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German Pages 301 [302] Year 2018
Sprache und (Post)Kolonialismus
Koloniale und Postkoloniale Linguistik Colonial and Postcolonial Linguistics Herausgegeben von Stefan Engelberg, Peter Mühlhäusler, Doris Stolberg, Thomas Stolz und Ingo H. Warnke
Band 11
Sprache und (Post)Kolonialismus
Linguistische und interdisziplinäre Aspekte Herausgegeben von Birte Kellermeier-Rehbein, Matthias Schulz und Doris Stolberg
ISBN 978-3-11-055882-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056121-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055895-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Vorwort | VII Matthias Hüning und Philipp Krämer Standardsprachenideologie als Exportprodukt. Zur Rolle europäischer Standardsprachen in postkolonialen Kontexten | 1 Axel Dunker Der deutsche ‚koloniale Diskurs‛ aus literaturwissenschaftlicher Sicht | 25 Daniel Schmidt-Brücken Generizität. Sprachgebrauchsgeschichtliche und diskurslinguistische Aspekte kolonialer Kommunikation | 41 Thomas Stolz und Ingo H. Warnke Auf dem Weg zu einer vergleichenden Kolonialtoponomastik. Der Fall Deutsch-Südwestafrika | 71 Anne Storch Gewissheit und Geheimnis | 105 Magnus Huber und Viveka Velupillai Die Database of Early Pidgin and Creole Texts. Sprachplanung, Sprachideologien und Sprachattitüden gegenüber dem Pidginenglisch in Deutsch-Neuguinea | 127 Bruno Arich-Gerz „Migratsprache“ Oshideutsch. Eine namibisch-deutsche Varietät zwischen Generatiolekt, ‚invertiertem Pidgin‛ und postkoloniallinguistischer Theoriebildung | 161 Stefan Castelli „Wäre sie heim gerufen, meine Wirksamkeit hätte einen harten Stoß bekommen“. Hanna Kleinschmidt und die Umsetzung der Sprach- und Sprachenpolitik der Rheinischen Missionsgesellschaft | 177
VI | Inhaltsverzeichnis
Mathias A. Schöner Kulturmission oder Herrschaftssymbolik? Zur Verbreitung deutscher Zeichensysteme in der „Musterkolonie“ Tsingtau | 205 Wolfram Karg Vom Wahrzeichen zum Museumsexponat. Zur öffentlichen Debatte über das Reiterdenkmal in Windhoek | 235 Donata Weinbach Appetit auf Afrika. Stereotype Bedeutungszuschreibungen am Beispiel von Chakalaka und Joe’s Beerhouse | 265
Verzeichnis der Mitwirkenden | 281 Personen- und Autorenregister | 283 Sprachenregister | 288 Sachregister nebst geografischen Bezeichnungen | 289
Vorwort Der vorliegende Sammelband dokumentiert die thematische und interdisziplinäre Breite der Forschungen zum Zusammenhang von Sprache und Kolonialismus. Er vereinigt Beiträge, die größtenteils auf Tagungen und Workshops der Forschungsgruppe Koloniallinguistik (Dewein et al. 2012: Forschungsgruppe Koloniallinguistik: Profil – Programmatik – Projekte. ZGL 40(2). 242–249) diskutiert wurden („Deutschlands Koloniallinguistik“, Institut für deutsche Sprache, Mannheim; „Kolonialzeitliche Konzepte von Sprache“, Bergische Universität Wuppertal; „Sprachgebrauch, Sprachkonzepte und Sprachenpolitik in kolonialzeitlichen und postkolonialen Kontexten“, Julius-Maximilians-Universität Würzburg). Fragestellungen der Koloniallinguistik werden aus der Sicht unterschiedlicher Fächer und Teilfächer wie etwa Germanistik, Anglistik, Niederlandistik und Afrikanistik behandelt. Ein wesentlicher Fokus liegt dabei auf der Verknüpfung von Untersuchungen zu historisch-kolonialen und gegenwärtigpostkolonialen Gegenständen und Perspektiven. Die elf Beiträge des Bandes behandeln sprachliche Themen, die in Zusammenhang mit und in Folge des Kolonialismus relevant wurden, z. B. koloniale wie postkoloniale Sprachideologien, den Status europäischer Standardsprachen in ehemals kolonisierten Gebieten, kolonialzeitliche sprachliche Bedeutungszuschreibungen mit Namen und Wörtern in Texten und Diskursen, Kontaktsprachenphänomene, wissenschaftshistorische Aspekte, aktuelle Bezeichnungspraktiken sowie gegenwärtige Phänomene und Debatten im Kontext postkolonialen Sprachhandelns. Die durchgeführten Analysen der sprachlichen Konstruktion von Wirklichkeit lassen die Verflechtungsgeschichte von sprachlichen Praktiken und Kolonialismus erkennen, die weit über die faktische Kolonialzeit hinausreicht und bis heute sowohl in den Nachfolgestaaten der historischen Kolonien als auch im europäischen Raum der früheren Kolonialmetropolen Relevanz hat. Zusätzlich zur fachlichen Breite des Untersuchungsfeldes Sprache und (Post)Kolonialismus reflektiert dieser Sammelband in seiner Mischung aus Aufsätzen von Mitgliedern der Forschungsgruppe Koloniallinguistik und anderen etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Vertreterinnen und Vertretern des wissenschaftlichen Nachwuchses die aktuelle Verankerung der Koloniallinguistik in der Forschung. Als ein Bereich, der erst in jüngster Zeit die notwendige wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfährt, zeigt sie sich von nachhaltiger ideengeschichtlicher, ideologischer und sprachlicher Brisanz. Die Annäherung an den Forschungsgegenstand aus unterschiedlichen und sich ergänzenden fachlichen Perspektiven ist eine methodische Notwendigkeit, um Wechselbeziehungen zwischen (post)kolonialen Zeiten, Ebenen und Akteuren sichtbar werden zu lassen. https://doi.org/10.1515/9783110561210-007
VIII | Vorwort
Im Auftaktbeitrag von Hüning und Krämer geht es um postkoloniale Sprachideologien. Die Verfasser fokussieren die komplexen linguistischen Verhältnisse in postkolonialen Gesellschaften. Auf der Basis der Hypothese, dass Sprachideologien in ehemaligen Kolonien offenkundige Übereinstimmungen mit entsprechenden Konzepten in Europa aufweisen, diskutieren sie, in wie weit diese Ideologien im Rahmen des europäischen Kolonialismus dorthin transferiert wurden. Insbesondere die Auswirkungen der sogenannten “Standardsprachideologie” auf die Haltung gegenüber Multilingualismus werden vergleichend in vier postkolonialen Gesellschaften (Surinam, Kap Verde, Mauritius, ABC-Inseln: Aruba, Bonaire, Curaçao) untersucht. Mit der Frage, wie „kolonialer Diskurs“ aus linguistischer und aus literaturwissenschaftlicher Perspektive definiert werden kann, beschäftigt sich der Beitrag von Dunker. Im Vergleich der beiden Ansätze verweist er darauf, dass linguistische Ansätze auf empirischer Basis die koloniale Struktur des kontemporären Diskurses herausarbeiten, während die Literaturwissenschaft dezidiert postkolonial ansetzt und die Alterität der Texte selbst fokussiert. Wie sich die beiden Ansätze ergänzen können, wird am Vergleich zwischen von Trothas Befehl zur Vernichtung der Herero und Fontanes Roman Effi Briest exemplarisch dargestellt. Das Ziel von Schmidt-Brückens Beitrag ist es, Formen und Funktionen generalisierenden Sprachgebrauchs im Kontext des deutschen Kolonialismus zu identifizieren und systematisiert zu beschreiben. Der Terminus Generizität dient dabei als Oberbegriff für alle linguistischen Formen, die zum Ausdruck von Verallgemeinerung verwendet werden. Da Generizität hier aus einer funktionellen Perspektive betrachtet wird, findet eine Unterscheidung zwischen textueller, syntaktischer und morphologisch-lexikalischer Generizität statt. Die skizzierten theoretischen und methodologischen Aspekte kommen in einer qualitativen und mehrschichtigen Analyse eines kolonialen massenmedialen Textes zur Anwendung. Die nächsten beiden Beiträge (Stolz und Warnke, Storch) untersuchen aus zwei verschiedenen Perspektiven, wie europäische Sichtweisen sich in der Benennung und Darstellung kolonialzeitlicher Wirklichkeiten widerspiegeln. Toponymische Benennungspraktiken der Kolonialzeit geraten erst seit Kurzem in den Blick der Koloniallinguistik. Der toponomastische Beitrag von Stolz und Warnke schließt eine empirische Lücke, indem er deutschsprachige kolonialzeitliche Makrotoponyme aus dem Gebiet des ehemals kolonialisierten Deutsch-Südwestafrika vorstellt und evaluiert. Mithilfe qualitativer und quantitativer Methoden untersucht er, inwieweit sich die koloniale Namensgebung in diesem Gebiet in das bislang bekannte Bild deutsch-kolonialzeitlicher Toponymie einfügt bzw. davon abweicht. Er trägt so dazu bei, ein umfassende-
Vorwort | IX
res kolonialtoponomastisches Bild von kolonialzeitlicher Namengebung, ihren Mustern und Strukturen zu erarbeiten. Storch fokussiert in ihrem Beitrag die mimetischen Interpretationen des kolonialen Anderen in afrikanistischen Texten über Geistbesessenheit und die Art und Weise, in der Afrikanisten der Kolonialzeit Expertenidentitäten zur Schau stellten und nachahmten. Die Afrikanistik hat sich in ihrem kolonialen Kontext als inhärent interdisziplinär verstanden. In diesem Zusammenhang nahmen frühe Forschungen zu Praktiken von Geistersprachen und Geheimniswahrung eine besondere Position ein: Sie trugen dazu bei, Vorstellungen von ‚afrikanischem Denken‘ und von Expertenwissen zu produzieren. Linguisten und Missionare, die über Geistbesessenheit und Geheimsprachenpraktiken schrieben, konstruierten in ihren Texten daher nicht nur den ‚kolonialen Anderen‘, sondern konnten sich gleichzeitig vor ihrem akademischen und metropolen Publikum als hochspezialisierte Kulturvermittler und grenzüberschreitende Pioniere positionieren. Die beiden folgenden Beiträge (Huber und Velupillai, Arich-Gerz) beschäftigen sich mit den Auswirkungen kolonialen und postkolonialen Sprachkontakts. Der Aufsatz von Huber und Velupillai stellt eine Ressource zur Untersuchung diachroner Daten von Pidgin- und Kreolsprachen vor. Die Database of Early Pidgin and Creole Texts (DEPiCT) sammelt frühe Belege und Beschreibungen (Objekt- und Metadaten) von Kontaktsprachen und macht sie online nach zahlreichen Kontext- und soziolinguistischen Informationen durchsuchbar. DEPiCT eröffnet damit eine große Bandbreite von Forschungsmöglichkeiten, die bisher an der mangelnden Zugänglichkeit dieser Daten scheitern mussten. Im Aufsatz wird die Nutzbarkeit von DEPiCT an einer Studie zu Spracheinstellungen gegenüber Pidgin-Englisch in Neu Guinea während der deutschen Kolonialzeit illustriert. Arich-Gerz diskutiert in seinem Beitrag die theoretische Verortung der Kontaktsprache Oshideutsch, die in einer nach- bzw. postkolonialen Situation entstanden ist. Die Sprache wurde zwischen 1979 und 1989 von jugendlichen Sprechern des Oshivambo (Namibia) während ihrer Beschulung in der DDR entwickelt und ist bis heute als Gruppensprache mit mehreren Standorten in Gebrauch. Aus verschiedenen linguistischen Perspektiven (Sondersprachenforschung, Pidginforschung, Kontaktlinguistik, postkoloniale Linguistik) werden Besonderheiten dieser postkolonialen Varietät herausgearbeitet. Die missionarische und kolonialzeitliche Politik von Sprach- und Zeichenverwendung ist Thema der Texte von Castelli und Schöner. Auf der Basis von historischen Quellen aus der Zeit der frühen Missionstätigkeit in Südwestafrika stellt Castelli dar, welche bedeutende Rolle Hanna Kleinschmidt in Bezug auf die Umsetzung missionarischer Sprachpolitik und
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insbesondere die Kodifizierung des Khoekhoegowab innehatte. Als Tochter eines deutschen Missionars und einer Nama-Christin und Ehefrau eines deutschen Missionars war sie maßgeblich an der Verschriftlichung des Khoekhoegowab und seinem Gebrauch in Missionszusammenhängen beteiligt. Der Aufsatz nimmt damit auch kritisch Stellung zur vielfach üblichen Verschleierung der essentiellen Rolle, die Frauen in der Sprach- und Missionsarbeit im Rahmen der christlichen Missionierung gespielt haben. In Schöners Aufsatz wird, ausgehend vom Konzept der Semiotic Landscapes, untersucht, in welcher Form und welchem Umfang deutsche Kultur in der ehemaligen deutschen Kolonie Tsingtau (Qingdao) implementiert wurde. Diese Kolonie, die auch als “Musterkolonie” referenziert wurde, sollte während der deutschen Kolonialzeit ein Zentrum deutscher Kultur in China werden. Es zeigt sich allerdings, dass die entsprechenden Aktivitäten über die Kolonialzeit hinaus keinen nachhaltigen Einfluss im intendierten Sinne ausübten. Abschließend untersuchen Karg und Weinbach aus postkolonialer Perspektive den sprachlichen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit sowie gegenwärtige Bedeutungszuschreibungen. Der Diskurs um die postkoloniale Verhandlung des Reiterdenkmals in Windhoek (Namibia) als einem kolonialen Erinnerungsort ist Gegenstand des Beitrags von Karg. Die öffentlich-mediale Auseinandersetzung bezog sich auf die Um- und Ersetzung des postkolonial umstrittenen Denkmals. Karg untersucht aus diskurslinguistischer und diskursanalytischer Perspektive, welche Positionen in der diesbezüglichen medialen Auseinandersetzung vertreten waren und welche Akteure in diesem Diskurs eine Stimme erhielten. Auch Weinbach greift in ihrem Beitrag postkoloniale Ausprägungen kolonialer Haltungen auf. Sie vergleicht Beschreibungen von ausgewählten Nahrungsmitteln und diskutiert, inwiefern gegenwärtigen Lebensmittelbezeichnungen eine postkoloniale Bedeutungsaufladung zugeschrieben werden kann. Vorgestellt wird ein in Deutschland vertriebenes Produkt mit Afrikareferenzierung und eine Speisekarte aus Namibia. Der Beitrag untersucht, welches Narrativ hier aufgerufen wird und wie eine postkoloniale Lesart es ermöglicht, die dahinterliegenden “Afrika”-Konzepte aufzudecken. Wir danken den Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung und Geduld während der Produktionszeit. Ebenso gilt unser Dank Cornelia Stroh und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags de Gruyter für ihre hilfreiche Unterstützung. Birte Kellermeier-Rehbein, Wuppertal Matthias Schulz, Würzburg Doris Stolberg, Mannheim
Matthias Hüning und Philipp Krämer
Standardsprachenideologie als Exportprodukt Zur Rolle europäischer Standardsprachen in postkolonialen Kontexten Abstract: Most postcolonial societies make use of the language(s) of the former colonial power(s) and, additionally, of one or several local or Creole languages. This article analyses the complex linguistic relationships within postcolonial societies. As a hypothesis, we assume that the language ideologies in former colonies take a shape similar to those in Europe and we discuss the possibility that these ideologies were brought to the colonies along with the linguistic dominance of European colonialism. In particular, so-called ‘standard language ideology’ has had a considerable influence upon the way these societies deal with multilingualism. Following an introduction of key concepts, we discuss the individual linguistic situations in four case studies (Suriname, Cape Verde, Mauritius, ABC islands) and outline a comparison of the consequences that standard language ideology entails in the different societies. Keywords: standard language ideology, standardization, colonialism, postcolonial societies, language policy and planning, Creole languages
1 Einleitung Postkoloniale Kontexte zeichnen sich in der Regel durch ein Nebeneinander verschiedener Sprachen aus. Neben den Sprachen der Kolonisatoren werden typischerweise autochthone Sprachen sowie häufig eine oder mehrere Kreolsprachen gesprochen. Hinzu kommen internationale Sprachen wie Englisch oder Spanisch, die in einer globalisierten Welt auch in postkolonialen Zusammenhängen an Bedeutung zunehmen.
|| Matthias Hüning: Freie Universität Berlin, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. E-Mail: [email protected] Philipp Krämer: Freie Universität Berlin, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-011
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In diesem Beitrag möchten wir exemplarisch einige Konstellationen dieses Nebeneinanders verschiedener Sprachen untersuchen. Die zentrale These ist, dass die sprachlichen Situationen in ehemaligen europäischen Kolonien von den gleichen ideologisch verankerten Annahmen über (den Wert von) Sprachen geprägt sind wie die in Europa. Insbesondere die so genannte „Standardsprachenideologie“ spielt nicht nur in Bezug auf die europäischen Nationalsprachen eine große Rolle, sondern eben auch im Hinblick auf die Entwicklungen in postkolonialen Kontexten. Dazu werden – nach einführenden Überlegungen zu Standardsprachen und Standardsprachenideologie im folgenden Abschnitt – in Paragraph 3 verschiedene postkoloniale Konstellationen grob skizziert und im Hinblick auf das Verhältnis der Sprachen zueinander diskutiert. Im abschließenden Paragraph 4 werden einige Konsequenzen dieses Vergleichs diskutiert.
2 Standardsprachen und Standardsprachenideologie Die Herausbildung der Standardsprachen wird häufig – zu Recht – als eine großartige kulturelle Leistung gesehen, weil sie zur Kohäsion größerer Diskursund Kommunikationsräume beitragen können. Schon Otto Jespersen war Anfang des vorigen Jahrhunderts dieser Meinung: The greatest and most important phenomenon of the evolution of language in historic times has been the springing up of the great national common languages – Greek, French, English, German, etc. – the ‘standard’ languages which have driven out, or are on the way to drive out, the local dialects. (Jespersen 1925: 45)
Die europäischen Standardsprachen sind in den vergangenen Jahrhunderten durch die Koppelung von Sprache und Staat in vielen Fällen zu Nationalsprachen geworden, häufig sogar per Gesetz zu solchen erklärt worden. Die Hochschätzung der einheitlichen Standardsprachen als Ideal hat im 19. und 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht, zunächst in Bezug auf die Schriftsprache, dann immer mehr auch in Bezug auf die gesprochene Sprache (vgl. hierzu unter anderem Hüning et al. 2012). Diese Entwicklung und die Herausbildung unseres heutigen Sprachbegriffs beginnen in der Renaissance. Burke (2004) spricht in diesem Zusammenhang von der frühen Neuzeit als dem „Zeitalter der Entdeckung von Sprache“. Im Laufe der Zeit haben sich die Position und der gesellschaftliche Status dieser Sprachen immer weiter entwickelt, so dass Sprache und Standardsprache im zwanzigsten Jahrhundert nahezu zu Synonymen geworden sind. Es hat sich
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eine „Standardsprachenideologie“ herausgebildet (vgl. u.a. Gal 2006), mit Konsequenzen für die Bewertung von Abweichungen und nicht-standardsprachlichen Varietäten. Letztlich werden erst durch ideologische Auffassungen bestimmte Sprachformen überhaupt als Standard wahrgenommen. Deumert (2003) fasst sie entsprechend als ritualisierte Konventionen auf, die zur sozialen Kohäsion einer Sprechergemeinschaft beitragen: Their ontological status within the architecture of varieties is defined first and foremost by a specific ideological construction which makes reference to notions such as uniformity, authority and superiority as well as national identity and community. (Deumert 2003: 33)
Erst in dieser ideologisch verankerten Position kann ein Standard breite Anerkennung erlangen und entsprechend auch Objekt der gegenwärtigen und historischen Diskurse über Sprache und Sprachverfall werden. Obgleich es so scheint, als seien die Existenz eines sprachlichen Standards und dessen ideologische Überhöhung untrennbar miteinander verbunden oder gar gegenseitige Bedingung, so ist die Standardisierung eigentlich zunächst nur ein struktureller Prozess: [T]he process of standardization works by promoting invariance or uniformity in language structure. [...] standardization consists of the imposition of uniformity upon a class of objects. (Milroy 2001: 531)
Die Klasse von Objekten ist von ihrer Natur her nicht uniform, sondern variabel. In der Sprache betrifft dies ihre Strukturen wie grammatische Regeln und – häufig damit verwoben – auch den Wortschatz, die orthographische Repräsentation von Sprache oder Ansichten zur stilistischen Angemessenheit des Sprachgebrauchs. Die Standardisierung zielt darauf ab, diese Variabilität zu reduzieren und Einheitlichkeit herzustellen. Dass diese vereinheitlichte Form von Sprache in der Regel ein höheres Prestige trägt als andere Varietäten, ist keine inhärente Eigenschaft, sondern sie bezieht ihr Prestige von sozial anerkannten und dominanten Sprechergruppen (Milroy 2001: 32). Diese haben umgekehrt den stärksten Einfluss darauf, welche Varianten als standardsprachlich gelten dürfen und welche vom Standard und damit vom Prestige ausgeschlossen werden. In manchen Sprachgemeinschaften wird dieses Prestige durch Institutionen verliehen, die ihrerseits stark an die sozial dominanten Sprechergruppen angebunden sind bzw. ihre Mitglieder aus diesen Gesellschaftsschichten rekrutieren (z. B. die Académie Française oder die Real Academia Española). Die Ideologie, die an die Sprache herangetragen wird, ist also letztendlich zwar verknüpft mit gewissen Normen in der Sprache, erhält ihre Legitimation aber dennoch von der Menschengruppe, mit der sie assoziiert wird. Die Standardsprachenideologie ist im Grunde eine Stan-
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dardsprecherideologie, obwohl normalerweise niemand in der gesprochenen Sprache alle Normen des Standards einhält: [Standard languages] are not vernaculars, and no one speaks them exactly: the standard ideology decrees that the standard is an idea in the mind – it is a clearly delimited, perfectly uniform and perfectly stable variety – a variety that is never perfectly and consistently realized in spoken use. (Milroy 2001: 543)
Entscheidend ist, dass die als Standardsprecher betrachteten Gruppen dem Ideal des Standards näherkommen als andere Sprechergruppen – nicht zuletzt weil sich die Merkmale des Standards meist selbst wiederum aus den Varianten der prestigereichen Sprechergruppen herleiten. Dies ist ausreichend, um sie als Standardsprecher zu identifizieren. So wird „das Ideal mehr und mehr für die Wirklichkeit gehalten“ (van der Horst 2008: 146). Die Kehrseite dieses Ideals ist die Ablehnung all jener Formen, die nicht als standardsprachlich gelten. The primacy of standard languages is a result of complex ideology formation processes. At the core of standard language ideology stand, on the one hand, beliefs about language correctness; on the other hand, it is characterized by a strong belief in ‘the one best variety’ and a general denigration and rejection of all other (non-standard) varieties. (Vogl 2012: 13)
Unterschiede werden in Hierarchien überführt. Mögen diese Unterschiede oberflächlich nur sprachliche Merkmale betreffen, sind sie letztendlich doch einflussreiche Indikatoren für die soziale Zugehörigkeit von Sprechern. Die Hierarchisierung von Sprachformen geht einher mit der Hierarchisierung von Sprechergruppen. Eine solche Standardsprachenideologie prägt seit langer Zeit ganz wesentlich das europäische Sprachdenken (Milroy 2001, Gal 2006, Vogl 2012, Hüning 2013). An dieser Stelle empfiehlt sich eine kurze, wenn nicht verkürzte, Unterscheidung zwischen Standardsprachenideologie und Standardsprachendiskurs: If ‘discourse’ and ‘ideology’ both figure in accounts of the general field of social action mediated through communicative practices, then ‘discourse’ focuses upon the internal features of those practices, in particular their linguistic and semiotic dimensions. On the other hand, ‘ideology’ directs attention towards the external aspects of focusing on the way in which lived experience is connected to notions of interest and position that are in principle distinguishable from lived experience. (Purvis & Hunt 1993: 476; Hervorh. d. Autoren)
Im Fall der Standardsprachenideologie und des Standardsprachendiskurses ist das Feld sozialer Handlungen (the „field of social action“) hier die Etablierung, Anerkennung oder Anwendung sprachlicher Normen sowie die Unterscheidung
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zwischen Sprachformen, bei denen solche Normen überhaupt vorliegen sollen und solchen, bei denen sie als unangemessen gelten. Ein Diskurs gibt Muster des Sagbaren vor, während durch Äußerungen im Rahmen der Muster sowohl der Diskurs als auch die ideologischen Überzeugungen stabilisiert werden. Unter Ideologie kann man demnach ein erworbenes Inventar von Überzeugungen fassen, die von einer Gruppe geteilt werden, und die strukturiert und hierarchisierbar sind (van Dijk 2001: 11f.). Ganz grundlegend umfasst die Standardsprachenideologie eine Reihe unhinterfragter Haltungen (im Sinne von attitudes, van Dijk 2001: 16) zu konkreten Eigenschaften von Sprache, die miteinander verbunden sind, einander gegenseitig die Grundlage liefern und so eine Struktur bilden. Dazu gehört zunächst die Auffassung, Standardsprachen seien fixiert und normiert, so dass anhand eines verbindlichen und vor allem vollumfassenden Regelwerks jederzeit festgestellt werden kann, ob eine bestimmte Äußerung korrekt oder unkorrekt ist. Diese vermeintlich stabile Fixiertheit des Standards spiegelt sich wider in der Ansicht, dass Sprachen als klar umrissene Einheiten voneinander abgrenzbar seien (van der Horst 2008: 148 spricht von „zählbaren Fiktionen“). Unterstützt wird eine solche Sichtweise durch die Koppelung von Sprache und Staat, welche besonders im 19. Jahrhundert an Kraft gewann: Wenn Sprachen zählbar sind und jeder Nation genau eine Sprache zugeordnet wird, dann sind auch Nationen zählbar, also voneinander eindeutig abgrenzbar und können somit auf Basis eines vermeintlich objektiven soziokulturellen Kriteriums ihre Souveränität legitimieren. Unterfüttert wird ein solcher Souveränitätsanspruch von der vermeintlichen Dauerhaftigkeit des Standards, dem eine langlebige Stabilität gegenüber den volatilen Nichtstandardvarietäten zugeschrieben wird – eine Stabilität, die auf die politische Einheit „Nation“ bzw. „Nationalstaat“ abstrahlen soll. Legitimationskraft nach innen verleiht die Standardsprache durch ihre Verbindung mit „Kultiviertheit“ und Bildung, also letztlich mit den Eliten der Gesellschaft. Obwohl diese Eliten in der europäischen Geschichte in der Regel meist mehrsprachig waren, etwa Latein oder Französisch als Bildungssprache ebenso beherrschten wie die jeweils lokalen Dialekte, kristallisierte sich das Bild des üblicherweise einsprachigen Sprechers heraus. Die (vermeintliche) Einsprachigkeit der Sprechergemeinschaft schafft wiederum ein Bild der Sprache als einigendes Element der Nation. Bis heute hält sich diese Sichtweise des Monolingualismus als Normalfall, der inzwischen als „monolingualer Habitus“ erfasst wird (Gogolin 2006), also als mit sozialen Wirkungen behaftetes Verhaltensmuster, das mit der Sozialisierung erworben wird und sich dadurch fortsetzen kann.
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Die Definitionshoheit der sozial dominanten Gruppen über das, was als Standard gelten darf, bringt es mit sich, dass die Standardsprache als kulturelle Errungenschaft betrachtet wird, welche es zu erhalten und zu schützen gilt. Der Schutzreflex wird von einem spezifischen Inventar an Begriffen und Metaphern begleitet, das nicht selten bis hin zur Kampfrhetorik geht, wenn der Standard „verteidigt“ werden soll, weil ihm andernfalls „Schaden droht“. Als Teil dieses Schutzes sollen bestimmte Verwendungsbereiche insbesondere des öffentlichen Lebens wie der Bildungssektor, die Politik, die Kulturszene oder die Medien dem Standard vorbehalten bleiben.1 Letztendlich münden all diese Überzeugungen in ein Verschmelzen der Konzepte Sprache und Standard: Die Einzelsprache, die mit Bezeichnungen wie Deutsch oder Französisch belegt ist, wird in eins gesetzt mit den jeweiligen Standardformen, während alles andere als Dialekte des Deutschen oder als Varietäten des Französischen aufgefasst wird. Auch weite Teile der modernen Linguistik stellten lange Zeit die nationalen Standardsprachen in den Mittelpunkt ihrer Forschung. Davon zeugt beispielsweise die oben genannte und in der Sprachwissenschaft keineswegs unübliche Bezeichnung Varietäten des Französischen. Mit dem Aufschwung der synchronen Betrachtung sprachlicher Systeme in der Nachfolge beispielsweise von Saussure wird Variation für viele Linguisten zu einem störenden Faktor in der Sprachbeschreibung und für die Sprachtheorie. linguistic theory has been largely dependent on, and modelled on the properties of, uniform and standardized varieties [...] the idea of what is believed to constitute a ‘language’ can hardly escape the influence of the standard ideology. (Milroy 2001: 539)
Als weiteres typisches Element der Standardsprachenideologie übernahm die Linguistik zudem lange Zeit das Bild des einsprachigen Sprechers. Die Effekte von Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit wurden in der Mainstream-Linguistik weitestgehend ausgeklammert zugunsten eines homogenen Sprachbildes des „idealen Sprechers und Hörers“, der zwar nur eine Sprache beherrscht, dafür aber vollständig und in ihrer reinen Standardform. Multilingualism was considered to be the consequence of some kind of disturbance in the ‘language order’, such as migration or conquest, which brought language systems into some kind of unexpected and ‘unnatural’ contact with one another, often leading to struc-
|| 1 Vgl. Trabant (2002: 91ff.) über das Beispiel der „defensiven“ Sprachpolitik Frankreichs mit dem Versuch, die als besonders relevant betrachteten Verwendungsdomänen weiterhin für das Französische zu sichern.
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tural simplification (which, in the language ideology of the 19th century, usually implied degeneration). (Auer & Wei 2009: 2)
Als Reaktion auf solche Standpunkte und als Alternative zu diesen vereinfachenden Annahmen wird inzwischen immer häufiger Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt als zentrales Element eines angemessenen Verständnisses von Sprache und insbesondere von Sprachwandel gesehen. So stellt beispielsweise der Ansatz der ecology of language explizit nicht nur die außersprachlichen sozialen Gegebenheiten, sondern auch die gegenseitige Beeinflussung von Sprachen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung (vgl. Mufwene 2008).
3 Standardsprachenideologie im (post)kolonialen Kontext Viele der großen europäischen Sprachen wurden durch die Kolonialisierung in der Welt verbreitet. Diese Ausdehnung des sprachlichen Einflusses fällt zeitlich zusammen mit der Periode, in der die Standardisierung an Fahrt gewann. Dies ist kein Zufall, gehen doch kolonialer Anspruch und Behauptung der Nation nach innen ebenso zusammen wie die Forderung nach nationalem und sprachlichem Zusammenhalt. Die Hochphase der Standardisierung im 19. Jahrhundert überlappt damit ganz klar mit der Hochphase der kolonialen Expansion. Mit der Kolonialisierung etablierten die Europäer in den eroberten Gebieten auch mitgebrachte Wertesysteme, die sie mit dem vermeintlichen Recht des Stärkeren und der mission civilisatrice durchsetzten. Nach der Unabhängigkeit wurden nicht selten entscheidende Teile dieses Wertegefüges in das Selbstbild der postkolonialen Nationen integriert und übernommen.2 Es lässt sich also plausibel vermuten, dass die Europäer nicht nur ihre Sprachen, sondern auch ihre Sprachauffassungen in die Kolonien exportiert haben, wo sie sich in vielen Fällen bis in die postkoloniale Ära hinein halten konnten. Präkoloniale Sprachen ebenso wie die in der Kolonialzeit entstandenen Kreolsprachen begannen nicht als Standardsprachen, sondern sie waren verknüpft mit sozial niedrigeren Sprechergruppen und hatten entsprechend wenig Definitionshoheit über die Gültigkeit von Normen. Da aber die Etablierung einer Standardsprache in aller Regel mit Standardsprachideologie einhergeht und diese Ideologie von den
|| 2 Vgl. Ennis & Pfänder (2013: 39f.) für den Fall der lateinamerikanischen Staaten nach der Unabhängigkeit, für Haiti siehe Müller (2012: 34ff.).
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sozial dominanten Sprechern ausgeht, fällt insbesondere in der ausgeprägten und dauerhaft gefestigten sozialen Ungleichheit kolonialer Gesellschaften die Standardsprachideologie auf fruchtbaren Boden. Zu diskutieren ist jedoch die Frage, ob die ideologischen Muster tatsächlich gemeinsam mit der Sprache in die Kolonien gebracht wurden, oder ob sie sich aufgrund des von den Kolonialmächten etablierten Wertegefüges nur parallel zueinander entwickelt haben. Zwei Argumente spielen hier eine Rolle: Zum einen ist die Standardsprachenideologie keineswegs eine exklusiv europäische Erscheinung. Ähnliche Haltungen finden sich beispielsweise in Bezug auf das Chinesische3 oder das Arabische.4 Zum anderen ist die Kolonialzeit jene Periode, in der auch die europäischen Sprachnormen sich erst nach und nach etablieren. Die von den Kolonialherren in die Welt getragenen Sprachen waren in der Regel gerade nicht die literarischen Hochformen der Schriftnorm, sondern soziolektal und dialektal geprägte Varietäten, zum Beispiel die Dialekte der jeweiligen Herkunftsregionen (Mufwene 2005: 24, Chaudenson 1992: 66ff.). Dies schließt aber nicht aus, dass die Kolonialherren und Siedler die Ansichten über sprachliches Prestige verinnerlicht hatten und in den Kolonien wiederum in die Praktiken sozialer Hierarchien gegenüber der lokalen Bevölkerung und deren Sprachen überführten. Waren sie im Kontext ihres Herkunftslandes sprachlich noch der weniger einflussreichen Gruppe zugerechnet worden, so bot sich mit den Machtverhältnissen in der Kolonie und den dortigen Sprachkonstellationen nun die Möglichkeit, sich an die Spitze der Hierarchie zu setzen. Ein verfestigtes Bild von sprachlicher Diversität prägt bis heute die Sprachreflexion und die Sprachenpolitik auch in postkolonialen Zusammenhängen. In der Zeit nach der Unabhängigkeit wurde diese ideologische Sicht auf Sprache in sehr unterschiedlichem Grad beibehalten, abgelegt oder umgelenkt.
|| 3 Vgl. Tan (2012) zur Sprachideologie in Singapur gegenüber dem chinesischen StandardMandarin (Putonghua). 4 Vgl. den historischen Überblick in Hachimi (2013: 273ff.) seit der Ausbreitung des Arabischen und den damit verbundenen ideologisch gefestigten Gegensatz zwischen Arabisch im Maghreb und im Maschrek. Stadlbauer (2010) sieht wiederum die britische Kolonialzeit in Ägypten als entscheidende Periode, in der die ideologischen Zuschreibungen an den arabischen Standard zur antikolonialistischen Emanzipation herangezogen wurden. In diesem Kontext wäre die Standardsprachenideologie weniger europäisches Exportprodukt im Kolonialismus, als vielmehr Reaktion auf den Kolonialismus.
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3.1 Spannungsfeld zwischen verschiedenen Sprachen In den postkolonialen Gesellschaften sind die europäischen Standardsprachen in der Regel nicht die einzigen, sondern sie fügen sich ein in Geflechte verschiedener Sprachen und haben aus soziohistorischen Gründen jeweils einen bestimmten Platz im Sprachengefüge. Dabei entfalten die ideologischen Auffassungen von Sprache deutliche Wirkungen und schaffen so ein Spannungsfeld zwischen den vorhandenen Sprachen. Die folgende Grafik macht dieses Spannungsfeld anschaulich. Internationale Sprache(n)
Europäische
Lokaler Standard?
Kolonialsprachen
(Plurizentrismus)
Lokale (Kreol-)Sprachen
Abbildung 1: Postkoloniale Sprachkonstellationen.
Die Pfeile geben an, ob bzw. dass eine Verschiebung von Verwendungsdomänen festzustellen ist. Die dominante Kolonialsprache verliert Funktionen und Verwendungsbereiche in verschiedene Richtungen, was unter den Prämissen der Standardsprachenideologie als problematisch erfahren werden kann. Kernfrage ist dabei, ob die Standardsprachenideologie den europäischen Standard schützt, oder einen bestehenden oder entstehenden lokalen Standard. Hinzu tritt die Überlegung, welche Auswirkungen die ideologischen Prämissen auf den Umgang mit lokalen Sprachen haben, seien es indigene Sprachen aus der präkolonialen Zeit, im Zuge der Kolonialherrschaft entstandene Kreolsprachen oder auch später hinzugekommene, sozial weniger prestigeträchtige Sprachen wie etwa jene asiatischer Vertragsarbeiter. Dies lässt sich anhand einiger Fallbeispiele illustrieren, bei denen diese Konstellationen sehr unterschiedlich ausfallen.
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3.1.1 Suriname Die ehemalige niederländische Kolonie Suriname an der Nordostküste des südamerikanischen Kontinents ist seit 1975 unabhängig. Offizielle Sprache ist das Niederländische, als gesprochene Lingua Franca ist zusätzlich Sranantongo verbreitet (häufig auch kurz Sranan genannt), eine englischbasierte Kreolsprache. Daneben werden ungefähr 20 weitere Sprachen gesprochen. Das Niederländische hat in Suriname eine sehr gefestigte Position und scheint in seinem Status als offizielle Prestigesprache unbestritten (Diepeveen & Hüning 2016). In der Bevölkerung ist die Beherrschung aber sehr unterschiedlich. Für manche Bevölkerungsgruppen ist Sranan die einzige Verkehrssprache, während sie keinen Zugang zum Niederländischen haben. Dies führte bisher immer wieder zu Debatten über die Frage, ob man die Funktionsdomänen des Sranan ausweiten solle, beispielsweise indem eine standardisierte Form auch als Bildungssprache genutzt oder generell eine verbindliche Schriftnorm eingeführt würde. Zugleich steigt der Druck auf das Niederländische durch die internationalen Sprachen, insbesondere Englisch (und in weit geringerem Maße Spanisch und Portugiesisch). Die Forderung nach einer verstärkten Nutzung des Englischen kann unterfüttert werden mit der Tatsache, dass Sranan aus dem Englischen hervorgegangen ist, so dass für große Teile der Bevölkerung die sprachliche Distanz zwischen ihrer Alltagssprache und der möglichen Verkehrsoder Bildungssprache geringer würde.5 Bisher wurden solche Überlegungen jedoch in Sprachenpolitik und -planung noch nicht umgesetzt. Stattdessen ist die momentan stärkste Reaktion auf die vorherrschenden Ansichten zum Sprachgefüge Surinames, einen eigenen lokalen Standard des Niederländischen anzuerkennen und auszubauen, der sich an einigen Stellen vom europäischen Niederländisch unterscheidet (vgl. hierfür beispielsweise De Kleine 2013). Entscheidend für die Situation von Suriname ist damit, dass einerseits die Standardsprache nach europäischem Vorbild an Bindungskraft verliert, indem andere Varianten zugelassen und als korrekt angesehen werden. Andererseits wird dieser lokale Standard wiederum von denselben ideologischen Prämissen gestützt, welche auch in Ansichten über die europäischen National- und Standardsprachen wirksam werden.
|| 5 Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die englisch-basierten Kreolsprachen in Suriname sich strukturell stärker vom Englischen entfernt haben als jene in anderen anglokreolischen Gebieten, vgl. Schneider (2013: 492).
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Englisch (Spanisch, Portugiesisch)
Niederländisch
Surinamisches Niederländisch
Sranantongo
ca. 20 andere Sprachen
Abbildung 2: Postkoloniale Sprachkonstellation in Suriname.
Dem Sranan wird entsprechend kein Platz eingeräumt, weil Prestige und sozialer Einfluss weiterhin mit einer möglichst guten Beherrschung des niederländischen Standards – wenn auch in seiner surinamischen Ausprägung – verknüpft bleibt.6 Die Standardsprachenideologie ist damit in Suriname fest verankert und äußert sich insbesondere in einem starken Festhalten am Niederländischen, wenn auch die Ansichten, was genau als Standard zu betrachten ist, im Augenblick einem deutlichen Wandelprozess unterliegt. Anderen Sprachen des Landes kommt dieser Wandelprozess jedoch bislang nicht zugute.7
3.1.2 Kapverden Ebenso wie Suriname erlangten auch die Kapverden 1975 die Unabhängigkeit. In der ehemaligen Kolonie Portugals ist das Portugiesische bisher unumstritten die offizielle Sprache des Staates, des öffentlichen Lebens und der Bildung. Man orientiert sich dabei am europäischen Standard, wendet den Blick aber zunehmend auch nach Brasilien. Als internationale Prestigesprachen gelten, insbe-
|| 6 In der Grafik wird dies durch die dünnere Pfeillinie symbolisiert. 7 Anfang 2015 schlug der damalige Bildungsminister Ashwin Adhin vor, alle ca. 20 Sprachen Surinames als offizielle Sprachen des Landes anzuerkennen. Umgesetzt wurde das Vorhaben bislang nicht. Die konkreten Konsequenzen einer solchen Anerkennung sind zurzeit nicht absehbar.
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sondere in der Wirtschaft, das Englische und zu einem geringeren Anteil auch das Französische als bedeutend. Gemeinsam mit dem Portugiesischen wird diesen Sprachen vor allem die Rolle als Bindeglied zu den Ländern des afrikanischen Kontinents und zu Brasilien zugeschrieben. Während das Portugiesische in seiner Rolle also nicht in Frage steht, diskutiert man seit einigen Jahren über den Status der portugiesisch-basierten Kreolsprache (Kabuverdianu). Vor allem aus antikolonialistisch und politisch links stehenden Teilen der Bevölkerung wird gefordert, das Kreolische auszubauen und zu standardisieren, um es anschließend auch im Bildungssystem einzusetzen.8 Bereits seit Ende des letzten Jahrhunderts ist die Etablierung des Kreolischen erklärtes Staatsziel: Es soll als Schulsprache und als offizielle Amtssprache neben das Portugiesische treten. Umgesetzt wurde das Ziel aber noch nicht. Bisher wurde lediglich eine orthographische Norm staatlich anerkannt,9 deren Regelungen aber weiterhin in der Diskussion bleiben und mit neuen Vorschlägen ergänzt werden.10 Grammatische Normen wurden noch nicht allgemeinverbindlich festgelegt. Die Situation auf den Kapverden ist von zweierlei Faktoren geprägt.11 Zum einen ist die Frage nach einer Aufwertung und Standardisierung des Kreolischen stark politisch aufgeladen und stets auch mit Haltungen zur Regierungspolitik, zur Behauptung der Kapverden gegenüber dem dominanten portugiesischen Kulturmodell und zur Rolle eines kleinen Landes in der Welt verknüpft. Diese grundsätzlichen Fragen werden auch mit einzelnen Regelungen sprachlicher Normen verknüpft. So erhält beispielsweise das Graphem eine spezielle Bedeutung dadurch, dass es in den großen romanischen Sprachen kaum benutzt wird und entsprechend durch seine Einführung in der kreolischen Orthographie die Eigenständigkeit der Sprache deutlich sichtbar gemacht werden kann.12
|| 8 Zur Sprachpolitik der Kapverden seit der Unabhängigkeit vgl. den Überblick in Torquato (2011). 9 Vgl. Decreto-Lei No. 67/98 und Resolução No. 48/2005 mit der staatlichen Anerkennung des Alfabeto Unificado para a Escrita do Caboverdiano (ALUPEC, Einheitliches Alphabet für die Schreibung des Kapverdischen). 10 Vgl. etwa den auf dem ALUPEC basierenden, weitergehenden Vorschlag in Silva (2014). Zur Variationsbandbreite des Kreolischen der Kapverden siehe Lang (2014). 11 Zur soziolinguistischen Situation der Kapverden vgl. umfassend Lopes (2011). 12 Dies ist nicht nur beim Kapverdischen der Fall, sondern auch in Diskussionen um die Schreibung vieler französisch-basierter Kreolsprachen, vgl. Strobel-Köhl (1994: 63).
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Englisch
Portugiesisch
Kabuverdianu
Abbildung 3: Postkoloniale Sprachkonstellation der Kapverden.
Zum anderen stehen das Portugiesische und das Kreolische sich historisch sehr nah. Dies kann den Erwerb des Portugiesischen für kreolische Muttersprachler erleichtern, führt aber wie in allen Sprachkontaktsituationen auch zu Interferenzen und Entlehnungen. Diese werden in der Sprachgemeinschaften als „Mischformen“ abgelehnt und gelten weniger als Phänomen zweier offener Systeme, die sich gegenseitig befruchten können, sondern eher als Zeichen mangelhafter Beherrschung des Portugiesischen. Dementsprechend schwierig ist die Etablierung eines lokalen portugiesischen Standards, da die spezifisch kapverdischen Elemente in aller Regel auf Kreolismen zurückzuführen wären und deshalb gerade nicht für standardtauglich gehalten werden. Umgekehrt wird auch auf der pro-kreolischen Seite ein allzu deutlicher Einfluss des Portugiesischen etwa durch Entlehnungen oder die Übernahme von als „unkreolisch“ empfundenen, akrolektalen Strukturen abgelehnt, um den Ausbau nicht durch eine standardportugiesische Überformung zu gefährden und die Eigenständigkeit des Kreolischen auch durch grammatische wie lexikalische Distanz zu signalisieren. Auf den Kapverden wird als Element der Standardsprachenideologie also vor allem die Forderung nach Reinhaltung der Prestigesprache und Trennung zwischen den Sprachen wirksam.
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3.1.3 Mauritius Die Insel Mauritius im Indischen Ozean war lange Zeit französische Kolonie, bis sie im frühen 19. Jahrhundert an Großbritannien fiel. Die Unabhängigkeit erlangte das Land im Jahr 1968. Trotz der langen britischen Kolonialzeit blieb das Französische fast unverändert präsent. Sowohl Englisch als auch Französisch sind de facto offizielle Sprachen, ohne dass dies jedoch gesetzlich ausführlich geregelt wäre. Das Englische spielt dabei vor allem in Politik und Justiz eine Rolle, während das Französische eher in Medien und Kultur bedeutsam ist und weiterhin als wichtige Bildungssprache angesehen wird. In jüngster Zeit erhalten die beiden europäischen Sprachen zunehmend Konkurrenz, seit das Kreolische an Verwendungsdomänen hinzugewinnt. Bisher wirkte die Bedeutung des Morisyen als französisch-basierte Kreolsprache eher stabilisierend vor allem für die Verwendung des Französischen, das als historisch verwandte Sprache leichter vermittelbar war als das Englische. Inzwischen ist das Kreolische aber im öffentlichen Leben immer stärker akzeptiert, und es wurde 2012 als Schulsprache eingeführt (Stein 2012). Dazu wurde in den vorausgehenden Jahren eine verbindliche Norm erstellt, die nun gelehrt und im Unterricht genutzt wird. Zwar wurde in den Schulen schon seit langer Zeit auch Kreolisch gesprochen – eine Praxis, die akzeptiert war –, es gab allerdings keine systematische Begleitung und Förderung des schulischen Sprachgebrauchs etwa durch Schrifterwerb. Die Sprachen der im 19. Jahrhundert verpflichteten Vertragsarbeiter wie beispielsweise Chinesisch oder das indische Bhojpuri können als Wahlfächer belegt werden, sind ansonsten aber vor allem innerhalb der jeweiligen Community relevant. Zur gruppenübergreifenden Verständigung dient üblicherweise das Kreolische, das von praktisch allen Bevölkerungsschichten und -gruppen beherrscht wird (Stein 1982: 127ff.). Ein lokaler Standard der beiden Kolonialsprachen hat sich in den vergangenen Jahrhunderten nie herausgebildet. Ähnlich wie auf den Kapverden waren auch hier die europäischen Normen maßgebend, und lokale sprachliche Einflüsse wurden als Interferenzen abgelehnt. Durch die Stärkung und Förderung des Kreolischen könnte es in Zukunft zu einer Umlenkung der Standardsprachenideologie kommen. Schützt diese im Augenblick noch die Verwendung des Englischen und Französischen, so ist bereits jetzt eine wachsende Unterstützung des Kreolischen spürbar. Mit der Schaffung eines eigenen kreolischen Standards könnten damit mittelfristig dieselben Forderungen an das Morisyen gerichtet werden, die gegenwärtig die europäischen Sprachen treffen.
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Englisch & Französisch
Kreolisch
Chinesisch, Bhojpuri etc.
Abbildung 4: Postkoloniale Sprachkonstellation in Mauritius.
3.1.4 Aruba, Bonaire, Curaçao (ABC-Inseln) Die drei karibischen Inseln Aruba, Bonaire und Curaçao vor der Küste Venezuelas waren lange Zeit niederländische Kolonien. Heute sind Aruba und Curaçao jeweils eigene autonome Länder als Glieder des Königreichs der Niederlande, während Bonaire inzwischen eine niederländische Gemeinde mit Sonderstatus ist. Nicht nur in der politischen Anbindung, sondern auch in der soziolinguistischen Konstellation unterscheiden sich die Inseln zum Teil erheblich. Niederländisch und die iberoromanisch-basierte Kreolsprache Papiamentu sind offizielle Sprachen, daneben spielt das Englische als Wirtschafts- und Tourismussprache und zunehmend auch das Spanische als Sprache der umliegenden lateinamerikanischen Länder eine wichtige Rolle (Mijts 2007). Auf Aruba hat inzwischen das Englische in vielen Bereichen das Niederländische fast verdrängt, während das Spanische vor allem auf Curaçao stark ist. Das Niederländische ist am stabilsten auf Bonaire, welches politisch am stärksten an die Niederlande angebunden ist. Das Papiamentu hat in den meisten Verwendungsbereichen gegenüber den europäischen Sprachen deutlich an Raum gewonnen. Mit einer jeweils unterschiedlichen Orthographie ist es standardisiert und fest etabliert,13 sowohl im öffentlichen Leben als auch in Politik, Medien und Bildung. Die Stellung des Papiamentu wird kaum noch in Frage gestellt. Dies hat zur Folge, dass das Prestige und die Dominanz insbesondere des Niederländischen immer weiter abnehmen. Die Standardsprachenideologie ist inhärent davon
|| 13 Unter anderem ist auch die Schreibweise der Sprachbezeichnung verschieden: Auf Aruba schreibt man Papiamento, auf Bonaire und Curaçao Papiamentu.
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abhängig, dass der vermeintlich höherwertigen Sprache gewisse Gebrauchsdomänen exklusiv zustehen. Englisch, Spanisch
Niederländisch
Papiamentu/o
Abbildung 5: Postkoloniale Sprachkonstellation der ABC-Inseln.
Nur so lässt sich begründen, dass der Standard einen Wertvorsprung gegenüber anderen Sprachformen hat, die in den gesellschaftlich relevanten Bereichen nicht einsetzbar sind. Dringt nun eine neue Sprache mit neu etabliertem Standard in diese Bereiche vor, kann diese Exklusivität nicht mehr aufrecht erhalten werden. Stattdessen kann aber durchaus die ideologisch bedingte Wertzuschreibung auf lange Sicht umgelenkt werden und zukünftig eher dem Papiamentu anstelle des Niederländischen zugutekommen.
3.2 Unterschiedliche Kräfteverhältnisse und Konstellationen In keinem der Fälle ist eine Kolonialsprache die einzige verwendete Sprache. Dadurch wird die Standardsprachenideologie in einem ihrer Hauptfaktoren besonders problematisch: Da (post)koloniale Gesellschaften in der Regel immer von intensivem Sprachkontakt geprägt sind, gerät die Forderung nach Reinhaltung des Standards – ein zentrales Element der Standardsprachenideologie (Brunstad 2003) – in erhebliche Schwierigkeiten. Waren die sozialen wie sprachlichen Hierarchien in der kolonialen Ära stets klar und starr festgelegt, in vielen Fällen auch durch Gewaltanwendung fixiert, so wandeln sich seit der Dekolonialisierung die Gesellschaften rapide und tiefgreifend. Damit gerät auch das Sprachengefüge in Bewegung. Auf den ABC-Inseln ist dieser Wandel bereits so weit fortgeschritten, dass die Standardsprachenideologie für das Niederländische praktisch nicht mehr aufrecht erhalten werden kann: Dem Exklusivitäts-
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anspruch der „alten“ Standardsprache steht nun die Präsenz der „neuen“ Standardsprache entgegen, die sich längst in vielen Diskursdomänen bewiesen und bewährt hat. Auf Mauritius und den Kapverden ist ein solcher Prozess in verschiedenen Stadien auf dem Weg: Mit der Standardisierung des Morisyen und dessen Einführung in der Schule steht die Dominanz der europäischen Norm des Französischen und Englischen deutlich in Frage. Die Förderung des Kabuverdianu dagegen scheint seit einiger Zeit zu stagnieren, wobei die Dominanz des Portugiesischen dennoch längst nicht unhinterfragt bleibt. In Suriname ist ein derartiger Wandel praktisch nicht wahrnehmbar. Nur eine sanfte Verschiebung der ideologischen Haltung vom europäischen zum surinamischen Standard des Niederländischen scheint denkbar. Vorschläge einer Kodifizierung und Stärkung des Sranan hatten bisher keinen Erfolg und genießen wenig Unterstützung. Die Diskussionen um eine Aufwertung bisher nicht standardisierter und häufig nur mündlich gebrauchter Sprachen teilen üblicherweise eine Reihe von Kernfragen. Dies beginnt mit der Überlegung, ob nicht-standardisierte Sprachen überhaupt als „echte“ Sprachen gelten dürfen. Terminologisch werden sie häufig mit Bezeichnungen wie Dialekt, patois oder Idiom abgegrenzt, während der Begriff Sprache von der Standardisierung und schriftlichen Verwendung abhängig gemacht wird. Wird dagegen der Ausbau und die Normierung der bisher weniger prestigeträchtigen Sprachen angestrebt, bleibt stets zu klären, wer die Legitimität besitzt, Normen zu schaffen, und welches Ziel damit verfolgt werden soll. Im Mittelpunkt steht dabei meist der Einsatz im Bildungssektor, um im jungen Alter das Lernen und den Schrifterwerb in der Erstsprache zu ermöglichen, anstatt Kinder sofort mit einer für sie wenig vertrauten Sprache zu konfrontieren.14 Welche Diskursdomänen für eine neue Standardsprache freigegeben werden, ergibt sich je nach gesellschaftlicher Konstellation auf unterschiedliche Weise. So nutzt etwa die gedruckte Presse der ABC-Inseln inzwischen umfassend das Papiamentu, während das Morisyen bisher noch wenig in den schriftlichen Medien angekommen ist, sondern nur im Rundfunk in nennenswertem Umfang vorkommt. Auch das Gegenstück der Standardsprachenideologie, nämlich die Natürlichkeitsideologie, lässt sich in Europa und Nordamerika ebenso nachweisen wie in den (ehemaligen) Kolonialgebieten. Man geht davon aus, dass die legitime
|| 14 Zentral ist hier u.a. die Bereitstellung geeigneter Lernmaterialien, die wiederum von Ausbau und Standardisierung abhängig ist. Vgl. hierzu die Initiative zur Erstellung von Unterrichtsmaterialien für Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer auf Kreolisch in Haiti (DeGraff 2013).
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und „eigentliche“ Sprache die unverfälschte, im täglichen Gebrauch durch Muttersprachler ohne einengende Normierung etablierte Form sei. Gerade den Muttersprachlern, die ohne unmittelbare Reflexion aufgrund ihres Sprachgefühls unbeeinflusst von Regelvorgaben sprechen, kommt dabei die Rolle der Referenzgeber zu. Nicht selten wird deshalb diese Natürlichkeitsideologie auch als „native speaker ideology“ bezeichnet. Dies ist beispielsweise beobachtbar bei der Betrachtung des Afrikaans im 19. Jahrhundert und den Diskussionen um seine Standardisierung. In diesem Prozess wurde angeführt, dass die Schriftsprache sich an der gesprochenen Sprache orientieren und deren steten Wandel mit vollziehen müsse, anstatt umgekehrt das Gesprochene dem Geschriebenen zu unterwerfen. Deshalb solle ein neuer Standard des Afrikaans sich nicht am Schriftgebrauch des literarischen Niederländischen Europas orientieren, sondern aus der zeitgenössischen Alltagssprache neu hervorgehen. Dennoch wird auch hier die Entstehung einer „Kultursprache“ mit Verschriftlichung gleichgesetzt und die Aufwertung und Anerkennung einer Sprache mit deren Erhebung in den Stand der Schriftsprache verknüpft. Bei dieser Etablierung grundlegender Sichtweisen auf einen neu zu schaffenden Standard fungierten, wie Noordegraaf (2010: 62) es ausdrückt, die Niederländer als „Durchreiche für internationale Vorstellungen davon, was Sprache ist“. Diese Entwicklung in den Ansichten über Afrikaans im 19. Jahrhundert zeigen, wie grundlegende Sprachkonzeptionen nicht nur im kolonialen Kontext transferierbar sind, sondern auch bei der Verschiebung von Prestige und der Schaffung neuer Normen auf eine andere Sprachform übergehen können. Für den Fall der kürzlich standardisierten Kreolsprachen wie Papiamentu und Morisyen ebenso wie für das Standardniederländische von Suriname sind Parallelen zu diesem Prozess gut denkbar. Widerstände gegen eine Aufwertung der nicht-standardisierten Sprachen werden nicht selten auch mit Argumenten untermauert, welche diesen Sprachen zunächst sehr zugewandt scheinen. Die genannte Natürlichkeitsideologie liefert dabei wichtige Grundlagen: So wird etwa vorgebracht, dass die lokalen Sprachen in einem ursprünglichen, „natürlichen“ Zustand erhalten werden sollten, anstatt sie durch vermeintlich künstliche Normen und unübliche Verwendungsbereiche zu verfälschen. In diesem Falle wird eine Entwicklung, wie sie die Befürworter eines oralitätsbasierten Standards des Afrikaans vorsahen, als unmöglich oder unerwünscht betrachtet. Die Furcht vor einer Gefährdung der Natürlichkeit wird insbesondere mit der Verschriftlichung verbunden, die den Standardsprachen zwar zu ihrer notwendigen Dauerhaftigkeit verhelfen soll, den vermeintlich „natürlicheren“ Spra-
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chen dagegen ihren Freiraum raube. Ebenso wie die kolonialen Standardsprachen sollen auch die lokalen Sprachen von fremden Einflüssen freigehalten werden – darunter zählen vor allem Neologismen oder Entlehnungen, insbesondere wenn beispielsweise eine Kreolsprache mit der Kolonialsprache historisch verbunden ist und dadurch der Wortschatz für gegenseitige Einflüsse besonders gut zugänglich ist. Die Argumentation enthält nicht selten ein offenkundig tautologisches Element: Die lokalen Sprachen seien für die Funktionen einer Standardsprache nicht geeignet, weil sie zu variabel seien. Ihnen fehle also die Einheitlichkeit einer Standardsprache etwa aufgrund dialektaler Variation oder ständigen Wandels. Dies gilt als Hindernis für die Etablierung von Normen, welche eigentlich die Variation überdachen sollen. Derartige Haltungen erscheinen den präkolonialen oder kreolischen Sprachen gegenüber zwar vordergründig sehr geneigt, durchbrechen aber letztendlich trotzdem nicht die etablierte Hierarchie. Soweit den nicht-standardisierten Sprachen ein Wert zugestanden wird, bleibt dieser stets auf einer folkloristischen Ebene. Die lokalen Sprachen haben zwar ihre Berechtigung, jedoch nur mit Einschränkungen: Sie sollen ihren ursprünglichen Verwendungskontexten vorbehalten bleiben und keine Ausdehnung auf Kosten der dominanten Standardsprachen erfahren.15 Mit derartigen Einschränkungen wurde bereits im 19. Jahrhundert operiert, wenn etwa das aufkommende wissenschaftliche Interesse an Kreolsprachen gerechtfertigt wurde, ohne die Vorherrschaft des Französischen oder Englischen in Frage zu stellen (Krämer 2014: 48, Walicek 2014: 63f.).
4 Fazit In Europa scheint sich in vielen Gesellschaften das Sprachgefüge dergestalt zu verändern, dass die nationalen Standardsprachen durch die Stärkung internationaler Sprachen ebenso wie durch Einflüsse regionaler und multiethnischer Variation an Terrain verlieren könnten. Davon ausgehend sieht van der Horst (2008) polemisch das „Ende der Standardsprachen“ als mögliches Zukunftsszenario. Ein eingängiges Beispiel ist das Englische, dessen Standard schon lange nicht mehr exklusiv mit Received Pronunciation, BBC und der Königin verknüpft wird. Am Aufstieg der World Englishes haben postkoloniale Gesellschaften erheblichen Anteil. Dies gilt nicht nur für den „inneren Kreis“ der inzwischen
|| 15 Prudent (1999: 135ff.) spricht am Beispiel von Martinique vom Widerspruch zwischen „créolophilie“ und „créolophobie“.
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fraglos anerkannten Varietäten des Englischen etwa in den USA, in Irland oder Australien. Auch die jeweils individuellen Standardvarietäten der im 20. Jahrhundert entkolonialisierten Nationen wie Indien, Südafrika oder der karibischen Länder gewinnen an Legitimität (Bolton 2009: 304, Deuber 2013). Die ehemals „zählbare“ Sprache wird immer mehr unzählbar (van der Horst 2008: 263ff.), sie erhält mehrere Standards, die zwar einen gemeinsamen Kern haben, aber dennoch unverwechselbar regional sind – durchaus auch affirmativ unter Aufnahme von Kontaktphänomenen. Mag auch der sprachliche und kulturelle Zentralismus Frankreichs noch stark bleiben, unterliegt dennoch das Französische ähnlichen Tendenzen. Leichter fällt es anscheinend den Niederlanden und Portugal als im europäischen Kontext mittelgroße Nationen, diesen Verlust an Deutungshoheit über ein Sprach- und Kulturmodell zu akzeptieren. Die weltweiten plurizentrischen Sprachen sind häufig mit Kolonialgeschichte verbunden. Der Begriff plurizentrisch verweist bereits darauf, dass es verschiedene Schwerpunkte gibt, an denen Prestige und Normen zugewiesen werden, die sich durchaus spürbar voneinander unterscheiden können (Clyne 2004). Auf diese Weise wird mit der Entstehung des surinamischen Standards das Niederländische ebenfalls deutlich plurizentrisch über den europäischen Kontext Belgiens und der Niederlande hinaus. Das Hinzutreten eines zusätzlichen standardsprachlichen Zentrums der ABC-Inseln ist dagegen weniger wahrscheinlich. Dies gilt auch für das Portugiesische der Kapverden und Englisch sowie Französisch auf Mauritius, sofern der Ausbau der dortigen Kreolsprachen sich erfolgreich fortsetzt: Eine gefestigte, standardisierte Kreolsprache könnte auch dort der Entwicklung eines lokalen Standards des Englischen, Französischen oder Portugiesischen entgegenwirken, weil eine solche Varietät als Symbol nationalsprachlicher Eigenständigkeit dann nicht mehr unbedingt gebraucht wird. Man muss sich dabei jedoch vor Augen führen, dass ausgehend von den verschiedenen Zentren die Ränder unscharf bleiben. So sehr also auch in manchen postkolonialen Gesellschaften klare Standardsprachideologien vorherrschen, die klare Konturen und verbindliche Regeln suggerieren, sind doch die Übergänge häufig fließend: Das Niederländische von Suriname mag sich als eigener Standard gegenüber dem Niederländischen der Niederlande etablieren – dies ändert jedoch nichts daran, dass surinamisches Niederländisch deutlich wahrnehmbar auch in Europa gesprochen wird. Ähnliches gilt für das Portugiesische und Kreolische der Kapverden, denn beide Sprachen werden von einer zahlenmäßig starken Diaspora in Europa und Nordamerika benutzt, während die Strahlkraft Brasiliens mittelfristig das Portugiesische im Land stark beeinflussen dürfte.
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In solchen Sprachkonstellationen bleibt die Standardsprachenideologie mit einem deutlich vereinfachenden Bild der sprachlichen Kräfteverhältnisse klar hinter den Realitäten zurück. Dennoch ist sie nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern sie hat spürbare Konsequenzen für die Bevölkerung: Bestehende soziale Hierarchien werden gefestigt und bestätigt. Das offensichtlichste Beispiel ist die Schulbildung von Kindern, die aufgrund der weiterhin wirksamen Vorstellung von den europäischen Standardsprachen als Bildungs- und Kulturträger in den Schulen Surinames oder der Kapverden in einer Sprache unterrichtet werden, die sie in ihrer Familie bis dahin praktisch nie kennengelernt haben und höchstens passiv beherrschen. Dies ändert sich erst langsam dort, wo man die tatsächlichen Erstsprachen der Kinder in den Schulen zur Wissensvermittlung nutzt und erkannt hat, dass man mithilfe dieser Sprachen auch die Beherrschung weiterer Sprachen wie etwa der europäischen besser fördern kann (Unesco 2008). In den verschiedenen postkolonialen Nationen besteht dabei ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Status der jeweiligen Kreolsprachen und dem Fortschreiten des Ausbaus und der Standardisierung. Dort, wo der Standard inzwischen eingeführt ist und sich bewähren konnte, ist die Kritik deutlich zurückgegangen, wie es sich am Beispiel der ABCInseln erkennen lässt und auch in Mauritius andeutet. Diese Unterschiede zeugen von der „Machbarkeit“ der sprachlichen Situationen, auch über die (sprach)ideologischen Barrieren hinweg. Nicht nur im Regelwerk des jeweiligen Standards ist Sprache ein „Menschenwerk“ (van der Sijs 2004), sondern auch Status, Prestige und Reichweite von Sprachen sind beeinflussbar und gestaltbar. Bleiben die Überzeugungen sprachlicher Hierarchien unangetastet, dann wird auch ein sozialer Wandel unwahrscheinlich. Werden die Überzeugungen jedoch hinterfragt und beispielsweise notwendige sprachliche Normen – seien es jene der europäischen Standardsprachen oder jene der neuen Ausbausprachen – von Wertunterscheidungen gelöst und als zweckmäßiges Mittel zur Überbrückung von Variation anerkannt, so kann auch der Abbau von sprachgebundenen sozialen Unterschieden gelingen. In einem solchen Prozess fällt nicht zuletzt der Linguistik eine entscheidende Rolle zu. Sie kann klären, welche Sprachideologien in den verschiedenen postkolonialen Sprechergemeinschaften vorherrschen, und welche Wirkungen sie dort entfalten. Sie kann zudem untersuchen, ob es einen gemeinsamen ideologischen Kern der Standardsprachenideologie gibt. Dies ist insbesondere wichtig für die Klärung der Frage, welche Verantwortung den europäischen Nationen zufällt. Gegebenenfalls kann der Abbau ideologischer Muster in den postkolonialen Gesellschaften unterstützt werden, indem auch in den ursprünglichen (oder ehemaligen) Zentren des Standards daran gearbeitet wird, Sprach-
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hierarchien aufzulösen und sich vom Bild der überlegenen Normsprache zu distanzieren. Vor allem aber muss die Sprachwissenschaft sich dann der Frage stellen, ob sie selbst ebenfalls ideologisch gefestigte Standpunkte vertritt und unwillkürlich als Prämissen der eigenen Arbeit übernimmt.16 So ist es beispielsweise nicht unüblich, in der Dokumentation außereuropäischer Sprachen ebenfalls die möglichst „natürliche“ Varietät zu suchen und zu untersuchen, so dass auch hier erst die maximale Distanz von anderen Sprachen – vor allem der eigenen Standardsprachen – den Status des Untersuchungsobjekts als eigenständig bedingt. Nur wenn es gelingt, ein ausreichendes Maß an Selbstreflexion über die epistemologischen Apriori in die Forschungspraxis zu integrieren, kann die Linguistik in den sprachpolitischen Entscheidungen der Gegenwart mit der notwendigen Autorität auftreten. Die Sprachwissenschaft muss beweisen, dass sie selbst in der Lage ist, sich von den eingefahrenen Grundannahmen der Standardsprachenideologie zu lösen. Nur dann kann sie in der breiteren gesellschaftlichen Debatte glaubwürdig darauf hinwirken, dass die sprachpolitischen und soziolinguistischen Realitäten sich ändern.
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|| 16 Vgl. Krämer (2013) zu historisch ererbten Mustern in der heutigen Forschung zu Kreolsprachen.
