Anwendertreffen zur Diskussion einer neuen Leitlinie besonders erfolgversprechend. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Leitlinien zwar vielfach entwickelt und implementiert werden, häufig jedoch ohne dabei internationalen Qualitätsanforderungen zu entsprechen. Die Wirksamkeit in Bezug auf die ärztlichen Behandlungsprozesse scheint unter Einhaltung wesentlicher Implementationsbedin-

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gungen gut belegt. Die Auswirkungen auf Behandlungsergebnisse sind bisher nicht ausreichend untersucht und ein Forschungsdesideratum. Dahinter steht möglicherweise auch das generelle Problem, dass direkte Auswirkungen auf den Behandlungsprozess leichter zu überprüfen sind als intermediäre und gesundheitliche Langzeitwirkungen, die in einem komplexen Ursachengefüge entstehen (vgl. dazu auch im Kontext der Wirkung von Gesprächsprozessen de Haes/Bensing 2009 oder im Kontext von Kommunikationstrainings Dwamena u. a. 2012). Das Fehlen von Befunden zum Patientennutzen in der Evaluation von Leitlinien kann  – sehr kritisch betrachtet  – nicht nur methodische Probleme wiederspiegeln, sondern auch ein Orientierungsproblem in der Qualitätsentwicklung, die den Nutzen aus Patientensicht nicht immer in den Mittelpunkt stellt (Huber 2013). Es kann darüber hinaus davon ausgegangen werden, dass die Entwicklung und der Einsatz von Leitlinien auch Wirkungen zeitigt, die über die Qualität des ärztlichen Handelns im Einzelfall hinausgehen und mehr die Rahmenbedingungen im Gesundheitssystem betreffen. Leitlinien können Veränderungsprozesse auf der Managementebene und auf der politischen Ebene auslösen (Wilson u. a. 2014) und damit Adaptierungen für entsprechende strukturelle Rahmenbedingungen in Organisationen (z. B. neue Rollenbestimmungen, Sicherung von Gesprächszeiten und –räumen) und bei Finanzierungspartnern im Gesundheitssystem unterstützen. Die im abschließenden Resümee zitierte, grundsätzliche Kritik am deutschen Gesundheitssystem von Schaefert und KollegInnen (Schaefert u. a. 2012, 804) kann dafür als Beispiel dienen. Für die Entwicklung und Implementation von Leitlinien im Bereich der ärztlichen Gesprächsführung sollen auf Basis dieser Übersicht im Folgenden vor allem drei Fragestellungen vertieft werden: 1. Wie viele und welche Leitlinien thematisieren ärztliche Gesprächsführung? 2. Welche Aspekte der Gesprächsführung werden in Leitlinien thematisiert? 3. Auf welche wissenschaftliche Evidenz stützen sich Leitlinien zur Gesprächsführung?

3 Leitlinien für das ärztliche Gespräch Die Grundlage für die folgende Einschätzung des Status quo zur Nutzung von Leitlinien als Instrument der Unterstützung ärztlicher Gesprächsführung im deutschen Sprachraum ist eine unsystematische Internet-Recherche und die Suche auf einschlägigen Websites (www.aezq.de; www.awmf.org; www.degam-leitlinien.de; www. ebm-netzwerk.de; www.iqwig.de; www.leitlinien.de; www.pmvforschungsgruppe. de; www.versorgungsleitlinien.de; letzter Zugriff 05.12.2013). Gesucht wurde nach Leitlinien, die „ärztliches Gespräch“, „Gesprächsführung“, „Arzt-Patient-Kommunikation“ explizit ansprechen. Ergänzt wurde diese Recherche durch Expertenhinweise insbesondere zu aktuellen Entwicklungsarbeiten im Feld. Die Recherche nimmt kei-

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nesfalls in Anspruch, vollständig zu sein, aber lässt eine erste grobe Einschätzung zu, in welchem Maß Gesprächsführungsaspekte in deutschsprachigen Leitlinien berücksichtigt werden. Zunächst und als erstes Hauptergebnis ist festzuhalten, dass ärztliche Gesprächsführung im Allgemeinen in deutschsprachigen medizinischen Leitlinien kaum thematisiert wird. Wenn Gesprächsführung Erwähnung findet, dann mit wenigen allgemeinen Hinweisen. Als Beispiel kann die Leitlinie „Ärztliche Gesprächsführung, Untersuchung und Nachbetreuung von Frauen nach mutmaßlicher sexueller Gewaltanwendung“ (AG Medizinrecht 2009) dienen, die Gesprächsführung mit drei Hinweisen behandelt (ebenda, 623): 1. „Führen Sie die Befragung und Untersuchung in möglichst ungestörter Atmosphäre durch.“ 2. „Erklären Sie der Patientin Ihr geplantes Vorgehen.“ 3. „Sprechen Sie nicht in Ihrer Fachsprache.“ Trotz der in diesem Beispiel kommunikativ und psychosozial offensichtlich herausfordernden Betreuungssituation werden Gesprächsführungsaspekte und Fragen der psychosozialen Beziehungsgestaltung in einer sehr beschränkten und nicht weiter begründeten Auswahl thematisiert. Insgesamt wurden vier deutschsprachige Leitlinien identifiziert, die nur Gesprächsführung zum Hauptthema wählen. Die früheste Publikation, die als Leitlinie gesehen werden kann, ist das „Manual Ärztliche Gesprächsführung + Mitteilung schwerwiegender Diagnosen“ der AG Medizindidaktik (Köhle u. a. 2010), das unter der Leitung von Karl Köhle erstmals 1998 an der Universitätsklinik Köln herausgegeben wurde und derzeit in der 5. Auflage vorliegt. Ursprünglich als komprimierte, zwei-seitige Lehrhilfe für Studierende der Medizin in Form eines Leporellos entwickelt (für mehr Details vgl. Koerfer u. a. 2008), wird das Manual nun breiter auch in der Weiterbildung von ÄrztInnen eingesetzt und etwa als Video (http://www. youtube.com/watch?v=6omOY8QojZs; letzter Zugriff 30.1.2014) humorvoll angeboten oder auch als Grundlage für ein Internettrainingsprogramm (http://www.brittakretschmer.de/was-ist-patdoc-talk/; letzter Zugriff 30.1.2014) von einer der KoautorInnen verwendet. Das Manual besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil werden 27 „Gesprächsmaximen“ eines Anamnesegesprächs in sechs Schritten oder „HauptFunktionen“ (Koerfer u. a. 2008) zusammengefasst und mit Stichworten zum sprachlichen Handeln und Formulierungsvorschlägen erläutert und operationalisiert. Die sechs Schritte sind als idealtypischer Gesprächsaufbau empfohlen, der entsprechend der tatsächlichen Gesprächs­erfordernisse angepasst werden kann. Im zweiten Teil werden für den Gesprächstyp der Diagnosemitteilung ebenfalls in sechs Schritten 29 „Gesprächsmaximen“ der Gesprächsführung prägnant empfohlen. Das Manual typen in aller Kürze insbesondere wesentliche akzentuiert für beide Gesprächs­ Aspekte der psychosozialen Beziehungsgestaltung, aber auch Fragen des sprachlichen Handelns des Arztes sowie des Gesprächssettings. Für das Anamnesegespräch

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werden ganz knapp auch die wesentlichen medizinischen Inhalte einer Anamnese in Erinnerung gebracht. Das Manual gründet sich auf langjährige eigene linguistische und klinische Gesprächsanalysen und Lehrpraxis an der Uniklinik Köln sowie eine breite theoretische Ableitung wesentlicher Gesprächsaspekte (vgl. Koerfer u. a. 2008). Eine spezifische Ableitung der empfohlenen Haupt-Funktionen und Gesprächsmaximen aus systematischen Literaturanalysen über Gesprächsprozesse und ihren spezifischen Wirkungen sowie eine Evaluierung des Einsatzes des Manuals im ärztlichen Gesprächsalltag liegt meines Wissens bisher nicht vor. Damit ist die Evidenzbasis dieses Manuals im Sinne einer Leitlinie zur ärztlichen Qualitätssicherung als gering einzustufen. Dieselbe Forschergruppe hat den Teil zur Diagnosemitteilung für den Kontext der Diagnosemitteilung bei Mammakarzinom spezifiziert und als ausführlichen Leitfaden publiziert (Köhle u. a. 2006). Die detaillierte Beschreibung der Schritte und Gesprächsmaximen wird durch Informationen zu Informationsbedürfnis und Entscheidungsverhalten von Patientinnen ergänzt. Die zweite identifizierte Leitlinie, die Gesprächsführung zum Hauptthema macht, ist die Leitlinie „Hausärztliche Gesprächsführung“ der „Leitliniengruppe Hessen“ (Bergert u. a. 2008). Die darin beschriebenen Grundsätze und Haltungen für den gesprächsführenden Arzt stützen sich im Wesentlichen auf Carl R. Rogers, Schulz von Thun und Neurolinguistisches Programmieren. Des Weiteren werden fünf zentrale Gesprächsphasen beschrieben (Gesprächseinstieg, Situationsanalyse, Argumentationsphase, Entscheidungsfindung, Abschluss) und jeweils einige Hinweise für das interaktive Handeln des Arztes gegeben. Etwas ausführlicher wird partizipative Entscheidungsfindung dargestellt, bevor unter dem Titel „Typische Gesprächssituationen im Praxisalltag“ einige Typen „schwieriger Patienten“ vorgeführt und Tipps zum Umgang mit diesen gegeben werden. Diese Leitlinie scheint nicht auf einer systematischen Literaturanalyse aufzubauen und gibt nur vereinzelt Auskunft, auf welcher Basis die jeweiligen Empfehlungen gegeben werden. Aus gesprächslinguistischer Sicht sind vor allem die Empfehlungen zu den fünf Gesprächsphasen von Interesse, die jedoch eher plakativen Charakter behalten und ohne jeden Literaturverweis auskommen. Die Leitlinie wurde seit 2008 nicht aktualisiert und hat damit ihren angegebenen Gültigkeitszeitraum überschritten. Auf der DEGAM-LeitlinienWebsite (DEGAM = Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin; http://leitlinien.degam.de/index.php?id=1047; letzter Zugriff 15.6.2014) wird eine Leitlinie „Gesprächsführung in der hausärztlichen Praxis“ angekündigt, für die eine qualitative Vorstudie an der Universität Heidelberg (Katja Götz, Abteilung für Allgemeinmedizin) in Kooperation mit der erwähnten „Leitliniengruppe Hessen“ (Bergert u. a. 2008) durchgeführt wird. Die dritte Leitlinie zur ärztlichen Gesprächsführung „Kommunikation im medizinischen Alltag. Ein Leitfaden für die Praxis“ ist aktuell in der Schweiz erschienen. Die Publikation hat mit ca. 80 Seiten eher den Charakter eines Lehrbuches zum ArztPatient-Gespräch als den einer Leitlinie, die in der alltäglichen Gesprächspraxis Verwendung finden kann. In vier Kapiteln werden Grundlagen der Kommunikation,

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Gesprächstechniken, spezifische Gesprächssituationen und kurz Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten beschrieben. In den Grundlagen der Kommunikation werden u. a. grundlegende Kommunikationstheorien (Schulz von Thun, Watzlawick), Ziele und Funktionen des Arzt-Patient-Gesprächs, kognitive und sozialpsychologische Grundlagen und Fragen zur non- und paraverbalen Kommunikation erläutert. Das Kapitel „Gesprächstechniken“ beschreibt ausgewählte Aspekte des sprachlich-interaktiven Handelns von ÄrztInnen (Orientierung geben, aktives Zuhören, Informationen vermitteln, Umgang mit patientenseitigen Krankheitsvorstellungen, Entscheidungsfindung) in erster Linie auf Basis anglo-amerikanischer Literatur und psychosoziale Empfehlungen im Umgang mit Emotionen (NURSE-Modell, Back u. a. 2005). Im Kapitel zu spezifischen Gesprächssituationen werden zwölf sehr unterschiedliche Gesprächstypen und -schwerpunkte jeweils sehr heterogen in ihren jeweiligen Herausforderungen beschrieben und teilweise mit Empfehlungen zum Gesprächssetting, zu interaktiven Verfahren oder zur psychosozialen Beziehungsgestaltung versehen. Teilweise fehlen Verweise auf zugrunde gelegte Literatur völlig. Wenn Literatur angeführt ist, dann sind dies zumeist wieder englischsprachige Arbeiten. Insgesamt erscheint dieser Leitfaden als Fortbildungsunterlage für praktizierende Ärzte konzipiert, die zu einigen wesentlichen Aspekten des Arzt-Patient-Gesprächs in gut verständlicher Sprache Erläuterungen und Empfehlungen formuliert. Im Sinne einer Leitlinie fehlen jedoch Hinweise auf Erstellungsmethodik („Leitlinienreport“), insbesondere eine systematische Ableitung der gegebenen Empfehlungen aus dem aktuellen Stand der Forschung. Aus Sicht der Gesprächsforschung fehlen im Kapitel Gesprächstechniken insbesondere detailliertere Empfehlungen zur Gesprächseröffnung, zur Beschwerdenexploration, zum ärztlichen Fragen und zum Gesprächsabschluss sowie Literaturhinweise auf einschlägige deutschsprachige Gesprächsforschungsergebnisse. Als einzige Leitlinie, die sich dem Gespräch mit Angehörigen widmet, konnte der „Leitfaden – Kommunikation mit den Angehörigen“ (GÖG 2013) identifiziert werden, der im Kontext von Organtransplantationen Anleitungen gibt, wie mit den Angehörigen der Verstorbenen und potentiellen Organspendern umgegangen werden sollte. Der Leitfaden wurde auf Basis von Erfahrungen aus Kommunikationsseminaren mit ÄrztInnen und Pflegepersonen entwickelt und greift auf keinerlei wissenschaftliche Evidenz zurück. Auf zwei Seiten werden in erster Linie Handlungsempfehlungen für ein geeignetes Gesprächssetting (Vorbereitung, Raum, Zeit), klare Übermittlung der Todesnachricht und „einfühlsame Kommunikation“ gegeben. Auf das sprachlichinteraktive Handeln wird mit nur wenigen Aspekten eingegangen (eindeutige Mitteilung der Todesnachricht, klare verständliche Sprache, aufmerksames Zuhören). Relativ genau werden Gesprächstechniken der Gesprächseröffnung und –beendigung ausgeführt. Die psychosoziale Ebene wird überraschend kurz mit Hinweisen auf nonverbale empathische Reaktionen der ÄrztInnen und Pflegepersonen angesprochen. Abgesehen von den vier kurz vorgestellten Leitlinien mit dem Schwerpunkt auf Gesprächsführung konnten nur zwei weitere Leitlinien identifiziert werden, die schwerpunktmäßig zu einem ärztlichen Behandlungsbereich verfasst wurden

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und auch Gesprächsführungsaspekte vertieft berücksichtigen. Die ganz aktuelle, sehr knapp formulierte S1-Handlungsempfehlung „Hausärztliche Basisbehandlung depressiver Patienten“ (DEGAM 2013) stellt das Gespräch ganz in den Mittelpunkt der ärztlichen Behandlung. Die Handlungsempfehlung ist keine systematisch evidenzbasierte Leitlinie, sondern eine erste Empfehlung einer Arbeitsgruppe der DEGAM. Die Empfehlungen zur Gesprächsführung fokussieren die Aufmerksamkeit auf psychosoziale Aspekte der Beziehungsgestaltung zwischen Arzt und Patient (wie Akzeptanz, Fürsorge, Schaffung einer vertrauensvollen Beziehung etc.) sowie auf Empfehlungen zu psychosozialen Gesprächsinhalten (wie zur biografischen und sozialen Anamnese, zu kritischen Lebensereignissen und zu Psychoedukation). Fragen des sprachlichen Handelns des Arztes werden nicht explizit bzw. nur durch generelle Hinweise angesprochen (wie „zuhören“, „Erfahrungen zusammenfassen“, „Wortwahl dem Patienten anpassen“). Zu Gesprächsaufbau und -phasen gibt es keine Empfehlungen außer einem kleinen Hinweis zur Gesprächsbeendigung. Diese Handlungsempfehlung legt also einen deutlichen Schwerpunkt auf psychosoziale Aspekte der Beziehungsgestaltung und Intervention, widmet sich aber kaum dem sprachlichen Handeln der Ärzte. Im Sinne der oben beschriebenen Implementationsbedingungen ist für diese und die im Folgenden beschriebene Leitlinie eine vorbildliche Einbindung praktisch tätiger Ärzte in die Leitlinienentwicklung über die Arbeitsgruppe „Psychosomatik in der Allgemeinmedizin“ der DEGAM hervorzuheben. Die zweite identifizierte Leitlinie, die sich ausführlicher mit der Gesprächsführung auseinandersetzt, ist die S3-Leitlinie „Umgang mit Patienten mit nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden“ (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. – AWMF 2012; Schaefert u. a. 2012). Der besondere Charakter der in der Leitlinie thematisierten Erkrankungsgruppe, die sich einer verlässlichen ärztlichen Diagnose und damit einer gezielten Therapie entzieht, führt zur Betonung psychischer und interaktiver Aspekte im Kontext der allgemein-medizinischen Behandlung. Ca. 20  Prozent der Hausarztpatienten werden dieser Diagnosegruppe zugeordnet, sodass die Entwicklung dieser Leitlinie auch ein besonderes Anliegen einer Arbeitsgruppe der DEGAM war. Diese Leitlinie stützt sich auf einen systematischen Literaturreview und wurde von insgesamt 28 medizinischen und psychologischen Fachgesellschaften und Verbände entwickelt; neben der Langfassung liegen auch Kurzfassungen für den ärztlichen Alltag wie auch für Patienten vor. Die „Grundlagen und Voraussetzungen für die Behandlung“ behandeln in der Langfassung ausführlich Aspekte der Gesprächsführung. Die Empfehlungen gehen auf einige wesentliche Momente des sprachlichen Handelns des Arztes ein: Gesprächseröffnung mit Einladung zur ausführlichen und spontanen Schilderung der Beschwerden, „aktives Zuhören“, Art der Frageformulierung, Reformulierung der Patientenbeschwerden mit Metaphern, aktives Nachfragen, partizipative Entscheidungsfindung. Diese Aspekte sprachlichen Handelns werden jeweils in Zusammenhang mit spezifischen psychosozialen Wirkungen auf die PatientInnen bzw. auf die Behandlungsbeziehung gebracht. So wird die ausführliche und

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spontane Beschwerdeschilderung zu Gesprächsbeginn als Mittel zur Anerkennung der subjektiven Patientenerfahrung durch den Behandler beschrieben. Damit stellt diese Leitlinie als Einzige der hier identifizierten Leitlinien mit einem Schwerpunkt auf Gesprächsführung einigermaßen systematisch den Zusammenhang zwischen sprachlicher Handlungsebene und psychosozialer Beziehungsebene her. Aus Sicht der sprachwissenschaftlichen Forschung überrascht und enttäuscht jedoch, dass selbst hier auf praktisch keine Ergebnisse der Gesprächsforschung Bezug genommen wird, sondern mit ganz wenigen Ausnahmen (z. B. in einer Studie zu Unterbrechungen von Beschwerdeschilderungen, Wilm u. a. 2004) ausschließlich medizinische, psychologische oder psychotherapeutische Forschungsliteratur zugrunde gelegt wird. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bisher nur sehr wenige Leitlinien Aspekte der ärztlichen Gesprächsführung thematisieren. Es konnten vier Leitlinien mit Schwerpunkt auf die ärztliche Gesprächsführung identifiziert werden, von denen zwei aus dem universitären Kontext der Ärzteausbildung stammen. Allen vier Leitlinien ist gemeinsam, dass sie ihre Empfehlungen nicht (nachvollziehbar) aus systematischen Literaturrecherchen ableiten und kaum deutschsprachige Literatur zum sprachlichen Handeln von ÄrztInnen berücksichtigen. In den letzten Jahren scheinen medizinische Fachgesellschaften – insbesondere die DEGAM im Kontext von psychosomatischen und psychischen Erkrankungen sowie hausärztlicher Behandlung  – zunehmend Aspekte der Gesprächsführung in Leitlinienempfehlungen zu berücksichtigen. Die Analyse der hier vorgestellten Leitlinien zeigt, dass Empfehlungen zur Führung von Arzt-Patient-Gesprächen auf vier sehr unterschiedlichen Ebenen formuliert werden: 1. Medizinisch-inhaltliche Ebene: Medizinische Inhalte, die ein Arzt dem Patienten im jeweiligen Behandlungskontext mitteilen soll, sind die am häufigsten beschriebenen Empfehlungen zur Gesprächsführung. So werden diagnosespezifische Inhalte eines Anamnesegesprächs oder eines Aufklärungsgespräches angeführt oder spezifische therapeutische Zusammenhänge erwähnt, die dem Patienten jeweils zu vermitteln sind. 2. Gesprächssetting: Immer wieder werden Hinweise auf die räumliche und zeitliche Gestaltung des Gesprächssettings gegeben, wie z. B. zumindest 15 Minuten Zeit für ein Anamnesegespräch vorzusehen oder die Sitzordnung zwischen Arzt, Patient und Computer so zu wählen, dass der Arzt sich nicht vom Patienten abwendet, wenn er liest oder schreibt; oder auch der oben erwähnte Hinweis auf eine „ungestörte Atmosphäre“. 3. Psychosoziale Ebene: Zumeist in Kontexten psychosomatischer bzw. psychischer Erkrankungen werden insbesondere psychosoziale Empfehlungen zur Beziehungsgestaltung zwischen Arzt und Patient ausgeführt, die z. B. psychische Haltungen der Ärzte im Gespräch wie Akzeptanz, Empathie, Fürsorge etc. zur Schaffung einer vertrauensvollen Beziehung beschreiben. Diese werden auch in

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einzelnen Kontexten durch psychotherapeutische Handlungsanleitungen und psychoedukative Empfehlungen ergänzt. 4. Sprachlich-interaktive Ebene: Sehr selten und unsystematisch werden Empfehlungen zum sprachlich-interaktiven Handeln der Ärzteschaft explizit formuliert. Diese Empfehlungen beinhalten Hinweise zu einzelnen Gesprächsphasen (z. B. Gesprächsbeginn und -abschluss) und/oder zu einzelnen sprachlichen Aktivitäten (z. B. Art der Frageformulierung, Metaphernverwendung). Die den Empfehlungen zur Gesprächsführung zugrunde gelegten Evidenzen sind fast ausnahmslos psychologische und psychotherapeutische Forschungen und deren Ergebnisse zur psychosozialen Beziehungsgestaltung bzw. zum therapeutischen Handeln. Aus der Perspektive einer Erweiterung der ärztlichen Herangehensweise im Sinne eines somato-psycho-sozialen Behandlungsgeschehens sind dies wesentliche Beiträge zur evidenzbasierten Qualitätsentwicklung des ärztlichen Handelns insbesondere im Bereich psychosomatischer Erkrankungen. Aus einer Gesprächsforschungsperspektive ist jedoch der hier vorgelegte Befund, dass Aspekte des sprachlich-interaktiven Handelns von ÄrztInnen nur marginal und unsystematisch in Leitlinien beschrieben werden, ein erschütterndes Zeichen dafür, wie wenig die vorliegende sprachwissenschaftliche, medizinsoziologische und medizinpsychologische Forschung bisher Eingang in den medizinischen Qualitätsdiskurs gefunden hat. Vielmehr werden vorliegende Studien und Ergebnisse der deutschsprachigen Gesprächsforschung als Evidenzbasis für Leitlinienentwicklung bisher fast vollständig ignoriert.

4 Diskussion und Schlussfolgerungen Der rasche Fortschritt medizinischer Forschung macht es notwendig, neues Behandlungswissen nicht nur über ärztliche Ausbildung zu vermitteln, sondern auch über unterschiedliche Instrumentarien laufend in das Gesundheitssystem einzuführen. Leitlinien sind hier ein inzwischen vielfach genutztes Instrument, um im Behandlungsalltag ein an aktueller Evidenz orientiertes ärztliches Handeln zu ermöglichen. Die Wirksamkeit von Leitlinien auf die ärztlichen Behandlungsprozesse scheint unter Einhaltung bestimmter Implementationsbedingungen gut belegt. Die Auswirkungen auf Behandlungsergebnisse sind bisher nicht ausreichend untersucht und ein Forschungsdesideratum. Dennoch scheinen Leitlinien prinzipiell ein Instrumentarium darzustellen, das auch zur Weiterentwicklung und Aufrechterhaltung von patienten-, gesundheitsorientierter und effizienter Arzt-Patient-Interaktion nutzbar wäre. Die vorgelegte Analyse macht aber deutlich, dass Leitlinien bisher dafür nur sehr eingeschränkt genutzt wurden und deren Nutzung erst ganz am Anfang steht. Die Komplexität von interaktiven Prozessen ist nicht ohne weiteres in einfache Handlungsemp-

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fehlungen zu gießen und entzieht sich einem mechanistischen Regelverständnis. Vor dem Hintergrund des hier dargestellten fast völligen Fehlens von selbst einfachsten Grunderkenntnissen der Gesprächsforschung in medizinischen Handlungsleitlinien scheint es aber für die Qualitätsentwicklung des ärztlichen Handelns den Versuch wert zu sein, Gesprächsforschungsergebnisse systematisch und praxisnah im ärztlichen Alltag zugänglich zu machen. Deutschsprachige Leitlinien berücksichtigen bisher Gesprächsführungsprozesse primär unter dem Aspekt der empfohlenen medizinischen Inhalte, die vom Patienten zu erfragen sind bzw. die dem Patienten im Gespräch vermittelt werden sollen. Im Kontext psychosomatischer Erkrankungen und hausärztlicher Versorgung von PatientInnen mit chronischen bzw. psychischen Erkrankungen werden in aktuellen Leitlinienentwicklungen auch zunehmend psychosoziale Aspekte der Beziehungsgestaltung betont und berücksichtigt. Aspekte des sprachlich-interaktiven Handelns der Ärzte werden nur marginal und unsystematisch in Leitlinien beschrieben, und Ergebnisse der Gesprächsforschung werden als Evidenzbasis für Leitlinienentwicklung nicht zur Kenntnis genommen. Warum ist das so? Grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung von Leitlinien nach internationalem Standard ist die Verfügbarkeit von relevanter Evidenz in der über Literaturdatenbanken zugänglichen medizinischen Literatur. Ohne an dieser Stelle im Detail auf die breite Diskussion eingehen zu können, was „relevante Evidenz“ im Bereich der Gesprächsforschung darstellen kann, scheinen einige Voraussetzungen für die Rezeption von Gesprächsforschung in der Leitlinienentwicklung derzeit zu fehlen: – Ein Großteil der deutschsprachigen Gesprächsforschungen sind qualitative Forschungen, die für den Kontext medizinischer Evidenz jeweils geringe Patientenzahlen inkludieren. Gesprächsforschung ist darüber hinaus selten auf Wirksamkeit von spezifischen Gesprächsführungselementen in klinischen Kontexten (in konkreten diagnostischen oder therapeutischen Prozessen) ausgerichtet. Eine differenzierte Diskussion über mögliche „outcomes“ oder Endpunkte von Gesprächsprozessen und -funktionen zwischen Arzt/Ärztin und Patient/in hat gerade erst begonnen (de Haes/Bensing 2009). Für die Breite von möglichen direkten, intermediären und Langzeitwirkungen verschiedener Gesprächsprozesse auf PatientInnen, auf die Angehörigen der Gesundheitsberufe und auf die Organisationen und Systemebene des Gesundheitswesens liegen bisher nur vereinzelte Befunde vor. Auch die Wirkmechanismen zwischen Gesprächsführungselementen und Patientengesundheit und –zufriedenheit sind bisher nur in groben Zügen konzipiert (Street u. a. 2009) und nicht systematisch durch empirische Studien belegt. Gleichzeitig sind Gesprächsprozesse komplexe Phänomene, deren empirische Untersuchung in anspruchsvollen Forschungsdesigns (FallKontroll-Studien, Randomisierung etc.)große methodische Probleme aufwirft. Damit ist die Evidenzbasis für die Aufnahme von Gesprächsführungselementen im Sinne der evidenzbasierten Medizin sehr unterentwickelt. In vielen Berei-

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chen muss derzeit noch auf Fallstudien und Expertenkonsens als bestverfügbare Evidenz gesetzt werden. – Darüber hinaus wendet sich ein Großteil der gesprächslinguistischen Arbeiten in seinen Schlussfolgerungen vordringlich an die eigene Forschungsgemeinde und ist sehr zurückhaltend in Hinblick auf eindeutige, praxisnahe Empfehlungen für die ärztliche Gesprächsführung. Dies ist z. T. auch mit grundlegenden methodologischen Überlegungen wichtiger Forschungstraditionen begründet (z. B. Konversationsanalyse, vgl. z. B. Sidnell/Stivers 2013). Aber damit sind die Ergebnisse der Gesprächsforschung nicht als Empfehlungen in den zumeist diagnostisch fokussierten medizinischen Leitlinien nutzbar. – Zusätzlich wurden diese Arbeiten überwiegend nicht als Zeitschriftenartikel, sondern als Buchbeiträge, Forschungsberichte oder Monografien publiziert. Laut einer Analyse der Online-Forschungsdatenbank API-on© (http://www.univie. ac.at/linguistics/florian/api-on/; letzter Zugriff 15.1.2014) waren bis zum Jahr 2007 nur 64 von 236 Primärstudien in Zeitschriften publiziert (Menz u. a. 2008). Wenn sprachwissenschaftliche Studien in Zeitschriften publiziert wurden, dann kaum in medizinischen Journalen, die in gängigen medizinischen Literaturdatenbanken (Medline, PubMed etc.) gelisteten werden. – Systematische Überblicksarbeiten im Bereich der Gesprächsforschung, die die Ergebnisse vieler Einzelstudien zusammenfassen, stellen sehr komplexe methodische Herausforderungen dar und sind noch kaum realisiert worden (Nowak 2007; Nowak 2010; Nowak 2011; Parry/Land 2013). Damit stehen kaum systematisch generalisierte Gesprächsforschungsergebnisse als Evidenzgrundlage zur Verfügung. Schon Glaser, Strauss (1967, 82) zitieren Wright Mills mit seiner Klage: „there are too few good synthesizers who wish to search out the bricks and thus put the wall together. These worthy people are usually too busy working on their own data.“ Damit sind Gesprächsforschungen für systematische Literatursuchen im medizinischen Kontext sehr schwer zugänglich und gleichzeitig auf einem für den medizinischen Kontext niedrigen Evidenzniveau. Daraus ergeben sich grundlegende Entwicklungsperspektiven für die Gesprächsforschung, um besser im medizinischen Diskurs und in der Entwicklung von Leitlinien und damit im ärztlichen Alltag rezipiert werden zu können: – Durchführung von Primärstudien und Aufbau von Evidenz zur Wirksamkeit von spezifischen Gesprächsprozessen in spezifischen klinischen Kontexten, differenziert nach Diagnosen, Behandlungskontext und Gesprächstypen (vgl. auch Menz/ Sator 2011) – erste Beispiele solcher Interventionsstudien zeigen, wie aufwendig, aber gleichzeitig lohnend diese Forschung ist (vgl. Heritage u. a. 2010; Heritage u. a. 2007). Dennoch wird es hier wesentlicher methodischer Entwicklungsarbeit bedürfen, um hoch bewertete Evidenz im Sinne der Leitlinienentwicklung vorle-

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gen zu können, die auch der Komplexität des „Forschungsgegenstandes“ ArztPatient-Gespräch annähernd gerecht wird; systematische interdisziplinäre Zusammenarbeit mit KlinikerInnen und medizinischer Forschung in der Entwicklung der Forschungsfragen und -methoden (insbesondere Studiendesigns) sowie der Analyse und Interpretation der Ergebnisse; auf Basis dieser Primärstudien Überprüfung und Weiterentwicklung vorliegender Zusammenhangs- und Erklärungsmodelle, die spezifische Gesprächsprozesse und -elemente mit relevanten Ergebnissen („Endpunkten“) patientenseitig, arztseitig und auf Systemebene verbinden können (vgl. de Haes/Bensing 2009; Street u. a. 2009); Präsentation und Publikation dieser Primärstudien auf medizinischen Konferenzen und in Zeitschriften; Erstellung von systematischen Überblicksarbeiten, die Ergebnisse vieler Gesprächsforschungen zusammenführen können (vgl. Nowak 2007; Nowak 2010; Nowak 2011; Parry/Land 2013) und deren Forschungsfragen auf medizinisch relevante Problemstellungen fokussieren, in denen kommunikative Kompetenzen wesentliche Unterschiede machen könnten; Publikation dieser Überblicksarbeiten in relevanten medizinischen Zeitschriften, die den Zugang zu diesen Ergebnissen für die Literatursuchen bei der Erstellung von Leitlinien ermöglicht; all dem steht aber auch eine markante Unterfinanzierung der hier geforderten Forschungsbereiche gegenüber. Die Chancen (oder sollte man hier eher von Gefahr sprechen?), dass die medizinisch-technische und pharmazeutische Industrie hier fehlende öffentliche Forschungsgelder ersetzen, ist gering.

Hunderte empirische Arbeiten haben Arzt-Patient-Gespräche in vielen diagnostischen und institutionellen Kontexten untersucht. Ein Blick in die Gesprächsforschung dürfte auch jetzt schon für Leitlinien-Entwickler ein lohnendes Unterfangen sein. Die bereits erwähnte Forschungsdatenbank API-on© (http://www.univie.ac.at/ linguistics/florian/api-on/; letzter Zugriff 15.1.2014) könnte den Zugang erleichtern. Die Aktualität solcher spezifischer Literaturdatenbanken lässt – wie auch in diesem Fall – zu wünschen übrig und kann derzeit nur durch die Mithilfe der gesamten Forschungsgemeinde gewährleistet werden. Aus der vorangegangenen Analyse lassen sich auch Vorschläge zur Strukturierung von Empfehlungen zur Gesprächsführung in Leitlinien ableiten: – Zunächst scheint es wichtig, in den Empfehlungen zur Gesprächsführung klar zwischen den vier Ebenen der medizinischen Inhalte, der psychosozialen Beziehungsgestaltung, der sprachlich-interaktiven Prozesse und des Gesprächssettings zu unterscheiden. – Die Beschreibung des empfohlenen sprachlich-interaktiven Handelns sollte systematisch auf Basis des idealtypischen Handlungsschemas eines ärztlichen Gesprächs (Busch/Spranz-Fogasy sowie Menz in diesem Band; Koerfer u. a.

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2008; Nowak/Spranz-Fogasy 2009; Nowak 2010) und adaptiert für den jeweiligen medizinischen Kontext erfolgen. Diesen Empfehlungen sollten Ergebnisse der Gesprächsforschung zugrunde gelegt werden. Dabei könnten alle zentralen Gesprächsphasen von der Gesprächseröffnung bis zum Gesprächsabschluss als Orientierungsrahmen genutzt und möglichst vollständig abgebildet werden. Je nach medizinischem Kontext und Gesprächstyp bedarf es darin entsprechender Schwerpunktsetzungen oder auch Abweichungen von dem idealtypischen Handlungsschema auf Basis vorliegender Gesprächsforschung. – Auf dieser Basis können in den Leitlinien auch systematische Zusammenhänge des sprachlich-interaktiven Handelns mit den medizinischen Inhalten und Prozessen der Beziehungsgestaltung hergestellt werden. – Schließlich zeigen die hier analysierten Leitlinien für ärztliche Gesprächsführung, dass diese zumindest für vier verschiedene Kontexte entwickelt werden können: 1) Generelle Leitlinien zum Arzt-Patient-Gespräch (wie Köhle u. a. 2010; SAMW 2013); 2) Leitlinien für einzelne medizinische Fachrichtungen; 3) diagnosespezifische Leitlinien (wie AWMF 2012) und 4) gesprächstypspezifische Leitlinien (wie Köhle 2006; GÖG 2013). Um noch weiter in die Zukunft zu blicken: Wenn es gelingt, Leitlinien auch auf Basis von Gesprächsforschungsergebnissen zu erstellen, so sollte eine Evaluierung der Wirksamkeit dieser Leitlinien angeschlossen werden, wobei wesentlich erscheint, die zehn erwähnten Entwicklungs- und Implementationsbedingungen (Rotter u. a. 2010) zu beachten. Medizinische Leitlinien, die qualitätsvoll Gesprächsführungsprozesse definieren, könnten – so der Ausblick – nicht nur ärztliches Handeln in vielen Einzelfällen verändern, sondern auch auf das Gesundheitssystem wirken. Denn solche Leitlinien könnten auch wünschenswerte, patientenseitige Ergebnisse (z. B. selbstbestimmte, gesundheitskompetente Bürger) und notwendige organisatorische, rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen des ärztlichen Handelns formulieren und damit einen Anstoß zur Weiterentwicklung des Gesundheitssystems geben. Ebenso können Leitlinien konkrete Zielvorgaben für die Gestaltung der ärztlichen Aus- und Fortbildung geben, wie es im Schweizer Leitfaden (SAMW 2013) begonnen wurde. Dies scheint gesundheitspolitisch zentral. Denn die Kritik am deutschen Gesundheitssystem von Schaefert und KollegInnen (Schaefert u. a. 2012, 804) dürfte nicht nur für nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden und nicht nur für Deutschland gültig sein: Ein Gesundheitssystem, das mehr auf Reparatur und Versorgung als auf Selbstverantwortung und Prävention ausgerichtet ist und kontraproduktive finanzielle Anreize für krankheitsbezogenes Verhalten und apparative Maßnahmen statt für gesundes Verhalten, Gesprächsleistungen und Vermeidung unnötiger Maßnahmen setzt, wirkt beschwerdeunterhaltend.

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Vor dem Hintergrund einer solchen Einschätzung des Gesundheitssystems bleibt es kein triviales Unterfangen, gute Bedingungen für eine patienten- und gesundheitsorientierte Gesprächspraxis im ärztlichen Alltag herzustellen (Nowak 2013). Da sind gut entwickelte und u. a. auf Gesprächsforschung basierende Leitlinien ein weiterer und voraussichtlich lohnender Beitrag zu dieser Entwicklung. Ich danke Ottomar Bahrs, Armin Koerfer, Florian Menz, Marlene Sator, Thomas Spranz-Fogasy, Aida Tanios, Iris Veit und Andreas Vejvar für die wertvolle Unterstützung in der Recherche nach Leitlinien und kritische Durchsicht des Manuskripts.

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III Mediale Konstruktion von Medizinkommunikation

Albert Busch

20. Medizindiskurse: Mediale Räume der Experten-Laien-Kommunikation Abstract: In diesem Beitrag werden die Regularitäten massenmedialer Gesundheitskommunikation zwischen Medialisierung und Medikalisierung in den Blick genommen. Es sollen Fragen nach den Akteuren, ihren diskursiven Rollen zwischen Experten und Laien, ihren Zielen sowie der Wissens- und Risikokommunikation beantwortet werden. Im Zentrum stehen dabei die Fragen, wie die Ratio der Massenmedien Fachwissen und fachsprachliche Inventare umformt und wie es unter diesen Bedingungen um die kommunikative Qualität in der massen- und digitalmedialen Gesundheitskommunikation bestellt ist. 1 Medizindiskurse 2 Medizinkommunikation als Massenkommunikation 3 Medizinkommunikation als Experten-Laien-Kommunikation par exellence 4 Medizinkommunikation als Wissenskommunikation 5 Common ground in Medizindiskursen 6 Risikokommunikation 7 Analysedimensionen 8 Literatur

1 Medizindiskurse Medizinthemen werden medial kommunikativ konstituiert. Sie erfreuen sich hoher Aufmerksamkeit bei Experten und Laien, Ärzten und Patienten, Medienredaktionen und Rezipienten. Das Wissen über Gesundheit und Krankheit hat gesellschaftlich und diskursiv einen hohen Stellenwert und existiert als sprachlich gebundenes Wissen mit eigenem Geltungsanspruch in massenmedial kommunizierenden Gesellschaften. Allerdings wird so manches medizinisches Konzept nach der medialen Verarbeitung von Medizinern kaum noch wiedererkannt. Mediale Verformungen medizinischer Inhalte sind jedoch in der Regel keine Betriebsunfälle sondern unterliegen wie alle öffentlichen Kommunikationsräume nachvollziehbaren Regularitäten (vgl. Busch 2016, i. Dr.). Insbesondere verbinden sie die horizontale Dimension der Fachkommunikation, also das Nebeneinander der medizinischen Teilfächer und Spezialdisziplinen, mit der vertikalen Dimension, die durch die Austauschprozesse zwischen Experten, Laien und medialen Mittlerinstanzen charakterisiert ist, zu etwas Neuem: einem prototypischen Raum der Experten-Laien-Kommunikation (vgl. Busch 1999, 2006).

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Im Medizindiskurs treffen Experten und Laien in verschiedenen Rollen aufeinander und beeinflussen einander auf sprachlicher wie auf konzeptueller Ebene. Aus diesen Kommunikationen entstehen teilweise neue, differente Wissenssysteme, die nicht ausschließlich mit fachlicher Bewertung versehen werden können, solange sie medial und kommunikativ funktional sind. So unterliegen Versprachlichung und diskursive Formung des Medizinwissens an jedem Punkt des Medizindiskurses je spezifischen Notwendigkeiten und Formierungen (vgl. Eckkrammer 2005 und in diesem Band, Brünner/Gülich 2002, Busch 1999). Medizinisches Wissen und seine kommunikative Form sind daher popularisiert und außerhalb der Grenzen einer medizinischen Fachdisziplin und der fachsprachlichen Codierung weder stabil noch homogen systematisiert. Vor diesem Hintergrund stellen sich Medizindiskurse als komplexe, vertikal strukturierte Wissensräume dar, in denen fachextern diverse zum Teil disparate und (fachlich bewertet) inkommensurable Wissensbestände ausgetauscht und modifiziert werden. Die Volatilität von Wissensvarianten, die sich hier auftut, ist jedoch nicht ganz ausschließlich in der Fachexternität des Mediendiskurses beheimatet. Auch in fachinterner Sicht gibt es Wissensdynamiken und differerierende Denkstile, die fachlich fundiert den Fortschritt sichern, dies allerdings nicht ohne semantische Kämpfe um konkurrierende Konstruktionen und Repräsentationen (vgl. Ylönen 2011, Busch 2006). Fachintern wie fachextern handelt es sich um Diskurse „in denen um Meinungen gerungen, um Deutungshoheiten und um Überzeugungen gekämpft wird.“ (Spieß in diesem Band) Enger linguistisch betrachtet stellt ein Medizindiskurs (z. B. der über die sog. Schweinegrippe)  – so wie Diskurse generell (vgl. Warnke 2015)  – „einen Komplex seriell repräsentierter topikalisch kohärenter, kollektiver kommunikativer Akte“ dar, „die von einer Gruppe von Diskursbeteiligten realisiert und textuell bzw. medial heterogen repräsentiert werden“ (Kämper 2012: 21). Medizindiskurse sind selbst nicht homogen, sondern können im Anschluss an die unmittelbar vorangegangene Definition von Kämper z. B. in kurative, allgemein gesundheitsorientierte oder explizit salutogenetische Subdiskurse aufgeteilt werden. (vgl. Busch 1999). Zu den besonders wichtigen diskursiven Dimensionen von Medizindiskursen gehören die folgenden: – Medizindiskurse als massen- und digitalmediale Räume, – Medizindiskurse als Räume der Experten-Laien-Kommunikation, – Medizindiskurse als Form der Wissenskommunikation, – Medizindiskurse als Grounding-Kommunikation, – Medizindiskurse als Risikokommunikation.