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Axel Dunker
Der deutsche ‚koloniale Diskurs‘ aus literaturwissenschaftlicher Sicht Abstract: The following essay discusses definitions of ‘colonial discourse’ from linguistics and literary studies in comparison. While linguistic approaches try to work out empirically the more or less explicitly colonial minded structure of the contemporary discourse, literary studies start from a decidedly postcolonial point of view and aim at bringing into focus the alterity of the texts themselves. An analysis of von Trotha’s extermination order in the war against the Herero and a passage from Theodor Fontane’s novel Effi Briest exemplifies how linguistic descriptions of colonial discourse can be complemented by literary studies. Keywords: colonial discourse, alterity, postcolonialism, von Trotha’s extermination order, Fontane’s Effi Briest
1 Der Diskursbegriff der postkolonialen germanistischen Literaturwissenschaft Ingo H. Warnke, der stellvertretend für die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit dem deutschen Kolonialismus (die ich als Literaturwissenschaftler nur zum Teil überblicke) stehen kann, hat die Bedeutung der „Kommunikation über das Thema Kolonialismus“ (Warnke 2009: 13) herausgestellt. Noch ehe das Deutsche Reich versucht, sich den europäischen Kolonialmächten einzureihen, ist es die Kommunikation über das Thema Kolonisation – durch wirtschaftlich und politisch einflussreiche Akteure und Institutionen gesteuert –, die zum Wegbereiter des politischen Handelns wird. (Warnke 2009: 13)
In diesem Zusammenhang führt Warnke Foucaults Diskursbegriff aus der Archäologie des Wissens ein, unter Verweis auf die „Oberflächen des Auftretens“ (Foucault 1971: 62, cf. Warnke 2009: 13) der Diskurse. Angesichts der „diskursiven Konstruktion der Kolonien“ (Warnke 2009: 26) komme „der Kommunikation über Kolonien eine zentrale Rolle bei der Konstruktion nationaler Identität“
|| Axel Dunker: Universität Bremen, FB 10: Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Literaturtheorie, Universitätsboulevard 13, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-035
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zu. „Das Sprechen, die sprachliche Manifestation von Themen, Intentionen, Bewertungen etc. ist konstitutiv für die kolonisatorische Identität in Deutschland“ (Warnke 2009: 27). Mit erneutem Bezug auf Foucault folgert Warnke daraus, „das Modell einer diskursbedingten Gegenstandskonstruktion“ besitze „linguistische und vor allem sprachgeschichtliche Relevanz“ (Warnke 2009: 31). Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus geht von ganz ähnlichen Prämissen aus. Der Trierer Germanist Herbert Uerlings formuliert 2005 zu einem Zeitpunkt, als dies noch einen ähnlichen Pioniercharakter für die germanistische Literaturwissenschaft hat wie Warnkes Ausführungen 2009 für die sprachwissenschaftliche Seite der Germanistik: Als kolonialer Diskurs ließe sich in einer ersten Annäherung die Gesamtheit der Regeln bezeichnen, nach denen auf dem kolonialen Feld Bedeutungen und mit ihnen verbundene Machteffekte performativ erzeugt werden. Diskursanalysen richten sich (also) primär auf die Semantiken des kolonialen Feldes, dann aber auch auf die Beziehung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken. (Uerlings 2005: 17)
Er bezieht sich dabei auf Edward Said, der auch bei Warnke vorkommt, und auf Tzvetan Todorov. Unter Diskurs werden dabei „vorgegebene [ ] Wissens- und Repräsentationsformen“ (Uerlings 2005: 19) verstanden. Den Kern ‚des‘ kolonialen Diskurses bildet ein ethnisierendes Inferioritätsaxiom: Zwei als ethnisch different definierte Einheiten werden zueinander in eine für unbezweifelbar gehaltene Ungleichheitsbeziehung gebracht. Daraus ergibt sich die charakteristische binäre Opposition zwischen ‚Kolonisatoren‘ und ‚Kolonisierten‘. (Uerlings 2005: 18)
Uerlings fordert daher zunächst „[d]iskursgeschichtliche Untersuchungen“, die „der Pluralität, inneren Heterogenität und Instabilität kolonialer (Situationen und) Diskurse Rechnung tragen“ (Uerlings 2005: 18f.) müssten. Bis hierhin dürften sich germanistische Sprach- und Literaturwissenschaftler noch weitgehend einig sein. Dann aber zieht Ingo Warnke einen deutlichen Trennungsstrich: Nun ist den meisten literaturwissenschaftlichen Ansätzen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten eine vorgängige Marginalisierung des Sprachlichen eigen. Sprache wird fast ausnahmslos als Medium verstanden, in dem literarische oder wie immer geartete Konzepte transportiert werden. Das Medium ist hier weit weniger interessant als die ‘verpackte’ Mitteilung. (Warnke 2009: 32)
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Dem stellt er dann den linguistischen Ansatz gegenüber: Dabei wird sicher ohne gravierende Absicht übergangen, dass die sprachliche Präsenz von Themen in Form von Wörtern, komplexen Wortverbünden, Textmustern usw. einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung gesellschaftlich präsenter Richtpunkte der Identifikation leistet. (Warnke 2009: 32)
Denn: „über Sprache selbst, über ihre mediale Präsenz in konkreten historischen Konstellationen [wird] kultureller Sinn hervorgebracht“ (Warnke 2009: 32). Schauen wir nun, welche Konsequenzen der Literaturwissenschaftler Uerlings aus seiner Definition des kolonialen Diskurses zieht.1 In der Tat kommt er zunächst auf eher semantische2 denn sprachliche Gegebenheiten zu sprechen. Er verweist auf die „Verbindung von kultureller und sexueller Alterität“ (Uerlings 2005: 23f.), die „eine fatale diskursive Erfolgsgeschichte“ gehabt habe, und auf den „strukturellen Zusammenhang von Frauen und Fremden, von Weiblichkeit und Fremde“ (Uerlings 2005: 24). Er springt dann – und hierin scheint mir eine wesentliche Differenz zwischen Koloniallinguistik im Sinne Warnkes und postkolonialer Literaturwissenschaft zu liegen – zu etwas, das er als das „interkulturelle Potential“ der Literatur begreift. Literatur kann Teil des kolonialen Diskurses in dem Sinne sein, daß sie die herrschenden Regeln der Bedeutungsproduktion, ihre Differenzbildungen und Hierarchisierungen, ihre Ausgrenzungen und Gleichsetzungen wiederholt und dafür weitere Bilder und Narrative erfindet. Sie ist aber auch spielerische Inszenierung kultureller Differenzen bzw. ihrer Repräsentationsformen, die deren Geltungsanspruch – im Medium der Fiktion – suspendiert […] Literatur kann koloniale Binäroppositionen, die durch Abstraktion und Reduktion, Generalisierung und Bewertung, Hierarchisierung etc. entstanden sind, in ein multidifferentes Spiel überführen. (Uerlings 2005: 24)
Wie kann sie das? „[Ü]ber Verfahren der Intertextualität, Interlingualität, Intermedialität, durch Dialogizität, Stimmenvielfalt u.a.m. [kann sie] die Rede ‚über‘ andere mit anderen Stimmen konfrontieren und so ein postkoloniales Potential realisieren.“ (Uerlings 2005: 24) Letzteres scheint mir ganz entscheidend zu sein. Die Linguistik versucht am historischen kolonialen Material empirisch etwas aufzuzeigen, die Literaturwissenschaft denkt von einem postkolonialen Standpunkt aus, der über das Empi-
|| 1 Zum Diskursbegriff in der Literaturwissenschaft allgemein vgl. Fohrmann & Müller (1988). 2 Dass semantische Gegebenheiten auch in sprachwissenschaftlich orientierten Untersuchungen von kolonialen und anti-kolonialen Diskursen eine bedeutende Rolle spielen, zeigt exemplarisch Kämper (2014).
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rische des kolonialen Diskurses hinauswill und nach Alterität zu ihm fragt, eine Alterität, die sie nach Uerlings nur in der ästhetischen Alterität der Literatur finden kann. Das ist aber keinesfalls eine Perspektive, die sich nur auf die Inhalte unter Absehung vom Sprachlichen als nur beliebiges Medium richtet. Die postkoloniale Literaturwissenschaft befasst sich daher auch weniger häufig mit den Kolonialromanen im engeren Sinne (von Frieda von Bülow, Gustav Frenssen usw.). Stärker im Fokus stehen – wenn es überhaupt um die eigentliche Phase 1884 bis 1918/19 geht – Romane von Autoren wie Theodor Fontane oder Wilhelm Raabe, die gar nicht am kolonialen Schauplatz angesiedelt sind, sondern selber nur zitathaft auf das koloniale Material zugreifen und damit ihrerseits von vornherein eine Differenz dazu herstellen. Es geht hier daher nicht um „die äußerliche Präsenz von Sprache als bloße Positivität eines Diskurses“ (Warnke 2009: 33), sondern um etwas ganz Anderes, das aber in einer Semantik der bloß irgendwie medial vermittelten Inhalte nicht aufgeht. Statt „Positivität“ des „Diskurses“ also eher Differenz und geradezu ein Verlangen nach Alterität dazu. Postkolonialismus wäre hier zu definieren als „programmatische, sowohl historische als auch gegenwärtige Formen diskursiver Gewalt stellvertretende theoretische wie praktische Opposition zum kolonialen Diskurs“ (Dubiel 2007: 23). Ähnliche diskurskritische Definitionen finden sich auch in vielen englischsprachigen Publikationen innerhalb der postkolonialen Studien, etwa bei Helen Tiffin: unter postkolonial, heißt es dort, ist „a set of discursive practices“ zu verstehen, „prominent among which is resistance to colonialism, colonialist ideologies, and their contemporary forms and subjectificatory legacies“ (Tiffin 1991: VII).3 Gabriele Dürbeck kann im Anschluss an Doris Bachmann-Medicks Feststellung, der postkolonialen Analyse komme die Aufgabe einer „diskurskritischen Kulturtheorie“ (Bachmann-Medick 2007) zu, denn auch sagen: Als gemeinsam für die verschiedenen Betrachtungsweisen lässt sich festhalten, dass der Begriff ‚postkolonial‘ eine im Wesentlichen diskurskritisch geprägte Analyseperspektive anzeigt, die sich auf den Kolonialismus, (prä-)koloniale Phantasien und die Ausläufer des kolonialen Diskurses richtet. (Dürbeck 2014: 34)
Eine Zwischenposition zwischen diesen literaturwissenschaftlichen und linguistischen Ansätzen nimmt Medardus Brehl ein, der auch in dem von Warnke herausgegebenen Sammelband Deutsche Sprache und Kolonialismus mit einem Beitrag über den ‚Herero-Aufstand‘ als Diskursereignis (Brehl 2009) vertreten
|| 3 Zitiert nach Dürbeck (2014: 31).
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ist. Brehl, der am Institut für Diaspora- und Genozid-Forschung am geschichtswissenschaftlichen Institut der Universität Bochum arbeitet, definiert in seiner Dissertation über Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur den kolonialen Diskurs folgendermaßen: Mit dem Begriff Kolonialdiskurs soll eine auf den Gesamtkomplex Kolonialismus bezogene konventionalisierte und institutionell sanktionierte kollektive Rede bezeichnet werden, die allerdings in verschiedenen sozio-kulturellen Milieus und Kommunikationssituationen unterschiedlicher Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit unterliegen kann […] Der Kolonialdiskurs, die kollektive Rede über die Kolonien, ist somit als ein System der Konstruktion und Re-Präsentation eines kollektiven Wissens über die Kolonien zu begreifen, vor dessen Folie die koloniale Praxis erst denkbar wird und legitim erscheint. (Brehl 2007: 64f.)
Brehl behandelt ausschließlich die eigentliche Kolonialliteratur, bei der es ihm – wie die zitierte Definition es nahelegt – nicht um die individuellen Stimmen geht, sondern um eine kollektive Rede, auch wenn der koloniale Diskurs nicht „als ein geschlossenes oder gar hermetisches Bedeutungs- und Regelsystem“ (Brehl 2007: 66) begriffen wird. Mit Hilfe eines diskursanalytischen Instrumentariums werden die Argumentationslinien der kollektiven Rede über den Genozid herausgearbeitet: Die „Vernichtung der Herero“ stellt sich in der untersuchten Literatur nicht als militärischer Exzess dar, sondern steht in der Kontinuität des geschichtsphilosophischen Diskurses der Moderne seit Herder und Kant, die Völker, „die nichts zum Vollzug des Naturplans der Geschichte beitrügen, grundsätzlich als […] episodisch betrachtet hatten“ (Brehl 2007: 146). Brehl macht deutlich, dass Afrika von den Kolonisatoren „nicht nur militärisch und ökonomisch in Besitz genommen“ wird, „sondern auch diskursiv“. (Brehl 2007: 219) „Der Kolonialliteratur kam“, so das Ergebnis der Untersuchung, eine wichtige Funktion zu, da hier das Geschehen nicht allein eine breitenwirksame Codierung erfahren hat, sondern die Geschehnisse im Rahmen eines allgemeinen soziokulturellen Wissens, im Rekurs auf um 1900 gültige wissenschaftliche Paradigmen und unter Verwendung bekannter und konventionalisierter Deutungsmuster und Erzählformen anschlußfähig formuliert wurde. (Brehl 2007: 222)
Dabei bleibt er strikt auf den kolonialen Diskurs bezogen, eine postkoloniale Perspektive ergibt sich nicht. Die Literaturwissenschaft, die den deutschen kolonialen Diskurs untersucht, bleibt stark auf diese Deutungsmuster und Erzählformen oder „Narrative“ fokussiert, wie etwa die Hamburger Germanistin Ortrud Gutjahr in ihrer Analyse zweier Kolonialromane Frieda von Bülows. Als „Grunddilemma dieses Genres“ stellt sie die „Nicht-Repräsentation der Anderen“ heraus (Gutjahr 2011: 42). Um
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die Kolonisierten als Garanten kolonialer Macht aufrufen und zugleich aus der Kommunikation über deren Legitimität wie selbstverständlich ausschließen zu können, bedarf es der narrativen Formierung rigider Grenzen, die durch den Bezug auf nationale Diskurse gesichert und gefestigt werden. (Gutjahr 2011: 42)
Auch bei Gutjahr spielt also Kommunikation eine herausragende Rolle, die „Verschattung der Anderen“, wie sie das nennt, wird durch die Analyse der narrativen Struktur der Texte deutlich gemacht. Die von Warnke geforderte sprachliche Analyse von Textmustern und die literaturwissenschaftliche Analyse von narrativen Strukturen könnten sich hier sehr gut ergänzen. Stefan Hermes fragt in seiner in Hamburg bei Ortrud Gutjahr entstandenen Dissertation über die Kolonialkriege gegen die Herero und Nama in der deutschen Literatur von 1904 bis 2004 „nach der Art und Weise, in der die Texte an zu ihrer Entstehungszeit relevanten politischen und wissenschaftlichen Diskursen partizipieren“ (Hermes 2009: 15). Auch das verweist darauf, dass die Analyse auch des sprachlichen Materials die diskurshistorische Herkunft zu berücksichtigen hat. Für die zeitnah zu den ‚Ereignissen‘ des Jahres 1904 entstandenen Texte (Friedrich Meisters Muhérero rikárera! 1904, Gustav Frenssens Peter Moors Fahrt nach Südwest 1906, Franz Jungs Morenga 1913) untersucht Hermes, „auf welche Weise ein sozialdarwinistisch fundierter Vernichtungsdiskurs einerseits und eine (kultur-)missionarische, auf die vermeintliche ‚Erziehung‘ der ‚Eingeborenen‘ zielende Argumentationslinie andererseits ästhetisch bearbeitet werden“ (Hermes 2009: 23), um zu beschreiben, inwieweit es gelingt, „differenziert mit überkommenen Denkmustern umzugehen, anstatt sie – und sei es unwillkürlich – bloß zu reproduzieren“ (Hermes 2009: 14). Auch hier wird also wieder das Verlangen nach Differenz des Literarischen zum bestehenden Diskurs deutlich. Insofern weicht die postkoloniale Literaturwissenschaft von Foucaults Diskursanalyse ab, der sprachliche Ereignisse ‚archäologisch‘ analysiert, „indem er ‚positive‘ Fakten über sie sammelt: etwa wie oft sie wann und in welcher Kombination vorkommen“ (Winko 1996: 467). Die Linguistik steht dem offenkundig näher. Simone Winko stellt für die Literaturwissenschaft fest, die Diskursanalyse sei überwiegend kein Verfahren zur Einzeltextanalyse. Wenn sie dennoch auch als solches angewendet wird […], dann unter zwei Perspektiven: Zum einen wird untersucht, welche Diskurse in dem einzelnen Text thematisiert werden bzw. sich in ihm nachweisen lassen; zum anderen wird gefragt, wie die nachweisbaren Diskurse im Text zur Sprache kommen: ob der Text sie reproduziert oder ob er sie – explizit oder implizit – unterläuft. (Winko 1996: 472)
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Abweichung, man könnte auch sagen: Subversion, scheint somit per se ein erkenntnisleitendes Interesse der diskursanalytisch arbeitenden Literaturwissenschaft zu sein. Für die postkoloniale Literaturwissenschaft gilt das in besonderem Maße. Auf die Bedeutung von Kommunikation für die Ausbildung kolonialer Diskurse hebt die Literaturwissenschaftlerin Iulia-Karin Patrut ab, wenn sie von einem „Kommunikationsraum“ spricht, der gleichzeitig ein „Diskursraum“ ist: Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bestand ein asymmetrisch strukturierter, deutschsprachiger ‚Diskursraum Mittel- und Osteuropa‘, in dem wissenschaftliche wie ästhetische Normen und Regeln hauptsächlich im westlichen Europa geprägt wurden, während im Osten Anwendungsfälle gesucht wurden […] In einem stabilen System wechselseitiger Zuerkennung von Diskurspositionen entstand so im beginnenden 19. Jahrhundert ein Kommunikationsraum, der insbesondere hinsichtlich der Funktionsbereiche ‚Bildung‘ und ‚Wissenschaft‘, daneben zumindest teilweise auch ‚Kunst‘, nach kolonialen Strukturmustern funktionierte. (Patrut 2012: 261f.)
Der Diskursbegriff führt hier dazu (und erlaubt es), einen geographischen Raum, der nicht zu den Kolonialgebieten im engeren Sinne wie vor allem Afrika gehörte, auf koloniale Strukturen hin zu untersuchen, wobei sich erweist, dass der im 18. Jahrhundert einsetzende Diskurs über den europäischen Osten in Presse, Publizistik und Wissenschaft nach kolonialen Mustern organisiert war (cf. Patrut 2012: 265). Die Bedeutung Foucaults für diese Untersuchungsstrategie zeigt sich auch in der Benutzung des Begriffs „Wissensdispositiv“, das in Bezug auf Osteuropa „dem orientalistischen Grundmuster, das auch den überseeischen Kolonialismus prägte“ (Patrut 2012: 273), entspreche. Als Literaturwissenschaftlerin favorisiert Patrut den ‚Funktionsbereich Kunst‘ und untersucht, wie sich diese kolonialen Strukturmuster in den Schriften Franz Kafkas niederschlagen bzw. wie er sich mit ihnen auseinandersetzt. An anderer Stelle untersucht Patrut die „Wissensproduktion über den europäischen Osten“, der im Hinblick auf osteuropäische Juden und ‚Zigeuner‘ zu einer „doppelte[n] Orientalisierung im Wissensdiskurs“ führe. (Patrut 2013: 131) Die in der germanistischen Literaturwissenschaft verwendete Ausprägung des Diskursbegriffs, so wird in diesen Untersuchungen deutlich, führt zu einer Ausweitung des Untersuchungsbereichs über den von der Linguistik aufgrund ihrer Konzentration auf das empirische koloniale Sprachmaterial in den Fokus gestellten Kolonialismus im engeren Sinne (d. h. vor allem in Afrika) hinaus.
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2 Exemplarische Beispiele: Von Trothas Vernichtungsbefehl und Fontanes „Effi Briest“ Im zweiten Teil dieses Aufsatzes möchte ich nun an zwei exemplarischen Beispielen zeigen, wie aus meiner Sicht ein sprachwissenschaftlicher Blick auf den kolonialen Diskurs durch eine literaturwissenschaftliche Perspektive zu ergänzen wäre. Ingo Warnke zitiert in seinen „Umrissen eines Forschungsfeldes“ in dem Band Deutsche Sprache und Kolonialismus den berüchtigten Schießbefehl zur Vernichtung der Herero, den Generalleutnant Lothar von Trotha am 2. Oktober 1904 verliest: Abschrift. Kommando der Schutztruppe. J.Nr. 3737 Osombo-Windhuk, 2.10.1904 Ich der große General der Deutschen Soldaten sende diesen Brief an das Volk der Herero. Die Hereros sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert erhält 1000 Mark, wer Samuel Maherero bringt erhält 5000 Mark. Das Volk der Herero muß jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auch auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers. (zitiert nach Warnke 2009: 5)
Warnke bezieht das auf Bühlers Hier-Jetzt-Ich-System und schreibt dazu (völlig einleuchtend): Wir erkennen recht schnell, dass sich in Trothas Befehl das Ich als militärische Größe markiert, das Jetzt zur historisch gerechtfertigten Stunde einer Vernichtungsproklamation wird und das Hier des afrikanischen Osombe-Windembe [sic!] zur Machtzone innerhalb deutscher Grenzen erklärt ist (Warnke 2009: 4)
und fügt hinzu, Trothas Worte seien „Teil einer nationalen Kommunikationspraxis zwischen 1884 und 1919“. In Trothas Ich begegne „die kontextuelle Realität eines kolonisatorisch Redenden, in seinem Sprachvollzug manifestiert sich ungetarnt, was kolonisatorisches Handeln ist“ (Warnke 2009: 5). Diskurshistorisch wäre zu ergänzen, dass von Trotha hier auf populäre literarische Textmuster des späten 19. Jahrhunderts zurückgreift. Die Formel ‚Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers‘ greift, vermutlich eher unbe-
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wusst, die bei Karl May in den 1890er Jahren häufig verwendete Formel „Der große Häuptling der …“ – zumeist der Apachen – auf. In Verbindung damit taucht das von Uerlings benannte ‚ethnisierende Inferioritätssyndrom‘ auf: Den Herero werden barbarische Grausamkeiten zugeschrieben: den verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abzuschneiden, was wiederum an Karl May, nämlich an die dort den ‚barbarischen‘ Indianerstämmen zugeschriebene Praxis des Skalpierens denken lässt. Dass von Trotha seine Proklamation nicht mit seinem Namen, sondern mit seinem ausgeschmückten Titel ‚Der große General des mächtigen Deutschen Kaisers‘ als einer Art nom de guerre unterschreibt, verweist ebenfalls auf die u.a. von May beschriebene angebliche blumige Ausdrucksweise der ‚primitiven‘ Völkerschaften Nordamerikas oder des Nahen Ostens, die er selber aus der Lektüre einschlägiger realer Reiseberichte etwa in den Familienzeitschriften des 19. Jahrhunderts geschöpft hat. Hier wird das auf Südwest-Afrika übertragen. „Bei den Indianern“, heißt es bei May, gibt es weder Familien- noch Vornamen; es hat sich jeder seinen Namen zu erwerben, zu verdienen, und das geschieht durch hervorragende Thaten oder Eigenschaften. Verliert er diese Eigenschaften, oder gibt er Veranlassung, diese Thaten zu vergessen, so nimmt man ihm den betreffenden Namen und er hat, wenn er nicht gar wegen Ehrlosigkeit vom Stamme ausgestoßen wird, sich unter großen Gefahren und Entbehrungen einen neuen zu erwerben. Ein ehrenvoller Name ist also jedem roten Krieger ebensoviel wert wie sein Leben (May 2003: 269).
Nach diesem Muster werden dann Namen wie Old Shatterhand oder Old Surehand gebildet. Von Trothas Sprachgebrauch hat in dieser Hinsicht weniger mit dem ‚Hier und Jetzt‘ seiner Proklamation zu tun als mit populär-literarischen Redeformen seiner Zeit, die in weitestem Sinne mit Interkulturalität zusammenhängen. Den Adressaten seiner Proklamation können sich diese Zusammenhänge selbstverständlich nicht erschließen, sie bilden aber Sprachund damit Denkgewohnheiten der Zeit ab, in denen sich somit auch Ideologeme abbilden. Es ließe sich daraus auch schließen, dass von Trothas Edikt nicht nur an die Herero, sondern auch an potentielle Rezipienten in Deutschland gerichtet ist, denen hier vertraute Redeformen entgegen kommen. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Verwendung des Begriffes Groot Rohr. Gemeint damit sind wohl die schweren Waffen der deutschen Kolonialtruppen, denen die Herero nichts Gleichwertiges entgegen zu setzen hatten. Interessanter als dieser Inhalt ist hier in der Tat aber die Sprache, also das Medium selbst. Für deutsche Ohren klingt die Phrase zunächst niederländisch, verweist damit auf das Afrikaans, das im 18. Jahrhundert durch den Kontakt der niederländischen Einwanderer (der Buren) vor allem mit den Nama
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entstanden ist (cf. Mesthrie 2002). In einem Wörterbuch des Afrikaans oder auch des Niederländischen findet sich aber nur das Wort groot (für ‘groß’), nicht aber Rohr, das nur im Deutschen existiert.4 Wir haben es also mit einer seltsamen Hybridbildung zu tun, die wiederum mehr auf die Literatur vom Schlage Karl Mays verweist als auf die konkrete Situation in ‚Deutsch-Südwest‘. Bei May befleißigen sich die Europäer im Dialog mit den Indianern häufig einer blumigen Redeweise, mit denen sie die vermeintlichen Sprachgewohnheiten der ‚Eingeborenen‘ zu imitieren versuchen, wie etwa Feuerroß (May 1989: 104) für Eisenbahn oder Bärentöter für ein großkalibriges Gewehr. Es ergibt sich somit gerade für die Kommunikationssituation ein etwas differenzierteres Bild, das Einiges aussagt über den kulturellen Kontext der kolonialen Situation. Von Trotha spricht ein Gegenüber an, das mehr mit der populärliterarischen Konstruktion des ‚Anderen‘ zu tun hat als mit den realen Herero und Nama, denen er gegenübersteht. Tatsächlich findet sich ein – heute weniger bekannter – Text Mays mit dem Titel Der Boer van het Roer. Ein Abenteuer aus dem Kaffernlande, 1879 im Deutschen Hausschatz erschienen5, in dem ein Roer ein Gewehr bezeichnet. Von einem Burenführer namens Pieter Uys6 heißt es: Seine Bewaffnung schien höchst einfach zu sein, denn sie bestand nur aus einem in einer Büffelscheide steckenden Messer und einer alten, schweren Büchse; doch wer da wußte, mit welcher unfehlbaren Sicherheit der holländische Ansiedler sein ‚Roer‘ zu handhaben versteht, der konnte wohl annehmen, daß diese Büchse schon manchem Kaffern, vielleicht auch Engländer das Leben gekostet hatte. (May 1879: 126)7
Es soll damit nicht behauptet werden, Trotha habe sich bei seinen Formulierungen bewusst auf May bezogen. Vielmehr ist der hier von mir exemplarisch herangezogene May ein Beispiel dafür, was für ein sprachliches Material zu der gegebenen Zeit präsent ist.
|| 4 In Pierer’s Universal-Lexikon (1862: 230) findet sich zu Rohr u.a. die Erläuterung: „der Lauf jedes Feuergewehres“. In Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon (1911: 546): „Lauf des Geschützes (Geschütz-R.)“. 5 1897 wurde die Erzählung unter dem Titel „Das Kafferngrab“ nur geringfügig verändert in den Band XXIII der Gesammelten Reiseerzählungen mit dem Titel Auf fremden Pfaden übernommen. Vgl. Koch (1981). Die historischen und geographischen Angaben, die May reichlich verwendet, sind größtenteils aus der 4. Auflage von Pierer’s Universal-Lexikon (1857–1865) abgeschrieben. Vgl. dazu Schweikert (1995). 6 Zum historischen Pieter Uys cf. Koch (1981: 143–145). 7 Inwieweit von Trothas Vokabular insgesamt mit dem (auch literarischen) BurenkriegsDiskurs zusammenhängt, wäre gesondert zu untersuchen. Zum „Faszinationskomplex ‚Buren und Burenkriege‘“ cf. Parr (2014).
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Für mein zweites Beispiel möchte ich auf einen bekannten literarischen Text eingehen, Theodor Fontanes Roman Effi Briest, 1894/95 in der Deutschen Rundschau in Fortsetzungen publiziert.8 Berühmt ist dieses Buch natürlich als Ehebruchsroman. Nachdem Baron von Innstetten durch einen Zufall die schon einige Jahre zurückliegende Affäre seiner Frau mit Major Crampas entdeckt, seine Frau verstoßen und Crampas im Duell getötet hat, kommt es zu einem Dialog zwischen ihm und seinem Kollegen Wüllersdorf: Den Mann im Büßerhemd bring’ ich nicht mehr heraus, und den Derwisch oder Fakir, der unter Selbstanklagen sich zu Tode tanzt, erst recht nicht. Und da hab’ ich mir denn ausgeklügelt: weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen! Denn gerade das, dieser ganze Krimskrams ist doch an allem schuld. Aus Passion, was am Ende gehen möchte, thut man dergleichen nicht. Also bloßen Vorstellungen zuliebe … Vorstellungen! … Und da klappt denn einer zusammen, und man klappt selber nach. Bloß noch schlimmer. (Fontane 1998: 340f.)
Innstettens Plan, nach Afrika zu gehen, um sich den Konventionen der preußischen Gesellschaft zu entziehen, wird sodann von Wüllersdorf konkretisiert und dabei gleichzeitig ad absurdum geführt: Ach was, Innstetten, das sind Launen, Einfälle. Quer durch Afrika, was soll das heißen? Das ist für ‚nen Leutnant, der Schulden hat. Aber ein Mann wie Sie! Wollen Sie mit einem roten Fez einem Palawer präsidieren oder mit einem Schwiegersohn von König Mtesa Blutfreundschaft schließen? Oder wollen Sie sich in einem Tropenhelm mit sechs Löchern oben, am Kongo entlang tasten, bis Sie bei Kamerun oder da herum wieder heraus kommen? Unmöglich! (Fontane 1998: 341)
Die Anmerkungen in kommentierten Fontane-Ausgaben verweisen darauf, dass hier auf Stanleys Reisebeschreibung Through the dark continent angespielt wird, in der eine Beschreibung zu finden ist, wie Stanley mit Mirambo Blutsbrüderschaft schließt. Mtesa, der ‚Kaiser von Uganda‘, und seine Stammeshäuptlinge tragen bei Stanley rote Kopfbedeckungen. (cf. Fontane 1998: 512f.) Die FontaneForschung hat allerdings gezeigt, dass hier auch eine Anspielung auf zwei der übelsten deutschen Kolonialabenteurer zu sehen ist: auf Carl Peters, der 1889/90 auf einer Expedition, mit der er „die deutsche Herrschaft von DeutschOstafrika über Uganda bis zur sogenannten Äquatorialprovinz im südlichen Sudan“ hatte ausdehnen wollen, in Uganda einen Vertrag mit dem Sohn Kaiser
|| 8 Cf. zum folgenden Dunker (2008: 151–165).
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(nicht König wie bei Fontane) Mtesas geschlossen hatte (Finke 1999: 309)9, und auf Hermann von Wissmann, der als junger Leutnant „aus vielleicht romantischen Motiven als Entdeckungsreisender nach Afrika [gekommen war], um dann später als Werkzeug oder Täter ganz unromantisch in eine blutige koloniale Erwerbs- oder Eroberungsgeschichte verstrickt zu werden“ (Finke 1999: 305)10. Kamerun, das Wüllersdorf als mögliches Ziel für Innstettens Expedition nennt, war bereits seit 1884, formell bestätigt durch die Kongo-Konferenz 1885, deutsches ‚Schutzgebiet‘. Afrika ist längst realpolitisch vermessenes Interessens- und Einflussgebiet, das – zumindest für einen höheren preußischen Beamten – für ein poetisch überhöhtes Aussteigertum nicht mehr zur angemessenen Verfügung steht. Die Äußerung Wüllersdorfs verweist mithin für einen Leser, der etwas mit den Stichworten um ‚König Mtesa‘ anfangen kann – und das konnte der Zeitschriftenleser dieser Zeit –, deutlich auf den zeitgenössischen Kontext, d. h. hier auf den kolonialen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Für eine Analyse des konkreten sprachlichen Materials dürfte hier dennoch nicht allzu viel zu holen sein. Es sind die Stichworte roter Fez, Palawer, Blutfreundschaft, Tropenhelm, dazu mit König Mtesa, Kongo und Kamerun ein Name und zwei geographische Bezeichnungen, die auf diesen Kontext verweisen. Wichtig scheint mir, dass zwei wesentlich deutlichere Namen, nämlich Peters und Wissmann, von Fontane nicht genannt, also nicht in die Positivität gehoben werden, was die Stelle für den heutigen Leser in ihrer eigentlichen Konkretheit gar nicht lesbar macht. Es kann daher nicht nur um eine (Diskurs-)Analyse des verwendeten sprachlichen Materials gehen, sondern vor allem auch um die Frage, weshalb Fontane diese auf den kolonialen Diskurs seiner Zeit verweisenden Signale setzt, die zentralen Elemente, auf die hier indirekt Bezug genommen wird (Peters und Wissmann), aber nicht nennt. Eine Analyse dieser Stelle erfordert mithin ein ganz anderes Instrumentarium als z. B. eine Analyse der Deutschen Kolonial-Zeitung. Es kann nicht nur um die „Positivität eines Diskurses“ (Warnke 2007) gehen, sondern auch um das gewissermaßen in der Negativität bleibende nicht oder nur indirekt und andeu-
|| 9 Ob in den Abweichungen von der historischen Grundlage, die Fontane etwa von Kaiser zu König, von Sohn zu Schwiegersohn oder von Vertragsschluss zu Blutsbrüderschaft vornimmt, wirklich eine „Form der Diskretion“ zu sehen ist, „welche die Gewichtigkeit der Bemerkung nur versteckt erkennen lassen will“ (Finke 1999: 309), sei allerdings dahingestellt. 10 Für weitere Belege für diesen Anspielungshintergrund cf. Finke (1999: 300–311). Cf. auch Köppen (2004).
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tend Ausgesprochene, das für ein rein sprachwissenschaftliches Instrumentarium vermutlich schwer zu erschließen sein dürfte. Dieser Zusammenhang in Effi Briest ist kein Einzelfall in der deutschsprachigen Literatur des späten 19. Jahrhunderts, in anderen Texten Fontanes oder bei Wilhelm Raabe etwa findet man Ähnliches. Es werden nur wenige Stichworte gesetzt, von denen die Autoren erwarten konnten, dass diese die entsprechenden Assoziationen bei den Lesern auslösen würden. Genau durch diesen Verzicht auf Explizität unterscheiden sich die Texte dieser Autoren von den Produkten des aus den gleichen Quellen schöpfenden Karl May oder von denen Frieda von Bülows. Voraussetzung für das Funktionieren dieses Konzepts ist dabei, dass der zeitgenössische Leser, der den Romanen in Zeitschriften wie Über Land und Meer, Westermanns Monatshefte, der Gartenlaube oder der Deutschen Rundschau begegnet, über den Kontext in diesen Zeitschriften, der hier zum Paratext wird, entsprechende Imagines in seine Lektüre einfügt. Diese Zeitschriften brachten nämlich entsprechendes Material zuhauf. Eine Analyse des kolonialen Diskurses, die am kollektiven Imaginären dieser Zeit interessiert ist, für das die Literatur von herausragender Bedeutung ist, hat diese Zusammenhänge mit zu bedenken. Eine Untersuchung ausschließlich des expliziten Materials in der Deutschen Kolonialzeitung oder den genannten Zeitschriften fördert sicherlich sprachwissenschaftlich gesehen sehr interessante Ergebnisse zutage, verzerrt aber doch mindestens ein wenig ein zutreffendes Bild der Zeit des deutschen Kolonialismus. Die Tatsache, dass das ‚ethnisierende Inferioritätsaxiom‘, die asymmetrische Aufteilung der Welt zwischen Europa und dem Rest der Welt, so selbstverständlich ist, dass man es nur noch in Andeutungen auszusprechen braucht, man also ein (Ein-)Verständnis beim zeitgenössischen Leser voraussetzen kann, scheint mir als solches ein wichtiges Charakteristikum des kolonialen Diskurses im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu sein.
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Daniel Schmidt-Brücken
Generizität Sprachgebrauchsgeschichtliche und diskurslinguistische Aspekte kolonialer Kommunikation Abstract: The aim of this paper is to identify and describe forms and functions of generalizing language use in the context of German colonialism. To this end, the term genericity will be conceived as comprising all linguistic forms used for expressing generalizations. The colonial dispositif, colonial discourses and colonial texts are understood as specific contexts for generic language use which, in turn, indicates shared knowledge within these contexts. As genericity is seen here from a functional perspective, a distinction will be proposed between textual, syntactic, and morpho-lexical genericity. The outlined theoretical and methodological aspects will be applied in a qualitative, multi-layered analysis of a colonial mass media text. Keywords: genericity, discourse linguistics, (post)colonial linguistics, discourse grammar
1 Einleitung: Generizität und Kontext Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den Formen und Funktionen verallgemeinernden Sprachgebrauchs im Kontext des deutschen Kolonialismus. Um zu einer Eingrenzung dieser Gegenstandsbestimmung zu kommen, wird erstens geklärt, was als verallgemeinernder Sprachgebrauch gelten soll, und zweitens stellt sich die Frage, welche Art von Kontext mit „deutscher Kolonialismus“ gemeint ist. Der Beitrag greift dabei zum Teil zusammenfassend auf Konzepte und Ergebnisse zurück, die ausführlich in Schmidt-Brücken (2015) dargestellt sind. Blickt man für die Beantwortung der ersten Frage in die Grammatikographie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. hierfür auch Schmidt-Brücken 2015: 32–38, 41–46), so kann man etwa mit Hermann Paul unter sprachlicher Verall-
|| Daniel Schmidt-Brücken: Universität Bremen, FB 10: Verbundforschungsinitiative „Worlds of Contradiction“, Universitätsboulevard 13, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-051
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gemeinerung in einer ersten Annäherung so etwas verstehen wie den Ausdruck von „allgemeinen zeitlosen Sätzen wie der Mensch ist sterblich, der Walfisch ist ein Säugetier, bringt lebendige Junge zur Welt, wer wagt, gewinnt“ (Paul 1920: 150, Hervorhebung im Original). Otto Behaghel (1924: 250) spricht von „Tatsachen […], die nicht an eine bestimmte Zeit gebunden sind“, Otto Jespersen (1924: 259) behandelt Sätze, mit denen Sachverhalte in einer „timeless tense“ ausgedrückt werden. Diese grammatikographischen Klassiker betonen einen spezifischen funktionalen Aspekt von generalisierendem Sprechen und Schreiben: Verallgemeinerung durch Sprache wird mit Zeitlosigkeit von Bedeutungen in Verbindung gebracht. Wenn man nun, als Folge einer funktionalen, auf Gebrauchsphänomene abzielenden Untersuchungsweise, den Blick auf die möglichen Kontexte von Sprache richtet, deutet sich ein scheinbarer konzeptueller Konflikt an. In einer Bestimmung des Verhältnisses der Begriffe Kontext, Semantik und Pragmatik erklärt Roberts (2004: 197): Semantics studies what Grice (1967) called the TIMELESS MEANING of a linguistic expression ɸ […]. Pragmatics, on the other hand, studies utterances of expressions like ɸ, attempting to explain what someone meant by saying ɸ on a particular occasion. (Hervorhebung im Original)
Wenn man davon ausgeht, dass die von Roberts angesprochene „particular occasion“ eine Art von Kontext ist, dann ist es scheinbar ausgeschlossen, dass zeitlose Semantiken in spezifischen Kontexten existieren. Verallgemeinernder Sprachgebrauch als zeitloses Sprechen und Schreiben ist somit nicht mit einer Vorstellung von Sprachgebrauch-im-Kontext vereinbar. Dieser Auffassung soll hier gefolgt und eine Lösung zu dem scheinbaren Widerspruch im Sinne diskurslinguistischer Theoriebildung angeboten werden: wenn man sich für Verallgemeinerung-als-zeitloses-Sprechen in zeitgebundenen Kontexten interessiert, dann ist es sinnvoll, Zeitlosigkeit nicht als ontologisches Atemporal-Sein von Generalisierungen zu verstehen, sondern sie vielmehr als ein zeitloses Meinen und Verstehen (Hörmann 1978) von Diskursakteuren zu bestimmen. Was verallgemeinernd gemeint und verstanden wird, ist also ganz und gar nicht zeitlos. Im Gegenteil, Verallgemeinerungen, die Sprecher1 ausdrücken, weisen – insbesondere in der Kontrastierung durch zunehmende historische Distanz – auf die Kontexte ihres Gebrauchs hin. Es wird damit folgende Bestimmung in Beantwortung der ersten Frage angesetzt: Verallgemeinernder Sprachgebrauch ist die || 1 Es wird nachfolgend das generische Maskulinum verwendet, gemeint sind damit Sprecherinnen und Sprecher.
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kommunikative Realisierung allgemeingültiger Geltungsansprüche in spezifischen Kontexten mit sprachlichen Mitteln. Alle expliziten und impliziten sprachlichen Mittel, die zur Realisierung dieser kommunikativen Funktion verwendet werden, heißen Generizität. Geltungsansprüche sind bezogen auf Wissen, das kommunikativ in Funktion gesetzt wird (zur Herstellung von Konsens oder Dissens, zur Assertion über Welt, zum Ausdruck von Emotionen, zur Durchsetzung von Macht etc.). Die Kontextabhängigkeit von Wissen und der damit verbundenen Geltungsansprüche ist ein erkenntnistheoretisches Axiom: „Wissen, dass p ist kontextuell.“ (Sandkühler 2009: 20, Hervorhebung im Original, vgl. im wissenschaftstheoretischen Kontext Detel 2007: 72, im sprachphilosophischen Kontext Searle 1995: 28). Linguistische Kontextbegriffe reichen ihrer Bedeutung nach von „kopräsenter (lokaler, sozialer) ‚Situation‘“ (Busse 2007: 81, Fn. 2), in der sprachlich gehandelt wird (vgl. zu pragmatischen Kontextkonzeptionen Levinson 2000: 24–26), bis hin zu ganzen Diskursen als Kontextualisierungszusammenhängen: Diskurse markieren (im weitesten Sinne) Kontextualisierungszusammenhänge (hier verstanden im epistemischen Sinne, nicht als notwendigerweise ausdrucksseitig explizierte Kontexte, die üblicherweise zur besseren Unterscheidung als Ko-texte bezeichnet werden). (Busse 2007: 82)
Der vorliegende Beitrag bezieht diese theoretischen Erwägungen auf die historische Epoche des deutschen Kolonialismus im Rahmen der (Post)Colonial Linguistics (programmatische Einführungen sind Warnke 2009; Stolz et al. 2011; Dewein et al. 2012 und Warnke et al. 2016), wobei unter Kolonialismus hier eine kommunikative, dispositive, handlungsstrukturierende Formation zu verstehen ist, wie gleich deutlich gemacht werden wird. Um den deutschen Kolonialismus als Kontext für verallgemeinernden Sprachgebrauch zu verstehen, kann prinzipiell auf beide Kontextkonzepte (situatives und diskursives) und auf alle möglichen Zwischenstufen Bezug genommen werden. Nun scheint es aber problematisch zu sein, Kolonialismus als Situation (oder Serie von Situationen) oder als Diskurs (der als Serie von Aussagen verstanden werden kann, vgl. Foucault 2007: 38) zu beschreiben, da Kolonialismus seit dem Beginn der Neuzeit gesamte Wissenskulturen (Sandkühler 2009: 68) so sehr geprägt hat und in postkolonialen Konstellationen noch prägt, dass situationsorientiertes Handeln gleichermaßen wie diskursorientiertes Sprechen von Kolonialität (vgl. Mignolo 2006: 324) geprägt sind. Conrad (2013: 224) stellt aus globalgeschichtlicher Perspektive fest, dass sich die Integration der Welt seit dem 16. Jahrhundert, und mehr noch seit dem 19. Jahrhundert, unter Bedingungen kolonialer Herrschaft vollzog. […] Kolonialismus war ein
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zentrales Element der Weltordnung – aber auch der rechtlichen und ideologischen Legitimierung dieser Ordnung.
Anstatt daher etwa von dem einen Kolonialdiskurs zu sprechen, gibt es gute Gründe, den weitesten kolonialen Kontext verallgemeinernden Sprachgebrauchs als koloniales Dispositiv zu verstehen, wie Warnke in Warnke & Schmidt-Brücken [akzeptiert] zeigt. Dieser Foucault’sche (Foucault 2000: 119– 120) Begriff umfasst sowohl sprachliche als auch nicht-sprachliche Praktiken und „geht […] aus einer Verschränkung von Macht- und Wissensverhältnissen hervor“ (Agamben 2008: 9). Das koloniale Dispositiv ermöglicht koloniale Diskurse also erst (für eine ausführliche Herleitung vgl. Warnke & SchmidtBrücken [akzeptiert]). Um diese Konzeption auf linguistisch untersuchbare Tatsachen zu beziehen, wird der deutsche Kolonialismus als eine Struktur von Kontexten modelliert, in denen verallgemeinernder Sprachgebrauch stattfinden kann. Koloniales Dispositiv Sprachliches koloniales Handeln
Kolonialer Diskurs Text
1
Text
Nicht-sprachliches koloniales Handeln
1
n
Kolonialer Diskurs
n
Abbildung 1: Strukturmodell kolonialer Kontexte.
Das vorgeschlagene Schema konzentriert sich ersichtlich auf diejenigen Aspekte des kolonialen Dispositivs, die für linguistische Untersuchungen relevant sind: das sind Aussagen in Texten als Diskursereignisse (vgl. Spitzmüller & Warnke 2011: 70), wobei hier ein weites Textverständnis zu Grunde gelegt wird, das etwa Multimodalität und Mündlichkeit einbezieht. Mit dieser linguistischen
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Fokussierung bleibt das nicht-sprachliche koloniale Handeln notwendig unterbestimmt. Das Modell suggeriert darüber hinaus eine nicht immer vorhandene Trennschärfe zwischen einzelnen Diskursen innerhalb des sprachlichen Handlungsbereichs und zwischen einzelnen Texten innerhalb von Diskursen. Faktisch ist jedoch mit Kontinuitäten und Übergängen zu rechnen. Auf diese Festlegungen aufbauend kann nun ein konkretes Forschungsinteresse formuliert werden.
2 Fragestellung und Untersuchungsdesign: Generizität als Index für geteiltes Wissen Diskurslinguistik untersucht Aussagen in Kontexten unter der Voraussetzung, dass diese Kontexte erst ihre Sagbarkeit und damit Meinen und Verstehen gewährleisten. In diesem Sinne verweist der Gebrauch sprachlicher Formen stets auch zurück auf deren engere und weitere Kontexte. Ein Beispiel dafür kann der folgende Satz sein: (1)
Um an die Entwicklung unseres deutschen Kolonialwesens den richtigen Maßstab zu legen, ist es für uns von Interesse, sich die Fortschritte zu vergegenwärtigen, welche andere große Kulturländer auf diesem Gebiet gemacht haben. (Deutsche Kolonialzeitung, 19.1.1905: 22)
Diese komplexe Aussage verweist zunächst auf ihren unmittelbaren sprachlichen Kontext, indem durch die finale Konjunktion um der übergeordnete kommunikative Zweck des umgebenden Textes oder Textteils angedeutet wird. Der Satz kündigt durch Einführung von Referenzpunkten im weiteren Textverlauf auszuführende Teilthemen an (die Fortschritte, andere große Kulturländer) sowie die sprachlichen Handlungen, mit denen diese Ausführung realisiert werden soll (vergegenwärtigen). Auf einen textuellen Kontext, dann aber auch auf weiter gefasste Kontexte verweisen thematische Stichwörter: so werden bestimmte Institutionen und soziale Gegebenheiten präsupponiert (deutsches Kolonialwesen, Kulturländer), die sowohl auf die Art des Diskurses (hier ein kolonialpolitischer Diskurs) als auch auf die dispositiven Bedingungen solchen Sprechens hinweisen (etwa die dichotome Kategorisierung der Welt in Kulturländer und, so ist anzunehmen, Nicht-Kulturländer). Kulturhegemoniale und eurozentrische Aspekte des kolonialen Dispositivs werden durch die Rede von Entwicklung, richtigem Maßstab und Fortschritt angedeutet, die Nominalphrase
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andere große Kulturländer implikatiert konventional, dass Deutschland selbst ein großes Kulturland ist. Dieses vielgestaltige Verhältnis von Gesagtem zu Gemeintem (vgl. Rolf 2013: 13, 36–44), das bereits an einem Satzgefüge wie Beleg (1) demonstriert werden kann, kann im Rahmen einer sprachgebrauchsgeschichtlich und diskurslinguistisch orientierten Untersuchung systematisch als indexikalische Relation von Sprachgebrauchsdaten und geteiltem Wissen gefasst werden.
indizieren
geteiltes Wissen
Sprachgebrauchsdaten
Abbildung 2: Indizierung von geteiltem Wissen durch Sprachgebrauchsdaten.
Dementsprechend und anschließend an die vorgeschlagene Bestimmung von verallgemeinerndem Sprachgebrauch indizieren generische Sprachgebrauchsdaten als Ausdrucksmittel sprachlicher Verallgemeinerung geteiltes Wissen, für das im und durch den Kommunikationsvollzug Allgemeingültigkeit beansprucht wird. Das Untersuchungsinteresse im Rahmen des vorliegenden Beitrags ist es, die Formen und Funktionen verallgemeinernden Sprachgebrauchs im kontextuellen Rahmen eines kolonialdispositiv und -diskursiv geprägten Textes zu ermitteln. Die formale Analyse ist dabei orientiert an einem funktionalen Generizitätsverständnis, das keine Beschränkungen für die möglichen Ausdruckstypen vorsieht, die die kommunikative Funktion der Verallgemeinerung realisieren. Konkret heißt das, dass Verallgemeinerung mit verschiedenen lexikalischen, satzstrukturellen, pragmatischen und textstrukturellen Mitteln ausgedrückt werden kann (für restringiertere, formal-semantisch orientierte Generizitätskonzeptionen vgl. Krifka et al. 1995; Carlson 2011; Mari et al. 2013). In einer systematischen Bündelung der verschiedenen generischen Ausdruckstypen des Deutschen wird eine Unterscheidung von textueller, syntaktischer und morphologisch-lexikalischer Generizität angesetzt.
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Textuelle Generizität ist Verallgemeinerung, die für die Themenentfaltung oder thematische Progression eines Textes kennzeichnend ist. Mit Brinker (2010: 56–76) sind dabei vier Grundformen anzusetzen: deskriptive, narrative, explikative und argumentative Themenentfaltung. In jedem dieser Vertextungstypen liegen generalisierende Strukturelemente vor, die explizit im Text aufgefunden oder implizit über inferentielle Prozesse erschlossen werden können. Zu diesen Strukturelementen gehören beispielsweise Stützungsaussagen in argumentativen Texten oder handlungssituierende Elemente in narrativen Texten. Syntaktische Generizität ist Verallgemeinerung, die durch generisch referierende Nominalphrasen (vgl. Blühdorn 2001) und/oder habituative Prädikation über partikulare Referenten (Krifka et al. 1995: 17) ausgedrückt wird. Beleg (2) ist ein Beispiel für syntaktische Generizität, das eine generische Referenz (durch Fettdruck hervorgehoben) und koreferente Anaphern enthält, Beleg (3) exemplifiziert den habituativen Satztyp: (2)
Mit der Arbeit, welche der deutsche Pflanzer in Usambara für sich oder seine Gesellschaft leistet, schafft er neben wirtschaftlichen Werten aber zugleich noch etwas anderes, das für die koloniale Sache von großem Werte ist; er wirkt als Erzieher. (Deutsche Kolonialzeitung, 17.10.1908: 740)
(3)
Wir wissen ja, um wie viel die Etats überschritten zu werden pflegen. (Zentrum, 21.3.1903: 8800)
Morphologisch-lexikalische Generizität ist Verallgemeinerung, die durch Wortbildungsmorpheme mit generalisierender Bedeutung formalen Ausdruck findet und durch Existenzpräsupposition des entsprechenden Derivats im Wortgebrauch realisiert wird. Ein Beispiel ist etwa die präsupponierte Existenz eines verallgemeinerbaren Deutsch-Seins o.ä. durch den Gebrauch des Wortes Deutschthum in diesem Beleg: (4)
Das Auswärtige Amt wird dem Auskunftsbüreau die Berichte zur Verfügung stellen, und in dieser Weise wird es möglich sein, die deutschen Auswanderer so zu renseigniren, daß sie ihren Lebensunterhalt jenseits des Ozeans in ausreichender Weise finden und auch ihr Deutschthum bewahren können. (Zentrum, 4.3.1902: 4585)
Die drei Typen von Generizität können integrativ sein, müssen es aber nicht. Textuelle Generizität ist prinzipiell in jedem textuellen Kommunikat vorzufinden, da sie als ein Strukturelement thematischer Progression Textualität mitkonstituiert. Gleichzeitig können Elemente syntaktischer und/oder morphologisch-lexikalischer Generizität in einem Text vorliegen. Es ist aber durchaus möglich, etwa
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eine auf syntaktische Generizität abzielende Fragestellung zu formulieren, die die beiden anderen Generizitätstypen aus der Analyse ausklammert. Die funktionale Analyse bezweckt die prinzipiengeleitete Interpretation und Systematisierung der Befunde, die in der formalen Analyse gewonnen werden. Unter der Voraussetzung, dass Generizität ein Index für als allgemeingültiges angesehenes Wissen im Kontext eines Textes, eines Diskurses und eines Dispositivs ist, ist die konkrete Fragestellung hier, ob und welche kolonisatorischen Gewissheiten als geteiltes Wissen expliziert oder impliziert und damit im kommunikativen Vollzug konstituiert werden (zur Dialektik von Bezugnahme und Konstituierung von Wissen durch Sprache mit Bezug auf Bühler 1976 vgl. Warnke 2013: 81). Das analytische Vorgehen folgt der diskurslinguistischen Methodologie (Spitzmüller & Warnke 2011). Es wird eine synchrone, qualitative Einzeltextanalyse durchgeführt. Zunächst wird das zu analysierende Datum sprachgebrauchsgeschichtlich eingeordnet, wozu Angaben zur Publikation, zum Verfasser und zur Distribution gehören. Im ersten Analyseschritt werden die thematische Struktur und die Funktion(en) des Textes rekonstruiert. Im zweiten Schritt werden im Text Elemente textueller, syntaktischer und morphologischlexikalischer Generizität identifiziert. Drittens werden mit jeweiligem Bezug auf diese drei Generizitätstypen die Funktionen des verallgemeinernden Sprachgebrauchs im Kontext des Kommunikats, der relevanten Diskurse und des kolonialen Dispositivs diskutiert.
3 Analyse: Formen und Funktionen verallgemeinernden Sprachgebrauchs in einem kolonialen Text Bei dem zu analysierenden Datum handelt es sich um einen redaktionellen Text mit dem Titel „Die Kirchen in Daressalam“, erschienen in Nr. 35 des 4. Jahrgangs (1911) des Periodikums Kolonie und Heimat in Wort und Bild. Unabhängige koloniale Wochenschrift. Organ des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft (nachfolgend kurz Kolonie und Heimat). Die Datenauswahl folgt keinen inhaltlichen Kriterien, sondern geschah zufällig unter der Voraussetzung, dass das zu analysierende Datum ein verhältnismäßig kurzer redaktioneller Text sein sollte, dessen Analyse den Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht überschreitet. Zum/zur Verfasser/in des Textes ist nichts bekannt. Vermutlich steht das kursiv gedruckte Kürzel St. am Ende des Textes für den/die Autor/in. Da die
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explizite Autorennennung in Kolonie und Heimat eher die Ausnahme ist und nur bei redaktionsfremden Beiträger/innen der Fall zu sein scheint, kann vermutet werden, dass St. ein Redaktionsmitglied ist. Einen Überblick über die institutionellen Hintergründe, Verbreitung und Inhalte der Zeitschrift gibt Walgenbach (2005: 108–111), für deren genderbezogene Diskursanalyse die Illustrierte die Datengrundlage bildet. Als eines der Organe der einflussreichen Deutschen Kolonialgesellschaft2 hatte Kolonie und Heimat einerseits die Funktion, Vereinsmitteilungen des Frauenbundes zu veröffentlichen, andererseits war mit dem Periodikum ein Unterhaltungsanspruch verbunden. „Wichtige Themenschwerpunkte in der Zeitschrift waren Kolonialpolitik, Militärwesen, wirtschaftliche Entwicklungen der Kolonien, Tierleben und Jagd, Verkehrswesen, Bildungswesen und ‚anthropologische Betrachtungen‘ der sogenannten ‚Eingeborenen‘“ (Walgenbach 2005: 109). Das Heft, in dem der zu analysierende Text abgedruckt ist, besteht aus folgenden Teilen: 1) Ein Titelblatt mit Impressum, Informationen zum Bezug der Zeitschrift und einer großformatigen Abbildung, die eine Reiseszene zeigt, in der zwei Männer eine Hängematte tragen, die „[d]er Europäer […] allerdings im Augenblick […] verlassen hat, um die Szene im Bilde festzuhalten“ (S. 1). 2) Ein Teil mit redaktionellen Texten, die das von Walgenbach beschriebene Themenspektrum bedienen. 3) Eine Seite mit Mitteilungen des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft. 4) Ein weiterer unterhaltender Teil, der die Episode eines Fortsetzungsromans, Werbeanzeigen, redaktionelle Texte und Leserbriefe enthält. 5) Eine „Nachrichtenbeilage“ mit Informationen aus einzelnen deutschen Kolonialgebieten. Um einen Eindruck von den paratextuellen Elementen der sprachlichen Daten zu geben, ist der zu analysierende Text als Faksimile in Abbildung 3 wiedergegeben. Das Faksimile enthält visuelle Strukturen, die unter Gesichtspunkten der Multimodalität relevant sind, etwa das Layout der Druckseite insgesamt, graphische Strukturen wie Abbildungen und Zierelemente, Typographie (vgl. ausführlich hierzu Bateman 2008). In der vorliegenden Analyse werden diese Phänomene bis auf eine knappe Analyse grundsätzlicher Text-Bild-Relationen zugunsten eines linguistischen Fokus ausgeklammert. Für eine diskursanalytische Behandlung multimodaler Zeichenverwendung vgl. Kress & Leeuwen (2001) und Leeuwen (2005). Nachfolgend ist ein Transkript des Textes gegeben,
|| 2 Gründer (2012: 47) bezeichnet die Deutschen Kolonialgesellschaft als „koloniale pressure group des zweiten Kaiserreiches“ und „als eine Organisation mit einer Spitzengruppe professioneller Überseeinteressen und einer breiten Basis im gehobenen Mittelstand.“
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das in nummerierte Segmente gegliedert ist, um die Analyse übersichtlicher zu gestalten (vgl. Brinker 2010: 22).
Abbildung 3: „Die Kirchen in Daressalam“ (Kolonie und Heimat, 1911, Nr. 35, S. 5).
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[1] Die Kirchen in Daressalam. [2] An der lieblichen, palmenumgürteten Meeresbucht, wo einst der erste Sultan des 1856 selbständig gewordenen Sultanates Zanzibar die mächtigen Grundmauern zu einem neuen Herrschersitz zu errichten begann, der den Namen Daressalam, d. i. „Haus des Friedens“, führen sollte, dort ist die aufblühende gleichnamige Hauptstadt der grössten Kolonie des Deutschen Reiches entstanden. [3] Mit dem im Jahre 1870 erfolgten Tode Seyid Majids war auch das Schicksal seiner Baupläne besiegelt. [4] Das Araberreich in Afrikas Osten sank schon unter seinem nächsten Nachfolger, dem Sultan Seyid Bargasch, unter dem mehr und mehr zur Geltung gekommenen Einflusse der höheren abendländischen Kultur in Trümmer, und an der Stelle, wo der Sultan die Hochburg des Islams zu errichten gedachte, stieg sieghaft verheissungsvoll der Hohenzollern-Aar empor, und unter dem Schutz und Schirm der schwarz-weiss-roten Flagge pflanzte dauernd sich das Kreuzeszeichen der Christenheit auf! [5] Und so sind die weit vom Ozeane draussen schon sichtbaren Wahrzeichen der Hauptstadt Deutsch-Ostafrikas denn auch die ragenden Gotteshäuser der beiden christlichen Bekenntnisse geworden, welche sich friedlich zu gleicher Arbeit die unter deutscher Schutzherrschaft stehenden Gebiete Ostafrikas zum Arbeitsfeld erkoren. [6] Daressalam war damals ein elendes Negerdorf, das sich erst unter dem deutschen Regime allmählich zu einer eleganten kleinen Stadt, und im Laufe der letzten Jahre zu einem verkehrsreichen Handelsplatze entfaltet hat. [7] Die verhältnismässig rasche Entwicklung der Landeshauptstadt, die hierdurch hervorgerufene Erstarkung der europäisch-deutschen Bevölkerung, unter welcher wiederum bald in steigender Zahl deutsche Familien in den Vordergrund traten, sie liessen auch das Bedürfnis geltend werden, für die christlichen Kirchengemeinden Gotteshäuser zu errichten. [8] Aus eigener Kraft an die Lösung der grossen Aufgabe heranzugehen, war weder die katholische noch die evangelische Gemeinde in der Lage, die in allen Dingen opferwillige Heimat musste auch hierbei helfend beispringen. [9] Die zuerst von der katholischen Missionsgesellschaft in Deutschland zu diesem Zwecke eingeleiteten Sammlungen ergaben bald so reichliche Geldmittel, dass bereits im Jahre 1897 mit der Grundsteinlegung und damit mit dem Bau der katholischen Kathedrale begonnen werden konnte. [10] Dieser Erfolg wurde dann auch auf die evangelischen Kreise Deutschlands ein wirksamer Ansporn, neben dem katholischen gleichzeitig auch ein evangelisches Gotteshaus erstehen zu lassen. [11] Im evangelischen Volke Deutschlands fanden die Pläne ergiebige Förderung und so stiegen in Daressalam ziemlich zu gleicher Zeit die Türme beider Kirchen zum blauen afrikanischen Himmel empor. [12] Ungemein freundlich in ihrer dem Tropen-Charakter des Landes angepassten Architektur wirkt die zuerst vollendete evangelische Kirche auf den Beschauer. [13] Sie liegt, umgeben von wogenden Kronen schlanker Palmen, zierlichen Akazien und indischen Mandelbäumen, am Wilhelmsufer, der das Hafenbecken begrenzenden Strasse, die hinausführt aus dem geschäftigen Treiben der Stadt in die stille Beschaulichkeit der im satten Grün der Mangobäume eingebetteten Gartenstadt. [14] Unmittelbar an das stattliche Gotteshaus schliesst sich das evangelische Pfarrhaus an. [15] Domartig imposant dagegen, auf freiem von Alleebäumen umsäumtem Platze, gleichfalls vom Hafen aus sichtbar, ragt die katholische Kirche, in ihrer reichen gotischen Bauart. [16] Es verdient hervorgehoben zu werden, dass beide Kirchen ausschliesslich von eingeborenen Handwerkern unter deutscher Leitung erbaut worden sind. [17] Die katholische Kirche ausschliesslich von farbigen Angehörigen der Mission unter Leitung sachverständiger Missionare. [18] St.
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3.1 Textuelle Generizität Die Textanalyse nach Brinker (2010: 139–141) sieht drei Schritte vor: eine Kontextanalyse, eine Analyse der Textfunktion und eine Analyse der thematischen Struktur des Textes. Die Beschreibung der kontextuellen Merkmale des Datums sind der Analyse vorangestellt, teilweise sind gerade die Kontextbezüge aber auch erst in der Diskussion der Untersuchungsbefunde zu rekonstruieren. Damit kann im nächsten Schritt die Bestimmung der Textfunktion vorgenommen werden. Brinker (2010: 98) unterscheidet als textuelle Grundfunktionen die Informations-, die Appell-, die Obligations-, die Kontakt- und die Deklarationsfunktion. „Zu ergänzen wäre noch“, wie Brinker in einer Fußnote (Brinker 2010, Fn. 75) anmerkt, „die sog. poetische (ästhetische) Funktion, die in literarischen Texten dominiert […].“ Wie sich anhand der thematischen Progression des Textes zeigen lässt, ist die Grundfunktion im vorliegenden Fall nicht eindeutig zu bestimmen bzw. muss mit Hausendorf & Kesselheim (2008: 145) davon ausgegangen werden, dass „[e]in Text […] oft mehr als nur eine Grundfunktion [hat].“ Zunächst weist der Texttitel Die Kirchen in Daressalam auf eine informative Grundfunktion hin und kündigt damit eine dominant deskriptive Progression des im Titel eingeführten Hauptthemas an. Eine entsprechende Prägung wird vor allem in Verbindung mit den Abbildungen der Kirchengebäude erzeugt. Spitzmüller & Warnke (2011: 171) weisen darauf hin, dass gerade in kolonialen Diskursen „Bedeutungskonstituierung sehr häufig über Text-Bild-Relationen [erfolgt]“. Mit Bezug auf Burger & Luginbühl (2014: 420–443)3 und teilweise im Vorgriff auf nachfolgend Auszuführendes können für das vorliegende Datum Ausprägungen von Dimensionen und Aspekten der Text-Bild-Struktur bestimmt werden. Zu den dabei relevanten Dimensionen gehören formale, semantische und pragmatisch-funktionale Relationen. Die diesen Dimensionen zugeordneten Aspekte sind jeweils in terminologischen Oppositionen geordnet. Einen Überblick über diese Systematik, der auch exemplarische Fragestellungen anführt, gibt die Tabelle in Spitzmüller & Warnke (2011: 170). Die zutreffende Aspektausprägung ist nachfolgend durch Fettdruck hervorgehoben.
|| 3 Die Autoren beziehen ihre Systematik der Text-Bild-Relationen zwar vor allem auf die Analyse von Fernsehsendungen, schreiben aber, dass „[e]iniges davon […] – mutatis mutandis – auch für die Presse [gilt]“ (Burger & Luginbühl 2014: 420). Spitzmüller & Warnke (2011: 170) beziehen die Systematik explizit auf koloniale massenmediale Textkommunikate.
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Tabelle 1: Dimensionen und Aspekte von Text-Bild-Relationen.
Dimension
Aspekt
Befund
Formale Relationen
intradiegetisch/extradiegetisch
Der/die Autor/in ist nicht Teil der bebilderten Welt, vielmehr zeigt die Abwesenheit von Personen architektonische Stillleben.
synchron/asynchron
Die Kirchenabbildungen sind, der massenmedialen Textsorte entsprechend, „sowohl produktionstechnisch als auch aus der Sicht des Lesers einem früheren Zeitpunkt zuzuordnen als die Legende […] bzw. der umgebende Text.“ (Burger & Luginbühl 2014: 422–423)
Semantische Relationen
konvergent/divergent
Text und Bilder beziehen sich auf dieselben Gegenstände (Kirchengebäude), so dass die deskriptiv fungierenden sprachlichen und visuellen Textelemente semantisch weitgehend konvergent sind. Jedoch werden bspw. narrative Inhalte des Textes nicht bebildert.
Pragmatischfunktionale Relationen
Textfunktion zum Bild
Der Text bezieht sich nie explizit auf die Abbildungen, wohl aber auf die abgebildeten Kirchengebäude. Eine Monosemierungsfunktion in Bezug auf die Abbildungen (Burger & Luginbühl 2014: 434) erfüllt der Text vor allem durch Einbettung der abgebildeten Gebäude in einen narrativ-deskriptiven Verweiszusammenhang.
Bildfunktion zum Text
Die Bilder dienen vor allem der Veranschaulichung des Beschriebenen wie auch der Gewährleistung der Authentizität des Gesagten und sollen das Interesse des Rezipienten wecken.
Im Rahmen dieser Analyse soll der theoretisch und methodisch differenzierte Bereich der Multimodalität von Texten nur kurz berührt und der Fokus nachfolgend auf sprachliche Strukturen und Funktionen gelegt werden. Die Analyse der Text-Bild-Relationen ergänzend ist noch der Verweis auf die Bildunterschriften hinzuzufügen, die das Dargestellte in den Abbildungen in generischklassifizierender Systematisierung den beiden christlichen Konfessionen in
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Daressalam zuordnen und dabei im Wortlaut fast identisch und in der Phrasenstruktur vollkommen identisch verfahren: (5) a. Evangelische Kirche in Daressalam vs. Katholische Kirche in Daressalam [[Evangelische/Katholische]Adj Kirche [in [Daressalam]N]PP]NP b. Inneres der katholischen Kirche vs. Innen-Ansicht der evangelischen Kirche [Inneres/Innen-Ansicht [der [katholischen/evangelischen]Adj Kirche]NP]NP Die Funktionsanalyse auf textueller Ebene zeigt, dass der Text gegenüber dem Hinweis auf eine informative Grundfunktion durch den Titel einen Wechsel narrativer und deskriptiver Vertextungsformen aufweist. Indikatoren für einen narrativen Themenverlauf sind eine spatio-temporale Situierung (An der lieblichen, palmenumgürteten Meeresbucht, wo einst der erste Sultan des 1856 selbständig gewordenen Sultanates Zanzibar […]) und eine daran anknüpfende, über die Segmente [1] bis [11] fortgeführte (und lediglich in [5] deskriptiv unterbrochene) Handlungserzählung, die durch Handlungs- und Vorgangsverben im Präteritum (begann, sollte, erfolgte, sank, stieg empor, ergaben) sowie temporale Referenzen und zeitbezogene Lexeme (1856, 1870, Nachfolger, damals, bald) als zeitliche Serialisierung von erzählwürdigen Sachverhalten ausgestaltet wird (vgl. Brinker 2010: 60–65, Hausendorf & Kesselheim 2008: 93). Den Wechsel zur deskriptiven Themenprogression zeigen jeweils Tempuswechsel an: der deskriptive Einschub in [5], der den narrativen Textteil unterbricht, steht im Perfekt (sind […] geworden), wobei in dem mit welche eingeleiteten Relativsatz bereits wieder der Wechsel ins narrative Tempus Präteritum vollzogen wird (erkoren); in [12] wird dann vom Präteritum ins Präsens gewechselt, das auch bis zum Schluss eingehalten wird (wirkt, liegt, schliesst an etc.), mit Ausnahme von Segment [16], in dem der Nebensatz noch einmal im Perfekt steht. Zur deskriptiven Themenprogression gehört neben grammatischen Vertextungsmerkmalen eine Wiederaufnahmestruktur, die „ein Lebewesen oder einen Gegenstand“ (Brinker 2010: 59) zentral setzt. Nach der Nennung des Hauptthemas Kirchen im Texttitel folgen Wiederaufnahmen durch dasselbe Lexem ([11], [12], [15]–[17]), durch das synonyme Lexem Gotteshaus ([5], [7], [10] und [14]) und durch das Hyponym Kathedrale in [9]. Die Wiederaufnahmen sind dabei relativ gleichmäßig auf die Textabschnitte verteilt, die unter temporalgrammatischen Gesichtspunkten als narrative und deskriptive Teile unterschieden werden; sie lassen also keinen eindeutigen Befund bezüglich einer differenzierten Themenprogression im Text zu. Allerdings gehören zu den lexikalischen Mitteln deskriptiver Vertextung nach Hausendorf & Kesselheim (2008: 99) insbesondere auch Wahrnehmungsverben und auf die Sichtbarkeit von beschriebenen Objekten
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bezogene Lexeme. Es geht dabei um „Hinweise auf die Wahrnehmbarkeit von Objekten im Raum“ (Hausendorf & Kesselheim 2008: 91, Hervorhebung im Original), die im vorliegenden Datum ausschließlich in den als deskriptiv eingeordneten Textteilen zu finden sind: unter dem Aspekt der Sichtbarkeit spricht der/die Autor/in von weit vom Ozeane draussen schon sichtbaren Wahrzeichen [5] und davon, dass eine der beiden Kirchengebäude auf den Beschauer […] wirkt [12]. Das Resultat der textstrukturellen Analyse ist in der folgenden Tabelle dargestellt, die die Typen thematischer Progression im Text und Paraphrasen der einzelnen Textsegmente aufzeigt. Tabelle 2: Thematische Progression und Themenparaphrasen.
Segmentnr.
Themenparaphrase
thematische Progression
1
[Texttitel]
–
2
Arabische Anfänge Daressalams
narrativ
3
Ende der arabischen Zeit
4
Wechsel zum preußischen und christlichen Regime
5
Kirchen als Wahrzeichen Daressalams
deskriptiv
6
Charakterisierung des alten und des neuen Daressalam
narrativ
7
Demographische und religiöse Entwicklung der Stadt
8
Hilfsbedürftigkeit der christlichen Gemeinden Daressalams
9
Bau der katholischen Kathedrale möglich
10
Bau der evangelischen Kirche
11
Gleichzeitiger Bau der beiden Kirchen
12
Charakterisierung der evangelischen Kirche
13
Beschreibung der Umgebung der evangelischen Kirche
14
Das evangelische Pfarrhaus
15
Charakterisierung der katholischen Kirche
16
Bau beider Kirchen durch indigene Arbeiter
17
Bau der katholischen Kirche von indigenen Missionsangehörigen
18
[Autorenkürzel]
deskriptiv
--
Auf der Grundlage der Analyse der thematischen Progression können nun Elemente textueller Generizität untersucht werden. Die Grundidee des Konzepts textueller Generizität ist, dass Verallgemeinerung eine nicht nur durch Sätze oder Wörter realisierbare Funktion ist, sondern als intendierter, manifester
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Zweck bzw. nicht intendierter, latenter Effekt auf textueller Ebene angelegt sein kann (vgl. zu dieser Unterscheidung Merton [1949] 2000: 117, zur diskurslinguistischen Adaption Warnke 2013: 81–82). Intendierter Zweck von Kommunikation ist Verallgemeinerung dann, wenn sie von einem Sprecher/Schreiber kommuniziert werden will, wenn er also – textlinguistisch gesprochen – ein Thema generalisierend ausführen will oder – pragmatisch gesprochen – das von ihm Gesagte generalisierend meint bzw. verstanden wissen will. Latenter Effekt von Kommunikation ist Verallgemeinerung dann, wenn sie als implizites, aber gleichwohl konstitutives Strukturelement eines Kommunikationsformats identifiziert werden kann, d. h. wenn gesagt werden kann, dass ein sprachliches Datum nur deswegen der Kategorie Text zugeordnet werden kann, weil bestimmte (jedoch nicht zwangsläufig sämtliche) Aspekte seiner Grundstruktur verallgemeinernd sind. Im letzteren Sinne ist Verallgemeinerung kommunikativ unintendiert, aber doch vorhanden, damit ein textuelles Kommunikat als Text funktionieren kann. In der Tat können solche verallgemeinernden Strukturelemente für die vier Grundformen thematischer Entfaltung (nach Brinker 2010: 56–77) bestimmt werden. Diese Elemente werden als textuelle Generizität bezeichnet, da sie die formale Realisierung einer Verallgemeinerungsfunktion darstellen; sie sind in Tabelle 3 aufgeführt. Eine ausführliche Diskussion der konzeptionellen Herleitung textueller Generizität findet sich in Schmidt-Brücken (2015: 88–104). Tabelle 3: Strukturelle Formen textueller Generizität in Typen thematischer Progression.