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2 Medizinkommunikation als Massenkommunikation Medizin in Massenmedien – eine von jeher attraktive Allianz, deren fachinterne und fachexterne Dimension linguistisch wie medien- und kommunikationswissenschaftlich (vgl. Bleicher/Lampert 2003) immer wieder mit Blick auf einzelne Objektbereiche ausgeleuchtet worden ist, so etwa: – ihre historische Entwicklung (vgl. Lobenstein-Reichmann in diesem Band), – ihre Textsortenentwicklung (vgl. Eckkrammer 2005 und in diesem Band, Weinreich 2010 und in diesem Band, Ylönen 2001), – ihre TV- und printmediale Darstellung (vgl. Brünner 2011), – ihre spezifischen Vermittlungsstrategien (vgl. Brünner 2009, 2013, Becker 2001) oder – ihre spezifischen Online-Formen (vgl. Kleinke in diesem Band). Medizindiskurse bilden von der fachmedialen Verarbeitung medizinischer Grundlagenforschung bis hin zum laiendominierten Internet-Selbsthilfeforum und der Medizinkommunikation in Social Media den kommunikativen Raum, in dem massenmediale Medizin- und Gesundheitskommunikation stattfindet. Ihre diskursiven Rahmenbedingungen sind ebenso vielfältig wie alltäglich. In der massenmedialen Aufbereitung wird die fachbezogene Medizinkommunikation mit ihren zahlreichen Facetten (vgl. Busch/Spranz-Fogasy 2014) oft zur laienbezogenen Gesundheitskommunikation. Das inhärente Experten-Laien-Spannungsfeld gehört zu dieser Kommunikation wie die Bezüge auf die Dignität von Fachwissen und Expertenstatus. In massenmedialer Verformung sind dann auch frohe Botschaften möglich, die zwar fachlich nicht intendiert sein mögen, aber das Rezeptionsinteresse steigern. Wer kennt sie nicht, die immer wieder neugierig machenden Schlagzeilen wie: „Schokolade kann schlank machen“, „Junge Partnerinnen verlängern das Leben“, „Brokkoli verlängert Leben“, „Kaffee schützt vor dem Vergessen“, „Alkohol gegen Rheuma“ und „Mutterliebe gegen Stress“. (DNEbM 2012)

So attraktiv die Inhalte solcher Schlagzeilen für den einen oder anderen Diskursteilnehmer sein mögen, das wissenschaftliche Dementi folgt auf dem Fuße. Die Expertenseite, hier das Netzwerk evidenzbasierte Medizin, betont: Endlos ließe sich diese Liste weiterführen, eine Liste der (un-)bewussten Irreführung der Bürgerinnen und Bürger, indem epidemiologische Studien, ob Querschnitt- oder Langzeitbeobachtungen, kausal interpretiert werden und gar präventivtherapeutische Schlussfolgerungen gezogen werden. Oftmals bedient die Berichterstattung mit diesen Schlagzeilen Wunschvorstellungen zu Genussmitteln und konservativen moralischen Gesellschaftsbildern. Ursache-Wirkungsabhängigkeit wird dort behauptet, wo ausschließlich Zusammenhänge konstatiert werden dürfen, die eben so wenig ursächlich sein müssen oder können wie der Zusammenhang zwischen Storchenflug und Geburtenhäufigkeit. (DNEbM 2012)

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Thematisiert wird hier eine typische mediale Konstellation des kommunikativen Miteinanders von Experten, Laien und Mittlerakteuren in massenmedialen Diskursen. Im Gegensatz zur medizinischen Fachkommunikation ist hier der rezeptive Resonanzraum geprägt von einem starken Attraktivitäts-, Risiko- und Individualbezug. Auf dem Weg aus der fachlichen in die massenmediale Sphäre findet so eine laienorientierte Verschiebung statt, gewissenmaßen von Prävalenz, Inzidenz und Kuration zur identifikatorischen Wahrnehmung. „Was bedeutet das für mich und die Meinen?“ ist die zentrale risikokommunikative Frage, die die Laienrezeptionsmuster prägt und die – oft gestützt durch media scare und Furchtappelle  – das mediale Interesse an Medizin- und Gesundheitsthemen immer wieder neu entfachen (vgl. Renner/Panzer/Oeberst 2007). Insbesondere das digitalmediale Kontinuum vom WWW bis zu sozialen Netzwerken (zunehmend von mobilen Endgeräten aufgerufen) gewinnt immer mehr an Bedeutung und ist zum allgegenwärtigen Begleiter aller anderen Formen von Medizinkommunikation geworden. Die medial geformten Kommunikate (vgl. Wichter 2011), mit deren Hilfe medizinund gesundheitsorientierte Diskurse geführt werden, sind, neben authentischen oder medial inszenierten Arzt-Patient-Gesprächen, Texte, Text-Bild-Kombinationen, insbesondere hybride hypertextuelle und elektronisch interaktive Formen. Im Zuge der Veränderung der Medienlandschaft im Rahmen des digital turn (vgl. Eckkrammer und Kleinke in diesem Band) verlagert sich das Informationshandeln zunehmend auf elektronische Medien (vgl. Brichta u. a. 2007, Hautzinger 2002, 2003), und es bilden sich – aus diesen Quellen gespeist – bei medizinischen Laien und Patienten hybride Medizin-Wissenssysteme mit eigenen Qualitätsansprüchen heraus (vgl. Eysenbach/ Sa/Diepgen 1999, Eysenbach u. a. 2002, Eysenbach/Köhler 2002). So entsteht ein auch medial vielfältig konfigurierter medizinischer Wissens- und Kommunikationsraum, der stark von medialer Differenzierung und Konvergenz geprägt ist. Internet und Web 2.0 haben die printmedialen Informationsquellen wie Fachbücher, allgemeine Gesundheitsbücher, Enzyklopädien oder Broschüren überflügelt und integriert. Sie sind für breite Bevölkerungskreise zu den wichtigsten Informationsmedien z. B. zu erkrankungsbezogenen Fragen geworden (vgl. Nerverla u. a. 2007, Wirth 2010). Digitalmediale Angebote, also via Internet und Web 2.0, lassen sich idealtypisch fünf Großgruppen zuordnen: – Gesundheitsportale oder Health Communities, die neben medizinischer Information interaktiv angelegt sind, beispielsweise durch Chatmöglichkeiten oder Diskussionsforen, – Communities, die ohne Medizininformationen eine Plattform zum interaktiven Austausch bieten, – medizinische Fachseiten oder Health Contents sind Angebote, die medizinische Informationen für Rezipienten anbieten, aber nicht interaktiv sind,

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– Homepages von Praxen und Kliniken, sog. Health Provisions, sind Angebote, die einen direkten Kontakt (rezeptiv oder interaktiv) zwischen Arztpraxis und Patienten herstellen. – Health 2: Netzwerke in sozialen Medien (vgl. Wirth 2010, Gitlow 2000 – Health Apps (vgl. Scherenberg/Kramer 2013, 2014). Die Spanne der Wissensangebote reicht hier von qualitätsgesicherten Seiten über Selbsthilfeseiten und kommerzielle Angebote bis hin zu ausgesprochen fragwürdigen Inhalten, was eine stärkere Qualitätssicherung medialer Medizinkommunikation überaus wünschenswert macht. Qualitätsorientierung medialer Angebote: Die qualitativen Anforderungen an WWW-Angebote sind umfangreich und betreffen Diskurseinbettung, Wissensdarbietung und Niveauorientierung ebenso wie Rezipientenerwartungen und Informationsdidaktik (vgl. Ballodt 2001, 2007, Eysenbach u. a. 2002, Busch 2005 sowie die Übersichten bei Krüger-Brand 2012 und unter: http://www.patienten-information. de). Dabei entsteht die Qualität des Wissenstransfers in der Online-Medizinkommunikation in der jeweils spezifischen Konstellation von Web-Beschaffenheit bei Gesundheits- und Medizinangeboten im Internet und den Wissensvoraussetzungen, Erwartungen und Wünschen der Rezipienten sowie ihrer emotionalen Situation. Mithilfe von Online-Angeboten wird die Wissensbarriere zwischen Experten und Laien unter dem Stichwort Empowerment gerade im Gesundheitswesen zu minimieren versucht. Empowerment wird aufgefasst als ein emanzipatorisches Konzept, das zum Ziel hat, Patienten als medizinische Laien in die Lage zu versetzen, mit der medialen Wissenskluft produktiv umzugehen. Ferner bedeutet es Selbstbefähigung und Selbstbemächtigung, Stärkung von Eigenmacht, Autonomie und Selbstverfügung im Sinne der Wissensvermittlung und Kompetenzschaffung, kurz das Aufheben der Wissensbarriere. Dabei übernimmt der Patient als „beteiligter Experte“ durch seine Mitwirkung am Prozess der medizinischen Dienstleistung selbst aktiv Anteile und trägt durch seine Mitarbeit wesentlich zur Prozess- und Ergebnisqualität des Leistungsgeschehens bei (vgl. Herriger 2010). Damit verbunden sind Anforderungen, die sich aus dem veränderten Rollenbewusstein der Patienten ergeben. So lassen sich nach wie vor in vereinfachender Dichotomisierung die Nutzer des Gesundheitswesens in monitors und blunters einteilen. Zu erster Gruppe zählen Menschen, die Informationen aktiv suchen und an Entscheidungen bezüglich diagnostischer und therapeutischer Verfahren beteiligt werden wollen. Blunters dagegen fühlen sich mit einer aktiven Rolle eher überfordert und wünschen eine fürsorgliche, paternalistische Haltung der Professionellen, hier der Ärzte (vgl. Dirks u. a. 2001: 94). Zwischen diesen beiden Polen der monitors und blunters findet sich ein breites Spektrum von Orientierungen, das es nötig macht, Online-Beratungen multifunktional aufzubauen, sodass für möglichst viele Bedürfnisse Beratungsangebote bereitgestellt werden können. Um ein solches System aufzubauen, müssen differente Ele-

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mente miteinander in Einklang gebracht werden, die in Anzahl und Komplexität weit über herkömmliche Beratungsinfrastrukturen und -voraussetzungen hinausgehen. Hier tut sich angesichts aktueller medialer Entwicklungen ein Spannungsfeld auf: Empowerment vs. Selbststeuerung. D. h.: Einerseits muss qualitativ hochwertige Online-Gesundheitsberatung im Idealfall in eine übergreifende Beratungsinfrastruktur integriert sein, um mögliche Kommunikations- und Wissensbarrieren sowie die Möglichkeit der Fehlberatungen durch falsche oder im medizinischen Sinne nicht qualifizierte Beraterpersonen auszuschließen. Die konkrete Online-Beratungssituation bedarf eines solchen Hintergrundes zur adäquaten Prüfung und Aushandlung der Zuständigkeit sowie der Kompetenzzuschreibung, da hier keinerlei akademische oder professionalisierte Qualitätssicherung den Ratsuchenden Hinweise auf Seriosität und fachliche Absicherung der Berater gibt (vgl. Schmidt-Kaehler 2004). Andererseits wird durch das Web 2.0 – oder in der thematischen Diktion Health 2.0 – die fachliche Dominanz von Medizinexperten abgelöst, wie Wirth hervorhebt: Da recherchieren Patienten indikationsbezogen, interessieren sich für Symptome, Therapien, Medikationen, Alternativen, Leistungserbringer, Zweitmeinungen, Krankenkassen, Patientenerfahrungen, Patientenbewertungen und vor allem dafür, was ihresgleichen so denkt: „Patienten wie du und ich“ also. Was im klassischen Wissensmanagement oftmals problematisch ist, funktioniert hier ganz hervorragend: Patienten sind bereit, ihr Wissen zu teilen. […] Durch Soziale Netzwerke entsteht letztlich eine neue Einflussgröße auf dem Gesundheitsmarkt: die digitale Meinungsführerschaft. Das kann dann so weit gehen, dass Patienten ihrem Netzwerk mehr vertrauen als ihrem Arzt oder der Pharmaindustrie mit ihren spezifischen Interessen. (Wirth 2010: 69)

3 Medizinkommunikation als Experten-Laien-­ Kommunikation par exellence Die sprachliche Oberfläche von Gesundheitsdiskursen birgt – aliquid stat pro aliquo – Verweisstrukturen, die differente, wissenschaftlich teilweise inkompatible Wissensordnungen zwischen Medizinexperten und Medizinlaien indizieren. In solchen Diskursen entstehen rezipientenseitig eigene, ggf. nur individuell gültige Wissensbiographien im Sinne subjektiver Theorien: Neben die eigenen Erfahrungen und die bereits bekannten Inhalte aus vorangegangener massenmedialer Gesundheitskommunikation tritt durch jeweils aktuelle mediale Angebote neues Wissen über Erkrankungen, Krankheitsursachen, Therapien und prominente Beispiele und verdichtet sich zu eigenen Laiensystemen. Neue mediale Möglichkeiten werden laienseitig sehr schnell genutzt und lassen neue gesundheitskommunikative und mithilfe elektronischer Medien zunehmend interaktivere Varianten entstehen, deren Fachferne Medizinern häufig missfällt.

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Linguistisch ist auch in der Gesundheitskommunikation diese Spanne zwischen Experten und Laien als Vertikalität operationalisierbar: „Vertikalität ist […] eine generelle Erfahrung in einer komplexen und mithin auf interne fachliche Kooperation angewiesenen Gesellschaft.“ (Wichter 1995: 290) Im Gesundheitsdiskurs wirkt sie sich als Diskursvertikalität zwischen Medizinern und Nicht-Medizinern aus. Diese Inkommensurabilität variierender Wissensbestände (grundlegend Wichter 1994, 1995) ermöglicht es, dass im Rahmen von Medizin- und Gesundheitskommunikation, so häufig wissenschaftlichen Studien Elemente entnommen und auf Rezipientenhorizonte, „Wunschvorstellungen zu Genussmitteln und konservativen moralischen Gesellschaftsbildern“ (EBM-Netzwerk 2012) zugerichtet werden. Damit erweist sich auch, dass für diskursive Gesundheitskommunikation weder fachliche Richtigkeit noch ein wie auch immer gearteter Wahrheitsbegriff der kommunikative Maßstab sein können. An die Stelle fachlich richtigen Wissens treten im Diskurs Diskurspositionen und diskursive Stereotype, die bezogen auf wissenschaftlich-fachliche Wissensordnungen niveauverschieden sein können, kommunikativ aber gleichberechtigt an der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit beteiligt sind. Besonders im digitalmedialen Raum gilt für das medizinische Laienwissen aus dem Web 2.0: Und mag solcherart generiertes Wissen auch kein Lehrbuchwissen sein, so ist es doch gewissermaßen evidenzbasiert, da es auf den Erfahrungen von Patienten beruht, z. B. mit Medikamenten oder Therapien. Die Wirkmächtigkeit solchen Wissens ist deshalb nicht zu unterschätzen, denn es beeinflusst immer stärker solche Bereiche wie Selbstdiagnose, Arztwahl, Präferenzen für eine Medikation oder Therapie. „Sharing is sexy“, ermuntert ein australischer Gesundheitsblogger seine Leser zum Mitmachen, aber es geht um mehr, denn auch im 21.  Jahrhundert ist Wissen nach wie vor Macht. Es heißt jetzt nur anders, nämlich Empowerment. (Wirth 2010: 69)

Die Komplexität der Vertikalitätsphänomene wird dadurch verstärkt, dass auch die Expertenseite der Experten-Laienskala in der Skalenheuristik kaum einen Fixpunkt darstellt. Auch Ärzte unterliegen – wie andere Fachwissenschaftler auch – der akteursspezifischen Gefahr, zum peripheren Individuum (vgl. Kaltenborn 1998: 556) und außerhalb der jeweiligen Spezialdisziplin punktuell zum Laien (vgl. Kaltenborn 1999: 547, Giddens 1996: 164) zu werden. Dies ist eine Folge der Wissensdiversifikation und -entwicklung, der Fehleranfälligkeit von Wissenssynthese und des Wissensre­ trievals sowie Folge der Vielfalt von Wissensangeboten, Diskursen und Kontroversen. Vor dem Hintergrund einer massiven medial indizierten Entfachlichung und der Ausrichtung auf ein Laienpublikum wird Medizinkommunikation in Massenmedien häufig zur Gesundheitskommunikation (vgl. Jazbinsek 2000, Fromm/Baumann/ Lampert 2010). Dieser Begriff hat zwei Ausprägungen: – den instrumentalen Begriff von Gesundheitskommunikation und – den diskursiv-kommunikativen Begriff von Gesundheitskommunikation.

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Instrumentaler Begriff von Gesundheitskommunikation: Der instrumentale Begriff stammt aus dem gesundheitswissenschaftlichen Paradigma, in dem Gesundheitskommunikation als Organon für die möglichst effektive und effiziente Veränderung von Gesundheitsverhalten breiter Bevölkerungsschichten und Akteursfelder betrachtet wird. Für diese Public-Health-Auffassung von Gesundheitskommunikation steht prototypisch die Perspektive von Schiavo, die postuliert: Health communication is a multifaceted and multidisciplinary field of research theory and practise. It is concerned with reaching different populations and groups to exchange health-related information, ideas, and methods in order to influence, engage, empower, and support individuals, communities, health care professionals, patients, policymakers, organisations, special groups, and the public, so that they will champion, introduce, adopt or sustain a behaviour, practice, or policy that will ultimately improve individual community, and public health outcomes. (Schiavo 2014: 9)

Diskursiv-kommunikativer Begriff von Gesundheitskommunikation: Bereits stärker auf kommunikativen Austausch und die Interaktion zwischen den beteiligten Wissenssystemen ausgerichtet ist die gesundheitswissenschaftliche Definition von Hurrelmann/Leppin, die hervorheben: Gesundheitskommunikation bezeichnet die Vermittlung und den Austausch von Wissen, Meinungen und Gefühlen zwischen Menschen, die als professionelle Dienstleister oder Patienten/ Klienten in den gesundheitlichen Versorgungsprozess einbezogen sind, und/oder als Bürgerinnen und Bürger an Fragen von Gesundheit und Krankheit und öffentlicher Gesundheitspolitik interessiert sind. (Hurrelmann/Leppin 2001: 11)

Noch stärker berücksichtigt eine diskurslinguistische Auffassung von Gesundheitskommunikation das kommunikativ-wissensmäßige und diskursive Geschehen. Um den massenkommunikativ-diskursiven Charakter von Gesundheitskommunikation aus linguistisch adäquater Perspektive erfassen zu können, muss das Konzept erweitert werden. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei Gesundheitskommunikation um einen thematisch konstituierten, kommunikativen Raum. Sein thematisches Zentrum ist die fachexterne Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit im massenmedialen Diskurs. Horizontal ist die Gesundheitskommunikation geprägt durch das Miteinander verschiedener medial, fachlich und institutionell geprägter Gesundheitsdiskurse (vgl. Busch 1999).

4 Medizinkommunikation als Wissens­ kommunikation Die gegenwärtige Medizinkommunikation ist geprägt von Medikalisierung und Medienwechsel und hierbei sind historisch betrachtet, also mit Blick auf die Diskurspro-

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gression (vgl. Busch 2004: 28–30), Sozial-, Wissens- und Kommunikationsgeschichte der Medizin eng ineinander verwoben, denn: Die „Medikalisierung der Gesellschaften und der zweite Medienwechsel hin zur computervermittelten Kommunikation ziehen weitere Entwicklungsschübe nach sich, welche die interaktionale Ebene in den Vordergrund rücken. (Eckkrammer in diesem Band)

Die hier angesprochene Interaktionalität, die im digitalmedialen Diskursuniversum besonders deutlich zutage tritt (vgl. Busch 2016, i. Dr., Pscheida 2010), bezieht sich auf die Kommunikation und die beteiligten Inventare des Fachwissens ebenso wie auf popularisierte Formen medizinischen Wissens (vgl. Busch/Spranz-Fogasy 2014). Prototypisch für diese Formen der Wissensintegration und -modifikation sind Wissensprozesse in Wikipedia, für die Mederake (2015, i. Dr.) die Regularitäten digitalmedialer Überschreibungsprozesse wie Neueinführung, Verschiebung, Wiederaufnahme, assoziative Anbindung, Erhalt, Neusortierung, Tilgung detailliert untersucht hat. Deshalb umfasst Medizinkommunikation als eine Form der Wissenskommunikation all „jene Kommunikationsakte, in denen wir bewusst Resultate unseres Denkens, nämlich Erkenntnisse und fachlich relevante Zusammenhänge kommunizieren“ (Hasler Roumois 2013: 168). Diese Kommunikationsakte können in der fachexternen Medizinkommunikation je nach Experten- oder Laienstatus der Akteure bei gleichem Diskursgegenstand sehr unterschiedlich sein. Versuche, die verschiedenen Formen von Wissenstypen nach einem der klassischen Schemata des unternehmensorientierten Wissensmanagements abzubilden, greifen für eine adäquate Repräsentation der Experten-LaienWissenskommunikation insbesondere im digitalmedialen Raum meist zu kurz, ganz gleich, ob sie die Wissensinventare als „Wissenstreppe“ (North 1998: 41), „Wissenspyramide“ (Brixler/Greulich/Wiese 2005: 8) oder schon deutlich praxisorientierter als „Komplexbegriff“ (Gottschalk-Mazouz 2007) heuristisch greifbar zu machen versuchen. In der massenmedialen Medizinkommunikation werden diverse Wissensarten auf mitunter sehr direkte Weise miteinander konfrontiert, ggf. ohne dass es eine akteursübergreifend anerkannte Validierungsinstitution gäbe (auch wenn Institutionen wie das Aktionsforum Gesundheitsinformationen im Internet (afgis https:// www.afgis.de) oder HON (https://www.healthonnet.org) hier bereits sinnvolle Wege der Qualitätssicherung vorschlagen. So können medizindiskursive Wissensrepräsentationen Wissensarten integrieren, die im fachlichen Sinne eng oder auch gar nicht zusammengehören. Bei dieser Konglomeratsbildung lassen sich vier Integrationsregularitäten unterscheiden: – die fachinterne Integration medizinischen Wissens, – die fachexterne Integration medizinischen Wissens, – die moderierte Integration medizinischen Wissens, – die ungesteuerte Integration medizinbezogenen Wissens.

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Fachinterne Integration medizinischen Wissens Orientierungspunkt aller medizinbezogenen Kommunikationsakte ist das medizinische Fachwissen, das sich gemäß Kaltenborns Typologie an der Basis zusammensetzt aus: – patientenbezogener Information, – populationsbezogener Information, – medizinischer Information, – logistischer Information, – Informationen über soziale und arbeitsorganisatorische Einflüsse (Stressoren) auf die Entstehung von Erkrankungen. (vgl. Kaltenborn 1999). Diese Wissensformen müssen in fachinterner Integration von „individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research“ (Sackett u. a. 1996) zusammengeführt und auf einzelne Patienten oder Patientengruppen bezogen werden. Dies zu vermeiden und sich bei der Integration der gegenwärtig „besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten“ zu versichern, ist hoch kompliziert, aber Aufgabe allen kurativen Handelns am und mit Patienten, wie Sackett u. a. (1996) betonen. Regeln und Routinen zu dieser fachlichen Wissensintegration stellt zunehmend die Disziplin der evidenzbasierte Medizin zur Verfügung (vgl. http://www.ebm-netzwerk.de). Wie nahezu alle neu entwickelten Disziplinen, war auch diese besonders in der Anfangsphase disziplinären, methodischen und semantischen Kämpfen (vgl. Busch 2006) unterworfen. Sie wurden nicht zuletzt unter dem Schlagwort der „Kochbuchmedizin“ (vgl. etwa Borckmann 2003 und die Entgegnung des EBM-Netzwerkes unter http:// www.ebm-netzwerk.de/pdf/zahnsplitter/16.pdf) oder von Spiegel-Online popularisiert als „lückenhafter Medizin TÜV“ (Rytina 2010) ausgetragen. Fachexterne Integration medizinischen Wissens Die fachexterne Integration medizinischen Wissens geschieht aus dem Fach heraus in allen kommunikativen Formen, in denen Mediziner Wissen für Patienten bereitstellen. Prototypisch ist hierfür die Arzt-Patient-Kommunikation als „Zentrum früherer wie heutiger medizinischer Kommunikation“, als Interaktionsform, die „nach wie vor die zentrale Produktionseinheit des Gesundheitswesens“ (Busch/Spranz-Fogasy 2014: 339) darstellt. Hier wird das abstrakte medizinische Informationsfundament von Ärzten auf den jeweils konkreten Patienten angewendet, um korrekte Diagnosen und Therapieplanungen zu erstellen. Diese Interaktionsform ist für beide Seiten prägend, wie Spranz-Fogasy hervorhebt: Arzt und Patient stellen darin die psychosozialen Grundlagen für die Therapietreue und damit für die Behandlungsergebnisse her und setzen Selbstheilungsprozesse in Gang. Für die Ärzte

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selbst sind ihre Gespräche mit Patienten ebenfalls von zentraler Bedeutung, sie führen im Lauf ihres Berufslebens ca. 150.000 solcher Gespräche (Lipkin u. a. 1995), die damit also den weitaus größten Teil des beruflichen Handelns von Ärzten ausmachen. (Busch/Spranz-Fogasy 2014: 339)

Die Aufgabe der Vermittlung des medizinischen Wissens und der Übersetzung der medizinischen Fachsprache war lange Zeit als Transferleistung allein den Ärzten auferlegt, denen die Kontrolle der Information und Entscheidung zukam und die in paternalistischem Handlungsverständnis agierten „bei welchem der Arzt alle Entscheidungen stellvertretend für den Patienten trifft“, und dies explizit „zum Teil auch gegen dessen aktuelle Präferenzen“ (Scheibler/Janßen/Pfaff 2003: 12). Hier verantwortet ausschließlich die ärztliche Seite die Wissenskommunikation und die getroffenen Entscheidungen werden dem Patienten (für diesen mehr oder weniger verständlich) erläutert. Grundlage für dieses Vorgehen ist die Vorstellung, dass es allgemein gültige und übergreifende Ziel- und Gesundheitshorizonte in der Arzt-Patient-Kommunikation gäbe. Dass diese jedoch nicht generell als kommunikative Basis von Arzt-PatientKommunikation vorausgesetzt werden können, zeigen diverse Untersuchungen (vgl. Faltermaier/Brütt 2013 und die dort zitierte Literatur). Auch die juristischen Anforderungen an präoperative Aufklärungskommunikation reflektieren dieses Handlungsmuster mit nahezu vollständiger Verantwortung auf Expertenseite (vgl. Beppel 2007, Busch 1994, Jung 2005, Klüber/Motsch/SpranzFogasy 2012). Etwas mehr patientenseitigen Einfluss auf die Entscheidungen ermöglicht eine Kommunikation nach dem professional as agent-model, bei dem die Präferenzen und die Ziele allein dem Patienten bekannt sind. Aufgabe des Arztes ist es hier, sie zu erfragen und zu berücksichtigen. Die Entscheidungsverantwortung bleibt aber nach wie vor beim Arzt (vgl. Scheibler/Janßen/ Pfaff 2003: 12). Ein alternatives Kommunikationskonzept mit hohem Anteil an patientenseitiger Partizipation hierzu stellt das Modell des Shared Decision Making dar: Im shared decision making model werden alle Entscheidungen, von der Diagnose bis zur Therapie, in gleichberechtigter Zusammenarbeit getroffen. Information und Entscheidung werden also von beiden Parteien geteilt. (Scheibler/Janßen/Pfaff 2003: 12)

In solche Kommunikationsformen können nicht nur bei der „allmähliche[n] Verfertigung der Diagnose im Reden“ (Spranz Fogasy 2014) auch unvollständiges, medial verformtes Wissen zusammen mit Medizinstereotypen und Angstvorstellungen adäquater berücksichtigt werden als in den Formen, bei denen Informations- und Entscheidungsrecht allein beim Arzt liegen. Moderierte Integration medizinischen Wissens findet dort statt, wo Fachwissen explizit für mediale Darstellungen popularisiert wird. Hier ist man sich der Wissensasymmetrien bewusst und versucht, mithilfe von Mittlerinstanzen das Fachwissen in eine für Laien verständliche Form zu bringen. Dazu hat die Wissensmanagement- und

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Wissenstransferforschung wichtige und häufig linguistisch fundierte Vermittlungsstrategien beschrieben (vgl. Niederhauser 1999, Ballodt 2001, Göpferich 2008 sowie Wichter u. a. 2001, Wichter/Antos 2005). Ungesteuerte Integration medizinischen Wissens findet ebenfalls permanent parallel zu den anderen Integrationsformen statt. Neben persönlichen Gesprächen z. B. unter Patienten werden vom Chat bis zur zertifizierten Medizinwebsite die verschiedensten Wissensquellen nebeneinander ausgewertet, oft unabhängig von ihrer fachlichen Provenienz. Ungesteuert integriertes Medizinwissen rahmt dabei nicht nur die fachlich verankerten Formen, sondern bildet eigene ggf. nur individuell gültige Theorien, die von hoher Faktizität für das Individuum sein können (vgl. Birkner 2006 und Birkner/Vlassenko in diesem Band). Für viele Patienten und Gesundheitsinteressierte stammen gerade aus diesem Integrationsprozess neben den allfälligen kognitiven Dissonanzen wichtige Konzepte, Faktizitäten und Angsbewältigungsstrategien, welche die Handlungs- und Complianceorientierung nachhaltig prägen. Faktizität bedeutet im medizinischen Wissens- und Kommunikationsraum somit gleichermaßen Faktizität aus der Sicht der Experten wie aus der Sicht der Laien und Patienten. Medizinische Konzepte, ihre Vertextungen und Ikonisierungen unterliegen besonders bei der ungesteuerten Integration, z. B. beim Googeln von Symptomen und möglichen Erfahrungswerten zu Therapieansätzen (und seien sie medizinisch bewertet auch noch so fragwürdig), differenten Sinnzuschreibungen, je nachdem, ob fachintern oder fachextern kommuniziert wird. Diskursiv relevant ist hier wie in anderen Wissensdomänen insbesondere die Verschränkung fachinterner mit fachexterner Kommunikation und die entsprechende Versprachlichung der fachspezifischen Gegenstände sowie die diskursive Inszenierung der Akteure (Felder/Müller 2008, Konerding 2008).

5 Common ground in Medizindiskursen Die diskursiven Wissensasymmetrien bilden für jede Art von Medizinkommunikation eine komplexe und unsichere Grundlage: Im individuellen Arzt-Patient-Gespräch wie in der überindividuell-diskursiven Internetkommunikation treffen vom Chat bis zur zertifizierten Medizinwebsite fachliche Informationen auf die subjektiven Theorien und Bedeutungspotenziale der Laien und Laiengruppen verschiedener Niveaus (Faltermeier 1994, 1998, 2002). Im Bewusstsein der Wissensdifferenzen geschieht in der mündlichen Kommunikation das Aushandeln eines gemeinsamen kommunikativen und wissensmäßigen Fundamentes in solchen wissensdifferenten Kommunikationssituationen häufig in Form des Grounding, der bewussten Herstellung einer gemeinsamen Bezugsbasis, des common ground (vgl. Clark/Schaefer 1989, Clark 1996, Bromme/Jucks/Rambow 2004: 179, Bromme/Jucks 2014).

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Die subjektiven Bezugsframes, aus welchen Quellen sie auch immer gespeist worden sind, treffen in der fachexternen Kommunikation aufeinander und werden kommunikativ über verschiedene Vergewisserungsroutinen solange abgeglichen, bis die Kommunikationspartner den Eindruck haben, dass eine gemeinsame Wissensbasis hergestellt ist. Dieser Prozess des grounding wird in direkter mündlicher Kommunikation, z. B. in der Arzt-Patient-Kommunikation, mit verbalen Mitteln wie turntaking oder back-channel-behavior oder mit Mimik und Gestik vollzogen. Auf medial schriftlichen Diskursebenen gibt es, soweit sie interaktiv sind, wie etwa Chats, Foren oder E-Mail, die Möglichkeit der schriftlichen Nachfrage und damit auch noch die Möglichkeit des direkten grounding, das man in der Praxis beispielsweise in Form einer E-Mail-Beratung als authentischen Bestandteil zunehmend in die Arzt-PatientKommunikation zu integrieren versucht (vgl. Sing 2008). Auf den medial nicht interaktiven Ebenen des Medizindiskurses ist ein solches direktes grounding nicht möglich, weil der direkte Kontakt von Rezipient und Produzent fehlt. Dennoch finden auch hier Groundingprozesse statt. Entweder versuchen Laien mithilfe von Nachschlageinstanzen ihr Wissen so zu verbreitern, dass sie die angebotenen Diskursbeiträge mit subjektivem Sinn füllen können, bzw. dazu eine subjektive Theorie aufbauen und diese in der weiteren Kommunikation auch über andere ggf. interaktive Quellen validieren (vgl. Birkner 2006 und Birkner/Vlassenko in diesem Band). Common ground bedeutet auf den verschiedenen horizontal und vertikal stark diversifizierten Akteurs- und Wissenskonstellationen des medizinischen Wissensund Kommunikationsraums jeweils Unterschiedliches: Grounding in der Arzt-Patient-Kommunikation: In der Arzt-Patient-Kommunikation bedeutet common-ground-Herstellung die Etablierung einer fachlich gesicherten, vom Mediziner verantworteten Wissensbasis. Dabei sind Mediziner einerseits Experten und Wissensvermittler und mit hoher diskursiv-sozialer Dignität versehen, die von Patienten  – wie die kognitionswissenschaftliche Expertiseforschung zeigt – häufig als einsame Problemlöser wahrgenommen werden (Bromme/Rambow 2001). Ihnen kommt die Aufgabe der Wissensintegration und des Wissenstransfers zu; sie müssen medizinisches Wissen in therapierelevante Information umsetzen, es adäquat versprachlichen und Wege finden, den Patienten dieses Wissen nahezubringen. Darüber hinaus müssen Ärzte im präoperativen Aufklärungsgespräch (Eingriffsaufklärung, Sicherungsaufklärung und Diagnoseaufklärung) den Patienten juristisch überprüfbar das Wissen vermitteln, durch das dieser in die Lage versetzt wird, zu entscheiden, ob er dem Eingriff in seine körperliche Integrität zustimmt oder nicht (vgl. Beppel 2007, Busch 1994, Jung 2005, Klüber/Motsch/Spranz-Fogasy 2012). Hier gerät der Arzt diskursiv gesehen in die komplizierte Situation eines professionell Handelnden, der einerseits ggf. zu einer Operation rät, sich aber andererseits selbst juristisch absichern muss. Auch wenn für die juristische Absicherung erprobte Instrumente zur Verfügung stehen, ist nach wie vor fraglich, ob der Wissenstransfer auf der Grundlage

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medizinischen Laienwissens überhaupt im geforderten Maße gelingen kann (Busch 1993). Diskursives grounding in der Laien-Laien-Kommunikation: Neben der Arzt-PatientKommunikation speisen sich die laienseitigen Bedeutungs- und Wissenssysteme aus zahlreichen anderen Quellen, wobei Laien-Laien-Konstellationen kommunikativ ebenso ernst zu nehmen sind wie Kommunikationen mit Beteiligung von Experten (Dohnke/Knäuper 2002, Dunkelberg 2002, Faller/Goßler/Lang 1998). Hier, in der Laien-Laien-Kommunikation, muss damit gerechnet werden, dass grounding bedeutet, dass sich Kommunikationspartner auf ein Thema einigen und sozial-kommunikativ aushandeln, wer von ihnen themen- oder teilthemenbezogen als niveauhöher gilt. Diese Aushandlung kann auch auf der Grundlage nichtfachlicher Kriterien vollzogen werden. Wissen vom Hörensagen gilt hier ggf. ebenso als Einstufungsindikator wie persönliche Erfahrungen mit einer Erkrankung. Diskursives grounding durch rezeptive Laienerwartungen: Laiensysteme prägen die Bilder und Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit nicht nur individuell, sondern bilden auch einen Rezeptionsraum, denn Fachlaien kommunizieren in medizinischen Diskursen, sei es als Patienten oder gesundheitsorientierte Zeitgenossen, die zumindest rezeptiv an medizin- und gesundheitsorientierten Diskursen beteiligt sind und als Rezeptionszielgruppen auch die medizinischen Autoreninstanzen beeinflussen. Die Autoren tragen in der fachexternen und popularisierenden Medizinkommunikation, sei sie online oder offline geführt, erheblich zur Verwissenschaftlichung und Pseudo-Verwissenschaftlichung von Alltagswissensbeständen bei, auf die Fachlaien zurückgreifen, um medizinische Sachverhalte zu verstehen (Becker 2001, Jazbinsek 2000). Für all diese Formen des grounding gilt aus der Sicht der Kommunizierenden in erster Linie das Prinzip der kommunikativen Adäquatheit als Grundlage. Ob Wissen transferiert werden kann oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, ob eine Anbindungsmöglichkeit an das Laienwissen besteht, nicht so sehr von der Frage nach der fachlichen Adäquatheit. Popularisiertes oder fachferne Laienwissenssysteme sind häufig Grundlage der Kommunikation, und dies unabhängig von der fachlichen Richtigkeit des Wissens: So können Laien über eine Erkrankung etwa vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Überzeugungssystems „Krankheit=Schicksal“ problemlos kommunizieren, auch wenn dies aus medizinischer Sicht falsch und hinsichtlich der Compliance sogar schädlich sein kann. Auch die laiensprachliche Codierung dieses Wissens unterscheidet sich ggf. sehr von der fachsprachlichen wie verschiedentlich für die Ebenen der Krankheitsdarstellungen und Verfahren der Veranschaulichung gezeigt worden ist (vgl. Brünner/Gülich 2002, Becker 2001).

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6 Risikokommunikation „Unbekanntheit und Schrecklichkeit machen Angst“ – so kann man ein dominantes Risiko-Wahrnehmungsmuster von Laien zusammenfassen. Medizin- und Gesundheitskommunikation sind somit immer auch Risiko- und Krisenkommunikation (vgl. Renner/Panzer/Öberst 2007, Weinig u. a. 2004, Kurzenhäuser/Epp 2009). Laien sehen sich durch Risiken in erster Linie bedroht. Medial werden nahezu alle Gesundheitsthemen auf diese Leser- und Laienperspektive ausgerichtet und diese wird, häufig im Sinne von media scare und Panikmache auf die des individuellen Bedrohungspotenzials also der Frage „Wie gefährlich ist eine Erkrankung für mich?“ zugerichtet. Eine solche, häufig zu findende mediale Vorgehensweise beutet die unterschiedlichen Risikowahrnehmungen und Bewertungsmuster von Laien aus, die sich erheblich von der Expertenbewertung unterscheiden. Die Bedrohungswahrnehmung von Risiken durch Laien ist in ein Feld von psychologischen, kulturellen, sozialen und politischen Faktoren eingebettet (Kurzenhäuser/Epp 2009, Busch 2016 i. Dr.). Eine objektivierende Einschätzung von Risiken streben dagegen Experten an. Sie konzentrieren sich auf Kriterien der Auftretenswahrscheinlichkeit und des Schadens­ ausmaßes, wenn sie Risiken professionalisiert einschätzen. Die Regularitäten, nach denen von Laien und Experten „wissenschaftliche, mediale und individuelle Risikokonstrukte erstellt werden“ (Schütz/Peters 2002: 40) unterscheiden sich somit grundsätzlich. Für Massenmedien ist insbesondere die Integration von Risiken in ihre Narrative prägend, mit deren Hilfe sie ihre Leserschaft „warnen und aufrütteln“ wollen sowie „Fehlverhalten von Staat, Wirtschaft und Verbänden aufdecken, ihre Leser aufklären und beraten oder politische Vorgänge erläutern.“ (Schütz/Peters 2002: 41) Zu diesem Zweck werden Risiken narrativ gestaltet und halten Einzug in den festen sozialen Konzept- und Dramatisierungsbestand, wie z. B. die jährlich wiederkehrenden Thematisierungswellen zur jeweilig aktuellen Infektionsbedrohung illus­ trieren. Die Folgen sind nach dem Social-Amplification-Modell erfassbar, das zu erklären sucht, „why seemingly minor risks or risk events often produce extraordinary public concern and social and economic impacts“ (Kasperson/Kasperson 2005: 113). In welchem Maße diese diskursiven Risikokonstrukte in dominante Realitätsbilder integriert werden können, zeigen Kultivierungsthese und Medienwirkungsforschung gleichermaßen (vgl. etwa Bonfadelli/Friemel 2011). Und sie belegen auch, dass professionelle Risikokommunikation wie mediale Transformationen und Panikmache im Rahmen einer diskursiven Risikodarstellung als Instrumente zu weiteren Zwecken von Verhaltensänderungen bis zu Emotionalisierung und Kaufanreizen genutzt werden.

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7 Analysedimensionen Schaut man also aus linguistischer Sicht auf Gesundheitskommunikation und die zugehörigen diskursiven Inventare, müssen für eine konkrete Analyse zumindest die folgenden Fragen in den Blick genommen und beantwortet werden: – In welchen Medien werden Beiträge über Gesundheit, Krankheit, Kuration und Prävention gestaltet? – Welche Bezüge auf medial, fachlich und institutionell geprägte Medizin- und Gesundheitsdiskurse liegen vor? – Welche Fächer sind beteiligt? – Welche Diskursakteure (Autoreninstanzen, Rezipientenzielgruppen usw.) sind beteiligt? – Welche Diskursziele sind erkennbar? – Welches thematische Zentrum hat der Diskursbeitrag? – Welche gesundheits- und medizinspezifischen diskursiven lexikalischen Inventare (z. B. Lexik, Wortfamilien, Wortfelder, Fachwortschatz, Phraseologie) bilden das lexikalische Grundgerüst der medialen Gestaltung? – Welche Vertikalitätshinweise finden sich im Wortschatz? – Welche Wissensordnungen werden aufeinander abgestimmt? – Welche intertextuellen und intermedialen Bezüge liegen vor? – Wie ist das grounding jeweils gestaltet? – Welche Formen der Risikokommunikation werden zu welchem Zweck eingesetzt?