Grundformen thematischer Entfaltung
Strukturelle Formen textueller Generizität
deskriptive (beschreibende) Themenentfaltung Beschreibung narrative (erzählende) Themenentfaltung
Situierung, Resümee
explikative (erklärende) Themenentfaltung
Explanans
argumentative (begründende) Themenentfaltung
Stützung, Wertbasis
Für die im vorliegenden Datum relevanten Themenentfaltungstypen Deskription und Narration sind die Formen der Beschreibung bzw. der Situierung und des Resümees als textuell-generische Elemente kennzeichnend. Die Strukturelemente Situierung und Resümee in der narrativen Themenentfaltung rahmen die erzählten Sachverhalte. Die Situierung ist strukturell verallgemeinernd insofern, als sie das Erzählte – eine „erzählwürdige Begebenheit“ (Brinker 2010: 63) – vor einen invarianten Hintergrund bzw. eine generelle Ausgangslage stellt.
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Brinker (2010: 62) betont, dass die Situierung, trotz der räumlichen Metaphorik des Begriffs, keine bloß raumzeitliche Bestimmung ist, sondern eine thematische, die etwa auch die Einführung von handelnden Personen beinhaltet. Resümierende Elemente im Text haben oft die Funktion, generalisierte Bewertungen des Erzählten auszudrücken bzw. einen (vorläufigen) Status quo zu fixieren: „Mit dem Resümee […] nimmt [der Erzähler, DSB] auf einer übergeordneten Reflexionsebene eine allgemeine und zeitlose Ausdeutung des Erlebten […] vor“ (Brinker 2010: 65). Situierende wie resümierende Elemente können sowohl einzelne Textteile wie den ganzen Text rahmen. Im vorliegenden Datum liegen zwei lokale, d. h. ortsbezogene, und eine zirkumstantielle Situierungen vor: (6)
Lokale Situierungen: An der lieblichen, palmenumgürteten Meeresbucht [2] Daressalam war damals ein elendes Negerdorf [6] Zirkumstantielle Situierung: Aus eigener Kraft an die Lösung der grossen Aufgabe heranzugehen, war weder die katholische noch die evangelische Gemeinde in der Lage [8]
Die lokalen Situierungen fixieren Orte im kolonialen Raum appellativisch (Meeresbucht) und toponymisch (Daressalam) als Handlungsräume des Narrativs (vgl. Stolz & Warnke 2015; Stolz & Warnke i.d.B.). Diese Situierungen erfüllen damit eine Positionierungsfunktion (vgl. Vater 1991: 48–79) im Sinne einer sprachlichen Ortsherstellung (sogenanntes Place-Making, vgl. Warnke & Busse 2014). Die attributiven (in [2]) und prädikativen Charakterisierungen (in [6]) spezifizieren jeweils die so gemachten Orte, indem sie im Changieren zwischen exotistischer Bewunderung und rassistisch-pejorativer Diktion einen Kontrast zwischen dem urwüchsig-paradiesischen Naturraum der Meeresbucht in [2] und der trostlosen indigenen Ortschaft Daressalam in [6] konstruieren. Das Situierungssegment [8] wird als zirkumstantiell bezeichnet in Anlehnung an die Klassifikation adverbialer Strukturen bei Dik (1997: 243): es wird ein komplexer Sachverhalt als Ausgangslage für das weitere Narrativ in [9] bis [11] dargestellt. Als generisch im Sinne einer Invarianz von Merkmalen haben dabei insbesondere die lokalen Attribuierungen in [2] und [6] zu gelten. Resümierende Teilsegmente, die Unterabschnitte des narrativen Textteils begrenzen, sind: (7)
und unter dem Schutz und Schirm der schwarz-weiss-roten Flagge pflanzte dauernd sich das Kreuzeszeichen der Christenheit auf! [4]
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das sich erst unter dem deutschen Regime allmählich zu einer eleganten kleinen Stadt, und im Laufe der letzten Jahre zu einem verkehrsreichen Handelsplatze entfaltet hat. [6] und so stiegen in Daressalam ziemlich zu gleicher Zeit die Türme beider Kirchen zum blauen afrikanischen Himmel empor. [11] Indikatoren für die resümierende Funktion sind Wörter und Mehrworteinheiten, die mit einer spezifischen temporalen Semantik zur Darstellung des Erzählten beitragen. Dazu gehört unter anderem die Präpositionalphrase im Laufe der letzten Jahre in [6], deren Gebrauch den Abschluss einer Entwicklung in die nähere Vergangenheit des Erzählzeitpunktes legt. Einen ähnlichen finalen Bedeutungsbeitrag leistet die Konjunktion-Partikel-Konstruktion und so in [11]. Interessant im Rahmen einer auf Generizität zugeschnittenen Fragestellung ist hier vor allem das adverbial gebrauchte Adjektiv dauernd. Es fungiert als Durativspezifikation, die „immer dem Anspruch auf das Bestehen des entworfenen Sachverhalts [gilt]“ (Zifonun et al. 1997: 813), das heißt, dass der Bedeutungsbeitrag von dauernd zu der in [7] ausgedrückten Proposition nicht ihren Wahrheitsgehalt berührt (zur Unterscheidung von Propositions- und Geltungsspezifikationen vgl. Zifonun et al. 1997: 810). Was die Benutzung des Adjektivs dauernd leistet, ist eine generisch-habituative Sachverhaltsdarstellung in Form einer durativen Aspektualisierung: es genügt in dieser Lesart nicht, dass sich das Kreuzeszeichen der Christenheit auf[pflanzte], dies wird darüber hinaus als dauerhafter Status quo deklariert. Wiederum einen kontrastierenden Effekt mit dem elende[n] Negerdorf hat die resümierende Darstellung vom Entwicklungsziel Daressalams zu einem verkehrsreichen Handelsplatze in [6]. Der/die Autor/in spielt mit der vermeintlichen Invarianz der Stützungselemente, vor deren Hintergrund sich die Handlung abspielen soll: das Generisch-Habituative der lokalisierten Orte ist in der kolonial-dispositiven Perspektivierung eben nicht invariant, sondern einem kolonisatorischen Telos unterworfen. Nun zu den deskriptiven Textanteilen in den Segmenten [12] bis [17]. Beschreibung im Sinne funktional-kommunikativer Theoriebildung, auf die Brinker (2010: 60) Bezug nimmt, wird bei Schmidt (1981: 91) bestimmt als „die […] Darstellung eines Lebewesens, unbelebten Dings; eines Vorgangs oder Zustands, der als Element einer Klasse von Prozessen mit übereinstimmenden invarianten Merkmalen erfaßt wird“. Der Bezug auf eine „Klasse von Prozessen“ bei Schmidt (1981: 91) kann übertragen werden auch auf die von ihm angesprochenen Entitäten, die das semantische Merkmal [± belebt] besitzen; hier ist der terminologische Anschluss an den Begriff Generizität (von lat. genus ‘Art, Klasse, Sorte’) am sinnfälligsten. Im vorliegenden Datum ist eine solche klassenbezogene Deskription nicht zu
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identifizieren, jedoch wird das Hauptthema, die beiden Kirchengebäude, auf zwei Ebenen charakterisierend ausgeführt. Eine primäre Charakterisierung schreibt den Gebäuden selbst Eigenschaften zu, eine sekundäre Charakterisierung bezieht sich auf die lokalen Umstände der Kirchen. (8)
[12] Ungemein freundlich in ihrer dem Tropen-Charakter des Landes angepassten Architektur wirkt die zuerst vollendete evangelische Kirche auf den Beschauer. [13] Sie liegt, umgeben von wogenden Kronen schlanker Palmen, zierlichen Akazien und indischen Mandelbäumen, am Wilhelmsufer, der das Hafenbecken begrenzenden Strasse, die hinausführt aus dem geschäftigen Treiben der Stadt in die stille Beschaulichkeit der im satten Grün der Mangobäume eingebetteten Gartenstadt. […] [15] Domartig imposant dagegen, auf freiem von Alleebäumen umsäumtem Platze, gleichfalls vom Hafen aus sichtbar, ragt die katholische Kirche, in ihrer reichen gotischen Bauart.
Der unterschiedliche referentielle Bezug dieser zwei Ebenen kann durch Paraphrase der Attributionen in Prädikationen deutlich gemacht werden: (9)
Primäre Charakterisierungen (Paraphrasen): Die evangelische Kirche wirkt ungemein freundlich in ihrer Architektur. [12] Die evangelische Kirche ist von wogenden Kronen schlanker Palmen umgeben. [13] Die evangelische Kirche ist von zierlichen Akazien umgeben. [13] Die evangelische Kirche ist von indischen Mandelbäumen umgeben. [13] Die katholische Kirche ist domartig imposant. [15] Die katholische Kirche hat eine reiche gotische Bauart. [15]
(10)
Sekundäre Charakterisierung (Paraphrasen): Das Land hat einen Tropen-Charakter. [12] In der Stadt gibt es geschäftiges Treiben. [13] Die Gartenstadt weist eine stille Beschaulichkeit auf. [13] Die Gartenstadt ist in das satte Grün der Mangobäume eingebettet. [13] Der Platz der katholischen Kirche ist frei. [15] Der Platz der katholischen Kirche ist von Alleebäumen umsäumt. [15]
Die Explikation der teilweise maximal komprimierten Prädikationen (vgl. Ungemein freundlich in ihrer dem Tropen-Charakter des Landes angepassten Architektur [12], zum „komprimierenden Nominalisierungsstil“ vgl. Polenz 2008: 42– 45) macht deutlich, dass das, was hier sekundäre Charakterisierung genannt wird, genauso häufig auftritt wie die primären Charakterisierungen des Hauptthemas. Es wird demnach ein ebenso großer kommunikativer Aufwand betrie-
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ben, Eigenschaften des kolonialen Raums zu deklarieren, wie die Kirchengebäude selbst zu beschreiben. Damit, so der abschließende Befund dieser auf Generizität ausgerichteten Textanalyse, wird eine semantische Kontinuität von den narrativen, auf die Gründungszeit der deutschen Kolonie bezogenen Textteilen, zu den deskriptiven, vordergründig auf die Kirchengebäude bezogenen Passagen hergestellt. Eine diskursbezogene Hypothese, die aus der vorliegenden Analyse textuell-generischer Strukturelemente im Text abgeleitet werden kann, ist, dass deutsche Texte kolonialer Prägung strukturell eine Tendenz aufweisen, koloniale Räume zu fixieren – und zwar auch, wenn das Hauptthema des jeweiligen Textes kein spezifisch raumbezogenes ist. Die Vermutung wäre in einer umfassenden transtextuellen Untersuchung zu überprüfen, Hinweise auf ihr mögliches Zutreffen finden sich aber bereits in Schmidt-Brücken (2015: 151–164). Dort kann gezeigt werden, dass in einem Korpus von massenmedialen und kolonialpolitischen Texten allein in den drei häufigsten Themenbereichen Kolonialwirtschaft, Infrastruktur und Kolonisierte häufige Bezugnahmen auf und Charakterisierungen von kolonialen Räume vorzufinden sind.
3.2 Syntaktische Generizität Das vorliegende Textdatum enthält keine Fälle syntaktischer Generizität. Es können weder Nominalphrasen mit generischer Referenz identifiziert werden, noch wird habituativ über partikulare Referenten prädiziert.4 Da die drei vorgeschlagenen Typen von Generizität zwar integrativ funktionieren können, aber nicht notwendigerweise gleichzeitig auftreten müssen, muss mit solch einem Befund gerechnet werden. Da uns gleichwohl daran gelegen ist, syntaktische Generizität als relevantes Phänomen kolonialen Sprachgebrauchs sichtbar zu machen, wird nachfolgend exemplarisch auf Analysen aus Schmidt-Brücken (2015: Kap. 5.2) zurückgegriffen. Die bisherige Forschung zur Generizität ist fast ausschließlich auf den syntaktischen Generizitätstypus bezogen gewesen. Die Hauptstoßrichtung war dabei ein logisch-semantisches Interesse an Fragen der Denotation generisch referierender Nominalphrasen und der Quantifikationalität von Sätzen, die solche generischen NPs enthalten. Eine umfassende Einführung in diese Problematik geben Krifka et al. (1995) und Carlson (2011). An die formal-semantischen Fragestellungen anschließend und sie jeweils spezifisch überschreitend
|| 4 Dass Habituativität ein Schnittstellenphänomen von syntaktischen und textuellen Phänomenen ist, zeigen Carlson & Spejewski (1997) und Schmidt-Brücken (2015: 264–265).
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sind auch die kognitionswissenschaftlich orientierte Sprachphilosophie (Leslie 2007, 2008), die Spracherwerbsforschung (Gelman 2003) und die Pragmatik (Blühdorn 2001) an Generizität interessiert. Insbesondere die Befunde dieser Arbeiten sind für die vorliegende sprachgebrauchsgeschichtliche Perspektivierung von Bedeutung. So kann Leslie in ihren Untersuchungen zeigen, dass das Problem der schwer fassbaren Wahrheitsbedingungen für generische Sätze, das die logische Forschung spätestens seit Carlson (1977) beschäftigt, lösbar zu sein scheint, wenn Generizität als Ausdruck kognitiv fundamentaler Prozeduren des Urteilens verstanden wird (Leslie 2007: 381). Sie bezieht sich dabei auf Kahnemans (2003) Konzeption zweier kognitiver Systeme, eines schnellen, automatischen „lower-level“ Systems 1, das bei der Verarbeitung generischer Aussagen zum Zug kommt, und eines langsamen, regelgeleiteten „high-level“ Systems 2, das bei der Verarbeitung quantifizierter Aussagen aktiv wird (Leslie 2007: 395). Verarbeitung meint dabei die Beurteilung von Propositionen als wahr oder falsch. Mit Verweis auf experimentalpsychologische Untersuchungen5 folgert Leslie (2007: 398), dass „[g]enerics […] express System 1 judgments“, also Generalisierungen darstellen, die auch angesichts statistischer Gegenevidenz ihren Wahrheitswert beibehalten. Gelman (2003) zeigt in ihren Studien zum Erstspracherwerb, dass „[g]enerics may teach children particular category-wide generalizations“ (Gelman 2003: 174). Für den Gebrauch generischer Ausdrucksformen in kolonialen Diskursen ist daran anschließend der Hinweis Gelmans relevant, dass „[c]ertainly stereotypes (which typically entail generic beliefs about human kinds) persist despite little or no direct supporting evidence” (Gelman 2003: 214). Schließlich ist hier von Interesse, dass generische Referenz in der pragmatischen Forschung als eine Interpretationsmöglichkeit von Nominalphrasen verstanden wird, für die es kontextuelle Bedingungen geben muss. Diese Bedingungen modelliert Blühdorn (2001: 13–14) als kognitive Suchroutine, die zu einer kontextuell plausiblen Interpretation einer NP – partikular oder generisch – führen soll. Diese Suchroutine basiert auf der Annahme, dass der Defaultfall der NP-Interpretation die partikular-spezifische Referenz auf einen identifizierbaren Referenten sei (vgl. Ballweg 1995: 283). Die Routine sieht eine Abfolge von weiteren Interpretationsmöglichkeiten vor, die sich kontextabhängig von diesem Defaultfall hin zur generischen Referenz bewegt. Die dargestellten theoretischen Befunde – d. h. die prinzipielle Kontextabhängigkeit syntaktisch-generischer Äußerungsinterpretation sowie die Stereo|| 5 Literaturhinweise und Beispiele für konfliktäres Interagieren der beiden Kahneman’schen Systeme finden sich in Schmidt-Brücken (2015: 71).
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typizität generischen Sprachgebrauchs – sollen nun den Ausgangspunkt der diskursgrammatischen Analyse (vgl. Warnke et al. 2014) solcher Satzstrukturen bilden. Zum einen soll die hier eingenommene funktionale Perspektive auf generischen Sprachgebrauch deutlich machen, dass die grammatischen Strukturen, in denen generisches Referieren möglich ist, weitaus komplexer sind als es die formal-semantische Forschung suggeriert. Zum anderen öffnet sich generischer Sprachgebrauch für diskurslinguistische Interpretation, wenn die damit ausgedrückten Verallgemeinerungen als geteilte Wissensbestände verstanden werden. Die erste Annäherung an das Phänomen (syntaktische) Generizität ist in der Literatur häufig das ostensive Beispiel: Generic statements express generalizations about kinds. […] The boa constrictor is very dangerous. […] (Behrens 2005: 275) The first [phenomenon, DSB] is reference to a kind–a genus […]. The potato was first cultivated in South America. […] (Krifka et al. 1995: 2) Durch die Anführung solcher (überwiegend introspektiv gewonnenen) Beispiele könnte der Eindruck entstehen, die syntaktische Konfiguration von Generizität sei ausschließlich auf Subjektkodierung ausgerichtet, etwa nach dem Muster (11)
Subjektgenerisch – verbales Prädikat – charakterisierende Eigenschaft
In Schmidt-Brücken (2015: 291–308) wird gezeigt, dass dies keinesfalls so ist. Vielmehr stellt sich in dem dort untersuchten Datensatz von 599 generisch referierenden NPs die Häufigkeitsverteilung auf syntaktische Funktionen folgendermaßen dar: Tabelle 4: Häufigkeitsverteilung von syntaktischen Funktionen generisch referierender Nominalphrasen (nach Schmidt-Brücken 2015: 293).
Syntaktische Funktion der generisch referierenden NP
Absolute Häufigkeit (N = 599)
Relative Häufigkeit (N = 599)
Subjekt
254
42,4 %
Attribut
122
20,0 %
Akkusativobjekt
90
15,0 %
Dativobjekt
49
8,2 % 6,7 %
Adverbial
40
Präpositionalobjekt
33
5,5 %
Prädikativ
13
2,2 %
Genitivobjekt
0
0,0 %
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Die Subjektorientierung überwiegt zwar quantitativ, aber weniger frequente Generizitätskodierungen sollten nicht außer Acht gelassen werden, da gerade sie für die diskurslinguistische Analyse geteilten Wissens besonders interessant sein können. Es soll hier exemplarisch das Akkusativobjekt in syntaktischgenerischen Strukturen behandelt werden. Dazu gehören Belege, die wie Beleg (12) dem Satzbauplan [Subjekt – Prädikat – Akkusativobjektgenerisch] folgen. (12)
Die Vertreter der Missionen in Daressalam und anderswo, und beispielsweise auch der Pater in Bagamoyo, der die großartige Mission leitet, haben mir gesagt: wir unterrichten den Neger, wir bringen ihn so weit, daß er lesen und schreiben lernt; […]. (NLP, 16.1.1906: 597–598)
Dabei wird die kolonisierte Bevölkerung dreifach kategorisiert: einmal diskurssemantisch mit der rassistisch geprägten Ausdrucksform Neger, zum Zweiten referenzsemantisch als Klasse durch die generische Interpretationsmöglichkeit der NP und schließlich satzsemantisch als Patiens der im verbalen Prädikat ausgedrückten Handlung unterrichten, die einer im Diskurs beobachtbaren kolonisatorischen Entwicklungslogik entspricht, die ihren zentralen lexikalischen Ausdruck im deverbalen Derivat Hebung findet. Neben solchen auf eine Entwicklungssemantik abhebenden Konstruktionstypen ist eine diskursive Strategie der Reklassifizierung der kolonisierten Menschen zu identifizieren. Das grammatische Mittel der Wahl ist dabei das Prädikativ, das auf das generische Akkusativobjekt bezogen ist und durch eine Adjunktorphrase mit als ausgedrückt wird. (13)
Meine Herren, an den Schwarzen rühmt in den „Historisch-politischen Blättern“ ein Anonymus, wohl ein Missionär, die reine unverfälschte Menschlichkeit, die reine jugendfrische Natur, er bezeichnet sie als unmündige große Naturkinder, denen die Fähigkeit abgehe, vorzusorgen und vorzudenken, die sich ganz der augenblicklichen Stimmung hingäben. (Zentrum, 3.5.1907: 1359)
Aus Belegen wie diesem kann ein Strukturmuster abstrahiert werden, das sich so formulieren lässt: (14)
XSubj heißt/nennt YAkkObj ZPrädikativ
Dies kann wiederum bezogen werden auf eine allgemeine Formel zur Deklaration sozialer Institutionen, die Searle (1995, 2010) entwickelt hat und die anschließt an seine Sprechaktklassifikation: (15)
X counts as Y in context C (Searle 1995: 28),
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wobei die Entsprechung hier ist: (16)
X heißt/nennt Y Z X counts as Y in context C
Zwischen der Subjekt- und typischerweise auch Sprecherposition im Diskurs und dem Searle’schen Kontext besteht eine Quasientsprechung, denn das Äußern der Gelten-als-Relation, die der Sprecher X im Diskurs zwischen Y und Z herstellt (die Kategorisierung der Schwarzen als Naturkinder etc.), ist stets kontextuell gebunden und die Relation selbst damit historisch, sozial, kulturell variabel. Mit Bezug auf den Searle’schen Deklarationsbegriff wird dieses Muster generischer Bezeichnungspraxis deklarative Geltungsfixierung genannt. Weitere Belege aus dem deutschen kolonialpolitischen Diskurs sind: (17)
So verlangte in der Tat einer der Kolonialvereine: der Eingeborene müsse den Weißen als höheres Wesen ansehen, und in einem Prozeß seien die Stimmen von sieben Eingeborenen nötig, um die Aussage eines weißen Zeugen zu widerlegen! (SPD, 1.12.1906: 4061)
(18)
Die Akiden und Jumben sind aber zum Teil Suaheli und Araber – zum Teil kann man sie Spitzbuben nennen […] die von früher gewohnt sind, ihre Sklaven auszunutzen, die vielfach den Neger nur als Ausbeutungsobjekt für sich betrachtet haben. (NLP, 16.1.1906: 597)
Die letzten beiden Belege machen deutlich, dass das Muster der Geltungsfixierung nicht nur mit Verben des Sprechens, sondern auch mit Verben der visuellen Wahrnehmung (ansehen, betrachten) ausgedrückt werden kann.
3.3 Morphologisch-lexikalische Generizität Verallgemeinerung kann aus funktionaler Perspektive neben der Text- und Satz- auch auf der Wortebene identifiziert werden. Dies liegt möglicherweise nicht unmittelbar nahe, wenn davon ausgegangen wird, dass Verallgemeinerung – wie jeder Typ von Aussage – propositionale Form hat, also eine mindestens zweiwertige Referent-Prädikat-Relation abbildet. Hier kommt allerdings die inferentielle Seite lexikalischer Semantik ins Spiel, die insbesondere in der an Fillmore anschließenden Frame-Semantik zentralen Stellenwert besitzt. Busse formuliert in Anschluss an Fillmore: In den Bedeutungen von Wörtern sind […] sehr viel häufiger, als dies bisher gesehen wurde, implizite Annahmen „enthalten“ […], die eigentlich nur satzförmig paraphrasierbar,
Generizität | 65
d. h. – semantisch gesprochen – als Prädikationen darstellbar sind. Eben das ist mit dem in den frühen 1950er Jahren vom Philosophen P.F. Strawson geprägten Begriff der Präsupposition gemeint gewesen. (Busse 2012: 777)
Es wird bei der Konzeption morphologisch-lexikalischer Generizität davon ausgegangen, dass unnegierter Wortgebrauch eine Existenzpräsupposition über das Denotat des Wortes erzwingt, wie dies am Beispiel des Gebrauchs des Wortes Deutschthum illustriert wurde. Das bedeutet für das diskurslinguistische Interesse an verallgemeinerndem Sprachgebrauch in kolonialen Diskursen, dass Wortwahl nicht irrelevant ist, weil sie Sprecherpräferenzen zum Ausdruck bringt und auf präsupponierte Gegenstände und Sachverhalte in der kolonialen Welt hinweist, d. h. diese indiziert. Die terminologische Ausdrucksweise morphologisch-lexikalisch soll dabei anzeigen, dass diese sprachliche Indizierung eine Doppelstruktur hat: den semantischen Bedeutungsbeitrag leistet ein Wortbildungsmorphem, etwa -thum, den pragmatischen Prädikationsbeitrag, also die Präsupposition der verallgemeinernden Proposition, dass so etwas wie Deutschtum existiere, leistet der Gebrauch des Wortes. Als Morpheme zur Kollektivwortbildung, die als die Kerngruppe der für morphologisch-lexikalische Generizität in Frage kommenden Derivationselemente angesehen werden können, gehören nach Lohde (2006: 90–113, 128–142) und Elsen (2011: 83–87, 97–101) die Einheiten -al (Großkapital)6, -alie, -ar, -är, -at, -elei, -erie, -heit (Menschheit, Allgemeinheit), -ie (Sozialdemokratie), -ik, -schaft (Beamtenschaft). Im vorliegenden Textdatum gibt es einen Beleg für morphologischlexikalische Generizität: das desubstantivische Derivat Christenheit in Segment [4]. Der Gebrauch des Wortes im Text löst die Existenzpräsupposition (19)
Es gibt die Christenheit.
aus, die wiederum semantisch spezifiziert werden kann. Die Möglichkeit dieser Spezifizierung ist die Leistung des Morphems -heit. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache7 bucht als Bedeutungsparaphrase für das Lemma ‘Gesamtheit der Christen, alle Christen’. Mit dem Gebrauch des Wortes Christenheit im kolonialen Kontext ist also die Voraussetzung einer Gesamtheit christlicher Glaubensanhänger verbunden. Im engeren Kontext des vorliegenden Textes kann damit auch eine religiös motivierte Inbesitznahme des kolonisierten Raumes mitgemeint sein. Letztere Interpretation lässt sich insbesondere mit Blick
|| 6 Es werden nur Beispiele gegeben für diejenigen Morpheme, zu denen in der Untersuchung in Schmidt-Brücken (2015: Kap. 5.3) Belege gefunden werden konnten. 7 Online unter http://www.dwds.de/?qu=Christenheit.
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auf den Verlauf des Narrativs in Segment [4] plausibilisieren, das die kolonisatorische Landnahme durch den metaphorischen Hohenzollern-Aar mit der Aufrichtung des christlichen Kreuzeszeichens als abgeschlossen darstellt.
4 Zusammenfassung Das Ziel des vorliegenden Beitrags war es, mögliche Formen und Funktionen verallgemeinernden Sprachgebrauchs im deutschen Kolonialismus zu bestimmen. Dazu wurde Generizität als formale Realisierung sprachlicher Verallgemeinerung konzipiert und das koloniale Dispositiv, koloniale Diskurse und koloniale Texte als spezifische Kontexte generischen Sprechens und Schreibens gekennzeichnet. Generische Sprachgebrauchsdaten wurden dabei als Indizes für geteiltes Wissen in kolonialen Diskursen bestimmt. In funktionaler Perspektivierung verallgemeinernden Sprachgebrauchs wurde unterschieden zwischen textueller, syntaktischer und morphologisch-lexikalischer Generizität. In einer methodologisch qualitativen, dispositiv- und diskursorientierten Einzeltextanalyse wurden die Operationalisierbarkeit und der diskursanalytische Mehrwert dieser Begrifflichkeiten demonstriert. Die Ergebnisse können wie folgt zusammengefasst werden: Auf der Ebene textueller Generizität werden koloniale Generalisierungen in Textabschnitten mit narrativer Themenentfaltung in handlungssituierenden und -resümierenden Passagen geltend gemacht, in Textpassagen mit deskriptiver Themenprogression werden Charaktersierungen von Text(teil)themen mit Verallgemeinerungsanspruch vorgenommen. Für die Analyse syntaktischer Generizität wird mit Bezug auf einen größeren Untersuchungszusammenhang (Schmidt-Brücken 2015) in struktureller und funktionaler Hinsicht für die verstärkte Beachtung von generischer Referenz in Nicht-Subjektpositionen, vor allem in Adverbialen, plädiert. Beim Typus der morphologisch-lexikalischen Generizität wird auf die analytische Unterscheidung des semantischen Bedeutungsbeitrags von kollektiven Wortbildungsmorphemen einerseits und des pragmatischen Bedeutungsbeitrags des Wortgebrauchs hingewiesen, der eine koloniale Verallgemeinerung präsupponiert.
Anmerkung: Der vorliegende Beitrag ist entstanden im Kontext des Projekts „Koloniallinguistik – Language in Colonial Contexts“, finanziert aus Mitteln des Zukunftskonzeptes der Universität Bremen im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder.
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Thomas Stolz und Ingo H. Warnke
Auf dem Weg zu einer vergleichenden Kolonialtoponomastik Der Fall Deutsch-Südwestafrika Abstract: This contribution presents and evaluates colonial place names in German South-West Africa which have thus far largely been excluded from research on German colonial toponomy for technical reasons. Newly collected data close a large empirical gap and contribute to assessing the conclusiveness of hypotheses formulated on the basis of evidence from other former German colonies. Quantitative and qualitative methods will be used to determine the extent to which German South-West African place names correspond to the general picture of German colonial toponymy and which factors can be held accountable for certain particularities of South-West Africa in the toponymic domain. Keywords: toponymy, German colonial place names, German South-West Africa
1 Einleitung Eine der Hauptaufgaben der Koloniallinguistik im Sinne von Dewein et al. (2012) besteht darin, die spezifischen Manifestationen des „Kolonialen“ auf sprachlichem Gebiet zu identifizieren, zu systematisieren und auszuwerten. Warnke & Stolz (2014: 490) konstatieren beispielsweise, dass sich diskurslinguistisch „vier Merkmale des kolonialen Dispositivs“ feststellen lassen, nämlich „[k]oloniale Reifizierung, Deixis, Segregation und kolonialer Paternalismus“. D. h. dass sich tatsächlich charakteristische Züge des Kolonialen an konkreten sprachlichen Gegebenheiten (hier: an diskursiven Strategien) nachweisen lassen, sodass es sinnvoll erscheint, die diesbezüglichen koloniallinguistischen Untersuchungen auch auf andere Ebenen der Sprache auszudehnen. Im letzten Absatz ihres Fazits erklären die bereits zitierten Autoren, dass
|| Thomas Stolz: Universität Bremen, FB 10: Sprach- und Literaturwissenschaften, Universitätsboulevard 13, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected] Ingo H. Warnke: Universität Bremen, FB 10: Sprach- und Literaturwissenschaften, Universitätsboulevard 13, 28359 Bremen. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-081
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noch zu untersuchen sein wird, ob das koloniale Dispositiv tatsächlich eine koloniale Sprache hervorbringt, welche Kennzeichen eventuell kolonial geprägte Wortschätze haben, ob es spezifische grammatische Funktionen kolonialer Sprache gibt, welche morphologischen Besonderheiten zu beschreiben wären und anderes. Nicht zuletzt im Bereich der Namen, vor allem auch der Toponyme, wird außerdem die ortsbildende Funktion von kolonialzeitlicher Sprache zu untersuchen sein. (Warnke & Stolz 2014: 491)
Um den Nachweis führen zu können, dass die im obigen Zitat angesprochenen sprachlichen Bereiche eine besondere Spielart mit erkennbarer kolonialer Prägung besitzen, ist es unumgänglich zu zeigen, dass es überhaupt zwei verschiedene – eben eine koloniale und eine nicht koloniale Variante gibt. Wir setzen uns langfristig das Ziel, die Möglichkeit, dass eine Dichotomie KOLONIAL VERSUS NICHT KOLONIAL sprachlich besteht, am Beispiel der Ortsnamen kritisch auszuloten. Für die diesbezüglichen theoretischen, methodologischen und interdisziplinären Aspekte unseres Vorhabens verweisen wir der Kürze halber auf die entsprechenden Ausführungen in Stolz & Warnke (2015; 2016), wo auch die für das Thema relevante Literatur besprochen wird. Das genannte Ziel kann letztendlich nur über den Vergleich erreicht werden – und zwar einerseits über den Vergleich der Ortsnamensgegebenheiten im Rahmen vieler verschiedener Kolonialismen und andererseits über den Vergleich der kolonialen Toponymie mit der Toponymie der jeweiligen Metropole. Der toponomastische Vergleich der verschiedenen Kolonialismen setzt seinerseits voraus, dass zunächst innerhalb eines national definierten Kolonialismus der Gesamtbestand der Kolonialtoponyme erfasst und geordnet wurde. Erste Schritte hin zur Erfassung der deutsch-kolonialen Toponyme im Zusammenhang mit der Forschungsgruppe Koloniallinguistik (Dewein et al. 2012) wurden von Weber (2013) mit Fokus auf Deutsch-Kamerun und mit wesentlich weiterem Skopus von Stolz & Warnke (2015) gemacht. Unser diesmaliger Beitrag versteht sich als dringend nötige (vornehmlich empirische) Ergänzung zu diesen rezenten Vorarbeiten. Die Gliederung unseres Beitrags gestaltet sich wie folgt.1 In Abschnitt 2 definieren wir zunächst das von uns unter die Lupe zu nehmende Phänomen, um || 1 In diesem Beitrag thematisieren wir aus arbeitstechnischen Gründen ausschließlich die kolonialzeitlichen Gegebenheiten Deutsch-Südwestafrikas. Die Entwicklungen in der Zeit nach dem Versailler Vertrag sind nicht Gegenstand der Untersuchung. Über diese Periode und die postkoloniale Situation im unabhängigen Namibia informieren z. B. Kellermeier-Rehbein (2013: 298–300) und Riemer (2013: 144–158) – jeweils mit den dortigen weiterführenden Literaturhinweisen. Der umfangreiche Katalog von mehreren Hundert deutsch geprägter Ortsnamen, den Möller (1986: 206–450) für das damals noch von Südafrika in Okkupation verwaltete Suidwes-Afrika vorlegt, hat für das heutige Namibia mit Sicherheit keinen Bestand mehr, da
Auf dem Weg zu einer vergleichenden Kolonialtoponomastik | 73
daran anschließend das Problem zu benennen, das sich hinsichtlich der Generalisierbarkeit der in Stolz & Warnke (2015) aufgestellten Hypothesen ergibt. Im gleichen Atemzug wird das Problem durch die Integration der deutsch-südwestafrikanischen Kolonialtoponyme auch schon wieder aus der Welt geschafft. Abschnitt 2 ist im Wesentlichen auf die quantitativen Aspekte der Erforschung der deutsch-kolonialen Toponymie abgestellt. Deren qualitative Aspekte kommen überwiegend in Abschnitt 3 zum Tragen, in dem wir uns der Besprechung einer Reihe von Besonderheiten der deutsch-südwestafrikanischen Ortsnamen widmen, die mit den für die übrigen ehemaligen deutschen Überseebesitzungen ermittelten Tendenzen z.T. im Widerspruch stehen. Die Begründung für diesen Widerspruch wird im vom Gros der deutschen Schutzgebiete deutlich abweichenden Typ der Kolonisierung Deutsch-Südwestafrikas gesehen. Im abschließenden Abschnitt 4 werden die koloniallinguistischen Schlussfolgerungen gezogen und mögliche Weiterungen benannt, die sich aus der Analyse der Kolonialtoponyme Deutsch-Südwestafrikas ergeben. Der Appendix enthält eine vorläufige Liste der deutsch-südwestafrikanischen Belege, wie wir sie bisher aus dem weiter unten vorzustellenden Kartenmaterial erschließen konnten.
2 Deutsch-koloniale Ortsnamen 2.1 Steckbrief eines gesuchten Objekts Für die spezifischen Zwecke unseres Forschungsvorhabens konzentrieren wir uns in der ersten Projektphase auf diejenigen Ortsnamen, die auf den im Großen Deutschen Kolonialatlas (= GDKA) von Sprigade & Moisel (1901–1915) veröffentlichten Landkarten der deutschen Schutzgebiete bzw. im diesbezüglichen Register (siehe dazu aber Abschnitt 2.2) verzeichnet sind. Es handelt sich dabei weit überwiegend um Makrotoponyme, die sich mehrheitlich auf die Unterklassen der Ländernamen (wie Deutsch-Südwestafrika), Landschaftsnamen (wie Insel Bayol in Togo), Siedlungsnamen (wie Johann-Albrechtshöhe in Kamerun), Gewässernamen (wie Kaiserin-Augusta-Fluss in Deutsch-Neuguinea), Berg- und Gebirgsnamen (wie Baumann-Hügel in Deutsch-Ostafrika) verteilen (Nübling et || seit der Unabhängigkeit des Landes 1990 in mehreren Schüben die großflächige Dekolonisierung der Toponymie vorangetrieben wurde und wird. Eine an neuestem Kartenmaterial durchgeführte Überprüfung hat vorläufig ergeben, dass noch etwa 25 namibische Ortsnamen deutsch-kolonialer Prägung in der offiziellen Kartographie verzeichnet sind.
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al. 2015: 206–237). Vereinzelt finden sich auch Angaben auf den kolonialzeitlichen Karten, die keiner der makrotoponymischen Klassen zuzuordnen sind (z. B. Flurnamen (Nübling et al. 2015: 238–249) wie Basile-Plantage in Kamerun), aber dennoch von uns berücksichtigt werden, eben weil sie kartographisch verbucht wurden. In einem der Ersterfassung des toponymischen Basisbestandes folgenden Schritt kann daran gedacht werden, die Untersuchung auf bestimmte toponymische Klassen zu beschränken. Es gilt zum einen festzustellen, ob und inwiefern die deutsch-kolonialen Ortsnamen sich formal und/oder semantisch musterhaft verhalten, sodass man übergreifend von typischen Eigenschaften der deutsch-kolonialen Toponymie sprechen kann. Dies würde einen gewissen Grad von Gleichförmigkeit bedeuten; eventuelle Anzeichen von Heterogenität wären darauf hin zu untersuchen, ob sie sich durch das Wirken bestimmter außersprachlicher Faktoren erklären lassen. Zum anderen ist zu bestimmen, in welchem Maße die Toponymie der ehemaligen deutschen Schutzgebiete jeweils kolonial geprägt ist. Zu diesem Zweck ist es u.a. nötig, den statistischen Anteil von kolonialen Ortsnamen, die mindestens einen erkennbar deutschen Bestandteil beinhalten, am Gesamt der zur Kolonialzeit kartographisch erfassten Ortsnamen einer Kolonie zu bestimmen. Auf der Grundlage der in Stolz & Warnke (2015) gewonnenen Erkenntnisse können wir die nachstehenden Feststellungen hinsichtlich unseres Gegenstandes treffen. In jedem ehemaligen deutschen Schutzgebiet können zwei Großklassen von Ortsnamen unterschieden werden, die sich auf die Herkunft der für ihre Bildung verwendeten morphologischen Bestandteile beziehen. Wir differenzieren grundsätzlich Endonyme und Exonyme. Vereinfacht2 dargestellt gehören zur Klasse der Endonyme alle diejenigen Ortsnamen, die ausschließlich aus bereits
|| 2 Wir räumen ein, dass es sich in dieser noch sehr frühen Projektphase um eine arbeitstechnisch bedingte, also notgedrungen sehr grobe Unterteilung handelt, die eine Reihe von Problemfällen unterschlägt. Es stellt sich u.a. die Frage, wie mit einem Siedlungsnamen Dar-esSalam (Deutsch-Ostafrika) klassifikatorisch zu verfahren ist, der arabischen Ursprungs ist und für eine im genuin swahili-sprachigen Gebiet liegende urbane Siedlung verwendet wird, die schon 1862 d. h. relativ kurz vor der deutschen Inbesitznahme als Bandar as-Salâm durch den Sultan von Sansibar gegründet wurde (Blesse 2015: 202). Ähnliche Probleme illustrieren Ortsnamen wie das aus der spanischen Kolonialzeit stammende Kolonia auf Ponape und hybride Bildungen aus Bestandteilen zweier verschiedener europäischer Sprachen wie Money-Dorf in Kamerun. Dieses Thema wird in Abschnitt 3 für Deutsch-Südwestafrika noch einmal angesprochen; die endgültige Klärung, wie mit solchen und ähnlich gelagerten Fällen umzugehen ist, muss allerdings aus raumökonomischen Gründen bis zu einer späteren kolonial-toponomastischen Studie vertagt werden.
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vorkolonial autochthonen Sprachen des jeweiligen Kolonialgebiets gebildet sind (wie der mikronesische Inselname Pingelap [Karolinen]). Exonyme sind hingegen solche Ortsnamen, die mindestens einen Bestandteil aufweisen, der aus einer Sprache stammt, die mit der Kolonialherrschaft assoziiert ist. D. h. dass auch Hybridbildungen als exonymisch gewertet werden; man kann daher reine Exonyme (wie Hyäne-Hafen in Deutsch-Neuguinea) und gemischte Exonyme (wie Bogbro-Steppe in Deutsch-Ostafrika) noch als separate Unterklassen ansetzen. Dies führt uns zu der Feststellung, dass Mehrgliedrigkeit bei deutschkolonialen Ortsnamen eine wichtige Rolle spielt. Tatsächlich ergibt die Auswertung des GDKA für die Kolonien Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika, Kiautschou, Deutsch-Neuguinea (mit den Marianen, Karolinen, Palau und Yap), MarshallInseln (einschließlich Nauru)3 und Samoa eine interessante Korrelation von Exound Endonymie mit den Komplexitätsgraden der Konstruktionen, die Ortsnamen bilden. Diese asymmetrische Verteilung geht aus Tabelle 1 deutlich hervor.4 Tabelle 1: Belegte Komplexitätsgrade von Endonymen und Exonymen (ohne DeutschSüdwestafrika).
Typ
Komplexität mehrgliedrig
eingliedrig
Endonym
ja
ja
Exonym
ja
nein
Von den vier logisch möglichen Kombinationen ist genau eine nicht belegt, nämlich die der eingliedrigen Exonyme d. h. nur aus einer morphologischen Einheit bestehende, aus dem Deutschen stammende Ortsnamen. Alle deutschkolonialen Ortsnamen in den o.g. Gebieten bestehen mindestens aus zwei Morphen, sodass es nicht Wunders nimmt, dass es unter den Exonymen auch kein einziges Monosyllabum gibt (Stolz & Warnke 2015: 134). Da diese Beobachtung
|| 3 Von 1885–1906 waren die Marshall-Inseln ein separates Kolonialgebiet, wurden aber im Rahmen einer grundlegenden Verwaltungsreform in den deutschen Südseegebieten danach Deutsch-Neuguinea angegliedert (Hardach 2001: 513–515). 4 Vorläufig berücksichtigen wir nur die Parameter Silbenzahl und Morphe pro Konstruktion. Im weiteren Verlauf der Projektarbeit werden weitere Parameter herangezogen.
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auf der Analyse von rund 2.800 deutsch-kolonialen Exonymen beruht5, kann von einem quantitativ robusten Fundament gesprochen werden, das sich für die Ableitung von Hypothesen bestens eignet. Da die kolonialzeitlichen Endonyme bisher noch nicht vollumfänglich erfasst und analysiert worden sind6, beziehen sich unsere folgenden Aussagen ausschließlich auf die exonymischen Kolonialtoponyme – und damit gemäß Tabelle 1 automatisch auf mehrgliedrige Konstruktionen. Für diese lässt sich ein Mehrheitsmuster identifizieren, das mit knapp 2.400 Belegen rund 83 % des außerhalb von Deutsch-Südwestafrika ermittelten Bestands an deutsch-kolonialen Topony|| 5 Hier und, sofern nicht anders angegeben, bei allen folgenden Zahlenangaben bieten wir gerundete Werte. Dies hat damit zu tun, dass die statistisch erfassten Ortsnamen im niederschwelligen Bereich noch unsicher sind. Auf Grund von gelegentlichen Übertragungsfehlern und Mehrfachnennungen im Register des GDKA treten einige Dubletten auf. Da das Register des GDKA auch die nicht zum deutschen Herrschaftsbereich zu rechnenden Ortsnamen aus den Grenzgebieten benachbarter Territorien enthält, sind auch einige wenige Irrläufer in die Statistik geraten. Gleichzeitig konnte bei der zweiten Sichtung der Ortsnamen in Togo festgestellt werden, dass auch vereinzelt koloniale Exonyme, die auf den Karten verzeichnet sind, nicht in das Register aufgenommen wurden. Auf dem gegenwärtigen Stand des Projekts kalkulieren wir, dass sich bei der Endabrechnung die jetzigen statistischen Werte maximal um 5 % nach oben oder unten verändern werden. 6 Im Zusammenhang mit den kolonialzeitlichen Endonymen sind mehrere Anmerkungen zu machen. Erstens gilt, dass die große Masse aller für die deutschen Schutzgebiete im GDKA verbuchten Ortsnamen zur Klasse der Endonyme gehört. Als vorläufigen informellen Schätzwert nehmen wir an, dass das Verhältnis von Endonymen zu Exonymen 20 zu 1 ist – mit der Möglichkeit, dass die Dominanz der Endonyme letztlich d. h. nach erfolgter verbindlicher Auszählung noch deutlich größer sein dürfte. Zweitens ist zu beachten, dass vermeintliche Endonyme eigentlich Pseudo-Endonyme (von uns auch „Indigenoide“ genannt) sind, d. h. durch die koloniale Verwaltung oktroyierte Ortsnamen, die ausschließlich Bestandteile aus autochthonen Sprachen umfassen, aber „am kolonial-administrativen Reißbrett“ entstanden sind. Weber (2013: 105) führt ein einschlägiges Beispiel aus Kamerun an, bei dem wohl behördlicherseits der Versuch unternommen wurde, den bantuischen pluralischen Klassenmarker für menschliche Referenten ba- als obligatorisches Präfix für Endonyme durchzusetzen. Weber (2013: 115) erwähnt auch, dass sich die Bewohner Nordwest-Kameruns dem Versuch der deutschen Kolonialverwaltung widersetzten, das vorkoloniale Ethnonym Kom durch Bikom oder Bamekom zu ersetzen. Diese Namensgebungspraxis der kolonialen Verwaltung könnte eine Erklärung dafür sein, warum man auch bei den im GDKA kartierten Endonymen kaum Beispiele für einsilbige Ortsnamen (wie den Siedlungsnamen Dok in der nord-kamerunischen Landschaft Laka) findet. Da es auch genuin sprachstrukturelle Gründe geben kann, die die endonymische Tendenz zu nach Silben- und/oder Morphzahl komplexen Bezeichnungen (mit) determiniert, vertiefen wir diesen interessanten Bereich an dieser Stelle nicht weiter, sondern behalten uns die Behandlung des Themas für eine zukünftige Folgestudie vor. Sollte sich dann bewahrheiten, dass auch das prototypische Endonym komplex ist, dann würden die deutsch-kolonialen Toponyme sich „unauffällig“ in ein relativ homogenes kolonialzeitliches Gesamtbild fügen.
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men ausmacht. Das Mehrheitsmuster ist in allen o.g. Kolonien in hinreichender (wenn auch recht unterschiedlicher) Zahl vertreten. Bei den verbleibenden 17 % deutsch-kolonialer Exonyme machen sich teilweise stärkere regionale Unterschiede unter den einzelnen Schutzgebieten bemerkbar. Die Mehrheitslösung hat die Struktur [ __attribut Ngeoklassifikator]toponym und tritt meistens einwortig als Kompositum auf. Wir nehmen dafür eine binäre, rechtsköpfige Grundstruktur an, deren Zweitglied aus einem Nomen besteht, das einen geographischen Klassenbegriff benennt. In Anlehnung an Anderson (2007: 106–107) betrachten wir diese Konstituente als einen Klassifikator und nennen diesen seiner semantischen Zuordnung wegen Geoklassifikator.7 Beispiele hierfür sind das gemischte hydronymische Exonym Masimsinsi-See in DeutschOstafrika, das rein oronymische Exonym Doeringshöhe in Togo, der gemischtexonymische Siedlungsname Lolodorf in Kamerun, der rein exonymische Siedlungsname Prinz Friedrich-Karl-Hafen in Deutsch-Neuguinea. Die Zweitglieder -See, -höhe, -dorf und -Hafen exemplifizieren die Klasse der Geoklassifikatoren, die jeweiligen Erstglieder fungieren attributivisch zu den Geoklassifikatoren. Sehr oft sind die Erstglieder ihrerseits Personennamen. Reine Exonyme machen ca. 41 % aller Fälle aus, während die Mehrheit von 59 % zu den gemischten Exonymen zählt. Unabhängig von der Unterklasse der Exonyme ist in jedem Fall der Geoklassifikator aus dem Deutschen genommen. D. h. dass Elemente aus autochthonen Sprachen der ehemaligen deutschen Schutzgebiete nur in der Funktion des Attributs innerhalb der Ortsnamenkonstruktion auftreten können. Die über weite Strecken gegebene Gleichförmigkeit der exonymischen Kolonialtoponymie in den ehemaligen deutschen Überseegebieten und die statistisch eindeutige Dominanz bestimmter Bildungsmuster legen es nahe, einen Prototyp zu konzipieren, der die deutsche Kolonialtoponymie im Vergleich der verschiedenen nationalen Kolonialtoponymien vertritt. Dieser Prototyp impliziert dann eine gewisse Homogenität innerhalb des ehemaligen deutschen Herrschaftsbereichs in Übersee. Ob diese Homogenität wirklich gegeben ist, muss sich jedoch erst noch am Testfall Deutsch-Südwestafrika zeigen lassen.
|| 7 Es ist möglich, die Geoklassifikatoren weiter zu unterteilen, indem man eine Unterklasse von Funktionsklassifikatoren annimmt, für die gilt, dass am Geoklassifikator ablesbar ist, für welche Funktion der benannte Ort genutzt werden kann (etwa bei allen Bildungen mit dem Zweitglied -hafen).
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2.2 Das deutsch-südwestafrikanische Problem und seine Lösung Zwar ist Deutsch-Südwestafrika im GDKA mit mehreren Karten gut vertreten, aber diese Karten konnten wegen der Umstände des Ersten Weltkriegs vor der Drucklegung nicht mehr für das Register des Atlas ausgewertet werden.8 D. h. dass als einziges aller ehemaligen deutschen Schutzgebiete Deutsch-Südwestafrika eines Verzeichnisses seiner Ortsnamen entbehrt.9 Mit Möllers (1986) Dissertation liegt allerdings eine detaillierte und sorgfältige Untersuchung der deutsch-kolonialen Toponyme in Deutsch-Südwestafrika vor. Ihr Verzeichnis umfasst ca. 1.500 Ortsnamen, die (zumindest äußerlich) in eine der beiden exonymischen Unterklassen passen. Auf dem jetzigen Stand unserer Forschungen können wir jedoch aus methodologischen Erwägungen heraus dieses reichhaltige Inventar für die statistischen Zwecke nicht nutzen, weil die Daten Möllers aus einer Vielzahl von verschiedenen Quellen geschöpft wurden (Möller 1986: 2–10), sodass die Vergleichbarkeit mit der Zahl von Belegen aus anderen deutschen Kolonien, die ausschließlich dem GDKA entnommen sind, nicht gegeben ist.
|| 8 Es handelt sich um die bei der Neuausgabe des GDKA von 2002 nachträglich aus früheren Veröffentlichungen von Paul Sprigade und Max Moisel eingefügten und als „Beigaben“ bezeichneten vier Kartenblätter Deutsch-Südwestafrika (1:2.000.000) [nördlicher Teil], DeutschSüdwestafrika (1:2.000.000) [südlicher Teil] – beide auf 1912 datiert – und jeweils im Maßstab 1:5.000.000 das Kartenblatt Wirtschaftliche Möglichkeiten (datiert auf 1908) und das Kartenblatt Übersichtskarte der Eisenbahnen (datiert auf 1909). Die sonstigen Karten des GDKA haben den Maßstab 1:1.000.000 bzw. 1:500.000, d. h. dass die Informationsdichte variiert. 9 Möller (1986: 451) führt unter dem von ihr benutzten Archivmaterial auch den Titel Sprigade, P. & Moisel, M. 1912. Namenverzeichnis für die Karte von Deutsch-Südwestafrika (1:2.000.000) auf, der in der detaillierten Besprechung der benutzten Quellen (Möller 1986: 6) als eine der „Kriegskarten“ von Sprigade und Moisel erwähnt wird. Soweit wir die Einträge in Möllers (1986: 207–450) kommentierter Ortsnamenliste überblicken, kommt dort das „Namensverzeichnis“ als Quelle höchstens punktuell vor. Da dessen Autoren mit denen des GDKA identisch sind, kann angenommen werden, dass sich dieses „Namensverzeichnis“ auf die als Beigabe für den GDKA genutzte Doppelkarte Deutsch-Südwestafrikas nördlicher Teil/südlicher Teil im selben Maßstab bezieht. Es war uns bisher nicht möglich, das „Namensverzeichnis“ ausfindig zu machen, zumal Möller (1986) nicht angibt, in welchem Archiv das „Namensverzeichnis“ zugänglich ist. Es fällt allerdings auf, dass mehrere deutsch-südwestafrikanische Exonyme, die wir dem GDKA entnehmen, bei Möller (1986) unerwähnt bleiben. Ob diese Auslassung darauf zurückzuführen ist, dass das „Namensverzeichnis“ lückenhaft ist oder Möller andere Gründe hatte, um die Ortsnamen nicht aufzunehmen, kann an dieser Stelle nicht entschieden werden.
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Daher wurden die im GDKA veröffentlichten Karten Deutsch-Südwestafrikas manuell unter Zuhilfenahme eines Fadenzählers toponomastisch evaluiert. Im Ergebnis ist ein separates Register für Deutsch-Südwestafrika entstanden, das mit den Registern für die anderen ehemaligen deutschen Schutzgebiete im GDKA unmittelbar vergleichbar ist. Dieses deutsch-südwestafrikanische Register enthält rund 580 Einträge, die zu den beiden exonymischen Unterklassen gehören. Es besitzt daher nur etwas mehr als ein Drittel des Umfangs von Möllers o.g. Ortsnamenliste. Rechnet man die 580 deutsch-südwestafrikanischen Ortsnamen zu den in Stolz & Warnke (2015) präsentierten 2.800 exonymischen deutsch-kolonialen Toponymen hinzu, erhalten wir einen Gesamtbestand von 3.380 Einheiten. Gut 17 % davon stammen aus Deutsch-Südwestafrika, wie Diagramm 1 zeigt. Togo; 3 % Kamerun; 9 %
Südwestafrika; 17 %
Stiller Ozean; 48 %
Ostafrika; 23 %
Diagramm 1: Anteil der Kolonialgebiete am Gesamtinventar der Exonyme.
Da der Anteil, der auf Deutsch-Ostafrika fällt, die deutsch-südwestafrikanische Komponente im Gesamtbestand deutlich übertrifft, steht – gerade auch unter dem Eindruck von Möllers (1986) viel umfangreicheren Bestandsangaben – zu erwarten, dass in späteren Phasen des Projekts die Bedeutung DeutschSüdwestafrikas für die Gesamtstatistik zunehmen wird, wenn neben dem GDKA auch andere Quellen in Nutzung genommen werden. Dessen ungeachtet weist Diagramm 1 Deutsch-Südwestafrika im Unterschied zu Togo und Kamerun als quantitativ gut sichtbaren Beiträger zum deutsch-kolonialen Toponymikon aus. Bemerkenswert ist außerdem, dass die Hinzunahme Deutsch-Südwestafrikas
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die herausragende Position der deutschen Besitzungen im Stillen Ozean10 gegenüber den in Stolz & Warnke (2015) dargestellten Verhältnissen etwas schmälert, aber nichts daran ändert, dass der pazifische Raum mit fast der Hälfte aller Belege den größten Anteil an Exonymen für sich reklamieren kann, der fast genauso hoch ist wie der von Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika und Kamerun zusammen genommen. Oberflächlich betrachtet sind die prozentualen Verhältnisse, wie sie sich im Diagramm 1 zeigen, trivial, weil sie eine direkte Korrelation mit den Größenunterschieden zwischen den Kolonien zu reflektieren scheinen. Nach der Faustregel, dass ein größeres Territorium mehr zu benennende Geo-Objekte enthält als ein kleineres Territorium, ist es intuitiv einleuchtend, dass die kleinste afrikanische Kolonie Togo (87.200 km2) weniger deutsch-koloniale Toponyme liefert als das etwa neunmal größere Kamerun (795.000 km2 – bis 1911 nur 500.000 km2) und dieses wiederum hinsichtlich der Anzahl von im GDKA belegten Exonymen hinter Deutsch-Südwestafrika (830.000 km2) und Deutsch-Ostafrika (997.000 km2) zurücksteht. Die gestaffelte Flächengröße der Kolonien erklärt jedoch nicht die Spitzenposition der ehemaligen deutschen Besitzungen im pazifischen Raum. Bezogen auf die reine Landfläche kommt Deutsch-Neuguinea (einschließlich der mikronesischen Bezirksämter) nur auf ca. 240.000 km2. Auch unter Hinzurechnung der besonders kleinen Gebiete Kiautschou (mit 576 km2) und Samoa (mit 2.572 km2) kommen die Schutzgebiete, die im GDKA-Register unter der Rubrik Stiller Ozean zusammengefasst werden, nur auf den vorletzten Platz im Größenvergleich der ehemaligen deutschen Kolonien. Die großen afrikanischen Kolonialterritorien sind drei- bis viermal so groß wie alle pazifischen Besitzungen zusammengenommen und haben dennoch deutlich geringere Anteile am Gesamtinventar der deutsch-kolonialen Exonyme als Deutsch-Neuguinea alleine. D. h., dass die geographischen Gegebenheiten nicht in jeder Beziehung als Explanans für die toponymischen Anteile ausreichend sind.11
|| 10 Das Register des GDKA differenziert nicht zwischen den einzelnen Schutzgebieten außerhalb Afrikas, d. h. dass die Ortsnamen aus Kiautschou, Deutsch-Neuguinea (mit allen seinen mikronesischen Bezirksämtern), den Marshall-Inseln und Deutsch-Samoa promiscue aufgelistet sind. In einem nächsten Schritt werden wir die nötige Binnendifferenzierung des Registers nachliefern. Unabhängig von den sich ergebenden genauen Zahlenwerten steht aber bereits jetzt schon fest, dass die weit überwiegende Masse der deutsch-kolonialen Exonyme aus dem Kerngebiet Deutsch-Neuguineas stammt, nämlich aus Kaiser-Wilhelmsland und dem Bismarck-Archipel. 11 Alle in diesem Absatz genannten Flächenangaben sind Schnee (1920) entnommen (Brüninghaus 1920: 214, Krauß 1920: 316, Meyer 1920: 169, Meyer-Gerhard 1920: 413, Spalding 1920: 358, Zech 1920: 498).
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2.3 Die bereinigte Statistik – gemeinsame Trends und Diskrepanzen Nach der Bestimmung des statistischen Anteils Deutsch-Südwestafrikas am Gesamtbestand der deutsch-kolonialen Exonyme bleibt die Frage zu klären, ob sich die neu hinzugekommenen deutsch-südwestafrikanischen Belege gewissermaßen stromlinienförmig verhalten, in dem Sinne, dass sie in formaler und semantischer Hinsicht die Präferenzen bestätigen, die wir als prototypisch für die deutschen Kolonialtoponyme ansetzen. Es zeigt sich, dass nicht alle außerhalb von Deutsch-Südwestafrika beobachteten Präferenzen ihre Bestätigung finden. Darüber hinaus ergeben sich typisch deutsch-südwestafrikanische Vorlieben bei der Bildung von deutsch-kolonialen Exonymen, die in anderen ehemaligen deutschen Schutzgebieten selten oder gänzlich unbekannt sind. In diesem Unterabschnitt betrachten wir in kurzen Unterkapiteln die quantitative Seite einer Auswahl von einschlägigen Aspekten, ihre qualitative Seite ist der Gegenstand von Abschnitt 3.
2.3.1 Reine und gemischte Exonyme Zunächst sind knapp 200 der 580 deutsch-südwestafrikanischen Exonyme hybride Bildungen. Somit sind mit knapp 35 % etwas mehr als ein Drittel aller Exonyme vom gemischten Typus. Fast zwei Drittel der deutsch-südwestafrikanischen Fälle sind jedoch reine Exonyme. Die Mehrheit des rein-exonymischen Typs passt zu den Gegebenheiten im Stillen Ozean, während die anderen afrikanischen Kolonien vorzugsweise gemischte Exonyme aufweisen, wie aus Diagramm 2 hervorgeht. Damit schert Deutsch-Südwestafrika gewissermaßen aus dem Verbund der afrikanischen Schutzgebiete des Deutschen Kaiserreichs aus. Toponymisch sind die ehemaligen deutschen Kolonien in dem Sinne zweigeteilt, als neben den afrikanischen Schutzgebieten Kamerun, Togo und Deutsch-Ostafrika mit einem relativ geringen Bestand an reinen Exonymen die Gruppe aus Deutsch-Südwestafrika und den pazifischen Besitzungen steht, die sich durch einen deutlich überdurchschnittlichen Anteil von reinen Exonymen auszeichnet. Informell kann man daher sagen, dass der Grad der toponymischen „Teutonisierung“ in der Südsee und Deutsch-Südwestafrika besonders hoch, an anderen Orten hingegen relativ niedrig war. Auf der Landkarte sind Deutsch-Neuguinea und Deutsch-Südwestafrika am stärksten deutsch geprägt.
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gemischt
rein
55 %
Gesamt
45 % 42 %
Stiller Ozean
Ostafrika
58 % 89 % 11 % 35 %
Südwestafrika
65 % 64 %
Kamerun
Togo
36 % 88 % 12 %
Diagramm 2: Anteile von exonymischen Untertypen in den einzelnen Kolonien.
2.3.2 Komplexität der Konstruktionen Im Großen und Ganzen folgen die deutsch-südwestafrikanischen Exonyme dem für die deutsche Kolonialtoponymie generell beobachteten (und außerhalb Deutsch-Südwestafrikas ausnahmslosen) Trend, demzufolge die Ortsnamen mehrsilbig sind. Von den insgesamt 580 deutsch-kolonialen Exonymen in Deutsch-Südwestafrika sind lediglich zwei einsilbig, nämlich Kranz und Pütz, die in Abschnitt 3 noch zur Sprache kommen sollen. Dies entspricht einem verschwindend kleinen Anteil von 0,5 %, sodass der Ausnahmestatus dieser Fälle deutlich wird. Dennoch ist es nicht ohne Belang, dass diese Marginalien ausgerechnet in Deutsch-Südwestafrika anzutreffen sind (s.u.). Monomorphische Exonyme sind in den vor dieser Studie untersuchten Kolonialterritorien praktisch unbekannt, da selbst bei direkten Übertragungen von Ortsnamen aus der Metropole nur solche Toponyme vorkommen, welche die transparente Struktur eines Kompositums haben und daher aus mindestens zwei Morphen bestehen (wie Mariahilf in Deutsch-Ostafrika). Dies ist in Deutsch-Südwestafrika anders. Wir haben insgesamt sechzehn Belege für
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monomorphische Exonyme in diesem ehemaligen deutschen Schutzgebiet. Die meisten dieser Fälle bestehen in der direkten Übernahme eines etablierten morphologisch opaken Ortsnamens aus dem Deutschen Kaiserreich (wie Lübeck). Dieser Typus macht etwas weniger als 3 % aller deutsch-südwestafrikanischen Exonyme aus. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass DeutschSüdwestafrika auf den Typus des monomorphischen Exonyms im Rahmen der deutschen Kolonaltoponymie gewissermaßen das Monopol besitzt und sich daher (ungeachtet der geringen Anzahl der Belege) von den übrigen deutschen Schutzgebieten absetzt. Auf der Grundlage dieser Beobachtung muss Tabelle 1 nachgebessert werden – und zwar in Form von unspezifischen Mehr-WenigerSchätzungen wie in Tabelle 2. Tabelle 2: Belegte Komplexitätsgrade von Endonymen und Exonymen (mit DeutschSüdwestafrika).
Typ
Komplexität mehrgliedrig
eingliedrig
Endonym
überall
weit verbreitet
Exonym
überall
nur in Deutsch-Südwestafrika
Wegen der von den o.g. Rara und Rarissima unberührt bleibenden statistischen Dominanz der Mehrsilbigkeit und des Polymorphismus der Exonyme innerhalb und außerhalb von Deutsch-Südwestafrika können wir festhalten, dass die in Stolz & Warnke (2015) aufgestellte Hypothese über die Tendenz zum komplexen Exonym Bestätigung erfahren hat.
2.3.3 Konstruktionsmuster Der konstruktionelle Prototyp mit einem nominalen Erstglied in attributivischer Funktion und einem Geoklassifikator als Kopf ist auch in Deutsch-Südwestafrika zahlreich vertreten. Ortsnamen wie Zackenberg stellen zwar wieder die mehrheitlich gewählte Option dar, mit ca. 330 Belegen deckt der Prototyp jedoch nur etwa 57 % aller deutsch-südwestafrikanischen Exonyme ab. Damit liegt Deutsch-Südwestafrika deutlich unter dem für die übrigen Kolonien des deutschen Kaiserreichs errechneten Anteil von 83 % dieses Musters an allen exonymischen Bildungen.
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In Bezug auf die Geoklassifikatoren stellen wir fest, dass die acht Zweitglieder -insel, -berg, -spitze, -gebirge, -fall, -fels, -höhe und -hügel, die den übrigen deutschen Schutzgebieten gemein sind, auch in der deutsch-südwestafrikanischen Toponymie vertreten sind: Besitzung-Insel, Bobosberg, Albatros-Spitz, Marschall-Felsen, Maltahöhe und Kalkhügel sowie nur in der Langform KambeleWasserfall. Einige in Deutsch-Südwestafrika übliche Geoklassifikatoren kommen nur in einem Teil der hier betrachteten anderen Kolonien vor. Interessanter sind jedoch die zahlreichen ausschließlich in Deutsch-Südwestafrika belegten Geoklassifikatoren wie -bad, -bank, -brunnen, -fontein, -kranz, -kuppe, -pfanne, -pforte, -platz, -pütz, -rivier, -sand, -vley, -wasser, die für den Großteil der prototypischen Konstruktionen verantwortlich zeichnen. Da mehrere Mitglieder dieser Gruppe overte oder koverte Übernahmen aus dem Afrikaans sind, besprechen wir sie weiter unten in Abschnitt 3. In der bisher erhobenen deutschkolonialen Toponymie kommen zweiunddreißig Fälle von Geoklassifikatoren vor, die jeweils nur in einem der Gebiete belegt sind (siehe Diagramm 3).
Stiller Ozean
9
Ostafrika
5
Südwestafrika
13
Kamerun
1
Togo
4
0
2
4
6
8
10
12
14
Diagramm 3: Absolute Anzahl von nur in einer Kolonie belegten Geoklassifikatoren.
Mit insgesamt dreizehn „idiosynkratischen“ Geoklassifikatoren deckt DeutschSüdwestafrika über 40 % der Fälle ab – mehr als die übrigen afrikanischen Schutzgebiete zusammen in dieser Kategorie zu bieten haben. Nur die Kolonialgebiete des pazifischen Raums können quantitativ mit Deutsch-Südwestafrika noch einigermaßen mithalten. Dies bestätigt den Eindruck, dass sich Deutsch-
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Südwestafrika in mehrerlei Hinsicht im toponymischen Bereich gegenüber den anderen deutschen Schutzgebieten eigenständig verhält. Diese relative Eigenständigkeit lässt sich auch an dem hohen Aufkommen von nicht prototypischen Konstruktionen im deutsch-südwestafrikanischen Toponymikon ablesen. Das Konstruktionsmuster [Adjattribut N]toponym ist außerhalb Deutsch-Südwestafrikas mit einem Anteil von höchstens 5 % an allen Exonymen statistisch eindeutig in der Minderheit, ist aber in jedem der vom GDKA-Register erfassten Gebiete belegt (wie Grüne Insel in Deutsch-Neuguinea). Für DeutschSüdwestafrika ergeben sich 180 Fälle, die einem Anteil von ca. 31 % an den deutsch-südwestafrikanischen Exonymen entsprechen (wie Schwarzer-Felsen). Die außerhalb Deutsch-Südwestafrikas am meisten genutzten adjektivischen Stämme für das genannte nicht prototypische Muster sind alt-, neu-, groß- und klein-. Sie treten in insgesamt achtzig Ortsnamen außerhalb Deutsch-Südwestafrikas auf. In Deutsch-Südwestafrika beinhalten einhundert Ortsnamen einen dieser adjektivischen Stämme. Dabei ergibt sich ein auffälliges Missverhältnis zwischen den temporalen Adjektivstämmen (= alt- und neu-) und den dimensionalen Adjektivstämmen (= groß- und klein-), wie Diagramm 4 illustriert.
Gesamt Kamerun Stiller Ozean Ostafrika Togo Südwestafrika 0
20
40 temporal
60
80
100
120
140
dimensional
Diagramm 4: Absolute Frequenz der temporalen und dimensionalen Adjektivklassen in Exonymen.
Fast 70 % aller Belege für dimensionale Adjektivstämme in Exonymen stammen aus Deutsch-Südwestafrika (wie Klein-Löwenberg). Bei den temporalen Adjektivstämmen (wie Neu-Loore) sinkt der deutsch-südwestafrikanische Anteil drastisch auf 17 %. Der dimensionale Typus deckt 51 % aller Belege des Konstruktionsmusters [Adjattribut N]toponym in Deutsch-Südwestafrika ab.
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Mit Ausnahme von Togo liefern uns alle ehemaligen deutschen Schutzgebiete Beispiele für Ortsnamen, in denen die Bezeichnungen der kardinalen Himmelsrichtungen Nord, Süd, West und Ost etwa zur Bestimmung der relativen Lage eines Ortes zu einem (partiell) namensgleichen anderen Ort o.Ä. verwendet werden (wie West-Kariatu gegenüber Ost-Kariatu in Kamerun). Außerhalb von Deutsch-Südwestafrika gibt es genau fünfzig Belege, die ohne Ausnahme die Struktur [Adj/Nhimmelsrichtung N]toponym aufweisen. Für diese Abfolge gibt es in DeutschSüdwestafrika sechs Belege (wie Süd-Rooiberg gegenüber Nord-Rooiberg). Wesentlich häufiger (= 24 Ortsnamen) ist jedoch die inverse Abfolge [N Nhimmelsrichtung]toponym belegt (wie Nubib-Ost gegenüber Nubib-West), die außerhalb von Deutsch-Südwestafrika überhaupt nicht registriert wurde. Damit besitzt Deutsch-Südwestafrika einen nur ihm eigenen Konstruktionstyp, der dieses Schutzgebiet toponymisch von allen anderen Kolonien des deutschen Kaiserreichs absetzt. Sozusagen im Gegenzug kommt im deutsch-südwestafrikanischen Toponymikon kein einziges Beispiel für den Konstruktionstyp [Ngeoklassifikator N]toponym mit Geoklassifikator am linken Rand vor (wie Insel Bayol in Togo). Es ergeben sich also merkliche Unterschiede zwischen Deutsch-Südwestafrika auf der einen Seite und der großen Mehrheit der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika, China und im Pazifik. Da der deutsche Kolonialismus de jure nur für den Zeitraum von maximal 36 Jahren (1884–1919/20) Bestand hatte, in dem sämtliche Überseebesitzungen des Kaiserreichs erworben und auch wieder verloren wurden, kann die zeitliche Dimension als Faktor für die beobachtete Variation ausgeschlossen werden. In Abschnitt 3 beleuchten wir einige der für die Exonymie Deutsch-Südwestafrika markanten Besonderheiten.