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Cornelia Weinreich

21. Fachinterne und fachexterne Textsorten in der Medizin Abstract: Die Kommunikation im Bereich der Medizin ist wie in anderen Fachgebieten sehr vielseitig. Wodurch zeichnet sich die Medizin aber aus? Was macht sie in ihrer Kommunikation besonders? Anhand der typischen fachinternen Textsorten wie Fachzeitschrift und Arztbrief sowie den fachexternen Textsorten wie Beipackzettel und Arzt-Patienten-Gespräch wird die medizinische Wissenschaftskommunikation charakterisiert. Zugleich wird erläutert, welche Formen der Wissensvermittlung sich in den letzten 30 Jahren als die geeigneten herausgestellt haben, um die zunehmende Wissensfülle zu vermitteln. 1 Der Wissenschaftsbereich Medizin und seine Besonderheiten 2 Fachinterne Textsorten 3 Fachexterne Textsorten 4 Fazit 5 Literatur

1 Der Wissenschaftsbereich Medizin und seine Besonderheiten In der Medizin verhält es sich wie in den anderen Fachgebieten: Die rasante und stets fortschreitende Entwicklung in der Wissenschaft bewirkt eine Zunahme von Erforschungen und Entdeckungen. Dies bedeutet gleichzeitig, dass sich die Wissenschaft dem Problem stellen muss, dieses hinzukommende Wissen aufzunehmen und zu vermitteln, denn jede Wissenschaft vermag wiederum nur zu bestehen, wenn sie ihre Forschungsergebnisse veröffentlicht, sei es fachintern, fachextern oder interfachlich. Erst veröffentlichtes Wissen regt zu neuem Wissen an. Die Medizin steht jedoch ganz besonders einer Fülle von neuen Erkenntnissen gegenüber und gilt als eine der Wissenschaften mit der niedrigsten Halbwertzeit. Korda (2002, 1) gibt an, dass alle fünf Minuten eine neue medizinische Erkenntnis gewonnen wird und dass sich die Jahresabstände der Wissensverdopplung enorm verkürzt haben: „Während es um 1800 einhundert Jahre dauerte, bis sich das Wissen verdoppelt hatte, geschieht dies am Übergang ins 21. Jahrhundert in Abständen von fünf Jahren.“ (ebd.) Reng u. a. (2003, 648) gehen sogar von einer Halbwertzeit von nur zwei Jahren aus. Hinzu kommt die zunehmende Spezialisierung und Herausbildung von Fachgebieten, die besonders interfachlich den Wissenstransfer erweitern. So gehörten beispielsweise 1968 zu den

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fünf großen Gebieten der Medizin (Chirurgie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Innere Medizin, Kinderheilkunde, Orthopädie) insgesamt fünf Teilgebiete. Bis 1989 entstanden acht große Gebiete (zusätzlich Klinische Pharmakologie, Neuropathologie sowie Strahlentherapie) mit insgesamt 17 Teilgebieten (vgl. Rauch, 1992, 86). Mit einer großen strukturellen Reform ab 1992 kam es in der ab 1994 geltenden Weiterbildungsordnung zu einer Erweiterung auf 41 Gebiete mit 18 Teilgebieten (vgl. Raidt, 1997, 92). Der starken Subspezialisierung Einhalt gebietend sieht die seit 2008 geltende Weiterbildungsordnung 33 Fachgebiete mit 34 Teilgebieten vor. Bei der Medizin handelt es sich im engeren Sinne um eine Humanwissenschaft, die sich von den Naturwissenschaften dadurch abgrenzt, dass das Forschungsobjekt der Mensch ist. Als sog. angewandte Naturwissenschaft erkennt sie nicht nur Sachverhalte, sondern begründet und rechtfertigt darüber hinaus Handlungen. Aus diesem Grunde obliegt der Medizin eine besondere Verantwortung, die sich oftmals in einer verstärkten Absicherung der Erkenntnisse und Diagnosen zeigt. Das medizinische Wissen baut sich demnach aus einer Vielzahl von verschiedenen Wissensproduzenten auf und verläuft selten linear, sondern weist z. T. streuenden Charakter auf. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die beispielsweise in einem Labor gewonnen werden, sind des Weiteren Gegenstand von Studien und halten durch die ärztliche Praxis wiederum Einzug in die Wissenschaft, indem die Erfahrungen der praktischen Ärzte an die wissenschaftlich arbeitenden Ärzte weitergegeben werden, z. B. durch Kasuistiken oder auf Kongressen. Diese Tatsache hat Auswirkungen auf den Wissenstransfer, wodurch das Wissen in Fachzeitschriften nicht nur aus der wissenschaftlich-theoretischen Medizin, sondern auch aus der Praxis stammt, da nur somit umfassende verifizierte Informationen gegeben werden können. Zudem zeigen die „Laien“  – in diesem Fall Patienten  – natürlicherweise besonderes Interesse, da sie doch selbst Gegenstand dieser Wissenschaft sind und sich aus diesem Grunde eigentätig Wissen verschaffen (Publikationen, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, Internet etc.). Dies wiederum hat Auswirkungen auf den fachinternen Wissenstransfer, weil dieser noch stärker intersubjektiv nachvollziehbar werden muss und teilweise unter Druck gerät, da medizinische Leistungen und Ergebnisse von den Patienten bzw. der Öffentlichkeit erwartet und kontrolliert werden (z. B. Pharmaka, Impfmittel, Therapien). Da seitens der Gesellschaft ein starkes Interesse an der Medizin besteht, ist das Ansehen der Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der Medizin tätig sind, besonders groß. Ihre Entdeckungen und Erfindungen werden für besonders wichtig und wertvoll erachtet, hängt doch teilweise die Existenz von Bevölkerungsgruppen daran, wenn es beispielsweise um die Bekämpfung von Epidemien und Pandemien geht. Zugleich erfüllen Mediziner eine soziale Funktion, gehört es doch zu ihrem Beruf, Krankheiten zu bekämpfen und damit Kranke u. A. wieder in die Arbeitswelt zu integrieren. Ihr Wissen und ihre Fähigkeiten sollen dem Einzelnen helfen, durch Gesundung wieder Anschluss an die Gesellschaft zu bekommen. Auch in der Medizin besteht Wissen aus Informationen. Das sind reine Daten und Werte wie z. B. Blutdruckwerte, EKGs, Pulsmessung etc. Erst durch die Anlage-

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rung der Interpretation und des Kontextes erhalten diese Daten eine Bedeutung und führen zu Wissen. Im Kontext der besonderen Verantwortung für den Menschen wird deutlich, wie behutsam der Prozess des Verarbeitens von Informationen angegangen werden muss. Das daraus erwachsende Handeln bedarf einer größtmöglichen Sicherheit, sodass der Wissenstransfer in allen Stufen und Schichten durch Absicherung und Kontrolle charakterisiert ist. Das somit entstandene Wissen erfährt aber erst durch die Rückkopplung mit der Praxis seinen eigentlichen Wert. Jedes entwickelte Medikament, jede aufgestellte Therapie und jede individuelle Diagnose können erst zu weiterem Wissen führen, wenn sie in der praktischen Medizin Anwendung finden. Allen Wissenschaften gleich ist, dass sich für die Vermittlung von neuem Wissen der Sprache bedient werden muss, denn sie ist wesentlicher Träger und gleichzeitig Instrument des Wissens. Die Fach- bzw. Wissenschaftssprache nimmt bei dem Wissenstransfer eine Vorreiterrolle ein, weil mit ihr die Ergebnisse der wissenschaftlichen Tätigkeit publiziert werden. Sie ist durch Objektivität (Ich-Form nur selten, Passivkonstruktionen), fehlende bzw. geringe Narrativität und Metaphernverwendung gekennzeichnet. Die Fülle an neuem Wissen und das Publikationsgebot in den Wissenschaften führen dazu, dass Texte immer stärker standardisiert werden. Leitlinien und vorgegebene Textmuster geben dem Autor die Textgestaltung vor und wirken sich dadurch nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf die Textsorten aus. Dahinter steckt der Wunsch nach einer durchsichtigen Wissenschaftssprache, die die wissenschaftliche Wahrheit durch eine möglichst durchsichtige Sprache offenbart. Das kann mit dem Medium Sprache aber nur bedingt funktionieren, weshalb HoffmannRichter (2008, 371) plädiert: Nur über die Beschäftigung mit der Sprache, nicht nur ihrer Terminologie, sondern auch ihrer Grammatik, Syntax und Textstrukturen können Erkenntnisse klarer mitgeteilt und Informationen vermittelt werden. Nur mit ihrer Hilfe werden die Denkwege der Verfasser hörbar, ihre Perspektive sichtbar und der Kontext, aus dem heraus sie sich mitteilen (sic!) lesbar.

Das Wissen um die Textsorten ist also unabdingbar für das Verständnis und Verfassen von fachlichen Texten. Für eine erfolgreiche Kommunikation ist zudem das Wissen um die Zielgruppe relevant, um die Kommunikationsabsichten dementsprechend umzusetzen. So unterscheiden sich Texte zum gleichen Thema stark voneinander, je nachdem, ob es sich an Fachleute/Wissenschaftler der gleichen Fachrichtung (fachintern) richtet, an Experten einer anderen Fachrichtung oder Wissenschaft (interfachlich) oder an Laien (fachextern). Dabei gibt es unterschiedliche Grade der Fachlichkeit. Um den Bedürfnissen und Anforderungen gerecht zu werden, die mit dem technischen Fortschritt der Medien einhergehen, muss der Wissenstransfer nutzerfreundlich gestaltet werden, was eine zusätzliche Leistung des Texterstellers bedeutet. Dazu zählen die Verschlagwortung für schnelles Auffinden in Datenbanken und im Internet, technische Verfügbarkeit für verschiedene (mobile) Endgeräte (PC,

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Handy, Smartphone etc.), Online-Verfügbarkeit und Verlinkung innerhalb des Textes für weitere Recherche sowie Kontaktmöglichkeiten über das Internet. Weitreichende Einflüsse auf die Wissenschaftskommunikation in der Medizin und damit auf die Textsortenkonventionen hat die zunehmende Bedeutung der englischen Sprache, die sich in einigen Teilbereichen der Medizin, wie beispielsweise Biomedizin, zur Lingua franca entwickelt. Fachzeitschriften veröffentlichen alle oder viele ihrer Artikel in Englisch, manche haben ihren Titel anglisiert. Die kurze Halbwertzeit, die starke Spezialisierung und Technisierung, die Bürokratisierung und Standardisierung, die besondere Verantwortung für den Menschen und die Anforderungen an Aktualität und Internationalität charakterisieren den heutigen medizinischen Wissenstransfer. Die Formen des mündlichen und schriftlichen Wissenstransfers sind in der Medizin ähnlich zu denen in anderen wissenschaftlichen Disziplinen: Neben Kongressen und Weiterbildungsseminaren als mündliche Formen nimmt für den schriftlichen fachinternen Wissenstransfer besonders die Fachzeitschrift eine bedeutende Rolle ein. Für den fachlichen Austausch ist der Arztbrief ein wichtiges Medium. Im fachexternen Wissenstransfer sind es besonders die Arzt-Patienten-Kommunikation, der Beipackzettel sowie Foren und Gesundheitsportale im Internet. Da nach wie vor die schriftlichen Kommunikationsformen von besonderer Bedeutung sind, soll auf die wichtigsten Vertreter stärker eingegangen werden. Dies liegt darin begründet, dass die schriftliche Form dem Anspruch von Wissenschaftlichkeit (Intersubjektivität, Nachvollziehbarkeit, Überprüfbarkeit, Zitierfähigkeit, rechtliche Absicherung) stärker gerecht wird und besonders im fachinternen Wissenstransfer die meistgewählte Form ist, um neue Erkenntnisse zu veröffentlichen. Der Grad der Fachlichkeit ist in schriftlichen Texten höher, die Textsortenkonventionen strenger geregelt und weniger variabel als bei mündlichen Textsorten, denn Möhn (1998, 152) hat festgestellt: Je intensiver Expertenkommunikation dialogisch-direkt (Diskussionen auf einer Tagung, Kolloquien, Gespräche am Arbeitsplatz im Betrieb) stattfindet, umso größer ist der subjektive Anteil.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich in der Wissenschaftskommunikation der Trend verstärkt, miteinander zu interagieren und nicht nur Empfänger der Botschaft zu sein: von medialen Monologen (one to many) zu sozial-medialen Dialogen (many to many). Dies spiegelt sich im Textsortenspektrum wider. In Fachzeitschriften gibt es zunehmend Forumsbeiträge, Diskussionen, Erfahrungsberichte und Kollegs  – Textsorten, die zur Kommunikation aufrufen, diese vorantreiben und eine überwiegend kontaktive Funktion aufweisen, ergo dynamisch sind. Sie stehen den Textsorten gegenüber, die eine überwiegend deskriptiv-informative Funktion einnehmen und durch ihre Linearität des Wissenstransfers gekennzeichnet sind (Originalarbeiten, Übersichten, Referate etc.). Sie sind statisch. Ihre Hauptfunktion ist das Vermitteln von Erkenntnissen und Ergebnissen eines Wissenschaftlers an andere (angehende) Wissenschaftler. Die dynamischen Textsorten bewirken eine Veränderung der stati-

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schen Experten-Experten-Beziehung. Das Wissen erweitert sich nicht mehr nur allein durch die originären Erkenntnisse eines Einzelnen, sondern durch die Teilnahme und Rückkopplung weiterer Kommunikanten. Besonders deutlich wird dies an den Text­ sorten Diskussion, Kommentar sowie Fallstudie, bringen diese doch Erkenntnisse aus der Praxis „zurück“ in die theoretische Wissenschaft. Der Wissenstransfer speist sich nun gleichfalls durch Rückkopplungs- und Streuungseffekte (vgl. Weinreich, 2010, 181 f.). Durch die dynamischen Textsorten geht der Wissenstransfer über die bloße kognitive Wissensaneignung hinaus. Zusätzlich zur reinen Sachinformation werden Fachzeitschriften, Kongresse und Seminare zu einem „Forum der Fachkommunikation“ (Kuhlen, 1997, 263). Der Wissenstransfer gestaltet sich zunehmend komplexer, wird aktiver und umfangreicher und reagiert somit auf den Wissenszuwachs und die Vergrößerung der Wissensgemeinschaft. Poser (1990, 24 f.) sieht im Wissenstransfer ebenso einen komplexen Prozess, wenn er sagt: Die Richtung im vertikalen Wissenschaftstransfer verläuft also keineswegs einsinnig von den Grundlagen zur Anwendung, von der Forschung zur Entwicklung, sondern stellt ein Geflecht dar […].

Es sind somit zwei große Grundrichtungen zu erkennen, in der zunehmenden Wissensfülle Orientierung zu geben: einerseits die Standardisierung und Schematisierung, die mit dem Bestreben nach Objektivität, Statistik und Empirie einhergeht, andererseits die Öffnung des Mediums zu den Rezipienten mit der Absicht, ihnen ein Forum des gegenseitigen Austausches zu bieten. Für die Beschreibung der medizinischen Wissenschaftskommunikation wurde die traditionelle Dreiteilung fachintern – interfachlich – fachextern gewählt, wobei fachintern und interfachlich zusammengefasst wurden. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle jedoch auf eine andere mögliche Einteilung, die den Praxisbereich stärker einbezieht: Busch (2006, 50 f.) teilt das Gesundheitswesen nach dem Informationstyp ein, gibt aber zu bedenken, dass diese Bereichsgrenzen unscharf sind: Patientenbezogene Information (Befund)/Medizinische Information (Therapie)/ Gesundheitsberichterstattung (Statistik)/Logistische Information (Maßnahmen für Berufsgruppe)/Soziale Informationen (Informationen zu Krankheiten). Für diese Abhandlung liegt folgende Einteilung zugrunde, die die wichtigsten medizinischen Textsorten zeigt, wovon einige im Folgenden näher vorgestellt werden:

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Tab. 1: Medizinische Textsorten Textsorten

interne Kommunikation (fachintern – interfachlich)

externe Kommunikation

schriftlich

Originalaufsatz, Kasuistik, Übersichtsartikel, Studie, Kongressbericht, Mediquiz, Arztbrief, Krankenakte, Entlassungsbrief, Laborbefund, Operationsbericht, Sektionsprotokoll, Facharztgutachten

Beipackzettel, Aufklärungsbogen, Patientenfragebogen, Ernährungsplan, Internetforen, Gesundheitsportale

mündlich

Kongressvortrag, KollegenGespräch, Kurvenvisite, Klinischpathologische Konferenz, Vorlesung, Seminar

Arzt-Patienten-Gespräch: Therapie­ gespräch, Beratungs-/Aufklärungs­ gespräch, Visite

2 Fachinterne Textsorten 2.1 Textsorten in der schriftlichen fachinternen Kommunikation Das bedeutendste Medium in der fachinternen Kommunikation der Medizin ist nach wie vor die Fachzeitschrift, deren Anzahl kontinuierlich gestiegen ist. Sie ist ein regelmäßig erscheinendes Publikationsorgan mit einem feststehenden Titel. Ihre charakteristischen Merkmale sind die Informationsfunktion, die Aufgabe des Archivierens und Dokumentierens neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Entwicklungen sowie die Einnahme einer aktiven Rolle, um den gegenseitigen Austausch zu ermöglichen, den Überblick zu wahren, Kontakte herzustellen und durch den Kommunikationscharakter wie als Träger des Fortschritts ein Gradmesser für den erreichten Wissensstand zu sein (vgl. Koschwitz, 1969, 523 f.). Fachzeitschriften ermöglichen einen Meinungsaustausch mit anderen Wissenschaftlern. 70 bis 85 Prozent aller wissenschaftlichen Informationen werden auf diesem Wege ausgetauscht (vgl. Wadewitz, 1976, 150). Manecke und Seeger bezeichnen die Fachzeitschrift als den „wichtigsten Dokumententyp“ (1997, 28) und stellen an gleicher Stelle fest, seit Aufkommen dieser Publikationsform im 17.  Jahrhundert sei ein exponentielles Wachstum zu verzeichnen, deren Menge sich durchschnittlich alle 15 Jahre verdoppele. Für das Gebiet der Medizin hat Gerok (1997, 1) eine jährliche Zuwachsrate von drei Prozent in Deutschland errechnet. Geprägt sind die medizinischen Fachzeitschriften vor allem durch Originalarbeiten, in denen neueste Erkenntnisse dem Fachpublikum zugänglich gemacht werden (vgl. Braus/Baethge, 2009, 157). Das konnte Ylönen (2001) schon für medizinische Zeitschriften von 1884 bis 1989 nachweisen, zeigte sich auch bei Fachzeitschriften der

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Medizin von 1975 bis 2005 (Weinreich, 2010) und wird für die heutige Zeit von Braus/ Baethge (2009) bestätigt. Die Originalarbeit (synonym zu Originalaufsatz, Originalie sowie Hauptarbeit u. a.) gilt als die wichtigste Textsorte in einer Fachzeitschrift. Den Beginn dieses wissenschaftlichen Artikels datiert von Hahn auf 1712 (1983, 49). Damit neue Erkenntnisse und Forschungsergebnisse dem Initiator, Entdecker und Erfinder eindeutig zugewiesen werden können, bedarf es der Veröffentlichung, um dieses Dokument identifizierbar und auffindbar zu machen und dem Autor dies rechtlich zusprechen zu können (vgl. Ebel/Bliefert/Avenarius, 1993, 67). Die Textsorte Originalarbeit weist aber seit ihrem Bestehen verschiedene Textmuster auf. So konnte Ylönen in ihrem Vergleich zwischen einem Originalaufsatz von 1884 und 1989 wesentliche Unterschiede feststellen, obwohl es sich bei beiden Aufsätzen um eine Originalie mit dem Thema Herzschwäche in etwa gleicher Länge handelte. Der Wissenschaftsstil sei demnach eine veränderliche Größe, auch wenn die Textsortenbezeichnung erhalten bleibe. In diesen über 100 Jahren wandelte sich die Textsorte Originalie von einem subjektiv geprägten, teilweise poetischen und nach heutigen Maßstäben nicht wissenschaftlichen Standards genügenden Text (kein Literaturverzeichnis, keine Quellenangaben, keine Zwischenüberschriften) zu einem Fachtext mit den Merkmalen sachbetont, objektiv, hohe Fachwortdichte, Quellen- und Literaturangaben, Statistiken sowie sprachliche Komprimierung (vgl. Ylönen, 2001, 191). Es werden Methoden und Ergebnisse eigener Untersuchungen oder Studien dargestellt. In der Regel gliedert sich die Arbeit in die Abschnitte Fragestellung, Untersuchungsmethoden, Ergebnisse, Diskussion und Schlussfolgerung. Viele Fachzeitschriften räumen den Originalia (oder original paper in den englischsprachigen Zeitschriften) einen großen Stellenwert ein, indem sie sie an erster Position im Inhaltsverzeichnis aufführen. Ihnen kommt die wichtige Funktion zu, den fachinternen Austausch von neuen Erkenntnissen zu sichern. Die „Deutsche Medizinische Wochenschrift“ beispielsweise nennt drei Textsorten, die sie publizieren und nennt die Originalarbeiten an erster Stelle, gefolgt von Fallberichten und Fortbildungsbeiträgen (http://www.thieme.de/de/dmw-deutsche-medizinische-wochenschrift/ueber-dmw-1994.htm; letzter Zugriff: 08.10.2013). Das „Deutsche Ärzteblatt“ schreibt in seinen Autorenhinweisen: „Die Redaktion begrüßt ausdrücklich die Einsendungen von Originalarbeiten.“ (http://www.aerzteblatt.de/down.asp?id=10741, S. 1; letzter Zugriff: 10.10.2013). Vor allem in den letzten drei Jahrzehnten von zunehmender Bedeutung sind die Übersichtsartikel, synonym zu Übersichtsarbeiten, die bereits vorhandenes Wissen zusammenfassen oder in einen neuen Kontext stellen. Wiese bezeichnet die Übersicht als die wichtigste Sekundärtextsorte, die meistens von Experten des jeweiligen Spezialgebietes verfasst wird. Die Übersichten vermitteln wissenschaftlich abgesicherte Informationen und stellen die aktuelle Entwicklung und Literatur zu einem Themengebiet dar. Immer häufiger werden den Übersichten Zusammenfassungen vorangestellt, oft in Deutsch und Englisch. Teilweise finden

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weitere Strukturierungen statt. Als eine Variante dazu hat sich der sog. Systematische Übersichtsartikel (Systematic Review) herausgebildet. Hierbei werden zu einer bestimmten Fragestellung alle relevanten Studien und andere Forschungsergebnisse zusammengefasst. Mit vergleichenden und expliziten Methoden werden einschlägige Forschungsarbeiten verfolgt, ausgewählt und qualitativ beurteilt. Um den aktuellen Kenntnisstand möglichst vollständig zu erfassen, werden nicht publizierte Arbeiten einbezogen. Das Ergebnis wird oft grafisch dargestellt. Alle Reviews enden mit einer Zusammenfassung der Schlussfolgerungen. So entsteht ein neu gegebener Überblick über das aktuell vorhandene Wissen zum jeweiligen Thema. Die Reviews entstehen formal und strukturell standardisiert. Noch im Jahre 1980 stellte Weiß fest, die Wissen verdichtende Informationstätigkeit in Form von Übersichten spiele bislang eine untergeordnete Rolle (vgl. Weiß, 1980, 37), aber Wiese (2002, 129) konnte richtig feststellen: Die gezielte Aufbereitung des aktuellen Wissenstandes und die Wertung dieses Wissens unter praxisrelevanten Aspekten hat immer größeres Gewicht erlangt.

Der Systematische Übersichtsartikel und Studien sind eine Folge der Evidenzbasierten Medizin (EBM, evidence-based medicine, „auf Beweise begründete Medizin“). Ziel ist, durch randomisierte Studien wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse in die Praxis zu bringen und Einfluss auf Entscheidungen im Gesundheitssystem zu nehmen (z. B. Erstellung von Leitlinien, Einführung von Pharmaka). Dies bedarf einer hohen Qualitätssicherung, bündelt die EBM doch vorliegende Studien oder stellt neue empirische Daten vor und gibt ggf. Leitlinien für den Mediziner heraus. Dadurch nimmt die Statistik und Evaluierung in der Medizin zu. Für das Verfassen von Systematischen Übersichtsartikeln, teilweise als Studie bezeichnet, bedarf es mathematischstatistischen Wissens, da es verschiedene Verfahren und Typen in der Statistik und Empirie gibt. In der Primärforschung gibt es beispielsweise Methodenentwicklung/ genetische Studien/biometrische Verfahren/Beobachtungsstudie/Prognosestudie/ Feldstudie und in der Sekundärforschung (Aufbereitung von bereits vorhandenen Studien) Metaanalyse oder Review. Röhrig et al. (2009, 263) führen 30 verschiedene Studientypen auf. Originalaufsatz und Übersichtsartikel sind typische Fachtextsorten. Eine Textsorte speziell der Medizin ist die Kasuistik (synonym dazu Fall, Fallbesprechung und Fallbericht). In ihr werden Forschungsergebnisse oder neue medizinische Erkenntnisse, spezialisiert auf einen Fall, wiedergegeben. Hierbei soll das exemplarische Wissen verallgemeinert werden können, weshalb neben einer Einleitung und der eigentlichen Kasuistik eine Diskussion folgt. Charakteristisch sind meistens eine deutsche und eine englische Zusammenfassung sowie das Nennen von Schlüsselwörtern. Typischerweise enthält eine Kasuistik die Anamnese (Vorgeschichte einer Krankheit), den Befund, der teilweise aus zwei Arten besteht (Klinischer und Klinisch-chemischer Befund) und den Teil „Therapie und Verlauf“. Die anschließende Diskussion dient

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der Zusammenfassung und Loslösung vom Einzelfall. Eventuelle Literaturhinweise oder Danksagungen finden am Schluss ihren Platz. Bezüglich der Adressaten ist der Fallbericht spezifisch für den praktischen Arzt bestimmt und rückt somit in die Nähe des Lehrbuchartikels mit praktischem Bezug (vgl. Wiese, 2000, 711). Das Aufzeigen ungewöhnlicher Krankheits- und Behandlungsverläufe soll dem Leser bei eigenem diagnostischem oder therapeutischem Handeln helfen. Die Beschreibung seltener, beinahe exotischer Krankheiten wird jedoch kritisiert, da Fälle, deren Verläufe weniger spektakulär seien, nicht berichtet werden und es so zu einer Verzerrung des wahren Bildes komme (vgl. Müllner, 2005, 70). Neben diesen Eigenschaften weist der Fallbericht mit meist nur ein bis drei Seiten Kürze auf und beinhaltet sehr häufig Fotos oder Abbildungen von diagnostischen Verfahren. Seine Funktion liegt in der Bereicherung von ärztlicher Alltagserfahrung (vgl. Wiese, 2000, 712). Alle drei typischen Textsorten der Fachzeitschrift sind einerseits durch feste Makrostrukturen charakterisiert, die sich im Laufe der Jahrzehnte nur marginal verändert haben. Ein Teil der Textsortenkonventionen jedoch ist variabel und passt sich den veränderten Nutzungsgewohnheiten und technischen Verfügbarkeiten an. Nur so kann die Fachzeitschrift als traditionelles Medium den Ansprüchen der modernen Wissensgesellschaft genügen. Dazu gehören die englischsprachige Zusammenfassung, Indexierung, Kürze, eine Erklärung zu evtl. Interessenkonflikten sowie die Verwendung nichtsprachlicher Teile (Abbildungen, Grafiken und Tabellen) für bessere Übersichtlichkeit. Zur Qualitätssicherung wird das sog. Peer-Review-Verfahren verwendet, bei dem mehrere Gutachter den Beitrag auf Wissenschaftlichkeit und Novität beurteilen. Von großer Bedeutung in der interfachlichen Kommunikation ist der Arztbrief. Er ist das Kommunikationsmedium zwischen Ärzten und thematisiert Diagnose und Therapieverlauf eines Patienten. Er dient dem Informationsaustausch zwischen Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen (z. B. Überweisung vom Hausarzt an den Facharzt) oder der Weiterbehandlung beim Wechsel von der ambulanten zur stationären medizinischen Versorgung. Die Übermittlung von verständlichen Diagnose- und Behandlungsinformationen von Arzt zu Arzt ist die wesentliche Funktion des ärztlichen Berichts. Der Arztbrief ist zumeist die umfangreichste und detaillierteste Darstellung des Behandlungsverlaufs. Somit spielt er auch in der Dokumentation, besonders bei der Versorgung von Patienten mit langen Krankheitsverläufen, eine wichtige Rolle (Unnewehr/Schaaf/Friederichs, 2013, A 1672).

Als sinnvoll und üblich hat sich die Briefform mit den Abschnitten Adressat/Patientendaten einschließlich Aufenthaltszeit/Diagnosen, Eingriffe, Operationen/Epikrise (zusammenfassende Beurteilung)/Therapieempfehlung sowie Befunde im Anhang erwiesen. Aufgrund von Zeitdruck wird oftmals auf Textbausteine zurückgegriffen. Das Schreiben eines Arztbriefes erfordert Zeit, strukturiertes Denken und die Fähigkeit, Krankheitsverläufe sowie Therapien prägnant wiederzugeben und alle Fakten dem Textsortenmuster richtig und nicht redundant zuzuordnen. Als Hilfe für ange-

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hende Mediziner wurde die sog. Dortmunder Arztbrief-Checkliste erstellt (vgl. Unnewehr/Schaaf/Friederichs, 2013, A 1673). Hinweise zur Makrostruktur und Musterbriefe geben Spießl/Cording (2001) bzw. Spießl/Cording/Klein (2004). Neben der Funktion als Informationsmedium spielt der Arztbrief auch bei rechtlichen Fragen und medizinjuristischen Auseinandersetzungen eine große Rolle, nimmt er doch den Verfasser in die Haftung. Zudem ist der Arztbrief ein wichtiges Dokument für die Kostenabrechnung, da er die bisherige Behandlung widerspiegelt. Lange Zeit galt der Arztbrief als lineare interfachliche Kommunikation, die oftmals eine persönliche Note trug (vgl. Leschke, 2006, 167). Zunehmend wird der Arztbrief als Kopie dem Patienten mitgegeben, sodass dieser nicht nur informiert ist, sondern zusätzlich die Möglichkeit bekommt, ergänzend oder berichtigend einzugreifen. In der Psychiatrie zeigen Untersuchungen, dass es bereichernd sein kann, dem Patienten Einsicht zu gewähren und ihn nicht aus der innerärztlichen Kommunikation herauszuhalten. Gagel weist dem Arztbrief somit eine Kommunikations- und Steuerungsfunktion zu und sieht in der wechselseitigen Kommunikation eine Chance (vgl. Gagel, 2004, 46). Inwieweit es zu einer Veränderung der Makrostruktur kommt und beispielsweise ein Abschnitt „Patientenmeinung“ o. Ä. ergänzt wird, wird sich zeigen. Fakt ist die Veränderung vom individuellen zum computergestützten Text. Die Textsortenmuster für Beiträge in Fachzeitschriften sind sehr klar strukturiert und in fast allen medizinischen Fachzeitschriften in den Autorenhinweisen festgehalten. Oftmals finden sich vorgeschriebene Angaben zu Umfang, Überschriften, Stichworten und Anfertigung von Grafiken und Tabellen. Das „Deutsche Ärzteblatt“ beispielsweise schreibt für eine Originalarbeit maximal 2.300 Wörter, 40 Literaturangaben und sechs Abbildungen, Tabellen oder Grafiken vor (vgl. http://www.aerzteblatt.de/down.asp?id=10741, S. 1; 10.10.2013). Das Textsortenmuster für den Arztbrief jedoch ist sehr variabel und basiert in der ärztlichen Praxis oft auf „Learning-bydoing“ oder Vorgabe. So unterscheiden sich Arztbriefe nicht nur von Fach zu Fach, sondern ebenso von Klinik zu Klinik. Der Medienwandel macht auch vor der medizinischen Kommunikation nicht halt, sodass dieser nicht nur mehr in Form von Fachzeitschriften, Monografien etc. stattfindet, sondern sich auf das Internet erweitert. Ein richtungsweisendes Beispiel sind die „Kompetenznetze in der Medizin“. Um innovative multidisziplinäre Gesundheitsforschung auf höchstem Niveau zu ermöglichen und Forschungsergebnisse schnellstmöglich in die Patientenversorgung zu bringen, haben sich Wissenschaftler, Ärzte und Patientenorganisationen seit 1999 in Kompetenznetzen zusammengeschlossen. Diese Netzwerke schaffen den organisatorischen Rahmen, durch den herausragende wissenschaftliche Leistungen besser genutzt werden können. Initiiert und gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gibt es derzeit 21 Kompetenznetze in der Medizin zu verschiedenen Krankheitsbildern, um übergreifende Fragen zu lösen und Qualitätsstandards weiterzuentwickeln (http://www.kompetenznetze-medizin.de; letzter Zugriff: 11.10.2013).

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Des Weiteren dient das Internet mit E-Papers (Online-Veröffentlichung der gedruckten Fachzeitschrift), Datenbanken und Katalogen (z. B. PubMed, MEDLINE, EMBASE, Scopus, MEDITEC) der besseren und schnelleren Recherche. Es spiegelt die Nutzungsveränderungen wider und wird dem Bedürfnis nach schneller, punktueller und jederzeit verfügbarer Information gerecht.

2.2 Textsorten in der mündlichen fachinternen Kommunikation Der mündliche Wissenstransfer findet neben dem Berufsalltag vor allem in der Ausund Weiterbildung statt. Dazu gehören in der Ausbildung Vorlesungen und Seminare und in der Weiterbildung Kongresse und Fortbildungsveranstaltungen. Hinzu kommt, dass ein Mediziner bzw. Psychotherapeut in fünf Jahren 250 Weiterbildungspunkte sammeln muss und somit angehalten ist, Kongresse und Seminare zu besuchen (Fortbildungsverpflichtung gemäß § 95d SGB V). Grund ist die angesprochene kurze Halbwertzeit, die eine ständige Weiterbildung vonnöten macht. Zwar gibt es in immer mehr Fachzeitschriften die Möglichkeit, die zertifizierten CMEPunkte (Continuing Medical Education) zu sammeln, doch ist dies nur ein kleiner Anteil. Viel stärker kann sich der Mediziner auf Kongressen und Fortbildungsveranstaltungen mit einem Thema beschäftigen sowie mit Experten und anderen Ärzten ins Gespräch kommen. Wie in der Wissenschaftskommunikation allgemein zeigt sich auch hier die Tendenz vom linearen Wissenstransfer hin zu einer dynamischen Kommunikation. Der alleinige Frontalunterricht hat ausgedient. Workshops, Seminare, Gesprächsrunden und Anfertigung von Papers in Gruppen stehen gleichberechtigt mit Vorlesungen und Referaten auf dem Programm. Die mündliche fachinterne Wissenschaftskommunikation ist in vielen Bereichen, auch in der Medizin, nur wenig erforscht. Zur Vorlesung und Prüfungsgesprächen gibt es Untersuchungen, generell aber ist Casper-Hehne (http://www.uni-goettingen. de/de/25894.html; letzter Zugriff: 11.10.2013) zuzustimmen: Es existierte bisher keine systematische Beschäftigung mit mündlicher Wissenschaftskommunikation innerhalb der Forschung. Hier sollte eine Forschungslücke geschlossen werden.

3 Fachexterne Textsorten 3.1 Textsorten in der schriftlichen fachexternen Kommunikation Zwischen medizinischem Fachpersonal (Ärzte, Apotheker, Hebammen, Krankenschwestern etc.) und dem interessierten Laien (Patient, Angehöriger etc.) gibt es in

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der schriftlichen Kommunikation verschiedene Formen der Interaktion. Diese sind zum Teil gesetzlich vorgeschrieben oder auf freiwilliger Basis. Zur ersten Gruppe gehören beispielsweise der Beipackzettel/Packungsbeilage zu Fertigarzneimitteln, der seit 1.1.1978 vorgeschrieben ist, und der Fragebogen/Aufklärungsbogen/die Einverständniserklärung zu geplanten medizinischen Eingriffen nach § 630d BGB. Neben der rechtlichen Absicherung dient es der Informierung und Unterweisung des Patienten. Durch die juristische Formalität weisen diese Textsorten eine streng geregelte Makrostruktur auf. Die Packungsbeilage gibt u. a. Auskunft zum Anwendungsgebiet, Darreichungsform, Gegenanzeigen, Wechselwirkungen, Dosierungsanleitung, Nebenwirkungen, Gegenmaßnahmen zu Über-/Unterdosierung, Angaben zum Hersteller und Wirkstoff. Eine genaue Auflistung aller zu gebenden Informationen findet sich im § 11 AMG (Arzneimittelgesetz). Der Wortlaut der Packungsbeilage muss laut § 22 Abs. 7 AMG bereits bei der Zulassung eines Medikaments vorgelegt werden (vgl. Berg-Schmitt, 2003, 59, 67 ff.). Schuldt (1992, 43) bezeichnet die Packungsbeilage als monologischen Diskurs, weil der Leser in der Regel mit dem Verfasser der Packungsbeilage nicht direkt Rücksprache halten kann. Aber auch hier deutet sich eine Veränderung an. In zunehmendem Maße können Patienten Einfluss auf die Packungsbeilage nehmen und einen dialogischen Prozess initiieren, sind sogar dazu aufgerufen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und das Paul-Ehrlich-Institut haben eine Internetseite (www.verbraucher-uaw.pei.de) mit einem Formular eingerichtet, womit schnell und anonym Nebenwirkungen oder sonstige Informationen zu einem Arzneimittel gegeben werden können. Somit wird die Hürde genommen, direkt mit dem Arzt oder Apotheker kommunizieren zu müssen, was z. B. bei Geschlechtskrankheiten oder psychischen Erkrankungen von Vorteil sein kann. Der oftmals als Aufklärungsbogen deklarierte Text, der mit der Unterschrift des Patienten die Einverständniserklärung zu einer ärztlichen Behandlung darstellt, soll den Patienten informieren und aufklären und ihn bei seiner Entscheidung unterstützen. Er ist die schriftliche Bestätigung zum vorgeschriebenen mündlichen Aufklärungsgespräch. Eingeteilt wird er … … in die Diagnose-, Behandlungs-, Risiko- und Verlaufsaufklärung […]. Der Patient soll anhand aller durch den Arzt vermittelten Informationen entscheiden können, wie wahrscheinlich ein Heilerfolg ist und welche Risiken mit der Diagnostik, dem Eingriff oder der Behandlung verbunden sind, um eine eigenverantwortliche Nutzen-Risiko-Abwägung für oder gegen den medizinischen Eingriff zu treffen. (Parzeller et al. 2007, A 578)

Aufgrund der juristischen Komplexität werden fachspezifische Aufklärungsbögen von Fachgesellschaften oder Verlagen als Vorlage angeboten und laufend aktualisiert. Der Umfang dieser Textsorte liegt bei durchschnittlich ein bis vier Seiten, je nach Art des medizinischen Eingriffs (Geburt, Koloskopie, Weisheitszahnextraktion, Bypass-Operation, Transplantation etc.). Eine ausführliche Untersuchung darüber liegt von Busch (1994, 78–96) vor.

Fachinterne und fachexterne Textsorten in der Medizin 

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Zu der fachexternen Kommunikation auf freiwilliger Basis gehören die in den letzten 20 Jahren an Bedeutung gewinnenden Formen des Wissensaustausches im Internet. Das sind vor allem Gesundheitsportale und Foren. Zu unterscheiden sind dabei institutionelle Angebote (Ministerien, Ärztekammern, Kliniken etc.) von privaten Initiativen (niedergelassene Ärzte, Hebammen). Ziel ist bei beiden, Informationen zu Krankheiten, Therapien und Vorsorge zu geben. Oftmals – bei Foren ausschließlich – gibt es die Möglichkeit, Experten ganz individuell zu fragen bzw. Fragen und deren Antworten anderer Nutzer einzusehen. Das Persönliche und die Möglichkeit des Austausches mit Experten stehen im Vordergrund. Das geschieht zeitlich und räumlich voneinander unabhängig, was die Möglichkeit eröffnet, mit Experten aus anderen Orten und anonym per Internet zu kommunizieren. Gerade die Anonymität ist dabei ein entscheidendes Kriterium und ausschlaggebend für den großen Zuspruch solcher Web-Portale. Der sog. Wartezimmerbluthochdruck (bzw. die Weißkittelhypertonie) drückt die Ängste und Hemmungen des Patienten vor der direkten Kommunikation aus. Am Rande zu nennen sind die zahlreichen Foren im Internet, bei denen Nutzer untereinander kommunizieren. Sie gehören nicht zur Fachkommunikation, sondern sind eine Laien-Laien-Kommunikation mit fachlichem Inhalt, wobei der Fachlichkeitsgrad gering ist. Die Kommunikanten unterscheiden sich dadurch, dass einer auf einem kleinen Gebiet einen Wissensvorsprung hat. Auch wenn diese Form des Gesundheitsdiskurses nur peripher mit der Wissenschaftskommunikation zu tun hat, so kann man eine Wirkung auf die Fachkommunikation nicht ausschließen. Die Informiertheit und das Interesse des Patienten verändern seine Haltung in der Kommunikation mit dem Experten und haben wiederum Auswirkungen auf den zunehmend dialogisch-orientierten Wissenstransfer. Hierzu gehören Zeitungen oder Seminare von Selbsthilfegruppen und Patientenorganisationen. Pscheida (2010, 431) spricht vom kollektiven Laien-Expertentum, das in Zukunft Veränderungen im Textsortenspektrum bewirken könnte.

3.2 Textsorten in der mündlichen fachexternen Kommunikation Einen großen Raum in der fachexternen Kommunikation nimmt das Arzt-PatientenGespräch ein. Es stellt die Schnittstelle dar zwischen dem Auskunft gebenden Experten (Arzt, Apotheker, Hebamme u. A.) und dem Patienten, der zunehmend informiert sein will. Das Bestreben nach einer zweiten Meinung zeigt den Willen nach Information und Verständnis. Wie wichtig die Kompetenz von Ärzten ist, Auskunft geben zu können, wird dadurch deutlich, dass in der Approbationsordnung für Ärzte im Jahr 2012 (Anlage 10) die Ausbildung kommunikativer Kompetenz festgeschrieben wurde (vgl. Rink, 2013, B 758). Rink (ebd.) konnte in einer Studie (Befragung von 539 niedergelassenen Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen) herausfinden, dass ein Großteil der Mediziner sowohl eine Zunahme des Informations- und Beratungsbe-

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dürfnisses von Patienten als auch des Anteils der informierten Patienten registrierte. Das erleichtert zum Teil das Arzt-Patienten-Gespräch durch Interesse und Nachfragen, kann aber den Ablauf stören, wenn der Patient Zweifel hegt oder widerspricht. Dies wiederum beeinträchtigt das Selbstverständnis und Selbstvertrauen des Arztes. Zugleich können Informationen oder Fragen des Patienten zu einer weiteren Beschäftigung des Arztes mit dem Thema führen. Durch Rückkopplung und Reflektion entsteht ein dynamischer Prozess und der Arzt ist nicht mehr nur der lineare Sender. Das Arzt-Patienten-Gespräch ist dadurch charakterisiert, „daß Arzt und Patient in weiten Bereichen für eine optimale Behandlung kommunikativ wechselseitig, wenn auch nicht symmetrisch, aufeinander verwiesen sind“ (Wichter, 1994, 288). Wichter (ebd.) betont die z. T. stark ausgeprägte Vertikalität in den Wissensständen zwischen Arzt und Patient. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob es durch das zunehmende soziale Agieren im Wissenstransfer zu Veränderungen in der Vertikalität kommt. Neben der Bedeutung in der Wissensvermittlung bewertet Nowak (2010, 15) das Arzt-Patienten-Gespräch als einen Baustein in der Qualitätssicherung: Verstärkte Patientenbeteiligung in Entscheidungsprozessen und Patientenempowerment für Gesundheitsförderung […] wird als eine mögliche Grundlage für höhere Effizienz, Patientenzufriedenheit und Gesundheitsgewinn gesehen.

4 Fazit Der Wissenschaftsbereich der Medizin zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist charakterisiert durch eine kurze Halbwertzeit, Standardisierung, Verrechtlichung und Komplexität durch Ausdifferenzierung und Erweiterung der Fachgebiete. Der Anteil der mündlichen und schriftlichen Textsorten, die eine kommunikativ-kontaktive Funktion haben und zur Rückkopplung aufrufen, wird größer. Die Kommunikation wird aktiver, sozialer und entwickelt sich zunehmend vom überwiegend linearen Wissenstransfer zu einem dialogischen Prozess. Prägend wirkt dabei das Internet, das mit seinen Möglichkeiten der schnellen, wenn gewollt auch anonymen Interaktion und schnellen Auffindbarkeit und Recherche von Informationen die Kommunikation beeinflusst. Die Fachsprache der Medizin ist auf dem Weg zu einer medizinischen Wissenschaftskommunikation 2.0.