3 Südwester Spezifika In den folgenden unterschiedlich ausführlichen Unterabschnitten gehen wir von möglichen Erklärungsansätzen für das Sonderverhalten des deutschsüdwestafrikanischen Toponymikons aus. Wir beginnen mit dem unserer Einschätzung nach wichtigsten Faktor.
3.1 Siedlungskolonialismus Speitkamp (2005: 81) stellt den wesentlichen Unterschied Deutsch-Südwestafrikas gegenüber den sonstigen kaiserlich-deutschen Überseegebieten heraus. Während man bei den sonstigen Kolonien in Afrika und im pazifischen Raum
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von Plantagen- bzw. Stützpunktkolonien sprechen kann, handelt es sich bei Deutsch-Südwestafrika um die einzige echte Siedlungskolonie des deutschen Kaiserreichs. Dies zeigt sich u.a. darin, dass mit einem Anteil von 56 % deutlich mehr als die Hälfte aller deutschen Reichsangehörigen (ohne Militärpersonal12) in den Kolonien zum Ende der deutschen Herrschaft in Deutsch-Südwestafrika ansässig war. Tabelle 3 gibt die entsprechenden absoluten Zahlen für das Jahr 1913 an13 und unsere Berechnung der ansässigen deutschen Reichsbürger pro Quadratkilometer. Die graue Schattierung zeichnet Zellen aus, die Werte enthalten, die den Durchschnitt übersteigen. Tabelle 3: Anzahl der zivilen deutschen Reichsangehörigen in den Kolonien im Jahr 1913.
Schutzgebiet
ansässige Deutsche 1913
Deutsche pro km2
Deutsch-Südwestafrika
12.292
0,0148
Deutsch-Ostafrika
4.107
0,0041
Kiautschou
1.855
3,2204
Kamerun
1.643
0,0020
Deutsch-Neuguinea
1.427
0,0059
Samoa
329
0,1279
Togo
320
0,0036
Gesamt (Ø = 3.139)
21.973
0,0074
Deutsch-Südwestafrika ist die einzige Kolonie, die sowohl bei den absoluten Zahlen als auch bei der Dichte der reichsdeutschen Bevölkerung über dem jeweiligen Durchschnitt liegt. Die Zahl der Deutschen in Deutsch-Südwestafrika ist dreimal höher als die im zweitplatzierten Deutsch-Ostafrika. Die hohen Wer-
|| 12 Bis auf Deutsch-Südwestafrika (nach 1907) und Kiautschou (dem Standort des Ostasiengeschwaders der kaiserlichen Kriegsmarine) besaßen die Kolonien Schutz- und Polizeitruppen, deren Mannschaftsdienstgrade zum allergrößten Teil aus der autochthonen Bevölkerung stammte (Speitkamp 2005: 50), sodass die Berechnung der genauen Mannschaftsstärke der stationierten Einheiten keinen wesentlichen Einfluss auf die Bevölkerungsstatistik in Tabelle 3 hätte. 13 Die Kopfzahlen sind der kolonialen Bevölkerungsstatistik von Thilenius & Zoepfl (1920: 196) entnommen. Die dort angegebenen Zahlen für den mikronesischen Teil DeutschNeuguineas (1.005 Deutsche) sind falsch und wurden von uns mit 459 neu angesetzt. Die Daten für Kiautschou wurden aus Brüninghaus (1920: 266–267) ergänzt. Die Kalkulation der Dichte der deutschen Bevölkerung in den Kolonien ist unsere eigene.
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te bei der Dichte der reichsdeutschen Bevölkerung für Kiautschou und Samoa erklärt sich aus der begrenzten Landfläche dieser Territorien. Gegen die Annahme, der Charakter der Siedlungskolonie stelle die geeignete Grundlage für das besondere Verhalten Deutsch-Südwestafrikas auf toponymischem Gebiet dar, könnte der Einwand erhoben werden, dass das hinsichtlich der absoluten Kopfzahl und der Dichte der reichsdeutschen Bevölkerung deutlich unterdurchschnittliche Deutsch-Neuguinea wesentlich mehr deutschkoloniale Exonyme beiträgt als Deutsch-Südwestafrika, obwohl die Südseebesitzung eben keine Siedlungskolonie war. Dank Mühlhäusler (2001: 256–262) wissen wir jedoch, dass für die Vergabe der Ortsnamen in Deutsch-Neuguinea hauptsächlich die Initiative von einzelnen Privatpersonen – an erster Stelle von Otto Finsch – verantwortlich ist, die nach eigenen festen Schemata Toponyme in großer Zahl gewissermaßen am Reißbrett entwarfen und nach zum Teil sehr willkürlichen Prinzipien über die Geo-Objekte der Kolonie verteilten. Dem individuellen Geschmack der Proponenten ist u.a. die hohe Zahl von Ortsnamen in Deutsch-Neuguinea geschuldet, die als initiale Konstituente der Konstruktion einen Personennamen enthalten, der sich auf ein Mitglied der kaiserlichen Familie, regierender Fürstenhäuser der Teilstaaten des deutschen Reichs oder berühmte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Kaiserreich bezieht (wie Prinz-Oskar-Berg, benannt nach dem jüngsten Sohn von Wilhelm II). Eine wesentliche Funktion dieses kolonialen Ortsnamentyps war es, Besitzansprüche gegenüber eventuellen kolonialen Konkurrenten geltend zu machen, indem die mit dem Namensgeber assoziierte „Glorie“ apostrophiert wurde. Zwar gibt es mit Johann-Albrecht-Quelle (benannt nach Johann Albrecht, Herzog von Mecklenburg, Regent von Braunschweig und maßgeblicher kaiserzeitlicher Kolonialpolitiker) vereinzelt ähnliche Bildungen auch in DeutschSüdwestafrika, aber sie sind im deutsch-südwestafrikanischen Toponymikon relativ selten. Vielmehr treten andere Ortsnamentypen in den Vordergrund, die in dieser Form in den übrigen deutschen Besitzungen in Übersee praktisch unbekannt sind. Diese typisch deutsch-südwestafrikanischen Ortsnamen spiegeln (wenigstens indirekt) den Charakter der Siedlungskolonie wider. So treten in Deutsch-Südwestafrika verstärkt direkte Übernahmen aus dem reichsdeutschen Toponymikon auf. Wir finden einundvierzig Ortsnamen in Deutsch-Südwestafrika, die sich eindeutig als zusatzlose Bezüge auf Orte und
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Landesteile in der Metropole bestimmen lassen.14 Ihre alphabetische Listung erfolgt unter (1). (1)
Direkte zusatzlose Übernahmen von reichsdeutschen Orstnamen Brandenburg, Bremen, Büschow, Coblenz, Deutsch-Krone, Frankenstein, Frankfurt, Friedland, Friedrichstal, Glücksburg, Grunewald, Havelberg, Heidelberg, Heilbronn, Helgoland, Hohenau, Hohenfelde, Hohenfels, Karlshorst, Lahnstein, Leipzig, Lichtenstein, Lübeck, Müritz, Niederhagen, Nordenberg, Petersburg, Pommern, Rheinfels, Sachsen, Steinhausen, Stolzenfels, Teschendorf, Tiefenbach, Waldau, Waldheim, Weißenstein, Wiesenthal, Wittenberg, Zackenberg, Zillertal
Diese Klasse von deutsch-südwestafrikanischen Ortsnamen entspricht einem Anteil von 7 % am Gesamtbestand der deutsch-kolonialen Exonyme dieser Kolonie. Außerhalb Deutsch-Südwestafrikas kommen im deutsch-kolonialen Toponymikon reichsdeutsche Ortsnamen stets nur als Teil einer mehrgliedrigen Konstruktion vor. Die üblichen Muster reflektieren Fälle wie Neu-Trier und Mecklenburg-Bucht in Deutsch-Ostafrika bzw. Neu-Pommern und Berlin-Reede in Deutsch-Neuguinea. Keines dieser Muster ist in Deutsch-Südwestafrika gebräuchlich.15 Der Unterschied ist jedoch nicht nur ein formaler, sondern betrifft ganz besonders die Motivation, die zur Benennung des deutsch-südwestafrikanischen Ortes mit einem reichsdeutschen Toponym geführt hat. Stellvertretend für viele der oben aufgeführten Fälle zitieren wir Möllers (1986: 240) kurze Erläuterungen zu Deutsch-Krone (alternativ auch Deutsche Krone): Plaas nr. 136, dist. Windhoek. Volgens die eienaar C.W.H. Voigts (vraelys 1982), hang die herkoms van die naam saam met díé van ‘n dorp in West-Pruise waar die vorige eienaar gebore is.16
D. h. dass es für die Ortsnamenvergabe die persönliche Verbundenheit eines Individuums mit der namengebenden reichsdeutschen Gemeinde gab. Es wird
|| 14 Unter Berücksichtigung der Einträge bei Möller (1986) ließe sich diese Zahl ohne Weiteres verdoppeln. 15 Möller (1986: 79) führt sechs einschlägige Fälle (Neu-Barmen, Neu-Bremen, Neu-Franken, Neu-Holsteinburg, Neu-Schwaben und Neu-Simmern) auf, die jedoch aus anderen Quellen als den Karten des GDKA stammen. 16 Unsere Übersetzung: “Platz Nr. 136, Bezirk Winduk. Gemäß dem Eigentümer C.W.H. Voigts (Questionnaire 1982) hängt der Ursprung des Namens mit dem [Namen] eines Dorfes in Westpreußen zusammen, wo der vorherige Besitzer geboren wurde.“
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der Name des Geburtsortes eines sich als Farmer niederlassenden deutschen Siedlers gewählt. Vereinfacht kann dies als individueller sentimentaler Faktor gefasst werden. Dieser Faktor scheidet im Falle der deutsch-neuguineanischen Exonyme praktisch völlig aus, weil die Ortsnamen nicht von ortsansässigen Deutschen, sondern z. B. in der Studierstube Otto Finschs in Deutschland, also aus der Distanz geschaffen wurden. Ein Ortsname wie Potsdam-Hafen in KaiserWilhelmsland besagt nicht, dass ein Einwohner der deutschen Stadt Potsdam durch die Namensvergabe die Erinnerung an seine Heimatstadt aufrecht erhalten wollte. Tatsächlich ist die Namensvergabe in Deutsch-Neuguinea völlig von denkbaren Beziehungen dieser Art dissoziiert, da Otto Finschs Vergabepraxis vorsah, dass bestimmte Städte und Landesteile des Reichs auf der kolonialen Landkarte namentlich eingeschrieben sein mussten (Stolz & Warnke 2015). Dass in o.g. Fall die Wahl auf Potsdam fiel, ist eher zufällig. In Deutsch-Südwestafrika gibt es solche Zufälle kaum. Die persönliche Note, die im deutsch-südwestafrikanischen Toponymikon eine große Rolle spielt, wird noch deutlicher, wenn wir die Verwendung von Personennamen in toponymischer Funktion in Betracht ziehen. Möller (1986: 69) hebt hervor, dass [p]lekke, beide geografies en kultureel, is by vorkeur deur die Duitsers benoem deur persoonsname aan die generiese term van die entiteit te koppel. Die veelvuldige voorkoms van veral berg- en plaasname met persoonsname as spesifieke term dui onder andere op die gewildheid van dié naamgewingspatroon en die kolonistennaamgewers se voorliefde vir persoonsgedenking en –verering. Dit is verder ‘n keuse wat nie geografies bepaal of beperk is nie, anders as beskrywende spesifieke terme.17
In diesem Zusammenhang differenziert Möller (1986: 69–73) nicht zwischen den wenigen Fällen vom Typ Bismarckaue, die als Reverenz gegenüber Autoritäten und Persönlichkeiten zu werten sind, und Karlsruh, das autoreferenziell von einem Siedler namens Karl Schulz im Sinne von Karls Ruhesitz an Stelle der vorherigen afrikaansen Bezeichnung Olifantsfontein ‘Elefantenbrunnen’ eingeführt wurde (Möller 1986: 323). Dieser autoreferenzielle Typus überwiegt bei weitem in der Klasse der anthroponymisch gebildeten deutsch-südwestafri|| 17 Unsere Übersetzung: “Sowohl geographische als auch kulturelle Orte werden von den Deutschen vorzugsweise dadurch benannt, dass Personennamen mit dem generischen Ausdruck der Entität verbunden werden. Das vielfältige Vorkommen von Berg- und Ortsnamen mit Personennamen als spezifizierendem Ausdruck verweist u.a. auf die Popularität dieses Musters der Namengebung und auf die Vorliebe der kolonialen Namengeber für das Gedenken an und die Verehrung von Personen. Dies ist ferner eine Option, die geographisch weder hervorsticht noch beschränkt ist – anders als deskriptive spezifizierende Ausdrücke.“
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kanischen Exonyme. Die sich hierin erneut offenbarende persönliche Komponente wird zusätzlich gestärkt durch die ansehnliche Zahl von mehrgliedrigen Ortsnamen, die als Erstglied einen weiblichen Vornamen enthalten. Den Siedlungsnamen Emiliental erläutert Möller (1986: 257) wie folgt: [n]edersetting en ou diamantveld aan die kus net N van Charlottental en Lüderitzbucht, dist. Lüderitz […]. Die vernoeming is blykbaar soos in die geval van Idatal, Charlottental en ander in die diamantgebied van Lüderitz en Kolmanskop n.a.v. die voorname van die eggenotes van die diamantdelwers en nedersetters toegeken.18
Der Vorname der Ehefrau der namengebenden Person wird im Ortsnamen gewissermaßen verewigt. Der persönliche sentimentale Bezug zwischen den Ehegatten ist hier ausschlaggebend für die Benennung. Der großen Masse der Exonyme in den deutschen Kolonien außerhalb Deutsch-Südwestafrikas fehlt diese emotionale Komponente völlig. Ebensowenig finden sich außerhalb Deutsch-Südwestafrikas koloniale Ortsnamen, die nur aus einem Familiennamen bestehen. Wir haben elf Fälle (davon zwei mit Allographien) identifizieren können, die wir unter (2) alphabetisch aufführen. (2)
Zusatzlose Familiennamen als Ortsnamen Gathemann (~ Gothemann), Gröning, Halberstadt, Jürgens, Klingenberg, Ritmann, Rohrbeck, Rössing, Thalheim, Wiese, Wördel (~ Wörtel)
Wie das Beispiel Halberstadt zeigt, gibt es auch „falsche Freunde“, weil hier Namensgleichheit eines reichsdeutschen Toponyms mit einem Familiennamen gegeben ist. Nach Möller (1986: 293) geht die Benennung auf den deutschen Siedler Wilhelm Halberstadt zurück, der seinen Nachnamen zur Benennung herangezogen hat. Dass dieser Namenstyp in den übrigen deutschen Überseegebieten im GDKA nicht nachgewiesen ist, überrascht uns nicht weiter. Denn die meisten dieser Fälle sind Benennungen von Farmen (d. h. Flurnamen, da sie nicht die Hofgebäude allein, sondern den gesamten landwirtschaftlich nutzbaren Besitz bezeichnen). Da die Form der (Siedlungs-)Farmwirtschaft in den anderen deutschen Schutzgebieten gar nicht oder nur in sehr beschränktem Maße genutzt
|| 18 Unsere Übersetzung: “Niederlassung und altes Diamantenfeld an der Küste genau nördlich von Charlottental und Lüderitzbucht, Bezirk Lüderitz […]. Die Benennung ist augenscheinlich genau wie in den Fällen Idatal, Charlottental und andere im Diamantengebiet von Lüderitz und Kolmanskop bezogen auf die Vornamen der Ehegattinnen der Diamantengräber und Siedler erfolgt.“
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wurde, ist dort die Gattung der Farmnamen naturgemäß unterrepräsentiert, während Farmnamen für das deutsch-südwestafrikanische Toponymikon recht charakteristisch sind. Wegen der Ansässigkeit der deutschen Farmer auf ihrem kolonialen Besitz kann vermutet werden, dass die Beziehung zwischen benanntem Objekt und benennender Person von letzterer als relativ eng empfunden wurde. Dies lässt sich auch an Ortsnamen wie Harmonie, Heimat19 und Paradies ablesen. Auf den zuletzt genannten Fall bezogen heißt es bei Möller (1986: 367– 368), dass [d]ie naam kom verskeie kere in die provinsie Beiere voor […] en die plaaslike een kan na analogie van een van dié Duitse plekname geskep wees, of ‘n uitdrukking van die ingesteldheid van die eertydse eienaar, A. Kümmel, gewees het […] om van sy plaas ‘n paradys te maak.20
Hier ist es die zuletzt im obigen Zitat genannte Möglichkeit, die zu unserer Annahme der persönlichen Verbundenheit der Namengeber mit dem von ihnen benannten Geo-Objekt passt. Wir schließen dieses Unterkapitel mit der Feststellung, dass der Charakter einer Siedlungskolonie entscheidend dazu beiträgt, dass das Toponymikon Deutsch-Südwestafrikas in mehrerlei Hinsicht von dem der sonstigen Kolonialgebiete des deutschen Kaiserreichs abweicht. Die diskutierten Phänomene rücken die deutsch-südwestafrikanischen Exonyme in die Nähe der migrationsgetragenen Toponyme in typischen Einwandererstaaten des 19. Jahrhunderts, in denen auch Gruppen von Migranten aus einem Herkunftsgebiet sich geschlossen ansiedeln konnten – wie Paderborn (Illinois), Bremen (Georgia), Kiel (Wisconsin), Stuttgart (Kansas) in den USA (Stolz 2013). Bei weiter Auslegung der Begrifflichkeiten von Koch & Oesterreicher (1985) ist es möglich, die kolonialzeitliche Namensgebungspraxis in Deutsch-Südwestafrika als stärker nähesprachlich zu charakterisieren – im Unterschied beispielsweise zu DeutschNeuguinea, in dessen Fall man von einer eher distanzsprachlich geprägten Exonymie sprechen kann. || 19 Hier vermutet Möller (1986: 299), dass sich am Ortsnamen Heimat nostalgische Vaterlandsliebe des Besitzers äußere (gegebenenfalls in Verbindung mit einer direkten Übertragung von einem reichsdeutschen Ortsnamen aus Bayern oder Westfalen). Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass die Benennung dazu gedacht war, den in der Kolonie erworbenen Besitz als die neue Heimat zu charakterisieren, in der man sich zu Hause fühlen möchte. 20 Unsere Übersetzung: “Der Name kommt mehrmals im Bundesland Bayern vor […] und die lokale Form kann in Analogie zu einem der deutschen Ortsnamen geschaffen worden oder ein Ausdruck der Absicht des vormaligen Besitzers A. Kümmel gewesen sein, aus seiner Farm ein Paradies zu machen.“
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3.2 Sprachliche Verwandtschaft Zahlreiche deutsch-südwestafrikanische Ortsnamen erweisen sich als Adaptationen von älteren afrikaansen Ortsnamen, die wegen „close resemblance between German and Afrikaans“ (Möller 1990: 413) leicht zu teutonisieren waren. Dabei wurden oft semantisch transparente Bildungen direkt ins Deutsche übersetzt (Möller 1990: 410), an anderen Stellen erfolgten mehr oder minder systematische lautliche, morphologische und orthographische Anpassungen, die bisweilen auch zu semantischen Verschiebungen führten. Dabei ist zu beachten, dass die afrikaansen Ortsnamen in Deutsch-Südwestafrika ihrerseits zu einem beträchtlichen Teil Übersetzungen von ursprünglichen Nama- oder Herero-Ortsnamen also sekundäre Bildungen waren.21 Ein typisches Beispiel ist der mehrfach belegte Ortsname Gründorn, zu dem es bei Möller (1986: 288) heißt, dass er „’n vertaling van Groendoorn is, wat op sy beurt ’n vertaling van de Khoekhoense naam Amkhus is.”22 Die Adaptation der afrikaansen Ortsnamen kann partiell oder total sein, d. h. in einer Reihe von Fällen bestehen mehrgliedrige deutsch-südwestafrikanische Exonyme aus einem deutschen und einem afrikaansen Bestandteil (wie Groß-Witvley, Lehmwater, Schanzkolk mit unterstrichenem afrikaansen Zweitglied). Für besonders häufig auftretende afrikaanse Zweitglieder sind relativ systematische Eindeutschungen vorgenommen worden. Folgende ursprünglich afrikaanse Geo-Klassifikatoren treten besonders häufig in deutschsüdwestafrikanischen Exonymen auf: -pütz, der die Pluralform puts des afrikaansen Appellativums put ‘Brunnen, Grube’ reflektiert und an eine im rheinischen Regionaldeutsch übliche Benennung von (wassergefüllten) Gräben Pütz (verwandt mit Deutsch Pfütze und Ruhrdeutsch Pütt) angelehnt ist; (26 Types): Brakpütz, Buschmannpütz, Droogpütz, Elands-Pütz, EriksonsPütz, Fischbein-Pütz, Gapütz, Georgspütz, Glückpütz, Hageners-Pütz, Jakobs-Pütz, Lorenz-Pütz, Mittelpütz, Quaipütz, Richardspütz, Riet-Pütz,
|| 21 Die Verfügbarkeit von vorkolonialen afrikaansen Ortsnamen muss nicht auf die Präsenz von Afrikaans-Muttersprachlern schließen lassen. Möller (1986: 131) spricht davon, dass Afrikaans schon im frühen 19. Jahrhundert die allgemeine Umgangssprache in Suidwes-Afrika gewesen sei, die von verschiedenen autochtonen Gruppen als Zweitsprache beherrscht wurde. Buren im engeren Sinne sind erst relativ spät eingewandert, überwiegend erst in der Zeit nach der Gründung der Kolonie Deutsch-Südwestafrika (speziell nach dem Ende des Burenkriegs 1902) (Dove 1920: 255–256). 22 Unsere Übersetzung: “[dass] Gründorn eine Übersetzung von [Afrikaans] Groendoorn ist, was seinerseits eine Übersetzung des Khoikhoi-Namen Amkhus ist.”
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Salzpütz, Sandpütz, Schmitzpütz, Springpütz, Tsawipütz, Ugibspütz, Wittpütz, Wolfspütz, Zebra-Pütz, Zoutpütz -fontein, das mit dem afrikaansen Appellativum fontein ‘Quelle, Springbrunnen’ gleichzusetzen ist (vgl. Deutsch Fontäne); (12 Types): Blaufontein, Blockfontein, Dornfontein, Franzfontein, Kalkfontein, Kleinfontein, Löwenfontein, Plattfontein, Sandfontein, Schneefonteen (sic!), Schwarzfontein, Wolfsfontein -vley, in heutiger afrikaanser Orthographie vlei ‘Wiese, Tal’; (12 Types): Brand-Vley, Buschmannvley, Elends-Vley, Gemsbock-Vley, Groß-Witvley, Hartmann-Vley, Klein-Witvley, Lang-Vley, Lichtmanns-Vley, Neujahrs-Vley, Sommerfeld-Vley, Springbockvley -water ~ -wasser, die ursprünglich afrikaanse Form water ‘Wasser’ ist relativ oft, aber nicht ausnahmslos durch Deutsch Wasser ersetzt worden; (11 Types): Bitterwasser, Brackwater, Grabwasser, Klein-Gemsenwasser, Kleinwasser, Rietwasser, Salzwasser, Stinkwasser, Taubenwasser, Trinkwasser, Wolfswasser -kranz, der das afrikaanse krans ‘Kranz, Felswand’ in seiner zweiten Bedeutung aufnimmt und dabei eine Verbindung zum deutschen Appellativum Kranz herstellt, das bei genuin deutschen Oronymen (Berg- und Gebirgsnamen) zumindest nicht in die Reihe der üblicherweise verwendeten Namensbestandteile gehört (Nübling et al. 2015: 235–237); (9 Types): Blasskranz, Blaukranz, Harnkranz, Hornkranz, Löwenkranz, Narrukranz, Pavianskranz, Rooikranz, Witkranz
Da verschiedene der in der obigen Listung aufgeführten Types mit gleich mehreren Tokens auf der kolonialen Landkarte Deutsch-Südwestafrikas vertreten sind (z. B. gibt es drei verschiedene Orte mit dem Namen Kleinfontein), können wir von deutlich über siebzig Exonymen ausgehen, die mittels eines ursprünglich afrikaansen Geo-Klassifikator gebildet werden. Diese Bildungen weisen damit einen Anteil von mindestens 12 % am Bestand deutsch-südwestafrikanischer Exonyme auf und tragen dadurch dazu bei, dass sich das deutschsüdwestafrikanische Toponymikon von dem Toponymikon der anderen deutschen Kolonien absetzt, weil in keinem anderen Gebiet unter deutscher Herrschaft Einflüsse des Afrikaans auf die Ortsnamenbildungen gegeben sind. Die Geo-Klassifikatoren -pütz und -kranz sind in der Form der generisch referierenden Appellativa Pütz und Kranz auch jeweils einmal ohne weitere Zusätze als Ortsnamen Pütz und Kranz in Deutsch-Südwestafrika belegt. Linguistisch bemerkenswert ist dabei der Umstand, dass Afrikaans puts ‘Brunnen, Gräben’ morphologisch komplex ist, weil es das Pluralsuffix -s trägt, aber Deutsch Pütz
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monomorphematisch d. h. nicht weiter in bedeutungstragende Bestandteile zerlegbar ist. Beide Ortsnamen sind daher sowohl monosyllabisch als auch monomorphisch. Sie sind dadurch innerhalb des deutsch-kolonialen toponymischen Gesamtbildes absolute Ausnahmefälle. Es lässt sich demnach konstatieren, dass die Sonderstellung DeutschSüdwestafrikas gegenüber der Mehrzahl der deutschen Kolonien durch die spezifische Sprachkontaktsituation mit bedingt ist, in der Deutsch mit einer nahe verwandten germanischen Sprache interagierte und die Ähnlichkeiten zwischen Deutsch und Afrikaans zur Eindeutschung der Toponymie in großem Stile genutzt werden konnten.
3.3 Vorläufer Die Vorgeschichte der Inbesitznahme Deutsch-Südwestafrikas durch das Kaiserreich ist ebenfalls toponomastisch von Interesse. Denn der Schaffung der Kolonie ging eine mehrere Jahrzehnte umfassende Präsenz deutschsprachiger Missionare voran. Möller (1986: 14–18) beschreibt, dass schon die ersten deutschen Missionare im Großen Namaqualand (= südliche Hälfte des heutigen Namibia) eifrig deutsche Ortsnamen geprägt haben, die überwiegend ihre Missionsstationen betrafen. Wegen des religiösen Charakters zeigen diese vorkolonialen deutschen Ortsnamen, die ohne Änderungen in das koloniale DeutschSüdwestafrika übernommen wurden, Eigenschaften, die in anderen deutschen Schutzgebieten wenig bis gar nicht belegt sind (wie Frohe Hoffnung – eventuell identisch mit Frohe Erwartung ~ Frohe Erfüllung, Möller 1986: 273). Die deutschkoloniale Namengebung war also schon geschichtlich vorbereitet. Die vorkolonialen deutschen Ortsnamen konnten direkt übernommen und wenigstens teilweise auch als Muster für weitere Bildungen verwendet werden.
3.4 Arides Land Als letzten Gesichtpunkt, der für die Erklärung des deutsch-südwestafrikanischen Sonderwegs auf dem Gebiet der Toponymie wichtig ist, führen wir die Geo-Eigenschaften des Landes selber an, die sich zumindest teilweise von den Gegebenheiten in den anderen Kolonien unterscheiden. Es handelt sich bei Deutsch-Südwestafrika um weitgehend arides Gelände, d. h. dass die Verfügbarkeit von Wasser an einem bestimmten Ort ein prominentes Merkmal für die Benennung des Ortes darstellt (Möller 1986: 47–49). Im Unterabschnitt 3.2 wurden bereits die zahlreichen Fälle erwähnt, in denen die aus dem Afrikaans
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übernommenen Geo-Klassifikatoren auf Wasser referieren. In diesem Sinne können -pütz, -fontein und -wasser durchaus auch als Funktionsklassifikatoren verstanden werden, da sie im Prinzip auf die Nutzung des Ortes als Wasserstelle hinweisen. Die Qualität des Wassers kann durch das jeweilige Erstglied präzisiert werden, sodass Salzpütz, Sandfontein und Bitterwasser möglicherweise so zu deuten sind, dass das Wasser von minderer Qualität ist. Dementsprechend schreibt Möller (1986: 222) über Bitterwasser: Die huidige Duitse naam is ’n vertaling van die ou Namanaam Augas […]. Die eienaar, P.J. Kayssler, skryf oor die herkoms en betekenis (vraelys 1982) dat daar voor die opstal ‘n pan was met water wat bitter was weens die brak grond van die omgewing.23
Zählt man zu den obigen neunundvierzig Types von Ortsnamen mit auf Wasser bezogenen Geo-Klassifikatoren noch die siebenunddreißig Fälle unter (3) hinzu, bekommt man mit sechsundachtzig Belegen einen Anteil von ca. 15 % an deutsch-südwestafrikanischen Bestand an Exonymen. (3)
Weitere Ortsnamen mit Binnenwasserbezug Buschpfanne, Elefanten-Fluss, Etoscha-Pfanne, Fischersbrunnen, Friedabrunn, Großer-Fisch-Fluss, Hoanib-Mund, Huab-Mund, Johann-AlbrechtQuelle, Kambele-Wasserfall, Kameldorn-Fluss, Kamelpfanne, KoichabMund, Kunene-Mund, Löwenfluss, Marien-Quelle, Martenfluss, NabikannaPfanne, Nagel-Quelle, Narobmund, Oranje-Fluss, Rietquelle, Samariterbrunn, Sandbrunn, Sandmund, Schnepfenrivier, Schwarzbrunn, Skunbergs Quelle, Stölzens Brunnen, Swakopmund, Tiefenbach, Trompeterlöscher, Truppenbrunnen, Warmbad, Wasserkop, Waterberg, Wildquelle
Es ist nicht die flächendeckende Abundanz von Wasser, die im Fall von Deutsch-Südwestafrika die hohe Frequenz von auf Wasser bezogenen Toponymen begründet, sondern ganz im Gegenteil die klimatisch bedingte geringe Verfügbarkeit von Wasser in einem weitgehend ariden Gebiet.24
|| 23 Unsere Übersetzung: „Der heutige deutsche Name ist eine Übersetzung des alten Namanamens Augas […]. Der Besitzer P. J. Kayssler schreibt über den Ursprung und die Bedeutung (Questionnaire 1982), dass es vor dem Gehöft einen kleinen See mit Wasser gab, das wegen dem brackigen Boden der Umgebung bitter war.“ 24 Es sei noch am Rande erwähnt, dass es insgesamt achtundzwanzig Belege (= ca. 5 % aller deutsch-südwestafrikanischen Exonyme) gibt, in denen ein Farbadjektivstamm den linken Slot der Konstruktion besetzt (wie Blaukehl, Grünfeld, Rotkuppe, Schwarzbrunn und Weißbrunn). Hier scheint häufig Bezug auf die farbliche Beschaffenheit des Bodens (oder Gewässers) genommen zu werden, wodurch Rückschlüsse auf die Fruchtbarkeit oder Nutzbarkeit des GeoObjekts gezogen werden können (Möller 1986: 73–74).
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4 Zu guter Letzt In seiner Studie zur Wahrnehmung von Deutsch-Südwestafrika in den deutschen Kulturwissenschaften zieht Duchhardt (2013: 62) das nur für die Linguistik positive Fazit, dass [a]ls Feld, auf dem Beachtliches geleistet wurde, […] die Sprachforschung [bleibt], die Afrikanistik, wie man heute sagen würde […]. Aber das war ein Wissenschaftszweig, der am „großen Publikum“ dann doch eher vorbei lief und insgesamt den Befund nur leicht abschwächt, dass das südwestafrikanische „Schutzgebiet“ nicht im Zentrum der Bemühungen der deutschen Kulturwissenschaften stand, sich die Bestandteile des „Kolonialimperiums“ „anzueignen“.
Unsere Studie belegt, dass hinsichtlich der linguistischen Erschließung von Deutsch-Südwestafrika auch heute noch ganz erheblicher Nachholbedarf besteht, der sich u.a. darin zeigt, dass nicht nur die deutsch-kolonialen Ortsnamen im Besonderen, sondern die gesamte kolonialzeitliche Toponymie von DeutschSüdwestafrika im Allgemeinen noch einer fundierten onomastischen Sondierung harren. Dieser Umstand unterstreicht noch zusätzlich die Tatsache, dass die koloniale Ortsnamenforschung wie überhaupt die koloniale Onomastik eine ganz wesentliche Ergänzung zu der offenen thematischen Liste der Koloniallinguistik (Warnke 2009: 40–48, Stolz et al. 2011: 15–19) darstellt. Das deutsch-südwestafrikanische Toponymikon ist in mehrerlei Hinsicht anders geartet als das restliche deutsch-koloniale Toponymikon. Wir haben gezeigt, worin sich diese wenigstens partielle Divergenz toponomastisch niederschlägt. Die Erklärung für das Sonderverhalten Deutsch-Südwestafrikas ist ganz eindeutig darin begründet, dass nur Deutsch-Südwestafrika als einzige Siedlungskolonie des Kaiserreichs nicht nur eine ansehnliche Zahl von reichsdeutschen Einwohnern hatte, sondern eine weite Teile des Landes umfassende (wenn auch eher sporadische) Besiedlung durch deutsch-sprachige, Landwirtschaft betreibende Familien zuließ. Während in den meisten anderen Kolonien die deutsche Präsenz im Wesentlichen auf die Küstengebiete beschränkt und dort auch noch in bestimmten Unterabschnitten konzentriert blieb, kann man durchaus davon sprechen, dass im Falle von Deutsch-Südwestafrika gerade auch das Binnenland besiedelt wurde. Nicht umsonst lag die Hauptstadt der Kolonie, Windhuk, im Landeszentrum, wohingegen in Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika und DeutschNeuguinea die Verwaltungszentren jeweils direkt an der Küste oder in unmittelbarer Küstennähe lagen. Durch die landesweite Erschließung Deutsch-Südwestafrikas ist ein hoher Bedarf an wenigstens partiell deutschen Exonymen entstanden, die wegen der Ansässigkeit der Siedler vor Ort in viel stärkerem Maße als
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sonst wo im deutschen Kolonialreich eine emotional-sentimentale d. h. persönliche Note erhielten und einen gewissen Individualismus reflektieren, der bei den schematisch geplanten Namensgebungen beispielsweise in Deutsch-Neuguinea völlig in den Hintergrund gerät. Der Fall Deutsch-Südwestafrika zeigt, dass es für eine die nationalen Kolonialismen überdachende vergleichende Typologie der Kolonialtoponymie nicht damit getan sein kann, einzelne Kolonien verschiedener Kolonialmächte miteinander zu vergleichen. Vielmehr muss sichergestellt werden, dass das Toponymikon einer Kolonie auch tatsächlich repräsentativ ist. Deutsch-Südwestafrika ist nicht repräsentativ für die deutsche Kolonialtoponymie in Gänze, es trägt aber zu ihrem von einer gewissen Variationsbreite geprägten Gesamtbild entschieden bei.
Danksagung: Diese Arbeit ist aus unserer Forschungstätigkeit in der Creative Unit Koloniallinguistik/Language in Colonial Contexts an der Universität Bremen hervorgegangen. Wir danken unserer Alma Mater für die Förderung im Rahmen der Maßnahmen der Exzellenzinitiative in den Jahren 2012–2015. Dem Herausgeberteam dieses Bandes möchten wir unseren Dank dafür aussprechen, dass sie unsere kleine Studie in die von ihnen betreute Publikation aufgenommen haben. Wir danken zudem nicht zum ersten Mal Jako Olivier (Potchefstroom/ Südafrika) dafür, uns eine für diesen Beitrag zentrale Dissertation zugänglich gemacht zu haben. Unser Dank geht darüber hinaus an Claudius Geisler (Mainz) für die Überlassung einschlägiger Literatur. Carolin Sophie Ahrens (Bremen) verdient ein ganz besonders nachdrückliches Dankeschön dafür, auf der Grundlage der Karten Deutsch-Südwestafrikas im Großen Deutschen Kolonialatlas in mühevoller Kleinarbeit ein Register der deutsch-kolonialen Ortsnamen in diesem ehemaligen Schutzgebiet des deutschen Kaiserreichs erstellt zu haben. Anna Wolter (Bremen) hat anhand moderner Kartenwerke die Überlebensrate deutsch-kolonialer Ortsnamen im postkolonialen Namibia bestimmt, wofür ihr herzlich gedankt sei. Ebenfalls danken wollen wir Deborah Arbes (Bremen) für die Zeit und Energie, die sie darauf verwendet hat, das Gesamtverzeichnis aller kolonialzeitlichen Ortsnamen in Togo zusammenzustellen. Gedankliche und logistische Unterstützung haben wir jederzeit von den koloniallinguistisch interessierten Mitgliedern unserer Arbeitskreise erhalten. Cornelia Stroh gebührt ebenfalls ein Wort des Dankes für die sorgfältige editorielle Betreuung unseres Manuskripts. Für die trotz der vielen hilfreichen Geister in unserem Text eventuell verbleibenden Schwachstellen übernehmen wir selbstverständlich genauso die alleinige Verantwortung wie für das Gesamt der von uns vorgebrachten Argumente und die Form, in der sie hier präsentiert werden.
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Appendix [Einige Ortsnamen sind in Deutsch-Südwestafrika für verschiedene Geo-Objekte mehrfach verwendet worden. Wir führen diese Mehrfachnennungen in dieser Liste unterschiedslos auf, sodass beispielsweise Groß-Aub fünfmal erscheint.] Achterfontein; Affenrücken; Albatrosfeld; Albatros-Spitz; Alexeck; Alte Werft; Altenstein; Alt-Narib; Amasbank; Annas'sruh; Arutal; Auros-West; Aurus-Berge; Außenkehr; Außenkehr Plantage; Awasib-Berge; Bachmanns's Brunnen; Bahnhof-Narib; Beestpütz (Holzhausen); Besitzung-Insel; Besondermaid; Bienenstich; Bismarckaue; Bismarckfeld; Bitterwasser; Bitterwasser; Blasskranz; Blaufontein; Blaukehl; Blaukehl-Nord; Blaukehl-Süd; Blaukranz; Blau-Ost; Blau-West; Blockfontein; Blompütz; Blumenfelde; Bobosberg; Bodenhausen; Bogenfels; Boots-Bucht; Botenfels; Brackwater; Brak-Pütz; Brak-Pütz; Brandenburg; Brand-Vley; Breitenberg; Breitenbuch; Bremen; Buchu-Berge; Büllsport; Buntfeldschuh; Buschfeld; Buschmann; BuschmannPütz; Buschmannsbett; Buschmanns-Werften; Buschmannvley; Büschow; Charlottental; Chuos-Berge; Claratal; Coblenz; Daberas-Pforte; Daberas-Süd; Daweb-Nord; Deutsche Erde; Deutsch-Krone; Dickbusch; Dickdorn; Dickdorn; Dickdorn; DoggerFels; Dorn-Daberas; Dornfontein; Douglas-Bucht; Draz-Spitz; Dreckkuppen; Dreihuk; Dreimaster-Bucht; Droogpütz; Dunkermodder; DunkleWand-Spitze; Eduardsfelde; Eintracht; Eisenstein; Elands-Pütz; Elands-Pütz; Elefanten-Fluss; Elends-Vley; Elisabeth-Bucht; Elisabeth-Spitz; Elisenhof; Elisenhöh; Emiliental; Empfängnisbucht; Empfängnis-Bucht; Eriksons-Kalkpütz; Eriksons-Pütz; Eriksons-Pütz; Erongo-Gebirge; Eschental; Etoscha-Pfanne; Fackshof; Fahlgras (Wittboisende); Falkenhausen; Farilhao-Spitz; Feldschuhhorn; Fettkluft Nord; Fettkluft Süd; Fischbein-Pütz; Fischersbrunnen; Flugsand; Frankenstein; Frankfurt; Franzfontein; Frauenstein; Freistadl; Friedabrunn; Friedental; Friedland; Friedrichsfelde; Friedrichsheim; Friedrichshof; Friedrichsruh; Friedrichstal; Friedrichswald; Frohe Hoffnung; Gallovidia-Riff; GamisNord; Gamis-Ost; Gamis-Süd; Gapütz; Gathemann; Gemsbock; Gemsbocklaagte; Gemsbock-Vley; Georgspütz; Glückpütz; Glücksburg; Goldne-Aue; Gothemann; Grabstein; Grabwasser; Granitberg; Grasland; Grasplatz; Grauhof; Gröning; Groß-Aub; Groß-Aub; Groß-Aub; Groß-Aub; Groß-Aub; Groß-Ausis; Groß-Brukaros; Groß-Daberas; Groß-Dienaib; Große Bucht; Großer Fisch-Fluss; Groß-Fisch; Groß-Gabis; Groß-Goab; Groß-Haukubib; Groß-Huis; Groß-Kais; Groß-Karas-Berge; Groß-Kobib; Groß-Komasarab; Groß-Kosis; Groß-Kudais; Groß-Löwenberg; Groß-Manas; Groß-Nabas; GroßNabugeis; Groß-Okanjesu; Groß-Orua; Groß-Otjahewita; Groß-Owikango; Groß-Paresis-Berge; Groß-Springbockwasser; Groß-Tinkas; Groß-Tsaub; Groß-Ubib; Groß-Uchanab; Groß-Wilhelmbank; Groß-Witvley; Grünau; Gründorn; Gründorn; Grünecke; Grunewald; Grünfeld; Günthersau; Hageners-Pütz; Hagestolz; Halberstadt; Hanupan (Buschpfanne); Harmonie; Harnkranz; Hartmann-Vley; Hasenkapf; Havelberg; Hedwigslust; Heidelberg; Heilbronn; Heimat; Heinrichsfelde; Helgoland; HendriksVley; Hermannshof; Hoanib-Mund; Hochland; Hoffnung; Hoffnung- oder Ambrosia-
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Bucht; Hoffnungsfelde; Hohenau; Hohenfelde; Hohenfels; Hohenhorst; Hohewarte; Höhlen-Berg; Hohlweg; Hollam's (Hollands) Vogel-Insel; Hollam's Bucht; Holmanskuppe; Holzburg; Hornkranz; Hottentottenbank; Hottentotten-Bucht; Huab-Mund; Huab-Mund; Huib-Hochebene; Hums (Wolfsschlucht); Huns-Berge; Ibenstein; Jackals Berge; Jägerhof; Jakalsbank; Jakobs-Pütz; Jammer-Bucht; Johann-Albrecht-Quelle; Johannhöhe; Josefsbank; Jürgens; Kais (Tränental); Kalkfeld; Kalkfontein; Kalkfontein; Kalkfontein; Kalkhügel; Kaltenhausen; Kambele-Wasserfall; Kameelhaar; Kameldorn-Fluss; Kamelfeld; Kamelpfanne; Karlshorst; Karlsruh; Kattjesbank; Kegelberg; Kerbe-Huk; Kinderzit; King-Cross-Bucht; Kirus-Ost; Kleepforte; Klein-Aroroams; Klein-Aruchab; Klein-Aub; Klein-Aub; Klein-Aub; Klein-Aub; Klein-Aub; Klein-Aub; Klein-Ausis; Klein-Bank; Klein-Barnen; Klein-Daberas; Klein-Dienain; Klein-Erongo; Kleinfontein; Kleinfontein; Kleinfontein (Heinrichsfeld); Klein-Gabis; Klein-Garis; Klein-Gemsenwasser; Klein-Goab; Klein-Guigams; Klein-Haremub; Klein-Huis; KleinKais; Kleinkaras; Klein-Karas-Berge; Klein-Kobib; Klein-Komasarab; Klein-Kornus; Klein-Kubub; Klein-Kudais; Klein-Löwenberg; Klein-Nabas; Klein-Nabugeis; KleinNauas; Klein-Nosob; Klein-Okanjesu; Klein-Okaseka; Klein-Okatjeru; Klein-Otjahewita; Klein-Owikango; Klein-Paresis-Berge; Klein-Soris-Soriso; Klein-Tinkas; KleinTsaub; Klein-Ubib; Klein-Uchanab; Klein-Ums; Klein-Urus; Klein-Witvley; Klingenberg; Klippstal; Koichab-Mund; Koichas (Straußennest); Konebis (Kannenberg); Kranz; Kranzplatz; Kubis-Nord; Kunene-Mund; Lahnstein; Lang-Vley; Lehmwater; Leipzig; Lichtenstein; Lichtmanns-Vley; Linjanti Becken; Lochkolk; Lorenz-Pütz; Löwenfluss; Löwenfontein; Löwenkranz; Lübeck; Lüderitzbucht; Lüderitz-Bucht; Luisenhof; Lukasbank; Lukas-Werft; Maltahöhe; Margaretental; Marien-Quelle; Mariental; Marinkas Quellen; Marschall-Felsen; Martenfluss; Messum-Berg; Mittelpütz; MittelTinkas; Mundsfarm; Müritz; Nabikanna-Pfanne; Nadas (Löwen-Pütz); Nagel-Quelle; Nakab-Süd; Namoskluft; Namoskluft; Narobmund; Narrukranz; Nasep-Berge; NatibBerge; Natmakbank; Neudorf; Neuhof; Neuhof; Neujahrs-Vley; Neukluft; Neu-Loore; Niederhagen; Nora-Kuppe; Nordenberg; Nordfels; Nord-Huk; Nord-Rooiberg; NubibOst; Nubib-West; Obib-Berge; Oehlland; Ohlsenhagen; Omambonde-Ost; OmborokeBerge; Omitara-Berge; Onjati-Berge; Oranje Fluss; Oster Kliffs; Owahilas-Werft; Palgrane-Mine; Paradies; Paulsbronn; Pavianskranz; Pelikan-Spitz; Petersburg; Pfannental; Plattfontein; Pockenbank; Pockiesband-West; Pockiesbank-Ost; Pommern; Pomonapforte; Prinzenbucht; Pütz; Quaipütz; Remmhöhe; Ressau; Reuttersbrunnen; Rheinfels; Richardspütz; Richthof; Riet-Pütz; Rietquelle; Rietwasser; Ritmann; Robertsonsfarm; Rock-Bucht; Rohrbeck; Rooiberg; Rooikranz; Rosinbusch; Rössing; Rotenstein; Rotkuppe; Rotland; S. Franziskus-Bucht; Sachsen; Salpeter; Salzpütz; Salzwasser; Samariterbrunn; Sandbrunn und Kleinwasser; Sandfisch-Hafen; Sandfontein; Sandkraal; Sandmodder; Sandmund; Sandpforte; Sandpütz; Sandpütz; Sandpütz; Sandpütz; Sandrücken; Sandverhaur; Satansplatz; Sauerberg; Schakalskuppe; Schanzkolk; Schanzwüste; Scheppmannsdorf; Schlangenbort; Schmidtfeld; Schmitzpütz; Schneefonteen; Schnepfenrivier; Schuckmannsburg; Schürfpenz; Schwarzenfels; Schwarzenfels; Schwarzer Nusob; Schwarzer-Felsen; Schwarze-Spitze; Schwarzfontein; Schwarzkopje; Sechskannelbaum; Seeheim; Sendlingsgrab; Sendlingsschrift;
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Siegfeld; Skunbergs Quellle; Sommerfeld-Vley; Sophienhof; Spatzenheim; SpencerBucht; Spitzkopf; Spitzkoppe; Springbock; Springbockpfanne; Springbocktreck; Springbockvley; Springpütz; Stapel-Fls; Steinberg; Steinhausen; Stinkdorn; Stinkwasser; Stolzenfeld; Stolzenfels; Stölzens Brunnen; Straußberg; Streitdamm; Südfels; SüdRooiberg; Swakopmund; Swart Kloof Berg; Swartpütz (Schwarzbrunn); SwartSpitzkop; Sylvia-Höhen; Taubenwasser; Teschendorf; Teufelsburg; Teufelskop; Teufelsspitze, Thalheim; Tiefenbach; Tierkluft; Tiras-Hochebene; Trinkwasser; Trompeterlöscher; Truppenbrunnen; Tsawipütz; Tschaukaib-Berg; Ugibspütz; Unkenfels; Vakab-Nord; Vellor Nord; Vellor West; Vellor-Nord; Vleyfeld; Vogelstraußkluft; Voigtsgrund; Waldau; Waldburg; Waldheim; Walfisch-Bucht; Waltersdorf; Warmbad; Warmbad; Wasserfall (Wittenhorst); Wasserkop; Waterberg; Waterberge; Wattersdorf; Weißbrunn; Weissenfels; Weissenstein; Weißer Nusob; Weißrand-Gebirge; Wiese; Wiesental; Wilde-Beest-Pütz; Wildheim; Wildheim; Wildpark; Wildquelle; Wilhelmfeste; Wilhelmsruh; Wilhelmsruh; Wilhelmstal; Witkranz; Wittenberg; Wittklipp; Witt-Klipp; Wittkuhl; Wittpütz; Wolfsbank; Wolfsfontein; Wolfsgrund; Wolfspütz; Wolfswasser; Wördel; Wörtel; Wüstenkönig; Wüttport; Zackenberg; Zautmütz (Salztal); Zebra-Pütz; Zillertal; Zoutpütz; Zweikuppen-Berg; Zwei-Spitz; ZwiebelHochebene
Anne Storch
Gewissheit und Geheimnis Zunächst weiß man nicht, was das Volk über Unsichtbares denkt. Da hört man ein Wort, man geht ihm nach, oft Monate, Jahre lang, bis man endlich seine Fülle einigermaßen erkannt hat. Johannes Ittmann (KM 2: 3b3)
Abstract: In its colonial context, Africanistics has been defined as inherently interdisciplinary: the study of African languages was intended to unveil African thinking, history and culture. Early research on spirit language practices and secrecy had a particular meaning in this context, as it helped to produce images of ‘African thought’ alongside ideas about expert identities. Linguists and missionaries who wrote about spirit possession and secret language practices, in these texts therefore not only constructed the colonial Other (traditional, static, located in another time), but also were able to present themselves to a wider academic and metropolitan audience as highly specialized cultural brokers, border-crossing pioneers who were able to reveal the hidden secrets of the colonized parts of the world and explain them to other scientists. In this contribution, I focus on the mimetic interpretations of the colonial Other in Africanist texts on spirit possession and on the ways in which Africanists of this period performed and mimicked expert identities. Keywords: Africanistics, spirit language practices, colonial mimesis, expert identity, secrecy
1 Einleitung Die Linguistik in ihrer kolonialzeitlichen Form wollte nichts unbekannt lassen. Jedes Geheimnis sollte gelüftet werden, alles Unsichtbare so lange verfolgt, bis es sichtbar gemacht werden kann. Das trifft für Jahrtausende der Geschichte zu, wie auch für das, was von den Kolonisierten gedacht, geglaubt, ersehnt, erhofft wird (Warnke & Schmidt-Brücken 2011).
|| Anne Storch: Universität zu Köln, Institut für Afrikanistik und Ägyptologie, Albertus-MagnusPlatz, 50923 Köln. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-115
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Der Missionar Johannes Ittmann (1885–1963), der sich zwischen 1927 und 1940 in Kamerun aufhielt, gehört zu den wenigen dieser Zeit, die sich mit Geheimsprachen und Registern der Geistbesessenheit befasst haben, und dies in relativ umfangreicher Form. Seine Kommentare zu dieser Forschung, wie das obige Zitat, sind dabei in mehrfacher Hinsicht charakteristisch: selbstverständlich ist zu Beginn völlig unklar, welche Bedeutungen das Unsichtbare besitzt. Das Verborgene und Geheime existiert, bleibt Europäern aber normalerweise verschlossen. Bei Ittmann ist das anders, er geht dem Geheimnis auf den Grund, über Monate und Jahre, von 1927 bis 1940. Und am Ende, zuhause in der hessischen Provinz, am Schreibtisch, werden die vielen und tiefen Bedeutungen jedes einzelnen Wortes entschlüsselt und das Denken derjenigen, über die nun Ittmann nachdenkt, erklärt: Wer von der Seele eines Menschen etwas vernehmen will, muss auf sein Sprechen achten, denn in der Sprache spiegelt sich die Seele wider. Ja, in der Sprache eines Volkes offenbart sich nicht nur der Einzelne, sondern das ganze Volk, seine Beziehungen zum Schöpfer wie seine Haltung zur Umgebung. Wie geht einem das auf, je mehr sich einem durch das Mittel der eingeborenen Sprache das Volk selbst erschließt! (KM 2: 3b3)
Das entspricht zunächst einmal ganz dem, was die deutschsprachige akademische Afrikanistik in der Tradition Westermanns für sich reklamierte: Über die Sprache das Denken, die Kultur und die Geschichte der Menschen begreifen („Seeing Africa as an indivisible whole is the characteristic outlook of the Westermann school“, Köhler 1956: 218). Im Grunde ist diese Idee sicher älter und geht wenigstens auf die Zeit vor der universitären Etablierung der Disziplin zurück. Judith Irvine beobachtet, dass Wissen über Sprache im kolonialen Kontext als gleichbedeutend mit Wissen über eine als Rassengeschichte imaginierte Menschheitsgeschichte konzeptionalisiert werden konnte: Debates about African language families […] were seen not only as linguistic questions but as debates about human origins and racial history. To some scholars in the 1870s and 1880s, the depth of differences among language families was evidence of the fundamental separateness of human races. (Irvine 2001: 83–85)
Thomas Paul Bonfiglio sieht den Ursprung dieser Ideologien bereits in der europäischen Renaissance (Bonfiglio 2010; auch Mignolo 2000). Im Falle der Arbeiten Ittmanns zum Unsichtbaren und der Sprache der Geister geht es meiner Ansicht nach aber auch um etwas anderes. Das monatelange Suchen nach Bedeutung und die schließliche Einsicht kennzeichnen den Forscher und Experten, der mühsam Evidenz zusammenträgt und am Ende zu Einblicken zu gelangen scheint, die sonst niemandem gelingen würden; dies gilt auch jen-
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seits kolonialer Kontexte, ist hier aber in besonderer Form in hegemoniale Episteme eingebettet: Der in einer Klammer aus Idealismus, gesellschaftlicher Kritik und bürgerlicher Existenz inszenierte Experte ist bereits in Ittmanns Zeit Topos der Veranderung1 (Kramer 1987), ein Akteur des kulturellen und sprachlichen Zwischenraums, der von seinen Erfahrungen des Fremdseins und der Transgression selbst verändert wird. Paul Stoller beschreibt dieses Verändertwerden durch das Fremde, nach dem man selbst sucht, als living anthropology: Indeed, anthropologists are always ‘between’ things – between ‘being-there’, as the late Clifford Geertz put it and ‘being-here’, between two or more languages, between two or more cultural traditions, between two or more apprehensions of reality. Anthropologists are the sojourners of ‘the between’. We go and absorb a different language, culture, and way of being and return here, where we can never fully resume the lives we had previously led. (Stoller 2009: 4)
Dies trifft für die in ihrer Interdisziplinarität lange von der Ethnologie mitgeprägte Afrikanistik, bzw. für ihre Protagonisten, in vergleichbarer Form zu. Ich glaube aber, dass kolonialzeitliche Akteure, wie beispielsweise Johannes Ittmann, in einem sehr viel komplizierteren Verhältnis zum „Dazwischen“ standen. Sie wurden nicht nach Kamerun oder an sonstige Orte gesandt, um Erfahrungen zu sammeln und sich zu entwickeln, sondern um zu missionieren, administrieren, alphabetisieren und andere Leute dazu zu bringen, sich zu verändern. Diese Veränderungen schlugen sich nicht unbedingt in der von Missionaren und Kolonialisierenden intendierten Form nieder, sondern in Erfahrungen von Alterität und dem, was Santos (2014) Epistemizid nennt. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Erfahrungen war ihre performative Verarbeitung, etwa in Form von Geistbesessenheit und mimetischen Praktiken (Taussig 1993), die zu den zentralen sprachlichen Praktiken im kolonialen Kontext zählen. Sehr viel leichter nachvollziehbar sind vermutlich diejenigen Prozesse und Strategien, die ohne eine explizite Berücksichtigung des Dazwischen untersucht werden können und sich auf Sprachforschung beziehen, die sich nicht mit geheimen und verandernden kulturellen Praktiken auseinandersetzte. Aus der Perspektive der koloniallinguistischen Debatte bestehen die wirkmächtigen Absichten und Effekte kolonialzeitlicher Beschäftigung mit Sprache in Afrika daher in einer Reihe von Konstruktionen und Praktiken, die sich sehr gut aus den kolonialen Quellen und der Geschichte ihrer Institutionen ablesen lassen: Etablierung allochroner Konzepte des Anderen (Fabian 2002 [1983]) und evolutionistischer Ideologien (wie etwa der Hamitenhypothese; vgl. Pugach
|| 1 Othering im Englischen.
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2012 mit Fokus auf Carl Meinhof und seine Wirkung). Dabei wird Zeit als Ressource zur Konstruktion von Macht eingesetzt, was sich auch in der Art, wie die Ethnologie ihr Objekt konstruiert, manifestiert: der Andere wird in einer anderen Zeit, und zwar der eigenen (fernen) Vergangenheit lokalisiert – als anschauliches Beispiel „vormoderner“, „traditioneller“ Kulturen und Gesellschaften. Sprache wird in diese Konstruktion einbezogen, sodass afrikanische Sprachen als „primitiv“ und undynamisch gedacht werden können. Die z. B. von Meinhof imaginierte Einwanderung ‚hamitischer‘ Gruppen wurde dabei als Auslöser für Sprachwandel und damit eine evolutiv gedachte „Entwicklung“ zu größerer struktureller Komplexität konstruiert; der Andere und seine Sprache verharrten in diesen ideologischen Konstrukten in unbeweglicher Tradition, bis dass äußere Einwirkungen sie davon „erlösten“, wobei letztere gleichermaßen imaginierte Hamiteninvasionen wie Kolonialisierung und Mission sein konnten. Methodologien, die Datenproduktion mithilfe von Bewohnern von Flüchtlingslagern und Gefängnisinsassen einschließen. Judith Irvine (2008) beschreibt, dass bereits die frühen kolonialzeitlichen Quellen zur Kenntnis afrikanischer Sprachen aus Befragungen von out-of-context-Sprechern resultierte. So basieren die bedeutendsten afrikalinguistischen Quellen des frühen neunzehnten Jahrhunderts, etwa Hannah Kilhams Wortlisten von 1828 und Sigismund Wilhelm Koelles umfangreiche vergleichende Arbeiten von 1854, auf der Elizitation von Daten mit Hilfe befreiter Sklavinnen und Sklaven (Recaptives), die oft über Jahre oder Jahrzehnte verschleppt worden waren. Anette Hoffmann (2009) zeigt, dass zahlreiche Afrikanisten auch lange nach der formativen Phase ihrer Disziplin solche Formen der Wissensproduktion beibehielten. Während des Ersten Weltkrieges, aber auch bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein, wurden Kriegsgefangene afrikanischer Herkunft für Sprachaufnahmen herangezogen. Aus der Forschung unter solchen Bedingungen extremer sozialer Ungleichheit gehen Beschreibungen afrikanischer Sprachen als reduzierte Codes, als Sprachen ohne Register, Höflichkeitsstrategien, Kontext hervor (Irvine 2008, Lüpke & Storch 2013). Die Fixierung afrikanischer Sprachen, die als fluide Bestandteile flexibler Repertoires gebraucht wurden, in Form von verschrifteten und standardisierten Sprachen, als Teil ethnischer Identitätskonstruktionen und sowohl als Struktur als auch in ihrer geographischen Verbreitung als diskrete Entitäten gedachte Codes (vgl. z. B. Makoni & Pennycook 2005, Blommaert 2013, Blommaert et al. 2005) geht dabei nicht nur einher mit der Konstruktion lin-
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guistischer Forschungsobjekte, sondern wirft auch Fragen nach Besitz und Kontrolle in Bezug auf Sprache auf (Deumert & Storch im Druck). Im Hinblick auf Ittmanns Texte kommt nunmehr etwas ins Spiel, das sich weniger leicht greifen lässt, weil es viel weniger vertextet worden zu sein scheint, und weil es einen anderen Blickwinkel erfordert. Das, was üblicherweise nicht explizit gemacht wurde und in der kolonialen afrikanistischen Bibliothek weitgehend fehlt, nämlich eindeutige Texte über die Versuche und Wünsche der kolonialzeitlichen Afrikanisten, sich den Anderen anzueignen, indem sie zum Anderen wurden, erfordert einen Blick zurück, zur anderen Seite des Dazwischen. Dieser Wechsel der Perspektive wird im Folgenden versucht. Er soll zeigen, dass, obgleich Allochronie, asymmetrische Machtbeziehungen, Reduzierung und Fixierung von Kommunikation sehr wirkmächtige Strategien der kolonialen Vereinnahmung waren, es offenbar ein weiteres Moment gab, das zahlreichen einzelnen Akteuren, wie etwa Ittmann, eine Aneignung des Fremden erlaubte. Diese in linguistischen Quellen dennoch nachvollziehbare Strategie beschreibe ich als eine Form kolonialer Mimesis (Roque 2015). Während sich zahlreiche wegbereitende Studien zu kolonialer Mimesis eher mit den mimetischen Interpretationen des Anderen durch nicht-europäische Akteure befassen (z. B. Blackburn 1979, Taussig 1993, Bhabha 1984, Kramer 1987), hat sich die Perspektive in den letzten Jahren verändert, und wichtige jüngere Forschungen setzen sich mit Mimesis als einer Form der Generierung von Macht und ihres symbolischen Ausdrucks bei den europäischen kolonialen Akteuren auseinander (vgl. Gable 2002, Grosse 2003). Es geht dabei also um „[...] the role played by processes of imitation and mimesis in colonial situations from a reverse perspective, that is: as a process and as a practice of the colonizers themselves that could bear productively on colonial relations of power.“ (Ferreira 2012).2
2 Gewissheit Koloniale Mimesis im Sinne dieser „verdrehten“ Perspektive ist nicht unbedingt ein going native, wie es im späten 19. und 20. Jahrhundert in zahlreichen For-
|| 2 Ein umfangreiches Projekt zu diesem Phänomen im lusophonen Asien und Afrika wird seit einigen Jahren von Ricardo Roque (Lissabon) und seinem Team durchgeführt; diese Definition entstammt dem mission statement des Projekts.
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men (und als Ausdruck einer Moderne, die untrennbar mit dem Kolonialismus verknüpft bleibt) auch gepflegt wurde. Vielmehr ist es eine Form der interpretativen Aneignung des Anderen, deren mimetische Praktiken nicht unbedingt mit einer Lokalisierung am Ort des Anderen, in den Kolonien und im Feld, einhergingen, sondern translokal waren. Die kamerunischen Wortlisten und Sprachproben Ittmanns wurden teils noch vor Ort, teils erst wieder in Deutschland ausführlich kommentiert und erklärt. Wenn man sich diese Kommentare zu den Geistersprachen und geheimen Kultsprache genauer ansieht, fällt vor allem eines auf: Ittmann ist sich völlig sicher, er weiß jetzt alles. Im folgenden Text gibt es keinen Konjunktiv, kein „es scheint als ob“, und die so verfassten Erklärungen zu den elizitierten Wortlisten und Textproben bieten sehr weitreichende Schlussfolgerungen über das Wesen und Denken der hier Beschriebenen: Damit aber stehen wir auf dem Gebiet des Glaubens, d. h. des eigentümlichen Verhältnisses zur unsinnlichen und übersinnlichen Welt, zu Dingen, Geistern, Dämonen und Kräften, aber auch zur Gottheit als Schöpfer und Richter aller. Hier enthüllt sich uns ein Bild dessen, was den Kameruner innerlich beschäftigt, was den Kampf seines Lebens ausmacht, das, was wir an Vorstellungen zusammenfassen in den Ideen des Dynamismus, Totemismus, Animismus, Dämonismus, aber auch die Frage nach dem Gottesbewußtsein; es zeigen sich aber auch die sich aus diesen Anschauungen ergebenden Gebräuche in Magie und Kult. (KM 2: Einleitung)
Das ist keine Eigenart Johannes Ittmanns, sondern ein Muster, das sich in allen, in ihrer Anzahl wie erwähnt recht überschaubaren, Quellen zu Geheimsprache und Geistbesessenheit dieser Zeit wiederholt (Meinhof 1894, Van Gennep 1908, Frazer 1989 [1922]). Ein Beispiel für das Bemühen, Sprache in diesem kulturellen Kontext zu präsentieren und zu erklären, ist Diedrich Westermanns Aufsatz über sprachliches Tabu und Sondersprachen in Afrika (1940). Dieser Text stellt einen der frühesten Versuche dar, einen organisierten Überblick über Register in afrikanischen Sprachen zu leisten, wobei Westermanns eigene Studien zu einer Kultsprache, die mit dem Ewe verknüpft ist, im Mittelpunkt stehen. Die anderen Beispiele, auf die er sich bezieht, sind Artikeln und persönlichen Berichten von Missionaren entnommen. Westermann betont in der Interpretation der Daten die „traditionelle Natur” von Tabu in Afrika, das er in einer gewissen Dichotomie zu Sprachtabu in Europa situiert. Damit ist ein zentraler Aspekt von Sprachregistern in Afrika der Glaube an eine „Macht des Wortes“: „Kraftgeladen ist unter gewissen Umständen auch die menschliche Rede, und auch sie muß deshalb mit Sorgfalt gehandhabt werden“ (Westermann 1940: 3).
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Wie Sprache mit besonderer Vorsicht behandelt werden muss, welche besondere Aufmerksamkeit ihrer Wirkmächtigkeit geschenkt werden soll und welche Register erlernt oder erworben werden müssen – etwa während einer Initiation – ist für Westermann ein kennzeichnender Teil der Sprachpraxis und Sprachideologie von Afrikanern. Register, Tabu und die Komplexität soziolinguistischer Konstellationen sind dabei ein Merkmal der traditionellen, archaischen Kulturen, die diese Sprachen tragen, und somit genau da verortet, wo nach Johannes Fabian die „Eingeborenen“ der Ethnologie sind, nämlich in der eigenen Vergangenheit der Europäer, vgl.: Die Priester sprechen sie [i.e. die Geistersprache], wenn sie vom Geist ergriffen sind. Über die Herkunft der Sprache ist Näheres nicht bekannt; sie wird wenigstens teilweise der Rest einer im übrigen ausgestorbenen Sprache sein: die Sprache der Ahnen, die in den Priester eingegangen sind und aus ihm reden. (Westermann 1940: 7)
Weder über Johannes Ittmann noch Diedrich Westermann ist bekannt, dass sie sich den jeweiligen Geheimbünden oder Schreinen angeschlossen, jemals ein Huhn geopfert hätten oder gar in Trance gefallen wären. Sie konstruieren dennoch eine Gewissheit, die eine Partizipation erfordert hätte, so wie etwa Paul Stoller (1984, 1995) und Michael Taussig (1993) sie beschreiben. Aber darum geht es in Ittmanns und Westermanns Texten nicht. Die frühen Akteure einer in akademische Institutionen integrierten Afrikanistik konstruieren ihre Agentivität durch die Inanspruchnahme von Gewissheiten. Sie sind durch ihre wissenschaftliche Ausbildung und ihre Bereitschaft zur temporären Existenz „im Dazwischen“, die als Idealismus, Dienst an Afrika usw. gelesen werden kann, ermächtigt, sich als „Eigentümer“ der sprachlichen Formen und kulturellen Praktiken, die sie beschreiben, darzustellen; dies geschah auch in populärwissenschaftlicher Form: Meinhof’s lectures, which were eventually incorporated into books such as Die Dichtung der Afrikaner (1911), were popular because they were intended for a general audience instead of a professional one, and made a concrete effort to link Germans and Africans together in a common humanity. (Pugach 2012: 129f.)
Der diesbezügliche Diskurs wird in Missionsperiodika, öffentlichen Vorträgen, populären Textbeiträgen u.ä. geführt. Vor einem damaligen missionsinteressierten oder kolonialrevisionistischen Publikum, aber später auch im akademischen Kontext (in Nachbarschaft zur Klassischen Philologie, Indogermanistik, den Nationalphilologien usw.) erschienen diese Akteure als genau die Wanderer zwischen den Kulturen und von den jeweiligen afrikanischen Gesellschaften Integrierte, auf die Stoller, wie oben zitiert, verweist:
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‚Für ihn waren die afrikanischen Sprachen nicht zunächst sprachliche Systeme, wie es deren viele auf der Welt gibt, sondern Ausdruck des Afrikaners, dem seine große Liebe galt. Ich erinnere mich noch, wie er vor Jahren einmal sagte, hinter allen seinen Studien interessiere ihn der afrikanische Mensch‘ (J. Lukas 1957: 1). Die in diesen Worten enthaltene Einschätzung des Wissenschaftlers und Menschen W[estermann] kommt von afrikanischer Seite am besten zum Ausdruck, daß am 16.9.1956 in allen Kirchen Togos Gedächtnisgottesdienste für W[estermann] abgehalten wurden. (Jungraithmayr 1983: 267f.)
Die mimetische Aneignung der geheimen, zumindest verborgenen sprachlichen Praktiken der Afrikaner geschieht, indem man deren kulturellen und historischen Kontext konstruiert und als das präsentiert, was dieses Konstrukt eigentlich ist, nämlich etwas, das einem selbst gehört. Die Kommentare Ittmanns, die Rekonstruktionen Westermanns, ihre Erklärungen zum Wann, Warum und Wie der Geistbesessenheit und Geheimkulte waren stets ihre eigenen Interpretationen von etwas, das sie beobachten, aber in das sie nicht eindringen konnten oder wollten (oder beides). In den jeweiligen Institutionen, denen sie angehörten – Universität und Mission – wurden diese Formen der Mimesis, der nachahmenden Interpretation des Anderen mit dem Ziel des Gewinnens von Macht und Kontrolle über dieses Andere als tiefe und wohlwollende Einsicht interpretiert3. Diedrich Westermanns Forschung über das Ewe machte ihn in den Augen seiner Zeitgenossen zu jemandem, der tief in die Kultur der Ewe eingedrungen und ein wenig wie sie geworden war. Wenngleich sich also Linguisten und Missionare wie Westermann und Ittmann auf die Hilfe von „Sprachgehilfen“ verlassen konnten, die sie, wie beispielsweise Westermann, auch intensiv an der Heimatuniversität (und nicht im „Feld“) befragten, so konnten sie aber auch ihr eigenes Wissen nutzen, um über Kulturen und Geschichte, die sie nun immer mehr als Teil ihrer selbst auffassten, zu berichten. Die Glaubwürdigkeit dieser Forscher und ihrer Gewissheiten wurde durch ihre Zugehörigkeit zu autoritären Institutionen gestützt und vermehrt (Pugach 2012). In dem Maße, wie diese Institutionen auch in den kolonisierten Räumen Verbreitung fanden, wurden ihre diskursiven Regimes auch dort autorisiert, wo sich die Objekte ihrer Forschungen befunden hatten: „In Nigeria, we think German linguistics is the best in the world ... those who first studied African languages here.“ (Interview AS mit Judith Mgbemena, Federal University Wukari, Nigeria). In diesem Prozess wurde genau das in Besitz genommen, was sich zuvor der Produktion fixierter und reduzierter Codes beharrlich entzog: Die subversiven,
|| 3 Vgl. auch Warnke & Stolz (2013) zu benevolentem Paternalismus als Merkmal kolonialer Diskurse.
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parodistischen und agentiven Formen von Kommunikation, die sowohl mit der Demaskierung kolonialer Macht als auch der Konstruktion ihr entgegengesetzter Kräfte zu tun hat. Durch den Rücktransfer des geheimen Wissens durch die Institutionen und Medien, derer sich Linguisten und Missionare bedienen konnten (Bildung, Kirche, Bücher) ist die rasche Aufdeckung des Geheimen unumgänglich geworden.4
3 Geheimnis Obgleich die Geistersprachen und Kultsprachen, über deren Erforschung sich kolonialzeitliche und spätere Sprachwissenschaftler Einblicke in „Denken und Kultur“ von Afrikanerinnen und Afrikanern zu verschaffen gedachten, auf etwas Verborgenes, Geheimnisvolles verweisen, werden diese Sprachpraktiken doch vor allem in ihren Konstruktionsmechanismen analysiert und ihrem soziokulturellen Kontext präsentiert. Das Geheimnis, das in genau diesem Kontext verankert ist, tritt dabei jedoch weniger in den Vordergrund. Die Geistersprachen und Register, um die es im Folgenden geht, sind insofern geheim, als sie Initiierten vorbehalten waren bzw. sind, etwa in Schreinen, Maskenbünden, aber auch in Institutionen sakralen Königtums. Offenbar liegt der Konstruktion unverständlicher Sprache hier aber nicht nur das Interesse an Geheimhaltung zugrunde. Sie wird in Inszenierungen eingebunden und so auch Nichteingeweihten zugänglich gemacht, weist immer wieder auf bekannte Wörter und Bedeutungen zurück und ist hörbar und entschlüsselbar5. Michael Taussig beschreibt dieses „öffentliche Geheimnis“ als die Basis von Macht, wobei das Entschlüsseln oder Demaskieren dem Erkennen der dem Geheimnis innewohnenden Macht dient und häufig Teil der Darstellung ist. Es darf also kein wirkungsvolles Geheimnis völlig verborgen bleiben, sondern es muss immer ein Zipfel der apokalyptischen Decke weggezogen sein, damit das, was hinter dem Vorhang existiert, wenigstens erahnt und dann erst auch gefürchtet werden kann: „Indeed it is the task of unmasking, in such circumstance of public secrecy to both reveal and conceal, and so augment the mystery that lies not
|| 4 Das ist an sich kein Phänomen der späteren Kolonialzeit; bereits im späten 18. Jh. hatte die Übersetzung der bis dahin geheimen, nur Brahmanen vorbehaltenen vedischen Schriften aus dem Sanskrit ins Englische sowie die Verbreitung dieser Übersetzung das soziale und kulturelle Gefüge indischer Gesellschaften erschüttert (Pollock 2006). 5 Im Gegenteil zu geheimer Sprache in anderen Kontexten, etwa der Kryptographie, oder als Modus sozialer Abgrenzung (z. B. Aikhenvald & Storch 2013: 2f., Storch 2011: 53ff.)
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behind the mask but in the act of unmasking itself” (Taussig 1999: 105 Hervorhebung Autor). Die meisten dieser Sprachen werden durch semantische, phonologische und morphologische Manipulationen auf der Wortebene konstruiert (Storch 2011). Diese Konstruktionsmechanismen sind alles andere als trivial und Teil einer semiotisch komplexen Inszenierung, bei der bereits die Wahl des Registers eine Bedeutung besitzt, indem sie auf ein bestimmtes spirituelles Wissen rekurriert oder Handlungsmacht andeutet. Häufig haben auch die Manipulationsstrategien an sich eine Bedeutung, und das Sprechen, das auf das Nichverstandenwerden zielt, die abweichende Sprache, können dabei auch immer Signifikate der Kritik und des Widerstands sein: Words and alternative ways of talking [...] have served as weapons against oppressive authority, vehicles for solidarity among all manner of disenfranchised peoples, and instruments of extraordinary art. (Cara 2011)
Die Praxis der Sprachmanipulation ist dabei ein Aspekt afrikanischer Kommunikation, an dem Westermann und Ittmann durchaus interessiert sind und worüber in einschlägigen Periodika gelegentlich publiziert wird, aber die kulturellen Konzeptionalisierungen und lokalen theoretischen Modelle, in denen sie gerahmt sind, werden in der Regel ignoriert.6 Aber dennoch bieten beispielsweise Ittmanns Studien, in denen Sprachdaten detailliert und präzise dargestellt werden, die Möglichkeit von Analysen und Interpretationen von Sprachpraxis in einigen westafrikanischen Gesellschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ittmann hatte in Kamerun diesbezüglich vor allem Daten gesammelt, die sich mit Geistbesessenheit bei Sprechergemeinschaften des Duala, Mokpe (Bakwiri), Kundu und Lue befassen. In einem späten Beitrag von 1960 beschreibt er das gesamte grammatische System einer Geistersprache, die in einem Jɛngu-Kult gebraucht wurde und zeigt, dass diese der Matrixsprache hinsichtlich des Nominalklassensystems, der Verbextensionen, TAM-Markierung usw. entspricht. Das Vokabular der Geistersprache kommt aus dem Mokpe, wobei semiotisch augmentierende Strategien
|| 6 Dies ist zugleich die Domäne, in der Schriftlichkeit eine Rolle spielt: Sprachen ohne Schrift werden in europäischen Sprachideologien oft als Sprachen konzeptualisiert, in denen sich keine eigene, lokale metasprachliche Theorie oder Ideologie entwickeln kann. Die westliche Linguistik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts konzentriert sich auf die Binarität imaginierter oraler und schriftlicher Kulturen, wie Battestini (2007) und Tuchscherer (2007) überzeugend darstellen, mit der Konsequenz, dass sich der „traditionellen” Kultur Konzepte wie „Schriftzivilisation” und „Hochkultur“ gegenüberstellen lassen.
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wie Stammreduplikation (Nomen) und Pränasalierung des Initialkonsonanten (Verb) auffallen (I: Ittmann 1957: 153, II: Ittmann 1960: 171f., Mokpe: Connell 1997; aus Storch 2011): (1) I
Mokpe mòtò ‘Person’ ìya ‘Mütter’ nyàmà ‘Tier, Fleisch’ mɔ̀ni ‘Geld’
Jɛngu monjenga monyanya mondondo elengelenge
Quellwort < mɔ̀ndenge ‘Gruppe’ < mònyà ‘Schwieger-’ + REP < mòndo ‘Schwanz’ + REP < èlènge ‘ordinär’ + REP
II
jâ ‘kommen’ nànga ìjɔ̑ ‘schlafen’
ngɛlɛ njɔmbɛ
< N + jɛ̀lɛlɛ ‘kommen für’ < N + yɔ̀mɛ̀ ‘faul’
In (I) finden sich zunächst drei Substantiva, die im Jɛngu ein Nominalklassenpräfix mo- aufweisen, das Personen im Singular kennzeichnet. Das Präfix bildet nicht nur Teil einer Strategie der Vermehrung phonologischen Materials (was sich symbolisch als Vergrößerung der Macht des jeweiligen Wortes deuten lässt)7, es klassifiziert den jeweiligen Referenten auch als belebt und beseelt (im Kontrast zu sächlich, tierisch usw.). Dazu kommt, dass Nominalstämme im Jɛngu redupliziert werden (-nyanya, -ndondo usw.; eine weitere symbolisch augmentierende Strategie) oder phonologisch manipuliert werden (z. B. -njenga). Quellwörter, die keine Substantive sind, wie èlènge, erhalten kein Nominalklassenpräfix, sondern werden lediglich redupliziert. Solche Formen der Differenzierung in der manipulativen Behandlung der Quellwörter zeigen, dass sich die Konstrukteurinnen und Konstrukteure des Jɛngu über Unterschiede zwischen Wortklassen durchaus bewusst sind. Bei Verben findet vor allem eine semantische Manipulation statt, das heißt es gibt kein ‘schlafen’, sondern nur ‘faul (aber wach) sein’ und kein ‘kommen’, sondern ‘kommen für’. Verben sind im Jɛngu in ihrer Semantik viel agentiver, sodass Handlungen von Geistern als volitionaler, stärker und reicher an Konsequenzen interpretiert werden können als diejenigen von Menschen. Die morphophonologischen Manipulationen bei Verben sind relativ transparent; der Präfigierung eines homorganen Nasals folgt eine Assimilation des Anlautkonsonanten. Nasale Konsonanten in Wortmitte schließlich werden durch Nasalverbindungen ersetzt, wie in njɔmbɛ.
|| 7 Interpretationen wie diese können ihrerseits immer auch als eine (postkoloniale) Aneignung wie bei Ittmann verstanden werden, was sicher ein Grundproblem jedweder deskriptiver linguistischer Arbeit darstellt, das hier nicht gelöst werden kann.
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Die zu beobachtenden semantischen Manipulationen finden sich häufig in Sprachen, die in Tranceritualen gebraucht werden, vor allem was hyperbolische Ausdrücke anbetrifft („Person“ > „Gruppe“; Storch 2011). Dieses Phänomen lässt sich auch in anderen Sprachgenres finden, wie z. B. in Jugendsprachen (Nassenstein 2014). Für den kolonialen Kontext interessanter ist vermutlich Ittmanns Beschreibung von Mimesis, die nicht nur auf der Vermehrung von Handlungsmacht durch Vergrößerung der Worte beruht, sondern eine bestimmte Sprachmodalität als noch machtvoller als Geistersprache selbst interpretiert, und zwar die schriftlich fixierte Sprache (Ittmann 1957: 143): Gewöhnliche Menschen müssen beim Passieren verrufener Stellen oder, wenn ihnen mengú [= Geister] im Sturm begegnen, diese durch eine Gabe beschwichtigen, damit sie nicht zu Schaden kommen. Das geringste und zugleich billigste Opfer ist ándjòea, Duala: poma ‚kultisch spucken’, d. h. ein Spuckhauchopfer bringen. […] E i n Mittel aber steht jedem zur Verfügung, um die mengú zu vertreiben; das ist irgendein Buch oder nur ein Stück Papier; diesem starken Mittel sind die Unholde nicht gewachsen.
Die Zuordnung von Handlungsmacht zu Schrift mag mit kolonialen Schulen und Mission zusammenhängen und in mimetischer Weise die Macht, mit der koloniale Institutionen lokale Epistemologien marginalisierten, zum Ausdruck bringen: der schriftliche Text – etwa die Bibel – überwältigt die in gesprochener Geistersprache repräsentierten Jɛngu-Geister. Interessant an Ittmanns Texten ist, dass ihn das nicht besonders interessiert, und dass die subversiven Momente der Praktiken zeitgenössischer JɛnguAnhänger eher ignoriert werden, so dass sich das Bild eines traditionalen Kults ergibt, der mit der kolonialen Erfahrung wenig zu tun hat. Mehr noch, der einzige wirkliche Bezugspunkt zwischen den Sprachforschungen Ittmanns und den kommunikativen Praktiken der Jɛngu-Anhänger, die symbolische Integration des Schriftstücks, wird kurz erwähnt, erfährt aber keine weitere semiotische Deutung. Im wissenschaftlichen Essay als einem Textgenre, das so definiert ist, dass in ihm alles erklärt und gedeutet werden muss – die Altertümlichkeit der Kultsprache, die Innerlichkeit der Kameruner usw. – ist das bemerkenswert. Die Abwesenheit einer ausführlichen Deutung macht jedoch Sinn, denn was im Jɛngu-Kult getan wird, ist eben offenbar nicht das Bannen lokaler Geister, sondern auch eine mimetische Interpretation des Anderen. Der Andere ist in diesem Falle ein europäischer Missionar oder sonstiger kolonialer Akteur. Diese kraftvolle Mimesis zu dechiffrieren, oder sie in ihrer Funktion als indirekte Kommunikation eines Kommentars zur kolonialen Erfahrung anzuerkennen, hätte Ittmanns Strategie durchkreuzt und das Signifikat des traditionalen, der Erweckung bedürftigen, selbstlos geliebten kolonialen Subjekts zerstört.
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Auch die anderen kolonialzeitlichen Quellen zu Geheimsprachen und Geistersprachen verschweigen ihren mimetischen Charakter, sofern sich die Imitation auf Europäer bezieht. Lediglich Anna Rein-Wuhrmann scheint sich hierzu klarer geäußert zu haben. Sie war 1911 als Missionsarbeiterin der Basler Mission nach Bamum gekommen und hatte dort eine Bekanntschaft mit Njoya, dem Sultan von Fumban gepflegt. Heute sind vor allem noch ihre Fotografien aus dieser Zeit bekannt, aber der hier interessantere Beitrag sind ihre im Aufsatz von Dugast (1950) zitierten Äußerungen: sie berichtet, dass der Sultan, offensichtlich infolge seiner Begegnungen und Erfahrungen mit dem Kolonialen, begonnen hatte, eine geheime Schrift sowie eine Geheimsprache zu entwickeln. Sie wurde aus diesem Grund häufiger in den Palast gerufen, um dort als Informantin den Sultan mit Daten zu versorgen. Der Sultan elizitierte mit ihr Wörter, die er, nach ihrer Beschreibung, für „schön“ im Sinne von charakteristisch hielt. Die elizitierten Formen wurden in die Geheimsprache integriert; es waren offenbar vor allem englische, französische und deutsche Wörter, z. B. „großer König“ (rɔskɔnik), „Ordnung“ (ɔrnu), „links“ (liŋs), „kommst du“ (komstu) usw. (Dugast 1950). Sultan Njoyas Schrift und Geheimsprache sind sehr gut erforscht worden (Tuchscherer 2007, Loumpet-Galitzine 2006, Storch 2011). Andere Imitationen der kolonialen Europäer sind noch bekannter geworden: die Trancepraktiken des Hauka-Bunds aus Niger und die Semiotik ihrer Performanz sind Gegenstand von Jean Rouchs ethnographischem Film Les Maîtres Fous (1953/54). Rouch zeigt eine Gruppe Männer aus dem Niger, die sich in Accra mit einfachen Arbeiten verdingen. Am Wochenende fahren sie gemeinsam zum Treffpunkt ihres Kultbunds, um dort ein Tranceritual abzuhalten. Die Männer werden von Geistern kolonialer Akteure ergriffen – der Frau des Admirals, der Dampflokomotive, dem Arzt, verschiedenen kolonialen Administratoren. Die Besessenen befinden sich in einem Raum absoluter Inversion: sie sind nun nicht nur mächtig anstelle ihres alltäglichen Ausgeliefertsein, sie tun auch all das, was sie, wenn sie nicht das Koloniale verkörpern, nie tun würden: einen Hund schlachten und annähernd roh verzehren, blutige Kultopfer an Geister darbringen und dergleichen mehr. Wir hören nicht, was sie im Zustand ihrer Besessenheit sagen, aber wir bekommen einen Eindruck von der Metaphorik des Rituals, als Rouch ein Bild zeigt, das in seiner Symbolkraft sehr stark ist: einem aus Lehm geformten Idol wird geopfert, indem ein rohes Ei auf seinem unförmigen Haupt zerschlagen wird. Die nächste Szene zeigt eine britische Militärparade in Accra, auf der die Kavalleristen federgeschmückte Dreispitze tragen. Das Ei, das für die Paradeuniform mit ihren Hahnenfedern am Hut der Reitenden steht, ist eine ebenso präzise wie reduzierte Chiffre, wie sie auch für die anderen Geister gebraucht wird. Fast das gesamte Pantheon der in den 1920er
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Jahren unter den Songhay in Niger entstandenen Hauka-Bewegung setzt sich aus Figuren zusammen, die perfekte Metaphern des Kolonialen sind und viel Raum für die Imitation des Anderen bieten (Rouch 1960: 74–75): (2)
Istanbula, lebt in Istanbul, ein frommer Muslim und Anführer aller Hauka Gomno, der koloniale Gouverneur des Roten Meers Zeneral Malia, General des Roten Meers King Zuzi, König aller Richter (frz. juge) Mayaki, Krieger und Soldat (Hausa mai yaƙi) Korsasi, der böse Major, der manchmal das Geistmedium tötet Sekter, Sekretär Kapral Gardi, Korporal der Garde, der Eisen zerbrechen kann Babule, Schmied Falimata Malia, Frau von Zeneral Malia Cemoko, Junge, der Silber aus dem Boden holen kann
Paul Stoller (1984) begreift die mithilfe dieser Figuren stattfindende Performanz kolonialer Mimesis als eine „entsetzliche Komödie“, ein zutiefst beunruhigendes Schauspiel, welches Grauen und Humor verknüpft. Stoller präsentiert Beispiele der von den Hauka gesprochenen Geistersprachen, die sich zahlreicher emblematischer Formen der Veranderung bedienen: phonologisch manipulierte französische Lexeme, kurze imperative Phrasen in Hausa, längere Passagen auf Songhay, alles expressiv und wirkungsvoll kombiniert (Stoller 1995: 158). (3)
Sha vas Mershi To, Anasaara hinka no. Tu as conay?
‘Wie geht es?’ ‘Danke’ ‘Okay. Es sind zwei Europäer da. Weißt du das?’
Stoller beschreibt seine Teilnahme an einem Hauka-Ritual, bei dem von ihren Medien verkörperte Geister ihn ansprechen. Die gesamte „entsetzliche Komödie“ ist, auch in den siebziger Jahren, noch immer eine Inszenierung von Erfahrungen kolonialer Differenz (Stoller 1984: 270): In this last sequence of interaction, Lokotoro addressed me as anasara, which signifies that we are no longer in the same social category. ‘Anasara, ça vas?’ is a linguistic device the Songhay use to distance themselves from the European. We are suddenly in different categories because he had asked me for a contribution. This sudden shift is a comic slap in my face. And so we have here the terrifying possessed figure of Lokotoro burlesquing a European doctor and equating himself with the only white person in the audience. This is a ridiculous situation; it is also a means of defining the Songhay vis-a-vis the European colonizer.
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The interaction creates and maintains distance between the encroaching European civilization (me, in this instance) and the essentials of Songhay cultural identity.
Ähnliche Identitätskonstruktionen und Bedeutungen werden im Bori-Kult in Nordnigeria und angrenzenden Regionen vermittelt. Die Europäergeister sprechen auch hier niemals irgendeine verfremdete afrikanische Sprache, sondern einen äußerst fluiden Code, der charakterisiert ist durch ständiges Wechseln zwischen Hausa, Englisch und Französisch (Krings 1999) – etwa so, wie kommunikative Modalitäten (Rede, Schrift) im Jɛngu-Kult gemischt sind: (4)
mai yaƙi ɔfèn zi maus a bɛg a bɛg öffne den Mund ich bitte ich bitte ‘Mai yaƙi, sprich, bitte, bitte, mai yaƙi, okay’ NAME
mai yaƙi afɔ ah.bon
NAME
Die mimetische Inszenierung des Anderen ist hier und im Hauka-Kult bruchstückhaft, wie jede Mimesis unvollständig bleibt (im Gegensatz zur künstlerischen Aneignung einer Rolle; vgl. Kramer 1987: 240). Der Grund ist simpel: bei diesen mimetischen Interpretationen geht es niemals um die Angleichung an etwas, das so ist wie man selbst (ein Familienmitglied, ein Dorfbewohner ...), sondern an das, was man weder ist noch sein sollte. Hier sind dieses Andere die Europäer – Protagonisten, denen man im kolonialen Machtgefüge nicht gleich sein konnte und die man aber aus der eigenen kulturellen Perspektive als die Anderen konzeptionalisiert. Mimesis beruht damit auf zwei Prämissen: 1. die imperfekte Imitation signalisiert immer die Verkörperung des Anderen, 2. die Differenz zwischen dem Selbst und dem Anderen ist nicht eine subjektiv definierte, sondern eine gesellschaftlich anerkannte. Eine besonders stark erlebte Differenz, eine traumatisches Erfahrung des Anderen kann dabei zur Mimesis zwingen, die – etwa in Tranceritualen – auch kathartische, heilende Wirkung hat. Dieser Sachverhalt wird gelegentlich zur Erklärung für die vielfältige Entstehung von Geistbesessenheitskulten im kolonialen Afrika genannt (Stoller 1995). Fritz Kramer betont außerdem die Fähigkeit zur Adaption, welche diese Kulte besaßen (Kramer 1987: 213ff.): auch vorkoloniale alte Kulte ließen sich auf die neuen Erfahrungen von Kolonialismus und die daraus resultierenden Traumata beziehen. An dieser Stelle kommen wir noch einmal auf Johannes Ittmann zu sprechen. Insbesondere auf seine Texte zum Jɛngu-Kult bezieht sich Kramer in seiner Betrachtung des Mami Wata. Dieser Kult um hellschimmernde und häufig weibliche Geister, die, halb Mensch, halb Fisch, im Wasser leben, ist über weite Teile Westafrikas, aber auch im Gebiet der großen Seen Ostafrikas sowie in der karibischen afrikanischen Diaspora präsent. In Teilen Kameruns heißen seine nixenhaften Wassergeister Mengu, ihr Kult Jɛngu. Kramer interpretiert die helle Haut der Mengu und ihre Existenz unter der Wasseroberfläche als
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den Ausdruck von Inversion, das heißt diese Geister personifizieren das sozial vereinbarte Andere. Die Metaphorik ihrer Inszenierung und Sprache ist dabei relativ eindeutig: An der Guineaküste, von Sierra Leone bis zur Mündung des Zaire, und an vielen Strömen und Seen Afrikas begegnet uns das Gegenbild, das ‚Andere‘ der jeweils eigenen Kultur zuweilen unter der Form einer mythischen Welt, die, am Grunde des Meeres, der Flüsse oder Seen gelegen, die Ordnung des Lebens auf dem Land in der Natur des Wassers und seiner Fauna widerspiegelt. [...] [Hier] erfüllte das differenzierte Inventar der Wassergeister eine ähnliche Aufgabe wie das der ethnischen Typen in den Besessenheitskulten Ostund Zentralafrikas. (Kramer 1987: 213)
Die Gestaltung der Mengu-Schreine als europäische Schminktische, auf denen Opfergaben in Form westlicher Luxus- und Kosmetikartikel arrangiert sind, und auch die Konzeptionalisierung der Wassergeister als Europäerinnen findet nach Kramer konkret als Ausdruck der Erfahrung mit dem Kolonialen statt. Was Ittmann (1957, 1960) also in seiner Beschreibung der Jɛngu-Sprache und ihres Kontexts seinem europäischen Publikum präsentiert, sind nichts anderes als Europäerinnen: In der Kolonialzeit – und zum Teil bis heute – wurde es in weiten Gebieten der Guineaküste, zum Teil auch in Zentral- und Ostafrika, üblich, die Nixen wegen ihrer hellen Hautfarbe, ihres langen glatten oder welligen Haars, wegen ihres Reichtums und wegen ihrer Fremdheit und Unberechenbarkeit mit Europäerinnen gleichzusetzen oder sie zumindest als mit deren Attributen ausgestattet vor- und darzustellen. (Kramer 1987: 221)
4 Koloniale Parodien und ihre Wirklichkeit Was sind die wesentlichen Schlussfolgerungen, die sich aus der Betrachtung kolonialzeitlicher Texte über das „eigene Andere“ ziehen lassen? Als eine Form kolonialer Mimesis stehen diese Texte für eine bestimmte Strategie der Aneignung und der Konstruktion von Expertenidentität: Der Afrikanist wird zum Kenner, zum eigentlichen Bewohner dieser afrikanischen Sprachen und Kulturen, er hält sich dort auf, weiß Bescheid, ist Teil davon. Er wird zum Sprecher dieser verborgenen Sprachen, zum Bewahrer und Verräter des Geheimnisses, das diese Sprachen offenbar umgibt. Auch wenn die kolonialen Texte über die Besessenheitskulte Westafrikas aus heutiger Sicht wie eine Parodie erscheinen (was sehr für ihren mimetischen Charakter spricht), konstituiert sich in diesen Texten Wirklichkeit, ebenso wie
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in den Berichten über phantastische Orte und legendäre Stätten, die in der gleichen Zeit entstanden: Die Wahrheit der literarischen Fiktion übertrifft den Glauben an die Wahr- oder Falschheit der erzählten Fakten. [...] Mit anderen Worten: Die mögliche Welt der Literatur ist das einzige Universum, in dem Gewissheit herrscht, und das vermittelt uns einen sehr starken Begriff von Wahrheit. (Eco 2013: 439f.)
Das was Umberto Eco hier über Literatur sagt, gilt in gleicher Weise für koloniale Projekte, in denen Wissenserhebung, Mission und Anderes sich durchdringen. Die Wirklichkeit, die in der Literatur konstruiert wird, ist jedoch nicht die einzig mögliche. Das Geheimnis ist zweideutig, weil seine Öffentlichkeit, seine Performanz und semiotische Deutungsmöglichkeit notwendigerweise verschwiegen werden. Die andere Wirklichkeit der Kulte (die die Europäer ihrerseits als das typisch Afrikanische darstellen) ist die der Inszenierung von Europäern als dem absolut Anderen. Die Strategie, das Andere zu verkörpern, zu tanzen und zu spielen, ist nach Steven Friedson ein wesentlicher Bestandteil westafrikanischer Auseinandersetzungen mit kultureller Mobilität und Brüchen (und damit den wesentlichen Kräften, die Geschichte, Sprache und Identität formen; vgl. Greenblatt 2010). Geistbesessenheit, Trancerituale und ihre Sprachen sind Formen des Ausdrucks von Erfahrungen kultureller Mobilität, die mehrere Deutungen zulassen, aber sie stets verarbeiten wollen: The spirit is made flesh in West Africa in very particular ways. Divine horsemen ride their mounts in an extravagant immersion into the sensorium of human experience. It seems that West African gods have an intense desire to feel the sweat and smell of finitude, to sense light set upon the eyes, the pull of gravity holding one close to the earth, but, especially, to experience a rhythm upon the body, music that fills the ears. Gods dance themselves into existence, living the death of another while those whom they ride die the life of the other. This dark formula is what allows gods to be gods, and humans sometimes to be horses. For the Vodu shrines of West Africa, Léopold Senghor’s (1974) ontological turn – ‘I dance ... therefore I am’ – is not a statement of a devotee, but a declaration of the gods. In the in-between of a danced existence, divine horsemen ride in musical fields. (Friedson 2009: 40)
Das ist deshalb interessant, weil sich die Koloniallinguistik reflexiv mit den in der Kolonialzeit und danach prominent im europäischen Diskurs verankerten Topoi – Allochronie, Verschriftlichung, Standardisierung, Lokalisierung von Sprache – befasst. Auch bei diesen Topoi und ihrer kritischen wissenschaftsgeschichtlichen Dekonstruktion geht es um den Umgang mit etablierten Gewissheiten, nicht so sehr um das Dazwischen, das Zweideutige: in der Koloniallinguistik beschäftigt man sich im Grunde mit den Praktiken von Akteuren einer
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nicht allzu fern in der Vergangenheit liegenden Epoche, von der man aber nicht mehr sehr betroffen zu sein scheint: das, was diese Leute gedacht und getan haben, die Pathologien dieser Zeit, wie sie Freud beschreibt, treffen uns offenbar nur noch sehr wenig. Das Interessante an diesen kolonialen Berichten ist nun, dass das, was in ihnen beschrieben wird – die Kulte, das Jɛngu und das Vodu – als etwas Absolutes gesehen werden muss. Selbst wenn diese Missionare und Afrikanisten niemals selbst an den Ritualen teilgenommen haben, niemals mit Opferblut besprenkelt wurden, wissen sie doch ganz genau Bescheid. Und das hat mit der Realität des Phantastischen zu tun, die sich in diesen Texten darstellt. Was wir dabei jedoch zur Kenntnis nehmen müssen, ist, dass es auch andere Texte gibt – getanzte, laute, rhythmische Texte, die eine ebensolche Wirklichkeit darstellen. Das, was sie erzählen, sind Geschichten von der Bewältigung der kolonialen Erfahrung. Koloniale Mimesis ist folglich ein ganz wesentlicher Aspekt koloniallinguistischer Auseinandersetzungen, deren Intertextualität und Medialität die uns zur Verfügung stehende Metaphorik und ihre Deutung immer wieder in Frage stellt. Danksagung: Ich bin Ingo H. Warnke, Doris Stolberg, Matthias Schulz und Birte Kellermeier-Rehbein für ihre vielen hilfreichen Kommentare zu einer früheren Version dieses Artikel sehr dankbar. Angelika Mietzner, Ana Deumert, Andrea Hollington, Chris Bongartz und Nico Nassenstein danke ich für viele Gespräche über kritische Wissenschaftsgeschichte und Erfahrungen mit dem „schwierigen Erbe“ in der (Afrika-)Linguistik.
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Magnus Huber und Viveka Velupillai
Die Database of Early Pidgin and Creole Texts Sprachplanung, Sprachideologien und Sprachattitüden gegenüber dem Pidginenglisch in Deutsch-Neuguinea Abstract: The Database of Early Pidgin and Creole Texts (DEPiCT) assembles early attestations and descriptions of contact languages and makes them searchable online. The annotation includes glosses of language samples as well as contextual and sociolinguistic information such as socio-biographical speaker information, the domains of language use or language attitudes. DEPiCT will facilitate a wide variety of linguistic studies on contact languages spoken in the colonial context. A handbook on colonial contact languages will accompany DEPiCT, describing the sources, previous historical studies as well as relevant aspects of the diachronic sociolinguistic and structural development of individual languages. The potential of DEPiCT is illustrated by a study of language planning and attitudes towards Pidgin English in the German colony of New Guinea. Keywords: Database of Early Pidgin and Creole Texts (DEPiCT), language documentation, history of contact languages, language planning, language attitudes, German New Guinea
1 Einleitung Dieser Beitrag beschreibt die im Aufbau befindliche Database of Early Pidgin and Creole Texts (DEPiCT, www.uni-giessen.de/cms/depict), in der die von verschiedenen Kreolisten gesammelten frühen Belege und Beschreibungen von Kontaktsprachen in einer elektronischen Datenbank zentral gesammelt, standardisiert annotiert und online durchsuchbar gemacht werden. Neben Sprachzitaten wird auch wichtige kontextuelle und soziolinguistische Information annotiert, etwa zum Ort der Äußerung, zur Sprechsituation, zu den Sprechern, zu Gebrauchsdomänen und zu Sprachattitüden.
|| Magnus Huber: Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Anglistik, Otto Behagel-Str. 10 B, 35394 Gießen. E-Mail: [email protected] Viveka Velupillai: Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Anglistik, Otto Behagel-Str. 10 B, 35394 Gießen. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-137
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Die Bedeutung der Kontaktsprachenforschung für die Koloniallinguistik liegt in der Tatsache, dass Kolonisierung und Sprachkontakt eng zusammenhängen. Einige deutsche Kolonien wurden in hoch komplexen Sprachräumen gegründet; so wurden (und werden) beispielsweise sowohl in Kamerun als auch in Neuguinea mehrere hundert Sprachen gesprochen. Diese Sprachenvielfalt begünstigte schon vor Ankunft der Europäer die Entstehung von Verkehrssprachen. Diesen traditionellen Lingua Francas gesellten sich z. B. in Westafrika in der Phase des Handelskontakts mit den Europäern um 1500 Pidginportugiesisch, ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch Pidginenglisch hinzu. Die Besitzergreifung Deutschlands Ende des 19. Jahrhunderts trug durch die Einführung des Deutschen als Verwaltungssprache weiter zur Komplexität der Sprachsituation bei. Sprachkontakt und die Verwendung von Verkehrssprachen waren ein wesentliches Merkmal des linguistischen Alltags in den deutschen Kolonien in Afrika und der Südsee. Durch ihren hohen Anteil an kolonialzeitlichen Quellen eröffnet DEPiCT der Koloniallinguistik eine Vielzahl von Forschungsperspektiven: Als Referenzdatenbank eignet sich DEPiCT für sprachhistorische Studien zu Kontaktsprachen, und zwar sowohl für einzelsprachliche als auch sprachvergleichende Ansätze, und beides in sprachstruktureller als auch in sprachsoziologischer Perspektive. Der beachtenswerte Mehrwert, der sich durch die Bündelung der derzeit verstreuten Einzelsammlungen in DEPiCT ergibt, erstreckt sich u.a. auf folgende Bereiche: Durch die Zusammenführung verstreuter Textsammlungen liefert DEPiCT einen kompletteren Überblick über die Entwicklung und eine vollständigere Dokumentation der Geschichte einzelner Kontaktsprachen. Die Annotation der Sprachzitate in morphologisch segmentierten Text, Lexifier-orthographische Entsprechung, Quellsprache, Glossierung, Wortklassenannotation und freie Übersetzung macht die Datenbank maximal durchsuchbar und die einzelnen Texte vergleichbar. Die Annotation von sprachsoziologischer Information hilft, systematisch Hinweise zu den extralinguistischen Gegebenheiten der Entstehung und des Gebrauchs von Kontaktsprachen zu ermitteln, Sprachzitate zu kontextualisieren und mit soziologischen Parametern zu korrelieren. DEPiCT ermöglicht durch die direkte Vergleichsmöglichkeit verschiedener Texte eine bessere Einschätzung der Verlässlichkeit und Konsistenz früher Quellen. DEPiCT trägt zur nachhaltigen Datensicherung bei: Derzeit offline, in verschiedensten Formaten und verstreut bei einzelnen Forschern liegende Daten werden elektronisch gesichert und frei verfügbar gemacht.
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Auf der Datenbank aufbauend wird ein Handbuch mit Überblickskapiteln zu einzelnen Kontaktvarietäten erstellt. Die Artikel werden einen Abschnitt zur Quellenlage, eine Übersicht über bisherige diachrone Studien und eine Beschreibung wichtiger Aspekte der diachronen sprachsoziologischen und strukturellen Entwicklung mit Beispielen aus der DEPiCT-Datenbank enthalten. Daneben wird das Handbuch auch sprachübergreifende Kapitel umfassen, die die Entwicklung bestimmter struktureller Merkmale und sprachsoziologischer Parameter typologisch untersuchen, die Rolle von frühen Kontaktsprachen in bestimmten Regionen der Welt darstellen und auf Grammatikalisierungs- und Degrammatikalisierungsprozesse (letztere v.a. in der Pidginisierung) eingehen. Der zweite Teil dieses Beitrags illustriert am Beispiel der Sprachendiskussion und Sprachattitüden gegenüber dem Pidginenglisch in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Neuguinea eine der vielen Anwendungsmöglichkeiten von DEPiCT. Trotz einer offiziell eher ablehnenden Haltung erlebte das Pidginenglisch in den drei Jahrzehnten deutscher Verwaltung in Neuguinea eine Blütezeit und wandelte sich von einer vertikalen zu einer horizontalen Lingua Franca, d. h. es etablierte sich als Kommunikationsmittel auch zwischen indigenen Sprechern. Die deutsche Kolonialzeit in Neuguinea stellte damit eine zentrale Phase in der Entwicklung des Pidginenglisch in diesem Gebiet dar.
2 Der theoretische Stellenwert von Kontaktsprachen und der Erforschung ihrer Geschichte Die Genese, Entwicklung und – damit zusammenhängend – die Frage nach der genetischen Zugehörigkeit von Kontaktsprachen (Pidgins, Kreol- und Mischsprachen) gehören seit jeher zu den zentralen Anliegen der Kreolistik (vgl. Thomason 2008; Velupillai 2015: Kap. 5–6) und werden intensiv, kontrovers und oft emotional diskutiert. Kontaktsprachen eignen sich besonders zur Erforschung des Ursprungs und der Entwicklung von Sprachen sowie von Grammatikalisierung und Sprachuniversalien, weil sie in Extremsituationen entstanden sind und in vielen strukturellen Bereichen im Vergleich zu „natürlichen“ Sprachen eine Zeitraffer-Entwicklung durchgemacht haben.
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2.1 Die Tragweite der Kontaktsprachenforschung und die Notwendigkeit früher Daten Die Tragweite der Diskussion um das Verhältnis von Kontaktsprachen zu anderen Sprachen lässt sich exemplarisch an Derek Bickertons Theorie zur Genese von Kreolsprachen aufzeigen, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Entstehung und historischen Entwicklung dieser Kontaktsprachen seit nunmehr über 30 Jahren antreibt. Bickerton (1981, 1984, 1988 etc.) behauptet in seiner language bioprogram hypothesis, dass Kreolisierung das Ergebnis von Erstspracherwerb mit defizitärem Input sei. Solche sprachlichen Extremsituationen haben etwa auf kolonialen Plantagen in der Karibik geherrscht, wo – wegen der Vielfalt der von den Sklaven gesprochenen afrikanischen Sprachen und wegen eines restringierten Zugangs zur Sprache der Kolonisatoren, die in diesem Fall sowohl den Lexifier als auch das Superstrat darstellt1 – Pidgins die Funktion von Verkehrssprachen übernahmen. Laut Bickerton müssen Kinder, die in solche Situationen mit defizitärem Pidgin-Input geboren werden, im Spracherwerb auf ihr genetisch enkodiertes, universelles Sprachwissen (language bioprogram) zurückgreifen. Die Tatsache, dass dieses language bioprogram für alle Menschen gleich sei, würde die ähnlichen Sprachstrukturen in nicht verwandten Kreolsprachen, etwa Hawai’i Creole English und Guyanese Creole, erklären. Diese These ist von nicht wenigen Kreolisten kritisiert worden (vgl. den Überblick in Veenstra 2008: 228–234). Die Kritik bezieht sich u.a. darauf, dass einzelne Kreolsprachen nicht den Spezifikationen des language bioprogram entsprechen. Die Erwiderung Bickertons und seiner Anhänger auf diese Befunde ist standardmäßig, dass solche nicht der language bioprogram hypothesis entsprechende Strukturen entweder durch eine Ausgangssituation zu erklären seien, in der der Zugang zum Lexifier/Superstrat besser war (z. B. auf Réunion) als bei den „radikalen“ Kreolsprachen, oder sprachgeschichtlich rezente Entwicklungen darstellen, die ursprüngliche, dem language bioprogram entsprechende Strukturen überlagert haben. Diese Behauptungen sind allerdings ohne Rückgriff auf historische Daten nicht falsifizierbar: Um Fragen des Ursprungs und der Evolution von Pidgin- und Kreolsprachen mit größerer Sicherheit beantworten zu können, ist eine umfassende und gründliche Sammlung historischer Sprachdaten unabdingbar. Ähnliches gilt für die Arbeiten von John McWhorter, die in den letzten Jahren innerhalb der Kreolistik sehr intensiv diskutiert worden sind (siehe etwa die || 1 Lexifier = Sprache, aus der der Großteil des Lexikons entlehnt ist, Superstrat = Sprache der sozial dominanten Gruppe in der Kontaktsituation.
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Reaktionen in Ansaldo et al. 2007; DeGraff 2003, 2004; Gil 2001; Grant 2007; Klein 2006). In seiner Creole prototype theory stellt McWhorter die These auf, dass Kreolsprachen im Vergleich zu anderen natürlichen Sprachen der Welt die einfachsten, d. h. am wenigsten komplexen grammatischen Strukturen aufweisen (vgl. etwa McWhorter 2001a, 2001b, 2005). Sie seien nämlich Sprachen, die zum einen sehr jung seien und zum anderen in ihrer Genese ein Pidginstadium durchlaufen hätten. Da der Aufbau von Komplexität in Sprachen an die Entwicklung über längere Zeiträume gebunden sei, so McWhorter, hätten sich in den Kreolsprachen keine so komplexen Strukturen herausbilden können wie in älteren Sprachen. Diese Argumentation impliziert, dass Kreolsprachen heute kaum komplexer sind als in ihren früheren (nur einige Jahrhunderte zurückliegenden) Sprachstadien und dass die Entwicklung prinzipiell von weniger komplex zu mehr komplex geht.2 Erstaunlicherweise aber führt McWhorter seine Argumentation fast ausschließlich auf der Grundlage des gegenwärtigen Sprachstandes; die zur Untermauerung seiner Theorie unerlässliche systematische empirische Erhebung und/oder Analyse historisch-kreolsprachlicher Daten wird kaum unternommen. In den Arbeiten Bickertons und McWhorters zeigt sich exemplarisch, dass die theoretischen Debatten zum Ursprung von Kreolsprachen vornehmlich auf der Grundlage von synchronen Daten und nicht selten auf einer eher dünnen Datenbasis geführt werden, aus denen dann oft sehr weit reichende Thesen entwickelt werden. Es sollte nicht übersehen werden, dass es durchaus eine Reihe von gründlichen diachronen Untersuchungen zu bestimmten strukturellen Merkmalen in einzelnen Kontaktsprachen gibt (etwa Bruyn 1995; Drechsel 2014; Huber 2004; Jacobs 2012; Kautzsch 2002; Weber 2008; oder die Beiträge in Baker & Syea 1996 sowie in Selbach et al. 2009, um nur einige zu nennen) und auch einige diachron-sprachübergreifende Studien (z. B. Baker 1987, 1993, 1999; Baker & Huber 2000, 2001; Hackert & Huber 2007; Clark 1979; Huber 1999; Kautzsch & Schneider 2000; Keesing 1988). Dass die weitreichend-theoretischen Debatten paradoxerweise vornehmlich auf dem heutigen Sprachstand fußen, liegt einerseits daran, dass Kontaktsprachen zum großen Teil stigmatisierte Nichtstandardvarietäten waren, die von Zeitgenossen kaum einer ernsthaften Beschreibung für würdig erachtet wurden. Dementsprechend sind umfassende frühe Darstellungen oder Belege vergleichsweise selten und bilden für sich genommen die Sprache oder Sprachsituation in vielen Fällen nur bruchstück-
|| 2 Diese evolutionistische Auffassung geht auf die Indogermanistik des 19. Jahrhunderts zurück und ist so nicht haltbar. Vgl. etwa des Englische, dessen Flexionssystem sich von mehr komplex zu weniger komplex gewandelt hat.
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haft und teilweise verzerrt ab. Der gewichtigere Grund für die Vernachlässigung historischer Daten ist aber wohl, dass ihre Erschließung und Interpretation einen größeren Aufwand als der Rückgriff auf synchrone Daten bedeutet und daher von vielen theoretisch interessierten Kreolisten gescheut worden ist: Bickerton (2008: 211) selbst spricht von „my reluctance to dive into the stacks (‘Library research? Our students will do that for us!’)“. Diese Ausgangslage macht die Notwendigkeit einer zentralen, standardisierten Sammlung früher Daten zu Kontaktsprachen deutlich. Eine solche Sammlung stellt auch eine wichtige Datengrundlage für andere zentrale Theorien der Kreolsprachengenese dar, wie etwa für die feature pool hypothesis (z. B. Aboh 2009; Ansaldo & Nordhoff 2009; Mufwene 2001, 2006), das founder principle (Mufwene 1996, 2001) oder die interlanguage hypothesis (Plag 2008a, 2008b, 2009a, 2009b, 2011; Siegel 2008).
2.2 Typologische Datenbaken für Pidgins, Kreol- und Mischsprachen Der Wert sprachübergreifender Datenbanken ist mindestens seit Joseph Greenbergs Arbeiten (1963 und ff.) erkannt worden. Der World Atlas of Language Structures (WALS, Haspelmath et al. 2005) stellt einen typologischen Meilenstein dar, da hier die verstreuten Datensammlungen einzelner Typologen zusammengeführt und standardisiert wurden, so dass Makrovergleiche verschiedener Merkmale über mehrere Sprachen hinweg ermöglicht werden. In der synchronen Kreolistik hat die Beschreibung von Kontaktsprachen mit der sprachtypologischen Ausrichtung und umfassenden Dokumentation im Atlas of Pidgin and Creole Language Structures (APiCS, Michaelis et al. 2013b) und anderen, kleineren Projekten wie etwa Holm & Patrick (2008; vgl. auch die frühen Ansätze in Goodman 1964; Hancock 1969, 1987) methodisch einen neuen Standard erreicht: In diesen Ansätzen werden Sprachen aufgrund eines linguistischen Merkmalskatalogs beschrieben, wodurch sprachvergleichende Studien wesentlich erleichtert und in mancher Hinsicht erst ermöglicht werden (vgl. auch neue Ansätze in der anglistischen Varietätenforschung, z. B. Kortmann & Schneider 2004; Kortmann & Lunkenheimer 2011, 2012). Die für den APiCS erstellte typologisch-kreolistische Datenbank dokumentiert das Lautinventar, 120 strukturelle und 20 soziolinguistische Merkmale in insgesamt 76 Kontaktsprachen weltweit. Dies ermöglicht z. B. einen systematisch-detaillierten, auch multi-parametrischen, Vergleich einer großen Zahl von Pidgin- und Kreolsprachen untereinander, durch die teilweise Kompatibilität mit WALS aber auch mit an-
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deren Sprachen der Welt. Auch wenn im APiCS einige wenige frühe Kontaktsprachen beschrieben werden, bleiben er und vergleichbare Ansätze jedoch streng synchron ausgerichtet und erlauben keine systematischen sprachhistorischen Untersuchungen. Der Atlas of Languages of Intercultural Communication in the Pacific, Asia, and the Americas (Wurm et al. 1996) stellt das einzige umfassende Werk dar, in dem auch frühe Kontaktsprachen und frühere Sprachstände noch gesprochener Pidgins und Kreolsprachen beschrieben werden. Allerdings werden in diesem Atlas die frühen Sprachdaten, auf denen die Darstellungen beruhen, nicht zugänglich gemacht.
2.3 Das Erfordernis einer Datenbank früher Belege zu Kontaktsprachen Um sich den eingangs genannten zentralen Anliegen der Kreolistik sinnvoll widmen zu können, muss also eine diachrone Datensammlung zu Kontaktsprachen geschaffen werden. Hier setzt DEPiCT als Datenbank annotierter früher Kontaktsprachentexte an. Historisches Material ist in vielen Fällen vorhanden und bereits in Privatinitiativen einzelner Forscher gesichtet worden. Einige Kreolisten haben schon um die Mitte der 1980er Jahre begonnen, Reiseberichte, Memoiren von kolonialen Administratoren, Händlern und Missionaren, Gerichtsakten etc. systematisch nach frühen Sprachbelegen und Hinweisen auf den soziohistorischen Entstehungskontext von Kontaktvarietäten zu durchsuchen. Eine Schwierigkeit bei dieser Erschließung früher Daten ist, dass die oben erwähnte Stigmatisierung von Kontaktsprachen sich in einer insgesamt sehr heterogenen Beleglage äußert: Z. B. ist das frühe Sranan (in Suriname) unter anderem wegen missionslinguistischer Aktivitäten sehr gut dokumentiert (siehe etwa die Textsammlung in Arends & Perl 1995); für das Eskimo Pidgin hingegen liegen vergleichsweise wenige Quellen und nur kurze Texte vor (van der Voort 2013). Es gibt also für frühe Kontaktvarietäten keine ausreichend vergleichbare Textbasis, auf der eine auf einem Merkmalskatalog aufbauende Beschreibung früherer Sprachzustände und der Entwicklung von Pidgin- und Kreolsprachen aufsetzen könnte. Trotz dieser Schwierigkeiten hat z. B. Philip Baker, einer der Pioniere der historischen Erforschung von Kontaktsprachen, gezeigt, welche wichtigen neuen Erkenntnisse über die Genese, Entwicklung und die Verwandtschaftsverhältnisse von Kontaktsprachen ein gezieltes Zusammentragen verstreuter früher Belege und deren systematische Auswertung bringen kann. So zeigte Baker (1987, 1993)
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aufgrund der Analyse von strukturellen und lexikalischen Erstbelegen, dass nicht das chinesische Pidginenglisch der Vorfahre anderer englischer Kontaktsprachen im Pazifik ist, sondern dass frühe ostaustralische Pidginvarietäten einen wesentlichen Einfluss auf das melanesische Pidginenglisch ausgeübt haben. Baker (1995) demonstrierte am Beispiel des Tempus-Modus-AspektSystems, dass die Analyse früher Quellen ein sehr genaues Bild über die zeitliche Abfolge in der Grammatikalisierung einzelner Kategorien liefern kann. Derzeit liegen Sammlungen früher Daten zu Pidgin- und Kreolsprachen zum großen Teil offline verstreut bei einzelnen Forschern, die sie z.T. in jahrelanger Archivarbeit und unter großem Aufwand zusammengetragen haben. Da diese Sammlungen auf Einzelinitiativen basieren, sind sie nicht mit einer standardisierten Annotation versehen, die eine sprachübergreifende Datenextraktion erleichtern würde. Erste elektronische Datenbanken sind zwar in Planung oder im Aufbau, z. B. das Early Suriname Creole Archive (SUCA, www.suca.ruhosting.nl) oder die Negerhollands Database (https://corpus1.mpi.nl/ds/asv > NEHOL). Jedoch sind dies entweder reine Textsammlungen ohne metalinguistische Annotation oder ohne das Detail an Annotation wie es im DEPiCT-Projekt geplant ist. Zu erwähnen ist auch, dass es in jüngster Zeit Ansätze einer deutschen Koloniallinguistik gibt (Forschungsgruppe Koloniallinguistik, vgl. Dewein et al. 2012; http://www.fb10.uni-bremen.de/fkl), zu denen DEPiCT einen kontaktlinguistischen Beitrag leisten kann. Durch die zentrale Sammlung von koloniallinguistischen Daten und die standardisierte Annotation der Texte können ganz neue Forschungsfragen gestellt werden, sowohl was die frühe Sprachsoziologie betrifft (z. B. soziohistorische Umstände der Entstehung, Sprachattitüden, etc.), als auch die einzelsprachliche strukturelle Entwicklung bzw. den Vergleich der Entwicklung über mehrere Kontaktsprachen hinweg. Während APiCS von der Fachwelt mit großem Interesse aufgenommen wird und wir mit diesem Sprachatlas der Überprüfung von Thesen zur Sonderstellung von Kontaktsprachen einen großen Schritt nähergekommen sind, bleibt die umfassende Beschreibung der Genese und die intensive Erforschung früherer Sprachstände und der diachronen Entwicklung von Kontaktsprachen immer noch ein Desiderat. Hier will DEPiCT die Datengrundlage liefern.
3 Die Database of Early Pidgin and Creole Texts In DEPiCT werden frühe Beschreibungen von Kontaktsprachen gesammelt, standardisiert annotiert und durchsuchbar gemacht. Dadurch eröffnen sich neue Forschungsmöglichkeiten für einzelsprachliche und sprachvergleichende
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Ansätze, sowohl in struktureller als auch in sprachsoziologischer Hinsicht. Die Zusammenführung einzelner Belege in einer Datenbank birgt mehrere Vorteile: DEPiCT liefert einen kompletteren Überblick über die Entwicklung und eine vollständigere Dokumentation der Geschichte einzelner Kontaktsprachen als dies bisher möglich war. Anders als WALS und APiCS ist DEPiCT insofern als Mosaikprojekt konzipiert, als dass mehrere Wissenschaftler Datenbeiträge zu derselben Sprache liefern können bzw. dass einzelne Wissenschaftler auch Daten zu verschiedenen Sprachen beitragen können. Der Beweggrund für diese offene Konzeption von DEPiCT ist die Tatsache, dass historisch orientierte Kreolisten i.d.R. zwar schwerpunktmäßig frühe Daten zu bestimmten Varietäten sammeln, während der Archivarbeit aber einerseits nicht alle Quellen zur Verfügung haben und/oder teilweise Material übersehen, andererseits oft auch interessantes Material zu anderen Kontaktsprachen finden. Durch die Zusammenführung verschiedener Sammlungen ergibt sich ein historisches Textmosaik von Kontaktsprachen, das insgesamt aussagekräftiger ist und ein größeres Forschungs- und Erkenntnispotential birgt als jede Einzelsammlung. Da es für die Datenbeiträge kein Minimum gibt, können sie von einzelnen Wörtern oder Phrasen bis hin zu großen Textsammlungen reichen. Der Umfang von Sammlungen früher Belege variiert stark und hängt von der Varietät und von den Exzerpiergewohnheiten einzelner Forscher ab. Wie viele Wörter von den DEPiCT-Beitragenden annotiert und übersetzt werden sollen, kann daher nicht pauschal festgelegt werden. Es gibt Kreolisten, die große Exzerptsammlungen haben und von denen eine vollständige Annotation/Übersetzung der gesamten Daten nicht verlangt werden kann. In solchen Fällen werden repräsentative Texte ausgewählt, um eine angemessene Zahl an zu annotierenden Wörtern pro Zeitraum zu erreichen. Der nicht annotierte Rest der Exzerptsammlung wird als Rohdaten in die Datenbank aufgenommen und steht somit zumindest für eine reine Textsuche zur Verfügung. Da DEPiCT als offene Datenbank konzipiert ist, können solche Rohdaten auch später noch annotiert und übersetzt werden. Die standardisierte Annotation der Sprachzitate in morphologisch segmentierten Text, Lexifier-standardorthographische Entsprechung des Originals, Quellsprache der einzelnen Morpheme, Glossierung auf Grundlage der Leipzig Glossing Rules (http://www.eva.mpg.de/lingua/resources/glossing-rules. php), Wortklassenannotation und Übersetzung macht die Datenbank maximal durchsuchbar sowie die einzelnen Texte vergleichbar und ermöglicht dadurch diachron ausgerichtete kontrastive und sprachtypologische Ansätze, z. B. vergleichende Studien zur Grammatikalisierung in mehreren Kontaktsprachen.
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Tabelle 1 illustriert die verschiedenen Annotationszeilen an einem Beispiel des frühen Sranan (van Dyk c.1765). Zeile 1 = Original, 2 = morphologisch segmentierter Text, 3 = Lexifier-Orthographie, 4 = Quellsprache, 5 = Glossierung, 6 = Wortklassenannotation, 7 = freie Übersetzung. In der Datenbank wird diese Information nach dem XML-Standard enkodiert. Tabelle 1: Annotationsschema für Sprachzitate in DEPiCT.
1 Tappe
kissi
myke wi
go.
oenno zikkesi
zomma
ope
da
homen.
ope
2 Tappe
kissi
myke wi
go
oenno zikkesi
zomma
da
homen
3 top
case kist
make we
go
unu
someone up
that
woman
4 Eng
Eng? Dutch?
Eng
Eng
Eng
Eng
Eng
six
Eng Eng Igbo? Eng
5 cover
case
IMP
1PL
go
2PL
six
person
lift.up DET.SG
woman
6 V
N
V
P
V
P
Num
N
V
N
D
7 Close the coffin, let’s go. You six persons, lift up the woman.
Die Einbeziehung und Annotation von Passagen, in denen sprachsoziologische Umstände beschrieben werden (Gebrauchsdomänen, Sprecher, Sprachsituation, Demographie etc.) macht erstmals die parametergesteuerte Durchsuchbarkeit des restlichen exzerpierten Textes, d. h. über die eigentlichen Sprachzitate hinaus, möglich. Den einzelnen Textpassagen werden zu diesem Zweck Metadaten in vorgegebenen Kategorien zugewiesen. Markiert und annotiert werden u.a. Beschreibungen der Sprechsituation, in der einzelne Äußerungen gemacht wurden, der allgemeinen Kontaktsituation (allgemeine Information zu Sprachen in dem Gebiet, politische oder wirtschaftliche Situation, etc.), der Sprachattitüden und von Sprachen an sich (z. B. grammatische Beschreibungen). Dadurch können mithilfe von DEPiCT systematisch Hinweise zu den soziohistorischen Gegebenheiten der Entstehung und des Gebrauchs von Kontaktsprachen ermittelt, Sprachzitate kontextualisiert und die strukturelle Sprachentwicklung mit sprachsoziologischen Parametern korreliert werden. Die online frei zugängliche DEPiCT-Suchoberfläche wird über eine reine Textsuche (auch mithilfe von regulären Ausdrücken, RegEx) hinaus komplexe Suchabfragen ermöglichen, in denen eine Freitextsuche mit den anderen Annotations-Parametern verbunden werden kann (Glossen, Wortklas-
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senannotation, Übersetzungen, Annotation von Passagen, in denen sprachsoziologische Umstände beschrieben werden etc.). So könnte die Suche beispielsweise eingeschränkt werden auf Äußerungen von weiblichen Sprechern aus dem Zeitraum 1800–1899, in denen Personalpronomen von reduplizierten Verben gefolgt werden. Die Suchergebnisse werden in Form einer Konkordanz ausgegeben, die zu jedem Suchtreffer auch die dazu gehörigen Annotationsparameter auswirft. Diese Konkordanz kann dann zur weiteren Bearbeitung exportiert werden. Insgesamt erlaubt dies eine umfassende und effiziente Durchsuchbarkeit der frühen Quellen, weil nicht nur nach Sprachformen (reine Textsuche), sondern auch mittels der annotierten Kategorien gesucht werden kann. DEPiCT wird eine bessere Einschätzung der Verlässlichkeit und Konsistenz früher Quellen ermöglichen, da sie verbesserte und automatisierte Vergleichsmöglichkeiten bietet: Wegen der Stigmatisierung früher Kontaktsprachen und ihrer Sprecher kommt es in manchen Quellen zu einem Verzerrungseffekt mit stereotypisierender Darstellung der Sprachen. Durch die Möglichkeit des Vergleichs mit anderen, verlässlicheren Quellen lassen sich solche Verzerrungen der Sprachstruktur besser lokalisieren und neutralisieren. Auch werden in frühen Reiseberichten oft Passagen aus anderen Werken ohne Quellenangabe kopiert und z.T. anderen Orten zugeschrieben. Solche Fehlerquellen können durch die sehr viel vollständigere Quellendokumentation in DEPiCT wesentlich leichter gefunden werden. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die nachhaltige Datensicherung: Wie bereits beschrieben, lagern die Daten derzeit offline und in den verschiedensten Formaten (handschriftlich, als Kopien, elektronisch) dezentral bei einzelnen Forschern. Dies hat nicht nur den Nachteil, dass das Material nur für einen kleinen Nutzerkreis zur Verfügung steht, sondern birgt auch die Gefahr des Datenverlustes. Handschriftliche oder maschinengeschriebene Exzerpte werden in ein elektronisches Format überführt. Sollte ein vollständiges Abtippen handschriftlicher Exzerpte oder OCR-Erkennung von kopierten Texten wegen ihres Umfangs nicht möglich sein, ist die Einbindung des Materials in die Datenbank als Bilddatei vorgesehen, so dass zumindest die Archivierung und öffentliche Verfügbarkeit sichergestellt wird. DEPiCT ist zwar von WALS und APiCS inspiriert, doch ist, wie bereits oben erwähnt, die Datenlage für frühere Sprachstufen ganz anders als für diese synchronen Datenbanken: Während für einige Kontaktsprachen relativ viele und umfangreiche frühe Texte erschlossen wurden und diese die Sprachgeschichte insgesamt oder zumindest über einen weiten Zeitraum abdecken, ist die Beleg-
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lage für andere Sprachen vergleichsweise dünn. Darüber hinaus sind frühe Texte teilweise durch nicht auflösbare Ambiguitäten gekennzeichnet, da sie meist nicht von Sprachwissenschaftlern und nicht nach modern sprachwissenschaftlichen Methoden verfasst wurden, teilweise stereotypisierend sind und damit ein verzerrtes Bild der Sprache wiedergeben. Würde bei der Dokumentation in DEPiCT mit einem Merkmalskatalogansatz wie in WALS und APiCS gearbeitet, gingen bei der Sprachdokumentation wichtige Informationen verloren, weil ein Katalog notwendigerweise selektiv ist und daher bei seiner Erstellung entweder bewusst oder unbewusst bestimmte Sprachstrukturen ausgeklammert oder nicht antizipierte Phänomene übersehen werden. Gerade bei einer sehr variablen und oft mageren Datenlage ist eine möglichst vollständige Dokumentation der frühen Texte wichtig, um das volle Potential der Quellen auszuschöpfen, konzeptionell ein synchroner Ansatz ist und von daher für jede beliebige Sprachstufe genug Textmaterial vorliegen müsste, um den Fragenkatalog komplett auszufüllen. Eine solche Datenlage ist aber bei den meisten frühen Kontaktsprachen nicht gegeben; oft sind diese nur bruchstückhaft dokumentiert. Dennoch können diese wenigen Bruchstücke in der Zusammenschau mit anderen Belegen eine wichtige Schlüsselfunktion haben und einen wesentlichen Teil zum Gesamtbild beitragen. DEPiCT muss sich daher in der Datensammlung und Präsentation fundamental von WALS und APiCS unterscheiden. Statt Sprachmerkmale über einen Katalog abzufragen, werden die gesamten Exzerpte der Beitragenden, die oft weit über die in der frühen Literatur eingesprengten Sprachbeispiele hinaus gehen, in die Datenbank aufgenommen. Es geht in DEPiCT also nicht um die Sammlung von Merkmalen, sondern um den Aufbau einer Datenbank von Texten und Textexzerpten, d. h. um die Erstellung eines Korpus. Das hat den Vorteil, dass neben den eigentlichen Sprachbeispielen (Zitate) auch wichtige kontextuelle und soziolinguistische Informationen dokumentiert werden können, etwa zum Ort der Äußerung und zur Sprechsituation, zu den Sprechern selbst und deren Verhältnis zueinander, aber auch generell zum linguistischen Kontext, in dem die Kontaktsprache verwendet wird, z. B. Gebrauchsdomänen und Sprachattitüden. Diese in DEPiCT gesammelte Information wird annotiert und damit über Metadaten durchsuchbar gemacht.
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Die Struktur und der Umfang der Database of Early Pidgin and Creole Texts lassen sich am Namen des Projekts erläutern: Database. DEPiCT wird Belege zu Kontaktsprachen im Datenbankformat speichern und für Analysen zur Verfügung stellen. Die metasprachliche Annotation der Daten macht komplexe innersprachliche und sprachübergreifende Suchabfragen möglich. Early. Wann ein Beleg als früh gilt, bestimmt sich relativ zur allgemeinen Datenlage und zum Alter der Varietät. In DEPiCT wird, weil sie nach dem Open Access Prinzip online zur Verfügung gestellt werden soll, ein pragmatischer Ansatz gewählt: alles, was nicht dem jeweils anzuwendenden Urheberrecht unterliegt, kann in die Datenbank aufgenommen werden. Pidgins and Creoles. Der Fokus wird auf Pidgin- und Kreolsprachen liegen. Da es allerdings fließende Übergänge gibt, ist DEPiCT für Kontaktsprachen aller Art offen, also auch Mischsprachen, Jargons und sog. Creoloids wie Afrikaans oder African American English. Es gibt keine Einschränkung bezüglich bestimmter Regionen. Texts. DEPiCT wird unterschiedliche Texttypen umfassen: neben Beschreibungen der soziolinguistischen Situation und allgemeinen Grammatikcharakterisierungen, werden vor allem auch tatsächliche Sprachzitate aufgenommen. Diese können von einzelnen Wörtern über Wortlisten, Phrasen und Sätze bis hin zu längeren Texten reichen. Dies schließt auch frühe Wörterbücher und Grammatiken ein. Die Einbindung von anderem Material (z. B. Bild, Ton) ist prinzipiell möglich, wird aber im Interesse der Überschaubarkeit des Projekts zurückgestellt. Wie bereits in der Einleitung beschrieben, wird außerdem ein auf der Datenbank aufbauendes Handbuch mit Überblickskapiteln zu den einzelnen Varietäten publiziert. Die Artikel werden die Quellenlage, bisherige diachrone Untersuchungen sowie die Sprachsoziologie und strukturelle Entwicklung der Varietät beschreiben. Das Handbuch wird außerdem sprachübergreifende Kapitel enthalten, u.a. zu Analysemethoden früher Texte in der Kreolistik/Koloniallinguistik oder zur sprachübergreifenden Entwicklung bestimmter struktureller Merkmale und sprachsoziologischer Parameter.
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4 Sprachplanung, Sprachideologien und Sprachattitüden gegenüber dem Pidginenglisch in Deutsch-Neuguinea Wie bereits ausgeführt, kann DEPiCT die Datengrundlage für verschiedenste Studien liefern, von sprachstrukturellen bis sprachsoziologischen, mit synchronen oder diachronen Ansätzen. Im Folgenden gehen wir beispielhaft auf eine von vielen Datentypen ein, die DEPiCT bietet, nämlich auf die Hinweise zur Sprachplanung und zu Sprachattitüden in Deutsch-Neuguinea, wie sie uns in deutschen kolonialen Quellen entgegentreten. Einen besonderen Fokus legen wir dabei auf das Pidginenglisch.3
4.1 Geschichtlicher Hintergrund Als erste Europäer sichteten 1526 die Portugiesen Neuguinea; kurz danach erreichten die Spanier die Insel. Dennoch blieben große Teile Neuguineas bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts von Europäern unerforscht, vor allem wegen schwierigen Terrains und feindlich gesinnter Völker. 1616 sichteten die Niederländer den Neuguinea im Osten vorgelagerten Bismarck-Archipel und ab ungefähr 1800 wurde diese Inselgruppe von amerikanischen Walfängern angelaufen, um Proviant aufzunehmen. Ab 1874 siedelten sich deutsche und britische Händler und Pflanzer auf den Duke-of-York-Inseln im Bismarck-Archipel an (zwischen Neupommern = New Britain und Neumecklenburg = New Ireland); einige von ihnen waren bereits auf Samoa tätig gewesen. Zeitgleich begann die christliche Missionierung. Von den Duke-of-York-Inseln aus wurden im weiteren Verlauf zunächst Plantagen auf der Gazelle-Halbinsel im Nordosten von Neupommern angelegt. 1884 stellte Deutschland den Bismarck-Archipel und den nordöstlichen Teil Neuguineas („Kaiser-Wilhelms-Land“) unter Reichsschutz. In den folgenden Jahren begannen deutsche Pflanzer mit der Anlage von Plantagen im Küstenbereich von Kaiser-Wilhelms-Land. Das Deutsche Reich übernahm 1899 die von der Neuguinea Compagnie verwalteten Schutzgebiete in der deutschen Südsee, doch fielen diese Kolonien schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs an Australien und Japan. || 3 Einige der folgenden Befunde bestätigen die in Engelberg (2014), Mühlhäusler (2001), Stolberg (2015) und Voeste (2005) beschriebenen; allerdings liegt das Hauptaugenmerk dort auf dem Deutschen und den einheimischen Sprachen.
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Auf den Walfangschiffen und in den von ihnen angelaufenen Orten in Ozeanien entwickelte sich als Nachfolger eines frühen polynesischen Pidgins (Drechsel 2014) zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein frühes maritimes pazifisches Pidginenglisch. In den 1840ern entstanden Plantagenpidgins in Queensland, Australien (Baker 1993: 11), und in den 1870er Jahren in Samoa (Mühlhäusler 1978: 70), wo angeworbene Arbeiter aus verschiedenen Teilen der Südsee zusammenkamen. Bei der Rückkehr in ihre Heimat verbreiteten diese Arbeiter das Plantagenpidgin auf dem Bismarck-Archipel, von wo aus es in der deutschen Kolonialzeit wiederum Kontraktarbeiter nach Kaiser-Wilhelms-Land brachten. Tok Pisin (< Talk Pidgin), der direkte Nachfahre dieses Pidgin, ist heute neben Englisch und der Kontaktsprache Hiri Motu Amtssprache Papua Neuguineas.
4.2 Die komplexe multilinguale Ausgangslage und die Etablierung von Verkehrssprachen Zeitgenössische englische und deutsche Reisende und Ansässige berichteten von einer „fürchterlichen Sprachzersplitterung“ (Keysser 1935: 7) in der Südsee: Es herrscht ein ungeheurer Sprachenwirrwar nicht nur in ganz Neuguinea, sondern auch auf den rund 200 Inseln des Bismarck-Archipels […]. Jede Insel, jedes Dorf, auch wenn die Plätze nur zwei bis drei Wegstunden auseinanderliegen, besitzt seine eigene, vom Nachbarort völlig verschiedene Sprache. Die Zahl der im gesamten Schutzgebiet gesprochenen Sprachen und Mundarten dürfte mit 300–400 nicht zu hoch geschätzt sein. (Wendland 1939: 18)
Diese komplexe multilinguale Situation führte bereits in vorkolonialer Zeit zur Entstehung von einheimischen Verkehrssprachen (vgl. Dutton 1996; Mühlhäusler et al. 1996) und beförderte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verbreitung und Festigung des Pidginenglischen als Verkehrssprache im Bismarck-Archipel und später auch in Kaiser-Wilhelms-Land. Franz Hernsheim, einer der Inhaber der Handelsgesellschaft Hernsheim und Co., die 1876 ihre erste Station im Bismarck-Archipel errichtete, berichtete Hugo Schuchardt: [I]n Neubritannien, wo bei seiner Ankunft vor etwa 7 Jahren noch kein Eingeborener eine europäische Sprache verstanden habe, spreche jetzt wohl jeder und besonders die Kinder das bewusste [Pidgin] Englisch, zum Theil mit großer Geläufigkeit. Er habe sogar oft schon Eingeborene untereinander sich dieses Idioms bedienen hören, wenn sie über Weisse oder deren Dinge reden. (Schuchardt 1884: 154)
Einen Grund für die Etablierung des Pidgins als Lingua Franca führt Pfeil (1899: 130) an: „Es ist ausgeschlossen, dass irgend ein Europäer die vielen Dialecte be-
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herrschen könne, welche unter auch nur einer kleinen Zahl seiner Arbeiter gesprochen werden. Als Volapük dient das sogenannte Pigeonenglisch“. Ein weiterer begünstigender Faktor war, dass viele Plantagenarbeiter in Samoa und im australischen Queensland wie bereits erwähnt im Bismarck-Archipel angeworben worden waren und bei ihrer Rückkehr die Kenntnis des Pidginenglisch mitbrachten. Schnee (1904: 305) berichtet mit Bezug auf das Jahr 1899, dass das Pidginenglisch „an allen Küsten gesprochen wird, soweit von dort angeworbene Eingeborene als Arbeiter auf Plantagen gearbeitet haben“. Damit wurde Pidginenglisch im Bismarck-Archipel zu einem wichtigen Verständigungsmittel zwischen Weißen und indigenen Sprechern in den deutschen Siedlungen und auf den Plantagen, aber z. B. auch bei Expeditionen oder der Arbeiteranwerbung, entweder direkt, sofern es den Eingeborenen der betreffenden Gegend bekannt ist, oder durch einen Eingeborenen aus einer benachbarten Landschaft, der sowohl des Pidginenglischen wie des betreffenden Eingeborenendialekts mächtig ist. (Schnee 1904: 306).
Noch 1908 war diese Situation unverändert: „Die Regierungsbeamten und sonstigen Ansiedler bedienen sich im Verkehr mit den Eingeborenen ausschließlich des Pidjin“ (Neuhauss 1911: 121). Pidginenglisch wurde aber auch zur Verkehrssprache zwischen Kolonisierten mit unterschiedlicher Muttersprache. Otto Schellong beschreibt die Situation auf dem deutschen Schiff Lölia bei dessen Ankunft in Finschhafen, KaiserWilhelms-Land (Morobe Province, Papua Neuguinea), im Jahr 1886: [D]ie farbige Eingeborenenbesatzung setzte sich aus den verschiedensten Inselgruppen der Südsee zusammen. Unter den achtzehn Mann der Besatzung wurden sieben verschiedene Mundarten gesprochen; kein Wunder, daß die Leute, um sich zu verständigen, zu einem neutralen Idiom, dem Pidgin-Englisch griffen. (Schellong 1934: 97)
An Land wurde das Pidginenglisch ebenfalls unter indigenen Sprechern benutzt: „Auch für den Verkehr der aus den verschiedenen Sprachgebieten stammenden Eingeborenen scheint es sich durchweg als genügend zu erweisen, selbst unter Ehepaaren“ (Schnee 1904: 305).