Fachinterne und fachexterne Textsorten in der Medizin 

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5 Literatur Berg-Schmitt, Jutta (2003): Wissenstransfer Arzneimittel. Untersuchungen zu Packungsbeilagen. Dissertation. Universität Trier. Braus, Dieter F./Christopher Baethge (2009): Wissenschaftliche Originalarbeiten in deutscher Sprache – Ein Anachronismus. In: Psychiatrische Praxis 36, 157–159. Busch, Albert (1994): Laienkommunikation. Vertikalitätsuntersuchungen zu medizinischen ExpertenLaien-Kommunikationen. Frankfurt am Main et al. Busch, Albert (2006): Semantische Kämpfe in der Medizin. Ansätze zu einer Typologie der Wissenskämpfe. In: Ekkehard Felder (Hg.): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin, 47–72. Ebel, Hans F./Claus Bliefert/Hans J. Avenarius (1993): Schreiben und Publizieren in der Medizin. Weinheim. Gagel, Detlev (2004): „Gut, dass wir darüber gesprochen haben?“ Der Arztbrief als Kommunikationsund Steuerungsmittel im Sozialpsychiatrischen Dienst. In: Gesundheitswesen 66, 46. Gerok, Wolfgang (1997): Aufgaben und Qualitätsmerkmale medizinischer Fachliteratur – zwischen Wissenschaft und Fortbildung. In: Werner Creutzfeldt/Wolfgang Gerok (Hg.): Medizinische Publizistik. Probleme und Zukunft. Stuttgart, 1–9. Hahn, Walther von (1983): Fachkommunikation. Berlin. Hoffmann-Richter, Ulrike (2008): Wissenschaftssprache – Hindernis oder Denkhilfe – eine Sprachkritik. In: Psychiatrische Praxis 35, 369–372. Korda, Wolfgang (2002): Spezifikation und Implementierung eines intranetbasierten und zu den gängigen Praxis- und Klinikinformationssystemen in der Augenheilkunde kompatiblen Expertensystems für die Ophthalmologie. Diplomarbeit. TU München. Koschwitz, Hansjürgen (1969): Die wissenschaftliche Zeitschrift. In: Emil Dovifat (Hg.): Handbuch der Publizistik. Bd. 3. 2. Teilband. Berlin (West), 523–526. Kuhlen, Rainer (1997): Elektronische Zeitschriften als Foren der Wissenschaftskommunikation. In: Raymund Werle/Christa Lang (Hg.): Modell Internet? Entwicklungsperspektiven neuer Kommunikationsnetze. Frankfurt am Main, 263–288. Leschke, Matthias (2006): Höhepunkt und Niedergang ärztlicher Kommunikation – Der Arztbrief als Exempel. In: Notfall & Hausarztmedizin 32, 167. Manecke, Hans-Jürgen/Thomas Seeger (1997): Entwicklung der Information und Dokumentation. In: Marianne Buder (Hg.): Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation. Ein Handbuch zur Einführung in die fachliche Informationsarbeit. Bd. 1. München, 16–60. Möhn, Dieter (1998): Fachsprache als Gruppensprache. In: Lothar Hoffmann/Hartwig Kalverkämper/Herbert Ernst Wiegand (Hg.): Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. Band 1. Berlin, 150–157. Müllner, Marcus (2005): Erfolgreich wissenschaftlich Arbeiten in der Klinik. Evidence based medicine. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Wien.  Nowak, Peter (2010): Eine Systematik der Arzt-Patient-Interaktion. Frankfurt am Main et al. Parzeller, Markus et al. (2007): Aufklärung und Einwilligung bei ärztlichen Eingriffen. In: Deutsches Ärzteblatt 104, A 576–86. Poser, Hans (1990): Wissen und Können. Zur Geschichte und Problematik des Wissenschaftstransfers. In: Herman J. Schuster (Hrsg.): Handbuch des Wissenschaftstransfers. Berlin/Heidelberg, 13–27. Pscheida, Daniela (2010): Das Wikipedia-Universum. Wie das Internet unsere Wissenskultur verändert. Bielefeld. Raidt, Holger (1997): Entwicklungen des Weiterbildungswesens von 1947 bis 1997. In: 50 Jahre Ärztekammer Westfalen-Lippe, 84–98.

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Sonja Kleinke

22. Internetforen: Laiendiskurs Gesundheit

Abstract: Im Zuge der zunehmenden Mediatisierung unserer Alltagskultur nutzen heute medizinische Laien für die sprachliche Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit systematisch komplementär verschiedene Internetressourcen als wert­volle Kommunikationsräume jenseits des institutionalisierten Arzt-Patienten-Gesprächs. Dieser Beitrag bettet zunächst öffentliche Forenkommunikation medi­zinischer Laien in den breiteren Kontext sich stetig entwickelnder Kommunika­tionsräume im Internet ein, erörtert dann drei bislang in der Forschung wenig systematisch unterschiedene Typen medizinischer Foren und beleuchtet dabei exemplarisch ausgewählte kommunikative Praktiken öffentlicher Gesprächsforen auf Gesundheitsportalen. Ein kurzes Fazit resümiert Chancen medizinischer Internetforen. 1 Das Internet als Rahmen für Laiendiskurse zu Medizinthemen 2 Vom Medizinportal zur M-Therapie: Laiendiskurs Gesundheit in Online-Anwendungen 3 Forenkommunikation Gesundheit 4 Fazit 5 Literatur

1 Das Internet als Rahmen für Laiendiskurse zu Medizinthemen Das Internet hat den alltagsweltlichen Gesundheitsdiskurs tiefgreifend ver­ändert. Mit seinen vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten gilt es seit Langem für viele Menschen als wichtige Ressource in Gesundheitsfragen und als unverzicht­barer kommunikativer Rahmen für den Austausch medizinischer Alltagserfahrun­gen jenseits des institutionalisierten Arzt-Patienten-Gesprächs. Der Erfolg ge­sund­heitsbezogener Kommunikationsformen im Internet wird in der Forschung interdisziplinär in engem Zusammenhang mit den technischen und sozialen Rah­menbedingungen internetbasierter Kommunikation erörtert. Häufig genannte Fak­toren umfassen ihre Interaktivität, die Niederschwelligkeit des Zugriffs (keine räumliche und zeitliche Begrenzung der Nutzung, leichter Zugriff auch für Men­schen in besonderen Lebenssituationen, Anonymität), die Aktualität der Informa­tion sowie ihr Potenzial für umfassende, auf persönlicher Erfahrung anderer Nut­zer(innen) beruhende emotionale Unterstützung (Eichhorn 2008, 67; Rossmann 2010, 348; Fraas/Meier/Pentzold 2012, 19; Harvey/ Koteyko 2013, 166). Bereits Kickbusch (2006, 17) beobachtet ein „signifikantes Ansteigen des öffentlichen und persönlichen Interesses an Gesundheit“, das zu einer allgemei­nen Durch-

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dringung des gesellschaftlichen Diskurses mit Fragen von Gesundheit und Krankheit führt. Gesundheitsangebote im Internet machen für ihre Nutzer(in­nen) zentrale normative Ansprüche an Öffentlichkeit unmittelbar erlebbar und umsetzbar: die Offenheit für alle Gruppen, Meinungen und Themen von kollek­tiver Bedeutung, die diskursive Aushandlung sowie die Erzeugung von öffentli­chen Meinungen, die vom Pu­blikum auf der Mikro- und Mesoebene als überzeu­gend wahrgenommen und akzeptiert werden (Neidhardt 1994, 8; Fraas/Meier/Pentzold 2012, 31). Dadurch werden ihre Nutzer(innen) auf besondere Weise zu ratifizierten Teilnehmer(inne)n am öffentlich geführten Gesundheitsdiskurs. Inter­personale, Gruppen- und öffentliche Kommunikation greifen im internetbasier­ten Gesundheitsdiskurs auf vielschichtige Weise ineinander und haben das Poten­zial, jenseits individueller Sinnkonstruktion im Krankheitsfall (Nervala u.a. 2007, 31), über Prozesse der Meinungsbildung und Normsetzung direkt auf die Gesell­ schaft zurückzuwirken. Internetbasierte Gesundheitsportale übernehmen zuneh­mend traditionelle Funktionen klassischer Massenmedien, indem sie, wie Fraas/Meier/Pentzold (2012, 31) für diese beobachten, „Relevanzstrukturen … [schaf­fen]“, „die Aufmerksamkeit der Rezipienten … [lenken]“ und so „die Konstruk­ tion von Sinn …[unterstützen]“. Auch Harvey/Koteyko (2013, 182) unterstrei­chen die Wirkungsrichtung internetbasierter Gesundheitskommunikation in die Gesellschaft hinein, indem sie sprachliche Beiträge Einzelner im Online-Gesund­heitsdiskurs nicht als Wiedergabe privater mentaler Zustände betrachten, sondern als soziale Phänomene, die in einer bestimmten Diskurssituation produziert wer­den und den weiteren Verlauf der jeweiligen Interaktion bestimmen. Laut einer Umfrage des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2009 nutzten seinerzeit bereits 58 % der Befragten in Deutschland das Internet, um sich über Gesundheitsthemen zu informieren. Informationen zu Gesundheitsthemen standen auf Rang 4 der Aktivitäten, für die das Internet hierzulande zu privaten Zwecken genutzt wird (Quelle:; letzter Zu­griff: 14.01.2014). Beschreiben Lausen/Potapov/Prokosch (2008, 8) den direkten Kontakt mit Ärzten, Apothekern und der Familie sowie Informationen aus den klassischen Massenmedien in Deutschland im Jahr 2007 noch als wichtigere Informationsquelle als das Internet, belegen neuere Zahlen die stetige Weiterent­wicklung der Internetnutzung. Bei den 18–25-Jährigen war das Internet laut der HeYou-Jugend-Gesundheitsstudie aus dem Jahr 2011 auf Rang 1 der genannten Informationsquellen zu Gesundheitsthemen: 94 % der befragten Männer und Frauen ziehen das Internet als Informationsquelle Zeitschriften und sogar dem Arzt vor (Quelle: ; letzter Zugriff: 14.01.2014). Auch Winston/Medlin/Romaniello (2012, 952) berichten, dass Pa­tienten in den USA mehr als 50 % ihrer medizinischen Informationen aus dem Internet und nicht von Ärzten beziehen. Eysenbach (2003, 356 ff.) betrachtet Internetzugang und -zugriff nicht als Dichotomie, sondern als Kontinuum mit unterschiedlichen Formen sowohl der qualitativen als auch der quantitativen Nutzung und beob-

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achtet, dass weltweit 15–20 % aller an Krebs Erkrankten das Internet auch indirekt, über Familienangehörige und Freunde, nutzen. In Auswer­tung zahlreicher empirischer Studien beschreibt Rossmann (2010, 347 f.) die Suche nach Informationen (für eine zweite Meinung oder genauere Informationen zu spezifischen Krankheitsbildern), das Bedürfnis nach Unterstützung für den Umgang mit der eigenen Krankheit und die Suche nach sozialen Kontakten mit anderen Betroffenen

als dominante Motive für die Nutzung internetbasierter Gesundheitsangebote. Gesundheitsangebote im Internet lassen sich bezogen auf die Teilnahmerollen von Laien in drei (z. B. Gitlow 2000, 117; Nervala u.a. 2007; Rossmann 2010, 342) bis vier zentrale funktionale Kategorien unterteilen, die sich im Zeitalter des auch als Social Web bezeichneten Web 2.0 (Schmidt 2011, 24) häufig gegenseitig überlagern: Infor­ mationsangebote, die Internetnutzer(innen) zunächst rein rezeptiv einholen und die z. B. in allge­meinen Gesundheitsportalen wie NetDoktor oder Gesundheits­portalen zu spezifischen Krankheiten (z. B. emed-ms) jederzeit frei abrufbar sys­tematisiert zur Verfügung stehen. Die zweite Kategorie bilden Internetan­wen­dun­gen, die aktive Interaktion zwischen medizinischen Laien in sozialen Netzwerken, Chat­räumen, Foren oder mittels anderer mobiler Formen der internetbasierten Kom­munikation ermöglichen (von Rossmann (2010, 342) als Health Communi­ties subsumiert). Die dritte funktionale Kategorie (Provision) bringt in Online-Thera­pieangeboten medizinische Laien direkt mit behandelnden Ärzten in Kon­takt und soll hier leicht modifiziert im Sinne einer potenziellen therapeutischen Funktion erfasst werden (vgl. Abschnitt 2 und 3). Eysenbach (2003, 360) unterstreicht (bezogen auf Krebspatienten) in seiner Typologie zusätzlich den kommerziellen Aspekt und benennt mit dem Verkauf und Kauf von Gesundheits­produkten (e-commerce) einen weiteren Interaktionsbereich, in dem medizinische Laien vor allem in ihrer Rolle als Konsumenten und als Zielgruppe für die Arz­neimittelwer­bung involviert sind. Neben diesen unmittelbar situativen Beteili­ gungsrollen auf der metadiskursiven Ebene zeichnet sich internetbasierte Gesund­ heitskommuni­kation generell durch eine große Akteursvielfalt (z. B. Patientenor­ ganisationen, staatliche Stellen, kommerzielle Anbieter, Stiftungen, Privatper­sonen) aus, die das Meinungsspektrum erweitert (Hautzinger 2003, 599; Ross­mann 2010, 341). Im Unterschied zum institutionalisierten Arzt-Patienten-Ge­spräch, in dem die Teilnahmerollen Experte vs. Laie und ihre spezifischen Auf­gaben durch das Vorliegen bestimmter gegenstandsbezogener Wissensniveaus (Busch 1994, 2; Wichter 1994, 55) und den institutionalisierten interaktiven Rah­men festgelegt sind, sind die auf unterschiedlichen Wissensniveaus be­ruhen­den Partizipations­rollen in der OnlineGesundheitskommunikation nicht immer voll­stän­dig klar. Einerseits geben Mediziner in Foren, wie alle anderen Nutzer(innen), ihre real­weltlichen Identitäten nicht notwendig preis bzw. können selbst als Infor­mations­suchende agieren. Andererseits können, im Unterschied zur Offline-All­tags­kom­munikation, durch die spezifischen Rahmen- und Interaktions­bedingun­gen im Internet medizinische Laien als Erfah-

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rungsexperten (Winston/Med­lin/Ro­maniello 2012, 953), nicht nur bezogen auf medizinische Alltagserfah­rungen, sondern auch in Bezug auf ihren Erfahrungsschatz in der Online-Kommu­nikation wirken. Da­durch kann der medizinische Laiendiskurs im Internet den Konzepten des infor­mierten Patienten und des Empowerment mit ihrem Potenzial für verän­derte Arzt-Patienten-Beziehungen (Rossmann 2010, 349) eine wesent­liche, aus der medizi­nischen und virtuellen Alltagserfahrung gespeiste Facette hinzufügen.

2 Vom Medizinportal zur M-Therapie: Laiendiskurs Gesundheit in Online-Anwendungen Angelehnt an das breitere Konzept der Online-Kommunikation (Fraas/Meier/Pent­ zold 2012, 1), soll Laiendiskurs Gesundheit in Online-Anwen­dun­gen hier „alle Formen der interpersonalen, gruppenbezogenen und öffentli­chen Kommu­nikation …, die online über Computernetze, digitale Endgeräte und Mobilfunk­netze erfolgt“, umfassen, in deren Rahmen gesundheitsrelevante The­ men durch medizinische Laien kommuniziert werden. Die Bandbreite der Online-Anwen­dungen (oder alternativ: Online-Kommunikationsformen – vgl. Fraas/Mei­er/Pen­tzold 2012, 21), in denen medizinische Laien interaktiv am Gesundheits­diskurs teilnehmen können, hat sich seit der Entwicklung des Web 2.0 mit seinen zahlrei­chen benutzerfreundlich gestalteten technischen Möglichkeiten für inter­ per­ sonale und Gruppenkommunikation sowohl quantitativ als auch qualitativ deutlich er­weitert. Typisch sind heute auch als Hy­brid-Angebote (Schmidt 2011, 25) be­zeich­nete komplexe Kommunikationsformen, in denen verschiedene Anwendun­gen kombiniert werden und Nutzer(innen) selbst Inhalte einstellen können. Ross­mann (2010, 341 ff.) skizziert mögliche Klassifikationen von Ge­sundheitsangebo­ten im Internet und nennt für den Laiendiskurs neben Gesund­heitsportalen und vir­tuellen Sprechstunden (z. B. CyberDoc) die bereits vor der Entwicklung des Web 2.0 etablierten virtuellen Selbsthilfegruppen, Diskus­sionsforen und Chaträu­me. Hinzugekommen sind seit der Entwicklung des Web 2.0 weitere interaktive Angebote wie Weblogs, soziale Netzwerkanwendungen (z. B. Facebook, LinkedIn und Twitter) ebenso wie mittlerweile besonders in der psychologischen Beratung und Behandlung eingesetzte Internettherapien (E-Therapie) sowie verschiedene Formen mobiler Therapien (M-Therapie), die auf der Nutzung mobiler Endgeräte (internetfähiger Mobiltelefone und iPads) be­ruhen (Döring/Eichenberg 2007; Eichenberg 2013). Komplexere Anwendungen (z. B. Medizinportale oder Web­logs) können weniger komplexe wie z. B. Kom­munikationsforen, Chaträume oder so­ziale Netzwerkanwendungen enthalten bzw. sind mit diesen verlinkt. Dadurch er­öffnet der Online-Gesundheitsdiskurs im Internet für Laien aus thematischer Pers­pek­tive jeweils alternative Informations- und Interaktionsmöglichkeiten.

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Im Folgenden werden zentrale und viel genutzte Anwendungen mit Blick auf wichtige technische und soziale Rahmenbedingungen (vgl. z. B. Herring 2004, 2007; kation Fraas/Meier/Pentzold 2012) kurz skizziert. Medizinische Forenkommuni­ erweist sich in der aktuellen Internetlandschaft als eine sehr populäre, aber die Grenzen der verschiedenen Anwendungen überspannende Interaktionsform und soll deshalb in Abschnitt 3 gesondert betrachtet werden. Gesundheitsportale richten sich an die breite Allgemeinheit und sind sehr komplexe Anwendungen mit vielschichtigen Angeboten für ihre Nutzer(innen). Es handelt sich um Webseiten, auf denen umfangreiche gesundheitsbezogene In­formationen und für die Nutzer(innen) eingerichtete interaktive Anwendungen wie Foren oder virtuelle Online-Beratung (z. B. im Schweizer Gesundheitsportal ges­med.ch durch das Universitätsspital Zürich oder im thematischen MS-Portal emed-ms.de im synchronen Expertenchat) leicht aufrufbar struk­turiert in sogenannten Portlets oder Rubriken für die überwiegend asynchro­ne Interaktion zur Verfü­gung gestellt werden. Bekannte Gesundheitsportale in Deutschland sind z. B. Net­Doktor.de, mit einem englischsprachigen Pendant net-doctor, oder Lifeline. Das (mit monatlich 2,69 Millionen Nutzern (AGOF 2013/08)) meist genutzte und deswegen hier exemplarisch vorgestellte deutschsprachige Portal NetDoktor existiert in Deutschland seit nunmehr 15 Jahren. Es hat seinen Ursprung in Däne­mark und ist das größte und besucherstärkste Gesundheitsportal im deutsch­spra­chigen Internet, das auch von der Gruppe der über 50-Jährigen regelmäßig ge­nutzt wird. Es handelt sich um ein professionelles und kommerzielles Gesund­heitsportal rund um medizinische Themen, dessen Redaktion aus qualifizierten Medizinern und Biologen mit journalistischer Ausbildung besteht, die durch mehr als 50 im Impressum namentlich ausgewiesene ärztliche Berater(innen), Exper­t(inn)en und Autor(inn)en unterstützt werden. Das Portal NetDoktor ist auf der Startseite im Leitmenü derzeit in acht für die Nutzer(innen) klar identifizierbare Rubriken unterteilt: Krankheiten, Symptome, Diagnose, Medikamente, Gesundheit, Community, Services und ein Verweis auf mehr Inhalte. Unmittelbar darunter finden sich, visuell weitaus prominenter und redaktionell professionell gestaltet, ähnlich einem Online-Nachrichtenmagazin mit deutlichen Elementen des für Massenmedien inzwischen typischen Infotain­ments fünf thematisch und funktional gegliederte redaktionell produzierte Sektio­nen (Magazin, Themen der Woche, Wissenswert, Häufig gesucht sowie Service), die Nutzer(innen) über die ScrollFunktion und durch Mausklick erreichen. Alle Sektionen sind komplex mit den im Leitmenü der Seite erfassten acht Rubriken verlinkt. Die Seite schließt mit der gleichfalls mit dem Leitmenü komplex ver­linkten Signatur, die in weiteren acht Rubriken u. a. Informationen zum Anbieter, Mediendaten zum Angebotsprofil und Nutzungsverhalten sowie Werbemöglich­keiten und eine Verlinkung mit den sozialen Netzwerken und Mikroblogdiensten Facebook, Twitter und Google+ sowie einen RSS-Feed enthält. Darüber hinaus werden drei international anerkannte Qualitätszertifikate ausgewiesen, die dem Portal verliehen worden sind und die seine anerkannten Qualitäts-

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standards doku­mentieren. Nutzer(innen) können alle Rubriken sowohl als passive Beobachter(in­nen) als auch als aktive Teilnehmer(innen) nutzen, wobei sie sich für die aktive Teilnahme und das Senden eigener Beiträge zuvor einloggen müssen. Die spezi­fische Art der Aktivitäten der Nutzer(innen) lässt sich in Rossmanns (2010, 342) drei funktionalen Kategorien fassen und wechselt primär zwischen Information (in den Rubriken Symptome, Diagnose, Medikation, Gesundheit) und Interaktion (in der Rubrik Community). Zusätzlich wird die Interaktivität der Nutzer(innen) des Portals auf der Laien-Experten-Ebene durch zahlreiche regelmäßig wieder­kehrende Quizformate zu medizinischen Alltagsthemen, die in den verschiedenen Rubriken komplex verlinkt sind, animiert. Das therapeutische Potenzial großer Medizinportale wird in der Literatur kritisch diskutiert – vgl. z.B. Nervala u.a. 2007 – und manifestiert sich eher indirekt über den übergreifenden Zusam­menhang von Sprache und Heilung (vgl. z. B. Brünner/Gülich 2002; Coulter 2011; Prestin/Chou 2014), der für die einzelnen Nutzer(innen) aktiv vor allem in den Gesprächsforen in der Community-Rubrik erlebbar wird – vgl. Abschnitt 3. Medizinische Weblogs existieren in großer Zahl und sind in der Regel deut­ lich weniger komplex als die beschriebenen Medizinportale, jedoch in ihrer Orga­ nisationsform und Ausrichtung auf eine bestimmte Zielgruppe wesentlich hetero­ gener. Neben eher professionell ausgerichteten Experten- und akademischen Blogs, die von Medizinern auch als professionelle Netzwerke genutzt werden, existieren medizinische Blogs unterschiedlicher Urheber (Privatpersonen, politi­sche Einzelakteure oder Organisationen) und Formate (Online-Tagebücher, Fil­ter- oder Forschungsblogs). Thematisch und funktional überspannen sie damit die Bereiche Alltag, Wissenschaft und Politik und lassen sich nicht immer spezi­fischen Typen und Funktionen (Fraas/Meier/Pentzold 2012, 26) eindeutig zuord­nen. Dies macht sie für die Laienkommunikation oft schwer überschaubar. Zahl­reiche von Endnutzer(inne)n erstellte „Metablogs“ filtern und systematisieren me­dizinische Blogs für verschiedene Nutzerinteressen (z. B. Blogroll of the Best Medical Blogs – Life in the Fast Lane). Fraas/Meier/ Pentzold (2012, 25–26) cha­rakterisieren Weblogs als Webseiten, die regelmäßig aktualisiert werden und die die Produzent(inn)en oder Autor(inn)en, die den Inhalt des Blogs eigenverant­wortlich gestalten, stärker (als zum Beispiel in Medizinportalen – SK) in den Mit­telpunkt rücken. Besonders zahlreich sind individuelle Online-Tagebücher (Wolf/Theis/Kordy 2013) bzw. Videoberichte, in denen persönliche Erfahrungen mit der Krankheit erzählt werden (Prestin/Chou 2014, 190 f.) sowie Weblogs medizini­ scher Online-Selbsthilfegruppen bzw. von nicht-virtuellen Selbsthilfegruppen, die mittels eines selbst publizierten Weblogs ihre Online-Präsenz herstellen (Potts 2005). So vielfältig wie die Webloglandschaft selbst sind auch die Gestaltungs­spielräume der Blogautor(inn)en. Die Möglichkeiten der Beteiligung einer brei­teren Öffentlichkeit hängt ausschließlich von den Eigner(inne)n des Blogs ab, die die Partizipationsregeln (z. B. Registrierung, Sendemöglichkeiten, Sichtbarma­chung von gesendeten Beiträgen, nicht-öffentliche Kontaktaufnahme zu anderen Mitgliedern der Gruppe und Interaktionsmöglichkeiten) eigenständig bestimmen können. So handelt es sich

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zum Beispiel beim WegweiserDemenz um ein Weblog des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, in das ein Rat­geberforum integriert ist, in dem ärzt­licher Rat durch ein namentlich benann­tes und vorgestelltes Expertenteam erteilt wird, das für jedermann frei zugänglich ist, viele persönliche Erfahrungsberichte enthält und in dem Autor(inn)en ihre Beiträge nicht anonym verfassen. Durch die Vielfalt der Weblog-Angebote sowohl im Hinblick auf ihre Auto­ r(inn)en/Eigner(innen) als auch im Hinblick auf ihre jeweils implementierten In­teraktionsangebote können Weblogs den kommunikativen Rahmen für alle drei Primärfunktionen des Online-Gesundheitsdiskurses nach Rossmann (2010) bil­den. Neben die Informations- und Interaktionsfunktion tritt häufig durch die An­bindung an Online-Selbsthilfegruppen mehr oder minder explizit die Therapie­funktion. Wie in den großen Medizinportalen kann die Informationsfunktion sowohl auf der Ebene der Laien-Experten- als auch auf der Ebene der Laien-Laien-Peerinteraktion stattfinden. Besonders Weblogs zu Essstörungen und Krebsleiden sind als eine Form des online geführten medizinischen Laiendiskurses in der medizinpsychologischen Forschung (zum Teil auch mit Blick auf linguistische Interaktionspraktiken) bereits gut dokumentiert (Wolf/Theis/Kordy 2013; Pres­tin/Chou 2014). Soziale Netzwerkanwendungen wie Twitter, Facebook und LinkedIn sind seit ca. 10 Jahren sehr populär. Sie werden seit der Jahrtausendwende unter aktiver Beteiligung des Personals zunehmend auch in der klinischen Gesundheitsfürsorge als Kommunikationsplattformen für Patienten genutzt, um als Form der synchro­nen Kommunikation das Sammeln und den Austausch medizinischer Erfahrungen in Echtzeit unmittelbar therapiebegleitend zu fördern. Durch die Beteiligung des medizinischen Personals an der Interaktion erfährt der funktionale Dreischritt nach Rossmann hier nochmals eine Modifikation. Alle drei Elemente, Informa­tion, Interaktion und Therapie, können in Anwendungen wie Twitter oder Face­book realisiert werden. Die Informationsfunktion bezieht nun aber auf der Ebene der Laien-Experten-Interaktion (die wie in Webloganwendungen neben die Laien-Laien-Peerinteraktion treten kann) das unmittelbar behandelnde klinische Perso­nal im spezifischen Behandlungskontext direkt ein. Dadurch kann die Interaktion verstärkt Elemente des klassischen ArztPatienten-Gesprächs aufnehmen, ohne je­doch an dessen institutionalisierte Form gebunden zu sein. Nach Informationen des Social Media Health Networks (http:// network.socialmedia.mayoclinic.org/ hcsml-grid/; letzter Zugriff 25. 03. 2014) nutzen in den USA derzeit bereits 6500 Krankenhäuser verschiedene soziale Netzwerkanwendungen einschließlich Twit­ter. Beteiligte Krankenhäuser sind in der Hospital Social Media List erfasst. Die Einbindung sozialer Netzwerkanbindungen in den klinischen Alltag dürfte beson­ders der von Winston/Medlin/Romaniello (2012, 951) mit Rückgriff auf Ferguson beschriebenen Gruppe der sogenannten e-Patienten („individuals who are equipp­ed, enabled, empowered and engaged in their own health-care needs“) zugute kommen. Die genauen Modalitäten ihres Einsatzes und ihr Wirkungspotenzial sind jedoch bislang linguistisch und medizinsoziologisch wenig erforscht – vgl. aber z. B. Winston/Medlin/Romaniello (2012), die am Beispiel an Diabetes er­krankter

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Jugendlicher, die im Rahmen ihrer medizinischen Versorgung Twitter nutzten, die Herausbildung und Festigung gut informierter Patientengemeinschaf­ten beobachten, die sich als Communities of Practice konstituieren. Im Unter­schied zu OnlineGemeinschaften in Online-Selbsthilfegruppen (vgl. Abschnitt 3) müssen Nutzer(innen) sozialer Netzwerkanwendungen ihr jeweiliges Netzwerk in der kontrollierten Umgebung ihres konkreten medizinischen Betreuungskontextes selbst aufbauen und es ist möglich, Nutzer(innen), die den selbst konstruierten und etablierten Regeln der Interaktion nicht folgen, auszuschließen. Innerhalb einzelner Netzwerke können Mitglieder durch ihre medizinischen Erfahrungen „Themenautorität“ erlangen. So im Gespräch manifestierte Expertise erfahrener Nutzer(innen) kommt allen Mitgliedern der Gruppe zugute (Winston/Medlin/Ro­maniello 2012, 951–952) und ist Teil der netzbasierten komplexen Konstruktion medizinischen Alltagswissens. Für die synchrone Interaktion ausgelegte Chaträume sind heute gleichfalls häufig in andere Anwendungen implementierte Kommunikationsformen, deren technische und soziale Rahmenbedingungen ebenso wie ihr Potenzial für die In­formation, Interaktion und Therapie jedoch stark von der übergeordneten Anwen­dung abhängen. Während z. B. Darcey/Dooly (2007, 186) feststellen, dass Chaträume im OnlineGesundheitsdiskurs generell anonym sind und ihre Nutzung keiner formalen Registrierung bedarf, ist die Anonymität der Nutzer(innen) im Rahmen von OnlineTherapieangeboten (wie z. B. im Rahmen des Heidelberger SUMMIT-Projektes) per Definition aufgehoben (Hubert 2013, 4 ff.). Eine noch engere Einbindung medizinischer Laien als Patienten in die Nut­zung internetbasierter Netzanwendungen findet sich im klinischen Alltag und insbesondere in der psychologischen Beratungspraxis auch in Gestalt von Internet- oder Mobil-Therapien (E- und M-Therapie  – vgl. Bauer/Kordy (2008) und Prestin/Chou (2014)). Diese Form der therapeutischen Begleitung ist in Schwe­den, Großbritannien, den Niederlanden und den USA bereits etabliert. In Deutsch­­land be­findet sie sich mit Modellprojekten (z. B. das NetStep-Projekt in Neuss oder das SUMMIT-Projekt („Supportives Monitoring und Krank­heits­management über das Internet“) am Zentrum für psychosoziale Medizin an der Universität Heidelberg) gegenwärtig noch in der Entwicklung (vgl. auch Eichen­berg 2013, Döring/Ei­chenberg 2013, Hubert 2013, 3). Die sich zunehmend durchsetzende Mobil- („M-“) Therapie trägt der allgemeinen Tendenz der Ver­sor­gung der Bevölkerung z. B. mit internetfähigen Mobiltelefonen, iPads, Note­ books und mobilen Spiel­konsolen Rechnung, die im Jahre 2007 die Zahlen der Computer- und Internet­nutzer an lokalen Endgeräten bereits um ein Vielfaches überstieg (Döring/Eichen­berg 2007, 127; Herring 2010, 257). Sie wird derzeit wie die E-Therapie primär in der klinisch-psychologischen Intervention eingesetzt. Abschließend sei die am stärksten an das nicht-virtuelle, institutionalisierte Arzt-Patienten-Gespräch angelehnte Kommunikationsform im Internet, die virtuelle Sprechstunde (z. B. in psychoanalytischen Internetpraxen), erwähnt (Bauer/Kordy 2008; Rossmann 2010, 341; Hubert 2013), in der medizinische Laien direkt an einer Laien-Experten-Konstellation beteiligt sind, die jedoch gleichfalls linguis­tisch bislang wenig erforscht ist.

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3 Forenkommunikation Gesundheit Forenkommunikation nimmt im Laiendiskurs Gesundheit im Internet eine zentrale Rolle ein (Potts 2005, 6; Rossmann 2010, 340 f.; Prestin/Chou 2014, 189) und ist eine seiner am längsten etablierten, im Hinblick auf ihre Autonomie und Einbettungsmöglichkeiten in andere Anwendungen flexibelsten Formen. Potts (2005, 6) berichtet, dass im Jahr 2001 84 % der Internetnutzer(innen) in den USA Kontakt zu Foren hatten, deren Bedeutung nach einem leichten Rückgang mit der nutzerfreundlicheren und stärker interaktiv ausgerichteten Gestaltung hy­brider web­basierter Anwendungen wieder zugenommen hat. Aufgrund ihres „auf­einan­derbezogene[n] Handelns zwischen Nutzern“ gelten Foren heute, obwohl sie bereits vor der Entstehung des Web 2.0 existierten, als Bestandteil des sozialen Netzes (Fraas/Meier/Pentzold 2012, 15; Schmidt 2011, 24). Forenkommunikation gilt in der Forschung auch als eine Form der „öffentlich beobachtbare[n] Gruppenkommunikation“ (Beck 2006, 106) oder n:n-Kommuni­ kation (Gruber 2013, 56 f.), in der der Inhalt der Diskussion vielen Nutzer(inne)n gleichzeitig zur Verfügung gestellt und dadurch Themenöffentlichkeit hergestellt wird (Fraas/Meier/Pentzold 2012, 23). Internetforen zu Gesundheitsthemen exis­tieren im Netz entweder als eigenständige Anwendungen (z. B. Krebs-Kompass) oder sind fester Bestandteil der in Abschnitt 2 beschriebenen Gesundheitsportale, Web­logs, der E-Therapie sowie weiterer Hybridformen. Im Hinblick auf ihre Funktion lassen sich drei zentrale Typen medizinischer Forenkommunikation unterscheiden, in denen sich die von Rossmann 2010 (vgl. Abschn. 1) in Bezug auf die Teilnahmerollen genannten funktionalen Kategorien netzbasierter Gesundheitskommunikation, Information, Interaktion und Therapie, häufig und systematisch überlagern: Medizinische Ratgeberforen, Online-Selbst­hilfegruppen (Online-Supportgroups) und medizinische Gesprächsforen. Aller­dings wird in den Netzanwendungen selbst (Potts 2005, 6) und in der Literatur häufig terminologisch nicht konsequent zwischen im Internet explizit als Selbst­hilfegruppen ausgewiesenen Kommunikationsformen und komplett öffentlicher und frei zugänglicher medizinischer Forenkommunikation unterschieden (z. B. Winzelberg 1997; Csipke/Horne 2007; Eichhorn 2008, 67; Fraas/Meier/Pentzold 2012, 23). Herring (2008, 920) subsumiert medizinische Laienkommunikation inklusive medizinischer Ratgeberforen als health-related support groups. Weitgehend durchgesetzt hat sich die gesonderte Beschreibung ausgewiesener medizinischer Ratgeberforen (MRFen). Diese sind heute meist Teil komplexerer Anwendungen (Gesundheitsportale, Weblogs oder institutionelle Homepages). Daneben existieren relativ eigenständige Formen (z. B. das vom Bundesministe­rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geführte Forum WegweiserDe­menz, das jedoch selbst auf einer untergeordneten Hierarchieebene ein Weblog enthält  – vgl. Abschn. 2). MRFen erfreuen sich großer Beliebtheit. Locher (2006, 11) beobachtete für das unter dem Pseudonym Lucy Answers beschriebene Forum wöchentlich fast 2000

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Anfragen. In ihrem Frage-Antwort-Format im n:1:n-Parti­zipationsmuster weisen sie, vergleichbar mit institutionalisierten Arzt-Patienten-Gesprächen, dem Wissensstand entsprechende hierarchische Strukturen und fest­ gelegte Partizipationsrollen auf (ratsuchende Laien und raterteilende Experten). Die Interaktionsrolle des/der Raterteilenden wird durch geschulte Mediziner(in­nen) eingenommen, die entweder im Impressum persönlich mit ihren Qualifika­tionen, teilweise auch im Bild, vorgestellt werden (z. B. WegweiserDemenz, Net­Doktor) oder sie agieren einzeln oder als Gruppe von Medizinern unter einem Pseudonym, wobei Expertenantworten dem Peer-Review des beteiligten Exper­tenteams unterliegen können (vgl. z. B. Locher 2006, 10). Die als Fragende in Erscheinung tretenden medizinischen Laien können den Grad ihrer Anonymität im Rahmen der technischen Möglichkeiten des jeweiligen Forums selbst bestim­men (teilweise empfehlen Forenbetreiber zum Schutz der Privatsphäre Fragender die Verwendung eines Pseudonyms und die vertrauliche Behandlung aller persön­lichen Daten). MRFen sind komplett öffentlich zugänglich, jedoch müssen sich Ratsuchende, um selbst Fragen stellen zu können, im Forum anmelden. Fragen und Antworten in den verschiedenen Rubriken können passiv mitgelesen werden, ohne selbst aktiv zu werden (teilweise erhalten Frage-und-Antwort-Adjazenz­paare mehrere hundert Aufrufe interessierter Mitleser (Lurker)). Locher (2013, 344) charakterisiert MRFen als konventionalisierten Texttyp, in dem Problem­briefe mit Antwortbriefen kombiniert werden. Im funktionalen Dreierensemble Information, Interaktion und Therapie liegt der Schwerpunkt für Nutzer(innen) eindeutig auf der Informationsfunktion, wobei Nutzer(innen) durch die eigeninitiativ gestellte Frage im Rahmen der institutiona­ lisierten Form der Benutzeroberfläche auch interaktiv, allerdings unabhängig von diskursiv virtuell entstehenden Gruppenzusammenhängen, tätig werden. Ziel von MRFen ist es, Ratsuchende (auch Angehörige Erkrankter) in ihrer Entscheidungs­ findung in Gesundheitsfragen zu unterstützen (z. B. Locher 2013, 345). Sie ver­stehen sich normalerweise dezidiert nicht als Notfall- oder Sofortservice für akute Gesundheitsfragen (vgl. z. B. Locher 2006, 11), weshalb der therapeuti­sche Aspekt keine direkte Rolle spielt (vgl. entsprechende „Disclaimer“-Mitteilun­gen der Forenbetreiber). MRFen können auf bestimmte Themen (z. B. Wegweiser­Demenz) ausgerichtet sein oder selbst verschiedene thematische Rubriken auf­weisen. Die bislang komplexeste linguistische Untersuchung eines MRFs, die auch die systematische Beschreibung interaktiver Praktiken und das Zusammen­spiel von Informations- und Beziehungsarbeit der Ratgebenden und Ratsuchen­den berücksichtigt, findet sich für ein englischsprachiges MRF in Locher (2006, vgl. auch Locher 2013). Während in MRFen medizinische Laien mit Experten kommunizieren, sind Online-Selbsthilfegruppen und medizinische Gesprächsforen Formen der Peer-toPeer-Interaktion (Harvey/Koteyko 2013, 165 ff.). Rossmann rechnet sie der Com­munityFunktion zu, die alle sozialen Netzwerke umfasst, „die zum Aus­tausch von Gesundheitsinformationen durch elektronische Medien gebildet oder betrie­ben werden und einen Dialog zwischen Patienten (sic!  – SK) ermöglichen“ (2010, 340–342). Beide

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Formen der Peer-to-Peer-Interaktion zeigen Unter­schiede in ihren interaktiven kommunikativen Praktiken, die jedoch linguistisch noch nicht umfassend vergleichend untersucht worden sind. Online-Selbsthilfegruppen (OSHGen) gehören zu den außerordentlich häufi­gen Anwendungen im Online-Gesundheitsdiskurs und bestehen nach Potts (2005, 6), der allein für die Internetplattform Yahoo-Groups mindestens 25 000 OSHGen beobachtet (davon ca. 7000 aktiv), wahrscheinlich bereits seit Ende der 1970er Jahre. OSHGen gehören zu den Hybridmedien und werden häufig auf speziellen Internetplattformen zusammengeführt (z. B. selbsthilfeinter@ktiv). Zu den großen allgemeinen Internetplattformen, die OSHGen beherbergen, gehören z. B. Yahoo Groups, DelphiForums und auch Google Groups. OSHGen können im Internet entweder als eigenständige Foren, die andere Anwendungen wie z. B. Weblogs oder medizinische Ratgeberforen integrieren, erscheinen (z. B. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz) oder selbst Teil komplexerer Weblogs oder Medizinportale sein (z. B. emed-ms.de). Im Unterschied zu medi­zinischen Ratgeberforen und allgemeinen medizinischen Gesprächsforen sind OSHGen immer auf ein bestimmtes gesundheitsrelevantes Thema, in der Regel eine bestimmte Krankheit oder gesundheitlich relevante Symptomatik wie z. B. Krebs, Diabetes, Aids, Suchtkrankheiten (vgl. Potts 2005, 6; Harvey/ Koteyko 2013, 166), spezialisiert und richten sich primär an direkt und indirekt Betrof­ fene. OSHGen können, wie ein Weblog, durch einen individuellen Betreiber gegründet und unterhalten werden, teilweise sind sie auch als Hybridmedium in komplexe Webseiten nicht-virtueller Selbsthilfegruppen integriert und begleiten diese medial (z. B. das von Darcy/Dooley (2007) beschriebene Bodywhys Connect Ireland). Im Unterschied zu allgemeinen medizinischen Gesprächs- und Ratge­berforen befinden sie sich somit direkt an der Schnittstelle von nicht-virtuellem und virtuellem Gesundheitsdiskurs und -betrieb. Für die aktive Teil­nahme müssen sich Nutzer(innen) in der Regel mit ihren persönlichen Daten an­melden und die Nutzungsbedingungen des Forums akzeptieren. Das Anmeldever­fahren kann gleichzeitig als Monitor fungieren und z. B. zu junge Interessent(in­n)en an eine Helpline oder andere Ressourcen weiterleiten (Darcy/Dooley 2007, 187). Im Unterschied zu allgemeinen medizinischen Gesprächsforen kann der Zugang zur Forenrubrik in OSHGen durch die Betreiber der Foren auf der Benutzeroberfläche technisch beschränkt werden, so dass das passive Mitle­sen des Inhalts für Nicht-Mitglieder nicht möglich ist. Dadurch erwei­sen sich Foren im Rahmen von OSHGen als wesentlich stärker geschützter Raum für Betroffene, als dies in allgemeinen medizinischen Gesprächsforen der Fall ist. Das Zusammenspiel von Information, Interaktion und Therapie hat in OSHGen im Vergleich zu Ratgeber- und allgemeinen medizinischen Gesprächsforen eine ei­gene Dynamik. Alle drei zentralen Funktionen von Forenkommunikation liegen trotz teilweise ausdrücklicher Disclaimervermerke dicht und explizit beieinander. OSHGen sind  – wie der Titel bereits suggeriert – stark auf die Bildung virtueller Gruppen und die Interaktion der Nutzer(innen) ausgerichtet. Eysenbach (2003, 362) und Welbourne/Blanchard/ Wadsworth (2013, 129) bezeichnen sie als spe­zifische Form virtueller Gemeinschaf-

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ten, mit deren Hilfe soziale Netzwerke per­sönlicher Beziehungen im virtuellen Raum geknüpft werden. OSHGen befas­sen sich oft nicht allein mit Gesundheitsfragen im engeren Sinne, sondern behan­deln auch angrenzende soziale Aspekte (z. B. Elternschaft, Trauer) und können sich an spezifische Nutzergruppen richten (z. B. lesbische Frauen mit Brustkrebs  – vgl. Potts (2005, 6)). Im Unterschied zu den beiden anderen medizinischen Fo­renty­pen ist jedoch der therapeutische Aspekt und ihr Potenzial für (emotionales) Em­powerment stärker ausgeprägt und wird bei allen in der Literatur breit disku­tierten Risiken virtueller und nicht-virtueller medizinischer Laienkommunikation (z. B. zu langes Verweilen im Laiensystem und Unterlassen von Vorsorgemaßnah­men – vgl. Busch 1994; Potts 2005; Darcy/Dooley 2007; Eysenbach u. a. 2004) sowohl in linguistischen als auch in medizinsoziologischen Arbeiten hervorge­hoben (Win­zelberg 1997, 393; van Uden-Kraan u. a. 2009; Harvey/Koteyko 2013, 166; Coulson/Shaw 2013, 1697; Wolff/Theis/Kordy 2013, 213; Prestin/Chou 2014, 189). OSHGen befinden sich damit teilweise an der Schnittstelle zu modernen Formen der E-Therapie, wenngleich ihr therapeutischer Effekt schwer quantitativstatistisch nachweisbar ist (Eysenbach u. a. 2004). Dies manifestiert sich in den spezifischen Rahmenbedingungen ka­nonischer OSHGen häufig durch die Beglei­tung der Forendiskussion durch medi­zinisch geschulte oder alltagser­fahrene (Coul­son/Shaw 2013) Moderatoren. Zum Teil sind OSHGen vergleich­bar mit dem Weblog-OnlineTagebuchformat, in dem Fort- und Rückschritte Betrof­fener in der Bewältigung ihrer Krankheits­probleme im Alltag für die Grup­pe öffentlich mitgeteilt werden. Anders als in Ratgeberforen, aber analog zu all­ge­meinen medizinischen Gesprächsforen, han­delt es sich in OSHGen um Peer-to-Peer-Interaktion, in der der Expertenstatus der Nutzer(innen) nicht allein durch die institutionell vorgegebenen Partizipations­ rollen geregelt wird (z. B. Nutzer(in­nen)/Moderator(inn)en). Nutzer(innen) können selbst durch das eigene gesund­heits- oder krankheitsbezogene Erfahrungswissen als Expert Patients Experten­sta­tus erlangen (Armstrong/Koteyko/Powell 2011, 349) oder diesen sprachlich konstruieren (Harvey/Koteyko 2013, 171 f.). Im Zentrum der linguistischen und medizinsoziologischen Forschung standen bislang z. B. Mechanismen der Kon­struk­tion von Gruppenidentität und der Legitimation der Gruppenmitgliedschaft (z. B. Eichhorn 2008; Stommel 2009; Stommel/Koole 2010; Armstrong/Kotey­ ko/Powell 2011; Harvey/Koteyko 2013, 169 ff.), psychologisch relevante Korre­lationen zwischen lexikalischen Ausdrucksmitteln und Blogthemen (Wolf/Theis/Kordy 2013 für Pro-Eating- und Recovery Blogs), Korrelationen zwischen der Motivation zur Teilnahme an OSHGen, dem gezeigten Online-Verhalten und psy­chosozialen Effekten (Welbourne/ Blanchard/Wadsworth 2013), die Nutzung von OSHGen als aktive Copingstrategien sowie Korrelatio­nen zwischen der Nutzung von OSHGen, eigenem emotionalem Wohlbefinden und subjektiv erlebter emotio­naler Unterstützung (z. B. Kim u. a. (2013) für Brust­krebspatientinnen). Erst seit kurzem werden im Detail interaktive kommunikative Praktiken auf der Mikroe­bene untersucht, die sich bereits in der nicht-virtuellen Interaktion als rele­vant erwiesen haben und sich direkt mit dem Eintreten des vielfach beobachteten Em­powerment-Effekts der Nutzung von Online-Anwen­dungen durch

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Betroffene in Zusammenhang bringen lassen (z. B. Online-Krank­heitserzählungen und Tech­niken des sozialen Empowerment im Rahmen linguistischer Höflichkeitsmodelle – für einen kurzen Forschungsüberblick vgl. Harvey/Koteyko 2013, 172 ff.). Öffentliche Medizinische Online-Gesprächsforen (ÖMOGFen) sind eine weitere Form stark frequentierter Hybridmedien, die bislang jedoch im Unterschied zu Ratgeberforen und OSHGen linguistisch wenig erforscht sind, weshalb hier exem­plarisch einige Beobachtungen zu ihren interaktiven kommunikativen Prak­tiken einfließen sollen. ÖMOGFen können als relativ eigenständige Anwendun­gen in öffentlicher Trägerschaft existieren (z. B. das durch die Volker-Karl-Oehl­rich-Gesellschaft e. V. getragene Forum Krebs-Kompass mit 49440 verschiede­nen Themen in 1028714 Beiträgen von 46193 Nutzer(inne)n im Juli 2012, von denen zum Zeitpunkt des Zugriffs gleichzeitig 3705 im Forum aktiv waren). Häufig finden sie sich jedoch auch als eigenständige Rubrik in komplexeren Ge­sundheitsportalen, medizinischen Weblogs oder als Teil der E-Therapie (vgl. Abschn. 2). In großen öffentlichen Medizinportalen werden heute im Streben nach Transparenz und Seriosität der Information der Aspekt der medizinisch-fachlichen Ratgeberfunktion und der Aspekt des Austauschs von medizinisch rele­vanten Alltagserfahrungen in der Regel sichtbar in verschiedenen Rubriken voneinander getrennt. Im Forum (oder der Community) werden die Themen der Diskussionsstränge durch die Forenbetreiber vorgegeben (oder können selbst von Nutzer(inne)n eingerichtet werden – z. B. in NetDoktor). Der Zugang zur passi­ven Teilnahme am Forum ist nicht beschränkt. Für diejenigen, die selbst Beiträge schreiben wollen, gilt in der Regel eine allgemeine Registrierungspflicht. Anders als in OnlineSelbsthilfegruppen funktioniert diese aber nicht als Monitor und die Mitgliedschaft in der Online-Community ist nicht an ein bestimmtes Diagnosebe­kenntnis oder andere Legitimationsrituale gebunden. Anders als in medizinischen Ratgeberforen entfällt die auch dem institutionalisierten Arzt-Patienten-Gespräch innewohnende spezifische Verteilung der Partizipationsrollen. Informationsfragen werden an die breite Gemeinschaft der Nutzer(innen) gerichtet und zielen explizit auf deren persönliches Erfahrungswissen ab („Hat da jemand Erfahrung damit und kann mir da dringend weiterhelfen?“). Nutzer(innen) können fast gleichzeitig die gesamte Bandbreite möglicher Interaktionsrollen (Laie, (Erfahrungs-)Experte und medizinisch sachkundiger Experte) außerhalb des normalen institutionalisier­ten Handlungsrahmens einnehmen. Sie können als lediglich Beobachtende voll­ständig passiv bleiben oder aber aktiv am Gespräch teilnehmen, ohne damit direkt in den therapeutischen Bereich einzugreifen. Im funktionalen Dreischritt von In­formation, Interaktion und Therapie überwiegen klar die Faktoren Information und Interaktion, die eine gleichberechtigte Rolle einnehmen. In medizinischen Gesprächsforen verschwimmen jedoch die handlungsbezogenen funktionalen Grenzen der Interaktion. Ratschlags- und Beziehungselemente (letztere im Beispiel kur­siv markiert) werden von den Nutzer(inne)n gleichermaßen eingefordert und erteilt und zum Teil im laufenden Diskurs metapragmatisch positiv bewertet:

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Hallo, ich kann verstehen, dass du Angst hast, […] An welchem Krebs ist dein Vater denn gestorben? …Natürlich sollte der Lymphknoten abgeklärt werden, ein MRT ist dafür genau netdoktor.de/Krebs/Angst-vor-Lymphdruesendie richtige Untersuchung. […] (http://board.­ krebs-179093.html Zugriff 03.06. 2012).

Sowohl die Beziehungsarbeit als auch die Informationsarbeit wird in Ge­sprächsforen durch die Nutzer(innen) selbst geleistet, die ihre Normen interaktiv und metapragmatisch im laufenden Diskurs aushandeln („Hört sich gut an“, „Danke für die lieben Antworten“). Dies lässt darauf schließen, dass sich eine spezifische Erwartungshaltung im Hinblick auf die angemessene Mischung von Ratschlag und Beziehungsarbeit herausgebildet hat, die die Beteiligten gemein­sam als interaktive Praxis umsetzen. Die konstitutiven interaktiven Praktiken in öffentlichen medizinischen Gesprächsforen sind bislang im Einzelnen linguistisch wenig erforscht. Morrow (2006) unterscheidet Problem, Ratschlags- und Bedan­kungsbeiträge und korre­liert diese mit der gesprächsanalytischen Struktur der Ein­­ zelbeiträge, sprachlichen Emotionstokenstrukturen sowie sprachlichen Mitteln zum Ausdruck des Ratsu­chens und -erteilens. Erste eigene Untersuchungen zei­gen jedoch, dass eine sol­che Typologie nicht immer greift. Deutlich wird, dass sich der Laiendiskurs in ÖMOGFen von den in der Forschung dokumentierten Praktiken in direkter Inter­aktion im institutionalisierten Arzt-Patienten-Gespräch (z. B. „Unsicherheit im Ausdruck wie beim Sprechen überhaupt, das Ringen um das ‚treffende‘ Wort“ (Busch 1994, 46)) unterscheidet. Bedingt durch die techni­schen Rahmenbedin­gungen der Forenkommunikation (z. B. uneingeschränktes Rederecht ohne Unter­brechungen, fehlender Zeitdruck und Möglichkeit der re­daktionellen Überarbei­tung durch die Schriftlichkeit des Mediums, fehlende hie­rarchisch bedingte Be­fangenheit bei der Erstellung eines Beitrages, fehlender Erwartungsdruck) sind die zusammenhängenden Einzelbeiträge oft relativ lang (im oben zitierten Ge­sprächsstrang Angst vor Lymphdrüsenkrebs z. B. durch­schnittlich 160 Wörter) und sehr kohärent sowie auf die eigene Gesundheit bezo­gen häufig sehr reflektiert. Charakteristisch ist auch die diskursive Rahmung von Arztbesuchen (vgl. auch Rossmann (2010, 339) zur Anschlusskommunikation) und die kollektive Mei­nungsbildung, in der wie in der nicht-virtuellen Alltags­kommunikation ärztliche Meinungen mit zum Teil auf persönliche Erfahrungen gestützten Argumenten angezweifelt werden (Nowak 2010). Als Ratsuchende und als Raterteilende setzen Nutzer(innen) selbstbe­wusst verschiedene Strate­gien der Konstruktion von Expertenstatus ein (z. B. die besonders kohärente sprachliche Gestaltung eigener Erfahrungen und Ratschläge, die Verwendung medizinischer Termini, persönliche Erfahrungen als Evidenz­marker). Zusätzlich ist die virtuelle Erfahrung oft in der Statuszeile ersichtlich. Öffentliche medizinische Gesprächsforen bieten Nutzer(inne)n im Rahmen der Forenkommunikation einen wohlstrukturierten Rahmen für die sprachliche Ausei­ nandersetzung mit Gesundheitsproblemen. Jedoch sind der potenzielle the­rapeutische Effekt medizinischer Gesprächsforen, ihr Beitrag zur Krankheitsbe­wältigung und

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Therapietreue ebenso wie ihre spezielle Rolle für das Empower­ment Betroffener und dessen sprachliche Konstruktion trotz der in der medizin­soziologischen, kommunikationswissenschaftlichen und linguistischen Forschung seit langem erkannten Bedeutung von Sprache in diesen Prozessen (Nowak 2010, 25) noch nicht im Ein­ zelnen erforscht.

4 Fazit Mit öffentlichen Gesundheitsforen sind im Internet Kommunikationsräume entstanden, die es ihren Nutzer(inne)n gestatten, medizinische Alltagserfahrungen und Fragen mit und vor einer breiten Öffentlichkeit jenseits des institutionalisier­ten Gesundheitsdiskurses zu verhandeln. Dabei haben sich offensichtlich online kollektiv interaktive Praktiken entwickelt, die es den Beteiligten ermöglichen, den alltagsweltlichen Diskurs Gesundheit in qualitativ und quantitativ neuer Form zu führen. Im Zuge der nutzerorientierten Entwicklung des Web 2.0 steht ihnen hier­für eine große Bandbreite an Internetanwendungen zur Verfügung, die sie ihren persönlichen Bedürfnissen entsprechend alternativ oder auch parallel einsetzen. Kennzeichnend für alle drei Formen der in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen­den Forenkommunikation ist die Möglichkeit für Betroffene, das Potenzial von Sprache für Heilung und Gesundheit durch die Einbettung in neue alltagsweltli­che Diskursstrukturen zunehmend besser auszuschöpfen. Es zeichnet sich im Rahmen der drei von Rossmann (2010) beobachteten Schlüsselfunktionen Infor­mation, Interaktion und Therapie neben deutlichen Überlagerungen im Bereich Information in allen drei Forentypen eine respektive Ausfächerung von Interak­tion und Therapie auf allgemeine medizinische Gesprächsforen und Online-Selbsthilfe­gruppen ab. Alle drei Forenformate bieten Nutzer(inne)n die Möglich­keit, in wohlstrukturierten alltagsweltlichen Diskursräumen ihr persönliches Er­fahrungs­wissen einzusetzen, um sich umfassend zu informieren, Peer-to-Peer-Kontakte zu entwickeln und das therapeutische Potenzial von Online-Selbsthilfe­gruppen opti­mal auszunutzen. Wie dies im Einzelnen geschieht, ist linguistisch im Zusammenspiel qualitativer und quantitativer Methoden bislang eher punktuell (z. B. Nervala u. a. 2007) und noch nicht ausreichend erforscht. Es ist jedoch abzusehen, dass die virtuellen Erfahrungen medizinischer Laien, die das Bild des informierten Patienten schon heute ent­scheidend prägen, auch den institutionalisierten Gesundheitsdiskurs der Zukunft verändern werden.

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Internetforen: Laiendiskurs Gesundheit 

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Katja Guder

23. Arzneimittelanzeigen als Beispiel für Textsorten unter Berücksichtigung ihres Wissensaspekts Abstract: Textsortenwissen gehört zum intuitiven Alltagswissen von Kommunizierenden und dient der schnellen Orientierung innerhalb einer Menge verschiedener Texte. Ausgehend von den Analysekriterien nach Brinker wird der Begriff der „Textsorte“ mit Hilfe textexterner und textinterner Analysekriterien am Beispiel von Arzneimittelanzeigen erläutert. Abschließend wird eine Verbindung des Textsortenbegriffs mit der Wissensbildung anhand von Arzneimittelanzeigen aufgezeigt und somit verdeutlicht, wie Textsorten allgemein und die Textsorte „Arzneimittelanzeige“ insbesondere zur Wissensbildung beitragen. 1 Einleitung 2 Textsorte als Begriff 3 Zum Wissensaspekt von Textsorten 4 Fazit 5 Literatur

1 Einleitung Sprecher einer Gemeinschaft erwerben im Lauf ihrer Ontogenese die Fähigkeit, Texte – spontan – zu klassifizieren, selbst zu generieren und in bestimmte Gruppen einzuordnen. Diese Einordnung wird in der textlinguistischen Untersuchung „Text­ sortenklassifikation“ genannt. Textsortenwissen dient dazu, Texte nach charakteristischen Merkmalen in verschiedene Bereiche sowie in Gruppen zu strukturieren. (Vgl. Heinemann/Viehweger 1991, 129 f.) Durch den Sprachgebrauch wird gleichzeitig eine kulturelle Prägung mit produziert. (Vgl. Fix 2011, 83) Das damit verbundene kulturelle Wissen findet Eingang auch in Werbe- und Arzneimittelanzeigen. Diese wiederum transportieren ihrerseits Wissen über Texte, Textsorten, Alltag und Kultur. Wie dies im Einzelnen funktioniert, wird im Folgenden am Beispiel der Arzneimittelanzeige erläutert.

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 Katja Guder

2 Textsorte als Begriff Eine in der Textlinguistik oft verwendete Definition von Textsorte ist die von Brinker, welche auch dieser Darstellung zu Grunde liegt: Textsorten sind konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ‑funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben. (Brinker 2010, 144)

Werbeanzeigen allgemein und somit auch Arzneimittelanzeigen können in einer solchen Textsortenklassifikation untersucht werden, da sie derartige mehr oder weniger typische Merkmalsbereiche aufweisen. Anzeigen bringen so wieder neues Wissen über Texte und Textsorten hervor.

2.1 „Arzneimittelanzeige“ als Textsorte in Funktion Arzneimittel stellen nach Geßner ein „Verbrauchsgut besonderer Art“ (1975, 836) dar. Der gesetzlichen Definition folgend sind Arzneimittel Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, 1. die zur Anwendung im oder am menschlichen oder tierischen Körper bestimmt sind [2. angewendet oder verabreicht werden] und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind (§ 2 AMG).

Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf den humanmedizinischen Bereich. Die Begriffsdefinition dient zur Abgrenzung gegenüber Lebens-, Futtermitteln und Kosmetika. Mitunter kann sich die Differenzierung gerade gegenüber diätischen Nahrungsergänzungsmitteln als schwierig erweisen (Vgl. Geßner 1975, 836 f.). Überdies unterscheidet das Arzneimittelgesetz (AMG) nach freiverkäuflichen oder verschreibungspflichtigen Präparaten. Letztere unterliegen deutlichen Einschränkungen im Vertrieb und in der Abgabe (vgl. §§ 43–53 AMG). Mittels einer hierarchischen Klassifikation unterscheiden Gansel/Jürgens (vgl. 2009, 72) Textfamilie, Textsorte und Textsortenvariante. In dieser Kategorisierung wird die Anzeige selbst in der Kategorie der Familie angesiedelt, die wiederum hierarchisch die Textsorte Arzneimittelanzeige als Gattung unterordnet. Gattungen können letztlich in Arten unterschieden werden, was im Fall der Textlinguistik in Textsortenvarianten mündet. In Anlehnung an Gansel/Jürgens ergibt sich für Arzneimittelanzeigen somit folgende Aufteilung:

Arzneimittelanzeigen als Beispiel für Textsorten  

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Familie: Textfamilie → Anzeigentexte Gattung: Textsorte → Arzneimittelanzeige Art: Textsortenvariante → Fachanzeige; Publikumsanzeige

Erfüllen Arzneimittelanzeigen generell die Funktion der Bewerbung des speziellen Produkts Arzneimittel, so sind ihre Textsortenvarianten Fach- und Publikumsanzeige durch eine besondere Trennung hinsichtlich der Rezipientengruppe zu unterscheiden. Dies soll im Folgenden genauer verdeutlicht werden.

2.2 „Publikums-“ und „Fachanzeige“ als Textsortenvarianten für Arzneimittelwerbung Da Textsortenvarianten hierarchisch auf den Begriff der Textsorte folgen, können sie als „klassifizierbare Unterarten von Textsorten“ (Gansel/Jürgens 2009, 92) verstanden werden. Im Fall der Textsorte Arzneimittelanzeige unterscheiden sich die Textsortenvarianten in erster Linie durch unterschiedliche Adressaten. Fachanzeigen werden in Fachzeitschriften abgedruckt und sind primär an den Mediziner gerichtet. Nur sekundär sprechen sie den Adressaten „Patient“ an, da der Arzt Arzneimittel letztlich nicht für sich selbst, sondern für die Verwendung am Patienten verschreibt. In Fachanzeigen finden sich sowohl freiverkäufliche als auch verschreibungspflichtige Medikamente. Publikumsanzeigen hingegen werden in Publikumszeitschriften abgedruckt und richten sich mit der Bewerbung von ausschließlich freiverkäuflichen Arzneimitteln direkt an den Adressaten „Patient“. Aufgrund dessen kann in den Publikumsanzeigen eine vereinfachte Sprachwahl vermutet werden, was anschließend in der Analyse geprüft wird. Die Textsortenvarianten Fach- und Publikumsanzeige sollen, neben der Realisierung von Werbemerkmalen, die unterschiedliche Funktion des Arztes als Mittelsmann zwischen Produkt und Konsument und des Patienten als direktem Konsumenten berücksichtigen. In Fachanzeigen findet aufgrund dessen nur eine indirekte Kaufaufforderung (durch den Hinweis der Verschreibung) statt, wohingegen der Patient in Publikumsanzeigen direkt angesprochen wird. Zugleich wird mittels der Textsortenvarianten versucht, auf die unterschiedlichen Erfordernisse des Informationsbedarfs und somit der medizinischen Wissensvermittlung innerhalb der Arzneimittelanzeige einzugehen. Eine vertiefende Untersuchung von Arzneimittelanzeigen mit Hilfe von Systemtheorie, Textsortenanalyse und eine exakte Fachsprachenbetrachtung in Fach- und Publikumsanzeige soll in Guder (i. V.) erscheinen.

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 Katja Guder

3 Zum Wissensaspekt von Textsorten Im Alltagsverständnis dient Textsortenwissen unbewusst zur Kategorisierung von Texten. Eine Textsortenanalyse dient dazu, intuitiv vorhandenes Wissen, mit dessen Hilfe wir beispielsweise eine Nachrichtensendung vom Wetterbericht unterscheiden, „zu explizieren […] und regelhafte Beziehungen zwischen einzelnen Textsorten zu erfassen“ (Neumann 2011, 105). Zudem kann die Analyse helfen, Wissen über Text­ sorten selbst zu reproduzieren. Trotz verschiedener Ansätze herrscht Einigkeit dahingehend, dass textexterne und interne Faktoren gleichermaßen berücksichtigt werden müssen, demzufolge ein integrativer Ansatz sinnvoll ist. Die nachfolgende Beispielanalyse wird auf der methodischen Grundlage des Ansatzes von Brinker (2010) durchgeführt. Verschiedene Autoren, wie beispielweise Heinemann/Viehweger (1991), Heinemann/Heinemann (2002), Gansel/Jürgens (2009), Christoph (2009) oder Gansel (2011) und Neumann (2011), greifen seine Überlegungen für ihre Betrachtung von Textsortenuntersuchungen auf.

3.1 Wissensbildung durch Textsorten Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Textsortenvarianten aufzuzeigen, erfolgt nachstehend eine beispielhafte Textsortenanalyse anhand zweier prototypischer Vertreter von Fach- und Publikumsanzeigen für Arzneimittel. Textsorten der Alltagssprache, so auch Arzneimittelanzeigen, werden nach Brinker (vgl. 2010, 143) vor allem durch funktionale, thematische und situative Merkmale definiert. Erweitert wird diese Annahme in Hinblick auf Besonderheiten von Werbeanzeigen durch Bezug auf semiotische Ressourcen. Arzneimittelanzeigen knüpfen zudem direkt an das Wissen von Rezipienten über Werbeanzeigen an und erweitern dieses in Bezug auf den medizinischen Bereich. Die für diese Analyse nachfolgend gewählten Beispielanzeigen stammen einerseits aus der Fachzeitschrift „Deutsches Ärzteblatt“ (DÄ) – „Salofalk Granu Stix 3g“ von Dr. Falk Pharma GmbH (Deutsches Ärzteblatt 03/2012, Heft 9, Jg. 109, A411) und andererseits der Publikumszeitschrift „ApothekenUmschau“ (AU) – „Iberogast“ von Steigerwald Prophyto (ApothekenUmschau 03/2012, 29), die auflagenstarke und weit verbreitete Vertreter von thematisch an der Medizin orientierten Zeitschriften für Mediziner bzw. interessierte Laien darstellen.

3.1.1 Funktionalität Brinker (vgl. 2010, 143 ff.) geht mit seinen Analysekriterien den Fragen nach Funktion (Wozu?), Situation (In welchem Kontext?) und Struktur (Wie?) nach.

Arzneimittelanzeigen als Beispiel für Textsorten  

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Der Begriff der Funktionalität meint, dass ein  Text immer „eine Funktion im Ganzen einer Kommunikationssituation“ (Gansel 2011, 63) erfüllt und durch die drei Bereiche Textfunktion, Bereichsfunktion und Bewirkungsfunktion gekennzeichnet wird. Die Textfunktion dient (vgl. Brinker 2010, 145) als Basiskriterium der Textsortenanalyse und unterscheidet textuelle Grundfunktionen in fünf Textklassen: Informations-, Appell-, Obligations-, Kontakt- und Deklarationstexte. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei beiden Anzeigen um Appelltexte, da beide die Intention verfolgen, ein Produkt vorzustellen und den Patienten zum Kauf bzw. den Arzt zur Verschreibung (= indirekter Verkauf) anzuregen. Die Bereichsfunktion nimmt auf die Systemtheorie Bezug, da sie nur in Hinsicht auf ihre Leistung für andere Systeme betrachtet werden kann. Dies soll aufgrund des Umfangs an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden (vertiefend nachzulesen z. B. bei Gansel 2011 sowie Gansel/Jürgens 2009, 81 ff.). Für Arzneimittelanzeigen ist der Verkauf des beworbenen Produkts die vordergründig intendierte Wirkung. Es lässt sich hintergründig die Information als weitere Funktionskomponente ermitteln, da die Anzeigen über Merkmale des Produkts, wie Inhaltsstoffe, Anwendungsgebiete, usw. informieren. Die Bewirkungsfunktion ergibt sich, wie die Textfunktion, bei sprechakt- bzw. sprechhandlungsorientierter Betrachtung und kann mit der sprechakttheoretischen Perlokution gleichgesetzt werden. Perlokution meint den Zweck, bzw. die intendierte Reaktion des Hörers (vgl. Gansel 2011, 64). Die Arzneimittelanzeige ist so für den Rezipienten zugleich vermittelndes Element medizinischer Informationen und von Wissen über Werbeanzeigen allgemein.

3.1.2 Kontextuelle Kriterien Mit der Textfunktion einher geht die Untersuchung von kontextuellen (situativen) Merkmalen, denn „Texte sind […] immer in abgrenzbare Kommunikationssituationen eingebettet“ (Brinker 2010, 146). Brinker unterscheidet für die Situativität die Analysekategorien der Kommunikationsform und des Handlungsbereichs (Kommunikationsbereichs). Textsorten werden von Kommunikationsteilnehmern immer in bestimmten Situationen vorgefunden und diese stellen nach Gansel/Jürgens (vgl. 2009, 54) mitunter den Sinn und die Bedeutung des Textes her. Arzneimittelanzeigen als schriftbasierte, in Zeitschriften abgedruckte Texte werden durch das Medium Schrift geprägt. Diese Kommunikationsform beeinflusst die Kommunikationssituation (vgl. Brinker 2010, 174 f.). Sie ist in ihrer Kommunikationsrichtung monologisch, und die Kommunikationspartner sind zeitlich sowie räumlich getrennt. Handlungsbereiche können verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen zugeordnet, aber auch anhand der Art des Rollenverhältnisses zwischen den Kommunika-

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tionsteilnehmern differenziert werden. Für Arzneimittelanzeigen lässt sich, in Anlehnung an Brinker (vgl. 2010, 149), der öffentliche Handlungsbereich festmachen, da beide Anzeigen in Zeitschriften, also einem Teil der Massenmedien, publiziert werden. Demzufolge werden kollektiv und bei dispersen Publika Wissensstrukturen über den Einsatz von Massenmedien erzeugt. Allerdings muss für die Fachanzeigen berücksichtigt werden, dass hier der Teilbereich der Medizin deutlich stärkeren Einfluss als in der Publikumsanzeige ausübt. Deshalb ergibt sich eine Mischung aus öffentlichem und offiziellem Bereich, der für die Publikumsanzeige so nicht ermittelt werden kann. Im offiziellen Bereich begegnen sich die Kommunizierenden in offizieller Funktion, z. B. als Arzt oder Firmenchef, also als Amtspersonen und Akteure in Institutionen. Die Fachanzeige fungiert als Kommunikationsinstrument zwischen der Pharmafirma als Institution und der offiziellen Rolle des Arztes. Der öffentliche Bereich kann sich mit dem offiziellen, wie in der Publikumsanzeige zu sehen, überschneiden. Öffentlich sind vor allem die Massenmedien wie Fernsehen, Presse und Rundfunk. Im privaten Bereich kommunizieren Emittent und Rezipient in ihrer Funktion als Privatperson miteinander.

3.1.3 Strukturelle Kriterien und Formulierungsspezifika Unter dem Begriff Thematizität werden Brinkers textinterne Kategorien des Textthemas und der Form der Themenentfaltung subsumiert. Für die beiden vorliegenden Arzneimittelanzeigen kann eine Themenfixierung auf das jeweilige Arzneimittel sowie eine lokale Orientierung auf den Emittenten festgestellt werden, da die Anzeigen ein Produkt des jeweiligen Emittenten (AU: Steigerwald Prophyto; DÄ: Dr. Falk Pharma) anbieten. Dies rekurriert auf die Differenzierung innerhalb des Textthemas. Brinker (vgl. 2010, 151 f.) versteht die lokale Orientierung, als „Relation zwischen Emittent bzw. Rezipient und Thema“ (Brinker 2010, 151). Als Beispiel benennt er die Textsorten „Werbeanzeige“, „Stellenanzeige“ und „Zeitungskommentar“. Diese drei sind den appellativen Textsorten zuzuordnen. Dessen ungeachtet differenzieren die drei Textsortenbeispiele in Bezug auf die lokale Orientierung des Themas, das wiederum unterschiedliche Wissensstrukturen über die jeweilige Textsorte aufbaut: Werbeanzeigen bieten ein Produkt (eine Ware) des Emittenten an (Thema = Emittent); in Stellenanzeigen werden Personen gesucht, die zugleich Adressaten der Anzeige sind (Thema = Rezipient); Zeitungskommentare beziehen sich primär auf aktuelle Themen von politisch-gesellschaftlicher Bedeutung (Thema = außerhalb der Kommunikationspartner) (Brinker 2010, 151).

Zusätzlich charakterisiert Brinker mittels „zeitlicher Fixierung relativ zum Sprechzeitpunkt, […] z. B. [in] vorzeitig, gleichzeitig, nachzeitig“ (2010, 151). Demnach können mehrere Textsorten zu einer Textsortenklasse gehören, unterscheiden sich aber durch ihre unterschiedliche temporale Orientierung des Themas.

Arzneimittelanzeigen als Beispiel für Textsorten  

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So differieren etwa die beiden Beispielanzeigen hinsichtlich ihrer zeitlichen Fixierung: Die Publikumsanzeige von „Iberogast“ (Steigerwald Prophyto 2012) ist durch eine Comicdarstellung von einem Mann mit Krankheitsmerkmalen vorzeitig und mit der textuell realisierten Wirkweise-Beschreibung rechts oben „beruhigt die Magennerven, entspannt die Magenmuskeln, reguliert die Magenbewegung, normalisiert die Säurebildung, schützt die Magenschleimhaut“ zugleich nachzeitig gerichtet. Das bedeutet, dass die bildlich dargestellten Symptome vor der Einnahme des Medikaments auftreten, sprich zeitlich vor der Arzneimittelanzeige einzuordnen sind. Die Darstellung der gesundeten Comic-Figur unten rechts hingegen lässt (nachzeitig) auf die Besserung nach Einnahme des beworbenen Medikaments schließen. Die Fachanzeige vermittelt sowohl in Bild (eine Kugel gibt blumenförmige Gebilde ab, die sich an die Darmwand legen) als auch Text („einziges Mesalazin-Granulat mit 2-Komponenten-Galenik mit Matrix-Kern“) die Wirkweise von „Salofalk GranuStix“, sodass die Wirkung, bzw. der Genesungsprozess metaphorisch dargestellt wird. Aufgrund dessen ist diese Anzeige rein nachzeitig fixiert. Für die Publikumsanzeige findet sich der Slogan „Wird der Magen dir zur Last  Iberogast. Pflanzlich – schnell wirksam“ als prägnant neben einer Comicdarstellung mit Beschriftung der (gängigen) Symptomatik, die für das Medikament vorhanden sein sollte (Sodbrennen, Magenschmerz, Völlegefühl). Relativ klein, rechts oben über der Verpackungsabbildung, ist der eigentliche argumentative Werbetext platziert. In der Fachanzeige Dr. Falk Pharma GmbH (2012) hingegen ist die bildliche Komponente hervorgehoben und der Slogan „Salofalk Granu-Stix 3g macht den Unterschied“ steht als Initialteil am oberen Rand der Anzeige. Der argumentative, dreischrittige Werbetext ist unter dem Bild platziert und unterstützt dieses: Zuverlässige Freisetzung im gesamten Kolon bis zum Rektum;  – Hohe Wirksamkeit auch bei Proktosigmoiditis: 86 % in Remission; – Neuer 3 g-Beutel mit höchster oraler Mesalazin-Einzeldosis. (Dr. Falk Pharma GmbH 2012)

Zusätzlich wird die Argumentation durch einen deutlich größeren Bereich des „Kleingedruckten“ (Arzneimittelinformationen) erweitert. Die für die Arzneimittelanzeigen vorangehend beschriebene Form der thematischen Entfaltung wird durch sog. „Vertextungsmuster“ erreicht. Brinker (vgl. 2010, 152) gliedert diese Prinzipien der Themenentfaltung in vier Großgruppen: narrativ, deskriptiv, argumentativ und explikativ. Narration meint eine zeitlich geordnete Abfolge von Handlungen, wie z. B. ein Märchen. Deskriptive Themenentfaltung konstituiert informativ beschreibende Texte oder Textteile, wie z. B. die Nachrichten oder einen Bericht. Das argumentative Muster spielt in der Kommunikation dort eine Rolle, wo Behauptungen, Thesen, Motive und Interessen mit Hilfe von Argumenten begründet werden sollen, wie beispielsweise in einem Kommentar oder eben einer Werbeanzeige. Explikative Vertextungsmuster strukturieren Texte, die dem Wissenstransfer,

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sprich der Vermittlung von Wissen, wie z. B. ein Lehrbuch oder ein wissenschaftlicher Text, dienen (vgl. Gansel/Jürgens 2009, 149 ff.). Wie bereits erwähnt, sind beide Arzneimittelanzeigen argumentativ vertextet, da beide Anzeigen Argumente für den Kauf des Medikaments wiedergeben: „Zuverlässige Freisetzung im gesamten Kolon bis zum Rektum“ (DÄ: Salofalk Granu-Stix) oder beispielsweise „beruhigt die Magennerven“ (AU: Iberogast). Wie bei Brinker mit dem Ausdruck „‚emotiv-bewertende‘ […] Form der Musterrealisierung“ (2010, 152 f.) für Werbeanzeigen angedeutet, muss berücksichtigt werden, wie die Grundformen thematischer Entfaltung in den jeweiligen Textsorten realisiert werden. Die Anordnung der Teilthemen innerhalb von Werbeanzeigen ist zudem nicht zwingend festgelegt und liefert so dem Betrachter Wissen für mögliche Textsortenvarianten. Die bereits genannten Kriterien dienen primär zur Differenzierung von Textsorten. Brinker (vgl. 2010, 153) führt an, dass für eine Beschreibung von Textsorten vor allem Formulierungsspezifika und stilistische Besonderheiten als weitere Merkmale berücksichtigt werden müssen. Für Werbeanzeigen sind generell werbesprachliche Elemente sowie besondere Text-Bild-Korrelationen als Eigenheiten auszumachen, die letztlich wieder Wissensstrukturen für Arzneimittelanzeigen bereitstellen. Für Arzneimittelwerbung kommt zusätzlich eine fachsprachliche Komponente hinzu. Es sollen hier jedoch nicht sämtliche Merkmale aufgezählt und an den Beispielen erläutert, sondern nur einzelne Spezifika, wie Rhetorik und Fachsprache in der Werbung, herausgegriffen werden. Neben einer besonderen Lexik (v. a. für Produktnamen), der Verwendung von Fremdsprachigem, elliptischer Formen in der Syntax sowie Sprachspielen sind rhetorische Mittel (für Rhetorik in der Werbesprache vertiefend nachzulesen bei Janich 2010) und für die Arzneimittelanzeigen natürlich die Verwendung medizinischer Fachsprache von besonderem Interesse. Speziell in Bezug auf Werbekommunikation erkennt Römer (vgl. 1980, 173 ff.) das persuasive Potenzial rhetorischer Figuren als zum Überreden dienlich. Sie zählt beispielsweise folgende rhetorische Merkmale für Werbeanzeigen auf: Wiederholung, Anrede, Dreierfigur (z. B. Aufzählung in drei Punkten) und gebundene Sprache (Verswerbung). Nicht alle lassen sich in einer Anzeige wiederfinden, es können aber verschiedene rhetorische Merkmale miteinander kombiniert werden. Das Wiederholen kann beispielsweise sowohl den Inhalt als auch die gesamte Anzeige betreffen. „Um Eintönigkeit zu vermeiden, wird der Text leicht verändert“ (Römer 1980, 175). Die mögliche Dreiteilung gilt ebenfalls für die Argumentationsstruktur, da sie als „Enthymemargumentation“ (dreiteiliger Argumentationsschritt) aufgebaut sein kann (vgl. Janich 2013, 132 f.). Die Publikumsanzeige ist eine Wiederholungsanzeige. „Iberogast“ wirbt gleichbleibend bereits ein ganzes Jahrzehnt mit der beispielhaften Anzeige (vgl. AU 03/2000, 31). Der Slogan „Wird der Magen dir zur Last – Iberogast“ ist gleichzeitig Behauptung als auch ein indirekter Appell, bei Magenproblemen dieses Mittel einzunehmen. Auch wenn der Slogan durch das fehlende Verb elliptisch ist, so kann er imperativisch gelesen werden und erfüllt die Voraussetzung für einen Befehl.

Arzneimittelanzeigen als Beispiel für Textsorten  

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Durch das fehlende Verb „nimm“ handelt es sich hier wohl um einen abgeschwächten Befehl, der eher die Form eines Vorschlags als eines Befehls hat. Die Anrede findet durch das Personalpronomen „dir“ (2. Ps. Sing. Dat.) statt. Da der Slogan zugleich in Reimform realisiert ist, nutzt diese Anzeige auch gebundene Sprache für ihre Botschaft. Die Dreierfigur spiegelt sich, bildlich unterstützt, in der Symptomatik „Sodbrennen, Magenschmerz, Völlegefühl“ wider. Zusätzlich beinhaltet diese Arzneimittelanzeige eine „Fünferfigur“ durch die Aufzählung der Wirkmechanismen „beruhigt, entspannt, reguliert, normalisiert, schützt“. „Salofalk“ wirbt, ebenfalls als Wiederholung, mit der identischen Fachanzeige bereits zeitlich zuvor (vgl. DÄ 09/2011, A1827). Auch hier findet sich eine Behauptung durch den Slogan „Salofalk Granu-Stix 3g macht den Unterschied“. Dreierfiguren bestehen hier sowohl bildlich, durch die Aufteilung in Slogan, Bildkomponente, Werbetext und Arzneimittelinformation, als auch im Werbetext unterstützt durch Spiegelstriche: „– Zuverlässige Freisetzung […];  – Hohe Wirksamkeit […];  – Neuer 3gBeutel […]“. Zusätzlich enthält die Fachanzeige eine Anspielung als Abgrenzung zu Konkurrenz durch das im folgenden Abschnitt befindliche Adjektiv „einziges“: „Einziges Mesalazin-Granulat mit 2-Komponenten-Galenik mit Matrix-Kern“. Auffällig ist, dass die Fachanzeige deutlich weniger rhetorische Mittel als die Publikumsanzeige verwendet. Beide Anzeigen nutzen argumentative Verfahren, jedoch in unterschiedlicher Ausprägung. Rhetorische Mittel tragen überdies dazu bei, den Rezipienten allgemeine Wissensstrukturen über argumentative Verfahren sowie den Umgang mit argumentativen Texten und Textsorten zu verdeutlichen. Desweiteren ist medizinische Fachsprache für Arzneimittelanzeigen besonders relevant. Janich (vgl. 2010, 216 ff.) merkt dazu an: Werbung unterscheidet sich in ihrer Intention und daher auch im Gebrauch fachsprachlicher Elemente grundsätzlich von Fachtexten oder halbfachlichen populärwissenschaftlichen Texten. Sie dienen nicht primär der (möglichst verständlichen) Vermittlung von Fachinhalten, […] (Janich 2010, 216).

Der Wortschatz medizinischer Fachsprache setzt sich hauptsächlich aus griechischlateinischen Präfixen oder Suffixen zusammen. Viele Begriffe wurden bereits eingedeutscht. Daneben fließen, so Wiese (vgl. 1999, 1270 ff.), auch englische Begriffe bzw. Begriffsteile in die Wortbildung ein. Vor allem Krankheitserscheinungen, Körperteile und technische Termini werden mit Hilfe von medizinischer Fachsprache um- oder beschrieben (vgl. Steinhauer 2000). In der vorliegenden Publikumsanzeige existieren keinerlei Fachbegriffe, außer dem Markennamen „Iberogast“, der mit dem Suffix „-gast“ auf den griech. Begriff „Gastritis“ (Magenschleimhautentzündung) hinweist. Der Adressat “Patient“ wird offensichtlich als medizinisch ungebildet, d. h. als Laie, vorausgesetzt und so nicht mit unverständlichen Wortbedeutungen konfrontiert. In der Fachanzeige hingegen werden alle aussagekräftigen Begriffe als Fachbegriffe beschrieben. Beispielsweise

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 Katja Guder

wird in „oraler Mesalazin-Einzeldosis“ das Wort „oral“ als lat. Fachbegriff mit der Bedeutung „durch den Mund“ verwendet. Dies ist vor allem auf den Adressaten „Arzt“ zurückzuführen. Die Verwendung medizinischer Fachsprache greift die medizinische Bildung des Arztes auf, die Anzeige erscheint fundiert sowie professionell und vermittelt so medizinisches Wissen. Bereits ganz oben am Rand der Anzeige findet sich die medizinische Beschreibung, für die das Medikament gedacht ist: „Colitis ulcerosa“ (chronischentzündliche Darmerkrankung). Im Satz „Zuverlässige Freisetzung im gesamten Kolon bis zum Rektum“ umschreibt griech. „Kolon“ den Grimmdarm (Teil des Dickdarms) und lat. „Rektum“ den Mastdarm.

3.1.4 Semiotische Ressourcen Neben werbe- und fachsprachlichen Besonderheiten verwenden auch Arzneimittelanzeigen semiotische Ressourcen zur Verständlichkeit ihrer Werbebotschaft. Mit Janich (vgl. 2010, 76 ff.) werden für die Werbung Symptome, ikonische, konventionalisierte und deiktische Zeichen unterschieden. Die vorliegende Publikumsanzeige ist gekennzeichnet durch die Semiotik der Krankheitsmerkmale. Sie unterstützen bildlich die Aufzählung „Sodbrennen, Magenschmerz, Völlegefühl“ durch die Darstellung der Krankheitszeichen anhand einer Comicfigur. Das am größten gemalte Männchen sendet mit seinen erhobenen Daumen das konventionalisierte Zeichen für „Ok/Gut“. Damit signalisiert es, dass mittels des Medikaments eine Gesundung eintritt. In der Fachanzeige kommt ein ikonisches Zeichen vor. Die Darstellung der sich, gemäß Bilddarstellung, im Darm verteilenden Wirkstoffe gibt bildlich den Werbetext „zuverlässige Freisetzung im gesamten Kolon bis Rektum“ wieder. Die Darstellung des Wirkmechanismus’ in Form von Blumen, die sich an der Darmwand ablegen, kann gleichzeitig als semiotisches Symptom gewertet werden, da sich daraus ergibt, dass sich durch die Verteilung des Medikaments eine Besserung bzw. Genesung einstellt. Die Abbildung des 3g-Beutels ist ebenfalls ein ikonisches Zeichen, das die orale Einnahme eines Granulats verdeutlicht. Auch hier dient die bildliche Darstellung dem Text „neuer 3g-Beutel mit höchster oraler Mesalazin Einzeldosis“. Dementsprechend ist zu konstatieren, dass werbesprachliche Elemente sowie semiotische Ressourcen für beide Textsortenvarianten vorhanden sind, medizinische Fachsprache jedoch fast nur in der Fachanzeige vorkommt. Aufgrund dieser Verwendung der medizinischen Fachsprache kann von einer Trennung in die Textsortenvarianten Fach- und Publikumsanzeige für Arzneimittel gesprochen werden, die die kontextuellen und strukturellen Analyseteile stützt. Semiotische Ressourcen helfen zusätzlich, gängige Zeichen zu etablieren und wiederzuerkennen, zugleich den Werbetext in einer sinnvollen Text-Bild-Relation zu verbinden und tragen somit wieder zur Wissensbildung über die Textfamilie Werbeanzeigen bei (vertiefend nachzulesen bei Diekmannshenke/Klemm/Stöckl 2011; Große 2011; Kroeber-Riel 1996).

Arzneimittelanzeigen als Beispiel für Textsorten  

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3.2 „Arzneimittelanzeige“ und Wissensbildung Textsortenwissen ist durch die mit ihnen verbundene Kenntnis über mehr oder weniger stark geprägte Muster ein wichtiges Element erfolgreichen sprachlichen Handelns und einer umfassenden Sprachkompetenz. Textsorten im Allgemeinen und die Textsorte „Arzneimittelanzeige“ im Speziellen tragen so zur generellen Wissensbildung über Texte bei. Wie dies im Einzelnen funktioniert, wird nachstehend erörtert.