4.3 Sprachideologien und Attitüden gegenüber dem Pidginenglischen Pidginenglisch war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine im Pazifik weit verbreitete Verkehrssprache und wurde in vielen zeitgenössischen Beschreibungen als Kuriosum der deutschen Südsee angeführt. Die Einstellungen
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gegenüber dem Pidgin bewegten sich zwischen Bewunderung und Abneigung. Einige deutsche Beobachter waren vom Pidginenglisch fasziniert und lobten seine Nützlichkeit, wie Schellong (1934: 98), der es in einem Tagebucheintrag von 1886 als „wunderlich aber durchaus brauchbar“ bezeichnete, oder Friederici (1911: 93), der es „absolut unentbehrlich“ nannte. Daneben gab es Stimmen, die – relativ neutral – auf die „mangelhafte“ ([Anonym] 1914) Sprachstruktur hinwiesen. Zumeist jedoch belegte die koloniale Literatur das Pidginenglisch mit geringschätzigen bis verächtlichen Adjektiven wie höchst unerfreulich (Friederici 1911: 94), unsinnig, unschön (von Hesse-Wartegg 1902: 52, 99), erbärmlich, elend (Neuhauss 1911: 118, 121), vulgär (Kleintitschen 1906: 179), primitiv, unvollkommen, minderwertig (Schnee 1904: 304, 316), korrumpiert (Kraemer 1910: 93), verderbt, verlottert (Zöller 1891: 44, 412), häßlich (Friederici 1911: 92), entsetzlich, schauerlich (Hagen 1899: 210, 211), schrecklich (Bornemann 1938: 36), grässlich ([Anonym] 1913), abscheulich ([Anonym] 1914), schauderhaft (Geiser 1929: 70), grotesk (von Hesse-Wartegg 1902: 52) oder kannibalisch (Jacques 1922: 96). Auch in den Bezeichnungen für das Pidginenglisch selbst überwiegen abschätzige Begriffe. Neben Mischmasch (Schnee 1904: 299) und Kauderwelsch (Geiser 1929: 71) finden sich Unsinn (von Hesse-Wartegg 1902: 53), Sprach-Cretin (Hagen 1899: 210), Mißgeburt von Sprache (Geiser 1929: 71), Verhunzung (Neuhauss 1911: 122), Sprachkarikatur, Schlendrian und Unkraut (Zöller 1891: 44, 413, 418). Diese überwiegend negative Haltung deutscher Autoren gegenüber dem Pidginenglisch hatte ihren Ursprung in der Tatsache, dass man es für eine Kolonialmacht als beschämend empfand, in der eigenen Kolonie den Lebensstil konkurrierender europäischer Mächte zu führen: Schon vieles ist hierüber geschrieben und dabei stets getadelt worden, daß der Deutsche seine Nationalität in der Fremde sehr rasch aufgiebt . […]. In seiner eigenen Häuslichkeit erscheint der Deutsche zu den Mahlzeiten ebenso im „dinnerjacket“ und steifem Kragen, wie der Engländer selbst […]. Der Deutsche natürlich äfft es nach. Sogar in seinen eigenen Kolonien zeigt er sich dem Engländer gegenüber in einer Art und Weise nachgiebig, die umgekehrt niemals möglich wäre. (Vallentin 1899: 32–33)
Da Sprache als Ausdruck nationaler Identität und Mentalität gesehen wurde, hielten Beobachter auch die Verwendung jeder Art von Englisch in den deutschen Kolonien für unpatriotisch. Bei Vallentin (1899: 33) lesen wir weiter: „Und der gutmütige Deutsche lernt dann auch tapfer englisch, wendet es überall an und vergißt dabei recht häufig seine eigene Sprache; ja, nicht nur dieses. Er spricht, denkt und fühlt mit der Zeit englisch“. Diese Vorbehalte bezogen sich auch auf englische Lehnwörter im Alltagsdeutsch der Kolonien:
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Ich erwähne nur die Gewohnheit, auf unseren Dampfern die Bezeichnungen für fast alle Einrichtungen der englischen Sprache zu entlehnen, wie steward, stewardess, lunch, dinner u. s. f.; selbst die Speisenkarten werden englisch gedruckt. In den Kolonien ist es nun noch viel ärger; da sagt man nicht: „Der Postdampfer kommt,“ sondern: „die „mail“ kommt.“ Da ist nicht ein Geschäftslokal geöffnet, sondern die „office“. „Ich wohne,“ erzählte mir ein Herr „nicht in der Stadt, sondern auf dem „bill“ [sic, hill],“ anstatt einfach auf dem „Hügel“ zu sagen. Da kennt man nicht den Leiter eines Unternehmens, sondern nur den „manager“, ebenso nur den „clerk“. Es giebt keine Rennen, sondern nur „races“. Und so weiter! (Vallentin 1899: 33)4
Ähnlich war Schnee (1904: 317) der Auffassung, dass Pidginenglisch „den deutschen Charakter der Kolonie“ beeinträchtige. „Für die Weltstellung und das Ansehen Deutschlands wäre dies gewiß traurig und beschämend“ kommentierte von Hesse-Wartegg (1902: 53) und Hagen (1899: 211) sprach vom „unserer unwürdige[n] Pitjen-Englisch“. Hugo Zöller fasst es folgendermaßen zusammen: Die Verständigung vermittelst des verlotterten Pidschin-Englisch ist [… d]emütigend, weil noch keine unter allen Kolonialnationen der Erde […] darauf verzichtet hat, sich entweder der eigenen oder der betreffenden Eingeborenensprache zu bedienen. […] Als Ersatz für Pidschin-Englisch können nur Deutsch oder die Eingeborenensprachen in Frage kommen. Einen andern Weg, der unserer nationalen Würde und dem praktischen Bedürfnis entspräche, gibt es nicht. (Zöller 1891: 412)
4.4 Weitere Argumente gegen das Pidginenglisch Neben dem eher politisch motivierten Wunsch nach Ersetzung des Pidginenglisch wurden in der kolonialsprachlichen Debatte weitere Argumente für die Einführung einer neuen Verkehrssprache angeführt. Obwohl Pidgin allgemein als leicht erlernbar und für die alltägliche Kommunikation etwa auf Plantagen ausreichend galt (vgl. z. B. Stephan & Graebner 1907: 20), verwiesen einige Autoren auf die Grenzen seiner Nützlichkeit. Einerseits wurde auf die in manchen Gegenden eingeschränkte Verbreitung hingewiesen, andererseits auf die begrenzte Aus|| 4 Man findet ähnliche Kommentare in anderen deutschen Kolonien mit traditionell hohem Anteil englischer Ansiedler. Z. B. bemängelte die Samoanische Zeitung „die sehr überhand nehmende Durchsetzung der deutschen Umgangssprache mit mehr oder weniger verballhornisierten englischen Ausdrücken, deren Gebrauch durch das starke Vorhandensein des PidginEnglisch sehr gefördert wird“, nannte das Ergebnis „ein im Vaterlande unverständliches Kauderwelsch“ und fand die „Ursache dieser Sprachverderbnis“ zumeist in „Gedankenträgheit“ (Anonym 1913). Für Kamerun vgl. den in Zintgraff (1895: 59) abgedruckten Brief in „Küstendeutsch“, mit Lehnwörtern wie trade, river, oil, kernels, kings, trade, puncheon, beach, expences [sic!], play, headman, stoppage, settlen, fight, steamlaunch, steam, mail, office und gemanaged.
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drucksmöglichkeit dieser Kontaktsprache. Wilhelm Wendland (1939: 18), der von 1894 bis 1915 als Kolonialarzt in der Südsee tätig war, berichtete: Das in der Südsee von den Weißen eingeführte und im Verkehr mit den Eingeborenen allgemein übliche Pidjin-Englisch wurde auf Neuguinea nur von wenigen Papuas in einigen Küstendörfern notdürftig verstanden, im Hinterland aber gar nicht.
Neuhauss (1911: 121) fügt hinzu, dass Pidgin „nur von den jüngeren Leuten verstanden [wurde], die einige Zeit bei der Regierung oder auf den Plantagen arbeiteten“. Dagegen verweist Detzner (1920: 206) auf die beschränkte Ausdrucksmöglichkeit: Mit dem nur konkrete Ausdrücke besitzenden Pidgin-Englisch ist es unmöglich, religiösen Anschauungen auf den Grund zu gehen, Rechtsanschauungen zu entwirren, die inneren Zusammenhänge dieser oder jener Sitte, die Motive der und jener Handlung herauszubringen.
Und die Samoanische Zeitung beschreibt das Pidginenglisch im BismarckArchipel folgendermaßen: „Dieses Idiom ist nur von beschraenkter Ausdrucksmoeglichkeit und auf die Verhaeltnisse des taeglichen Lebens zugeschnitten. Es sind bei Anwendung des Kuesten-Englisch Missverstaendnisse sehr leicht moeglich“ ([Anonym] 1914). Eine der kolonialen Legitimierungsstrategien, nicht nur in deutschen Schutzgebieten, war das Argument, dass die Kultur und Intelligenz der Kolonisierten weniger entwickelt sei. Die Kolonisierten wurden dabei nicht selten – und ähnlich wie es bei Fabian (2014) beschrieben wird – als frühzeitliche Relikte kultureller Entwicklung gesehen: Der Gouverneur Deutsch-Neuguineas Albert Hahl (1937: 169) sprach z. B. von den „Steinzeitmenschen Neuguineas“ und Stefan von Kotze (1905) betitelt seinen Reisebericht mit „Aus Papuas Kulturmorgen“. In dieser Gedankenführung diente die Kolonisierung der Hebung der Kolonisierten auf eine höhere Kulturstufe und in den Diskursen wurde häufig auf hierarchische Eltern-Kind- oder Herren-Diener-Metaphern zurückgegriffen.5 Während die Kolonisierten in der Eltern-Kind-Metapher passend zum Sehnsuchtstopos Südsee nicht selten zu naiven, unschuldigen oder edlen „Naturkindern“ herabgestuft oder verklärt wurden (z. B. Daiber 1902: 230), liegt der Fokus bei der Herren-Diener Metapher auf der „Herrenrasse“ (z. B. Friederici 1911: 97). Bei Kleintitschen (1906: 172) lesen wir:
|| 5 Vgl. Buchtitel wie Die Erziehung des Kamerun-Negers zur Kultur (Bohner 1902).
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Da die Eingeborenen auf einer sehr tiefen Kulturstufe stehen und im Sinnlich-Materiellen fast ganz aufgehen, haben sie keinen Begriff von Tugend, Sünde, Gewissen, Gebot und Pflicht. Mit den neuen Gedanken und Begriffen, die ihnen gebracht wurden, mussten auch neue Ausdrücke geschaffen werden, um ihnen diese abstrakten Dinge verständlich zu machen.
Die Vertreter der Kolonialmacht hoben sich damit in die Rolle von wohlwollenden Eltern oder Herrschern, deren moralische Pflicht es war, ihre Schutzbefohlenen anzuleiten (vgl. „The White Man’s Burden“ im britischen Kolonialreich). „Daher ist es eine der praktisch wichtigsten Aufgaben, die unberechenbaren, genügsamen Naturkinder zu ausdauernden, gewissenhaften Arbeitern zu erziehen“ argumentiert Hassert (1904: 636). In dieser Argumentation wurden indigene Sprachen nicht selten deterministisch als Symptom der Unterentwicklung ihrer Sprecher verstanden und die vermeintlich einfache Sprachstruktur als Ausdruck kultureller Primitivität gesehen: Der geistig tiefen und unentwickelten Kulturstufe der Eingeborenen entspricht die Armut ihrer Sprache an Begriffen und Ausdrücken für Gedankendinge. […] Bei dem engbegrenzten Horizont und der geringen geistigen Regsamkeit der Papuas ist es nicht zu verwundern, daß in ihrem Wortschatz abstrakte Begriffe selten sind
heißt es bei Geiser (1929: 71, 73; vgl. auch Kraemer 1910: 112), und bei Albert Daiber lesen wir zum Bismarck-Archipel: Aber auch in der Sprache eines Volkes, in der Art und Weise, wie es seinen Vorstellungen und Gefühlen Ausdruck verleiht, liegt manches charakteristische Merkmal. Wie der Vorstellungskreis eines Kindes sich auf sinnliche Wahrnehmungen beschränkt und Abstraktionen nicht kennt, so wissen auch die auf niederer Entwicklungsstufe stehenden Stämme der Wilden nur das zu benennen, was für sie sinnlich wahrnehmbar ist. Daher hat ihre Ausdrucksweise jenen kindlichen Charakter, der auf uns Kulturmenschen so eigentümlich anziehend wirkt. (Daiber 1902: 253)
Es gab durchaus divergierende Auffassungen, die jedoch die Minderheit bildeten. Z. B. bezeichnet Neuhauss (1911: 118–119) die Strukturen der indigenen Sprachen als „verwickelt“ und stellt fest, dass man sich lang und intensiv mit ihnen beschäftigen müsse, um sie wirklich zu verstehen (vgl. auch Detzner 1920: 206). Als nach fortschreitender Erforschung der indigenen Sprachen gegen Ende des 19. Jahrhunderts klar wurde, dass ihre Strukturen sehr wohl komplex waren (vgl. Engelberg 2014: 322–323), richtete sich das Argument der einfachen Sprachstruktur vor allem gegen den „unterentwickelten“ Wortschatz, wie aus den angeführten Zitaten deutlich wird.
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Ähnlich wie bei den indigenen Sprachen wurde auch die vergleichsweise einfache Grammatik des Pidginenglisch auf den Entwicklungsstand der Kolonisierten zurückgeführt („weil sie diesen Jargon in der Hauptsache gemacht haben“, Friederici 1911: 95): Die Verkehrssprache des Europäers mit dem Südsee-Insulaner ist das sogenannte Pidginoder Business-English, eine für das Begriffsvermögen der dunkeln Rasse hergestutzte Sprache. (Daiber 1902: 229) Wie jenseits der Meere Englisch die Verkehrssprache der gebildeten Völker unter einander ist, so versuchte der weiße Mann, als er sich auf den palmbeschatteten Eilanden der Südsee festsetze, auch den vielsprachigen schwarzen Eingeborenen die englische als eine gemeinsame Sprache zu bringen, in der sie sich mit dem Weißen wie unter einander verständigen könnten. Aber für abstrakte Sprachbegriffe war der kindliche Sohn der Wildnis noch nicht reif. Er formte die Sprache nach seiner Weise um, untermischte sie mit eigenen Ausdrücken, und es entstand das originelle Pidgin-Englisch.6 (Daiber 1902: 254)
4.5 Sprachplanung: Die Suche nach einem Nachfolger für Pidginenglisch Die sprachpolitische Diskussion in Deutsch-Neuguinea muss vor dem in 4.3 und 4.4 beschriebenen Hintergrund gesehen werden, und es ist kaum verwunderlich, dass schon früh über die Ersetzung des Pidginenglisch durch eine andere Sprache nachgedacht wurde. „Auf die Dauer kann es nicht angehen, daß in deutschen Kolonien ein verderbtes Englisch das einzige Verständigungsmittel zwischen Herren und Arbeitern darstellt“, argumentierte Zöller (1891: 44). Als potentielle Nachfolger für Pidginenglisch als Verkehrssprache in Deutsch-Neuguinea wurden vor allem drei Sprachen diskutiert, Malaiisch, Tolai und Deutsch.
4.5.1 Malaiisch Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es einige Stimmen, die sich interessanterweise für das Malaiische als Lingua Franca in Deutsch-Neuguinea stark machten.7 Der Grund dafür war, dass Malaiisch als leicht erlernbar galt (Schnee 1904: 316), in Südostasien weit verbreitet war (Neuhauss 1911: 122) und – das wohl
|| 6 Letzteres steht im Widerspruch zu der Feststellung, dass es die Weißen waren, die Pidginenglisch in die Südsee einführten (z. B. Wendland 1939: 18). 7 Dieser Vorschlag wurde übrigens auch für Samoa vorgebracht (vgl. Fiedler 1906: 10).
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gewichtigste Argument – die Pflanzer in Kaiser-Wilhelms-Land wegen des Arbeitskräftemangels zu Beginn der Kolonialisierung Malaiisch sprechende Arbeiter aus Java anwarben (Javaner und dort eingewanderte Chinesen). Auf nicht wenigen Pflanzungen machten diese die Mehrheit der Arbeiter aus, und Malaiisch war dort eine auch von Weißen gesprochene Verkehrssprache (vgl. dazu Huber & Velupillai 2016 und Karte 69 „Malay in German New Guinea“ in Wurm et al. 1996, Bd. I):8 Glücklicherweise besteht durch die grosse Einfuhr von javanischen und chinesischen Kulis Aussicht, dass mit der Zeit das scheussliche und unserer unwürdige Pitjen-Englisch verdrängt und das Vulgär-Malayische zur allgemeinen Umgangssprache werden wird
prophezeite Hagen (1899: 211) im Jahr 1893. Gegen die Erhebung des Malaiischen zur allgemeinen Lingua Franca führte allerdings Neuhauss (1911: 122) an: Vernünftig Malayisch lernen wird der Papua doch nicht; vielmehr würde die Sache immer auf ein malayisches Pidjin hinauslaufen und damit ist niemandem geholfen; dann können wir ruhig bei dem gegenwärtigen Pidjin verbleiben, welches, so weit es sich um den Verkehr des Herren mit dem Untergebenen handelt, ausreicht.
Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass Malaiisch in Deutsch-Neuguinea eine völlig fremde Sprache darstellte: Weshalb aber sollten wir eine fremde Vulgärsprache, wie z. B. das Vulgär-Malayische ins Papua-Land einführen, anstatt uns eines eigenen Papua-Idioms, das doch auch den andere Dialekte sprechenden Nachbarstämmen weit eher mundgerecht sein würde, zu bedienen? […]. Die Einführung des Malayischen ins Papua-Land würde etwas Aehnliches sein, wie wenn sich Luther um der hochgradigen deutschen Dialektverschiedenheiten willen zu seiner Bibelübersetzung des Holländischen oder Englischen hätte bedienen wollen. […]. In solchem Kampfe ums Dasein, wie ihn die einfachen und rohen Kolonialverhältnisse darbieten, tragen diejenigen Sprachen den Sieg davon, die am einfachsten und die am leichtesten zu erlernen sind. Das Unkraut des Pidschin-Englisch wird am ehesten durch eine noch leichter zu erlernende, weil noch einfacher organisierte Sprache – und das wäre für unser Südsee-Schutzgebiet das Vulgär-Papuanisch – ausgerottet werden können. (Zöller 1891: 417–418)
|| 8 Malaiisch wurde zwischen 1870 und 1890 auch von Vogelhändlern im Nordwesten von Kaiser-Wilhelms-Land (heute West Sepik Province) eingeführt und wurde dort offenbar bis etwa 1930 von den Sepik weithin verstanden (Adelaar at al. 1996: 687). Dies war jedoch eine von der Verbreitung des Malaiischen auf den deutschen Plantagen unabhängige Erscheinung.
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Da es um 1910 nur noch wenige Sprecher des Malaiischen in DeutschNeuguinea gab, kam diese Sprache nicht mehr als Lingua Franca in Frage und die Diskussion erledigte sich von selbst (Friederici 1911: 94).
4.5.2 Tolai Im vorangehenden Zitat wurde deutlich, dass Hugo Zöller eine indigene Sprache als Ersatz für Pidginenglisch favorisierte. Das wissenschaftliche Argument dafür sollten die von ihm gesammelten Wortlisten melanesischer Sprachen legen. Der Vergleich dieser Listen sollte beweisen, dass die Sprachen in Deutsch-Neuguinea doch einheitlicher und enger verwandt seien als zunächst vermutet (vgl. 4.2) und damit auch einfacher zu erlernen (Zöller 1891: 414). Zöller argumentiert weiter: Unpraktisch ist der Gebrauch des Pidschin-Englisch, weil bloß ein Teil der in unsere Kolonien entsandten Beamten, Kaufleute, Pflanzer, Missionare u. s. f. die Kenntnis des Englischen von Deutschland aus mitbringt und weil mit sehr viel geringerem Aufwand an Zeit und Mühe, als ihn das Einpauken der häßlichsten aller Sprachkarikaturen benötigt, nicht bloß eine, sondern mehrere Eingeborenenmundarten erlernt werden könnten. (Zöller 1891: 412)
Da durch die frühe Missionierung der Gazelle-Halbinsel von Neupommern das dort gesprochene Tolai (Kuanua) gut erforscht und dokumentiert war und außerdem als Missionssprache auch in angrenzenden Sprachgebieten verwendet wurde, hielten es einige für eine geeignete Alternative zum Pidgin. Aber auch hier wurde auf Probleme hingewiesen: Dagegen besteht bei gewissen Stellen der Regierung der Plan, oder doch wenigstens seit Jahren der Wunsch, zu versuchen, die Sprache der Küstenbewohner des kleinen nordöstlichen Stückes der Gazelle-Halbinsel als allgemeine Verkehrssprache einzuführen. An sich zeigt ein solches Bestreben das zweifellos dankenswerte Ziel, das höchst unerfreuliche Pidgin-Englisch überflüssig zu machen und aus der Kolonie zu verdrängen […]. Dagegen ist es mir immer unmöglich gewesen zu verstehen, was man sich von einem solchen Versuch mit jener genannten Eingebornen-Sprache bei dem nun doch einmal herrschenden Zustande für ein Ergebnis verspricht. […]. Wie kann man einen Pflanzer veranlassen wollen, mühsam eine solche Sprache zu erlernen, der unter seinen Arbeitern vielleicht zwanzig verschiedene Sprachen und untereinander unverständliche Dialekte vertreten hat, und unter hundert Arbeitern vielleicht nur fünf hat, die von der Nordostküste der GazelleHalbinsel herstammen? […]. Und nun gar auf Neu-Guinea [Kaiser-Wilhelms-Land], wo so wenige To-Leute hinkommen! (Friederici 1911: 94)
Heinrich Schnee führte weitere Gründe gegen die Einführung des Tolai an:
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Einmal muss bezweifelt werden, dass diese Eingeborenensprache sich ausserhalb des Gebietes der ihr verwandten Dialekte so schnell Eingang verschaffen wird, wie bisher innerhalb dieses Gebietes (Gazellehalbinsel, Neulauenburg, Südneumecklenburg). Sodann aber steht der allgemeinen Anwendung dieser Sprache durch die Europäer ihre schwere Erlernbarkeit hinderlich im Wege. (Schnee 1904: 316)
Kleintitschen (1906: 179) berichtete schließlich vom Scheitern der Versuche der Einführung des Tolai: Die gemeinschaftlichen Bestrebungen des Gouvernements und der Missionen, das Pidginenglisch durch die Sprache der Küstenbewohner zu ersetzen, sind leider gescheitert. Eine eigens zu diesem Zwecke einberufene Versammlung lehnte mit Mehrheit den Vorschlag ab und sprach sich für Beibehaltung des ersteren aus.
4.5.3 Deutsch „Die deutsche Sprache in deutschen Kolonien“ proklamierte von Hesse-Wartegg (1902: 54), doch sah die linguistische Realität in Deutsch-Neuguinea anders aus. Zwar wurde Deutsch in den Regierungsschulen und in einigen Missionsschulen gelehrt, unter anderem auch in katholischen Missionsschulen auf der GazelleHalbinsel (Kraemer 1910: 93) und in den Schulen der Steyler Missionare am westlichen Küstenabschnitt von Kaiser-Wilhelms-Land (Mühlhäusler 2012: 74– 76), was Deutsch zu einer bescheidenen Verbreitung im Bereich der christlichen Mission verhalf. Insgesamt aber erlangte Deutsch bei Weitem nicht die Popularität des Pidginenglisch.9 Zur Stärkung der Verwendung der deutschen Sprache auch im Alltagsleben wurde wiederholt an das Nationalbewusstsein der deutschen Pflanzer, Händler und Administratoren in Neuguinea appelliert: Mögen doch die Deutschen in der Südsee ihrer Muttersprache Anerkennung verschaffen und zu ihrer Verbreitung dadurch beitragen, daß sie sich im Verkehr mit den Eingeborenen nach Thunlichkeit der deutschen Sprache bedienen […]. Mögen sich in den heute noch kleinen deutschen Ansiedlungen hier die Beamten, Missionäre, Kaufleute und Händler die Hand zum deutschen Sprachenbunde reichen und einander geloben, nach Kräften und bei jeder Gelegenheit für gutes Deutsch einzutreten, mögen sie zeigen, dass sie auch in Bezug auf die deutsche Sprache die Herren auf deutschem Grund und Boden sind. (von Hesse-Wartegg 1902: 54)
|| 9 Zur Stellung des Deutschen (auch pidginisierte und kreolisierte Varietäten) in Neuguinea siehe Mühlhäusler (2001: 239–247); zu Maßnahmen, die zur Förderung des Deutschen ergriffen wurden, siehe Stolberg (2015).
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Solche Aufrufe verhallten jedoch ohne größere Wirkung, denn den primär gewinnorientierten Pflanzern und Händlern konnte man “begreiflicherweise keine Vorschriften machen“ (von Hesse-Wartegg 1902: 54). Von diesen Gruppen gab es erheblichen Widerstand, die funktionierende Verkehrssprache Pidginenglisch durch eine andere zu ersetzen, deren Einführung aufwändig gewesen wäre, einige Zeit gedauert hätte und deren Erfolgsaussichten unsicher schienen. So ist zu erklären, warum die Kolonialverwaltung letztlich scheiterte: Gouverneur Albert Hahl unternahm während seiner Amtszeit in Deutsch-Neuguinea (1901–1914) „den infolge ungenügender Unterstützung seitens der dortigen Deutschen leider vergeblichen Versuch, in seinem melanesisch-mikronesischen Amtsbezirk das Pidgin-Englisch auszurotten und durch Deutsch oder Malayisch zu ersetzen“ ([Anonym] 1913; vgl. auch Mühlhäusler 2001: 240–241). „Auch keiner der Kolonisten hat es bis jetzt zustande gebracht, deutsch sprechende Eingeborene heranzubilden. Nein, es wird mit frevelhaftem Gleichmute weiter Pidjin-Englisch gesprochen […]“ lamentierte Kraemer (1910: 93). Diese Gleichgültigkeit der ansässigen Deutschen war der Hauptgrund des Scheiterns der allgemeinen Einführung der deutschen Sprache, aber es wurden auch andere Argumente angeführt. Es gab z. B. Stimmen, die auf die schwierige Erlernbarkeit des Deutschen verwiesen: „Als Verkehrssprache ist die deutsche Sprache aber gänzlich ungeeignet; dafür ist sie zu verwickelt und enthält außerdem Laute, welche der Eingeborene schwer aussprechen kann“ behauptete Neuhauss (1911: 121; vgl. auch Schnee 1904: 316) und schloss ein sprachhygienisches Argument an: Wenn Eingeborene aus sprachlich verschiedenen Gegenden, die in der Schule Deutsch lernen, sich gegenseitig zu verständigen suchen, brauen sie ein deutsches Kauderwelsch zusammen, welches grammatikalisch ungefähr auf der Höhe des Pidjin steht. Für eine solche Verhunzung ist das Englische gut genug, unsere Sprache aber zu schade. (Neuhauss 1911: 121–122)
Außerdem wurden Nachteile aus dem Verlust einer den Kolonialherren vorbehaltenen Sprache befürchtet. Friederici (1911: 96–97) berichtete: Zwei Gründe sind mir immer gegen die Einführung der deutschen Sprache angeführt worden: Die große Schwierigkeit der Erlernung dieser Sprache für die Eingebornen und die Unbequemlichkeit nach allgemein gewordener Kenntnis des Deutschen, keine Sprache mehr für die Herrenrasse zur Verfügung zu haben, in der man nicht von unbefugten Eingebornen verstanden oder belauscht werden könne. Die Regierung steht wohl nur zum Teil hinter dieser Auffassung, der aber viele Beamte und sicherlich ein großer Teil der alten Ansiedler beitreten.
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Offenbar war die Angst vor dem Verlust einer den Kolonisatoren vorbehaltenen Sprache so groß, dass Einzelne den Gebrauch des Deutschen durch Bedienstete sogar bestraften: In Deutsch-Neuguinea […] kann man den deutschsprechenden Eingebornen wie eine Stecknadel suchen und findet ihn nicht. Das wundert mich nun aber gar nicht mehr, nachdem mir gelegentlich einer Unterhaltung über diese Frage von einem Herrn in nicht gewöhnlicher Stellung bemerkt wurde, daß er jedem seiner Jungen unmittelbar eine Maulschelle geben würde, der sich unterstehen sollte, in seiner Gegenwart ein Wort deutsch zu reden. (Friederici 1911: 96–97)
4.6 Wieder Pidginenglisch: Vom Pragmatismus zur Resignation Zu Beginn der kolonialen Aktivitäten herrschte mit Blick auf das Pidginenglisch ein gewisser Pragmatismus vor, gepaart mit der Hoffnung, dass es baldmöglichst abgelöst werden würde. „Diese Notwendigkeit, sich einstweilen des Pidschin-Englisch zu bedienen, ist eine traurige Zugabe bei der Verwendung von Arbeitern aus dem Bismarck-Archipel“ stellte Zöller (1891: 44) in der 1880ern fest, und von Hesse-Wartegg (1902: 52) führt weiter aus: das Pidgen-Englisch war bereits die verbreitetste Verkehrssprache, als die Deutschen hierherkamen, sie ist es auch auf den anderen Inseln der Südsee, und man konnte sie begreiflicherweise nicht einfach wegdekretieren und durch die deutsche ersetzen. […]. Es musste also das Pidgen-Englisch beibehalten werden, wenigstens so lange, bis aus den zahlreichen Missionsschulen ein hinreichend großer Nachwuchs deutschsprechender Kanaken hervorgegangen ist.
Da die Einführung von alternativen Verkehrssprachen wie Deutsch oder Tolai am Widerstand oder zumindest an der Passivität des Großteils der Kolonialdeutschen und an faktischen Hindernissen scheiterte, machte sich im frühen 20. Jahrhundert Ernüchterung breit: „Da die Hauptschwierigkeit, der Widerstand der Ansiedler, nicht überwunden werden kann, wird das Pidginenglisch wohl die Umgangssprache bleiben, aber sicher nicht zur Förderung des Deutschtums“ (Kleintitschen 1906: 179; vgl. auch Schnee 1904: 316).
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5 Zusammenfassung und Ausblick In diesem Artikel haben wir die Database of Early Pidgin and Creole Texts (DEPiCT) beschrieben, eine elektronische Datenbank, in der frühe Beschreibungen von Kontaktsprachen und ihrem soziolinguistischen Kontext online durchsuchbar gemacht werden. DEPiCT stellt ein neues Werkzeug für Koloniallinguisten und Kontaktsprachenforscher dar und ermöglicht als Referenzdatenbank sprachhistorische Studien zu Kontaktsprachen. Durch die reiche Annotation der Texte bietet DEPiCT eine nützliche Datenbasis für einzelsprachliche und sprachvergleichende Ansätze, sowohl im Bereich der Sprachstruktur als auch im Bereich der Sprachsoziologie. Um die Anwendungsmöglichkeiten der Datenbank zu illustrieren, haben wir im zweiten Teil des Artikels gezeigt, welches Datenmaterial DEPiCT für eine sprachsoziologische Studie liefern kann. Natürlich kann eine solche Untersuchung auch ohne die Hilfe einer Datenbank wie DEPiCT durchgeführt werden, indem koloniale Quellen einzeln und mehr oder minder systematisch gesichtet werden, wie dies bisher auch von einigen Sprachkontaktforschern (die Autoren dieses Beitrags eingeschlossen) unter hohem Zeitaufwand getan wurde. Durch die DEPiCT-Integration stehen jedoch einmal exzerpierte Quellen auch für andere Studien zur Verfügung und können durch ihre Annotation thematisch passgenau und zeitsparend durchsucht werden. Durch die Sammlung von durch verschiedene Wissenschaftler über viele Jahre hinweg erschlossene Quellen enthält DEPiCT sehr viel umfangreicheres und vollständigeres Material, als es der oder die Einzelne im Rahmen einer Studie zusammentragen könnte. Dazu kommt, dass das Material durch die freie Verfügbarkeit online auch Wissenschaftlern zur Verfügung steht, die keinen Zugang zu den Quellen haben. Als Beispiel für das Potential von DEPiCT wurde eine Untersuchung der Sprachplanung, Spracheinstellungen und Sprachideologien in Deutsch-Neuguinea gewählt, wie sie uns in deutschen kolonialen Quellen entgegentreten. Im Mittelpunkt stand dabei das Pidginenglisch, das bereits bei der Ankunft der Deutschen als Verkehrssprache in der Südsee weit verbreitet war. Die meisten Kommentatoren standen dieser Sprache negativ gegenüber und empfanden es als politisch inakzeptabel, dass in einer deutschen Kolonie eine Form des Englischen als Lingua Franca benutzt wurde. Zur Unterfütterung dieser Haltung und der daraus resultierenden Forderung, Pidginenglisch durch eine andere Sprache zu ersetzen, wurden verschiedene Argumente herangezogen: Zum einen wurden praktische Erwägungen angeführt, wie die begrenzte Ausdrucksfähigkeit oder beschränkte Verbreitung der Sprache insbesondere im Hinterland. Zum anderen finden wir in den zeitgenössischen Quellen auch eine sprachideo-
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logische Beweisführung, die das Pidginenglisch als Symptom der Unterentwicklung der Kolonisierten interpretierte und eine wichtige Aufgabe der Kolonisierung in einer kulturellen „Entwicklungshilfe“ sah, die letztendlich zur Verdrängung „unterentwickelter“ Sprachen führen sollte. Die Versuche, Pidginenglisch durch Malaiisch, Deutsch oder eine indigene Sprache zu ersetzen, scheiterten am Widerstand der Siedler in Deutsch-Neuguinea, die unwillig waren, Energie in die Ersetzung einer ihren Ansprüchen genügenden Verkehrssprache zu stecken. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs, zu dessen Beginn bereits Deutschland die Kontrolle über Neuguinea verlor, zog einen Schlussstrich unter die sprachenpolitische Debatte in der deutschen Kolonie.
Danksagung: Wir danken der DFG für die großzügige Förderung des DEPiCTProjekts (HU 884/10-1). Ein herzliches Dankeschön auch an die Herausgeber dieses Bandes für ihre hilfreichen Kommentare und die kompetente Betreuung.
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Bruno Arich-Gerz
„Migratsprache“ Oshideutsch Eine namibisch-deutsche Varietät zwischen Generatiolekt, ‚invertiertem Pidgin‘ und postkoloniallinguistischer Theoriebildung Abstract: Taking its cue from data elicited in a questionnaire, translation samples and transcribed interview recordings, the paper undertakes a first and provisional analysis of a language variety developed by young Namibian refugee children during their 1979–1989 exile in the German Democratic Republic: Oshideutsch. The aim is twofold: first, the contribution seeks to describe Oshideutsch‘s key characteristics as an argot drawing on the source languages of (mainly) German and Oshivambo. Second, it pinpoints Oshideutsch within the concepts of current linguistic subdiciplines such as sociolinguistics (more specifically, argot research), contact linguistics, and postcolonial language studies. With regard to the latter, the paper strives to establish Oshideutsch as a case in point of a ‘migratory language’ whose speakers (and thus, whose scope and outreach) have up to the present day effectively been covering a space spanning from Germany to Namibia. Keywords: Namibia, German and Oshivambo (languages), postcolonial language studies, contact linguistics, argot research
1 Oshideutsch: Hintergründe und Herangehensweisen an eine sprachliche Varietät in einer besonderen (post)kolonialen Konstellation 1979 gelangten auf Initiative der namibischen Befreiungsbewegung SWAPO und der SED die ersten von rund 430 namibischen Flüchtlingskindern aus dem angolanischen und sambischen Exil in die DDR. In Bellin (Mecklenburg) und später Staßfurt (Sachsen-Anhalt) waren sie in relativer Sicherheit, weil räumlich
|| Bruno Arich-Gerz: Bergische Universität Wuppertal, Didaktik der deutschen Sprache und Literatur, Gaußstr. 20, 42119 Wuppertal. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-171
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weit entfernt vom Liberation Struggle ihrer Eltern gegen das südafrikanische Apartheidregime, das in Namibia über Jahrzehnte hinweg repressiv-koloniale Strukturen aufgezogen hatte: Es handelt sich bei der namibisch-ostdeutschen Kooperation mithin um ein Phänomen innerhalb einer (post-)kolonialen Konfliktsituation, bei der Deutschland und seine Sprache nicht (mehr) selbst als koloniale Akteure involviert sind, sondern als Zufluchtsort und an diesem gängiges Kommunikationsmittel.1 Die namibischen Kinder wurden von ostdeutschen Erzieherinnen beschult und von namibischen Kolleginnen betreut, ehe es 1990 nach der zeitgleichen Unabhängigkeit Namibias und dem Untergang der DDR zu ihrer Rückverbringung nach Afrika kam.2 Während ihrer Zeit in Ost-
|| 1 Die Bezeichnung der südafrikanischen Politik der 1970er und 1980er Jahre in der von ihr selbst so genannten „Fünften Provinz“ als kolonial ist dagegen legitim, weil disziplinenübergreifender Konsens (etwa Melber 2003: 19ff. aus politikwissenschaftlicher und Förster et al. 2004: 19 aus ethnologischer und historischer Warte). Namibia ist 1990 als letztes Land in die Unabhängigkeit entlassen worden und hat damit seine Dekolonisierung erreicht: lange nach den meisten Ländern des globalen Südens also, und erst recht lange nach dem Ende der kaiserdeutschen kolonialen Expansionspolitik im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Diese Hervorhebung – dass es sich um einen von den Strukturmerkmalen her dezidiert kolonialen Kontext gehandelt hat, der in linguistisch beschreibbarer Weise, aber auch in puncto Theoriebildung in postkoloniale Bereiche ausgreift – ist konstitutiv für das im Folgenden zu Erörternde. Denn eine Beleuchtung des Themas vor dem Hintergrund der deutsch-namibischen Kolonialvergangenheit ist nicht ohne argumentative Umwege und letztlich kaum haltbare Konjekturen möglich. An keiner Stelle in der Literatur (und Timm 2007 enthält eine akribische Sichtung der archivierten Unterlagen u.a. zur Motivation der DDR, sich in dieser Weise zu engagieren) ist beispielsweise eine Verquickung des SED-Hilfsangebots an die SWAPO mit einer wie auch immer gearteten besonderen Verantwortung für die Belange der zwischen 1884 und 1915 von Deutschen kolonial unterdrückten Namibier zu finden. Mithin erweitert eine Untersuchung von Oshideutsch vor (post)kolonialem Hintergrund bereits rein nominell das Spektrum der Arbeiten im Feld (und der Schriftenreihe zu) Koloniallinguistik/Postcolonial Language Studies, da Deutsch (als Sprache) und Deutsche (als in diesem Fall involvierte Kolonialakteure) deutlich voneinander zu unterscheiden sind. 2 Die Einzelheiten dieser namibisch-deutschen Begebenheit sind publizistisch (etwa dokumentarfilmisch oder journalistisch), literarisch bzw. (auto)biografisch (Gebert 2008, Engombe 2004) und auch wissenschaftlich beleuchtet worden. In disziplinärer Hinsicht reicht das Spektrum von ethnologischen Annäherungen (Schmidt-Lauber 1998: 401–426) über sozialwissenschaftliche Arbeiten mit Blick auf Identitäts- und Transnationalitätsaspekte (Witte et al. 2013 sowie Witte et al. 2014) bis zu pädagogikzeithistorischen Studien mit Interesse am Bildungssystem der DDR (Timm 2007) und Darstellungen der interkulturellen Herausforderungen in den DDR-Schuleinrichtungen (Krause 2009). Alle streifen Oshideutsch, ohne es einer eingehenden linguistischen Analyse zu unterziehen. Zum genuin linguistischen Forschungsstand über gegenwartssprachliche Phänomene im namibisch-deutschen Kontext (und zum diesbezüglichen Desiderat hinsichtlich Oshideutsch) vgl. Fußnote 6.
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deutschland hatten die Kinder eine Sondersprache entwickelt, die aktuell immer noch in Gebrauch ist, sprich bei den Zusammenkünften der heute zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig Jahre alten „Ex-DDRler“ (so die Selbstbezeichnung der Gruppe anlässlich der Gründung eines Ehemaligen-Freundeskreises3) gesprochen wird. Den Namen für diese Varietät haben die Sprecher/innen selbst hervorgebracht, seit ihrer Rückkehr nach Namibia ist er in Gebrauch: Oshideutsch. In dem Wortsegment Oshi klingt dabei nicht nur in ironischer Brechung die im Nachwendedeutschland häufig – und häufig pejorativ – gebrauchte Bezeichnung für einen Bewohner der ehemaligen DDR mit an, „Ossi“. Oshi steht in der Erst- oder Muttersprache der meisten Sprecher/innen, dem Oshivambo, zugleich für ‚Sprache‘, hier: ‚Sprache der Owambo‘. Damit sind die beiden wichtigsten Spendersprachen des Oshideutsch genannt: Deutsch und Oshivambo; hinzukommen inzwischen – und in deutlich geringerem Maß – Anteile des Englischen sowie sporadisch Elemente des Afrikaans (Kenna 1999: 54). Eine Varietät, die auf diese Spendersprachen zurückgreift und sie zu einer Geheimsprache kombiniert, der zwischen 1979 und 1989 weder ostdeutsche noch namibische Erzieherinnen folgen konnten, verlangt nach einer genaueren Betrachtung. Sie tut dies wegen der doppelten Grenzgänge und -übertritte, die das Oshideutsch kennzeichnen: vom südlichen Afrika nach Ostdeutschland und von dort 1990 zurück nach Namibia. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht in den Blick geraten dabei die Soziolinguistik, vor deren Hintergrund und mit deren Hilfsmitteln Geheimsprachen üblicherweise ausgelotet werden, dazu die Kontaktsprachenlinguistik mit ihren Ansätzen zu den zahlreichen, nicht nur in kolonialen Kontexten entstandenen Pidginsprachen und, hiervon nicht weit entfernt, der in Deutschland vergleichsweise neue und in seinem Forschungsdesign bzw. der -methodik an interdisziplinären Brückenschlägen interessierte4 Zweig der Koloniallinguistik (Postcolonial Language Studies).
|| 3 Vgl. Hashingola (2006). Die Bezeichnung der Gruppe von außen, also etwa in der Forschung, lautet zumeist „DDR-Kinder von Namibia“. Auf die problematischen Aspekte einer solchen „Bezeichnungspraktik“ – die „Kinder“ sind dem jungen Alter längst entwachsen, die DDR gibt es nicht mehr, die Bezeichnung impliziert eine nach wie vor homogene Gruppe, was nachweislich nicht zutrifft – verweisen Witte et al. (2014: 491, Fußnote 1). Vgl. auch Kenna (1999: 50). 4 Zur Kontaktierbarkeit von Linguistik und den insbesondere in der anglophonen Welt verbreiteten und in kultur- und literaturwissenschaftlichen Kontexten etablierten Postcolonial Studies vgl. den Aufriss entsprechender Desiderate in Warnke et al. (2016: 10–14). Exemplarisch für einen interdisziplinären Brückenschlag und ebenso einschlägig für das im Folgenden verhandelte „Oshideutsch“ ist auch der Hinweis aus der Afrikanistik, „dass sich Sprachwissen-
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Diese drei linguistischen Subdisziplinen sollen im Folgenden adressiert werden mit dem Ziel, sie am Ende – und eben am Beispiel des Oshideutsch – so zusammenzuführen, dass mit den Zwischenschlussfolgerungen und dem heuristischen Modell bzw. dem Konzept einer „Migratsprache“ ein hoffentlich tragfähiger Beitrag zur Theoriebildung in der zuletzt genannten (Post-)Koloniallinguistik steht.
2 Oshideutsch als Geheimsprache: der soziolinguistische Ansatz Auf die Frage nach dem Zustandekommen der Varietät Oshideutsch antwortet Lucia E. (geb. 1972) in einem an sie – und weitere sechs Informant/innen – geschickten Questionnaire:5 [Wir] haben die deutschen wie auch die namibischen Erzieher austricksen wollen, damit sie uns nicht verstehen, was wir planen. Die namibischen Erzieher waren nicht so gut in Deutsch und auch die Deutschen konnten kein Oshivambo. Wir [haben] die Wörter dann einfach vermischt und sie etwas schneller ausgesprochen damit sie nicht draufkommen (in Arich-Gerz 2014a).
Die Verwendung einer namibisch-deutschen Sondersprache6, die nur den zweisprachig versierten, jungen Eingeweihten zugänglich ist, wurde und wird nicht
|| schaftler vor dem Hintergrund koloniallinguistischer Ansätze stets auch mit der Ethnographie des Sprechens beschäftigen müssen“ von Storch (2016: 152); Näheres dazu weiter unten. 5 Die erste Erhebung umfasste einen Fragebogen (Questionnaire) mit einem halben Dutzend Fragen zum Zustandekommen, zur heutigen Verbreitung und zu sonstigen Charakteristika von Oshideutsch. Die subjektiv gefärbten Antworten erfolgten schriftlich (Arich-Gerz 2014a), dies gilt auch für die Übersetzungen eines kurzen Textes – eines erfundenen Dialogs mit alltagsnamibischer Thematik und eher kolloquialem Register – ins Oshideutsch (Arich-Gerz 2014b). Die Zahl der Rückläufer – deren orthografische Besonderheiten im Fall von eindeutig dem Oshivambo zugehörigen Elementen erhalten geblieben sind – ist noch bescheiden, derzeit sind es ebenfalls ein halbes Dutzend Übersetzungen, die zudem nicht immer den vollständigen Quelltext in die Zielsprache übertragen haben. Die Notwendigkeit weiterer Erhebungen ist gegeben. Zum weiterhin erhobenen Material zählen fünf längere Mitschnitte von Gesprächen der Informant/innen untereinander (Arich-Gerz 2015), deren Übertragung ins Standarddeutsche einer der Oshideutschsprecher angefertigt hat. 6 In der sprachwissenschaftlichen Forschung zu Deutsch und (bzw. in) Namibia im postkolonialen bzw. Gegenwartskontext – einschlägig sind hier in soziolinguistischer Hinsicht u.a. Pütz & Dirven (2013), Wiese et al. (2014), aus jugendsprachforscherischer Warte Kellermeier-Reh-
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nur von den damaligen Kindern selbst, sondern auch in den Beschreibungen Dritter als Versuch angesehen, kommunikative Inhalte vor Mithörenden zu schützen (Schmidt-Lauber 1998: 424, Hopf 1999: 174): sieht man von seinem Verbreitungsgebiet ab und betrachtet lediglich die soziolinguistisch-funktionalen Besonderheiten sowie den je besonderen kolonialen Kontext, ist eine Parallele zum Rabaul Creole German bzw. „Unserdeutsch“ aus Papua-Neuguinea nicht zu übersehen, vgl. Maitz (2016), Volker (1989; 1996). Auch der Terminus Geheimsprache findet Verwendung (Witte et al. 2013: 3f., Gebert 2008: 141). Geheimsprachen werden nicht nur im deutschen Forschungsraum zumeist mit soziolinguistischem Instrumentarium untersucht: das soll auch hier geschehen, um den Charakter des Oshideutsch – wie genau „einfach vermischt” wird – zu beschreiben. Einleitend dazu der Blick auf das Tableau von Efing (2009: 21), der sich mit Rotwelsch-Dialekten im deutschen Sprachraum befasst hat, die in dieser Nomenklatur – in der Graphik unten links – als Typ 1 bezeichnet werden und Mischformen meinen, die sich aus Standard- bzw. Hochdeutsch und genuin rotwelschen Elementen (etwa Lexemen) zusammensetzen. Unter Typ 2, der codebasierten Geheimsprache, sind Varietäten wie die BiSprache zu verstehen, bei der es unter Einfügung der Silbe ‚bi‘ nach jeder Eingangs- oder Binnensilbe des ‚normalen‘ Wortes zu einem Verdunkelungseffekt kommt, den lediglich Eingeweihte – solche, die um den ‚bi‘-Code wissen – ohne Probleme zu entschlüsseln in der Lage sind: Käbithes Kobifferbiraum für ‚Käthes Kofferraum‘ (vgl. Efing & Arich-Gerz 2017: 35). Typ 3 schließlich ist die Mischform aus codebasierter und mischsprachlicher Geheimsprache. Der Blick auf die besondere Zusammensetzung des Oshideutsch zeigt, dass die namibisch-deutsche Sondersprache nicht dem Typ 2 entspricht, sondern eine genuin mischsprachliche Varietät mit Elementen aus abwechselnd („switchend”) entweder der einen oder anderen Haupt-Spendersprache ist. Der folgende Gesprächsausschnitt ist also insofern repräsentativ, als dass sich in ihm keine Code-Elemente wie besondere Silben oder Silbenumstellungen ausmachen lassen. Außerdem markieren nicht wortimmanente Morphemgrenzen, sondern Wortgrenzen den Ort des Switchings: Deswegen (dt.), andi (Oshivambo ‘ich’), fragen (dt.), ofutu (Oshivambo ‘du zahlst’ [Infinitiv ‘zahlen’: futa]), ngapi (Oshivambo ‘wie viel’):
|| bein (2016), aus dem Blickwinkel Plurizentrik des Deutschen Kellermeier-Rehbein (2015) – hat das Oshideutsch noch keine systematische Analyse erfahren. Eine erste kursorische, noch unvollständige Analyse findet sich in der populärwissenschaftlichen Arbeit von Efing & ArichGerz (2017: 136–141).
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Abbildung 1: Deutsches Varietätensystem (Quelle: Efing 2009: 21).
John H. (geb. 1975): Deswegen andi fragen ofutu ngapi? Onesmus Sh. (geb. 1978): Bei mir? John H.: Ja, bei dir zuhause. Wati mos oto ausziehen. Onesmus Sh.: Ich glaub, nach mir ota me shi machen dreitausend, ja die werden das drei machen. Aber ko Zimmer mos. (Deswegen frage ich, wie viel zahlst du? Bei mir? Ja, bei dir zuhause. Du hast ja gesagt, du würdest ausziehen
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Ich glaub, nach mir machen die die Miete auf dreitausend. Ja, die werden das drei machen. Aber es ist ja ein Zimmer) [Arich-Gerz 2015] Im Umkehrschluss heißt das, dass sich die Mischsprachlichkeit des Oshideutsch erst – und sozusagen frühestens – auf der supramorphologischen, sprich der syntaktischen Ebene aufzeigen ließe.7 Das Mischungsverhältnis ist dabei höchst unterschiedlich, zudem gibt es in den erhobenen Proben (die zu einem Zeitpunkt durchgeführt wurden, als der Gebrauch der Varietät nicht mehr die ursprüngliche Geheimhaltungsfunktion besaß) ganze Halbsatz- oder gar Satzsequenzen in einer der beiden Haupt-Spendersprachen. Für die weitere Analyse belangreich sind allerdings die Switchings innerhalb der (Teil-)Sätze, da sich hiermit Aussagen hinsichtlich einer möglichen syntaktischen oder grammatischen Überdachung durch das Deutsche oder das Oshivambo anstellen lassen. Der zweite Gesprächsausschnitt, in dem es um deutsche Volontäre geht, die für NGOs in Namibia arbeiten, gibt hierfür Hinweise. Auffällig ist in den Sätzen mit Wechsel(n) zwischen den Oshideutsch-konstitutiven Sprachen die deutliche Ausrichtung an einer nicht dem Deutschen entsprechenden – also offensichtlich dem Oshivambo entlehnten – Syntax und Grammatik. Wäre es umgekehrt, dann würde beim Gebrauch von Vollverben nicht der Infinitiv, sondern die konjugierte Form bzw. das Partizip Perfekt stehen (angesteckt statt anstecken), und die Phrase zu lange würde nicht das Ende des Konditionalnebensatzes wakala o mu zu lange zieren, sondern vor der Ortsbestimmung hier und dem Verb in der für das Deutsche typischen Finalstellung (sind) zu finden sein.
|| 7 Keine Regel ohne Ausnahme. In dem erhobenen Material gibt es sehr vereinzelt Fälle eines offenkundig wortimmanenten Switchings: Ounternehmen yadja kondoishi lässt sich vati mo Namibia nieder (Lucia E. in Arich-Gerz 2014b ‘Ein deutsches Unternehmen lässt sich in Namibia nieder’). Ounternehmen enthält den für das Oshivambo typischen Auftakt mit o. Diese Wortinitiierung ist allerdings deutlich stereotypen Charakters (analog zu beispielsweise oSmartPhona, einem Beispiel aus der Werbung des namibischen Telekommunikationsunternehmens mtc). Das initiale o besitzt keinen dem deutschen Vorgabetext entsprechenden Morphemstatus (hier {Nominativ}, {Neutrum}, {Unbestimmtheit}): Fivaz & Shikomba identifizieren o als „indication of definiteness“ (2003: 31, Hervorhebung B.A-G); zudem indiziert die Verwendung von o oftmals eine dialektale Ausprägung des Oshivambo, so beispielsweise bei Ondonga auch für konventionell Ndonga, dem Namen für den in der Region Ondonga verbreiteten Dialekt (aber: „Uukwambi“ für den Kwambi-Dialekt). Das gesamte Beispiel ist zudem der (hier vernehmlich nicht nur medial, sondern auch konzeptionell) schriftlichen Übersetzung eines standarddeutschen Vorgabetextes ins Oshideutsch entnommen, bei dem die Informantin Zeit zur Revision, Reflexion und Überarbeitung hatte. kondoishi in derselben Sequenz ist ein eigenständiges Oshivambo-Lexem mit Lehnwortanteil (doishi) und stellt damit keine oshideutsche Mischform innerhalb der Wortgrenze dar (yadja kondoishi ‘aus Deutschland’).
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Onesmus Sh.: Ame kandi hole menja oma Volontäre. Monica N. (geb. 1983): Ame ondina o Gefühl wakala o mu zu lange, u nene, awa anstecken nua. Onesmus Sh.: Oho ka wenja ka Ndeushi? Monica N.: Mhmm aeye. (Ich mag die Voluntäre, die hierher kommen, nicht so. Ich habe das Gefühl, wenn sie zu lange hier sind, werden sie angesteckt. Oho, von den hiesigen Deutschen? Mhmm ja.) [Arich-Gerz 2015] Ein dritter Gesprächsausschnitt bestätigt den Befund eines Spendersprachenwechsels an den Wortgrenzen (und stellenweise den eines Wechsels an [Halb-]Satzgrenzen). Auch eine erneute Überdachung durch die afrikanische Spendersprache lässt sich festmachen: Marvin H. (geb. 1975): Nein, die [Ministerin Pedukeni Iivula-Ithana] ist immer noch Home Affairs, ja okwa nigwa Home Affairs. Onesmus Sh.: Guck okwalili Home Affairs, aber ich weiß nicht, ob die noch immer …? Marvin H.: Okwalili Home Affairs Onesmus Sh.: Aeye. Marvin H.: Dann kamen dann dingens oma Wahlen und, okwa ninga shike wali? Ich glaub Geingob okwa mischen nur kashona aber Pendukeni ist noch Minister geblieben von Home Affairs. Owawneja eike? Oljie, oljie a bleiben? Oljie a bleiben? (Nein, die ist immer noch Home Affairs. Ja, sie wurde wieder als [Ministerin für] Home Affairs gewählt. Guck, sie war Home Affairs, aber ich weiß nicht, ob die noch immer …? Sie war Home Affairs. Ja. Dann kamen dann dingens, die Wahlen und, was wurde wieder geregelt? Ich glaub [Staatspräsident] Geingob hat alle nur gemischt, aber Pendukeni ist noch Minister[in] geblieben von Home Affairs. Alle anderen? Wer, wer ist noch geblieben?) [Arich-Gerz 2015] Die unterschiedliche Präpositionalverwendung vor Home Affairs (einmal von, ansonsten Nullgebrauch) lässt bei genauer Betrachtung noch keinen Rückschluss auf eine grammatische Überdachung zu, die nicht dem Deutschen entspricht, da es sich um eine in beiden Haupt-Spendersprachen geläufige, umgangssprachliche Variante handeln kann (analog zu „Schäuble ist Finanzen und Gabriel jetzt Außen, vorher Wirtschaft“). Auffallend ist an zwei Stellen
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erneut der Infinitivgebrauch (statt, im Deutschen, der des Partizip Perfekt): Geingob okwa mischen nur kashona und Oljie a bleiben? Wieder verweist dies auf die Verwendung von Strukturelementen des Oshivambo. Findet der Sprachenwechsel innerhalb einer syntaktischen Einheit statt, dann setzt sich das Grammatikgerüst der afrikanischen Spendersprache durch: okwa und a sind als separate Worteinheiten auftretende Konkordanzindikatoren (hier für die 3. Person Singular) des Oshivambo, die anstelle einer Flexion und/oder Affigierung des Vollverbs (bleiben und mischen zu, in diesem Fall ausbleibend, geblieben und gemischt) stehen (vgl. Crane et al. 2004: 68). Deutlich wird zugleich die Reichweite und Spezifizität dieses Befunds, denn er trifft nur zu, wenn innerhalb von (Halb-)Sätzen ein Switching zu beobachten ist. Sind dagegen komplette Halb-, Neben- oder Hauptsätze in einer der Spendersprachen gehalten (wie in diesem Beispiel aber Pendukeni ist noch Minister geblieben von Home Affairs), dann orientiert sich auch deren morphosyntaktischer Aufbau an dieser Sprache (hier dem Deutschen) – bezeichnenderweise übrigens in einem von Sprecherwechsel nicht unterbrochenen Gesprächsbeitrag ein und desselben Informanten. Als Fazit an dieser Stelle lässt sich damit festhalten: zumindest den heutigen Gebrauch von Oshideutsch zeichnet aus, dass die Spendersprache Oshivambo in den mischsprachigen Phrasen und Sätzen die grammatische und syntaktische Grundlage beisteuert – und nicht das Deutsche.
3 Oshideutsch als „invertiertes Pidgin”: der kontaktlinguistische Ansatz Diese Beobachtung erlaubt es, das Oshideutsch heuristisch ins Verhältnis zu setzen zu Sprachvarietäten, die unter anderem in kolonialen Kontexten zum Zweck der Kommunikation zwischen (zumeist weißen) Siedlern, Händlern und Kaufleuten und indigenen Arbeitskräften entstanden sind. Solche Pidginsprachen, die in den Gegenstandsbereich der Kontaktlinguistik fallen, bildeten sich ebenfalls „im Kontakt von europäischen mit afrikanischen […] Sprachen heraus“ (hinzukommen zahlreiche Pidginsprachen in der Pazifikregion, in Nordamerika und auch Europa: hierunter auch das o.g. Rabaul Creole German bzw. „Unserdeutsch“ aus Papua-Neuguinea, vgl. Maitz 2016, Volker 1996). Sie taten dies allerdings – hier schon nicht mehr mit den differenzierten Befunden aus den angeführten Oshideutsch-Sprachproben übereinstimmend – in der Regel „mit dem Lexikon der europäischen Sprachen und der Grammatik der afrikanischen“ (Riehl 2009: 115).
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Die Vergleichbarkeit gerät also an ihre Grenzen und die für Pidgins charakteristische (wenn auch nicht ausschließliche) Abwesenheit von Genus- und Kasusmarkierung wäre ein weiteres solches Limit. Strenggenommen besteht die Vergleichbarkeit nur – und mit den gerade genannten Einschränkungen – darin, dass standardisierte Hoch- und sogar Nationalsprachen miteinander kontaktiert (im Sinn von kombiniert) werden und dies entlang gewisser rekonstruier- bzw. benennbarer Regeln geschieht. Hinzu kommt eine gewisse Opazität, die beiden Mischformen gemeinsam ist: den Pidgins und dem Oshideutsch eignet eine nicht (jedenfalls nicht ohne weiteres) gegebene Beherrschung durch Dritte. Definitiv nicht vergleichbar sind sie dagegen in ihrer pragmatischen Dimension, ihrer funktionalen Reichweite und ihrem ursprünglichen Einsatzort. Anders als Pidgins, die sich entwickelt haben, um sprachlich-kommunikative Verständigung zwischen indigenen und europäischen Akteuren am kolonialen Ort zu ermöglichen, ist das in der Metropole entstandene Oshideutsch eine Sprachvarietät, die nur innerhalb eines Zirkels eingeweihter Sprecher verstanden wurde und mithörende Außenstehende von den Kommunikationsinhalten ausschloss. Diese fundamentalen Unterschiede bei einer in der linguistischen Beschreibung zumindest ansatzweise gegebenen Ähnlichkeit lassen es zu, das Oshideutsch als ein quasi umgestülptes, „invertiertes Pidgin“ zu bezeichnen. Eine derartige Aussage harrt sicherlich noch der weiteren Validierung durch Erhebung und Analyse weiteren Sprachmaterials. Sollte sie erfolgen, wäre dies ein intradisziplinärer Brückenschlag innerhalb der Linguistik von der Sondersprachenforschung zur Sprachkontaktforschung, die mit Pidgin- und Kreolsprachen Phänomene in den Blick nimmt, die vor dezidiert kolonialem Hintergrund entstanden sind: einem Hintergrund, der auch die Umstände der Verbringung der afrikanischen Kinder in die DDR im Zuge der konflikthaften Ereignisse vor der Unabhängigkeit (und eben Entkolonialisierung) Namibias informiert.
4 Oshideutsch als Generatiolekt und „Migratsprache“ als postkolonialer Konzeptvorschlag Stichwort Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1990: demselben also, in dem die DDR aufhörte zu existieren und die Flüchtlingskinder zurück nach Afrika gelangten, was auch für den Stellenwert, den Gebrauch und die – nun richtiggehend geografische – Reichweite ihrer Sondersprache eine Zäsur bedeutete. War Oshideutsch bis dahin eine lokal gebundene, weil umständebedingt nur in
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Bellin und in der Schule der Freundschaft in Staßfurt gesprochene Varietät zum Zweck der kindlichen Geheimhaltung von Themen und Inhalten vor anwesenden Erwachsenen, so ändert sich nun sowohl dessen Funktion als auch sein Standort. Beziehungsweise genauer: seine Standorte. Dass es weiterhin gesprochen wird, bestätigen ausnahmslos alle Befragten: „Überall wo wir uns treffen, reden wir Os[h]ideutsch“, gibt Marvin H. an und Lucia E. ergänzt: „dann fühlen wir uns frei, diese Sprache zu sprechen” (ArichGerz 2014a). Die Varietät ist offenbar gruppenidentitätskonstitutiv geblieben, auch wenn die Gelegenheiten zum Gespräch inzwischen eher sporadischer Natur sind und auch nicht von allen potenziellen Oshideutsch-Sprecher/innen wahrgenommen werden. Hinzukommt, dass Oshideutsch seither nicht aktiv tradiert, also an die inzwischen zahlreichen eigenen Kinder weitergegeben worden ist. Ausnahmen bestätigen hier die Regel (und zweisprachig mit Oshivambo und Deutsch aufgewachsene Nachkommen wie die Tochter von Monica N., Shakira, sind problemlos in der Lage, den auf Oshideutsch geführten Gesprächen der Mutter zu folgen), dennoch scheint es angemessen, von einem Generatiolekt zu sprechen. Diesen Generatiolekt macht seine aktuelle Verbreitung zu einer Besonderheit. Sozusagen im Kielwasser seiner Sprecher und ihrer „transnationalisierten Lebenssituationen” (Witte et al. 2013: 5), die spätestens mit der Rückverbringung aus Ostdeutschland nach Namibia in den Fokus einer nicht immer ihren Bedürfnissen entsprechenden publizistischen Aufmerksamtkeit geraten sind8, macht es Sinn, auch das Oshideutsch mit dem Attribut aus den Sozialwissenschaften zu belegen und von einem „transnationalen Generatiolekt” zu sprechen. Mehr noch, es handelt sich um einen doppelt transnationalen Generatiolekt, weil die Varietät mit seinen Sprechern nicht nur einfach re-migriert ist von zwei geografisch exakt lokalisierbaren Standorten in Ostdeutschland (Bellin und Staßfurt) an einen gleichsam exakt fixierbaren „großen Ort” Namibia, der seither der Schauplatz für die Lebenssituationen der (sozusagen einfach) transnationalen Returnees ist. Vielmehr wird es durch eine Reihe von erneut nach Deutschland gelangten „Re-Remigrierten”, die sich wie Maxton P. aus dem badischen Schwenningen heute auf Oshideutsch mit ihren in Namibia verbliebenen Weggefährten austauschen, zu einer tatsächlich grenzüberschreitenden Sprachvarietät: „Natürlich reden wir, wenn ich ein paar von UNS seh[e], reden wir noch so“ (Maxton Ph. in Arich-Gerz 2014a). Doppelt transnational heißt
|| 8 Erstaunlich viele „DDR-Kinder von Namibia“ beklagen sich über Vereinnahmungsversuche, verzerrende Darstellungen und übergriffige Annäherungen durch (ausnehmend weiße) Journalisten, „Biographen“ und Filmemacher (vgl. etwa Krause 2009: 119).
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also, dass Oshideutsch nicht nur – wie die meisten ihrer mit einer transnationalen Biografie versehenen Sprecher – eine nach Namibia gelangte und nur dort, lokal, gesprochene Varietät ist, sondern eine grenzüberschreitend-transnationale Verbreitung aufweist. Oshideutsch ist in diesem Sinn keine Varietät, die mit ihren Sprechern von einer Lokalität an die andere gelangt, um nun dort gesprochen und über diesen Gebrauch zum identitätskonstitutiven Element einer transnationalen Gruppe zu werden. Stattdessen ist es eine Migratsprache, die mit den entweder zwei- oder dreifachen Migrationsbewegungen ihrer Sprecher (dreifach: ab 1979 nach Deutschland, 1990 zurück nach Namibia, danach erneut zurück nach Deutschland) einen gänzlich eigenen Raum, ein Verbreitungskontinuum zwischen Deutschland und Namibia umspannt, beansprucht und konstituiert. Wenn die Rede auf den Raum kommt, der sich durch Migrationsprozesse konstituiert, in nachkolonialen Kontexten entsteht und hier einer Sprachvarietät eignet, dann ist der Schritt zu den Theoriegebäuden der postkolonialen Kritik kein großer mehr. Das Konzept einer Migratsprache im Zeichen eben dieses Postkolonialen, das es noch genauer mit Inhalt zu füllen gälte, das sich bei genauerem Hinsehen unterscheidet von Sprachentwicklungen und -phänomenen angesichts selbstgewählter Exil- oder reiner Arbeitsmigration und für das sich das Oshideutsch als paradigmatisch ins Feld führen ließe, könnte mit seinem Anklang an die Bezeichnungspraktiken der Linguistik (analog zu Substratsprache, Superstratsprache) und seiner am Jargon Homí K. Bhabhas (2000) orientierten, vorläufigen Definition (der „Raum“ des Oshideutsch, sein Verbreitungsgebiet, ist durch koloniale – Namibia als „Fünfter Provinz“ Südafrikas – und nachkoloniale Migrationsprozesse zustande gekommen usf.) einen weiteren, nun groß-interdisziplinären Brückenschlag andeuten. Es wäre ein Brückenschlag, den es bislang in den einschlägigen Bindestrich-Linguistiken – der Kontaktlinguistik, der Koloniallinguistik u.a. –, aber auch von Seiten der theoretisch von Edward Said (1978), Gayatri Chakravorty Spivak (1996), dem genannten Bhabha (2000) und einer Reihe von anderen Denkern (vgl. MooreGilbert 1998) informierten Postkolonialen Studien nicht gibt. Denn zwischen diesen und der breit aufgefächerten disziplinären Landschaft der Sprachwissenschaft(en) herrscht bis dato eine Art Indifferenz auf Gegenseitigkeit: „remarkably little attention has been paid to academic linguistics within postcolonial studies“, hielten die Herausgeber einer Sondernummer der Interventions im Jahr 2000 fest; umgekehrt ist die Rede von einem „lack of interest within mainstream linguistics in these [= postcolonial] debates“ (Bolton & Hutton 2000: 1). Dass sich bis heute an diesem Befund wenig geändert hat, bekräftigten zuletzt Warnke et al. (2016). Weder der seit Beginn des Jahrtausends stetig gestiegenen
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Konjunktur der Postcolonial Studies noch der gleichbleibend hohe Stellenwert der Linguistik in den Geistes-, Kultur- und auch Sozialwissenschaften habe zu einer nennenswerten Rezeption, geschweige denn zu ernsthaften Versuchen disziplinärer Annäherung geführt. Nach wie vor müsse von einer „weitgehenden interdisziplinären Unsichtbarkeit der Linguistik in den Postcolonial Studies“ gesprochen werden, wo selbst „zentrale Positionen der frühen Postcolonial Language Studies“ (die Autoren nennen u.a. Errington) nicht wahrgenommen würden (Warnke et al. 2016: 11, Hervorhebung der Autoren).9 Ob ein derartiger Brückenschlag am Beispiel des Oshideutsch und unter Schärfung des Konzeptbegriffs von der Migratsprache tatsächlich Anklang fände, hinge also maßgeblich ab von der Bereitschaft der beiden Spenderdisziplinen, den Linguistiken und der postkolonialen Theorie, sich locker zu machen. Was für die Literaturwissenschaft teils bereits formuliert worden ist und teils, etwa zum Schlagwort „Weltliteratur“, gegenwärtig in beachtlichem Umfang unternommen wird, müsste für eine postkolonialtheoretisch informierte Sprachforschung erst angeworfen werden in der Hoffnung, dass es auf Akzeptanz stößt. Die eine oder andere programmatische Aussage ließe sich, immerhin, mit Bhabha schon einmal treffen. Etwa indem man das buzz word Weltliteratur ersetzt durch Sprachmigrationsforschung: Während einst die Weitergabe nationaler Traditionen das Hauptthema [einer Weltliteratur, ersetzt durch:] der Sprachmigrationsforschung war, können wir jetzt möglicherweise annehmen, daß transnationale Geschichten von Migranten, Kolonisierten oder politischen Flüchtlingen – diese Grenzlagen – die Gebiete [der Weltliteratur, ersetzt durch:] einer neu ansetzenden Sprachmigrationsforschung sein könnten. (Bhabha 2000: 18)
|| 9 Also z. B. Errington (2001). Ob das ausbleibende Echo in den Postcolonial Studies mit einem die Linguistik charakterisierenden „konstitutiven Binarismus […] zwischen weithin hoch geschätzter Deskription und ebenso breit abgelehnter Präskription“ (Warnke et al. 2016: 12) zu erklären ist, sei dahingestellt. Zweifellos begreifen sich postkolonialtheoretisch informierte Arbeiten oft als eine Art Wissenschaft mit dezidiert politischem (und bisweilen normativem) Impetus, während der Linguistik – insbesondere der in den Metropolen, die sich (wie dieser Beitrag hier) über eine Metropol(national)sprache dem Feld des (Post)Kolonialen nähert – ein solch aktivistischer Zug weitaus weniger eignet. Neben ihrer Einladung zur kritisch-interventionistischen Wissenschaft bieten die Postcolonial Studies allerdings genügend Beschreibungsfolien und Denkansätze, die sich mit Aussicht auf besonderen Erkenntniswert auf den genuinen Gegenstandsbereich der Linguistik – der Analyse von Sprache(n) – heranziehen lassen.