3.2.1 Fachwissen in dem Kontinuum von Laien- und Expertenwissen Das Wissen über die Textsorte „Werbeanzeige“ und ihre sprachlichen Eigenheiten trägt maßgeblich zum Wissen über die Textsorte „Arzneimittelanzeige“ und die Text­ sortenvarianten „Fach-“ und „Publikumsanzeige“ bei. Kontextuelle, funktionale und strukturelle sowie formulierungsspezifische Muster können beim Betrachten von Fach- und Publikumsanzeigen für Arzneimittel aktiviert werden. Daraus folgt, dass eine Arzneimittelanzeige durch das Wissen über spezifische Strukturen auch als Werbeanzeige identifiziert wird. Überdies kann textsortenspezifisches Wissen für Werbeanzeigen beim Erstellen von Arzneimittelanzeigen reproduziert und für den jeweiligen Bereich speziell abgewandelt werden. Mit Hilfe von Arzneimittelanzeigen wird zugleich auch Wissen über Arzneien vermittelt, das somit ein Fachwissen produziert. Allerdings unterscheiden sich Fach- und Publikumsanzeigen im Hinblick auf dieses Fachwissen bezüglich ihres Adressaten. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich Publikumsanzeigen überwiegend an ein älteres Publikum richten, das möglicherweise weniger fremdsprachlich gebildet ist und somit weniger Wissen bezüglich medizinischer Begrifflichkeiten aufweisen kann. (Medizinisch gebildetes Publikum ist von dieser Annahme allerdings auszuschließen.) Zudem ist der Adressat „Patient“ meist ein medizinischer Laie und die Anzeige aufgrund dessen weniger fachsprachlich konzipiert. Fachanzeigen vermitteln und erfordern gleichzeitig vom Rezipienten dahingehend ein viel größeres Fachwissen, da hier vor allem die deutliche Fachsprachenverwendung spezifisches Fachwissen reproduziert. Dies geschieht aufgrund des Adressaten „Arzt“, der medizinisch gebildet und somit als Experte für medizinische Fachsprache zu sehen ist. Zugleich unterscheiden sich die einzelnen Fachanzeigen durch ein zusätzliches Fachbereichswissen, da verschiedene Fachbereiche werben. Es kann ein zusätzliches Differenzwissen als Abgrenzung zu benachbarten Fachbereichen entstehen. Dies verdeutlicht, dass Publikums- und Fachanzeigen gleichermaßen Wissen über Textsorten und somit über textuelle Muster sowie Wissen über Arzneimittel transportieren. Fachanzeigen jedoch erweitern diese Wissensbildung um das medizinische Fachwissen, durch die Verwendung von medizinischen Begrifflichkeiten, sowie um spezielleres Fachbereichswissen für die jeweiligen Fachbereiche. Anzumerken ist jedoch, dass auch Publikumsanzeigen medizinisches Wissen (wenn auch

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 Katja Guder

ohne Fachbegriffe) vermitteln, bzw. zumindest Anreize für eine mögliche Wissenserweiterung schaffen.

3.2.2 Fachwissen in der Differenz zu benachbarten Textsorten Die Textsortenvarianten „Fach-“ und „Publikumsanzeige“ für Arzneimittel unterstützen neben einem differenzierten Wissen zwischen Laie und Experte auch das Wissen zu anderen Textsorten. Speziell medizinisches Fachwissen, das in Fachanzeigen komprimiert vermittelt wird, hilft dabei, andere Textsorten besser zu verstehen. Im Umfeld der Facharzneimittelanzeige stehen etwa Textsorten wie Arztbrief, Beipackzettel (Packungsbeilage) (vertiefend nachzulesen bei Schuldt 1992) oder Befundschreiben, Rezepte, Medikamentenverpackungen (medizinische Textsorten im Überblick gibt Wiese 2000). Beipackzettel richten sich, ähnlich wie eine Arzneimittelanzeige, an Ärzte und/oder Patienten gleichermaßen. Diese weisen, ebenso wie die Werbeanzeige, textsortenspezifische Merkmale auf. Wie in der Fachanzeige findet sich für Beipackzettel eine Mehrfachadressierung, da die Informationen zum Arzneimittel primär sinnvoll für den verschreibenden Arzt sind, sekundär aber den Patienten als Konsumenten betreffen. Die Arzneimittelanzeige schafft bereits ein direktes Wissen über die Text­sorte „Beipackzettel“, indem die Publikumsanzeige im Kleingedruckten darauf hinweist: „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“. In der Fachanzeige werden relevante Angaben aus dem Beipackzettel, wie Zusammensetzung, Anwendungsgebiete und Nebenwirkungen, direkt mit abgedruckt. Die Publikumsanzeige ist jedoch deutlich mehr auf Laien bezogen als die dazu passende Packungsbeilage von „Iberogast“ (http://www. iberogast.de/aw/kopfzeile/~crv/beipackzettel/; abgerufen am 24.05.2015). Auch hier werden Krankheitszeichen genannt, die zur Einnahme des Medikaments vorliegen sollen. Allerdings sind diese Informationen fachspezifischer als in der Publikumsanzeige: Iberogast wird angewendet zur Behandlung von funktionellen und motilitätsbedingten MagenDarm-Erkrankungen wie Reizmagen- und Reizdarmsyndrom sowie zur unterstützenden Behandlung der Beschwerden bei Magenschleimhautentzündung (Gastritis) (Beipackzettel „Iberogast“).

Zwar wird der Fachbegriff „Gastritis“ nur in Klammern gesetzt, jedoch findet sich beispielsweise der Begriff „motilitätsbedingt“. Dieser ist hauptsächlich von medizinisch gebildeten Experten zu verstehen und nicht vom Laien. Durch die direkte Ansprache der beispielhaften Fragestellung „Was müssen Sie vor der Einnahme von Iberogast beachten?“ zeigt sich der Adressatenbezug auf den Konsumenten „Patient“. Der Beipackzettel ist jedoch konträr zur Publikumsanzeige, da der Patient beispielsweise trotzdem auf ein Gespräch mit dem Arzt hingewiesen wird und ihm die angegebe-

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nen Zusammensetzungen des Medikaments nicht weiter nützen. Aufgrund dessen ist der Beipackzettel eher sinnvolle Ergänzung zum Anamnesegespräch beim Arzt, vermittelt aber insofern Wissen, dass der Laie beim Arzt nicht mehr sämtliche Informationen erfragen muss, sondern sich im Nachhinein zuhause über das Arzneimittel informieren kann. Auch wenn die Publikumsanzeige Laien nur in Hinsicht auf die Symptomatik und das Medikament selbst Wissen vermittelt, so verweist sie doch direkt auf den Beipackzettel als weitere Möglichkeit der Wissensvermittlung. Der Beipackzettel selbst vermittelt dann wiederum deutlich mehr medizinisches Wissen als die Publikumsanzeige. Für die Fachanzeige kann ein ähnlicher Wissensstand wie für den Beipackzettel angenommen werden, da dieser, wie erwähnt, zum Großteil als Informationsvermittlung in Fachanzeigen einfließt. So ergänzen sich die verschiedenen Vermittlungsinstanzen des medizinischen Wissens und des Wissens über Textsorten der Medizin.

4 Fazit Die Textsortenanalyse bietet verschiedene Mittel zur Unterscheidung von Texten. Mittels der Kriterien Funktionalität, Situativität, Thematizität und Formulierungsspezifika konnte beispielhaft eine Analyse für Arzneimittelanzeigen dargestellt werden. Aufgrund des Einsatzes medizinischer Fachsprache und unterschiedlicher Adressaten lässt sich eine Differenz innerhalb der Textsorte „Arzneimittelanzeige“ ausmachen. Diese Differenzierung in Fach- und Publikumsanzeigen zeigt einerseits gleiche Muster hinsichtlich des gemeinsamen Kontextes und der Kommunikationssituation sowie bei der Verwendung rhetorischer Figuren als werbesprachlicher Spezifik, semiotischer Ressourcen und einer ähnlichen Text-Bild-Relation. Andererseits lassen sich Unterschiede hinsichtlich des Gebrauchs medizinischer Fachsprache darlegen. Für die vorliegende Publikumsanzeige erscheinen außer dem Medikamentennamen keinerlei fachsprachliche Verwendungen; in der Fachanzeige hebt die medizinische Fachsprache den Werbetext allerdings fast auf das Niveau eines Fachtextes an. Textsorten, so kann aus der exemplarischen Analyse geschlussfolgert werden, tragen allgemein zur Wissensbildung hinsichtlich des Sprachwissens und des sprachlich kommunikativen Handelns bei. Aufgrund des Wissens über spezifische Merkmale (der jeweiligen Textsorte) können Textsorten und somit Texte reproduziert und im Alltag wiedererkannt werden. Die Textsorte „Arzneimittelanzeige“ verhilft zur Wissensbildung über Arzneimittel und ihre Anwendung sowie über das prinzipielle Vorhandensein verschiedener Präparate für eine Ursache bzw. ein Krankheitszeichen. Fach- und Publikumsanzeigen als Textsortenvarianten vermitteln zusätzlich unterschiedliche Wissensbestände, weniger in Bezug auf Werbung, sondern insbesondere hinsichtlich des medizinischen Bereichs. Fachanzeigen richten sich an medizinisch geschulte Experten und aktivieren demnach ein deutlich höheres Fachwis-

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sen, als dies bei Laien der Fall wäre. Laien eignen sich durch die Informationen in den Anzeigen jedoch ebenfalls einen fachlichen Wissensbestand zu Arzneimitteln selbst an. Außerdem verweisen Fach- und Publikumsanzeige gleichermaßen auf weitere Textsorten wie beispielsweise den Beipackzettel oder das Arzt-Patient-Gespräch. Arzneimittelanzeigen rekurrieren, neben Wissensbeständen zur Werbung, folglich auf weitere Wissensbildung bezüglich medizinischer Wissensbestände. Somit tragen Arzneimittelanzeigen aus Fach- und Publikumspresse zur allgemeinen Wissensbildung über Textsorten und den Bereich der Medizin bei.

5 Literatur AMG (1976): Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz – AMG). [Stand: 23.07.2013]. http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/amg_1976/gesamt.pdf (Zuletzt eingesehen am: 07.05.2014). Brinker, Klaus (2010): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin. Christoph, Cathrin (2009): Textsorte Pressemitteilung : zwischen Wirtschaft und Journalismus. Konstanz. Diekmannshenke, Hans-Joachim/Michael Klemm/Hartmut Stöckl (Hg.) (2011): Bildlinguistik: Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Berlin. Dr. Falk Pharma GmbH (2012): Salofalk Granu Stix 3g. (Arzneimittelanzeige). In: Deutsches Ärzteblatt 03/2012, Heft 9, Jg. 109, A411. Fix, Ulla (2011): Texte und Textsorten – sprachliche, kommunikative und kulturelle Phänomene. Berlin. Gansel, Christina (2011): Textsortenlinguistik. Göttingen u. a. Gansel, Christina/Frank Jürgens (2009): Textlinguistik und Textgrammatik : eine Einführung. Göttingen. Geßner, Hans-Jürgen (1975): Werbung für Arzneimittel. In: Karl Christian Behrens(Hg.): Handbuch der Werbung: mit programmierten Fragen und praktischen Beispielen von Werbefeldzügen. Wiesbaden, 835–858. Große, Franziska (2011): Bild-Linguistik: Grundbegriffe und Methoden der linguistischen Bildanalyse in Text- und Diskursumgebungen. Frankfurt am Main u. a. Guder, Katja (Dissertation in Vorbereitung): „Bei Zuordnungsschwierigkeiten fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“ – Arzneimittelanzeigen in Fach- und Publikumspresse. (bisher unveröffentlicht). Heinemann, Margot/Wolfgang Heinemann (2002): Grundlagen der Textlinguistik: Interaktion – Text – Diskurs. Tübingen. Heinemann, Wolfgang/Dieter Viehweger (1991): Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen. Janich, Nina (2010): Werbesprache: ein Arbeitsbuch. 5., vollst. überarb. Aufl. Tübingen. Janich, Nina (2013): Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. 6., aktual. Aufl. Tübingen. Kroeber-Riel, Werner (1996): Bildkommunikation: Imagerystrategien für die Werbung. München. Neumann, Annika (2011): Das redaktionelle Gewinnspiel als Textsorte im Spannungsfeld zwischen Massenmedien und Markenkommunikation: eine textlinguistische und systemtheoretische Untersuchung. Frankfurt a. M. u. a.

Arzneimittelanzeigen als Beispiel für Textsorten  

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Römer, Ruth (1980): Die Sprache der Anzeigenwerbung – Sprache der Gegenwart. Düsseldorf. Schuldt, Janina (1992): Den Patienten informieren: Beipackzettel von Medikamenten. Tübingen. Steigerwald Prophyto (2012): Iberogast. (Arzneimittelanzeige). In: ApothekenUmschau 03/2012, 29. Steinhauer, Anja (2000): Sprachökonomie durch Kurzwörter. Bildung und Verwendung in der Fachkommunikation. Tübingen. Wiese, Ingrid (1999): Die neuere Fachsprache der Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Inneren Medizin. In: Lothar Hoffmann / Hartwig Kalverkämper/Herbert Ernst Wiegand (Hg.): Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 14: Fachsprachen. Berlin, 1270–1278. Wiese, Ingrid (2000): Textsorten des Bereichs Medizin und Gesundheit. In: Klaus Brinker/Gerold Ungeheuer (Hg.): Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (Bd. 16). Berlin u. a., 710–718. URL Beipackzettel Iberogast: .

Constanze Spieß

24. Bioethik- und Medizinethikdiskurse als Mediendiskurs Abstract: Einen Teil der Sprachgeschichte im Bereich Sprache und Medizin nehmen Untersuchungen ein, die gesellschaftliche Mediendiskurse zu den Themengebieten der Bioethik und Medizinethik bzw. der Biomedizin als Gegenstand haben. Diesem Bereich widmet sich dieser Beitrag. Er möchte unter Rückgriff auf sprachtheoretische Aspekte und methodische Zugangsweisen einen Überblick über die Forschungssituation und die zentralen Ergebnisse im Hinblick auf Sprachgebrauchsweisen, akteursspezifische Sprachstrategien, „agonale Zentren“ und Kontextualisierungen in bioethischen und medizinethischen Diskursen geben. 1 Einführung 2 Einblicke in die Forschung linguistischer Analyse bioethischer und medizinethischer Diskurse 3 Sprachtheoretische Verortung und methodische Zugriffsweise: zur Handlungsdimension bioethischer Diskurse 4 Exemplarische Darstellung bioethischer Diskurse 5 Fazit 6 Literatur

1 Einführung 1.1 Bioethische und Medizinethische Diskurse als linguistische Gegenstände diskursanalytischer Medienanalyse Bioethische und Medizinethische Diskurse zeichnen sich wie viele andere Diskurse dadurch aus, dass sie zu einem wesentlichen Teil in den Medien geführt werden, auf die Medienöffentlichkeit angewiesen und durch Kontroversen gekennzeichnet sind. Die Fokussierung liegt in diesem Beitrag auf denjenigen Diskursen, die ethische Fragestellungen um das menschliche Dasein, die sich aus (bio)medizinischen und biowissenschaftlichen Möglichkeiten und Techniken ergeben, aufgreifen und öffentlich verhandeln. Es geht also um solche Diskurse, die das Verhältnis von Mensch und Technik sowie die Auswirkungen der neuen Techniken auf den Menschen ins Zentrum rücken. Die ethische Brisanz und Konflikthaftigkeit innerhalb der Diskurse bringt dabei zugleich deren gesellschaftliche Relevanz zur Geltung. Diese zeigt sich u. a. in einer besonderen Heftigkeit und Emotionalität in der Diskursentwicklung. Inhaltlich gekennzeichnet sind diese Diskurse dadurch, dass es zumeist um grund-

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legende Fragen zum menschlichen Dasein, um Menschenbilder und um normative Fragen menschlichen Lebens bzw. um Kriterien für einen angemessenen Umgang mit menschlichem Leben im Zusammenhang mit medizinischen Eingriffen oder neuen Techniken geht. Ausgangspunkt für eine Sprachgeschichte im Kontext von Medizin – Biomedizin und Ethik stellen dabei die Versprachlichung der Konflikte und des damit in Zusammenhang stehenden, verhandelten und hervorgebrachten Wissens dar. Die linguistische Perspektive auf bioethische oder medizinethische Diskurse interessiert sich für die Analyse der sprachlichen Verfasstheit gesellschaftlich brisanter Themen. Die unterschiedlichen sprachlichen Phänomene sind auf verschiedenen sprachstrukturellen Ebenen verortet und können unterschiedliche Perspektiven auf das Thema eröffnen. Sprachlich werden dabei die Ebene der Bedeutungen und der Bezeichnungen sowie der damit verbundenen Sprachhandlungen berührt. So ist es nicht unerheblich, wie im Diskurs Gegenstände, Sachverhalte, Ereignisse, Handlungen und Handlungsoptionen bezeichnet werden, denn dadurch positionieren sich die Diskursakteure zugleich im Gesamtkontext des Diskurses. Gekennzeichnet sind bioethische und medizinethische Diskurse in erster Linie durch Konflikthaftigkeit und Agonalität, da in den Diskursen verschiedene Positionen und Fachdisziplinen aufeinandertreffen und aus der je spezifischen Perspektive die aufgeworfenen Probleme behandelt werden. Zudem sind die Diskursakteure bestrebt, andere von den je eigenen Positionen zu überzeugen und ihre Interessen durchzusetzen. Grund für die öffentlichen Diskurse ist u. a. ein Bedarf an rechtlichen Regelungen. In der Auseinandersetzung um rechtliche Regelungen treffen verschiedene Wertvorstellungen bzw. normative Vorstellungen aufeinander, dies trifft insbesondere für die aus linguistischer Perspektive bereits untersuchten Diskurse um Sterbehilfe, Reproduktionsmedizin und Präimplantationsdiagnostik, humane embryonale Stammzellforschung, Transplantationsmedizin oder Abtreibung zu. An den genannten Diskursen sind u. a. Akteure folgender Disziplinen und Wissensdomänen beteiligt: Medizin, Naturwissenschaften, Theologie, Ethik, Recht, Philosophie, Politik, Wirtschaft und Medien.

1.2 Zur Geschichte von Bioethik und Medizinethik – ein kurzer Überblick Medizinische Diskurse, innerhalb derer um ethische Fragen gestritten wird, sind kein Phänomen unserer Zeit. Kontroverse moralische und ethische Debatten z. B. über die Sektion von Leichen zum Zwecke anatomischer Studien sind bis in die Antike zurückzuverfolgen (vgl. hierzu Becker 2002). Mit der Entwicklung neuer Techniken und Medikamente werden Fragen nach ethisch-moralischen Beurteilungen der neuen Techniken und der Medikamente virulent, da sie nicht in allen Fällen dem Wohle des Menschen dienen (z. B. lebensverlängernde Maßnahmen, die die Lebensqualität nicht steigern, vgl. hierzu Düwell/Steig-

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leder 2003a: 15). Die Möglichkeit, Organe zu transplantieren (seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts möglich) ließen die Frage nach „Verfügbarkeit und den Kriterien der Verteilung von Spenderorganen“ (Düwell/Steigleder 2003a: 15) aufkommen, ebenso wurde das Todeskriterium Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen (vgl. hierzu auch Schlosser 1998). Die Entwicklung neuer Techniken und Medikamente im 20. Jahrhundert sind vor dem Hintergrund der veränderten ärztlichen und medizinischen Praxis im 19. Jahrhundert zu betrachten, die sich u. a. in der „Entstehung eines medizinischen Krankenhauswesens“, in der „Verwissenschaftlichung der Medizin“, in der Etablierung einer wissenschaftlichen Standards verpflichteten „ärztliche[n] Profession“ sowie in der Spezialisierung medizinischer Gebiete manifestieren (vgl. Düwell/Steigleder 2003a: 17). Die Entwicklungen neuer Techniken und Medikamente und die damit verbundenen moralisch-ethischen Probleme führten letztlich dazu, dass nicht mehr nur aus einer professionellen Perspektive des Arztes über den Einsatz und die Akzeptanz von neuen Techniken entschieden werden konnte, vielmehr sollte darüber in gesellschaftlichen Diskursen und Meinungsbildungsprozessen befunden werden, da dabei nicht selten existenzielle Grundfragen des menschlichen Daseins berührt wurden (und werden). Nicht zuletzt führten diese Veränderungen zu gesellschaftlichen und öffentlich stattfindenden Diskursen, weil es schlichtweg um politische, rechtliche und auch religiöse/weltanschauliche Stellungnahmen und Entscheidungen ging, die weit über die ärztlichen Kompetenzen hinausreichten. Infolgedessen nahmen und nehmen an solchen Diskursen Akteure unterschiedlicher, oben genannter Disziplinen teil. Im Laufe des 20.  Jahrhunderts hat sich für normative, moralisch-ethische Fragen im Rahmen medizinischer Probleme der Begriff Bioethik etabliert (vgl. zur Geschichte des Begriffs Ach/Runtenberg 2002, Reiter 2002).

2 Einblicke in die Forschung linguistischer Analyse bioethischer und medizinethischer Diskurse Die Anzahl der erst in jüngster Zeit entstandenen Untersuchungen, die sich aus linguistischer Perspektive mit dem Sprachgebrauch, mit sprachlichen Strategien und Funktionen in bioethischen und medizinethischen, medial geführten Diskursen befassen, ist überschaubar. Untersuchungen zu diesen Gebieten sind vor allem in den vergangenen Jahren mit der Etablierung der Diskurslinguistik als eigenständigem Forschungsteilbereich der Linguistik erschienen, somit stellt der Zusammenhang von Sprache und Bioethik bzw. Medizinethik im Hinblick auf Diskurse einen relativ kleinen, im Werden begriffenen Forschungsteilbereich der Diskurslinguistik dar. Verschiedene Projekte (u. a. des Netzwerks Sprache und Wissen) versprechen hier, dass dieser Bereich in den kommenden Jahren zunehmend an Relevanz im Kontext diskurslinguistischer Untersuchungen gewinnen wird. Die bislang erfolgten

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Untersuchungen können dabei als Beitrag zur Sprachgeschichte der Bioethik und Medizinethik betrachtet und als Teilgebiet einer Sprachgeschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs definiert werden. Im Folgenden soll zunächst ein knapper Überblick über die Forschung im Bereich linguistischer Analysen sowie Untersuchungen angrenzender Wissenschaften bio- und medizinethischer Diskurse im Hinblick auf eine Art Sprachgebrauchsgeschichte der Bioethik- und Medizinethikdiskurse gegeben werden, ohne dass dabei eine vollständige Erwähnung aller zum Themenbereich entstandenen Untersuchungen erfolgen kann (Kap. 2). Nach der Klärung der den linguistischen Untersuchungen zugrunde liegenden sprachtheoretischen Voraussetzungen (Kap. 3), werden in Kapitel 4 exemplarisch einzelne Gegenstandsbereiche vorgestellt. Im Rahmen der Diskurslinguistik gibt es einige Untersuchungen, die recht umfassend Teilgebiete aus dem großen Feld der aktuellen Bioethik und Medizinethik analysiert haben. Linguistisch untersuchte Diskurse sind u. a. der Diskurs um die Präimplantationsdiagnostik, der Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung, der Diskurs um die Regelung der Abtreibungspraxis (§ 218) sowie der Diskurs um Sterbehilfe, ansatzweise auch der Diskurs um die Transplantationsmedizin (vgl. Schlosser 1998). Domasch (2007, 2012) setzt sich mit Sprachgebräuchen im Rahmen einer Analyse des Diskurses um die Präimplantationsdiagnostik (= PID) auseinander, Spieß (2012a) nimmt die Bundestagsdebatten im Kontext des Diskurses um PID in den Blick und arbeitet zentrale Konzepte und Argumentationsmuster der verschiedenen Diskursakteure heraus. Faulstich (2002) geht in ihrem Beitrag auf den Begriff Leben und dessen Diskursivität im Kontext der Berliner Rede Johannes Raus ein, die letzterer im Rahmen des Diskurses um humane embryonale Stammzellforschung im Juni 2001 gehalten hat. Die Berliner Rede stellte sich als Schlüsseltext für den weiteren Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung wie auch für den Diskurs um PID heraus, was sich auch sprachlich niederschlug (vgl. Spieß 2013). Zimmer (2006) setzt sich mit unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen des Schlüsselworts therapeutisches Klonen auseinander, das im Stammzelldiskurs zentrale Bedeutung erlangte. Nerlich (2005), Musolff (2012), Spieß (2011a, 2012a, b), Hu (2005) und Döring/Zinken (2005) beschreiben die Verwendung diskurstypischer Metaphern innerhalb des Diskurses um embryonale Stammzellforschung, wobei sie z. T. den englischsprachigen, deutschsprachigen, französischsprachigen und polnischen Stammzelldiskurs im Hinblick auf die jeweils genutzte Metaphorik vergleichen. Während Nerlich (2005), Musolff (2012) und Spieß (2012b) Ausschnitte aus dem deutschsprachigen Diskurs englischsprachigen Diskursausschnitten gegenüberstellen, widmen sich Döring/ Zinken (2005) dem Vergleich des polnischen und französischen Pressediskurses um Stammzellforschung im Hinblick auf Metapherngebrauch. Hu (2005) kontrastiert den westlichen Diskurs um Stammzellforschung mit dem asiatischen, dabei stellt er fest, dass essenzielle Fragen nach dem Menschsein bzw. nach dem Umgang mit menschlichem Leben im asiatischen Raum einen anderen Stellenwert einnehmen als in westlichen Kulturen. Zurückführen lässt sich der pragmatische Umgang mit der Stamm-

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zellforschung im asiatischen Raum, so Hu, auf weltanschauliche Voraussetzungen wie Taoismus und Konfuzianismus, die eine „weniger dogmatische Interpretation“ der Beziehung Mensch – Natur ermöglichen. (Hu 2005, 34). Dass weltanschauliche Voraussetzungen zentral für bioethische Debatten sind, stellt Spieß (2011b) heraus. Spieß (2011a,  b, 2012a,  b, 2013) arbeitet an unterschiedlichen Teildiskursen Redestrategien des Diskurses um Stammzellforschung (= ES-Forschung) heraus, die sich durch ein Zusammenspiel spezifischer Metaphorik, Argumentationsmuster oder/ und im Streit um Bedeutungen und Benennungsalternativen für handlungsleitende Konzepte zeigen. Busse (2012a) macht deutlich, inwiefern sich der Rechtsdiskurs in den öffentlichen Diskurs um ES-Forschung einschreibt. Darüber hinaus existieren Arbeiten, die zwar die Analyse der Sprache von bioethischen und medizinethischen Diskursen zum Gegenstand erheben, jedoch nicht aus linguistischer, sondern aus ethischer, philosophischer oder theologischer Perspektive an die Analyse herangehen. So arbeitet Lesch (2005) aus einer sozialethischen Perspektive am Beispiel des Embryos heraus, inwiefern der Embryo selbst als Metapher für den Diskurs steht. Kettner (2012) geht auf unterschiedliche Deutungsmuster, die im Stammzelldiskurs immer wieder in den Argumentationen herangezogen werden, ein und stellt diese als Ergebnis kultureller Prozesse heraus. Maio (2012) bezieht sich in seinen Untersuchungen zum Sterbehilfediskurs auf die Präsentation der Themen im Massenmedium Fernsehen und stellt hier insbesondere Dramatisierungsstrategien fest sowie ein Wechselverhältnis zwischen den Erwartungshaltungen von Medien, Medizin und Gesellschaft. Hauskeller macht aus einer philosophischen Perspektive auf die Problematik aufmerksam, dass Naturwissenschaften kulturell konstituiert sind, wobei dieser Sachverhalt von naturwissenschaftlichen Disziplinen selbst nicht wahrgenommen und reflektiert wird. Dieser Prozess geschieht nach Hauskeller zu einem großen Teil sprachlich (vgl. Hauskeller 2002a und b), was Hauskeller am Sachverhalt Embryo verdeutlicht. Der Embryo stellt ihrer Meinung nach ein kulturelles Artefakt dar, was sich an den verschiedenen, dem Embryo zugeschriebenen Bedeutungen, zeigt. Dies wird auch in verschiedenen philosophischen, ethischen und sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen diskutiert (vgl. hier u. a. Birnbacher 2004, Hoerster 2002, Lesch 2005, vgl. Biggers 1990, Mulkay 1994). Dass auch Bilder bei der Konstruktion von Bedeutungen eine Rolle spielen, zeigt Hauskeller im Hinblick auf die Darstellung von Föten, die durch die bildliche Präsentation eine normative Aufladung erhalten, wobei diese u. a. durch die Technik des Ultraschalls befördert wurde (vgl. Hauskeller 2004, 154). Mit der Problematik um Sterbehilfe befassen sich verschiedene Analysen, u. a. solche, die im Rahmen des Netzwerkes Sprache und Wissen (Heidelberg) entstanden oder im Entstehen begriffen sind. So untersuchen Felder/Stegmeier (2012a,b), Felder/ Luth/Vogel (i. V.) oder Müller (2012a) den Diskurs um Sterbehilfe mit korpuslinguistischen Methoden, wobei sie auf handlungsleitende Konzepte, die Verwendung spezifischer Bezeichnungen, Kollokationen etc. eingehen. Domasch (2012) verweist am Beispiel der im Papier des Nationalen Ethikrats (= NER) existierenden Terminologien

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auf die Konflikthaftigkeit des Themas. Mattfeldt (2014) zeigt anhand grammatischer Verknüpfungsmittel von Diskursaussagen, welche Funktionen die verwendeten kausalen Konnektoren im Diskurszusammenhang haben und welche Deutungsmuster sie indizieren. Unabhängig vom Netzwerk Sprache und Wissen hat Pohl (2012) den Sterbehilfediskurs im Hinblick auf verschiedene, immer wieder im Diskurs auftauchende Argumentationstopoi analysiert. Böke (1991) geht im Rahmen diskursanalytischer Untersuchungen zum öffentlichen Sprachgebrauch auf den Diskurs um die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs ein, wobei der zentrale Konfliktgegenstand des Diskurses die Konzeptualisierung von Embryo bzw. die Bezeichnungen für den Sachverhalt „befruchtete Ei- und Samenzelle“ darstellt. Böke arbeitet hier unterschiedliche Benennungen der Akteursgruppen heraus. Aufgrund der Tatsache, dass in diesem Diskurs der Status von Embryonen diskutiert wird, und dies in den Diskursen um Stammzellforschung und PID wieder aufgegriffen wird, die Regelung der Abtreibung gar als Analogieargument im Stammzelldiskurs und im Diskurs um PID herangezogen wird, kann dieser Diskurs als wichtiger Vorläuferdiskurs für den Diskurs um PID und um humane embryonale Stammzellforschung angesehen werden. (Vgl. Böke 1991)

3 Sprachtheoretische Verortung und metho­ dische Zugriffsweise: zur Handlungsdimension ­bioethischer Diskurse 3.1 Sprache und Wirklichkeit Die erwähnten linguistischen Untersuchungen bioethischer und medizinethischer Diskurse lassen eine deutliche Orientierung an bzw. Verortung in der Diskurslinguistik erkennen. Die meisten Studien verfolgen dezidiert diskursanalytische Fragestellungen. Zudem sind die Untersuchungen dem öffentlich-politischen Kommunikationsbereich zuzuordnen, so dass die genannten Untersuchungen auch im Bereich der Sprache- und Politikforschung anzusiedeln sind. Ausgangspunkt der Untersuchungen ist die Annahme, dass Sprache Wirklichkeit nicht einfach abbildet, sondern maßgeblich an der Schaffung von Wirklichkeit und der Genese von Wissen beteiligt ist (vgl. Berger/Luckmann 2004). Das aber heißt, dass jeglichen sprachlichen Ausdrucksformen bereits Perspektivität innewohnt; im Benennungsakt von Sachverhalten, Gegenständen, Ereignissen, Handlungen oder Handlungsoptionen kann mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommen, welche Perspektiven, welche weltanschaulichen Voraussetzungen in den Diskurs eingebracht werden und wie Wirklichkeit entsprechend der je eigenen Weltanschauung sprachlich konstituiert wird (vgl. Spieß 2011b). Gerade in bioethischen und medizinethi-

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schen Diskursen spielt die Weltanschauung als Voraussetzung bzw. als kultureller Hintergrund eine wichtige Rolle für z. B. Bewertungshandlungen. Zentrale Konzepte und Schlüsselwörter erfahren vor dem Hintergrund unterschiedlicher Perspektiven eine je unterschiedliche Bedeutung und damit auch Wertung. Ob die Bedeutungen dann als solche wahrgenommen werden, hängt vom Hintergrund- und Erfahrungswissen der Diskursakteure bzw. der RezipientInnen ab. Wichtig für das Verstehen der im Diskurs erzeugten Bedeutungen bzw. des im Diskurs erzeugten Bedeutungswissens ist der Bezug zu Kontexten (insbesondere zu Argumentationskontexten), zu Wissensrahmen, zu jeglichen verstehensrelevanten außersprachlichen Ereignissen. Abstrakte Schlüsselwörter, Konzepte oder Metaphern können somit erst durch ihre Einbettung in größere (Argumentations)kontexte ihre Bedeutung erlangen bzw. ihre Bedeutung innerhalb des Diskurses wird dadurch erst konstituiert. Die Kenntnis von und der Bezug auf Wissensrahmen ist demnach essenziell (vgl. Ziem 2008, vgl. Busse 2012b). Als Kontextbezüge sind in bioethischen und medizinethischen Diskursen verschiedene Ebenen zu konstatieren, zum einen spielt die Ebene des jeweiligen Fachwissens (als eine Form von Faktenwissen) eine Rolle, zum anderen die Ebene des kulturellen Wissens (z. B. als historisches Wissen) und des Erfahrungswissens und zum Dritten die Ebene des situativen Wissens. Bedeutungen lassen sich dementsprechend nicht getrennt von der sozialen, kulturellen und historischen Praxis beschreiben und erkennen; die kontextuell-situativen Faktoren sind sozusagen bedeutungs- und handlungsrelevant. Den hier fokussierten linguistischen Untersuchungen aus dem Bereich der Bioethik und Medizinethik liegt sprachtheoretisch betrachtet ein handlungsfundierter Sprachbegriff zugrunde (vgl. Spieß 2011a, Teil 1).

3.2 Diskursbegriff Die vorliegenden Untersuchungen sind allesamt in den Kontext der linguistischen Diskurssemantik und Diskursanalyse zu verorten und zugleich vor dem Hintergrund einer handlungsfundierten Sprachauffassung zu sehen; die einzelnen Untersuchungen fokussieren aus dem breiten Spektrum der linguistischen Diskursanalyse dabei unterschiedliche Aspekte und unterschiedliche methodische Zugriffsweisen auf Diskurse. Vor dem Hintergrund eines handlungsfundierten Sprachbegriffes stellen Diskurse Räume bzw. Rahmen dar, innerhalb derer auf unterschiedlich komplexen Ebenen sprachlich gehandelt wird. Am sprachlichen Handeln können dementsprechend unterschiedliche sprachliche Phänomene beteiligt sein. Ausgangspunkt eines diskurssemantischen Diskursbegriffes ist die Diskursauffassung Foucaults, der unter Diskursen ein System bzw. eine Menge von Aussagen, die einem gemeinsamen Wissenssystem angehören, versteht (vgl. Foucault 1981: 170).

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Der Diskursbegriff Foucaults wird in linguistischer Perspektive durch die Handlungsdimension von Diskursen erweitert und modifiziert, u. a. wird die Kategorie des Diskursakteurs relevant (vgl. Gardt 2007, Spieß 2011a, Spitzmüller/Warnke 2011). Diskurse stellen in linguistischer Perspektivierung in diesem Zusammenhang und im Anschluss an Foucault themengebundene Text- und Aussagenverbünde dar, die als Handlungseinheiten und -rahmen aufzufassen und allgemein als sprachlich konstituierte Wissensformationen zu beschreiben sind, wobei Texte und Aussagen Teile bzw. Elemente dieser Wissensformationen darstellen. Texte und Aussagen (zu denen auch Bilder und andere semiotische Codes zählen können, vgl. Meier 2011) erscheinen seriell, sukzessive und prozessual. Sie sind als Ereignisse aufzufassen, die geprägt sind von den Merkmalen der Dialogizität und Intertextexualität. Zugleich sind sie historisch und gesellschaftlich verortete Größen und stehen im Austausch weiterer wissenserzeugender, sozialer Praktiken; bedingt sind sie u. a. durch Öffentlichkeit und Massenmedialität (vgl. Gardt 2007, vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, vgl. Spieß 2011a). Damit stellt ein Diskurs ein äußerst heterogenes Gebilde dar, das auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben werden kann. Hierfür haben sich in der Diskurslinguistik Mehrebenenmodelle etabliert (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011, Spieß 2011a). Zentrale Ebenen von Diskursen sind: – die lexikalische Ebene – die Ebene der Einzelhandlungen und Handlungsmuster – die Textebene – die transtextuelle Ebene Auf diesen sprachlichen Ebenen kommen folgende sprachlichen Phänomene zur Geltung: Schlüsselwörter (umstrittenes Vokabular als Hinweise auf bzw. Ausprägungen von agonalen Zentren des Diskurses und handlungsleitenden Konzepten), Metaphern, Argumentationsmuster, Handlungsmuster und -strategien.

3.3 Sprachliche Ebenen 3.3.1 Lexikalische Ebene Mittels lexikalischer Einheiten in Form von Einzellexemen oder Lexemverbänden kann auf Sachverhalte, Handlungen, Handlungsoptionen, Gegenstände und Ereignisse Bezug genommen werden. Inhaltsseitig können Lexeme als Konzepte bzw. mentale Repräsentationen von Sachverhalten beschrieben werden, die im Diskurs nicht selten als agonale Zentren (Felder/Stegmeier 2012a) fungieren, die innerhalb des Diskurses handlungsleitend sind und Dominanz erlangen. Unter agonalen Zentren verstehen Felder/Stegmeier (2012a) einen „sich in Sprachspielen manifestierende[n] Wettkampf um strittige Akzeptanz von Ereignisdeutungen, Handlungsoptionen, Gel-

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tungsansprüchen, Orientierungswissen und Werten in Gesellschaften“, der von den Diskursakteuren in Diskursen ausgetragen wird (Felder/Stegmeier 2012a: 379). Sprachlich zeigt sich das durch Phänomene der Bezeichnungs- und Bedeutungskonkurrenz, also in der sprachlichen Konstruktion von Sachverhalten, wobei Benennungs- und Bedeutungskonkurrenzen in diesem Zusammenhang auf die Strittigkeit von Sachverhalten verweisen. In öffentlich geführten, bioethischen Diskursen treten aufgrund der unterschiedlichen, aufeinander treffenden Perspektiven Konflikte zutage, die sich sprachlich als semantische Kämpfe zeigen (vgl. Felder 2006). Diese können sich auf der konzeptuellen Ebene, der Sachverhaltsebene und der Ausdrucksebene abspielen. Durch Benennungsakte und Bedeutungsfixierungsakte kommen die Perspektivität von Sprache sowie die Handlungsdimension von Sprache zur Geltung (vgl. Spieß 2011a).

3.3.2 Metaphern Metaphern als Konzepte, die unseren Alltag, das menschliche Denken und Handeln grundlegend strukturieren, sind in ihrer Struktur durch zwei Prinzipien gekennzeichnet, durch das Prinzip des Highlighting und durch das des Hiding. Im Anschluss an die kognitive Metapherntheorie von Lakoff/Johnson (1980) lassen sich Metaphorisierungen als mentale Projektionsstrukturen fassen, bei denen Erfahrungen/Aspekte eines Bereiches, dem Herkunftsbereich (source), partiell auf einen anderen Bereich, den Zielbereich (target), projiziert werden. In Abgrenzung zu Lakoff/Johnson (1980) gehen insbesondere diskursanalytisch verfahrende Metaphernforscher davon aus, dass Metaphern in Abhängigkeit von sozio-pragmatischen und kulturellen Faktoren sowie zugleich von mentalen Prozessen zu beschreiben sind und nicht ausschließlich mentale Prozesse darstellen (vgl. Liebert 1992, Spieß 2014). Mittels Metaphern ist ein perspektivischer Zugriff auf Sachverhalte gegeben. Mit ihnen können durch den Projektionsprozess Aspekte eines Sachverhalts hervorgehoben (Highlighting) und andere dagegen ausgeblendet (Hiding) werden bzw. in den Hintergrund treten. Man kann diesbezüglich auch von Selektionsprozessen sprechen, die während des Metaphorisierungsprozesses erfolgen. Metaphern nehmen in Diskursen unterschiedliche Funktionen ein (vgl. Spieß/ Köpcke 2015). Neben der Funktion der Wissensvermittlung ist in bioethischen und medizinethischen Diskursen vor allem die Funktion der Perspektivierung von zentraler Relevanz. Die Diskursakteure verwenden Metaphern, um von ihrer Position möglichst anschaulich zu überzeugen, indem sie durch Metaphorisierungen Bedeutungen umstrittener Konzepte in ihrem Sinne fixieren bzw. neu etablieren. Metaphern erscheinen in formaler Hinsicht sehr unterschiedlich, so dass sie in Form von Einzellexemen, Mehrworteinheiten oder auch als satzübergreifende Strukturen auftreten können. Sie sind – wie auch lexikalische Einheiten – in den Kontext größerer Argumentationen verortet und nehmen häufig selbst Argumentationsfunktion ein, weil

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mit Metaphorisierungen implizite Schlussprozesse vollzogen werden (vgl. Pielenz 1993).

3.3.3 Argumentationsmuster Da öffentlich geführte bioethische und medizinethische Diskurse gekennzeichnet sind durch kontroverse Auseinandersetzungen, in denen es um prinzipielle Fragen des Menschseins, insbesondere um den Umgang mit menschlichem Leben am Lebensanfang und am Lebensende geht, spielen dementsprechend Argumentationshandlungen eine große Rolle. Im Hinblick auf die Überzeugung von der je eigenen Position bzw. im Hinblick auf die Erlangung von Deutungshoheit über einen Sachverhalt, führen die Diskursakteure Argumente an, die sich als musterhaft beschreiben lassen. Die in den Diskursen vorgebrachten Argumente manifestieren und sedimentieren sich als sprachliche Muster, die auf einer mittleren Abstraktionsebene inhaltlich fixiert und damit diskursspezifisch sind, dennoch aber einen so großen Abstraktionsgrad haben, dass sich unter einem Argumentationsmuster verschiedene sprachliche Realisierungen fassen lassen. Strukturleitend für Argumentationsmuster ist zum einen die Argumentationstheorie Toulmins (1958), zum anderen der Toposbegriff Bornscheuers (1976). Wengeler (2003) hat im Anschluss an Kienpointner (1992) und Bornscheuer (1976) den Argumentationsmusterbegriff für diskursanalytische Untersuchungen weiter entwickelt, stark geprägt und empirisch an verschiedenen Diskursen erprobt. Nach Toulmin sind Argumentationen aus folgenden Bestandteilen zusammengesetzt: These/Konklusion, Argumente/Fakten, Schlussregel. Bei der komplexen Argumentationshandlung wird eine strittige These/Konklusion durch Argumente/Fakten mithilfe einer Schlussregel in eine unstrittige These überführt, wobei die weiteren Faktoren der Ausnahmebedingungen oder der Stützung der Schlussregel in der Gesamtargumentation enthalten sein können (vgl. Toulmin 1958). Die tatsächlich realisierten Argumentationen in Diskursen, die Argumentationsmustern zugeordnet werden, müssen nicht immer alle Elemente des Musters enthalten. Sie müssen auch in formallogischer Hinsicht nicht stimmig bzw. wahr sein, vielmehr zählt im Hinblick auf alltagssprachliche Argumente, so Toulmin, das Kriterium der Plausibilität (vgl. hier auch Wengeler 2003). Schlüsselwörter, Metaphern oder bestimmte Konnektoren (vgl. Mattfeldt 2014) können Indizien für bestimmte Muster im Diskurs sein. Die hier genannten sprachlichen Ebenen stehen in einem gegenseitigen Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnis. Die Bedeutung lexikalischer Einheiten kann nur vor dem Hintergrund des gegebenen Argumentationskontextes und Wissensrahmens erschlossen werden, ebenso sind Metaphern auf den pragmatischen und kulturellen Kontext angewiesen.