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Stefan Castelli
„Wäre sie heim gerufen, meine Wirksamkeit hätte einen harten Stoß bekommen“ Hanna Kleinschmidt und die Umsetzung der Sprach- und Sprachenpolitik der Rheinischen Missionsgesellschaft Abstract: On the basis of historical sources, such as deputation reports, diaries and letters from early mission activities in South-West Africa, which are stored in the archive of the United Evangelical Mission in Wuppertal (Germany), the essay at hand shows the significant role of Hanna Kleinschmidt for the missionary work her husband Franz Heinrich Kleinschmidt has started in Namaqualand, Great-Namaqualand and Damaraland since 1840 and her merits concerning codification and translation of Khoekhoegowab. Not only does this article reveal the valuable social and linguistic capabilities of the daughter of the German missionary Heinrich Schmelen and the Nama-Christian Zara Schmelen but furthermore her contribution to fulfil the guidelines for language policy formulated by the Rhenish Missionary Society. The widespread paradigm is examined critically according to which the contribution of women to the Christian missionary and thus linguistic work was systematically concealed in historical records. Keywords: women and mission, Hanna Kleinschmidt, pre-colonial South-West Africa, acquisition, codification and teaching of Khoekhoegowab, Rhenish Mission Society
1 Einleitung Historiker und Afrikanisten betonen immer wieder, „dass über die weiblichen Missionsgehilfinnen der frühen Namibia-Mission kaum etwas bekannt ist“ (Trüper 2000: 20). Dies ist bedauerlich, vereinnahmte das christliche Bekehrungswerk in den ariden Regionen des vorkolonialen Südwestafrika die „Missionarsgattin“ – angemessener wäre es wohl, von ihr als Missionarin zu sprechen
|| Stefan Castelli: Städt. Konrad-Heresbach-Gymnasium Mettmann, Laubacher Straße 13, 40822 Mettmann. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-187
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– doch im gleichen Maße wie den Missionar (Kirkwood 1993). Viele der „rheinischen Apostel“ konnten und wollten die tatkräftige Unterstützung einer Ehefrau nicht missen, wie sich aus ihren Bitten an die Missionsleitung in Deutschland ablesen lässt, ihnen doch eine geeignete Gemahlin zuzuführen (RMG 6, Bl. 279b). Die Annahme, das weibliche Geschlecht sei in der afrikanischen wie in der Missionsgeschichte unsichtbar, ist bisher gängiges Forschungsparadigma. Begründet wird diese Hypothese anhand der historischen Quellen: „One of the most important methods used is silence. The eradication, trivialization or exclusion of women’s experience and achievements may be observed in all our existing historical records“ (Lau 1986: 62). Diese verallgemeinernde Feststellung Brigitte Laus, die von Fiona Bowie (1993), Nokokure Rogate Gaomas (2008) und sehr differenziert von Adrian Hastings (1993) wiederholt worden ist, trifft im Falle des Ehepaares Hanna (1819–1884) und Franz Heinrich Kleinschmidt (1812–1864) nicht zu. Erstens, weil der Missionar in seinen Journalen und Briefen fortwährend die unerlässliche und vielfältige Hilfe sowohl seiner Frau, die er „nicht missen“ wollte, als auch der „Diakonisse“ Anatje Swartbooi betonte.1 Es mag zutreffen, dass sich Missionar Kleinschmidt in diesem Punkt von anderen Missionaren aus Deutschland unterscheidet. Seine Aufzeichnungen widerlegen schlechterdings die verallgemeinernde Feststellung, Frauen seien systematisch aus schriftlichen Aufzeichnungen ausradiert, totgeschwiegen oder marginalisiert worden.2 Daher hat der vorliegende Aufsatz zum Ziel, die Bedeutung Hanna Kleinschmidts für die Missionstätigkeit im vorkolonialen Südwestafrika, dem heutigen Namibia, aus koloniallinguistischer Perspektive zu untersuchen. Der Verfasser befragt dazu weitgehend unveröffentlichte Archivalien dahingehend, welchen Einfluss die Colored3 Hanna Kleinschmidt, die als eine der ganz wenigen Bewohner des vorkolonialen Namibias bilingual in den Sprachen Khoekhoegowab und Kapholländisch aufwuchs und sie fließend sprach, auf die sprachenpolitischen Entwicklung Südwestafrikas nahm. Dies gilt sowohl für die Planung des Status der Namasprache, die zur Kirchen- und Schul-
|| 1 Zu Hanna Kleinschmidt siehe bspw. RMG 1.573, Bl. 025b, zu Anatje Swartbooi RMG 1.573, Bl. 009b-10b, Bl. 050b. Als „Diakonisse“ bezeichneten die Missionare afrikanische Frauen, die sich freiwillig auf vielfältige Weise in der Missionsarbeit auf einer Missionsstation, im Sinne christlicher Diakonie, engagierten. Entgegen der heute gebräuchlichen Bedeutung des Ausdrucks gehörten sie keiner Schwesternschaft an, wurden die Afrikanerinnen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht kirchlich in das Diakonat eingesegnet und lebten, wie Anatje Swartbooi, mit einem Mann zusammen. 2 Zahlreiche Publikationen aus jüngerer Zeit führen die Wirksamkeit von Frauen in der Mission ebenfalls vor Augen, bspw. Reller (2012), Besten (2011), Theil (2008), Jahnel (2012). 3 Colored bezeichnet eine Person mit einem afrikanischen und einem europäischen Elternteil.
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sprache befördert wurde, als auch hinsichtlich der Korpusplanung in Form der Kodifizierung des Khoekhoegowab.4 Hinsichtlich der Tagebücher und Briefe Heinrich Kleinschmidts, die im Archiv der Vereinten Evangelischen Mission in Wuppertal lagern, ist Folgendes zu bedenken: Obschon Heinrich Kleinschmidt, der zur Einsendung seiner Diarien an die Missionsleitung in Deutschland verpflichtet war, seine Frau Hanna nicht immer explizit erwähnte, wenn er über sein sprachliches Handeln in Südwestafrika informierte, so lassen diese Schriftzeugnisse dennoch indirekt Rückschlüsse auf Hannas Bedeutung für die Umsetzung der sprach- und sprachenpolitischen Direktiven zu, welche die Missionsleitung allen Missionaren auferlegt hatte.5
2 Hannas Kindheit und Jugend Im September 1842 sandte Hanna Kleinschmidt ihren Lebenslauf an die Deputation der Rheinischen Mission in Barmen. Er ist einer von nur zwei Schriftstücken aus ihrer Hand, die sich im Archiv der VEM in Wuppertal erhalten haben. Darin berichtet sie über die Umstände ihrer Geburt, von ihrem deutschen Vater Heinrich Schmelen (1777–1848) und ihrer Mutter Zara (ca. 1793–1831), die „eine bekehrte und fromme Namaquain aus der Gegend des Oranje-Revier“ war (RMG 2.598, Bl. 201a). Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Hanna auf dem Missionsposten Bethanien in der ariden Umwelt des Groß-Namaqualandes. Schon in ihrer Kindheit wurde sie mit den Gefahren konfrontiert, denen die Missionare nicht nur der Londoner Missionsgesellschaft, in deren Diensten ihr Vater stand, in den 1820er Jahren ausgesetzt waren. In ihrer Vita berichtet sie: Als ich als Kind mit meinen Eltern einige Jahre auf Bethanien lebte, hatte ich mit meiner lieben Mutter einen Schrecken durchzumachen. Einmal nämlich, als mein Vater nach der
|| 4 Die einheimische Sprache der Khoikhoin (Nama), Daman, San und Oorlam Südwestafrikas bezeichneten die Missionare des 19. Jahrhunderts als Nama oder Namaqua(-sprache). Heute hat sich dagegen die sprachwissenschaftliche Bezeichnung Khoekhoegowab für die in Namibia verbreiteten Varietäten der Khoisansprache durchgesetzt (Haacke 2011). Der Verfasser verwendet hier und im folgenden Text die Bezeichnung Nama, da es sich um eine (sprach-)historische Betrachtung der Erlernung, Kodifizierung und Grammatikalisierung des Khoekhoegowab handelt und die Nähe der Erläuterungen zu den Archivalien (Tagebücher, Briefe, Lebensläufe und Zeitschriftenartikel) gewahrt bleiben soll. 5 Siehe zu den sprachenpolitischen Instruktionen der Deputation der Rheinischen Missionsgesellschaft Kapitel 3.
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Walvischbaai war, um die Gegend zu erkunden, überfiel uns ein Haufen Namaquas und hätte mich beinahe mit einem Stein getötet, als ich zitternd vor der Türe unseres Hauses war und sie mit Steinen auf unser Haus warfen. (RMG 2.598, Bl. 201a, Original niederländ, übers. v. d. Verf.)
Vielleicht entschieden sich Hannas Eltern auch aufgrund der vielen Gefahren im Groß-Namaqualand dazu, ihre Kinder Anna (1815–?), Hanna, Frederika (1819–?) und Nicolas (?–?) in die Kapstadt zu bringen, wo die vier Geschwister zunächst eine niederländische, später eine britische Schule besuchten. Hanna sollte dort eine gute Ausbildung erhalten. „Zum Lernen“, so berichtet sie in ihrem Lebenslauf, „hatte mir der Herr Gabe und Lust gegeben“. Erst 1829 verließ sie, auf Geheiß des Vaters, zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Frederika Kapstadt und reiste nach Komaggas. Die Eingewöhnung fiel ihr schwer: „[W]ahrlich, das Außenleben auf Komaggas war mir auch zu fremd und ungewohnt, dass ich mich anfangs nicht dorthinein schicken konnte“. Keine 14 Jahre alt, musste das Mädchen ab 1831 ohne ihre Mutter Zara auskommen. In ihrer Vita berichtete die junge Frau darüber und vom Lebenswerk ihrer Mutter nach Deutschland: 1830 ward Vater nach der Kapstadt gerufen, um die 4 Evangelisten und Schulbücher in der Namaquasprache drucken zu lassen; Mutter und wir Kinder gingen mit. Wegen der vorgenannten Arbeit musste Vater mit uns 6 Monate in der Stadt bleiben; während dieser Zeit gingen meine Schwester Frederika und ich wieder bei Herrn Ruhsell in die Schule. Vor diesem Verbleib in der Stadt wurde unsere liebe Mutter, welche schon lange einen gefährlichen Husten hatte, kränker und als der Drucker das letzte Blatt zum Durchsehen ließ und Vater und Mutter das durchgesehen hatten, sagte Mutter: „Nun habe ich mein Erdenwerk vollbracht, nun soll ich zum Sterben gehen.“ (Und das sagte sie prophetisch.) Kurz darauf, als wir nach Hause reisen wollten und drei Tage auf dem Weg waren, ist sie am 2. April 1831 am Platz Botmas’ […] selig entschlafen, nachdem sie uns Kinder noch liebreich ermahnt hatte. Wir Kinder trauerten sehr, noch mehr unser geliebter Vater, und es ist nicht mit Worten zu beschreiben, in welch elendem Zustand er die erste Zeit war. Betrübt ritten wir heim, Vater eine getreue Gehilfin und wir eine geliebte Mutter zurücklassend, welche in ihrem kurzen Dienst im Weingarten des Herrn viel durchmachte, aber auch von der Treue des Herrn und seiner Gnade zu rühmen wusste. (RMG 2.598, Bl. 201b, Original niederländ, übers. v. d. Verf.)
Als Erste kodifizierten Zara und Heinrich Schmelen das Khoekhoegowab in größerem Umfang. Ohne auf Vorlagen zurückgreifen zu können, begann das Ehepaar Schmelen bald nach seiner Hochzeit im Jahr 1818 mit der Übertragung der Evangelien in die Namasprache (Trüper 2000: 143–144). Neben Hanna berichteten auch ihr Vater Heinrich Schmelen und Missionar Gustav Adolf Zahn (1808–1890) von der Bedeutung Zaras für das Gelingen der Kodifizierung des Khoekhoegowab bzw., wie Schmelen es nannte, das „Orthographie machen“
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(RMG 1.572, Bl. 2b [Unterstreichung im Original]; 2.381a, Bl. 046a). Mindestens fünf Werke in der Namasprache, von denen vier in Kapstadt bei William Bridekirk (1795–1843) gedruckt wurden, schufen die Eheleute Schmelen gemeinsam – auch wenn Zaras Name auf den Frontispizen der Druckerzeugnisse fehlt (Schmelen 1831; Moritz 1970; RMG 2.598, Bl. 58b). Wie ihre Mutter sollte auch Hanna Kleinschmidt eine wichtige Rolle bei der Kodifizierung und Grammatifizierung des Khoekhoegowab einnehmen. Der Alltag auf der Missionsstation Komaggas, die ihre Eltern im Klein-Namaqualand im Nordwesten der britischen Kapkolonie aufgebaut hatte, bereitete Hanna auf die Anforderungen vor, mit denen sie sich ihr gesamtes Leben hindurch konfrontiert sehen sollte.
Abbildung 1: Das Missionshaus zu Komaggas6, 1854.
Die Aufzeichnungen der „Sendboten“ der Rheinischen Missionsgesellschaft veranschaulichen, welche Aufgaben eine Missionarsfamilie wie diejenige der Schmelens kooperativ bewerkstelligen musste. Der Alltag war ausgefüllt mit der Versorgung und Hütung des Viehs, mit Land- und Gartenarbeit, Haus-, Ofen-
|| 6 Vor dem Missionshaus zu Komaggas, dem Elternhaus Hanna Kleinschmidts, geb. Schmelen, sitzt ein Missionsehepaar an einem gedeckten Tisch. Während der Mann liest, schenkt seine Frau ein Getränk ein. Dass die Lithographie (veröffentlicht 1854) Hannah und Franz Heinrich Kleinschmidt darstellt, ist eine Vermutung.
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und Wegebau, Brikettstreichen, Ochsenwagenreparaturen, Schreinern, Zimmern, Schmieden und vielen handwerklichen Arbeiten mehr, die verrichtet werden mussten (Lau 1985). Hinzu kam, im Geiste christlicher Diakonie, die medizinische Versorgung der Station und ihrer Umgebung, das „Doktern“ (RMG 2.598, Bl. 25). Die Missionare mussten dazu das weitläufige Einzugsgebiet der Stationen bereisen, da die indigene Bevölkerung aufgrund des Wasser- und Futtermangels mit ihrem Vieh umherzog und nicht lange an einem Platz siedeln konnte. Von Komaggas berichtet Heinrich Kleinschmidt im Mai 1840 dazu: „Leute fand ich nicht viel auf dem Institut, weil jetzt gerade die Zeit ist, daß sie mit ihren Viehherden in die Außenfelder ziehen“ (RMG 2.598, Bl. 44b).7 Arbeitsteilung war bei der Bewältigung aller Herausforderungen der Missionstätigkeit Selbstverständlichkeit und feste Regel. Außerhalb des Gottesdienstes spielte die Missionarsgattin eine wichtige Rolle bei der Bewältigung pastoraler Aufgaben. Kleinschmidts Diarium ist zu entnehmen, dass Heinrich Schmelens zweite Ehefrau Elisabeth (1807–1848) neben einer „Näheschule“, die „wöchentlich 2 Mal“ stattfand (RMG 2.598, Bl. 79b), auch „wöchentlich 1 Mal Betstunde mit dem weiblichen Geschlecht“ hielt und „[d]es Nachmittags, nachdem Bruder Schmelen Schule gehalten, hatte Schwester Schmelen die Bejahrten, denen sie etwas vorliest und dann mit ihnen über Herzensangelegenheiten spricht.“ Dies sei, so Kleinschmidt, „von großem Nutzen, denn auf diese Weise lernt sie manches Herz besser kennen“ (RMG 2.598, Bl 26b-27a). In ihrem Wirkungskreis waren die Missionarsgattinnen demzufolge keinesfalls auf die Besorgung des Haushaltes, auf Kindererziehung und Handarbeit beschränkt. Auf Komaggas erlebte Missionar Heinrich Kleinschmidt, wie wichtig die Töchter seines Amtsbruders Schmelen für die Durchführung des Schulunterrichts waren. „Auf Veranlassung Bruder Schmelens,“ so notierte Kleinschmidt im Oktober 1840, „halfen auch jetzt bei den großen Zuwächsen der Schüler 2 seiner Töchter, welche einzelnen Unterklassen ihre Aufgaben abhörten, wobei sie Gabe und Treue blicken ließen“ (RMG 2.598, Bl. 78b). Schon Jahre zuvor hatten Hanna und ihre ältere Schwester Anna den Sprachunterricht in der Schule geleitet, „Englisch und Namaquas“ (RMG 2.598, Bl. 79b).
|| 7 Als „Institut“ bezeichnen die Missionare die von ihnen angelegten Missionsstützpunkte, die zumeist aus einer kleinen Kirche, einer Schule und wenigen Mattenhäusern bestanden.
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3 Europäische Missionsneulinge auf Komaggas Die Multiethnizität und Multilingualität der Bevölkerung Südwestafrikas stellte den soziokulturellen Rahmen dar, in dem sich das Sprachenregime der Rheinischen Missionsgesellschaft orientieren und bewähren musste (Buys & Nambala 2003; Kaulich 2003). Seit der Aussendung eigener Missionare nach Südafrika im Jahr 1829 verpflichtete die Rheinische Mission ihren offiziellen sprach- und sprachenpolitischen Kurs daher dem Prinzip der Indigenisierung, verstanden als nicht kolonialistische sprach- und sprachenpolitische Ausrichtung der Missionswirksamkeit auf die indigene Bevölkerung hin.8 Die allgemeinen Instruktionen, die jeder Missionar bei seiner Ausreise durch die Leitung der Rheinischen Missionsgesellschaft erhielt, verpflichtete die evangelischen Missionare grundsätzlich, die Sprache der Einheimischen „recht bald und gründlich zu lernen“ (RMG 1, Bl. 016a), sich „sorgfältig ihre Ausdrücke“ zu merken und rasch Versuche zu unternehmen, „einzelne Sprüche der Schrift oder kurze Sätze oder Liederverse, die Zehn Gebote, die drei Glaubensartikel […] zu übersetzen“ und „Gottesdienst in der Landessprache“ zu halten (RMG 1, Bl. 016b).
Abbildung 2: Nach der Konferenz in Wupperthal.9
|| 8 Vgl. zur Geschichte der Rheinischen Missionsgesellschaft Apelt (2005) und Besten & Mohr (2009), zur offiziellen Sprach- und Sprachenpolitik der Rheinischen Missionsgesellschaft im vorkolonialen Südwestafrika Castelli (2015). 9 Die Lithographie (veröffentlicht 1855 in Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 8) zeigt ein Mahl im Anschluss an die Generalkonferenz vom November 1841 im südafrikanischen
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Als im Juni 1839 in Barmen der Beschluss gefasst wurde, die Missionstätigkeit langfristig auf den Südwesten Afrikas nördlich des Oranje auszuweiten, schien Heinrich Schmelen der Deputation der Rheinischen Missionsgesellschaft als geeignete Person, um die Missionare auf ihren Einsatz und die Umsetzung der sprachenpolitischen Direktiven im Groß-Namaqualand vorzubereiten (RMG 6, Bl. 37). Schmelen hatte bereits zuvor mehrfach um die „Zusendung eines Hülfsmissionars“ gebeten, da er selbst „alt und schwach werde“ (RMG 6, Bl. 33). Der erfahrene Namamissionar der Londoner Missionsgesellschaft wurde auf diese Weise zum Mentor der ersten Generation von Missionaren der Rheinischen Missionsgesellschaft in Südwestafrika. Komaggas bot den europäischen Missionsneulingen „40 Tage reisen von der Grenze der Kolonie entfernt“ (RMG 1.572, Bl. 11a) eine soziale und natürliche Umwelt, die ihnen die allmähliche Eingewöhnung ermöglichte. Franz Heinrich Kleinschmidt kam im Mai 1840 auf Komaggas an (RMG 2.598, Bl. 25b). Über die erste Begegnung zwischen Heinrich Schmelens Tochter Hanna und dem deutschen Missionar ist nichts bekannt. In ihrem Lebenslauf notierte Hanna, dass ihr „Lebensfunke sichtbar auf[-geglüht sei, S. C.], als der Hochwürden Herr Kleinschmidt im Mai 1840 nach Komaggas kam und eine allgemeine Erweckung geschah.“ Im Jahr darauf, im „Monat August 1841, wurden meine Eltern und ich von Hochwürden Kleinschmidt durch einen Brief gefragt, ob ich seine Gehilfin werden möge.“ Sie sei zunächst unsicher gewesen „angesichts meiner Untauglichkeit, Unwürdigkeit und der großen Verpflichtung, endlich der Gefahr, des Leidens und der Entbehrung, welche uns im Groß-Namaqualand und Damraland erwarten sollten“ (RMG 2.598, Bl. 202a, Original niederländ, übers. v. d. Verf.). Für seine Expedition dorthin traf Heinrich Kleinschmidt indes erste Vorbereitungen: Derweil der Herr Kleinschmidt am Orange-Revier war (am selben Tag, als er den Brief an Vater übergab, ist er fortgeritten), kostete es Vater und mich schlaflose Nächte und viele Gebete zum Herrn; doch bei seiner Rückkunft konnten wir ihm mit Freimütigkeit das Jawort geben. Weil Kaptein Jan Frederiks von Bethanien jeden Tag erwartet wurde, um den Herrn Kleinschmidt abzuholen, erachtete es Vater für nötig, dass wir damals getraut werden sollten und ich mitgehen sollte; doch wegen des Wassermangels konnte Kaptein Frederiks noch nicht kommen und so blieb die Sache unterlassen bis zum 23. Mai 1842, als
|| Wupperthal. Die Aufnahme der Missionstätigkeit unter Nama und Herero im heutigen Namibia wurde dort beschlossen. Zwölf Rheinische Missionare und die Missionarsgattinnen Carolina Jacoba Maria Leipoldt, geb. Lindt, und Wilhelmine Schröder, geb. Rüdiger, sitzen am oberen Tisch, am unteren Frauen und Männer aus der Gemeinde zu Wupperthal, im Hintergrund auf dem Boden eine Gruppe Afrikanerinnen.
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wir von dem Hochwürden Herrn Hahn getraut wurden und den Segen des Herrn und Segenswünsche von der Sendboten-Familie und der Gemeine empfangen haben. (RMG 2.598, Bl. 202a, Original niederländ, übers. v. d. Verf.)
In ihrem Vorstellungsschreiben als neue „Schwester“ deutete Hanna mit keinem Wort an, wie hilfreich ihre Sprachkenntnisse und Fähigkeiten ihrem Ehemann im Besonderen und der Rheinischen Missionsgesellschaft im Allgemeinen bei der Umsetzung der Missionspläne sein würden. Anders dagegen Heinrich Kleinschmidt: Sein Journal spiegelt seine Hoffnung wider, dass ihm die Missionstätigkeit durch die Hochzeit erleichtert werde.10 Außer Heinrich Schmelen hatten ihm noch andere Missionare der Londoner Missionsgesellschaft ein Beispiel für die Vermählung mit einer Colored gegeben.11 Bereits im Februar 1841, ein dreiviertel Jahr nach seiner Ankunft auf Komaggas, hatte der gebürtige Westfale Kleinschmidt von der Deputationsleitung die Erlaubnis „zu einer Verehelichung und zwar mit einer der Töchter des Missionars Wimmer oder Schmelen“ eingeholt (RMG 2.389, Bl. 002b). Rasch fiel seine Wahl auf Hanna Schmelen, wozu er bei seiner Rückkehr von einer Erkundungsreise zum Oranjefluss im August 1841 „allerseits ein bereitwilliges Ja“ erhielt.12 Seit der ersten Erwähnung schwärmte der gebürtige Westfale Kleinschmidt in seinen Tagebüchern und Briefen nach Deutschland von Hanna und lobte ihre „Vorzüge“.13 Ihre Gaben und Kenntnisse machten Hanna Schmelen seiner Mei-
|| 10 RMG 2.598, Bl. 153b: „Die Zukunft wird es hoffentlich auch lehren, daß der Herr mir diese Person für Groß-Namaqua- und Damraland zur großen Unterstützung entbehret hat, wie auch Bruder Leipoldt an mich schrieb, daß ich wohl keine geeignetere Frau dieses Landes finden würde.“ 11 Vgl. zu den Missionaren der Londoner Missionsgesellschaft, die indigene Frauen geheiratet hatten, Dedering (1997) und Trüper (2000). 12 RMG 2.598, Bl. 153a (Unterstreichungen im Original): „Den 25. August hatte ich Antwort von Bruder Schmelen auf mein schriftliches Ersuchen an ihn und seine 2te Tochter, Namens Hanna zur Gehülfin, welches ich ihn bei meiner Abreise nach dem Orangefluß am 12. Augst. überreicht hatte. Die Antwort war allerseits ein bereitwilliges Ja, wiewohl Hanna nicht umhin konnte, Bedenklichkeiten über ihre Untauglichkeit etc. zu äußern.“ 13 RMG 2.598, Bl. 92b: „Alle [Töchter Heinrich Schmelens, S. C.] sprechen gut Englisch, Holländisch und Namaquas. […] Die welche ich mir aus diesen zur Braut erkoren habe ist Hanna, die 2te Tochter Schmelens, 24 Jahre alt, groß und stark von Körperbau, reich von Gaben und männlichen Charakters, eifrig für die Missionsschule, nicht sehr bange vor Gefahren und Entbehrungen; eine vortreffliche Sängerin, im Unterweisen der Kinder in der Schule geschickt und streng und sie soll die Englische Sprache sprechen als eine geborene Engländerin. Sie geht in allen Stuben [d. h. in jeglicher Hinsicht, S. C.] ihren Schwestern weit voraus, aber auch in Flüchtigkeit, Eigensinn, Eigenliebe und Selbstgefälligkeit ist sie den anderen beiden vorgegangen, worin sie jedoch jetzt viel verändert ist und ich habe die Hoffnung zum Herrn, sie, wie
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nung nach zur besten erdenklichen Partie eines Missionars in Afrika, besonders ihre Erfahrung und die Duldsamkeit, mit der sie den entbehrungsreichen Lebensumständen der ariden Landschaften des südwestlichen Afrikas begegnete, dazu ihre Sprachkenntnisse, ihr Talent als Lehrerin, und ihre Frömmigkeit.14 Er betrachtete die Verehelichung mit ihr als göttliche Fügung, gegen die er sich nicht stellen dürfe.15 Humorvoll bemerkte er vor seiner Trauung am 23. Mai 1842 auf Komaggas: Meine Ordination und Verheirathung wurde von den Brüdern in Gemeinschaft mit Vater Schmelen als nöthig erachtet und die Gründe an die geehrte Deputation und die SpecialConferenzen geschrieben. Ich war der leidende Theil, und ließ mit mir machen, wie es für nöthig erachtet wurde, und bat den Herrn um sein Ja dazu. (RMG 2.598, Bl. 190a)
4 Missionsalltag und sprachliche Barrieren im Groß-Namaqualand und im Damaraland Bereits während der ersten Reise über den Oranjefluss hinweg ins GroßNamaqualand und Damaraland (heute Namibia) geleitete Hanna Kleinschmidt ihren Mann: „Freitag d. 27. Mai [1842, S. C.] war der lang ersehnte Tag der Abreise“ (RMG 2.598, Bl. 241a). Stets an seiner Seite, war sie ihm eine unerlässliche Hilfe im Missionsalltag: Sie führte den Haushalt, hielt Schule, versah pastorale Dienste, vermittelte und übersetzte. Die Bewohner der Missionsposten akzeptierten ihre exponierte Stellung in der sozialen Hierarchie der Missionsstation, || auch ihre Schwestern, werden noch recht gute Werkzeuge in der Hand des Herrn. An Gaben und Kenntnisse [sic] fehlt es ihnen nicht, dazu wissen sie vortrefflich mit Vieh umzugehen und sind an die Lebensweise dieses Landes gewöhnt; wenn es darauf ankommt, so können sie allein von Fleisch und Milch leben. Mit ihren Sprachkenntnissen werden sie noch viel nutzen und Gutes thun.“ 14 RMG 2.598, Bl. 92b: „Ich kann sagen, daß ich um der Sache des Herrn willen keine andere wünsche für diese Lande, wie wohl sie eine Bastardin ist und grade nicht so schön und weiß als eine Europäerin […]. Andere mögen sich daran stören und nach Weise der Emimehen [sic?] der Kolonie mehr oder weniger verurtheilt haben, gegen alles, was nicht rein europäisch ist, ich störe mich nicht daran, sondern sehe aufs Herz und die vortheilhafte Brauchbarkeit im Weinberg des Herren.“ 15 RMG 2.598, Bl. 153a: „Aus allem Anstande, besonders durch den Fingerzeig der geehrten Väter, welches ich dem Herrn als Zeichen seines Willens in meinen Gebeten vorgetragen und gesetzt hatte, wurde mir immer deutlicher, daß es des Herrn Wille sei und mein Herz […] [war, S. C.] voll Freude und Freimüthigkeit und mein früher widerstrebender Kampf und Unruhe, welche nicht nur meine Seele, sondern auch mein Gebein ergriff, verlor sich ganz.“
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wie ihr Mann berichtete.16 Dass unterstreicht ein Brief Beetjes (1790–?), der Ehefrau des mächtigen Orlam-Kapitäns Jonker Afrikaner (1790–1861). Sie sandte Hanna Kleinschmidt „einen Brief, durch ihren Mann geschrieben“, in dem sie die Missionarsgattin ersuchte, mit ihrem Gatten zum Siedlungsplatz Jonker Afrikaners, dem heutigen Windhoek, zu ziehen (RMG 2.598, Bl. 227b).
Abbildung 3: Die Wüste im Namaqualand17, 1855.
In seinen Journalen und Briefen hob Kleinschmidt immer wieder die Bedeutung seiner Frau als treibende Kraft seiner Missionsunternehmungen hervor.18 Nach-
|| 16 Sonntag, den 4. September 1842, notierte Heinrich Kleinschmidt in Bethanien (RMG 2.598, Bl. 216b): „Auch die Frauen kamen, um meiner Frau behülflich zu sein beim Kochen, Waschen etc.; aber sie konnte dieselben nicht zulassen, ihr Liebesdienste zu beweisen, wegen ihrer abscheulichen Schmutzigkeit und des Nacktlaufens. Ich sprach öffentlich drüber im Gottesdienst und sie bestrafte sie privat, wenn die Frauen zu ihr kamen. Wir sahen schnell froehlichen Erfolg; die Edleren hatten sich bald Fellröcke gemacht und trugen sich zivilicher.“ 17 Die Lithographie (veröffentlicht 1855) zeigt in einer kargen Landschaft, vielleicht nahe der Walvis Bay bei Scheppmannsdorf, einen lagernden Missionstross. Vor dem Ochsenwagen sitzt der Missionar an einem provisorischen Schreibtisch, während rechts davon Frauen und Männer mit der Zubereitung einer Mahlzeit befasst sind. Mehrmals reiste das Ehepaar Kleinschmidt dorthin, um Waren ins Landesinnere nach Rehoboth zu transportieren. 18 RMG 2.598, Bl. 217a: „Ich fing an, außerordentlich unruhig zu werden im Gemüth über meinen Stillstand, und der Gedanke, ich müßte weiter gehen zu Jonker Afr.[ikaner], verließ mich nicht und Gottes Wort: „Laßt uns aufstehen und vom Heim gehen“ wollte nicht aus meinem Herzen. Dies kostete mir Kampf und Gebet, bis ich es meiner Frau und dem Bruder Bam
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drücklich betonte er, dass seine missionarische Wirksamkeit ohne ihren sprachlichen Sachverstand und kulturelles Wissen marginal geblieben wäre.19 Bar ihrer Sprachkenntnisse – „Englisch, Holländisch und Namaquas“ – wäre die Umsetzung der sprach- und sprachenpolitischen Direktiven der Rheinischen Missionsgesellschaft für Kleinschmidt unmöglich gewesen (RMG 2.598, Bl. 92b). 1842, während der ersten Expedition Kleinschmidts ins heutige Namibia, blieb Hanna allein auf dem Missionsposten Bethanien zurück. Über die mutige Entscheidung seiner Ehefrau rapportierte der Missionar nach Deutschland: Während unserer Reise ins Dammraland, wenigstens bis zu dem Vordertheil desselben, bleibt meine Frau mit unserem Dolmetscher Gert Kloete hier unter diesem Häuflein, welches täglich zunimmt, und [beide, S. C.] arbeiten, so gut sie können, dieser in Gottesdienst oder Versammlunghalten und jene im Schulhalten und Privatsprechen mit den Frauen; freilich können sie es besser als wir, weil wir nichts mehr ohne Dolmetscher ausführen können. (RMG 2.598, Bl. 189a)
Drei Jahre später hatte sich daran nichts verändert. Ein Journaleintrag Kleinschmidts auf Rehoboth, das er als Missionsposten auf halber Strecke zwischen dem Großen Fischfluss und Barmen, dem heutigen Windhoek, anzulegen begonnen hatte, bezeugt, dass Hanna Kleinschmidt für die Verständigung des Deutschen mit den Khoikhoin im Gefolge Willem Swartboois (ca. 1790–1885) eine unerlässliche Stütze war. Nach der Abreise des Gehilfen Joseph Kloete (?–?) am 16. Mai 1845 fand sich der Missionar dort eines Dolmetschers ledig. Weil seine Holländischkenntnisse vor Ort offenbar wertlos waren, sah er sich „genöthigt,“ seine „Frau dolmetschen zu lassen, welches sie zwar ungern that, weil sie sich Gewissenscrupel machte, aber doch einsah, daß wir die hungrigen Leute nicht ungespeist gehen lassen dürften“ (RMG 1.573, Bl. 006a). Warum sich Hanna Kleinschmidt sträubte als Übersetzerin aufzutreten, kann nur gemutmaßt werden. Während ihrer Kindheit auf Bethanien hatte sie – vielleicht nicht nur aufgrund des Anschlags auf ihr Elternhaus – erfahren müssen, wie schmal
|| klagte, wie es mir ginge, und sie bald, besonders meine Frau, Werkzeuge wurden den Stein zu heben, sagend, daß sie derselben Meinung wäre, daß ich zu Jonker reisen müßte, um die Sache dort anzusehen und zu schicken.“ 19 RMG 1.573, Bl. 025b: „Den 5. [Januar 1846, S. C.] Neue Noth: Mein liebes Weib gerieth durch starken Blutverlust in Lebensgefahr. Mein gedrücktes Herze wurde noch mehr gepreßt, als unser Töchterchen Maria die Noth verstand, bitterlich an zu weinen fing. Ach Herr, ich kann sie noch nicht missen! Den 6. Meine arme Frau ist sehr schwach, aber doch der scheinbaren Gefahr überhoben und den 7. neigte sie sich ganz zur Besserung. Dank sei dem Herrn, der sich Hanna in Gnaden angesehen. Wäre sie heim gerufen, meine Wirksamkeit hätte einen harten Stoß bekommen.“
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der Grat zwischen Akzeptanz und Ablehnung war, auf dem sie sich als Colored mit deutschem Vater und einer Khoikhoi zur Mutter unter den indigenen Völkern der sogenannten „Heidenwelt“ bewegte (RMG 2.598, Bl. 201a). Tilman Dedering hat die Ressentiments der autochthonen Bevölkerung gegenüber solchen Angehörigen der Missionsgesellschaften beschrieben, die afrikanische Bantu- oder Khoisansprachen verstanden (Dedering 1997). In Entsprechung zum Fall des „Nationalgehilfen“ Daniel Kloete (1830–1894), der es als Colored vorzog im Damaraland zu arbeiten, anstatt unter den Khoikhoin, San und Orlam im Groß-Namaqualand, ist denkbar, dass die Khoikhoin auf Rehoboth Hanna Kleinschmidt ebenfalls „als ihr Fleisch und Blut ansähen und nicht achteten“ (RMG 2.622, Bl. 0009a). Diese Einschätzung lässt auch der massive Protest des Kapitäns der Bethanien-Nama, David Christian Frederiks, gegen den Einsatz von Katecheten aus seinem Volk plausibel erscheinen. Diese, so der NamaKapitän, „würden nicht respektiert werden“ (RMG 1.578, Bl. 031b). In einem an Johann Christian Wallmann, den Inspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft, gerichteten Brief, der auf den 18. September 1850 datiert, legte Kleinschmidt ganz ähnliche Befürchtungen dar. Es gehe bei „den Namaquas in Bezug auf die Dammras, als den Christen (Weißen) der Colonie gegenüber den Hottentotten.“ Zu solchem und jeglichem Rassismus bemerkte er: „Welch böses Ding ist’s doch um den Hochmuth und Vorurtheil in Betreff der natürlichen Abstammung!“20 An der Situation seiner Gemahlin änderte sich dadurch freilich nichts. Namentlich im Kontext sozialer und politischer Konflikte zwischen den autochthonen Ethnien und dem Europäer Kleinschmidt könnte Hanna als dolmetschende Missionarsgattin Zielscheibe des Unmutes geworden sein. Zum einen, da ihre Stimme in einer von Männern dominierten Gesellschaft traditionell wenig galt, zum anderen, weil sie als die Tochter einer Khoikhoi den Afrikanern als Verräterin aus den eigenen Reihen erschienen sein dürfte. Ein Brief des Missio-
|| 20 RMG 1.573, Bl. 006a: „Der Jüngling Jonas Rynhard aber ist hier wohlbehalten angekommen mit unsern Wagen, die gerade in Scheppmannsdorf, um Güter zu holen, gefunden wurden. Bruder Zahn hat ihn mir als Schullehrer zugesandt und anvertraut, indem er ihn in der Colonie nicht recht unterzubringen wußte. – Warum nicht, kann ich nicht begreifen?! Ich habe ihn der Versammlung der Gemeinde vorgestellt als ihren einstweiligen Schullehrer, einen kurzen Bericht seiner Geschäfte erzählt und ermahnt seine äußere Gestalt und Jugend nicht zu verachten, was mir nöthig schien, weil der junge Gehülfe den Dammras an Farbe ganz ähnlich ist; und bei den geht’s den Namaquas in Bezug auf die Dammras, als den Christen (Weißen) der Colonie gegenüber den Hottentotten. Welch böses Ding ist’s doch um den Hochmuth und Vorurtheil in Betreff der natürlichen Abstammung! Es scheint mir aber, unsere Leute haben das Männlein lieb und respectieren ihn wegen seiner besseren Erziehung und seiner Anspruchslosigkeit.“
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nars Carl Hugo Hahn (1818–1895), den dieser im August 1842, kurz nach der Hochzeit Kleinschmidts und während das Missionsehepaar bereits ins GroßNamaqualand gereist und auf Bethanien tätig war, an Missionsinspektor Johann Heinrich Richter (1799–1847) in Barmen schrieb, legt dies nahe. Mit Blick auf das neue Missionsprojekt im Groß-Namaqualand fürchtete er, „daß wir unter solchen Umständen nicht nach Bethanien ziehen können. Es ist leider gar zu deutlich und gewiss, daß dieser Stamm Bruder Kleinschmidt seiner Bastardfrau wegen nicht sehen will. Der Herr weiß es allein, wie es bei den anderen Stämmen gehen soll“ (Hervorhebung im Original, RMG 2.598, Bl. 182a). 21 Vor dem Hintergrund seines Berichtes ist nachvollziehbar, warum die Missionarsgattin lieber als Lehrerin und Katechetin wirkte, anstatt als Sprachrohr ihres Mannes im Brennpunkt des gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinanders eines Missionsplatzes zu stehen. Mit der Usance, dass es einer Frau bei den Khoikhoi untersagt war „in öffentlicher Versammlung und vor Männern zu reden,“ haderte Kleinschmidt. Zur Überwindung kommunikativer Hürden konnte er sich keine bessere Sprachassistentin vorstellen als Hanna. „[W]eil sie doch viel besser als die CostDolmetscher den Sinn der Worte Gottes und meine Ausdrucksweise faßt“, wolle er „lieber immer sie übersetzen lassen“ (RMG 1.573, Bl. 006a).22 Dass der deutsche Missionar die Namasprache noch 1845 nicht auf einem Niveau sprach, das zur Bewerkstelligung der alltäglichen Kommunikation ausreichte, hatte natürlich negative Auswirkungen auf die Bewältigung seines pastoraltheologischen Auftrages. Wie sollte es dem Missionar gelingen in vertraulichen (Beicht-)Gesprächen mit Angehörigen der indigenen Ethnien „ein Band zwischen ihnen und“ sich zu „binden“, wie es die Deputation forderte, wenn doch ein Dolmetscher zur Translation anwesend sein musste? (RMG 1, Bl. 016a). Weil Hanna Kleinschmidt mit den afrikanischen Proselyten in der ihnen gemeinsamen Muttersprache kommunizieren konnte, erwarb sie deren Vertrauen eher als ihr Ehemann.23 Das galt zumindest in den Gebieten, in denen die
|| 21 Mit Hahn übereinstimmend berichtet auch Hans Christian Knudsen, dass sich „ein Sohn von dem Capitain auf Bethanien […] im Geheimen ausgesprochen habe, als die Frage an ihn gerichtet wurde, warum sie Mynheer Kleinschmidt nicht abgeholt haben: ‚Neen wij willen geen bastardjufvrouw hebben, wij willen en witveljufvrou;‘ nicht Bastard-, sondern Weissfell-Frauen wollen sie.“ (RMG 2.598, Bl. 113a) 22 Als „Cost-Dolmetscher“ bezeichneten die Missionare der Rheinischen Mission Frauen und Männer, die gegen Entgelt für sie dolmetschten. 23 Entgegen den Äußerungen Carl Hugo Hahns und Hans Christian Knudsens gegenüber der Missionsleitung, dass Afrikaner der Colored Hanna Kleinschmidt die soziale Anerkennung verweigerten, stehen die in den nachfolgenden Ausführungen zitierten Quellenberichte, die
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Bevölkerung Khoekhoegowab sprach. Nach ihrer Rückkehr von einer Reise zu Kahitjene (1790–1852), dem mächtigen Kapitän eines bantusprachigen Hererovolkes, teilte Hanna Kleinschmidt im November 1844 in einem Brief der Taufpatin ihrer Tochter Maria und Frau des Inspektors der Rheinischen Missionsgesellschaft Richter mit: Wir haben begonnen, die Sprache der Damara [gemeint sind die Herero, S. C.] zu lernen und ich hoffe, dass wir dieselbe mit der Hilfe des Herrn bald sprechen können, um auch ihnen zu verkündigen, was Christus für sie getan hat. […] Wie oft habe ich mir gewünscht, dass ich die Sprache verstünde, dass ich mit den Frauen sprechen könnte – aber vergeblich. Wenn die armen Leute kommen, dann sitze ich da wie ein stummer Mensch, der nicht sprechen kann. Möge ich nur recht zu ihnen sprechen durch meinen Lebenswandel, dem Beweis der Früchte des Todes Christi. Unter den Namafrauen hatte ich darin ein Vorrecht […]. (RMG 1.573, Bl. 20a, Original niederländ, übers. v. d. Verf.)
Vielleicht war seine eigene und Hanna Kleinschmidts Unkenntnis des Otjiherero ein Bewegrund für Missionar Kleinschmidt, im Mai 1845 die Mission unter dem Namavolk unter Anführer Willem Swartbooi auf Rehoboth zu beginnen, anstatt weiterhin mit seiner Frau „als Stumme unter“ den Herero zu „wohnen“ (RMG 1.573, Bl. 021a). Wie zuvor auf der Missionsstation Bethanien gelang es Hanna Kleinschmidt in Rehoboth, das Vertrauen der Khoikhoin zu gewinnen.24 In erster Linie unter dem weiblichen Geschlecht, unter den Kindern und Jugendlichen wirkte Hanna Kleinschmidt auf Rehoboth als Lehrerin, Katechetin oder Seelsorgerin, unabhängig von ihrem Mann, anderen Missionaren und den einheimischen Helfern.25
|| unterstreichen, dass Hanna Kleinschmidt sehr wohl, besonders unter Namafrauen, ein hohes soziales Ansehen genoss. Die Motive Hahns und Knudsens für ihre Bewertung bleiben unklar. 24 RMG 1.573, Bl. 006a: „Bei der Seelsorge außer den öffentlichen Gottesdiensten, besonders beim weiblichen Geschlecht und in Ehesachen, ist sie frei und die Herzen gegen sie sind auch viel offener als gegen den Dolmetscher.“ Ebenfalls unterstreicht ein Vorfall auf der Missionsstation Rehoboth, dass Hanna Kleinschmidt das Vertrauen insbesondere der weiblichen afrikanischen Proselyten besaß. Als die Männer dort 1855 heimlich versuchten, die Polygamie wieder einzuführen, und körperliche Gewalt gegen alle Frauen, die sich dem verweigerten, anwendeten, eröffneten die Einwohnerinnen ihre Not vertraulich Hanna Kleinschmidt (RMG 1.574a, Bl. 008a). 25 RMG 1.573, Bl. 19b: „Nach der Nachmittagspredigt, von Bruder Scheppmann gehalten, versammelte die Gemeinde wieder in die Kirche zum Thun, mußten aber bald wegen eines wütenden Regens ins Haus flüchten, wo die Männer in die eine und die Frauen in die andere Kammer sich versammelten; die Ersteren unter Leitung von Bruder Scheppmann und mir und Letztere unter Leitung meiner Frau.“
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Nicht nur wenn es darum ging, das Vertrauen der autochthonen Bevölkerung zu gewinnen, stand Hanna Kleinschmidt im Zentrum des missionarischen Wirkens. Auch die Einrichtung muttersprachlichen Unterrichts in der Namasprache war ohne sie undenkbar. Dass vornehmlich aufgrund ihres Engagements als Lehrerin die Namasprache schon bald nach Beginn der Missionstätigkeit im Groß-Namaqualand den Status als Schulsprache erhielt, darf als wahrscheinlich angenommen werden. Dieser Schritt war ein wichtiger Beitrag zur Verhinderung der Glottophagie (Calvet 1974) des Khoekhoegowabs. Von Rehoboth rapportierte Kleinschmidt 1850 an den Inspektor der Rheinischen Mission Wallmann, lese im „Lucas von Knudsen […] die erwachsene Jugend, die zu mir oder zu meiner Frau ins Haus kommt“ (RMG 1.573, Bl. 006b).
5 „Wiewohl weder meiner Frau noch mir eine Dichterader gesprungen ist…“ – Sprachkorpuserstellung und Kodifizierungsarbeit der Eheleute Kleinschmidt Im Umfeld ihres Tätigkeitsbereiches entstanden allmählich die ersten sprachlichen Arbeiten des Missionarsehepaares Kleinschmidt im Khoekhoegowab. Zur Auflockerung des Katechumenenunterrichts am Sonntagnachmittag übersetzten sie auf Rehoboth, wie Missionar Kleinschmidt 1845 in sein Journal eintrug, gemeinsam Verse eines Passionsliedes.26 Kleinschmidt hatte erst ein halbes Jahr zuvor, im Mai 1845, wieder begonnen sich in die Namasprache einzuarbeiten, von der er „während des Aufenthalts unter den Dammra beinahe alles vergessen“ hatte (RMG 1.573, Bl. 006a). Diese Übertragungsarbeit ist daher in allererster Linie als Hanna Kleinschmidts Werk anzusehen und es stellt sich die berechtigte Frage, warum ihr Mann dies nicht deutlicher ausgedrückt hat. Obwohl der Deutsche noch 1850 berichtete, wie unsicher er sich fühle, wenn er etwas auf „Namaquaisch“ sagen müsse, waren seine Kenntnisse mittlerweile fortgeschrittener Art (RMG 1.573, Bl. 20b). Der Deputation in Barmen
|| 26 RMG 1.573, Bl. 19b: „Zuweilen wird ein Liedervers dazwischen angestimmt, so auch heute der Vers: „Elop ʹKaup āw ios e!“ etc. (O Lamm Gottes unschuldig!) Das ist unser Gesang beim Abendmahl, und wie wohl er hier eigentlich nicht paßte, so wurde doch allgemein gewünscht das jetzt zu singen. Wiewohl weder meiner Frau noch mir eine Dichterader gesprungen ist, so wollten wir doch gern diesen lieben Abendmahlsvers in Namaquaisch haben.“
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wusste er zu berichten, dass die Namasprache über verschiedene Varietäten verfüge.27 Bereits im September 1851 hatte er gemeinsam mit Missionar Franz Heinrich Vollmer (1819–1867) „einen neuen Ansatz, unser Heil in dieser neuen Sprache zu versuchen“, unternommen (RMG 1.573, Bl. 021a). Die Namasprache beförderten sie auf dem Missionsplatz Rehoboth endgültig zur Kirchensprache, indem Kleinschmidt sich „den 14. [September 1851, S. C.] des Herrn Tag“ getraut hatte „ein Theil des Gottesdienstes (Liturgie, nebst den 10 Geboten und Gebet) in der Namakasprache zu verrichten“28 (Hervorhebung im Original). Bald folgten ein Taufformular und die erste Predigt in der Landessprache. Zudem konnte Missionar Kleinschmidt das vertrauliche seelsorgerische „Privatsprechen“ mit den sogenannten „Heidenchristen“ zunehmend ohne Heranziehung eines Übersetzers führen.29 Der Anteil Hannas an den Lernerfolgen ihres Gemahls ist nicht gering anzusetzen, denn schließlich hatte sie auch maßgeblichen Einfluss auf den Fortgang der lexiko- und grammatikographischen Arbeiten, die zur Schaffung einer Gebrauchsliteratur für Kirche und Schule unternommen wurden.
|| 27 RMG 1.573, Bl. 007b: „Die Wüste zwischen Lattaken (Griqualand) und dem Fischfluß. Es wohnen dort viele Buschmänner, die sich arg tätowieren, durch die Nase ein Loch stechen […]. Sie sprechen Namaquasch, doch etwas verschieden von dem hiesigen und sehen den hiesigen Namaquas sehr ähnlich, nur wilder […].“ 28 RMG 1.573, Bl. 020b: „Ich habe es mit der Hülfe des Herrn endlich gewagt ein Theil des Gottesdienstes (Liturgie, nebst den 10 Geboten und Gebet) in der Namakasprache zu verrichten. Außerordentliche Furcht, nicht verstanden oder bei den Schnalzlauten lächerlich zu werden, hatte mich befangen. Es ging jedoch über Erwarten gut, statt belacht zu werden war eine gespannte Aufmerksamkeit bei den Zuhörern und ein gut Theil versicherte nachher mich gut verstanden zu haben und machte mir Muth nur fortzufahren, was wir denn auch mit der Hülfe Gottes thun werden. Herr hilf nun auch das Größere überwinden.“ 29 RMG 1.573, Bl. 030b: „Uebrigens haben wir jetzt Arbeit genug, wir haben nämlich auf’s Neue einen Ansatz zum Erlernen der Namakasprache gemacht, oder vielmehr, wir haben gewagt, einen Theil des Gottesdienstes darin zu verrichten. Außer andren Gründen trug Ihre Emunterung, allen Fleiß darauf zu legen, viel dazu bei. Den 14. September: Sonntag wagte ich’s im Namen Gottes und hielt die Liturgie in der Namakasprache ab. Daß die Kinder, die von der Schule her an unsere unverständliche Aussprache einigermaßen gewöhnt sind, mich verstehen werden, hoffte ich, daß mich aber die Alten so gut verstehen würden, wagte ich nicht zu glauben, bis mehrere mit Freude bezeugten mich gut verstanden zu haben und ermunterten fortzufahren. Das gab Muth und Hoffnung. Den nächsten Sonntag folgte Bruder Vollmer auch und es ging ebenfalls über Erwarten. Seitdem sind wir fleißig dran, ob es uns gelingen werde. Vorigen Sonntag verrichtete ich auch die Taufe eines Kindes in Namakasch und nächstens werden wir uns versuchen mit einer kurzen Predigt. Im Sprechen mit den Leuten geht auch schon etwas und wir merken, daß es auf diese Weise, wenn auch jämmerlich langsam und unvollkommen, doch etwas vorwärts geht.“
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Heinrich Kleinschmidt berichtete darüber. Dem Mangel an geeigneter Literatur zur Verwendung im Schulunterricht beabsichtigte er Abhilfe zu schaffen. An den Missionsinspektor Johann Christian Wallmann in Barmen schrieb der „Sendling“ im November 1851: Einige Schulbücher thun uns Noth und möchten gern auf der Handpresse, die bei Bruder Kolbe ist, noch einiges ins Namaqua selbst drucken unter Anleitung des Bruders Kolbe, der’s versteht, z. B. Lautierbücher, einige kurze Lieder und den 1. Brief Petri, den ich mit Hülfe meiner Frau und Daniel Kloete vor 2 Jahren übersetzt habe. (RMG 1.573, Bl. 007a)30
Spätestens 1848 hatte das Ehepaar Kleinschmidt also, gemeinsam mit dem Katecheten Daniel Kloete den Ersten Paulusbrief ins Khoekhoegowab übertragen. Zum Gebrauch in der Schule überarbeitete das dreiköpfige Autorenkollektiv außerdem einen Bibelkatechismus, den Heinrich und Zara Schmelen in den 1820er Jahren aus dem Holländischen in die Namasprache übersetzt hatten.31 1851 lag schließlich Luthers Kleiner Katechismus in der Namasprache vor, den ebenfalls ein Verfasserteam um Heinrich und Hanna Kleinschmidt ins Khoekhoegowab übertragen haben dürfte. Die Botschaften Kleinschmidts an Inspektor Wallmann und seine Tagebuchmitteilungen belegen das Bemühen des Missionars transparent zu machen, wer ihn bei den sprachlichen Arbeiten unterstützte (RMG 2.622, Bl. 18a). Spätestens zu Beginn der 1850er Jahre waren Kleinschmidts mit ihren sprachlichen Arbeiten in die Fußstapfen Heinrich und Zara Schmelens getreten. Nach dem Norddeutschen Schmelen war es bis dahin nur dem rheinischen Missionar Hans Christian Knudsen (1816–1863), einem Norweger, gelungen, Literatur in der Namasprache zu veröffentlichen. Er hatte neben einer Schulfibel das Lukasevangelium übersetzt, dessen Druck die Britische Bibelgesellschaft 1846 ermöglichte (Knudsen 1846). Erklärtes Ziel Kleinschmidts war es deshalb, den ersten Petrusbrief und Luthers Katechismus auf einer mobilen Druckpresse zu
|| 30 In den Quellen variiert die Schreibung zwischen „Cloete“ und „Kloete“. Der Verfasser hat sich im vorliegenden Aufsatz für die durchgängige Verwendung der Schreibung „Kloete“ entschieden, mit der Daniel Kloete einen Autographen unterzeichnete (RMG 1.578, Bl. 25a). 31 Vgl. dazu RMG 1.573, Bl. 055b: „Die Zahl der Schüler hat wieder um einige zugenommen. Meine Jünglinge und größeren Knaben sind fleißig am Namakaschreiben und zwar am Abschreiben des Bibelkatechismus vom seligen Vater Schmelen, den ich nach unserer Schreibweise mit Schnalzzeichen versehen und mit sonst etlichen Veränderungen umgeschrieben habe. In den wenigen sprachlichen Veränderungen stand mir anfangs Daniel Kloete, später meine Frau und oben genannte Jünglinge zur Seite. Die Kinder lernen ihn gerne, bis zu den A B C Schülern herab, und in nicht langer Zeit hatte ich über 100 Fragen, bis zur Geschichte Abrahams, eingeübt.“
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vervielfältigen, die auf Umwegen an die Walvis Bay gelangt war (Mossolow 1970; Moritz 1978). Seinen Amtsbruder Friedrich Wilhelm Kolbe (1821–1899) habe er „gebeten, er möchte die Presse mitbringen, wenn er seine Frau zur Entbindung hierherbringt.“ So umging er den zeitraubenden Reiseweg zu den Druckereien in Kapstadt.32 Mit Knudsen wolle er sich wegen der Markierung der Klicklaute abstimmen, kündigte Kleinschmidt gegenüber Wallmann an.33 Bei der Verschriftung der Namasprache sahen sich die Eheleute Kleinschmidt mit den gleichen Problemen konfrontiert wie zuvor das Ehepaar Schmelen. Obwohl ihn mit Gattin Hanna und Katechet Daniel Kloete zwei Muttersprachler in seiner „linguistischen Werkstatt“ unterstützten, war dem Missionar „bange […], daß die Uebersetzung nicht tauge. Das ist mein einziger Trost, daß aller Anfang unvollkommen ist, und daß es besser ist, etwas Unvollkommenes zu haben, als Nichts“ (RMG 1.573, Bl. 007a). Details zu ihrer Vorgehensweise bei der Kodifizierung und zu Schwierigkeiten bei der Übersetzungsarbeit nennt das Missionarspaar in den überlieferten Quellen nicht. Fest steht jedoch, dass die Korpusplanung (Lexikographie und Grammatikographie) des Khoekhoegowab auch zwanzig Jahre nach der Drucklegung der sprachlichen Pionierarbeiten der Eheleute Schmelen noch in ihrer Anfangsphase steckten.34 Erst 1856 legte die Missionarskonferenz zu Hoachanas unter dem Vorsitz Heinrich Kleinschmidts das
|| 32 Wenn es zur Zurücklegung der Strecke von Barmen nach Bethanien „14 Tage mit Reitochsen“ (RMG 2.598, Bl. 203a) bedurfte, brauchte man von Rehoboth, dem Missionsposten Kleinschmidts nach Bethanien, schätzungsweise 10 Tage. Von dort reiste man in 20 Tagen weiter nach Komaggas (RMG 6, Bl. 37), dann acht weitere Tage durch das Klein-Namaqualand bis Eben-Ezer (RMG 2.598, Bl. 25b) und in nochmal drei Reisetagen nach Wupperthal (Jahresberichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 1843). Von der Kapstadt bis dorthin benötigte Missionar Kleinschmidt 1839 23 Tage, was er allerdings als außergewöhnlich lange bezeichnete (Jahresberichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 1840). Von Rehoboth im Groß-Namaqualand bis in die Kapstadt war ein Reisender mit dem Ochsenwagen deshalb (maximal) 74 Tage unterwegs, wenn täglich eine achtstündige Wegstrecke zurückgelegt werden konnte. 33 Johann Christian Wallmann war sehr an der Standardisierung der Namasprache interessiert und gab auf der Basis der sprachlichen Arbeiten seiner Missionare 1854 ein Lexikon und 1857 eine Grammatik der Namasprache heraus (Haacke 1989). 34 Den Literaturbetrieb in der Namasprache begleiteten in den 1850er Jahren intensive Bemühungen dieser Sprache eine einheitliche Grammatik zugrunde zu legen und in diesem Zusammenhang feststehende Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln zu formulieren. Neben ausgewiesenen Sprachforschern wie Karl Richard Lepsius waren daran auch die Leitung der Rheinischen Mission mit ihrem Inspektor Wallmann sowie deren Missionare in Südwestafrika beteiligt; vgl. dazu Haacke 1989, Wegener 1903 sowie das Protokoll der „Sprachenkonferenz“ der rheinischen Missionare zu Hoachanas 1856 (RMG 2.622, Bl. 18a-022a), deren Teilnehmer u. a. über das Alphabet der Namasprache, dialektale Varianten und Druckschwierigkeiten berieten.
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Grapheminventar und gleichzeitig die Zuordnung von Phonemen zu Graphemen in der Namasprache fest (RMG 2.622, Bl. 18b). Anhand des Konferenzprotokolls von 1856 können die linguistischen Schwierigkeiten rekonstruiert werden, mit denen Hanna und Heinrich Kleinschmidt bei ihrer Kodifizierungsarbeit konfrontiert wurden. Damals verständigten sich die Anwesenden auf erste orthographische Grundregeln, nachdem es zu ernsten Auseinandersetzungen zwischen den Missionaren Vollmer, mit dem Kleinschmidt eng zusammen gewirkt hatte, und Knudsen gekommen war. Im Konferenzprotokoll heißt es dazu: § 2 Dialektverschiedenheiten & Differenzen zwischen Br. Vollmer & Knudsen: Die Dialektverschiedenheit zwischen den Nama & Orlams war bei Ausarbeitung vorliegenden Alphabets Gegenstand ernster Erwägung. Wir fanden jedoch dieselben im Ganzen sehr unwesentlich & bestätigen, was die geehrte Gesellschaft in deren Schreiben vom 9. November v. J. als Schluß aus Vergleichung der Vollmerschen & Knudsenschen Schreibweise ausführet: „Daß dieselben Bücher für Orlam und Namaqua gebraucht werden können.“ Sie sprechen ein & dieselbe Sprache & es besteht nur eine dialektische Verschiedenheit in der Aussprache, sowohl einzelner Vocale als Konsonanten; so z. B. drückt der Namaqua das halbe o der Orlams in ǀhomi, +homi, ǀoms. omi, ǂgoms, ǂoms u. s. w. so herunter, daß es mehr u als o zu hören ist. Das war die Ursache der Differenzen zwischen der V’schen & K’schen Schreibeweise. (RMG 2.622, Bl. 19a)
Missionar Franz Heinrich Vollmer lernte die Namasprache in Rehoboth bei Hanna und Heinrich Kleinschmidt. Bedauerlicherweise ermöglichen die ihm vorliegenden Quellen dem Verfasser nicht, Rückschlüsse darauf zu ziehen, welche Varietät des Khoekhoegowab Hanna Kleinschmidt sprach und ob sich diese von der Varietät der Swartbooi-Nama unter Kapitän Willem Swartbooi (?–1864) in Rehoboth unterschied. Wünschenswert wäre ein Vergleich dieser Varietät bzw. dieser Varietäten mit den Sprachkorpusplanungen Vollmers und den Graphem-PhonemKorrespondenzregeln, auf die sich die Teilnehmer der Konferenz von Hoachanas 1856 verständigten. Dadurch ließe sich ermitteln, welche Varietät an Prestige gewann, welche verlor und ggf. darstellen, inwiefern die Kodifizierungsarbeiten unter der Beteiligung Hanna Kleinschmidts folgenreich für den Status und das Prestige verschiedener Varietäten der Namasprache waren. Ob Hanna Kleinschmidt ihren Gatten zur Missionarskonferenz nach Hoachanas begleitet hat, geht aus den vorliegenden Quellen nicht ausdrücklich hervor. Dass sie indirekt auf die in sprachpolitischer Hinsicht bedeutende Konferenz von Hoachanas einwirkte, zeigt die Tatsache, dass Heinrich Kleinschmidt bei der Sprachkonferenz präsidierte. Ohne die Sprachkompetenz seiner Frau hätte der Missionar die Namasprache sicherlich nicht innerhalb von sieben Jahren zu sprechen und zu schreiben gelernt.
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So schwer wie die Schaffung einer ersten „rheinischen Orthographie“ fiel den Missionaren die Bildung sinngetreuer Ausdrücke zur Vermittlung der christlichen Botschaft in der Namasprache.35 Hinzu kamen technische Erschwernisse im Druckprozess, an denen einst schon die Schmelenschen Übersetzungen gescheitert waren: Zur Handpresse Kolbes in Scheppmannsdorf fehlten Typen, die dazu geeignet waren, die im Manuskript graphematisch repräsentierten Schnalzlaute, Diphthonge usw. abzudrucken. Kleinschmidt berichtete dazu: „Auch sind wir genöthigt, statt Knudsen’s besonderen Zeichen für die Schnalzlaute, Buchstaben zu nehmen, weil bei der Presse keine Zeichen sind“ (RMG 1.573, Bl. 007a). Die Missionsleitung reagierte auf diese Information lange Zeit nicht und trug damit erheblich dazu bei, dass zum einen die Brauchbarkeit der jungen Namaliteratur eingeschränkt blieb, zum anderen die praktische Realisierung der sprach- und sprachenpolitischen Instruktionen, die sie ihren Missionaren auferlegte, stockte.36 Kleinschmidt hielt das Fehlen geeigneter Typen nicht davon ab, seine Übersetzung des Kleinen Lutherischen Katechismus zum Druck zu befördern. Im Juni 1855 reiste der Missionar zu diesem Zweck mit seiner Familie im Ochsenwagen
|| 35 RMG 2.622, Bl. 020a: „Ein schwieriges Stück Arbeit war für uns die Bildung neuer Worte für solche Begriffe, die unserem Volke ferne liegen. So viel [sic] möglich hielten wir uns an vorhandene Begriffe, mußten aber auch zu cultivierten Sprachen unsere Zuflucht suchen, weil es zuweilen rein unmöglich war, auch nur Anklänge zur Bildung reiner Begriffe zu finden.“ 36 1856 hatten weder die Missionare noch die Leitung der Rheinischen Mission dem Übelstand Abhilfe geschaffen, wie das Protokoll der Sprachenkonferenz zu Hoachanas belegt (RMG 2.622, Bl. 0020b): „Die Presse befindet sich in Scheppmannsdorf, ist aber bei der neuen Ordnung der Dinge für uns ungebrauchbar, weil uns die nöthigen Zeichen fehlen.“ Mit solchen Problemen alleingelassen, baten die Missionare die Missionsspitze darum, den Druck der Manuskripte in Deutschland zu realisieren (RMG 2.622, Bl. 0020a-b): „Aus verschiedenen Privatübersetzungen des kleinen Lutherischen Katechismus haben wir mit Fleiß und Sorgfalt beifolgende Uebersetzung bearbeitet & überreichen sie hiermit der geehrten Gesellschaft mit der Bitte, das Büchlein so schnell als möglich gut & deutlich drucken zu lassen & uns zuzusenden. Da der Guß der dazu nothwendigen Zeichen, der in England geschehen muß, am Kap großen Aufenthalt & ungemeine Kosten, sowie amtliche Versäumniß für den betreffenden Bruder mit sich führen würde, so hielten wir es fürs Gerathenste, der geehrten Gesellschaft diesen Vorschlag zu thun. Sollte jedoch die Korrektur dorten Schwierigkeiten bieten & die geehrte Gesellschaft fürchten, daß sich hier störende Fehler einschleichen möchten, so ist der eine oder andere aus unserer Mitte erbötig, den Druck am Kap zu bewerkstelligen. Da jedoch die Orthographie eine geordnete ist, so hoffen wir daß sich der Druck dorten wird bewerkstelligen lassen. Da die Zeichen plastischer sind, so hoffen wir, daß im Druck hierin weniger Fehler als früher vorkommen werden. Hierauf bitten wir besonders Sorgfalt zu verwenden. Den Einband wünschten wir derbe zu haben (Halbfranzband), da unsere Kinder sonst denselben schnell vernichten werden. Für jede Station bitten wir um 300 Exemplare.“
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nach Scheppmannsdorf. An die Deputation in Deutschland schrieb er, dass seine Reise gerechtfertigt sei, wenn er nur „endlich mit Hülfe Schönebergs [s]einen lang gehegten Wunsch in Erfüllung bringen [könne, S. C.], Luthers Kleinen Katechismus ins Namaka gedruckt zu bekommen“ (RMG 1.573, Bl. 024a). Nach einer kurzen Einweisung in die Bedienung der Druckpresse durch Missionar Heinrich Schöneberg (1822–?) gelang Kleinschmidt der erfolgreiche Abschluss dieses lange verfolgten Projektes (RMG 1.574a, Bl. 018b). Seine Journaleinträge zeugen von der Freude, endlich eine Frucht der Sprachstudien drucken zu können, die er mit Hanna, Missionar Heinrich Vollmer und Daniel Kloete betrieben hatte. Mit tatkräftiger Unterstützung Jan Hendrik Bams (1811– 1856) begann Anfang Juni die Arbeit.37 Bei der Vorbereitung der Presse, die sich in schlechtem Zustand befand, halfen neben Bam auch Hanna Kleinschmidt und der Schüler Samuel, wie der Missionar detailliert berichtete.38 Waren die „ersten Probestücke“ noch „sehr schlecht, [ging es] allmählig [sic] […] aber besser, die letzten Seiten am besten, leider aber blieb das Ganze eine unvollkommene Arbeit. Die Schuld lag wohl daran, daß die Lettern, alte und neue, ungleich waren, und wir die Druckerschwärze noch ungehörig wußten aufzutragen“ (RMG 1.574a, Bl. 20b). Am Ende des Monats hatten die Kleinschmidts mithilfe Jan Bams schließlich „300 Exemplare fertig gebracht und es hat sich nachher erwiesen, daß das Büchlein zu gebrauchen ist.“ Stolz verschenkte es der deutsche Missionar auf Rehoboth an Rebecka, die Frau des Juniorkapitäns David Swaartbooi (?–1856), sowie an im Lesen fortgeschrittene Schüler (RMG 1.574a, Bl. 23a).
|| 37 RMG 1.574a, Bl. 018b: „Schnell war der Entschluß bei mir fertig, um so leichter, da Bruder Bam zu helfen versprach und meinte, es würde gelingen. Geschickt in allerlei Sachen, hatte er auch selbst die Kunst angesehen (meines Wissens bin ich nie in einer Druckerei gewesen). So ließ sich wenigstens in der Handhabung bei ihm was hoffen, während ich als Setzer hoffte fertig werden zu können.“ 38 RMG 1.574a, Bl. 20a: „Bam und ich machten in den folgenden Tagen Vorbereitungen zum Drucken und dies war nicht so leicht. Die Presse selbst war nicht in Ordnung, die Buchstaben, groß und klein, gebrauchte und neue und von verschiedener Art, alles in einem Sacke durcheinander. Das gab was zu suchen und zu ordnen, zumal wir anfangs die weißen Buchstaben erst aufs Papier drücken mussten, um sie zu erkennen. Diese Kunst war jedoch bald erlernt und meine Frau, mit Hülfe meines Jünglings Samuel, nahm uns fortan diese Arbeit ab, nämlich das Besorgen der Buchstaben in ihre bestimmten Fächer. Beim Setzen machten wir’s nun auf folgende Weise, um die Langsamkeit, durch unsere Ungeschicklichkeit nothwendigerweise hervorgerufen, zu beseitigen. Ich nahm das Manuscript und reichte danach die Buchstaben dem Bruder Bam, der sie in die Form setzte und befestigte. Später that ichs allein, wenn Bruder Bam zu thun hatte. Ebenso machten wir’s beim Andruck, einer drehte die Schraube, während der andere die Vorlagen auflegte und abnahm.“
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Gegenüber der Missionsführung in Deutschland betonte Kleinschmidt den geringen Kostenaufwand des eigenständig angefertigten Druckes und bekräftigte, die Arbeit, über die er, seine Frau und Bam „zuweilen halbe Nächte“ aufgesessen hätten, sei nicht „aus Eitelkeit […] unternommen“. Seine scheinbare Strategie zur Rechtfertigung der Tatsache, „3 Wochen Zeitverlust“ auf die Druckarbeit verwandt zu haben, und der Hinweis, dass er gerne noch „etliche Predigten […] oder den 1st Brief Petri“ gedruckt hätte, kann auch als Spitze gegen die Missionsleitung verstanden werden (RMG 1.574a, Bl. 20b). Die forderte die Missionare zwar zum Sprachstudium auf und formulierte ihr Sprachregime dem Prinzip der Indigenisierung folgend, ließ Kleinschmidt, Hahn et alii mit den daraus erwachsenden Problemen jedoch auf sich gestellt: intellektuell, linguistisch und technisch. Kleinschmidts Druck des Katechismus’ und weitere Publikationen kirchlicher sowie schulischer Gebrauchsliteratur, von Wörterbüchern und Grammatiken in den 1850er Jahren belegen die sprach- und sprachenpolitische Wende, welche die Missionare in Südwestafrika innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren vollzogen hatten – auch ohne Unterstützung der Deputation (Wegener 1903). Anstatt die Verkehrssprache Kapholländisch zur alleinigen Kirchen- und Schulsprache zu befördern, verpflichteten die Missionare aus Deutschland ihr sprachliches Handeln dem Prinzip der Indigenisierung. An ökonomischen Maßstäben gemessen war dies geradezu irrsinnig. Dass sie die einheimischen Khoekhoevarietäten und das Otjiherero erlernten, kodifizierten und schrittweise verstärkt in öffentlichen Kommunikationssituationen einsetzten, entspricht jedoch der im Pietismus wurzelnden Verpflichtung zur Glaubensverkündigung in der Volkssprache. Die Bedeutung Hanna Kleinschmidts, Daniel Kloetes und weiterer Afrikanerinnen und Afrikaner als Sprachlehrer und -assistenten der Missionare ist für diese Entwicklung erheblich, wie das vorangehende Quellenstudium trotz ihrer wenigen Selbstzeugnisse belegt. Der Literaturbetrieb im Umfeld der Missionsgesellschaften ließ die afrikanischen Ehefrauen der Missionare Schmelen und Kleinschmidt nicht unerwähnt (Roller 2004). Die Herausgeber und Verfasser stellten den Lesern Zara Schmelen und Hanna Kleinschmidt als „wichtige Vermittlungsfiguren“ zwischen Missionar und autochthoner Bevölkerung vor und „sahen im christlichen Lebenswandel und in der inneren Haltung“ das entscheidende Kriterium zur Beurteilung beider Frauen (Roller 2004: 201). Die Tagebücher und Briefe Kleinschmidts zeigen, dass es den Herausgebern der Missionszeitschriften und missionsnahen Autoren in Deutschland nicht an Informationen über die Frauen in seinem Um-
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feld mangelte und sie daher ausführlicher hätten berichten können.39 Die herausragenden Leistungen von Afrikanerinnen und Afrikanern im Umfeld der Missionsunternehmungen ausradiert oder „übersehen“, wie die Forschung gelegentlich behauptete, hat jedoch weder Franz Heinrich Kleinschmidt noch die Missionspublizistik, sondern offensichtlich die Historiographie späterer Zeiten. Als ein Motiv Kleinschmidts dafür, der Leitung der Rheinischen Missionsgesellschaft und ihren Förderern die Mitwirkung seiner Ehefrau am Missionswerk im Gegensatz zu Carl Hugo Hahn deutlich vor Augen zu stellen, kommt in Frage, dass er aufbegehren wollte gegen die Kritik an sogenannten „rassenverschiedenen Eheschließungen“ (RMG 1.573, Bl. 006a). Das Gouvernement der Kapkolonie, die Mehrheit der europäischen Missionare und die Leitung der Missionsgesellschaften, denen sie angehörten, missbilligten die Verheiratung von Europäern mit Afrikanern, auch wenn sie solche nicht ausdrücklich verboten (Elbourne & Ross 1997; Trüper 2000). Dies gilt auch für die Rheinische Missionsgesellschaft.40
6 Fazit Anhand der Untersuchung schriftlicher Quellen konnte gezeigt werden, welch herausragende Bedeutung Hanna Kleinschmidt bei der Umsetzung der sprachenpolitischen Ausrichtung des missionarischen Wirkens der Rheinischen Missionsgesellschaft im vorkolonialen Südwesten Afrikas zukommt. Die Auswertung von Autografen Hanna Kleinschmidts sowie der Tagebuchaufzeichnungen und Briefe ihres Gatten Franz Heinrich verdeutlicht zum einen, dass ohne Hanna Kleinschmidts Veranlagungen und Fähigkeiten, insbesondere ohne ihre sprachlichen und sozialen Kompetenzen, die sie von ihren Eltern Heinrich und Zara Schmelen erwarb, die Implementierung des dem Prinzip der Indigenisierung verpflichteten sprach- und sprachenpolitischen Konzepts der Rheinischen Missionsgesellschaft
|| 39 Vgl. dazu etwa die Abweichungen zwischen den Tagebucheinträgen Heinrich Kleinschmidts zum Druck des Kleinen Katechismus im Juni 1855 auf Rehoboth (RMG 1.574a, Bl. 018b-21a) und die gedruckten Auszüge in den Berichten der Rheinischen Missionsgesellschaft (Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 1853). 40 Die Missionskonferenz zu Wupperthal (RMG 2.389, Bl. 002b) etwa wünschte im November 1841, „daß die Brüder in Zukunft sich nicht mit Eingeborenen oder Abkömmlingen derselben verbinden, und zwar weil ein Missionar durch einen solchen Schritt sich den Umgang oder die Verbindung mit den Europäern und Colonisten mehr oder weniger erschwert, und er auch leicht in sehr unangenehme Familien-Verbindung gesetzt werden kann.“
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in die Missionswirklichkeit Südwestafrikas unmöglich gewesen wäre. Nicht nur als Katechetin und Seelsorgerin, sondern auch als Khoekhoegowablehrerin ihres Gemahls und als dessen Dolmetscherin folgte Hanna Kleinschmidt dem Beispiel ihrer Mutter Zara Schmelen. Die Kodifizierung des Nama und seine Beförderung zur Schul- und Kirchensprache auf Rehoboth ist ohne sie, die sogar als Druckerin tätig war, undenkbar. Sie knüpfte mit ihrer linguistischen Arbeit dort an, wo ihre Eltern stehen geblieben waren. Dies verdeutlicht etwa der Umstand, dass Hanna Kleinschmidt den Bibelkatechismus, den ihre Eltern aus dem Niederländischen in die Namasprache übertragen hatten, graphematisch redigierte, um die phonematische Realisation der Grapheme zu erleichtern – insbesondere Europäern als Nicht-Muttlersprachlern des Nama.41 Die Missionarsgattin leistete einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung des Khoekhoegowab, dessen Verdrängung durch Afrikaans als Verkehrssprache im südlichen und südwestlichen Afrika damals zu befürchten war. Dem christlichen Bekehrungswerk war Hanna Kleinschmidt „soziale Türöffnerin“, weil sie schneller als ihr Mann Kontakt zur indigenen Bevölkerung, insbesondere zu den Frauen, herstellte und deren Vertrauen gewann. Neben dem weiblichen Engagement für die Missionssache belegen die historischen Quellen zum anderen, dass die bspw. von Lau (1983), Bowie (1993) und Gaomas (2008) geäußerte These, die Frauenbeteiligung sei innerhalb der Missionsnetzwerke systematisch verschwiegen worden, nicht verallgemeinert werden darf. Franz Heinrich Kleinschmidt stellte seine Ehefrau wiederholt als treibende Kraft seiner Missionstätigkeit dar und gab dies, neben seiner Zuneigung zu ihr, als Heiratsmotiv an. Außerdem konnte herausgestellt werden, dass Hanna Kleinschmidt sich dem Ressentiment verschiedener Akteure ausgesetzt sah. Afrikanerinnen und Afrikaner lehnten sie mitunter aufgrund ihrer Abstammung ebenso ab wie manche Amtsbrüder ihres Mannes, namentlich Hans Christian Knudsen und anfangs auch Carl Hugo Hahn. Eine eingehende wissenschaftliche Untersuchung des Lebenswerkes von Hanna und Heinrich Kleinschmidt auf Basis der historischen Quellen steht bisher aus. Erst sie wird auch tiefergreifende Antworten auf die Frage zulassen, welche Auswirkungen die Kodifizierungsarbeiten des Ehepaars Kleinschmidt auf verschiedene Varietäten des Khoekhoegowab hatten. Der Verfasser möchte den vorliegenden Aufsatz als eher historisch orientierte Vorarbeit dazu verstanden wissen.
|| 41 Vgl. dazu RMG 1.573, Bl. 055b.