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3.4 Methodische Zugänge und Kontextualität Gemeinsam ist den linguistischen Untersuchungen bioethischer und medizinethischer Diskurse, dass sie sprachtheoretisch in das Paradigma der Pragmalinguistik zu verorten sind und in diesem Paradigma semantische Fragestellungen erörtern. Grundannahme der verschiedenen Untersuchungen ist die Kontextualität sprachlicher Zeichen. Sprachliche Phänomene erscheinen demnach nie isoliert, sondern sind immer schon in größere Diskurskontexte eingebettet. Kontexte stellen dabei aber nichts Statisches dar, sondern sie unterliegen selbst permanenten Veränderungen, insofern die sprachlichen Phänomene Kontexte hervorbringen und damit an der Etablierung und Veränderung von Kontexten beteiligt sind. Im Rahmen gesprochensprachlicher Äußerungen spricht Auer (1986) von Kontextualisierungen. Welche unterschiedlichen Kontextebenen für Diskurse relevant sind und welches Kontextpotenzial lexikalische Einheiten aufweisen, hat Busse (2007) beschrieben. Damit hat er auch kognitive Aspekte um das durch Sprache hervorgebrachte Wissen, um Wissensebenen und um die Relevanz von Kontextwissen in den Bereich der Diskursbeschreibung integriert (vgl. Busse 2007). Im Hinblick auf unterschiedliche Kontextebenen und die damit verbundene Hervorbringung oder Aushandlung von Diskursbedeutungen spielen Frames eine wichtige Rolle, die nicht nur als kognitive Phänomene Geltung beanspruchen, sondern auch soziokulturell und pragmatisch verankert sind (vgl. Busse 2012b, vgl. Ziem 2008). Kontextuelle Faktoren können dabei mit unterschiedlichen Methoden eruiert werden: zum einen können sie durch qualitative Methoden, zum anderen durch quantitative Methoden erschlossen werden. In quantitativer Hinsicht kann ein corpus-based oder ein corpus-driven Verfahren (vgl. Bubenhofer 2009) angewendet werden. Sowohl quantitative wie qualitative methodische Zugänge werden in den diskurslinguistischen Studien zu bioethischen und medizinethischen Diskursen praktiziert, und beide Methoden arbeiten mit Korpora. Während qualitative, korpusbasierte Verfahren mittlerweile gut und weit entwickelt sowie empirisch auch in verschiedenen anderen thematischen Zusammenhängen erprobt sind (vgl. z. B. Domasch 2007, Faulstich 2002, Spitzmüller/Warnke 2011, Spieß 2011a, 2012a und b), werden zunehmend quantitative Methoden zur Analyse von Diskursen zum Einsatz gebracht (Müller 2012b, Felder/Stegmeier 2012a und b, Felder/Luth/Vogel i. V.) und mit qualitativen Analysen verbunden.

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4 Exemplarische Darstellung bioethischer Diskurse 4.1 Der Diskurs um Sterbehilfe Der Sterbehilfediskurs ist ein Diskurs, der aus verschiedenen Teildiskursen besteht und in verschiedenen gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen stattfindet. Von zentraler Bedeutung ist die Verhandlung der umstrittenen Thematik im Raum der Öffentlichkeit, auf den sich die vorliegenden Untersuchungen alle mehr oder weniger stark beziehen. Der Diskurs lässt sich bezüglich der an ihm partizipierenden Akteure grob in Befürworter und Gegner der (aktiven) Sterbehilfe strukturieren (vgl. Pohl 2012). Der Sterbehilfediskurs wird zu den medizinethischen Diskursen gezählt, da es in ihm um Handlungsmöglichkeiten am Ende des Lebens, um den medizinischen Umgang mit dem Lebensende in Situationen schwerer Krankheit oder eines absehbaren Todes geht, also um ethische Grenzsituationen im medizinischen Bereich und die rechtlich erlaubten und nicht erlaubten Handlungsmöglichkeiten von Ärzten. Der Sachverhalt Sterbehilfe ist in Deutschland dahingehend rechtlich geregelt, dass aktive Sterbehilfe nicht geleistet werden darf, passive aber schon. Zur passiven Sterbehilfe zählt z. B. das Unterlassen lebensverlängernder Maßnahmen, während durch aktive Sterbehilfe gezielt der Tod herbeigeführt wird. Darin unterscheidet sich die rechtliche Situation Deutschlands von anderen Ländern, u. a. von der Situation in der Schweiz oder in den Niederlanden. Die sprachlichen Differenzierungen in aktive und passive Sterbehilfe geben jedoch Anlass, öffentlich und teilöffentlich um Konzepte, Bezeichnungen und Bedeutungen innerhalb des Diskurses zu streiten und je nach Interesse der Diskursakteure semantisch zu fixieren. Dementsprechend existieren zahlreiche unterschiedliche Bedeutungen und Bezeichnungen, um die im Diskurs gestritten wird und die als agonale Zentren des Diskurses aufzufassen sind. Bezüglich der Arten von Sterbehilfe wird unterschieden in aktive, indirekte und passive Sterbehilfe sowie Beihilfe zum Suizid (vgl. Pohl 2012, vgl. Felder/Luth/Vogel i. V.). Am Diskurs teilnehmende Akteure (mit je unterschiedlichen Meinungen zum Thema) sind Juristen, Ärzte, Ethiker, Betroffene (zumeist Kranke), Angehörige der Betroffenen, Politiker, Theologen und Philosophen. Bereits die Anzahl ethischer, medizinischer und juristischer Lexik, mittels derer die Teilbereiche des Komplexes Sterbehilfe beschrieben werden, ist ausgesprochen groß und wird – wie Pohl konstatiert – „von sozialen Gruppen determiniert“ (Pohl 2012: 177). Mit dem Sterbehilfediskurs haben sich Pohl (2012), Müller (2012), Domasch (2012), Felder/Stegmeier (2012a), Felder/Luth/Vogel (i. V.) und Mattfeldt (2014) genauer auseinandergesetzt, wobei die verschiedenen Untersuchungen unterschiedliche sprachliche Phänomene und sprachliche Ebenen in den Blick nehmen. Die Untersuchungen legen auch je spezifische Diskursausschnitte zugrunde, so dass sie zugleich auch unterschiedliche Diskursbereiche fokussieren. Anhand der Bandbreite

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untersuchter sprachlicher Phänomene, auf die hier freilich nur punktuell und ansatzweise eingegangen werden kann, zeigt sich die Komplexität des Diskurses. Indem Domasch (2012) die Verwendung von Bezeichnungen für den Akt der Sterbehilfe in programmatischen Papieren des Nationalen Ethikrats (=NER) beschreibt und diskursakteursspezifische (und damit auch textsortenspezifische) Differenzierungen in den Bezeichnungen und infolgedessen auch in den Bedeutungen durch die Akteure feststellt, macht sie auf Konfliktfelder des Diskurses aufmerksam. Mattfeldt (2014) dagegen untersucht grammatische Konnektoren und deren Funktionalität im Hinblick auf Diskursstrategien durch Diskursakteure. Sie konstatiert, dass Konnektoren Hinweise auf agonale Zentren geben können (vgl. Mattfeldt 2014). Müller (2012a, b) befasst sich im Kontext des Sterbehilfediskurses mit der semantischen Spezifizierung von Hochwertwörtern wie Freiheit, Wille und Verantwortung. Diese Ausdrücke sind in allen genannten Bioethikdiskursen zentral, markieren aber „konzeptuelle Knotenpunkte der Sterbehilfedebatte, da sie Zentralbegriffe des theologischen, juristischen, philosophischen und medizinethischen Fachdiskurses darstellen“ (Müller 2012b: 119), die ebenso im öffentlichen Diskurs eine zentrale Rolle spielen. Pohl (2012) geht auf verschiedene im Diskurs um Sterbehilfe gängige Argumentationstopoi ein und analysiert deren akteursspezifische Verwendungsweisen. Dabei untersucht sie auch den Bezug zu verstehensrelevanten Wissensrahmen, den die Akteure herstellen, und verbindet auf diese Weise die Topos- mit der Frameanalyse. Ausgangspunkt dieser Verbindung ist die Annahme, dass Topoi nicht ohne Anbindung an kognitiv-semantische Wissensrepräsentationen verstanden und auch beschrieben werden können, da Argumentationsmuster als Teile versprachlichter Wissensrepräsentationen aufgefasst werden müssen. Topoi und die in ihnen enthaltenen Lexeme oder lexikalischen Einheiten stellen immer schon Bezüge zu Kontexten her, sie sind Evokationspunkte für Frames und schließlich für die Bedeutung, die sie erst im Gebrauch herstellen und die durch Bedeutungskontexte hervorgerufen wird. Die Akteure im öffentlichen Diskurs werden von Pohl in Befürworter und Gegner differenziert, die z. T. unterschiedliche Topoi verwenden, aber auch auf gleiche Topoi, jedoch mit anderer Zielsetzung, Bezug nehmen. Zu den typischen Topoi pro aktive Sterbehilfe zählt der Selbstbestimmungstopos (Weil Menschen mündige Lebewesen sind, sollten sie auch über ihr Sterben selbst bestimmen), der Angsttopos (Weil die Menschen Angst vor einem negativ bewerteten Sachverhalt haben, sollten Maßnahmen ergriffen werden, die den negativ bewerteten Sachverhalt ausschalten und dadurch den Menschen die Angst nehmen), der Humanitätstopos (Weil eine Entscheidung/Handlung oder deren Folgen mit den Menschenrechten übereinstimmen/ihnen entgegenstehen bzw. aus humanitären Überlegungen geboten/abzulehnen sind, ist die Entscheidung/Handlung zu befürworten/abzulehnen bzw. auszuführen/nicht auszuführen) oder der Realitätstopos (Weil die Wirklichkeit so ist, wie sie ist, sollte eine bestimmte Handlung/Entscheidung ausgeführt/getroffen werden). Zu den typischen Topoi contra aktive Sterbehilfe zählt der Unterstellungstopos (Weil das Verlangen nach aktiver Sterbehilfe nicht valide ist, ist aktive Sterbehilfe ethisch und juristisch unzulässig), der Humanitätstopos (s. o.), der Missbrauchstopos

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(Weil ein Recht o. Ä. missbraucht wird, sollte das Recht geändert werden bzw. es sollten bestimmte Maßnahmen gegen den Missbrauch durchgeführt werden) oder der Gesetzestopos (Weil ein Gesetz oder eine anderweitig kodifizierte Norm oder eine gerichtliche Entscheidung eine bestimmte Handlung vorschreibt bzw. nahelegt/verbietet, sollte diese ausgeführt/nicht ausgeführt werden) (Pohl 2012: 185 f., die sich in der Ausformulierung der Topoi aber an Wengeler 2003 orientiert bzw. diese z. T. übernimmt). Deutlich wird hierbei, dass Topoi immer schon durch zentrale Lexeme konstituiert werden, die als Schlüsselwörter Geltung beanspruchen und als Indizes für bestimmte Argumentationsmuster fungieren können. Damit geben sie auch Hinweise auf die jeweils spezifische Perspektivität, die ihnen innewohnt. Felder/Stegmeier (2012a und b) beziehen sich im Rahmen diskurstheoretischer Auseinandersetzungen auf den Diskurs um Sterbehilfe und zeigen daran auf, wie sich Diskurse als Wissensformationen generell wechselseitig beeinflussen und wie konfligierende Bewertungen von Sachverhalten innerhalb von Diskursen auftauchen, erscheinen und behandelt bzw. verhandelt werden, wie es also dazu kommt, dass bestimmte konfligierende Bewertungen als handlungsleitende Konzepte von Diskursen erscheinen und ihre Dominanz im Diskurs erlangen. Dabei verfahren sie korpusbasiert und analysieren sowohl Diskursteilnehmer wie die den Diskurs konstituierenden Subthemen des Hauptthemas Sterbehilfe. Insbesondere gehen sie auf die Mehrworteinheiten menschenwürdig sterben vs. menschenwürdig leben bis zuletzt ein sowie auf die Nominalphrase menschenwürdiges Sterben und zeigen daran die unterschiedliche Bewertung von Sachverhalten auf. Dabei arbeiten sie heraus, dass semantische Kämpfe sowohl auf der Bezeichnungsebene durch die beiden Phrasen menschenwürdig sterben und menschenwürdig leben ausgetragen werden, die unterschiedlichen Perspektiven aber auch in der Bedeutungsnuancierung von menschenwürdig Sterben je nach Diskursakteur unterschiedlich zur Geltung gebracht werden. Die untersuchten Teilbereiche des Sterbehilfediskurses zeigen, dass sich der Diskurs auf zwei semantische Grundfiguren zuspitzen lässt, die Felder/Stegmeier (2012a, b) als übergeordnete agonale Zentren beschreiben, die aber auch als weltanschauliche Hintergründe bzw. Voraussetzungen gefasst werden können: „’Wertorientierung an der Möglichkeit, individuelles Leiden zu mindern’“ auf der einen Seite vs. „’Wertorientierung an christlich-abendländischer Tradition’“ auf der anderen Seite. Der Streit um diese beiden Perspektiven schlägt sich im Pro und Contra aktive Sterbehilfe nieder.

4.2 Der Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung Der Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung stellt einen weiteren Bereich linguistisch erforschter Bioethik- und Medizinethikdiskurse dar. Wie für jeden Diskurs existieren für den Stammzelldiskurs Vorgängerdiskurse, zu denen Bezüge hergestellt werden. So zeigen die Ergebnisse der untersuchten Diskurse um

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PID, Abtreibung und Stammzellforschung, dass in diesen Diskursen die Konzepte Embryo und Lebensbeginn umstritten sind und sowohl auf der Bedeutungsebene ausdifferenziert werden als auch auf der Bezeichnungsebene den Sachverhalt durch unterschiedliche Ausdrucksweisen benennen. In den Diskursen um PID oder Stammzellforschung werden jeweils auch Bezüge zur Regelung der Abtreibung und damit zum Abtreibungsdiskurs hergestellt. Die Diskursakteure nehmen nicht selten in ihren Argumentationen auf die Regelung des § 218 und den damit verbundenen Diskurs um die Konzeptualisierung von menschlichem Leben, Lebensbeginn oder Embryo Bezug, was im Diskurs um humane embryonale Stammzellforschung u. a. im Analogietopos, mit dem die Situation der Abtreibung mit der der Stammzellforschung analog gesetzt wird, zur Geltung kommt. Gegenstand des Diskurses ist die Verhandlung der 1998 durch Thomson et al. entwickelten technischen Möglichkeit, aus menschlichen Embryonen, Stammzellen (und infolgedessen ganze Stammzelllinien) zu entwickeln mit dem Ziel, an und mit diesen zu forschen. Von Anfang an wurden mit dieser Technik seitens der Naturwissenschaftler Hoffnungen verbunden, schwere, bislang nicht heilbare Krankheiten therapieren zu können. Problematisch an dieser neuen Technik war zum Zeitpunkt ihrer Entwicklung, dass menschliche Embryonen für die Etablierung von Stammzelllinien „verbraucht“ bzw. „zerstört“ werden mussten. Dieser Umstand bewirkte, dass die Etablierung von Stammzellen/Stammzelllinien in Deutschland aufgrund des Embryonenschutzgesetzes nicht zugelassen ist. Weil u. a. der Neuropathologe Oliver Brüstle einen Forschungsantrag bei der DFG einreichte, in dem er seine Absicht formulierte, an importierten humanen embryonalen Stammzellen zu forschen und damit zugleich auf eine Gesetzeslücke aufmerksam machte, da das Embryonenschutzgesetz den Import von Stammzellen nicht regelte, entspannte sich ein ausgesprochen kontrovers geführter öffentlich-politischer Diskurs, der durch zwei Bundestagsdebatten begleitet wurde. In der Bundestagsdebatte vom 31.1.2002 wurde dann für einen Kompromissantrag, der für den Import unter bestimmten strengen Voraussetzungen stand, gestimmt. Im Juli 2002 trat das Stammzellgesetz in Kraft, das im Jahre 2008 bereits novelliert wurde. Der Diskurs um Stammzellforschung ist linguistisch durch Faulstich (2002), Nerlich (2005), Busse (2012a), Musolff (2012), Döring/Zinken (2005) und vor allem durch Spieß (2011a und b, 2012a, b, 2013) erforscht. In den Einzelanalysen widmen sich die AutorInnen verschiedenen Diskursausschnitten, z. B. gehen die AutorInnen u. a. der Verwendung der Metapher von der Überschreitung des Rubikons (Nerlich 2005, Spieß 2011a) nach und stellen dabei heraus, dass die Metapher je nach Diskursakteur unterschiedliche semantische Fixierungen erfährt, des Weiteren wird die Verwendung des Begriffes Leben im Umfeld der Berliner Rede Johannes Raus (Faulstich 2002, Spieß 2013) untersucht, Busse (2012a) stellt heraus, inwiefern sich juristischer Fachdiskurs und öffentlicher Diskurs gegenseitig sprachlich beeinflussen. Mit Spieß (2011a) liegt eine ausführliche Untersuchung des bioethischen Diskurses um humane embryonale Stammzellforschung für den Diskurszeitraum 1998 bis 2002 vor. In dieser

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Arbeit hat sie den Diskurs im Hinblick auf verwendete Lexik, Metaphorik und Argumentationsmuster untersucht. Dabei stellte sie fest, dass bestimmte Ausdrücke als Schlüsselwörter fungieren (Embryo, Leben, Lebensbeginn, Menschenwürde, Stammzelle, Therapeutisches Klonen), verschiedene Metaphern zentral sind (u. a. WegMetaphorik, Grenz-Metaphorik, Rubikon-Metapher als besondere Ausprägung der Weg-Metaphorik, Industrie- und Waren-Metaphorik, Naturkatastrophen-Metaphorik, Gebäude- und Bauwerk-Metaphorik, Kriegs-Metaphorik sowie die Balance-Metaphorik) und bestimmte Argumentationsmuster wiederkehrend auftauchen und den Diskurs strukturieren (besonders prominent vertreten sind Nutzen/Konsequenzenund Prinzipientopoi, insbesondere – der Gefahren-Topos [Weil eine bestimmte Handlung/eine politische Entscheidung oder deren Unterlassung bestimmte gefährliche Folgen hat, sollte sie nicht ausgeführt werden/ist sie abzulehnen], – der Instrumentalisierungstopos [Weil der Mensch nicht bloß als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck an sich selbst zu begreifen ist, dürfen Handlungen, die ihn bloß als Mittel behandeln, nicht ausgeführt werden/muss der Mensch entsprechend behandelt werden], – der Realitätstopos [s. o.], – der Topos des Helfens und Heilens [Weil eine Handlung/ein Verfahren vielfältige Heilungschancen in Aussicht stellt, sollte die Handlung/das Verfahren befürwortet bzw. erlaubt werden], – der Topos vom ökonomischen Nutzen [Weil eine Handlung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten einen/keinen Nutzen bzw. Schaden erbringt, sollte sie ausgeführt/ nicht ausgeführt werden] oder – der Speziestopos [Weil der Embryo von der Befruchtung an der Spezies Mensch angehört, muss er auch als solcher von Anfang an die gleichen Grundrechte zugebilligt bekommen wie der geborene Mensch], – der Kontinuitätstopos [Weil der frühe Embryo sich kontinuierlich zu einem kompletten Menschen mit Würde entwickelt, müssen frühe Embryonen auch als solche behandelt werden], – der Identitätstopos [Weil der erwachsene Mensch mit sich als Embryo identisch ist, müssen dem Embryo auch fundamentale Schutzrechte zuerkannt werden] und der – Potenzialitätstopos [Weil der frühe Embryo das Potenzial hat, sich zu einem ganzen Menschen zu entwickeln, muss er auch als solcher behandelt werden] (alle aus: Spieß 2011a). Alle drei Ebenen strukturieren den Diskurs, sie hängen voneinander ab, konstituieren sich gegenseitig und laufen in bestimmten Diskursfunktionen zusammen, die sich in vier funktionale Diskurs- bzw. Handlungsstrategien differenzieren lassen: Aufbau von Bedrohungsszenarien, Schaffen von Auswegen, Betonen von Verantwortung und Heraufbeschwören von Handlungszwängen. Der Diskurs, so Spieß, lässt sich auf spezifische semantische Grundfiguren zuspitzen, die im Diskurs einander gegenüber

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stehen und die sich auf zwei unterschiedliche weltanschauliche Voraussetzungen als handlungsleitende Kategorien zurückführen lassen: auf Ansätze konsequenzialistischer Ethik und auf Ansätze deontologischer Ethik. Diese beiden handlungsleitenden Kategorien stehen im Hintergrund der von den Diskursakteuren verwendeten sprachlichen Begründungsmuster. Diejenigen Akteure, die sich für die Forschung mit und an humanen embryonalen Stammzellen aussprechen, argumentieren vor dem Hintergrund einer konsequenzialistischen Ethik (z. B. Utilitarismus) und verwenden z. B. den Topos des Helfens und Heilens oder den Topos vom ökonomischen Nutzen. Diejenigen, die sich gegen Stammzellforschung aussprechen, argumentieren vor dem Hintergrund einer prinzipiengeleiteten Ethik (z. B. der Pflichtenethik Kants) und verwenden z. B. den Instrumentalisierungstopos oder die Spezies,- Kontinuitäts-, Identitäts-, Potenzialitäts-Topoi. Schlüsselwörter wie z. B. Menschenwürde werden in ihrer Bedeutungsstruktur den jeweiligen Argumentationskontexten angepasst (vgl. Spieß 2011a).

5 Fazit und Perspektiven Bioethische und medizinethische Diskurse stellen wichtige öffentlich-politische Diskurse an der Schnittstelle verschiedener Disziplinen dar, in denen um Meinungen gerungen, um Deutungshoheiten und um Überzeugungen gekämpft wird. Die Konflikthaftigkeit der Diskurse, die in ebenjenen unterschiedlichen Weltanschauungen und Wissensformationen gründen, wird dementsprechend sprachlich zum Ausdruck gebracht. Mit der Verwendung je spezifischer Ausdrücke werden bereits Urteile manifest. Sprache stellt dementsprechend das zentrale Symbolsystem dar, durch das die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber dem Sachverhalt, verschiedene Bewertungen des Sachverhalts und damit verbundene Handlungsoptionen, unterschiedliche Weltanschauungen, unterschiedliche Konzeptualisierungen zur Geltung kommen und als agonale Zentren der Diskurse beschrieben werden können. Die vorliegenden Untersuchungen der Diskurse zeigen aber auch, dass agonale Zentren, Argumentationsmuster und Schlüsselwörter diskursübergreifend verwendet werden. So ist ein Kennzeichen der untersuchten Diskurse die Vernetzung mit anderen Diskursen. Deutlich wird dies dadurch, dass semantische Kämpfe auch diskursübergreifend ausgetragen werden, ähnliche Argumentationsmuster zur Geltung gebracht werden oder gleiche bzw. ähnliche Metaphern in verschiedenen Diskursen Verwendung finden. Die diskurslinguistische Forschung steht hier erst am Anfang. Perspektivisch wäre es interessant und wichtig, andere Zeichensysteme (wie z. B. Bilder, Grafiken und Diagramme) in die Analysen mit einzubeziehen oder aber auch verschiedene bioethische und medizinethische Diskurse zu vergleichen.

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6 Literatur Ach, Johann S./Runtenberg, Christa (2002): Bioethik. Disziplin und Diskurs. Zur Selbstaufklärung angewandter Ethik. Mit einem Vorwort von Kurt Bayertz, Frankfurt am Main/New York. Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, 22–47. Becker, Kurt, W. (2002): Anmerkungen zur Geschichte der anatomischen Sektion. Text zum Katalog der Ausstellung „KunstOrt Anatomie – Künstler auf Visite“. Homburg/Saar. Berger, Peter/Thomas Luckmann (202004): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Frankfurt am Main. Biggers, John D. (1990): Arbitrary partitions of prenatal life. In: Human Reproduction Vol. 5.1, 1–6. Birnbacher, Dieter (2004): Menschenwürde – abwägbar oder unabwägbar? In: Kettner, Matthias (Hg.): Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt am Main, 249–271. Böke, Karin (1991): Vom „werdenden Leben“ zum „ungeborenen Kind“. Redestrategien in der Diskussion um die Reform des § 218. In: Liedtke, Frank u. a. (Hg.): Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik, Opladen, 205–219. Bornscheuer, Lothar (1976): Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt. Bubenhofer, Noah (2009): Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Berlin/New York. Busse, Dietrich (2007): Diskurslinguistik als Kontextualisierung – Sprachwissenschaftliche Überlegungen zur Analyse gesellschaftlichen Wissens. In: Warnke, Ingo (Hg.): Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Berlin/New York, 81–105. Busse, Dietrich: (2012a): Juristische Sprache und öffentlicher Diskurs – Diskursive Semantik im Spannungsfeld divergenter Wissenssysteme am Beispiel des Regelungsdiskurses zu Grenzen der Biotechnologie. In: Spieß, Constanze (Hg.): Sprachstrategien und Kommunikationsbarrieren. Zur Rolle und Funktion von Sprache in bioethischen Diskursen. Bremen, 93–111. Busse, Dietrich (2012b): Frame-Semantik. Ein Kompendium. Berlin/Boston. Domasch, Silke (2007): Biomedizin als sprachliche Kontroverse. Die Thematisierung von Sprache im öffentlichen Diskurs zur Gendiagnostik, Berlin/New York. Domasch, Silke (2012): Versuche einer Neudefinition – Sprachkritische Reflexionen in den Texten des Nationalen Ethikrates. In: Spieß, Constanze (Hg.): Sprachstrategien und Kommunikationsbarrieren. Zur Rolle und Funktion von Sprache in bioethischen Diskursen. Bremen, 139–158. Döring, Martin/Jörg Zinken (2005): The cultural crafting of embryonic stem cells: the metaphorical schematisation of stem cell research in the Polish and French press. In: Metaphorik.de 8, 6–33. Online unter http://www.metaphorik.de/sites/www.metaphorik.de/files/journalpdf/08_2005_doeringzinken.pdf (letzter Zugriff am 31.5.14) Düwell, Marcus/Klaus Steigleder (2003a): Bioethik – Zu Geschichte, Bedeutung und Aufgaben. In: Düwell, Marcus/Klaus Steigleder (Hg.): Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt am Main, 12–37. Faulstich, Katja (2002): „Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon“. Diskursanalytische Untersuchung des Begriffs Leben im Umfeld der 2. Berliner Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau. In: Adamzik, Kirsten (Hg.): Texte – Diskurse – Interaktionsrollen. Analysen zur Kommunikation im öffentlichen Raum, Tübingen, 19–40. Felder, Ekkehard (Hg.) (2006): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin/New York. Felder, Ekkehard/Janine Luth/Friedemann Vogel (i. V.): Patientenautonomie und Lebensschutz. Eine empirische Studie zu agonalen Zentren im Rechtsdiskurs über Sterbehilfe.

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Uta Buchmann

25. Markenkommunikation in Medizin und Gesundheitswesen Abstract: Marken haben eine wichtige Navigations-, Orientierungs- und Informationsfunktion. Sie erwecken Vertrauen, erlauben eine persönliche Identifikation und beeinflussen Entscheidungen zum Kauf- bzw. zur Inanspruchnahmen von Produkten und Dienstleistungen maßgeblich. Dabei besteht ein deutlicher Widerspruch in der Allgegenwärtigkeit von Gesundheitsthemen in den Medien und dem, was Patienten an Schwierigkeiten erleben, wenn sie auf der Suche nach detaillierten Informationen zu bestimmten Erkrankungen oder Behandlungsmöglichkeiten für ihr individuelles Gesundheitsproblem sind. Die angebotenen Informationsquellen sind komplex und undurchschaubar. Schaut man sich die Kommunikationsstrategien und Inhalte der Markenkommunikation im Gesundheitswesen an, so steht das, was Patienten und Angehörige berichten, sehr häufig in einem eklatanten Widerspruch zu dem, was die Marke verspricht. Der folgende Beitrag geht der Frage nach, wie Dienstleistungsmarken in der Gesundheitsbranche geführt werden müssen, um einerseits ökonomisch erfolgreich auf dem Gesundheitsmarkt zu agieren, andererseits aber auch eine sinnvolle Orientierungsfunktion für Patienten und Nutzer zu gewährleisten. 1 2 3 4

Markenbegriff und Markenfunktion Markenentstehung und Markenführung Unternehmenskultur, Markenidentität und Internal Branding Chancen und Möglichkeiten eines neuen Markenverständnisses für Unternehmen im Gesundheitswesen 5 Literatur

1 Markenbegriff und Markenfunktion 1.1 Definition und Relevanz in Medizin und Gesundheitswesen Eine Marke ist ein bei der Zielgruppe verankertes unverwechselbares Vorstellungsbild von einem Produkt oder einer Dienstleistung und besteht aus der Summe von Wissen, Erfahrungen, Emotionen und Assoziationen. Eine Marke ist ein Name, Ausdruck, Symbol, Zeichen oder eine Kombination davon. Sie dient dazu, das Produkt- oder Leistungsangebot eines Anbieters zu kennzeichnen und von der Konkurrenz abzuheben. Nach Meffert (vgl. 2000) ist die Marke als ein in der Psyche des Konsumenten und sonstiger Bezugsgruppen der Marke fest verankertes, unverwechselbares Vor-

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stellungsbild von einem Produkt oder einer Dienstleistung definiert. Die zu Grunde liegende Leistung wird dabei in einem möglichst großen Absatzraum ̧über einen längeren Zeitraum in gleichartigem Auftritt und in gleich bleibender oder verbesserter Qualität angeboten (vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, 6) Eine Marke steht für vermutete bzw. erwiesene Qualität und signalisiert umfassende, herausragende Kompetenz auf einem Fachgebiet. Mit einer Marke wird Vertrauen in eine Leistung assoziiert, das über wiederholt positive Erlebnisse mit dieser Leistung entsteht. Dieser Vertrauensaufbau benötigt Zeit und jeder Vertrauensbruch schwächt die Marke. Aus diesem Grund beinhaltet erfolgreiche Markenführung die Verantwortung für einen sensiblen sozialen Vorgang, der auf Langfristigkeit angelegt ist und ein echtes bis ins Detail kommuniziertes Leistungsversprechen enthält (vgl. Zschiesche/Errichiello 2013). Es gibt bisher wenige echte Marken im Gesundheitswesen, obwohl Dienstleister dieser Branche unter wettbewerblichen Rahmenbedingungen ihre Leistungen anbieten. Sie konkurrieren um Patienten, um Ressourcen und um Personal. Sie müssen um Vertrauen werben für eine Dienstleistung, bei der es um das wichtigste Gut der Menschen geht: die Gesundheit und häufig damit verbunden auch um Leben und Tod. Jeden Tag konsumieren Menschen Produkte und nehmen Dienstleistungen in Anspruch. Sie entscheiden sich dabei zwischen einer Vielzahl von Alternativen, Möglichkeiten und Marken. In der Regel souverän und freiwillig wählen sie entsprechend ihrer Vorlieben und wirtschaftlichen Möglichkeiten aus der Fülle von Produkten das für ihre Bedürfnisse richtige aus. Im Zusammenhang mit der Gesundheit eines Menschen ist es mit dieser Entscheidungssouveränität nicht weit her. Krank sein bedeutet, auf sofortige Hilfe angewiesen zu sein. Schmerzen, ein Unfall, eine ärztliche Diagnose, all diese Ereignisse verlangen in der Regel schnelle Entscheidungen, bei denen Fehler lebensbedrohlich sein können. Sehr häufig überlassen die Betroffenen den sogenannten Experten diese Entscheidungen. Dabei wäre es in einer solchen Situation durchaus hilfreich, auf eine bekannte Marke, zu der man unbedingtes Vertrauen hat, zurückgreifen zu können. Eine Marke, die die Intransparenz und Komplexität des Gesundheitswesens und vor allem die Angst reduziert. Medizinthemen sind in Medien allgegenwärtig und bestimmen viele Gespräche im Alltag. Es gibt unzählige Portale im Internet, in denen Menschen ihre Erfahrungen mit medizinischen und pflegerischen Dienstleistungen teilen. Wissensportale übersetzen medizinische Diagnosen und jedes Krankenhaus kommuniziert über die eigene Webseite und immer häufiger auch über soziale Netzwerke seine Leistungen und Behandlungsangebote. Dennoch, wenn ein Patient vor einem geplanten Krankenhausaufenthalt wichtige Informationen über die Qualität des Leistungsangebotes der Krankenhäuser in der Region einholen möchte, um sich eine Meinung über die Behandlungsmöglichkeiten und medizinische Qualität zu bilden, so ist dies aufwendig und verwirrend. Bisher sind auch die Qualitätsberichte der Krankenhäuser weit davon entfernt, die nötige Transparenz zu gewährleisten. Patienten richten sich heute meist nach der Empfehlung ihres niedergelassenen Arztes, recherchieren selber im

Markenkommunikation in Medizin und Gesundheitswesen 

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Internet, lassen Presse- und Medienberichte auf sich wirken und hören letztlich darauf, was Freunde und Bekannte raten.

1.2 Spannungsfeld Medizin- und Gesundheitsmarken Die Markendefinition wie sie am Beginn dieses Abschnittes dargestellt wurde, ist allgemeingültig für Konsumgütermarken, Gebrauchsgütermarken, Investitionsgütermarken und Dienstleistungsmarken. Für alle diese Marken lassen sich sehr erfolgreiche Beispiele in der Gesundheitsbranche finden. Dabei gehören Arzneimittel wie Aspirin (Medizin deines Lebens!) zu den Konsumgütermarken, Heil- und Hilfsmittel wie Hansaplast (90 Jahre Tradition und Innovation) zu den Gebrauchsgütern, Marken der Medizintechnik wie Storz (Willkommen in der Welt der Endoskopie) zu den Investitionsgütern und Krankenhäuser wie z. B. die Charité (Fürsorglich, wissenschaftlich, unternehmerisch) oder die Helios Kliniken (Jeder Moment ist Medizin) zu den Dienstleistungsmarken. Hierzu gehören natürlich auch Verbände, gesetzliche und private Krankenversicherungen sowie Ambulante Pflegedienste, medizinische Versorgungszentren und Arztpraxen. Alle diese Player bemühen sich auf dem Gesundheitsmarkt mehr oder weniger erfolgreich um Markenbildung. Tatsächlich gibt es in Deutschland einige recht bekannte Krankenhäuser und Krankenhausketten. Der Bekanntheitsgrad ist allerdings nicht mit einer Marke zu verwechseln. Krankenhäuser werden bisher nicht als hochwertige Marken wahrgenommen, denn Marken gewinnen ihren Wert erst dadurch, dass viele andere Menschen gut über sie denken, über sie reden und unbedingtes Vertrauen in deren Leistungsfähigkeit haben. Das Erfahrungswissen von Menschen zu Krankenhausaufenthalten oder Medienberichten über Kliniken ist von positiven, aber auch von vielen negativen eigenen Erfahrungen oder Erfahrungen, die Dritte gemacht haben bzw. die man vom Hörensagen kennt, geprägt. Auf eine positive Markenbildung wirkt sich jedoch negative Mundpropaganda besonders schlecht aus, überall auf der Welt, egal in welcher Branche (vgl. Lüthy/Buchmann 2009). Assoziationen zu Krankenhäusern sind heterogen und ggf. durch die Assoziationsfelder Krankheit, Tod, Schmerzen, Verlust der Intimsphäre und durch das Gefühl, ausgeliefert zu sein, eher negativ geprägt. Krankenhausleistungen sind in der Regel veranlasst durch gesundheits- und/oder lebensbedrohliche Gefährdungen von Menschen und beinhalten meist auch Risiken durch Eingriffe, Narkosen und Komplikationen. Krankenhäuser stehen also vor der anspruchsvollen Aufgabe, trotz dieser negativen Assoziationen und den vagen inneren Bildern der Menschen eine positive Marke aufzubauen. Genau darin besteht die Aufgabe der dienstleistenden Organisationen im Gesundheitsbereich allgemein, aber besonders herausfordernd ist dies für Krankenhäuser. Eine Marke zu sein, bedeutet eine relevante Wertsteigerung des Unternehmens. Eine Krankenhausmarke erhöht die Reputation bei potentiellen Patienten und exter-

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nen Kunden wie niedergelassenen Ärzten und potentiellen Mitarbeitern. Die Marke stärkt auch die Position des Unternehmens beispielweise bei Fusionen oder Verkäufen. Durch die Konzentration des Krankenhausmarktes in Deutschland ist gerade dieser Aspekt besonders relevant. Es gibt nach wie vor zu viele Kliniken bzw. Krankenhausbetten in Deutschland und Experten gehen davon aus, dass sich die Krankenhauszahl weiter reduzieren wird. Wenig spezialisierte Kliniken vor allem in Ballungsgebieten werden davon besonders betroffen sein. Ein klares Profil mit hoher Anziehungskraft auf Patienten und damit guten Auslastungszahlen schützen die Unternehmen vor dieser Marktbereinigung. Auf der anderen Seite steigt in einer alternden Gesellschaft die Zahl der Menschen mit planbaren Eingriffen. Diese Patienten lassen sich künftig Zeit mit der Entscheidung, in welcher Klinik sie sich behandeln lassen und suchen nach entsprechenden Informationen. Passiv im Internet oder aktiv beim behandelnden Arzt, mit Freunden und Verwandten oder in den entsprechenden Internetforen. Dabei geht es vor allem um das Austauschen von Erfahrungen.

1.3 Markenversprechen im Gesundheitswesen Gerade chronisch kranke Menschen sind häufig auf die Versorgung in einem Krankenhaus angewiesen und haben dann einen hohen Informationsbedarf. Welche Bedeutung haben nun die unterschiedlichen Informationsquellen für die Patienten? Geuter und Weber (2009) fanden heraus, dass Patienten weniger rein rationale Sachinformation im Rahmen des Entscheidungsfindungsprozesses für ein Krankenhaus wünschen, so dass beispielsweise die Qualitätsberichte der Krankenhäuser zur Informationsbeschaffung wenig geeignet erscheinen. Sie benötigen vielmehr individuell und emotional anschlussfähige, auf professionelle Akteure bezogene Informationen, die sie vorwiegend aus ihrem sozialen Netz oder von ihrem Hausarzt beziehen, und die ihnen ermöglichen, Vertrauen zu entwickeln. Vertrauen zu den handelnden Akteuren im Krankenhaus stellt eine zentrale, die Wahl beeinflussende Determinante im Entscheidungsfindungsprozess der Patienten dar. Informationen aus dem Internet spielen dabei eine eher untergeordnete Rolle. Das Internet bietet den Patienten lediglich eine erste Orientierung oder ergänzende Informationen. Zwar können Patienten die Qualität der medizinischen Leistung eher schlecht beurteilen, aber sie können sie dennoch bewerten. Sie fällen ihr Urteil häufig anhand der Zeit, die sich der betreuende Arzt genommen hat. War das Pflegepersonal empathisch, wie lange musste man warten? Hat das Essen geschmeckt und war das Zimmer sauber? All dies sind in den Augen der Patienten Image- und Marken bildende Faktoren eines Krankenhauses. Was sind also die zukünftigen Aufgaben von Krankenhäusern? Wahrscheinlich werden technologische Neuerungen zu Fortschritten im Wissensmanagement, in der Logistik und in der Administration führen. Aber die Kerntätigkeit der Behandlung und

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Betreuung von Patienten hat einen eher kommunikativen und sozialen Charakter. Wenn Krankenhäuser effizienter werden möchten, so muss daher eine Effizienzsteigerung primär beim alltäglichen Organisieren und Führen ansetzen. Die Zukunft von Krankenhäusern wird wohl nicht nur im Zuwachs medizinischen Wissens, sondern vor allem auch in einer Weiterentwicklung interaktionaler und sozialer Fähigkeiten liegen (vgl. Rüegg-Stürm 2007).

2 Markenentstehung und Markenführung 2.1 Das Management von Dienstleistungsmarken Dienstleistungen allgemein und vor allem im Gesundheitswesen besitzen Merkmale, die ein besonderes Markenmanagement erfordern. Zum einen sind sie generell immateriell – nicht nur die Erstellung, sondern auch das Ergebnis – zum anderen ist der Nachfrager, hier der Patient, betriebswirtschaftlich betrachtet, notwendiger integrierter Faktor des Behandlungsprozesses. Da gerade Patienten, in der Regel medizinische Laien, die Behandlungsqualität nur sehr schwer vor einer Inanspruchnahme einschätzen können, ist das Wahlrisiko für einen bestimmten Arzt, für ein bestimmtes Krankenhaus oder für eine bestimmte Therapie sehr hoch. Patienten suchen daher nach Schlüsselinformationen, die darauf hinweisen, dass die medizinische Dienstleistung verlässlich und Vertrauen erweckend ist. Bekannte Krankenhausmarken, denen ein hohes Maß an Vertrauen entgegengebracht würde, könnten im Rahmen dieses Auswahlprozesses einen Vorteil haben und dem künftigen Patienten die Entscheidungsfindung erleichtern. Die Tatsache, dass der Patient als externer Faktor immer am Behandlungsgeschehen aktiv beteiligt ist, macht den Behandlungsprozess nur bedingt standardisierbar. Die Compliance des Patienten wird zur zentralen Bedingung. Um diese Compliance zu fördern, bedarf es einer gelungenen Interaktion zwischen Klinikpersonal  – vor allem Ärzte und Pflegepersonal – und dem Patienten selbst. Kern dieser erfolgreichen Interaktion ist das Gefühl von nahezu absolutem Vertrauen, das der Patient seinen Behandlern entgegenbringen muss. Wie kann nun dieses Vertrauen aufgebaut werden? In einer Studie von Alexander Lorbeer (2003) wurde das Vertrauen von Nutzern internetbasierter Gesundheitsdienstleistungen zu ihrem Anbieter untersucht. Es konnte nachgewiesen werden, dass die Konsistenz als ein Maß, welches Verhalten als vorhersehbar und zuverlässig einschätzt, den stärksten Einfluss auf die Vertrauensbildung hat (vgl. Lorbeer 2003). Es ist die Übereinstimmung zwischen Versprechen und Verhalten, das die Unsicherheit im Umgang mit einer Person reduziert und Vertrauen entstehen lässt. Ähnliche Zusammenhänge findet man bei Antonovskis Kohärenzgefühl, das auf eine dem Menschen innewohnende Empfindsamkeit gegenüber stimmigen Zusammenhängen

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beruht (vgl. Antonovski 1997 und Wydler/Kolip/Abel 2010). Vorhersehbarkeit reduziert Unsicherheit und schafft eine stimmige Verbundenheit. Dies wiederum ist ein allgemein gültiges menschliches Grundbedürfnis. Eine besondere Bedeutung hat bei der Führung von Dienstleistungsmarken das Konzept des Identitätsbasierten Markenmanagements (vgl. Meffert/Burmann 1996). Im Zentrum dieses Ansatzes steht das Selbstbild des Unternehmens aus Sicht der internen Zielgruppen. Mitarbeiter, das Management, die Eigentümer, sie alle prägen mit ihrem Verhalten untereinander und gegenüber den externen Kunden diese Identität. Gegenüber den Kunden mit dem Markennutzenversprechen und intern mit der Einlösung dieses Versprechens durch das entsprechende Markenverhalten. Das Markenimage entsteht dann bei den Kunden durch die Wahrnehmung bzw. das Erleben dieses Verhaltens. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen den marktorientierten Handlungen und Verhalten der internen Zielgruppen und der Wahrnehmung dieser Handlungen durch die Kunden, die mit einer bestimmten Markenerwartung mit dem Unternehmen in Kontakt treten. Werden diese Erwartungen erfüllt, so kann eine stabile Marken-Kunden-Beziehung entstehen. Werden die Erwartungen durch negatives Erleben nicht erfüllt, so ist die Aufgabe des identitätsorientierten Markenmanagements, genau diese Balance wieder herzustellen und zwar durch korrigierende Maßnahmen in Hinblick auf das Markenverhalten der Mitarbeiter.

2.2 Wie Marken entstehen Es lassen sich drei traditionelle Ansätze unterscheiden, nach denen Marken konstruiert werden. Dies sind der Corporate-Design-basierte Ansatz, der identifikationsbasierte Ansatz und schließlich der risikobasierte Ansatz (vgl. von Eiff/Stachel 2007). Der Corporate-Design-basierte Ansatz versteht die Marke als einen charakteristischen Namen und/oder ein Symbol, das dazu dient, eine Institution, ein Produkt oder ein Dienstleistungsangebot sofort und ohne weitere Erklärung wiederzuerkennen und von konkurrierenden Angeboten zu unterscheiden. Durch ein einprägsames Zeichen (Logo, Slogan, Farbklima, Gebäude, Ambiente) soll Unverwechselbarkeit sichergestellt werden. Mit dem eingesetzten Symbol soll dabei herausragende Kompetenz verbunden werden. Häufig werden emotionalisierende Botschaften mit der produktbezogenen Botschaft verbunden, da nach den Regeln der Kommunikation eher gefühlsbetonte Botschaften erinnert werden. Ein Beispiel für diesen Ansatz ist das bereits weiter oben erwähnte Konsumgut Aspirin mit dem typischen Schriftbild, der grün-weißen Packung und dem emotionalisierenden Slogan „Medizin deines Lebens“. Beim identifikationsbasierten Ansatz wird dem Kunden neben einem Qualitätsversprechen eine „emotionale Heimat“ geboten. Der Gebrauch der Marke drückt dann gleichzeitig ein Lebensgefühl aus und der Käufer definiert über die Marke einen Teil seiner Persönlichkeit. Beispiele aus der Gesundheitsbranche sind hier aus naheliegenden Gründen kaum zu finden. Krankheit ist mit negativen Assoziationen verbun-

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den und eignet sich nicht, ein individuelles Lebens- und Selbstwertgefühl gegenüber der sozialen Umgebung zu demonstrieren. Hier greifen eher sogenannte „High Involvement Produkte“ wie spezielle Automarken, designaffine High Tech Produkte und ähnliche prestigeträchtige Gebrauchsgüter. Der risikobasierte Ansatz zielt darauf ab, bei den relevanten Zielgruppen Vertrauen in Qualität und Leistungsfähigkeit zu erreichen. Dieser Ansatz geht davon aus, dass Marken von innen heraus entstehen. Zwei Aspekte werden hierbei in den Fokus der Markenbildung gesetzt. Dies sind die bewiesene herausragende Fachkompetenz sowie Sozialqualität und Unternehmenskultur als Voraussetzungen für positive Medienberichte und gesteigerte Bereitschaft zur Weiterempfehlung. Eine Marke entsteht also in diesem Bereich nicht durch Marketing, sondern durch bewiesene Leistung. Dieser Ansatz hat im Gesundheitswesen die beste Passung und somit eine herausragende Bedeutung. Einen Schritt weiter gehen die Überlegungen zu einem aushandlungsbasierten Ansatz von Kastens/Lux (2014). Auch hier wird der Einfluss des Marketings auf erfolgreiches Markenmanagement bezweifelt. Die Einzigartigkeit von Marken wird, aus dieser Perspektive betrachtet, nicht vom Unternehmen gesteuert, sondern entsteht dadurch, dass die Kunden, Nutzer und Patienten über die Dienstleistung sprechen, etwas hinzufügen – zum Beispiel eigene Geschichten und Erfahrungen – und vor diesem Hintergrund etwas Neues entstehen lassen (vgl. Kastens/Lux 2014). Diese Emergenz ist der Garant dafür, dass sich Einzigartigkeit entwickelt und Marken mit Gefühlen verbunden werden. Die Bedeutung von Marken wird sozial ausgehandelt und zwar in Sprachhandlungsprozessen. Bezugnehmend auf diese Zusammenhänge, versteht Kastens die Marke als interaktiv ausgebildetes Wissens- und Bedeutungssystem, das in Kommunikationsräume und gesellschaftliche Diskurse eingewoben ist (vgl. Kastens, 2010, 101). Erfolgreiches Markenmanagement gelingt nicht über das Marketing, sondern über das gelebte Kommunikationsverständnis über die Marke im Unternehmen. Dies spiegelt ein verändertes Verständnis von Markenmanagement wider, das nicht mehr darauf reduziert ist, dass das Unternehmen über die externe Kommunikation Werbebotschaften zur Marke versendet, in der Überzeugung, dass sich durch dieses Vorgehen eine starke Marke entwickelt. Durch das kommunikative Wesen der Marke verankert sich ein Thema nur über Diskurse dauerhaft im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft. Marken werden erst durch Sprache groß. Eine Marke, über die nicht gesprochen wird, ist im Verständnis dieses Ansatzes keine Marke. Dabei geht es vor allem darum, exakte Botschaften am Markt zu platzieren. Meist nutzen Marken einer Branche gleiche Werte, Wörter und Begriffe. Die Botschaften werden so beliebig, und die Differenzierungschancen sind gering. Schaut man sich die semantische Branchengenerik von Krankenhäusern an, fällt schnell auf, dass die Slogans und Begrifflichkeit austauschbar und beliebig sind. Die Recherche auf unterschiedlichen Webseiten deutscher Krankenhäuser ergibt, dass überall identische Sprachwelten und Wörter genutzt werden. Die Helios-Kliniken möchten „medizini-

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sche Qualität erfahrbar machen“ bei Sana ist „die Zufriedenheit der Patienten der Maßstab allen Erfolgs“. Die Mediclin-Gruppe „unterstützt durch qualifizierte Mitarbeiter und moderne technische Ausstattung eine bedarfsgerechte medizinische und therapeutische Versorgung“ und den DRK Kliniken Berlin liegt „die Gesundheit ihrer Patienten am Herzen“. Besonders häufig tauchen die Begriffe „medizinischer Fortschritt“, „breites Versorgungsspektrum“ und „bestmögliche Behandlung“ auf. Fast alle Kliniken weisen auf ihre engagierten Mitarbeiter, auf interdisziplinäre Behandlungsansätze und eine anspruchsvolle Gesundheitsversorgung hin. Auch wenn all diese Handlungsmaximen natürlich ihre Berechtigung haben und bestmöglich umgesetzt werden, so sind all diese verbalen Botschaften dennoch auf alle Krankenhäuser übertragbar und differenzieren die einzelnen Kliniken nicht voneinander. Im Rahmen einer linguistischen Markendiskursführung wäre die Aufgabe der Unternehmen die Festlegung, welche Botschaft wie an welche Zielgruppe über alle Sinneskanäle gebracht werden soll. Hierbei muss das strategische Fundament der Marke definiert werden, also die zentralen Eigenschaften. Zu beachten ist, dass die Bedeutungsinhalte nicht austauschbar und in Hinblick auf eine Positionierung und Differenzierung geeignet sind. Eine Marke muss im Kopf der Menschen etwas zum Klingen bringen. Dies gelingt im optimalen Fall über einprägsame Geschichten, die aber immer konkret sein müssen, so wie sich jede Dienstleistung konkretisieren lassen muss. Hierfür müssen Fakten erarbeitet werden: Wenn sich ein Mensch mit der Frage nach einer Herzoperation auseinandersetzen muss, so kann ein medizinisch nicht vorgebildeter Laie die Qualität und Kompetenz eines Krankenhauses letztlich nur über Zahlen bewerten. In dem Moment, in dem man sich ernsthaft mit einer Operation auseinandersetzen muss, interessieren nur die Fakten zu dieser Dienstleistung und die muss das Unternehmen gut aufbereitet und konkret liefern (vgl. Zschiesche/ Errichiello 2013). Damit fängt der Prozess der Markenbildung jedoch erst an. Jetzt müssen die Unternehmen zuhören, was bei den Zielgruppen ankommt und wie diese Inhalte verarbeitet und reproduziert werden. Dies ist ein dauerhafter Prozess, in dem die Markenkommunikation der Krankenhäuser im persönlichen Kontakt mit den Patienten nach Vorgabe des Markenkerns ausgerichtet und die Diskurse zwischen den Beziehungsgruppen der Marke beobachtet und ausgewertet werden. Eine besondere Rolle spielen hierbei zum einen die Mitarbeiter aber auch soziale Netzwerke. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Marken im Gesundheitswesen nach dem identitätsbasierten Markenmanagement geführt werden sollten, in dessen Zentrum das Selbstbild des Unternehmens steht. Aus diesem Selbstbild leitet sich konsistentes Verhalten der Mitarbeiter untereinander und gegenüber externen Kunden ab. So wird das Markenversprechen eingelöst und Vertrauen entsteht. Konstruiert werden sollten diese Marken nach dem risikobasierten Ansatz, der darauf abzielt, Vertrauen in Qualität und Leistungsfähigkeit bei den relevanten Zielgruppen zu erreichen. Die Marke entsteht dabei aus dem Inneren des Unternehmens heraus durch bewiesene Leistung, die eine gesteigerte Bereitschaft zur Weiterempfehlung

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nach sich zieht. Im Rahmen der linguistischen Markendiskursführung schließlich wird auf die Relevanz einzigartiger Bedeutungsinhalte der Markenbotschaften hingewiesen und auf die Notwendigkeit, den Diskurs mit den Zielgruppen zu führen, hinzuhören, was diese Zielgruppen sagen und in einen Austausch mit ihnen zu treten. All diesen Ansätzen sind die herausragende Bedeutung der Mitarbeiter und der gelebten Unternehmenskultur gemeinsam.

3 Unternehmenskultur, Markenidentität und Internal Branding Als Unternehmenskultur bezeichnet man die Art und Weise, wie Mitarbeiter und Führungskräfte miteinander kommunizieren, wie mit Fehlern, anderen Meinungen und Mitarbeitervorschlägen umgegangen wird und vor allem, welchen Stellenwert der Kunde hat. Die Unternehmenskultur ist wertvoll und einzigartig, baut sich jedoch nur langsam und mit viel Sozialenergie auf. Die Einzigartigkeit sorgt dafür, dass sie von Wettbewerbern kaum kopiert werden kann. Eine Unternehmenskultur, die in Verbindung mit einer „korrespondierenden“ Organisation tritt, beinhaltet ein großes dauerhaftes Erfolgspotenzial, da das Unternehmen so die Fähigkeit zur Selbsterneuerung, zu Innovationen und mutiger Realisierung gewinnt (vgl. von Eiff/Stachel 2007). Krankenhäuser sind in besonderer Weise darauf angewiesen, dass die Mitarbeiter Problemlösungsfähigkeit im Tagesgeschäft zeigen, um diese zur kontinuierlichen Verbesserung und Qualitätssicherung zu nutzen. Im medizinischen Dienstleistungssektor suchen die in der Regel stark intrinsisch motivierten Ärzte und Pflegekräfte vor allem nach Sinn und Erfüllung durch ihre Tätigkeit. Die Begriffe Unternehmensidentität, Selbstbild, Corporate Identity oder Markenidentität zielen alle auf den gleichen Prozess ab, der am Anfang jeder Markenentwicklung stehen muss, nämlich der Einigung darüber, wofür das Unternehmen steht, was der Markenkern ist und welches die zwei bis vier wichtigsten Markenwerte sind, die gemeinsam die erweiterte Identität darstellen und zusammen mit dem Markenkern das Markenprofil bilden (vgl. Kilian 2009). Bevor Krankenhäuser also zur Marke werden, müssen sie sich darüber im Klaren sein, wofür sie stehen, was ihr Selbstverständnis ist und wie sie sich von anderen Häusern unterscheiden. Die Entwicklung einer Unternehmensidentität ist ein Prozess, eine strategische Maßnahme zum Aufbau eines Selbstbildes, der sich an den jeweiligen Unternehmens- und Kundenzielen orientiert. Diese Markenidentität, die die Basis für das Markenversprechen und das Markenverhalten von Ärzten, Pflegepersonal und allen anderen Mitarbeitern des Krankenhauses ist, trifft auf die Markenerwartung der Kunden und auf das Markenerlebnis im Kontakt mit den Mitarbeitern. Daraus formt sich das Unternehmens- bzw. Markenimage des Krankenhauses (vgl. Meffert/Burmann 1996).

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Wenn Krankenhäuser ein positives Image aufbauen wollen, müssen sie den Prozess des Wandels im Gesundheitswesen und das positive Selbstverständnis ihrer Abteilungen spiegeln. Die Unternehmensidentität des Krankenhauses muss für eine glaubwürdige Positionierung sichtbar und – über das Personal und das Ambiente – erlebbar gemacht werden (vgl. Lüthy/Buchmann 2008). Wichtige Fragen, die für die Entwicklung der Markenidentität beantwortet werden müssen, sind „Woher kommen wir“? „Was können wir?“ „Wohin wollen wir?“ „Woran glauben wir?“ „Wie treten wir auf?“ und „Was bieten wir an?“. Diese Fragen beziehen sich auf die Markenherkunft, die Markenkompetenzen, die Markenvision, die Markenwerte, die Markenpersönlichkeit und die Markenleistungen (vgl. Burmann/Malony 2007). In der Praxis erschöpfen sich marketingbezogene Maßnahmen sehr häufig darin, sich dem visuellen Erscheinungsbild einer Marke zu widmen, Werbemaßnahmen zu managen und Marktforschung zu betreiben. Die Entwicklung oder das Redesign eines Logos, eine weitere Hochglanzbroschüre oder ein neues Schild am Zentraleingang des Krankenhauses sind sicher geeignet, um ein Erscheinungsbild zu prägen, eine Marke entsteht aber erst, wenn die Patienten einem Krankenhaus Vertrauen und Loyalität entgegen bringen. Loyalität und Vertrauen werden nur über die Einhaltung des Markennutzenversprechens erzeugt. Dieses Markennutzenversprechen kann nicht von der Unternehmensleitung am Schreibtisch entworfen und einer Agentur zur Umsetzung weitergegeben werden. Es sind vielmehr die Mitarbeiter, die die Markenidentität verstehen, leben und kommunizieren müssen – vor allem im Kontakt mit den Kunden. Beim Innengerichteten Markenmanagement (vgl. Zeplin 2006) geht es darum, bei den Mitarbeitern ein hohes Brand Commitment zu erzeugen. Dies ist die psychische Verbundenheit gegenüber der Marke. Die Mitarbeiter werden dabei gegenüber den Nachfragern zu Markenbotschaftern. Maßnahmen, die geeignet sind, das Brand Commitment zu erhöhen, werden als Internal Branding bezeichnet (vgl. Schmidt/Kilian 2012). Sie zielen darauf ab, die Mitarbeiter in den Prozess der Markenbildung einzubeziehen, sie über die eigene Marke zu informieren, für die Marke zu begeistern und letztendlich ihr Verhalten im Sinne der Marke zu beeinflussen. Geeignete Maßnahmenbereiche, die das Brand Commitment fördern, sind das markenorientierte Personalmanagement, die interne Markenkommunikation und die markenorientierte Führung. Im Zusammenhang mit dem Personalmanagement geht es hierbei vor allem darum, Personal auszuwählen, dessen persönliches Wertesystem kongruent zum Wertesystem des Unternehmens ist und weiterhin durch entsprechende Maßnahmen neue Mitarbeiter in das Unternehmen zu integrieren bzw. durch Personalentwicklungsmaßnahmen die Verinnerlichung der Markenidentität zu unterstützen. Die Innengerichtete Markenkommunikation hat die Aufgabe, bei allen Mitarbeitern ein Bewusstsein für die Relevanz der Marke zu schaffen. Diese Vermittlung sollte jedoch auf einer für die Mitarbeiter handlungsrelevanten Ebene erfolgen, bei der deutlich wird, was jeder Einzelne zum Unternehmenserfolg im Ganzen beiträgt.

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Eine wirkungsvolle Methode, die Markenidentität gegenüber den Mitarbeitern zu vermitteln, ist, diese anhand von Geschichten zu verdeutlichen. Im Krankenhausbereich eignen sich hierfür ganz besonders Geschichten über komplizierte und dennoch erfolgreich behandelte Patienten, dramatische Schicksale, die durch den Einsatz des Krankenhauspersonals zum Guten gewendet werden konnten, schwierige oder auch spektakuläre Operationen und vieles mehr. Der dritte wichtige Bereich zur Förderung des Brand Commitment ist die markenorientierte Führung. Hierunter versteht man den Einfluss, den das Verhalten der Führungskräfte eines Unternehmens bei der Manifestation der Markenidentität hat. Krankenhäuser sind nach wie vor hierarchisch streng organisierte Unternehmen. Das markenkonforme Verhalten beispielsweise von Chefärzten, die die interne Kommunikation unterstützen und entsprechend vorbildliches Verhalten zeigen, fördert auch markenkonformes Verhalten bei den Mitarbeitern einer medizinischen Abteilung. Auf dem deutschen Gesundheitsmarkt, der europaweit über die meisten Betten verfügt, muss ein Krankenhaus profiliert und konsistent auftreten. Glaubwürdig beste medizinische Leistungen anzubieten, freundliches und kompetentes Personal vorzuweisen, strukturierte und transparente Prozesse etabliert zu haben sowie ein angenehmes Ambiente bieten zu können, gibt Patienten, Mitarbeitern und Kooperationspartnern eine Orientierung. Diese ist zwar die Grundlage für eine positive Identifikation, sie führt aber nicht zu einer nachhaltigen Differenzierung im Wettbewerb, da diese Voraussetzungen so für alle Dienstleitungsbranchen und vor allem für Krankenhäuser gelten. Freundlichkeit, Kompetenz, medizinische Leistungsfähigkeit werden von den Patienten in deutschen Krankenhäusern vorausgesetzt. Zu einer Marke werden Krankenhäuser, die sich daran orientieren, noch nicht.

4 Chancen und Möglichkeiten eines neuen Markenverständnisses für Unternehmen im Gesundheitswesen Für Dienstleistungsunternehmen wie Krankenhäuser ist eine hohe Konsistenz zwischen Markenversprechen und Markenverhalten von zentraler Bedeutung. Da die Interaktionsintensität zwischen Mitarbeitern und Patienten extrem hoch ist, ist es wichtig, dass vor allem das Mitarbeiterverhalten untereinander und zur Markenintensität konsistent ist. Hierfür muss ein ganzheitliches Verständnis der Markenführung vorliegen, das heißt, die Unternehmensleitung hat die Markenführung als ihre originäre Führungsaufgabe begriffen. Weiterhin sollte eine Markenidentität festgelegt werden, die als Basis sämtlicher Markenführungsaktivitäten dient und schließlich muss sichergestellt werden, dass ein hohes Brand Commitment vorliegt, das durch

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ein institutionalisiertes Markenmanagement erzielt werden kann (vgl. Burmann/ Malony 2007). Eine derartige Herangehensweise, Marken im Gesundheitswesen, vor allem im Krankenhausbereich zu managen, beinhaltet gleich mehrere Chancen. Da wäre zum einen die Gestaltung der Interaktionsintensität und Qualität zwischen Krankenhauspersonal und Patienten bzw. deren Angehörigen. Die Güte des Arzt-Patienten-Verhältnisses kann so zu einem Bestandteil der Marke werden. Stahl, Lietz u. a. (2012) zeigten in ihrer Studie, dass die Interaktion mit den betreuenden Ärztinnen und Ärzten sowie dem Pflegepersonal mit Abstand die Faktoren sind, die den höchsten Einfluss auf die Weiterempfehlungsbereitschaft der Patienten haben. Dieses Ergebnis leuchtet ein, stellt doch der Krankenhausaufenthalt für die Mehrzahl der Patienten eine Ausnahmesituation dar, die mit Ängsten und Unsicherheiten verbunden ist. In dieser Situation ist es von entscheidender Bedeutung, über eine gelungene Kommunikation und Einfühlungsvermögen für die individuelle Situation des Patienten eine vertrauensvolle Beziehung zu den betreuenden Fachpersonen aufbauen zu können. In dem Maße, in dem dies gelingt, steigt die Bereitschaft der Patienten, das Krankenhaus auf Grund der eigenen guten Erfahrungen weiter zu empfehlen. Weniger Einfluss haben die Faktoren Vorbereitung auf die Entlassung und Aufklärung und Information über den operativen Eingriff. Dies zeigt, dass es gerade die emotionalen Aspekte der Kommunikation sind, die für die Patienten eine wichtige Rolle spielen. Es geht also nicht primär um die reine Vermittlung von Informationen, sondern um Aspekte wie emotionale Zuwendung, Verständnis, Freundlichkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen, die für eine gelungene Kommunikation verantwortlich sind. Interessanterweise geht es in diesem Zusammenhang nicht um die so oft beklagte knappe Zeit, die Ärzte und Pflegekräfte heutzutage nur noch für die Patienten zur Verfügung haben, sondern um die Qualität der Kommunikation und um die Empathie, die bei der Kommunikation gegenüber dem Patienten gezeigt wird. Empathische Ärzte und zugewandtes Pflegepersonal könnten zu Markenbotschaftern im Sinne des nach innen gerichteten Markenmanagements werden, wenn Krankenhäuser ihr Personal entsprechend motivieren und schulen. Welche Macht eine gute Arzt-Patienten-Kommunikation in Hinblick auf Compliance und PlaceboEffekte hat, ist allgemein bekannt und in vielen Studien wissenschaftlich belegt. Dennoch wird diesen Zusammenhängen im deutschen Krankenhausalltag nach wie vor zu wenig Beachtung geschenkt. Sie werden bisher vor allem viel zu selten zum Gegenstand einer nach Innengerichteten Markenführung gemacht. Akut gilt der Pflegekräftemangel als das dringendste Problem im Gesundheitswesen, aber auch ein drohender Ärztemangel wird prognostiziert. Um die wenigen verfügbaren Arbeitskräfte zu binden, bedarf es eines klaren Profils als Arbeitgeber, der seine Unternehmenswerte intern lebt und sie nach außen kommuniziert. Mit dem Aufbau einer einzigartigen, identitätsbasierten und attraktiven Arbeitgebermarke durch Employer Branding (vgl. Ambler/Barrow 1996) kann dem Fachkräftemangel im Klinikbereich begegnet werden. Eine Arbeitgebermarke vereinigt hierbei funkti-

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onalen, ökonomischen und psychologischen Nutzen für den Arbeitnehmer. Dieses Gesamtpaket ist assoziiert mit der Arbeitgebermarke und idealerweise entwickelt sich die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch eine Serie von nützlichen Austauschprozessen weiter. Sie ist integraler Bestandteil des allumfassenden Firmennetzwerkes. Es geht dabei auch darum, die Markenwerte im Denken, Fühlen und Handeln der bestehenden Mitarbeiter zu verankern, damit diese im Unternehmen gelebt und für die Patienten spürbar werden. Bei potentiellen Arbeitnehmern zielt das Employer Branding darauf ab, die Arbeitgeberattraktivität und das Unternehmensimage zu stärken. So sollen die „richtigen“ Arbeitnehmer angezogen werden (vgl. Esch/Gawlowski/Kleinlosen 2009). Employer Branding sollte sich aber nicht in bemühten Werbekampagnen erschöpfen. Es geht vielmehr darum, die besonderen Stärken und Leistungen einer Klinik herauszuarbeiten und daraus eine spezifische Arbeitgeber-Positionierung abzuleiten, die Pflegekräfte und Ärzte anzieht, weil sie sich damit identifizieren können. Aber wie kann nun die Markenidentität für das Personal im Krankenhaus erfahrbar gemacht werden und wie soll ein Krankenhaus sicherstellen, dass das nach außen Kommunizierte den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht? Die Realität zeigt, dass Ärzte und Pflegepersonal beim medizinischen und pflegerischen Handeln mit Unternehmensleitbildern meist wenig im Sinn haben. Es stehen andere Orientierungen im Vordergrund (vgl. Bär 2012). Dies sind vor allem Wenn-dann-Formeln. Medizin definiert sich über ihre tatsächlichen Leistungen, die im Regelfall am Heilen von Krankheiten orientiert sind, nicht an Leitbildern oder Qualitätssiegeln. Die Organisation Krankenhaus hat in dieser Perspektive nur einen geringen Stellenwert und wird als etwas empfunden, das nicht zu ihrer direkten Arbeit gehört, nämlich der pflegerischen und medizinischen Versorgung der Patienten. Die geforderte Dienstleistungsmentalität stellt sich deswegen so schwer ein, weil Markenversprechen etwa nach dem Motto „Wir machen eine gute – oder gar die beste – Medizin und Pflege!“ nicht an das Selbstverständnis von Medizin und Pflege anknüpfen, da Ärzte und Pflegekräfte ihre Leistungen dem Bedarf entsprechend erbringen. Das, was in vielen Leitbildern formuliert ist, etwa: „Wir bieten die bestmögliche Medizin und Pflege“, ist im Grunde selbstverständlich. Das häufigste Thema, das Krankenhäuser zum Gegenstand ihrer externen Kommunikation machen, ist „Qualität“. Qualität soll die Grundlage des Vertrauens in die Marke sicherstellen. Patientenbefragungen zeigen jedoch, dass Qualität als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht in Frage gestellt wird. Hier wird deutlich, dass mangelnde sprachliche Differenzierung der Markenidentität auch bei Mitarbeitern eines Krankenhauses dazu führt, dass sie sich nicht mit der Unternehmenspersönlichkeit identifizieren können. Austauschbare Slogans und undifferenzierte Markenversprechen führen zu einer mangelnden Identifikation mit den Unternehmenszielen und schaden mehr, als dass sie nutzen würden. Könnte ein neues Markenverständnis die Skepsis von Ärzten und Pflegekräften im Krankenhaus überwinden? Die Antwort ist ja und es kann gelingen, wenn die interne Verständigung darüber, wie das Mar-

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kenversprechen aussehen kann und vor allem, inwieweit sich dieses Versprechen auch innerhalb der Organisation selbst wiederfindet und erfolgreicht ist. Dies sollte gemeinsam zwischen Unternehmensleitung und den Mitarbeitern als Markenbotschaftern im Rahmen eines Internal Branding ausgehandelt werden. Ganz im Sinne des linguistischen Markendiskurses, bei dem erfolgreiches Markenmanagement nur dann gelingt, wenn es ein gelebtes Kommunikationsverständnis über die Marke im Unternehmen gibt.

5 Literatur Antonovski, Aaron (1997): Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen. Ambler, Tim/Simon Barrow (1996): The Employer Brand. PAN’AGRA Working Paper, No. 96–902. Bär, Stefan (2012): Markenbildung im Krankenhaus: Vorrang muss die interne Verständigung haben. In: Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 109/5, A194– A198. Burmann, Christoph/Philipp Malony (2007): Innengerichtete, identitätsbasierte Führung von Dienstleistungsmarken. Bremen. Eiff, Wilfried von/Kerstin Stachel (Hg.) (2007): Unternehmenskultur im Krankenhaus. Band 1 der Reihe „Leistungsorientierte Führung und Organisation im Gesundheitswesen“. Gütersloh. Esch, Franz Rudolf/Dominika Gawlowski/Judith Kleinlosen (2009): Mit Employer Branding die richtigen Mitarbeiter gewinnen und halten. In: i o new management 12, 11–15. Geuter, Gunnar/Jan Weber (2009): Informationsbedarf chronisch kranker Menschen bei der Krankenhauswahl – Untersucht unter besonderer Berücksichtigung des Internets. Bielefeld. Kastens, Inga Ellen (2010): Linguistik: Marken sprechen lassen. In: Markenartikel 12, 100–102. Kastens, Inga Ellen/Peter G. C. Lux (2014): Das Aushandlungs-Paradigma der Marke. Den Bedeutungsreichtum der Marke nutzen. Wiesbaden. Kilian, Karsten (2009): So bringen Sie Ihre Marke auf Kurs. In: Absatzwirtschaft 4, 42–43. Lorbeer, Alexander (2003): Vertrauensbildung in Kundenbeziehungen. Ansatzpunkte zum Kundenbindungsmanagement. Wiesbaden. Lüthy, Anja/Uta Buchmann (2009): Marketing als Strategie im Krankenhaus. Stuttgart. Meffert, Heribert (2000): Marketing, 9. Aufl., Wiesbaden Meffert, Heribert/Christoph Burmann (1996): Identitätsorientierte Markenführung – Grundlagen für das Markenmanagement von Markenportfolios, Arbeitspapier Nr. 100, Wissenschaftliche Gesellschaft für Marketing und Unternehmensführung e. V. Münster. Meffert, Heribert/Christoph Burmann/Martin Koers (2002): Markenmanagement. Grundlagen der identitätsorientierten Markenführung. Wiesbaden. Rüegg-Stürm, Johannes (2007): Krankenhäuser im Umbruch: Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Weiterentwicklung. Deutsches Ärzteblatt 104(30), A-2110 / B-1863 / C-1799. Schmidt, Holger J./Karsten Kilian (2012): Internal Branding, Employer Branding & Co.: Der Mitarbeiter im Markenfokus. In: Transfer Werbeforschung und Praxis 1. Stahl Katja/Dörte Lietz/Merle Riechmann (2012): Patientenerfahrungen in der Krankenhausversorgung: Revalidierung eines Erhebungsinstruments, Zeitschrift für Medizinische Psychologie 21/1, 11–20. Wydler, Hans/Petra Kolip/Thomas Abel (Hg.) (2010): Salutogenese und Kohärenzgefühl: Grundlagen, Empirie und Praxis eines gesundheitswissenschaftlichen Konzepts. Weinheim Zeplin, Sabrina (2006): Innengerichtetes identitätsbasiertes Markenmanagement. Wiesbaden. Zschiesche, Arnd/Errichiello, Oliver (2013): Marke ohne Mythos. Offenbach.

Sachregister A Adhärenz 87, 116 f., 124–126, 129, 135 f., 142 f., 149 f. Agentivität 145 Alter 76, 79, 84, 86, 88, 191, 245, 303, 317, 324 Alzheimer-Demenz 317 f., 320 Anamnese 43, 108, 155, 208, 211–213, 249, 257 f., 260, 265, 287–289, 291, 300, 305 f., 337–339, 354, 356, 396 Anästhesie 18 Angst 97, 144, 149, 154–156, 158–167, 247, 383, 418, 418 antike Medizin 26 Arabisch 36 Ärger 154, 156 Argumentationsmuster 441 f., 445, 447, 450 f., 453 f. Arzneimittelanzeige 423–425, 427, 429, 431, 433–435 Arzneimittelwerbung 407, 425, 430 Arzt 47–49, 51–53, 55–61, 64–67, 69 Arzt-Patient – Arzt-Patienten-Interaktion 243–246, 252, 256, 261, 311 – Arzt/Patient-Gespräch 142, 144 f., 147, 282–289, 291 f., 296 – Arzt/Patient-Kommunikation 138, 142, 288, 290, 297 – Beschwerdenbeschreibung 264 – Beschwerdenschilderung 76 f., 79, 82, 94–97, 102 f., 112, 160, 193, 197, 201, 295 – doctor-patient communication 191 – Experten-Laien-Kommunikation 369 f., 374 – Gesundheitskommunikation 138, 369, 371, 374–376, 383 f., 406 f., 413 – Medizindiskurs 370 – Patient 26, 43, 75 f., 81, 83, 86, 93–100, 108 f., 111 f., 116 f., 119 f., 122, 124–129, 131 f., 138, 140–145, 150, 157, 160, 179 f., 192, 194, 197, 202 f., 208–220, 222, 228–232, 234, 236, 243–261, 267, 269–271, 273 f., 276 f., 282, 284–287, 290 f., 293–296, 302–305, 326, 338 f., 341, 348, 352, 354, 356–359, 361 f., 372 f., 378–382, 399 f., 402, 425, 431, 433 f., 436, 460, 463 – Risikokommunikation 340, 369 f., 383 f.

– Vernakularisierung 34, 36, 38, 44 Arzt-Patienten-Kommunikation 47 f., 51 f., 59 f., 69 Aufklärung 17, 31, 40 f., 116, 125, 208–211, 214, 219, 251, 300, 307, 317, 328 f., 339 f., 470 – Aufklärungsgespräch 208–210, 214, 328, 381, 394, 400 – Patientenaufklärung 307 – präoperative Aufklärung 379 Ausgliederung 26 Autorität 78, 107 f., 110, 118, 122, 124, 196–198, 203, 270, 290, 296 B Bedeutungskonkurrenz 446 Benachteiligung 75, 84, 306 Beratung 132, 138, 300, 308 f., 340, 381, 408 f. Beschwerdenbeschreibung 264 Beschwerdenexploration 76 f., 93 f., 100, 103 f., 107, 147, 158, 161, 295, 305, 355 Bioethik 438–441, 444, 451 Brand Commitment 468 f. C closings 170 f., 173, 183, 185 common ground 380 Compliance 107, 144, 202 f., 283, 311, 382, 463, 470 conversation 107, 170–174, 177, 288 Curriculum – Curriculumsentwicklung 343 – Kommunikationscurricula 342 Curriculumsentwicklung 343 D Darstellungsverfahren 135 Diagnose 43, 76, 78, 93 f., 100, 103, 105–111, 138 f., 145, 147 f., 193, 195 f., 201, 209, 265, 267, 269, 288 f., 291, 296, 311, 318, 324, 338, 356, 379, 391, 397, 400, 409 – Differentialdiagnose 86, 264, 274 – Selbstdiagnose 375 Dialog 118, 121, 130, 143, 228, 230, 414 – dialogisch 118, 124 f., 132, 392, 401 Dienstleistung 78, 116, 121–124, 126, 130, 373, 459 f., 463, 465 f.

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 Sachregister

Differentialdiagnose 86 Diskurs – Diskurstradition 28 f., 35 – Laiendiskurs 405, 408, 413, 418 – Medizindiskurs 370 – Online-Gesundheitsdiskurs 406, 408, 411 f., 415 doctor-patient communication 191 E Einstellungen 95, 138, 192, 232 f., 235, 237, 249, 304, 454 Einwilligung 210, 212–215, 307, 329 Emotionen 97, 127, 137, 154–158, 160 f., 166 f., 234, 252, 258, 337, 355, 459 Empowerment 87, 373–375, 408, 416, 419 Epilepsie 189, 264–266, 268–270, 276 Erstkonsultation 193 Erzählfragmente 146 E- und M-Therapie 412 Experten-Laien – Experte 100, 129 f., 247, 249, 291 f., 373, 407, 417 – Experten-Laien 43, 83, 111, 209, 246, 290, 369–371, 374 f., 377 – Experten-Laien-Kommunikation 369 f., 374 – Laie 291 f., 416, 434, 417, 435, 407 – Laiendiskurs 405, 408, 413, 418 – Vertikalität 44, 375, 402 Expressivität 234 F Face 234, 236 Fachanzeige 425, 428 f., 431 f., 434 f. Fachintern 370 Fachzeitschrift 389, 392, 394 f., 397, 399, 426 Formulierungsspezifika 428, 430, 435 Fragen 37, 77–79, 87 f., 94 f., 97, 100–104, 107, 112, 123, 131, 144, 158, 160 f., 191, 197, 208, 211 f., 214 f., 217–222, 225, 227–229, 246 f., 254, 257, 259, 269, 271–276, 278 f., 286, 288 f., 305 f., 309, 311, 328, 341 f., 353, 355 f., 369, 372, 376, 384, 398, 401 f., 426, 439–441, 414, 447, 419, 406 Funktionalität 13, 287–290, 426 f., 435, 450 G Ganzheitlichkeit 54, 63, 70 Geschlecht 84–86, 303

Gespräch – Gesprächsanalyse 244, 282, 284, 286 f., 343 – Gesprächseröffnung 81, 94 f., 112, 211, 219, 270 f., 275, 355 f., 362 – Gesprächsforen 405, 410, 413–415, 417–419 – Gesprächsforschung 88, 135 f., 143 f., 150, 155–157, 167, 282, 348 f., 355, 357–363 – Gesprächsführung 81–83, 89, 112, 118, 127, 130, 132, 157, 209, 228, 243, 249, 251, 253–255, 258–261, 270, 309, 338–340, 342 f., 349, 352–358, 360–362 – Gesprächspraktiken 75 f., 81, 88, 244, 250–255, 257, 259 – Gesprächsstruktur 83, 166, 211, 217 Gesundheit 8, 40 f., 95, 117, 124, 135 f., 138–140, 188, 342 f., 369, 376, 382, 384, 408 f., 413, 418 f., 405 Gesundheitskommunikation 138, 369, 371, 374–376, 383 f., 406 f., 413 Griechisch 4, 7, 44 Grounding 370, 380 f. – common ground 380 H Handlungsstruktur 210 Handlungstheorie 231 Heiler 53, 55–58, 62, 69 HIV 111, 136, 139, 141, 148–150, 282–284, 289, 292 f., 296, 308 HIV/AIDS 136, 148 f. Humoralpathologie 41 I Indexikalität 234 Institution 79, 81, 86, 137, 283, 303, 428, 464 Interaktionstypen 94, 203, 245 f. Interkulturalität 300 f., 303, 313 Internal Branding 467 f., 472 Internet 26 f., 43, 96, 352, 371–373, 377, 390–392, 398 f., 401 f., 406–409, 412 f., 415, 419, 405 Inzidenz 372 K Kasuistik 394, 396 Kausalattributionen 136, 140, 145 f., 148 Kommunikation – Anforderungen 245 – Arzt-Patienten-Interaktion 243–246, 252, 256, 261, 311

Sachregister 

– Arzt-Patienten-Kommunikation 93, 301, 303, 310, 342, 344, 392, 470 – Arzt/Patient-Gespräch 142, 144 f., 147, 282–289, 291 f., 296 – Arzt/Patient-Kommunikation 138, 142, 288, 290, 297 – Aufklärung 17, 31, 40 f., 116, 125, 208–211, 214, 219, 251, 300, 307, 317, 328 f., 339 f., 470 – Aufklärungsgespräch 208–210, 214, 328, 381, 394, 400 – Bedeutungskonkurrenz 446 – Beschwerdenbeschreibung 264 – Beschwerdenschilderung 76 f., 79, 82, 94–97, 102 f., 112, 160, 193, 197, 201, 295 – conversation 107, 170–174, 177, 288 – Dialog 118, 121, 130, 143, 228, 230, 414 – doctor-patient communication 191 – Experten-Laien-Kommunikation 369 f., 374 – Fachintern 370 – Gespräch 75 f., 78, 80, 82, 87, 93, 96 f., 99 f., 105, 108, 110–112, 118, 125, 128 f., 143–145, 150, 154 f., 157 f., 160 f., 166 f., 189–191, 197, 199 f., 209–211, 213 f., 216 f., 219, 221 f., 225 f., 237, 244, 246, 252, 260, 268, 275, 277, 279, 282–284, 286–291, 293, 304 f., 311, 313, 328, 338, 340 f., 348, 352, 354–357, 359, 361 f., 380, 389, 394, 399, 401 f., 412, 417 f., 407, 412 – Gesundheitskommunikation 138, 369, 371, 374–376, 383 f., 406 f., 413 – Interaktionstypen 94, 189, 203, 245 f. – pädiatrische 190, 192 – Risikokommunikation 340, 369 f., 383 f. – Wissenschaftskommunikation 389, 392 f., 399, 401 f. – Wissenskommunikation 370, 376 f., 379 Kommunikationscurricula 342 Kommunikative Anforderungen 245 Kontextsensitivität 144 f. Kontextualisierung 238 Kontrollüberzeugungen 136, 140, 142, 145, 148–150 Konversationsanalyse 227, 230, 238, 266 f., 270, 279, 360 Kooperation 103 f., 116, 121, 123, 125 f., 129–131, 161, 227, 234 f., 237 f., 248, 255, 343, 354, 375

 475

Krankenhaus 80 f., 86, 270, 303, 312, 460, 462 f., 468–471 Krankheitsbezeichnungen 65 Krankheitserleben 118, 141, 155 f., 160 L Laie 291 f., 416, 434, 417, 435, 407 Laiendiskurs 405, 408, 413, 418 Leib-Seele Verhältnis 51 Leitlinien 29, 348–355, 357–363, 391, 396 M Markenführung 460, 463, 469 f. Markenidentität 467–469, 471 Markenmanagement 463, 465 f., 468, 470, 472 Markennutzenversprechen 464, 468 Markenverhalten 464, 467, 469 Massenmedien 369, 371, 375, 383, 406, 409, 406 Medically Unexplained Symptoms (MUS) 139 Medien – Fachzeitschrift 389, 392, 394 f., 397, 399, 426 – Internet 26 f., 43, 96, 352, 371–373, 377, 390–392, 398 f., 401 f., 406–409, 412 f., 415, 419, 405 – Massenmedien 369, 371, 375, 383, 406, 409, 406 – Medienwechsel 26, 28, 32 f., 376 f. – Online-Gesundheitsdiskurs 406, 408, 411 f., 415 – Online-Selbsthilfegruppen 410–415, 417, 419 – Ratgeberforen 413, 415, 417 – Web 2.0 372, 374 f. – Weblogs 408, 410 f., 413, 415, 417 Medikalisierung 376 f. Medizin – antike 26 – dialogische 118 Medizindiskurs 370 medizinische Ausbildung 9 Metapher 149, 442, 452 Migrant 300, 312 Multimodalität 32, 238 N Narkose 208, 210 f., 216, 218, 221 Nocebo 150 Nomenklatur 3, 12–15, 21

476 

 Sachregister

O Online-Gesundheitsdiskurs 406, 408, 411 f., 415 Online-Selbsthilfegruppen 410–415, 417, 419 Originalarbeit 395, 398 P pädiatrische Kommunikation 190, 192 Palliativmedizin 243–245, 248, 256, 261 Panikattacken 162, 165, 279 Partizipative Entscheidungsfindung (PEF) 121, 138, 300, 310 Paternalismus 116, 121–123, 126 f., 130, 132 Pathogenese 259 Pathologie 18 Patient 26, 43, 47–51, 55 f., 58–61, 64 f., 75 f., 81, 83, 86, 93–100, 108 f., 111 f., 116 f., 119 f., 122, 124–129, 131 f., 138, 140–145, 150, 157, 160, 179 f., 192, 194, 197, 202 f., 208–220, 222, 228–232, 234, 236, 243–261, 267, 269–271, 273 f., 276 f., 282, 284–287, 290 f., 293–296, 302–305, 326, 338 f., 341, 348, 352, 354, 356–359, 361 f., 372 f., 378–382, 399 f., 402, 425, 431, 433 f., 436, 460, 463 – Patientenaufklärung 307 – Patientenorientierung 84, 251, 260, 349 Pflege 30 f., 328, 341, 471 Placebo 150, 470 Politeness 234 f., 238 Präimplantationsdiagnostik 439, 441 präoperative Aufklärung 379 Prävalenz 317, 372 Psychotherapie 142, 225–227, 229, 231 f., 234 Publikumsanzeige 425, 428–436 Q Qualitätssicherung 349, 354, 373 f., 377, 396 f., 402, 467 R Ratgeberforen 413, 415, 417 Relevanzmarkierung 93, 98 Risikokommunikation 340, 369 f., 383 f. S schlechte Nachrichten 308 Schmerz 47–49, 51–54, 59–63, 65, 68 f., 85 f., 96 f., 158 f., 166, 247, 305 Schmerzchronifizierung 136, 141, 145

Schmerzsprechen 48, 60, 62 f., 69 Selbstdiagnose 375 shared decision making (SDM) 116 Sinnstiftung 47, 52, 63, 66–69 Situativität 427, 435 Sprachbarrieren 300–303, 312 f. Stammzellforschung 439, 441–443, 451 f., 454 Sterbehilfe 248, 439, 441 f., 449–451 Subjektive Theorien 135–137, 140–145, 148–150, 290 T Terminologie 6, 13, 21, 31, 141, 391 Textsorte 26–38, 40, 42–44, 389, 391–397, 399–402, 423–428, 430 f., 433–436 – Arzneimittelanzeige 423–425, 427, 429, 431, 433–435 – Arzneimittelwerbung 407, 425, 430 – Publikumsanzeige 425, 428–436 – Textsortenvariante 424–426, 430, 432–435 – Übersichtsartikel 394–396 Thema – Thematizität 428, 435 Therapeutische Allianz 234 Therapie – E- und M-Therapie 412 – Psychotherapie 142, 225–227, 229, 231 f., 234 – Therapeutische Allianz 234 U Übersichtsartikel 394–396 Unternehmensidentität 467 f. V verbale Flüssigkeit 321 Vernakularisierung 34, 36, 38, 44 Verstehen 102, 107, 121, 135, 208, 213, 215, 219 f., 222, 232, 248, 260, 296, 304, 322 f., 327–329, 444 Vertikalität 44, 375, 402 W Web 2.0 372, 374 f. Weblogs 408, 410 f., 413, 415, 417 Wissenschaftskommunikation 389, 392 f., 399, 401 f. Wissenskommunikation 370, 376 f., 379 Wortfindungsstörungen 320 f., 325