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Literatur Archivquellen Aus dem Schriftarchiv der Vereinten Evangelischen Mission, Wuppertal: Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 6 (1853). Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 8 (1855). Jahresberichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 11 (1840). Jahresberichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 14 (1843). RMG 1.572: Schmelen, Johann Heinrich. RMG 1.573: Kleinschmidt, Franz Heinrich (1844–1854). RMG 1.574a: Kleinschmidt, Franz Heinrich (1854–1864). RMG 1.578: Knudsen, Hans Christian (1816–1863). RMG 1: Protokolle der Deputationssitzungen 1828–1833. RMG 2.381a: Gustav Adolf Zahn (1808–1890). RMG 2.389: Missionarskonferenzen im Kapland (General- u- Spezialkonferenzen): Protokolle 1834–1864. RMG 2.598: Anfänge der Mission im Namaqualand 1840–1843. RMG 2.622: Missionarskonferenzen im Namaland: Protokolle, Band 1, 1846, 1854–1875. RMG 6: Protokolle der Deputationssitzungen (und Generalversammlungen) 1838–1845. Aus dem Bildarchiv der Archiv- und Museumsstiftung der Vereinten Evangelischen Mission, Wuppertal: Abb. 1: Das Missionshaus zu Komaggas, RMG 913-54, Berichte 1854 Abb. 2: Nach der Konferenz in Wupperthal, RMG 913-71, Berichte 1855 Abb. 3: Die Wüste im Namaqualand, RMG 913-69, Berichte 1855 Copyright für alle 3 Abbildungen: Archiv- und Museumsstiftung der VEM
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Mathias A. Schöner
Kulturmission oder Herrschaftssymbolik? Zur Verbreitung deutscher Zeichensysteme in der „Musterkolonie“ Tsingtau Abstract: The German colony of Tsingtau was designed as a hub for German culture in China by the German administration. Using the concept of semiotic landscapes, this paper explores how German culture was meant to be introduced into Tsingtau. The findings show that while the German political influence may have been large at times it did not transform into significant cultural leverage. Keywords: colonial placemaking, comparative toponomastics, language and power, linguistic landscapes, post-colonialism china, semiotic landscapes
1 Einleitung Die chinesische Stadt Qingdao1 liegt zentral an der Ostküste Chinas auf einer Halbinsel der Shandong-Provinz. Qingdao ist eine bedeutende Technologieund Handelsstadt mit etwa 7,7 Millionen Einwohnern. Noch vor gut 100 Jahren war Qingdao bedeutend kleiner und in Deutschland vor allem unter dem Namen Tsingtau bekannt (vgl. Hesse-Wartegg 1900: 196). Als Ergebnis deutscher Kolonialbemühungen in China wurde die Shandong-Halbinsel 1897 von Deutschen Marinesoldaten besetzt und eine Pacht von 1898 an durchgesetzt, die mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 endete. Die deutsche Verwaltung errichtete auf dem Kiautschou genannten Pachtgebiet die deutsche Musterstadt Tsingtau, die vornehmlich dazu dienen sollte, dem Deutschen Reich formellen und informellen Einfluss in China zu sichern. Tsingtau wuchs während der deutschen Kolonialzeit stetig und 1913 lebten dort etwa 55.000 Menschen. Die meisten davon waren chinesische Männer, welche die Arbeit in die Stadt zog; 4.500 waren Europäer, meist Soldaten (Matzat 1998). Im Rahmen der erst spät begonnenen deutschen Kolonialzeit hatte das verhältnismäßig kleine Kiautschou eine || 1 Website der Stadt Qingdao: http://english.qingdao.gov.cn/ (zuletzt eingesehen am 13.07.2017). || Mathias A. Schöner: E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-215
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Sonderrolle inne: Es stand unter Marineverwaltung, nicht unter der Verwaltung der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes und diente zunächst vor allem als Flottenstützpunkt und Warenumschlagplatz. Mit Tsingtau verbunden war die vage Hoffnung, ein deutsches Hongkong errichten zu können und sich, wie viele andere europäische Mächte, Einfluss im damals schwachen China, dem man aber eine große Zukunft prophezeite, zu sichern.
Abbildung 1: Lage Qingdaos im heutigen China (QGIS).
„[A]lles ist gedacht und angelegt als Muster und Vorbild für Chinesen; überall hat der Gedanke der bewussten Beeinflussung der chinesischen Umgebung mitgesprochen“ (Mühlhahn 2000: 203), befand Wilhelm Schrameier, Kommissar für chinesische Angelegenheiten 1897–1909 in Kiautschou, zur Planung und Gestaltung des deutschen Schutzgebietes. Zugleich attestierten deutsche Diplomaten der deutschen Kulturpolitik in China große Bedeutung als Mittel zur Einflussnahme in allen Bereichen der chinesischen Öffentlichkeit (Huang 1995: 141). Im Rahmen dieses Aufsatzes soll versucht werden, die Arten der Repräsentation der deutschen Kultur und des deutschen Einflusses, der deutschen Herr-
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schaft, sowie deren Wirkung im öffentlichen Raum der einzigen deutschen Kolonie in China anhand verschiedener Zeichensysteme zu verorten und im Hinblick auf eine etwaige Kulturmission zu untersuchen. Er soll so Hinweise geben, wie und wie erfolgreich diese Beeinflussung abgelaufen ist.
1.1 Die deutsche Kulturmission Die deutsche Kulturpolitik in China und insbesondere in Kiautschou hatte das Ziel, ein positives Bild eines fortschrittlichen Deutschlands im chinesischen Ausland zu zeichnen. Systemisch sollte die Kulturpolitik neben Diplomatie und Handel als dritte Säule der Beziehungen Deutschlands zu China wirken (Mühlhahn 1998) und „den Marktwert der deutschen Kultur und deutschen Sprache […] erhöhen“ (Mühlhäusler 2011: 189), indem man die eigene Fortschrittlichkeit demonstrierte. Politische Prozesse in Europa zwangen die deutsche Regierung ab 1905 sogar dazu, die bis dahin dominierende imperiale Politik zugunsten der Kulturpolitik stark zu beschneiden, und verhalfen der Kulturmission so zu zusätzlicher Bedeutung (Leutner 1997: 48). Die mächtige Marineverwaltung, die die Kolonie kontrollierte, bezeichnete Tsingtau daraufhin schnell als „eine Ausstellung für deutsche Leistungen“ (Reichsmarineamt 1908: 17) und formulierte als ihre wichtigste Aufgabe, „die weitere Ausgestaltung der Kolonie zu einem Zentrum europäischer, insbesondere deutscher Kultur in Ostasien“ (Reichsmarineamt 1909: 12) voranzutreiben. Die „Musterkolonie“ Tsingtau diente demnach zur Repräsentation der deutschen Kultur und zur Beeinflussung des chinesischen Umfelds. Klaus Mühlhahn spricht in diesem Zusammenhang von der Funktion des deutschen Kolonialismus als „Bühne“ (Mühlhahn 2000: 284) für deutsche Inszenierungen. Diese Repräsentation, jene Inszenierungen also, gilt es, im weiteren Verlaufe umfassend zu untersuchen.
1.2 Methodik Die Verortung der propagierten „Durchtränkung der ganzen Provinz […] mit deutschem Geiste […] [zur] Volkserziehung und Volksbeeinflussung“ (Jacobson 1905, abgedruckt in Leutner 1997: 453 [Dok. 127]) soll der Angelpunkt dieser Untersuchung sein. Um die Verhältnisse im deutschen Schutzgebiet Kiautschou und besonders in der Stadt Tsingtau und ihren Vororten dahingehend besser einschätzen zu können, muss ein Instrument gefunden werden, das die Feststellung der Rolle des Deutschen, des „Deutschtums“ (Leutner 1997: 449), an diesem Ort zur betreffenden Zeit erlaubt und gleichzeitig auf vorhandene oder
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demonstrierte Machtgefüge von Urheberschaft Hinweise geben kann. In Anlehnung an das Konzept der linguistic landscapes (Androutsopoulos 2008: 1ff.; vgl. auch: Landry & Bourhis 1997 oder Warnke 2011) soll hier die grobe Untersuchung der semiotic landscape des Gebietes vorgenommen werden. Mühlhäusler hat darauf hingewiesen, dass dieser Bereich der allgemeinen Zeichensysteme „bislang zu wenig“ (Mühlhäusler 2011: 196) Berücksichtigung fand und so sollen hier erste Grundüberlegungen zu diesem Aspekt angestellt werden. Hierzu werden diejenigen unterschiedlichen Zeichen, Zeichensysteme und Zeichenensembles und deren Veränderung im öffentlichen Raum des Schutzgebiets betrachtet, die in der vorliegenden Sammlung von Textquellen und Abbildungen erwähnt und beschrieben worden sind. Unter öffentlichem Raum soll hier nach Lofland (1998: 8) die Menge aller solcher Räume verstanden werden, die theoretisch allen Mitgliedern der Gesellschaft physisch und visuell zugänglich sind. Um die Menge der zu bewertenden Zeichensysteme einzugrenzen, sollen hier vor allem die folgenden Aspekte untersucht werden, da sie besonders gewinnbringend erscheinen: Architektur und Landschaftsgestaltung sowie Sprachund Schriftenlandschaft, verbunden durch die Betrachtung von deutschen Toponymen im Schutzgebiet. Das Schulsystem ist an anderer Stelle bereits weitestgehend beschrieben worden (Mühlhahn 2000: 236ff.) und soll hier nur am Rande erwähnt werden. Der Argumentation Mühlhahns folgend wird auch die Arbeit der westlichen Missionen hier nicht weiter betrachtet werden, da sie viel mehr „Teil einer supranationalen, breiten und vielschichtigen westlichen Missionsbewegung in China“ (Mühlhahn 1998) war und nicht ausgewiesener Bestandteil der expliziten deutschen Bemühungen. Die Gestaltung der so eingegrenzten semiotic landscape durch die verschiedenen Parteien soll in Übereinstimmung mit den Überlegungen Auers hierbei als Werkzeug der Macht und zugleich auch als Spiegelbild der Machtdynamik verstanden werden, denn „[d]ie im öffentlichen Raum sichtbaren Zeichen symbolisieren die Macht der Agenten“ (Auer 2010: 295), die diese entweder anbringen oder ihre Anbringung kontrollieren. Dadurch soll sich die Lagerung der Gewalt über die Zeichenverwendung im Schutzgebiet weiter klären und deutscher Einfluss sichtbar werden. Ähnlich wie bei linguistic landscapes steht die Zeichenlandschaft dabei indexikalisch „für die An- bzw. Abwesenheit, die Stärke, Lebendigkeit oder Schwäche einer ethnischen Gruppe im Vergleich zu anderen Gruppen“ (Androutsopoulos 2008: 2) sowie das institutionelle Momentum der Letzteren. Zeichen, die von der deutschen Verwaltung platziert wurden, können hierbei eindeutig als top-down-Zeichen interpretiert werden, als Zeichen also, die von einer amtlichen Autorität mit politischem Hintergrund platziert worden sind (Androutsopoulos 2008: 1f.). Wo es möglich ist und sinnvoll
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erscheint, soll außerdem zwischen Selbstverständnis der beteiligten Parteien beim Anbringen und tatsächlicher Wirkung der angebrachten Zeichen unterschieden werden. Neben den sprachlichen Zeichen auch noch andere Zeichensysteme zu betrachten, hat die Vorteile, die schwierige Quellenlage durch eine breitere Betrachtung etwas ausgleichen zu können und durch die Untersuchung von Kommunikation mittels zusätzlicher Systeme einen weiter ausgedehnten Eindruck über die Verhältnisse im deutschen Schutzgebiet gewinnen zu können. In der heterogenen Sprechergemeinschaft des Schutzgebietes, die über nur wenige Sprecher beider Sprachen, Chinesisch und Deutsch, verfügte, erscheint die Kommunikation durch nicht-linguistische Zeichen zudem zusätzlich relevant. Mühlhäusler weist auf diesen Zusammenhang eindeutig hin und erklärt: „Was man mit Worten nicht sagen kann, deutet man durch Gebärden an“ (Mühlhäusler 2011: 191). Weiterhin unterstreicht auch Mühlhahn (2000: 282) die Bedeutung von Metaphern für die Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen, Metaphern, die im vorliegenden Fall etwa zur Unterstützung der deutschen Selbstdarstellung als herausragend zivilisierter Nation eingesetzt werden. Bezüglich der Quellen und der Berücksichtigung (hoch)chinesischer Ausdrücke im Zuge dieser Arbeit sind zu Beginn noch einige Anmerkungen nötig.
1.3 Quellenkritik Die Bearbeitung von Themen, die die deutsche Kolonialzeit betreffen, hat häufig mit einer Quellenproblematik zu kämpfen. Im vorliegenden Fall ist dies nicht anders. Es sind erstens die Menge bzw. die Zugänglichkeit, zweitens die Qualität und drittens die Urheberschaft der Quellen, die als problematisch gelten können. Insbesondere in Bezug auf die Urheberschaft tritt hier das Problem auf, dass viele Quellen deutschen Ursprungs sind und in einigen Fällen nachweislich zu Propagandazwecken (Leutner 1997: 171) in der Heimat eingesetzt wurden. In Anbetracht dieser Umstände und des weitgehenden Fehlens chinesischer Quellen muss gerade bei den Schriften des Reichsmarineamts oder den aus heutiger Sicht streckenweise sehr deutschnational gehaltenen Reiseführern2 mit gewissem Vorbehalt gelesen und geschlussfolgert werden. Dass sich die meisten Angaben hier auf den Zeitraum der ersten Hälfte der deutschen Verwal-
|| 2 Zwar ist ein solcher Unterton für Texte dieses Alters völlig normal, die dadurch resultierenden eventuellen Unzuverlässigkeit müssen aber dennoch bedacht werden.
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tung des Kiautschou-Gebiets beziehen, ist ebenso mit der Beschaffenheit der vorhandenen Quellen zu erklären.
1.4 Chinesische Ausdrücke und ihre Umschrift Die Angabe chinesischer Schriftzeichen in lateinischer Umschrift erfolgt hier analog zu den Quellen und folgt dabei deshalb nicht dem aktuell gebräuchlichem Hanyu Pinyin Fang’an-System.3 Insbesondere auf das Anbringen von Tonmarkierungen wurde hier durchgehend verzichtet, da sie für diese Arbeit ohnehin keine bedeutungstragende Rolle innehätten und auch in den vorhandenen deutschen Quellen – vermutlich der Einfachheit halber – nicht oder kaum verwendet worden sind. Sofern Übersetzungen chinesischer Ausdrücke angegeben sind, so sind diese unter Verwendung des CC-CEDICT-Wörterbuchs auf der MDBG-Website4 verifiziert worden.
2 Zeichensysteme im Schutzgebiet Kiautschou In der Folge sollen nacheinander die ausgewählten Zeichensysteme der Kolonie betrachtet und auf ihre Akteure und Wirkungen hin untersucht werden. Zunächst soll dabei die bauliche Gestaltung des Schutzgebietes im Vordergrund stehen.
2.1 Architektur und Landschaftsgestaltung Kurz nach Ankunft der Deutschen in Kiautschou wurde mit baulichen Maßnahmen zur Errichtung der deutschen Stadt begonnen. Dazu wurden 1898 sechs bereits vorhandene chinesische Dörfer, die sich dort befanden, wo sich die Deutschen niederlassen wollten, völlig entfernt (Mühlhahn 2000: 216). Bei der Gründung der Siedlung Taidong Zhen 1899 (Warner 1998) und beim Bau des Hafengebiets wurde dieses Procedere später wiederholt (Reichsmarineamt 1906: 8). Um die Reißbrettplanung einer gleichförmigen, regelmäßigen, von deutscher Architektur geprägten Kolonialstadt (Mühlhahn 2000: 217) umsetzen zu können, erschien es der Verwaltung also offensichtlich zunächst nötig, vorhan-
|| 3 Vgl. http://www.pinyin.info/. 4 Vgl. MDBG: http://www.mdbg.net/chindict/chindict.php (zuletzt eingesehen am 07.08.2015).
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dene chinesische Strukturen radikal zu beseitigen. Es wurde so ein bauliches Vakuum geschaffen, um einen Platz für die neuen deutschen Einrichtungen zu kreieren, ohne dass chinesische Konkurrenz-Bebauung den deutschen Eindruck hätte stören können. Das Zeichensystem bestehender chinesischer Architektur wurde also zugunsten deutscher Bauten lokal zunächst völlig verdrängt. Schon in der Anlage der baulichen Voraussetzungen im zentralen Bereich des Schutzgebiets war möglicherweise eine geplante, deutsche Dominanz zu spüren. Im Zuge der Bebauung der neu entstandenen Freiräume wurde vor allem auf eine räumliche Trennung der europäischen und chinesischen Bevölkerungsanteile5 geachtet (Reichsmarineamt 1908: 8), was Mühlhahn (2000: 418) als die „radikalste und konsequenteste Methode der Beherrschung“ der Chinesen, also als Geste der Macht, ansieht. Im nördlichen Teil der Siedlung, nördlich des Hohenlohewegs, und in diversen Vororten, wie Ta Pau Tau, Taitungtschen und Taihsitschen, durften demnach zunächst sowohl Chinesen als auch NichtChinesen leben, während der südliche Teil der Stadt den Europäern vorbehalten war (Leutner 1997: 237). Chinesen durften im südlichen Teil zwar Grundstücke erwerben und bebauen, dort aber nicht leben. Die Stadt wurde hierfür entsprechend durch die Planer systematisch in Bebauungs-Zonen eingeteilt (Warner 1998), wobei die Wohnbauten für deutsche und chinesische Einwohner je unterschiedlich geplant und umgesetzt wurden. Es wurde gezielt versucht, Wohnanlagen für Chinesen entsprechend der deutschen Definition chinesischer Lebensgewohnheiten unter Beachtung deutscher Bauvorschriften zu errichten (Reichsmarineamt 1907: 50). Bei der Umsetzung der chinesischen Viertel und Wohneinrichtungen wurde allerdings deutlich weniger großzügig gebaut als bei den deutschen und darüber hinaus auf viele Annehmlichkeiten verzichtet, die unter ökonomischen Gesichtspunkten zu aufwendig waren. Im Europäerviertel wurde hingegen besonders darauf geachtet, „Fortschritt und Großzügigkeit“ (Mühlhahn 2000: 217) der Musterkolonie zu präsentieren. Für die erste vom Wasser aus sichtbare Häuserreihe direkt am Ufer planten die Deutschen etwa ausgesprochen repräsentative Bauten (Warner 1998), unter ihnen das Hotel Prinz Heinrich, welches seinem pompösen Namen6 architektonisch alle Ehre machte und von dem später noch die Rede sein wird. Zusätzlich waren die
|| 5 Segregation ist ein typisches Phänomen des Kolonialismus, vgl. bspw. Osterhammel (2009: 416ff.). 6 Auch wenn dieser Name einem Usus für Hotelnamen entsprechen mag, wird er hier als “pompös” bezeichnet, da er an die militärisch-ruhmreiche preußische Aristokratie und nicht etwa an einen chinesischen Kaiser, wie bspw. Guangxu, erinnert und somit auf deutsche Herrschaft verweist.
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Grundstücke im deutschen Teil der Stadt deutlich weitläufiger (Mühlhahn 2000: 216). Rathjen (2014a, b) spricht in diesem Zusammenhang von der Konstruktion eines deutschen Utopias, dessen Grundlage die Ausgrenzung der Chinesen war. Bemerkenswert ist, dass diese Form der Stadtgestaltung in gewisser Weise den deutschen Gedanken der Kulturmission in China zugleich bespielt und parodiert. Zwar wurden hier europäische Anlagen für Chinesen geschaffen, doch waren diese in ihrer Ausgestaltung den ebenfalls neuen Anlagen für Deutsche unterlegen, also keine Vorbildbauten modernster Ordnung. Die Schaffung eines architektonisch explizit geringwertigeren Chinesenviertels im Kontrast zum fortschrittlichen Europäerviertel wirkt wie ein Akt des Unterwerfens, nicht des Präsentierens. Der Gedanke, dass das chinesische Volk dem deutschen in Sachen moderner Wohnkultur unterlegen sei, von ihm noch lernen könne, wurde durch die deutsche Bebauung selbst manifestiert und in gewisser Weise zur selffulfilling prophecy, die die Anwesenheit der dominanten Deutschen als vorteilhaft, aber eben auch sie selbst als überlegen zeichnete – ein Phänomen, das nicht nur für Tsingtau, sondern für den Kolonialismus insgesamt typisch ist. Bei der Wahl des Architektur-Stils war „die Etablierung eines genuin Tsingtau-typischen Baustils, der deutsche Elemente mit klimatisch-exotischen, nicht aber chinesischen Elementen verband“ (Lind 1998) die Zielsetzung. Unter dieser Prämisse wollte man einen „spezifisch deutschen kolonialen Baustil“ (Mühlhahn 2000: 217) entwickeln, einen Stil also, der die Abgrenzung und Unterordnung von Bevölkerungsgruppen schon durch seinen Grundgedanken in sich trägt. Hierzu wurden seitens der deutschen Bauunternehmen ortsübliche Baustoffe größtenteils gemieden (Mühlhahn 2000: 217), wodurch bereits auf einfache Weise eine Abgrenzung von der chinesischen Bausubstanz gelingen konnte. Generell wurde auf chinesische Einflüsse in der Architektur der Europäerstadt verzichtet, „obwohl [dies] von der Bauordnung nicht explizit ausgeschlossen“ (Lind 1998) worden war. Nach Linds Untersuchungen waren „[c]hinesische Einflüsse in der baulichen Gestaltung […] nur dann gewünscht, wenn die Bauten in erster Linie von Chinesen genutzt [wurden], wie beispielsweise am – nicht erhaltenen – Deutsch-Chinesischen Seminar der Weimarer Mission“ (Lind 1998). Segregation und Kennzeichnung von Bevölkerungsanteilen durch die Bebauung war hier also das Ziel. In den anderen Stadtteilen war der Gestaltungsspielraum zwar durch die deutsche Bauordnung, die von der deutschen Baupolizei auch gegenüber Chinesen rigoros durchgesetzt wurde (Reichsmarineamt 1909: 42), ebenfalls eingeschränkt, „doch fanden sich dort bisweilen geschwungene, chinesisch wirkende Dachformen“ (Lind 1998). Der deutsche Einfluss nahm mit zunehmender Entfernung vom Europäerviertel also ab.
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Dennoch gab es auch außerhalb Tsingtaus noch Zeichen des deutschen Einflusses, etwa entlang der Bahnlinien der Schantung-Eisenbahn und ihrer Bahnhöfe, die man ohne Rücksicht auf lokale Verhältnisse durch die Region getrieben hatte (Lind 1998). Auf dem Boden des deutschen Schutzgebiets gab es 1906 von Süd nach Nord die folgenden fünf Haltepunkte: Tsingtau, Großer Hafen, Sy Fang, Ts'ang K'ou und Nü Ku K'ou (Behme & Krieger 1906: 237). Zusätzlich zur Konzession des Eisenbahnbaus wurde deutschen Unternehmen in dem getroffenen Abkommen mit der chinesischen Regierung nämlich gestattet, „in einer Zone von 15km […] beiderseits des Bahndammes“ (Mühlhahn 1998) die vorhandenen Kohlevorkommen auszubeuten und die dazu nötigen baulichen Maßnahmen durchzuführen. Die Verbindung per Eisenbahn lieferte die nötigen logistischen Voraussetzungen dazu gleich mit. Die Bahnlinie selbst war so ein Zeichen deutscher Architektur und zugleich eine deutsche Ader ins chinesische Hinterland, an der es Anreiz und Voraussetzung dafür gab, dass weiterer deutscher architektonischer Einfluss entstehen konnte. Bei der Bebauung der Landschaft im Schutzgebiet fällt weiterhin der Hang der Deutschen zur Inanspruchnahme weithin sichtbarer Landmarken auf; ein Vorgang, der für den Kolonialismus typisch, aber nicht auf ihn beschränkt ist. Viele bedeutsame deutsche Gebäude finden sich samt deutscher Marineflaggen (Reichsmarineamt 1902: 35) auf Bergspitzen oder Anhöhen: das Observatorium, das Gouvernmentshaus, das Gouverneur-Wohnhaus, der Wasserturm, das Sanatorium Mecklenburghaus, die Christuskirche mit zusätzlichem großem Turm (Haupt 1927: 67ff.) sowie die Signalstation auf dem Diederichsberg und verschiedene Leuchttürme, die zusätzlich weit sichtbare Lichtsignale gaben. Auf halber Höhe des Diederichsberges befand sich außerdem noch der Diederichsstein, ein Denkmal an die Inbesitznahme des Territoriums durch die Deutschen unter Diederichs (Behme & Krieger 1906: 47ff.). Sicherlich war die Positionierung einiger dieser Gebäude ihrer Funktion geschuldet, dennoch stellten sie weit sichtbare Zeichen deutscher Architektur im Landschaftsbild dar (Reichsmarineamt 1903: 43ff.), die von verschiedenen Orten aus als Hinweise auf die deutsche Gewalt über die Aufstellung von Zeichen wahrgenommen werden konnten. Sie unterstrichen so schon von fern den deutschen Hoheitsanspruch über das Gebiet. In der gebirgsreichen Landschaft des Schutzgebiets finden sich außerdem noch weniger bedeutsame Einflussnahmen der Deutschen auf die Umgebung, die hier dennoch kurz erwähnt werden sollen. So führten zahlreiche farblich markierte, deutsche Wanderwege bis an die Grenzen des Schutzgebietes, hinzu kamen Wegtafeln, die vom Bergverein Tsingtau platziert wurden (Behme & Krieger 1906: 129ff.). Diese Wanderwege ermöglichten das Vordringen deutscher
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Touristen und damit die Wahrnehmung der Deutschen bis tief in die Region hinein. Die Wege erschienen der japanischen Verwaltung, die auf die deutsche folgte, wohl sogar bedeutsam genug, um ihre Markierungen mühsam entfernen zu lassen (Haupt 1927: 105). Entlang der Wanderwege fanden sich zudem ein paar wenige deutsche Bauten, beispielsweise Förstereien (Behme & Krieger 1906: 140). Zusätzlich platzierte die deutsche Verwaltung zahlreiche Grenzsteine am Rande des Schutzgebietes und proklamierte deren Aufstellung bis weit ins chinesische Landesinnere hinein (Leutner 1997: 305). Die Grenzsteine waren eine Art erstes deutsches Herrschaftszeichen für Einreisende von der Landseite. Zum Meer hin installierte die deutsche Verwaltung zahlreiche Seeverkehrszeichen und Leuchtfeuer, die bei Ankunft mit dem Schiff schon von fern erkennbar waren und auf die deutsche Siedlung hinwiesen (Leutner 1997: 312). Insgesamt waren die Möglichkeiten der chinesischen Bevölkerung bei der architektonischen und landschaftlichen Gestaltung der Kolonie und besonders bei der Gestaltung des wassernahen Stadtgebiets stark eingeschränkt. Auch Fotos aus der zentralen Stadt des Schutzgebiets7 zeigen die Dominanz deutscher Ideen im Zeichensystem Architektur. Mit zunehmender Distanz vom europäischen Kern Tsingtaus nahm die Dichte dieses Einflusses deutscher KolonialArchitektur und Landverwaltung allerdings immer stärker ab. Im Zentrum Tsingtaus wiederum dienten die deutschen Einrichtungen „als Nachweis und Demonstration von Fortschrittlichkeit und Modernität, als Säulen symbolischer Herrschaft“ (Leutner 1997: 47). Ohne Rücksicht auf chinesische Traditionen kam es zu einer „radikal anmutende[n] Etablierung moderner städtebaulicher Strukturen“ (Mühlhahn 2000: 218).8 Zugleich waren die Verdrängung der chinesischen Gebäude und die folgende deutsche Bebauung sowie die Landnahme an sich schon Zeichen von Hoheitsgewalt und symbolisierten so den Machtanspruch der Deutschen (Mühlhahn 2000: 96), ganz unabhängig davon, was sie gebaut hätten. Dennoch wurde auch die Architektur gezielt als eine „Inszenierung kolonialer Macht“ (Lind 1998) genutzt. Das Gouvernmentsgebäude, das von der deutschen Verwaltung errichtet worden war, trug nach Lind sogar so sehr die architektonische Selbstinszenierung der Kolonialmacht zur Schau, „dass selbst auf die Anbringung von Hoheitszeichen weitgehend verzichtet werden konnte“ (Lind 1998). Die Präsentation deutscher Architektur in Tsingtau trug also zugleich auch immer den Herrschaftsanspruch der Deutschen in sich und war nicht nur Muster und Ausstellungsstück.
|| 7 Vgl. bspw. Reichsmarineamt: Denkschrift 1901–1902, Anlagen. 8 Zur Verwirklichung modernster auch hygienischer Erkenntnisse des Städtebaus vgl. bspw. Warner (1998).
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Die gezielte Installation deutscher Dominanz in der Architektur lässt sich dementsprechend auch anhand der Legislatur belegen. Neben den Erlass der Bauordnung „mit Richtlinien zur baulichen Gestaltung des Pachtgebiets“ (Leutner 1997: 169) trat schon ab Beginn der deutschen Einflussnahme der Aufbau eines Verwaltungsapparates, der sich zusätzlich um Bodenpolitik und Landordnung kümmerte. Weiterhin wurden Grundbücher und ein Kataster eingeführt, welche es nach deutschen Angaben unter den Chinesen zuvor nicht gegeben hatte (Reichsmarineamt 1902: 23). Diese aus dem Kaiserreich importierten Instrumente erlaubten eine systematische Kontrolle über den Grundbesitz im Schutzgebiet, zumal die deutsche Verwaltung über den Verkauf von Land entschied, das sie den Chinesen zuvor entweder für geringe Preise abgekauft oder ohne Entschädigung einfach in Besitz genommen hatte (Leutner 1997: 174). Aus dem Grundbuch des Jahres 1904 geht hervor, dass sich zu diesem Zeitpunkt im Schutzgebiet auf 197 nichtchinesische Eigentümer ungefähr 215ha und auf 174 chinesische Eigentümer etwa 16,5ha Grundbesitz verteilten (Reichsmarineamt 1906: 9ff.). Dem durchschnittlichen deutschen Grundeigentümer stand damit gut elfmal mehr Land zur Verfügung als seinem chinesischen Pendant. Es herrschte also ein massives Ungleichgewicht bei der Verteilung und damit auch bei der Macht über die Gestaltung von Land zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der Stadt Tsingtau und ihrer nächsten Umgebung die Zeichensysteme Architektur und Landschaftsgestaltung starke Verwendung zur Repräsentation der deutschen Herrschaft auf chinesischem Boden und der „Routine der Rassentrennung“ (Mühlhahn 2000: 186) fanden. Gerade die gezielt hergestellte Dominanz deutscher Ideen bei der Architektur und Stadtplanung wirkt sich bis heute aus. Die geplante, nicht natürlich gewachsene Bebauung hat sich in Qingdao in Teilen durchaus erhalten und die von der deutschen Kolonialverwaltung damals festgelegten Ortsverhältnisse, wie das unterschiedlich eng gezogene Straßennetz in verschiedenen Stadtteilen, haben insbesondere in Bezug auf ihre sozialen Implikationen bis heute ihre Spuren hinterlassen. Sie unterteilen die Stadt nach wie vor in reiche und angesehene sowie arme und gemiedene Viertel (Rathjen 2014a, b). Das mag zum einen an der Robustheit der deutschen Bauten gelegen haben, zum anderen aber auch daran, dass die japanische Verwaltung angeblich den alten, deutschen Plänen beim weiteren Ausbau Tsingtaus folgte (Haupt 1927: 37). Die Überformung der Landschaft diente in Tsingtau bewusst zur Schaffung deutscher Markenzeichen sowie zur Markierung des eigenen Territorialanspruchs. Der teilweise ganz neu geschaffene öffentliche Raum im Schutzgebiet kann als bewusst gestalteter, repräsentativer Raum gelten, wie ihn Bihler (2004:
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40) als elementar zur Darstellung politischer Realitäten und Machtverhältnisse ansieht. Viel Energie wurde darauf verwendet, chinesische Einflussnahme auf diesen Raum zu unterbinden. Das Angleichen Tsingtaus an die deutsche Metropole diente so zur Marginalisierung der chinesischen Bevölkerung. Zwar nahm in weiterer Entfernung vom europäischen Zentrums Tsingtaus die Bedeutung deutscher Architektur und Landschaftsgestaltung immer weiter ab, dennoch gab es zum Beispiel entlang der Eisenbahnlinien oder in Form des Mecklenburghauses9 auch Spuren deutscher Architektur bis weit ins Hinterland Tsingtaus hinein, die die weisungsbefugte Anwesenheit der deutschen Verwaltung repräsentierten. Bei der Darstellung von Deutschtum mittels Architektur spielte die gleichzeitige Demonstration von Machtverhältnissen vermutlich sogar die bedeutsamere Rolle. Man versuchte fast nie, eine Hybridform zwischen deutscher und chinesischer Form zu schaffen, sondern viel mehr, chinesische Zeichen durch deutsche zu ersetzen. Zur versuchten Beeinflussung der chinesischen Bevölkerung muss dabei allerdings angemerkt werden, dass gerade die Gewalt, mit der viele der frühen Baumaßnahmen durchgesetzt wurden, sicherlich eher „das Gegenteil einer Imagepolitur“ (Huang 1995: 139) erreichte und der deutsche Militarismus hier auch als Zeichen der Kulturlosigkeit verstanden werden kann (Mühlhahn 2000: 282). Der Prozess der architektonischen Gestaltung Tsingtaus war also mehr ein Ausdruck deutscher Herrschaftsgewalt und Verdrängung chinesischer Zeichen als deutscher Kultur. Bevor es um die Ordnung sprachlicher Zeichen im Schutzgebiet im eigentlichen Sinne gehen soll, soll kurz dargestellt werden, wie die deutsche Verwaltung bei den Benennungen von Landschaft und Gebäuden in ihrer Kolonie vorging und welche Wirkung dies entfalten konnte.
2.2 Toponyme im Schutzgebiet „Politische Macht findet häufig darin ihren Ausdruck, dass die Herrschenden den Beherrschten ihren Namen geben“, stellt Mühlhäusler (2011: 196) fest und weist auf die Anrede chinesischer Hausangestellter mit ihrem vom Hausherrn gewählten, deutschen Namen hin. Darüber hinaus stellt das Anbringen deutscher Namen außerdem ein Einführen von deutschen Inhalten, von Deutschtum, im Schutzgebiet dar. An dieser Stelle soll daher untersucht werden, wie und mit welcher Wirkung deutsche Benennungen in der Gegend des Schutzgebiets Kiautschou stattgefunden haben.
|| 9 Ein Sanatorium in den Laoshan-Bergen (vgl. Leutner 1997: 178).
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Um die Bedeutung der deutschen Toponyme10, die es im Schutzgebiet gab, für die chinesische Gesellschaft einschätzen zu können, gilt es zu bedenken, dass die meisten Orte im Schutzgebiet bereits vor Ankunft der Deutschen existierten und, sofern sie für die chinesische Bevölkerung relevant waren, wohl auch bereits chinesische Namen trugen. Zu Beginn der deutschen Schutzherrschaft fanden daher zahlreiche Umbenennungen statt. Ab 1903 existierte diesbezüglich eine Vorschrift, die Umbenennungen nur in Ausnahmefällen erlauben sollte – für die Umgebung Tsingtaus wurde sie aber großzügig ausgelegt (Mühlhäusler 2011: 197). Ohnehin stellt sich die Frage, ob eine solche Regel fünf Jahre nach Beginn der Pachtvertrages überhaupt noch praktische Relevanz haben konnte. Für einige Orte fand jedenfalls eine Umtaufe durch die Deutschen statt, wobei neben aus persönlichen Gründen gewählten Namen häufig Namen gewählt wurden, die auf deutsche Herrscher oder Herrschaftssymbole verweisen (zum Beispiel: Kap Jaeschke oder Prinz Heinrich Berge).11 Diese Orte befinden sich größtenteils entweder in unmittelbarer Nähe der deutschen Siedlung in Tsingtau, in deren direkter Sichtweite oder stellen weit sichtbare Landmarken wie Höhenzüge oder Bergspitzen12 dar; Orte also, die im deutschen Alltag vermutlich häufig wahrnehmbar oder auf andere Weise bedeutsam waren. In Karten des heutigen Qingdao sind von den damaligen deutschen Toponymen allerdings mit wenigen Ausnahmen keine Spuren zu finden. Entsprechend ist davon auszugehen, dass die deutschen Namen zumindest unter Chinesen wohl nicht besonders gebräuchlich waren und sich offensichtlich langfristig auch nicht durchsetzen konnten. Auch die japanischen Verwalter, die auf die Deutschen folgten, versuchten, neue Toponyme im Territorium des ehemaligen Schutzgebiets zu etablieren. Sie waren allerdings ebenso erfolglos. Als Beispiel dient hier etwa der Bismarckberg, den die Japaner dann Mannesan nannten und der seit Ende der japanischen Herrschaft schließlich offiziell Qingdao Shan (‘Qingdao Berg’) heißt (Haupt 1927: 85). Eine stabile Etablierung deutscher Einflüsse fand hier also nicht statt. In Bezug auf Orte, die von den Deutschen neu geschaffen wurden, gilt Ähnliches. Obwohl hier eine Umbenennung durch die Chinesen nach dem Ende der deutschen bzw. der japanischen Besetzung durchaus denkbar wäre, legen Quellen, wie z. B. kontemporäre Reiseführer, nahe, dass zumindest einige dieser
|| 10 Zu kolonialen Toponymen im deutschen Kolonialismus sowie der Umdeutung von unbestimmtem Raum zu bestimmtem Ort vgl. Stolz & Warnke (2015). 11 Zu den kommemorativ intendierten Funktionen von Namen, insbesondere Straßennamen vgl. Schulz & Ebert (2016). 12 Vgl. Abb. 1 im Anhang der Arbeit.
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Orte auch bereits zu Zeiten der deutschen Kolonialherrschaft in der chinesischen Bevölkerung nicht zwingend unter ihrem deutschen Namen bekannt waren. In deutschen Reiseführern der Zeit finden sich in den Listen grundlegender chinesischer Ausdrücke für Touristen13 beispielsweise – neben diversen befehlsartigen Wendungen – auch Übersetzungen der Namen deutscher Einrichtungen, die zugleich als Ortsbezeichnungen14 fungieren, ins Chinesische. Diese Übersetzungen sind im Kern von der ursprünglichen deutschen Bedeutung weit entfernt und sehr pragmatisch sowie von Verweisen auf ein eventuelles Deutschtum – also bspw. auf deutsche Geschichte – gänzlich befreit. Möchte der deutsche Tourist etwa nach dem durch seinen Namen eindeutig auf Deutschland verweisenden Hotel Prinz Heinrich fragen, so wird ihm die Übersetzung „da fan dien“ (Behme & Krieger 1906: 216) vorgeschlagen, was auf Deutsch wiederum so viel bedeutet wie ‘das große Hotel’. Obwohl im Chinesischen durchaus die Möglichkeit zur exakten Übersetzung dieses deutschen Namens existiert – indem zum Beispiel der Name Heinrich mit ähnlich klingenden Silben umschrieben würde, wie es auch bei den Straßennamen geschehen ist – war die weitaus weniger symbolische Bezeichnung für das Hotel offensichtlich usuell. Es war also nicht nur so, dass das Hotel Prinz Heinrich nicht unter seinem deutschen Namen bekannt war, sondern sogar so, dass sich die gebräuchliche chinesische Bezeichnung stark von der deutschen unterschied. Vergleichbares gilt darüber hinaus auch für die Iltiskasernen (Bedeutung der chinesischen Bezeichnung: ‘das Hui-Tschien-Lager’ – offensichtlich der Name eines ehemaligen chinesischen Dorfes in der Nähe der Kaserne) und andere Orte. Hier wurde also weder Deutschtum durch die Symbolik des verwendeten Namens noch durch den Namen an sich transportiert. Selbst wenn die chinesische Bevölkerung in der Zeit der deutschen Herrschaft allerdings die deutschen Namen übernommen hätte, bliebe natürlich dennoch zu bezweifeln, ob sie mit Wörtern wie Bismarck oder Prinz Heinrich wirkungsvolle Assoziationen gehabt hätte. Solche Benennungen sollen hier dementsprechend in dieser Hinsicht als deutscher Selbstzweck gelten, der die chinesische Bevölkerung nicht nachhaltig beeinflussen konnte, sondern vielmehr den Kolonisatoren zur eigenen Identitätsstiftung als dominante Bevölkerungsgruppe diente und darüber hinaus das Gebiet gegenüber fremden Mächten als eindeutig deutsch markierte. Was die Benennung der neu angelegten deutschen Straßen (Reichsmarineamt 1900: 49) in deutschen Karten angeht, gilt meist, dass Straßen in den zu
|| 13 Vgl. bspw. Behme & Krieger (1906: 214ff.). 14 „Ortsbezeichnung“ wird hier im Sinne von „place name“ verwendet, nicht in der engeren Bedeutung von „Toponym“ oder „Ortsname“.
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Beginn deutschen Stadtteilen deutsche, kommemorative Namen (Schulz & Ebert 2016: 373) und Straßen in chinesischen Stadtteilen Namen geprägt von chinesischen Ortsnamen, die ins Deutsche transkribiert wurden, tragen. Auch hier ist durch die Straßennamen also ein Hinweis auf die Segregation (Behme & Krieger 1906: 97) innerhalb der Bevölkerung des Schutzgebiets gegeben. Eine Ausnahme bilden wohl nur einige Straßenzüge in Ta Pau Tau (Leutner 1997: 177) und die zwei letzten Jahre der deutschen Besetzung, in denen Chinesen sich auch im Europäerviertel niederlassen durften (Warner 1998). Die ehemals deutschen Straßen tragen heute chinesische Namen, die mit den deutschen Namen von damals wenig gemein haben. Interessanterweise haben sich allerdings viele der Straßennamen mit chinesischen Ortsnamen strukturell und phonetisch erhalten: So wurde aus der Syfang-Straße etwa die Sifang Lu (Lu bedeutet ‘Straße’), aus der Tsimo-Straße die Jimo Lu, aus der Litsun-Straße die Licun Lu und so fort.15 Auch in dieser Domäne darf der langfristige Einfluss des Deutschen folglich als sehr gering eingeschätzt werden. Weiterhin stellt sich die Frage, ob die chinesische Bevölkerung nicht auch in diesem Fall bereits während der deutschen Herrschaft chinesische Namen für die deutschen Straßen etabliert hatte und bspw. TsimoStraße und Timo Lu parallel verwendet wurden. Dass die Um- und Neubenennungen seitens der Deutschen (Mühlhäusler 2011: 197) einen großen Effekt hatten, kann als sehr unwahrscheinlich gelten. Viel mehr zeigt sich auch hier wieder das Bild einer selbstreferentiellen Herrschaftskonstitution zur deutschen Kolonialzeit. Wie die Wirkung deutscher Kulturpolitik im Schutzgebiet bezüglich sprachlicher Zeichen allerdings insgesamt zu bewerten ist, soll im Anschluss untersucht werden.
2.3 Die Verwaltung und Ordnung sprachlicher Zeichen in Tsingtau Um Aussagen über die Präsenz sprachlicher Zeichen in Tsingtau machen zu können, sollen verschiedene Aspekte beleuchtet werden: das Vorhandensein von Schriftzeichen im öffentlichen Raum, die Kontrolle über Schriften und Sprache und die Beeinflussung der Sprecher. Diejenigen zugänglichen Fotoaufnahmen guter Qualität aus Tsingtau zwischen 1898 und 1914 (s. bspw. Bundesarchiv) lassen zunächst leider nur recht allgemeine Rückschlüsse und wenige Beobachtungen über Details der Sprachlandschaft im deutschen Schutzgebiet zu. Häufig muss man sich mit dem Ver|| 15 Vgl. Abbildung 2 im Anhang bspw. mit Google Maps: Qingdao.
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merken des Vorhandenseins von Schriftzeichen an bestimmten Orten begnügen, ohne sie völlig lesen zu können. Hinzu kommt als zusätzliche Schwierigkeit die Seltenheit von Plakaten oder Schriftzügen im öffentlichen Raum vor dem Beginn der Werbe-Revolution in den 1920er Jahren und das eher beiläufige Auftreten dieser in den Aufnahmen. Dennoch soll zusammen mit anderen ergänzenden Informationen versucht werden, einen Eindruck der Sprachlandschaft und besonders ihrer bestimmenden Institutionen zu gewinnen. Wie bereits zuvor erwähnt, war es Chinesen über weite Phasen der deutschen Herrschaft nicht erlaubt, im Europäerviertel zu leben. Durch die Umsiedlungen von Chinesen in die Peripherie Tsingtaus vor allem zu Beginn der deutschen Herrschaft wurden von der deutschen Verwaltung zudem immer wieder Sprecher des Chinesischen aus dem Stadtgebiet entfernt (Leutner 1997: 46). Das Europäerviertel soll deshalb hier in den ersten Jahren der Besetzung grundsätzlich als deutschsprachiges Territorium gelten, während die Vorstädte und das Hinterland zunächst als mehrheitlich chinesischsprachig oder mischsprachig angesehen werden (Mühlhäusler 2011: 200). Die hier betrachteten Fotos stammen aus Reiseführern und Berichten des Reichsmarineamts über Kiautschou. Im Bundesarchiv finden sich viele weitere Aufnahmen aus Tsingtau, leider war es im Rahmen dieser Arbeit aber häufig nicht möglich, sie eindeutig zeitlich oder geographisch zuzuordnen. So zeigt ein Bild im Bundesarchiv zwar beispielsweise zahlreiche Schriftzüge in deutscher und chinesischer Sprache, die Marktstraße16, auf der die Szene aufgenommen worden sein soll, findet sich allerdings in keinem der vorliegenden Straßenverzeichnisse der Landkarten. Zusätzlich ist hier die Datierung, wie bei vielen anderen Bildern auch, sehr ungenau mit dem Zeitraum 1898–1914 angegeben, sodass nicht festgestellt werden kann, ob die Aufnahme aus der Zeit vor oder nach der Öffnung des Europäerviertels für Chinesen stammt.17 Die meisten Aufnahmen aus dem Bundesarchiv eignen sich deshalb nicht für eine Untersuchung und wurden hier ausgeschlossen, obwohl sie – darauf sei hier explizit hingewiesen – auf den ersten Blick hin andere Eindrücke liefern, als die Aufnahmen, die hier betrachtet werden sollen. Eine Relativierung der Aufnahmen ist aber ohnehin auch auf anderem Wege möglich. Anhand der wenigen Bilder aus den vorliegenden Kopien und Originalen von Reiseführern und Berichten des Reichsmarineamts, die in ausreichender Qualität oder Auflösung vorhanden sind, einen gemeinsamen Zeitraum abde-
|| 16 Ob Onym oder Appellativ lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit bestimmen. 17 Vgl. hierzu Bundesarchiv: http://www.bild.bundesarchiv.de/archives/barchpic/search/_ 1268685 391/?search[view]=detail&search[focus]=1 (zuletzt eingesehen 07.08.2015).
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cken und sich eindeutig lokalisieren lassen, lässt sich der vermutete Trend des deutschen Europäerviertels nicht widerlegen. Bilder aus dem Europäerviertel zeigen deutsche Schriftzüge, Aufnahmen aus anderen Stadtteilen zeigen deutsche und chinesische Schriftzüge. Beispielhaft sollen hier einige wenige Bilder vorgestellt werden, die sich im Anhang der Arbeit finden. Ein Bild der Friedrichstraße im europäischen Teil des Schutzgebiets aus dem Führer durch Tsingtau und Umgebung (Behme & Krieger) von 1906 etwa lässt den großen Schriftzug „Warenhaus“18 auf einer Hauswand erkennen, ohne dass chinesische Zeichen sichtbar wären. In der Denkschrift betreffend Kiautschou 1905/1906 des Reichsmarineamts sind wiederum Aufnahmen deutscher und chinesischer Schriftzeichen in Ta Pau Tau zu sehen,19 während sich im Bericht 1907/1908 eine Aufnahme aus Ta Pau Tau findet, die eindeutig chinesische Werbung und vermutlich Chinesisch in deutscher Umschrift zeigt.20 Im Bericht 1906/1907 sind auf einem Bild aus dem Hafengebiet Schriftzüge in beiden Sprachen auf den Dächern eines Lagerhauses zu erkennen.21 Die Auflösung der Fotografien ist leider meist zu gering, um die abgebildeten Schriftzüge entziffern zu können. Anhand der Bilder bleibt aber die Feststellung, dass zumindest in den ersten Jahren im europäischen Stadtteil Schilder in deutscher Sprache dominierten. Auch die Recherchen Mühlhäuslers (2011: 196f.) zu gewerblichen Schildern und ähnlichen Objekten stützen diese Annahme. Ob die betrachteten Aufnahmen hier aber ein glaubwürdiges Bild zeichnen, ist nicht nur der uneindeutigen Aufnahmen, die sich im Bundesarchiv finden, wegen kritisch zu hinterfragen. Auch ein Blick in das Adressbuch Tsingtaus (Rose 1907) von 1907 vermag diesbezüglich Zweifel zu wecken. Hier findet sich bei fast jedem deutschen Eintrag eines deutschen Geschäfts, ob aus der Europäerstadt oder aus anderen Stadtteilen, zusätzlich eine kurze Beschreibung oder gar der Name des Geschäftes in traditionellen chinesischen Schriftzeichen, sodass vermutet werden darf, dass die betreffenden Geschäfte auch anhand dieser hätten identifiziert und gefunden werden können und dementsprechend Geschäfte in der Europäerstadt auch eine chinesische Beschilderung trugen. Im Reiseführer für Tsingtau von 1906 findet sich zudem eine ähnliche Doppelausweisung von Geschäftsnamen (Behme & Krieger 1906: 102). Die Annahme, dass es zu dieser Zeit im deutschen Teil der Stadt ausschließlich deutsche Beschilderung gab, ist also keineswegs sicher.
|| 18 Abb. 4 im Anhang. 19 Abb. 5 im Anhang. 20 Abb. 6 im Anhang. 21 Abb. 7 im Anhang.
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Die Regierungsbehörden und offiziellen Institutionen, die sich nahezu alle in der Europäerstadt befanden, verzichteten interessanterweise alle auf eine Ausweisung ihres Namens auf Chinesisch in diesem Adressbuch. Es entsteht der Eindruck, als wäre der Wille privatwirtschaftlicher Unternehmen zur Integration chinesischer Schriftzeichen in ihre Geschäftsanzeigen bedeutend größer gewesen als der der Marineverwaltung. Wenn es chinesische Schriftzeichen im Europäerviertel gab, wurden diese also vermutlich nicht vom Reichsmarineamt angebracht. In Anbetracht dieser Feststellung scheint es sinnvoll, weitergehend zu untersuchen, welchen Einfluss die deutsche Verwaltung auf die Verwendung von sprachlichen Zeichen im öffentlichen Raum nahm. Kurz nach der erstmaligen Landung deutscher Truppen unter Otto von Diederichs im Kiautschou-Gebiet 1897 verteilte die deutsche Verwaltung eine Proklamation in chinesischer Sprache, „mit der die chinesische Bevölkerung über die Besetzung informiert werden sollte“ (Mühlhahn 2000: 94f.). Eine Woche später folgte eine weitere Bekanntmachung, die der Bevölkerung den Verkauf ihres Landes verbot. Diese beiden Mitteilungen, die in scharfem Befehlston verfasst sind, waren bereits vor der Unterzeichnung des Pachtvertrags mit China erste performative Akte, die die Tatsächlichkeit der Besetzung der Bucht durch die Deutschen verdeutlichen sollten; bereits die ersten offiziellen Schriftstücke des Reichsmarineamts in Tsingtau demonstrierten also seine Macht. Der Akt der Landnahme und der folgende Akt der Bestimmung über die Landverwendung waren analog die ersten deutschen Herrschaftszeichen, eine Art verwaltungstechnisches Flaggenhissen. Diese Methodik der Verbreitung von schriftlichen Mitteilungen und Anweisungen unter der chinesischen Bevölkerung sollte Schule machen und wurde in Form des zweisprachigen Amtsblattes später weitergeführt (Reichsmarineamt 1909: 74). In jenem Amtsblatt wurde 1900 unter anderem auch die sogenannte Chinesen-Verordnung des Gouverneurs veröffentlicht, welche verdeutlicht, wie die deutsche Verwaltung die Verwendung und Anbringung öffentlicher Schriftzeichen kontrollieren wollte. In Paragraph sechs heißt es: Jede chinesische Bekanntmachung oder Proklamation, die an Häusern oder sonstwie öffentlich auf der Straße angeheftet werden soll, bedarf der Genehmigung des Kommissars für Chinesenangelegenheiten. Die Erlaubnis zur Anbringung ist zu versagen, falls der Inhalt die Ruhe und Ordnung zu gefährden geeignet ist. (Leutner 1997: 213f.)
Die darauf folgenden Paragraphen sieben und acht weiten diese Bestimmung außerdem auf öffentliche chinesische Versammlungen und Umzüge sowie Theateraufführungen aus. Der Gouverneur und seine Verwaltung, hier vertreten durch den Kommissar für Chinesenangelegenheiten, übten also eine starke
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Kontrolle über die Platzierung chinesischer Zeichen im Stadtgebiet aus und verweisen durch diese Regeln auf die deutsche Dominanz in der urbanen linguistic landscape der Kolonie. Der Grund für die Einführung dieser Verordnung kann in dem zumindest zu Beginn der deutschen Maßnahmen bestehendem Widerstand durch chinesische Gruppen im Schutzgebiet vermutet werden. Nachweislich kursierten damals antideutsche Schriften und Plakate in der Stadt Tsingtau und im ganzen Schutzgebiet. Auch 1900 berichtet der Missionar Richard Wilhelm noch über subversive Schriftstücke, die zum Widerstand gegen die Deutschen und zur Vervielfältigung ebensolcher Schriften aufriefen. Auch nach Durchsetzung des Verbots kam es weiterhin zum Schmuggel von Schriften nach Tsingtau und zur Verbreitung von Flugblättern des Widerstands vor allem außerhalb des Schutzgebiets, häufig ging es hierbei um die Rückgewinnung chinesischer Souveränität in Bezug auf die Ausbeutung der natürlichen Rohstoffvorkommen (Leutner 1997: 288ff.). Beiden Seiten waren Plakate und Schriftstücke als Möglichkeiten zur Durchsetzung politischer Ziele also bekannt. Die deutsche Verwaltung schien sich aber auf einen Kampf um die Deutungshoheit im öffentlichen Raum des Schutzgebiets bezüglich der deutschen Aktivität in China nicht einlassen zu wollen und erließ daher exemplarisch die oben genannte Verordnung. In einem ähnlichen Lichte ist auch die Gründung deutscher Zeitungen und Druckereien im Schutzgebiet zu betrachten. Auf Seiten des chinesischen Widerstands war man sich des wichtigen Einflusses der Presse nämlich wohl bewusst. In einem Flugblatt heißt es, die Vorteile der Presse seien „allgemein bekannt“ (Leutner 1997: 288ff.), ihre Aufgaben „den Nichtwissenden Wissen [zu] geben [und] den Wissenden zum Handeln [zu] drängen“ (Leutner 1997: 288ff.). Wie die deutsche Verwaltung die Presse bewertete, geht aus dieser Quelle zwar nicht hervor, sicher ist aber, dass sie bemüht war, starken Einfluss auf die Pressearbeit im Schutzgebiet und dessen Umgebung zu nehmen: Die chinesische Zeitung Jiaozhou Bao aus der Stadt Kiautschou etwa stand unter der Aufsicht des Kommissars für Chinesenangelegenheiten und war somit einer ähnlichen Kontrolle ausgesetzt wie Plakatierungen. Innerhalb des Reichsmarineamts war außerdem eine Propaganda-Abteilung mit der Aufgabe bedacht, kritische Berichterstattung über Tsingtau oder das deutsche Kolonialprojekt zu unterdrücken. Als Reaktion auf kritische Berichterstattungen in verschiedenen chinesischen Zeitungen, die vor allem von der Oberschicht der Chinesen gelesen wurden, kann auch die Gründung der deutschen Druckerei und der deutschen Zeitungen in Tsingtau verstanden werden (Leutner 1997: 111). Von 1898 bis 1904 bzw. 1902 erschienen die beiden Wochenzeitungen Deutsch-Asiatische Warte und Nachrichten aus Kiautschou, letztere als Beilage des Shanghaier Blattes Der
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Ostasiatische Lloyd. Die Tageszeitung Neueste Nachrichten aus Tsingtau, die sowohl sprachlich als auch inhaltlich auf Deutsches fokussiert22 war, löste die Wochenzeitung ab und erschien bis kurz vor Kriegsbeginn. Vier Jahre lang, bis 1912, erschien außerdem die Kiautschou Post wöchentlich (Matzat 1998). Neben solchen Arbeiten fiel die deutsche Druckerei durch die Weigerung ihrer Angestellten, kritische chinesische Artikel zu drucken, auf (Leutner 1997: 233). Auch in der Beziehung der Pressearbeit ist also eine klare Einflussnahme auf die Verfügbarkeit und institutionelle Verbreitung chinesischer Zeichen, Schriften und Meinungen durch die deutsche Verwaltung zu erkennen. Öffentliche chinesische Schriften wurden nur toleriert, wenn sie den deutschen Machtanspruch untermauerten. Doch nicht nur die Verfügbarkeiten kritischer chinesischer Zeichenensemble oder chinesischer Zeichen im Zentrum der Kolonie überhaupt waren eingeschränkt. Zusätzlich war man auf deutscher Seite, wie durch die Zeitungen bereits angedeutet, entsprechend der Kulturmission bemüht, die Verbreitung des Deutschen besonders zu fördern. In Tsingtau kam es zu diesem Zwecke zur Gründung einer Bibliothek, die 1907 bereits 10.500 deutsche Bücher und Schriften, die jedem zur Ansicht offenstanden, beherbergte (Reichsmarineamt 1909: 47). In der Denkschrift des Reichsmarineamts ist betreffend den Zweck der Kiautschou-Bibliothek von der „Belebung von deutscher Gesinnung auf fremdem Boden“ (Reichsmarineamt 1906: 37) die Rede, die Bibliothek diene als „alleinige Quelle“ (Reichsmarineamt 1906: 37) zur Belehrung aller. Eine regelmäßige Postschiffsverbindung nach Deutschland und ein weit verzweigtes Postsystem im Schutzgebiet mit mehreren Außenstellen sorgten zudem für stetigen Nachschub an aktuellen Schriften, nicht nur für die Bibliothek, sondern für das ganze Schutzgebiet. Im Jahr 1907 waren es beispielsweise ca. 230.000 deutsche Zeitungsexemplare, die so ihren Weg in die Kolonie fanden (Reichsmarineamt 1909: 34) – bedeutend mehr als zur Versorgung der Bibliothek nötig gewesen wären. Es wurde demnach dafür Sorge getragen, dass für die potentiellen neuen Leser deutscher Sprache aktuelle deutsche Texte zur Verfügung standen. Im Bereich der Schriftstücke kann also von einer Anreicherung deutscher Zeichen im Schutzgebiet und damit vermutlich auch von einer versuchten kulturellen Beeinflussung gesprochen werden. Bis allerdings neu angefertigte deutsche und chinesische Schulbücher für den Unterricht in den deutschen und chinesi-
|| 22 Vgl. bspw. mit der Ausgabe vom 1. April 1914: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/dfgviewer/?set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fzefys.staatsbibliothek-berlin.de%2Foai%2F%3Ftx _zefysoai_pi1%255Bidentifier%255D%3De4258b6a-19fa-4b83-b6c9-c05ecc3f1247(zuletzt eingesehen am 07.08.2015).
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schen Schulen im Schutzgebiet eintrafen oder dort gedruckt werden konnten, wurde durch Zensur der vorhandenen chinesischen Bücher versucht, weiteren Einfluss auf die Erziehung der jungen Bevölkerung zu nehmen. Dieser Einfluss bestand zunächst nicht in der Propagierung von deutschem, sondern in der Beschneidung chinesischen Kulturguts. Wichtige ethische und religiöse Stellen in den chinesischen Schulbüchern und Klassikern etwa wurden gemessen am deutschen Verständnis einer korrekten Erziehung gekürzt oder ausgelassen (Leutner 1997: 445). Schließlich sollten die Schulbücher dazu dienen, den Schülern das sie „umgebende Deutschtum näher zu bringen“ (Leutner 1997: 446) – chinesischer Einfluss schien dabei als störende Ablenkung zu gelten. Im Rahmen der deutschen Herrschaft kam es zur Unterstützung dieses Zieles zur Gründung zahlreicher Schulen und sogar zum Aufbau einer Hochschule. Mühlhäusler (2011: 191) identifiziert entsprechend die „Vermittlung deutscher Schriftlichkeit und die Erziehung von des Standarddeutschen mächtigen Chinesen“ als eindeutige Ziele des Bildungswesens im Schutzgebiet. Die Ausbildung von chinesischen Sprechern der deutschen Sprache, die die Verwendung deutscher Zeichen hätten verbreiten können, hielt sich ob der Kürze der Zeit und der somit geringen Anzahl unterrichteter Chinesen aber in Grenzen. Es ist weiterhin bekannt, dass in Gebieten mit häufigen Kontaktsituationen zwischen verschiedenen Sprechern eine Mischform mehrerer Sprachen oder Englisch dem Deutschen gegenüber bevorzugt wurde, das Deutsche sich also nicht durchsetzen konnte (Mühlhäusler 2011: 200). In den gegründeten Schulen versuchte man dennoch insgesamt, das Deutschtum zu bewerben. Im Zuge dieser Bestrebungen kam es auch zu dem Versuch, die Frakturschrift als eine der besonderen Errungenschaften der deutschen Kultur in China zu verbreiten (Huang 1995: 144) – ein Indiz dafür, wie ernst man das propagierte Deutschtum tatsächlich als Instanz überlegener Kultur nahm. Mit Abstrichen ist im Bereich der Bildung wohl tatsächlich ein friedliches Bemühen um Vermittlung deutscher Sprache und Kultur zu erkennen, ohne zugleich einen totalen Verdrängungsanspruch feststellen zu können. Nachdem der institutionelle deutsche Einfluss in Qingdao mit dem Ersten Weltkrieg ein abruptes Ende gefunden hatte, waren sprachliche Anzeichen einer ehemals deutschen Anwesenheit aller Bemühungen zum Trotze nur noch gering. Diejenigen deutschen Geschäfte, die in Qingdao verblieben waren, hatten ihren Namen Haupts Reiseführer von 1927 nach entweder gleich ins Englische oder Chinesische übertragen oder zumindest einen gleichberechtigten zweiten Namen in einer der beiden Sprachen für ihr Geschäft ergänzt, vermutlich, um deutschen Touristen weiterhin noch aufzufallen. Dies zeigt, wie gering der Wert des Deutschen für die verbliebenen Händler tatsächlich war und wie gering die Bedeutung des Deutschen zum diesem Zeitpunkt in der ganzen Regi-
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on gewesen sein muss, wenn es selbst im ehemaligen Zentrum der deutschen Kolonie so schnell verdrängt werden konnte. Es traf sich sogar, dass gerade das bereits erwähnte, von Deutschen gegründete Hotel Prinz Heinrich unter dem Namen Grand Hotel weitergeführt wurde (Haupt 1927: 52ff.), unter einem Namen also, der dem bereits vorher unter Chinesen geläufigen Namen Das große Hotel semantisch ein Stück näher steht als seinem ehemaligen deutschen Namen. Insgesamt passt die Unterdrückung chinesischer Zeichen und die gezielte Förderung deutscher Sprache sehr gut zur Mission der Reichsmarine, deren landnehmender Offizier Jaeschke erster Gouverneur des Schutzgebiets wurde und die chinesischen Literaten als ausgemachte Feinde der deutschen Bemühungen betrachtete (Leutner 1997: 255). Die deutsche Verwaltung setzte zur Erfüllung ihrer Mission verschiedenste Mittel ein, die von der Umsiedlung und Erziehung von Sprechern über das institutionelle Kontrollieren von Schriften bis zur konkreten Platzierung deutscher Sprachzeichensysteme in Tsingtau reichten. Diese Anstrengungen dürften aber zumindest in Bezug auf ihre langfristige Wirkung bei der Verbreitung des Deutschen verhältnismäßig gering einzuschätzen sein. Die deutsche Sprachpolitik, die hier dargestellt wurde, war also innerhalb ihrer Wirkungszeit nicht in der Lage, einen starken, nachhaltigen Effekt zu entwickeln und war an vielen Stellen mehr mit der Verdrängung des Chinesischen als mit der Popularisierung des Deutschen beschäftigt.
3 Fazit In der deutschen Kolonie Kiautschou war eine gezielte top-down Inszenierung des Deutschtums durch die deutsche Verwaltung anhand verschiedenster Zeichensysteme im Gange. Chinesischen und speziell kritischen chinesischen Zeichenensembles wurde der Zugang zum und der Fortbestand im gesamten deutschen Schutzgebiet stark erschwert. Zahlreiche Kontrollmechanismen stellten dies sicher. Für die Stadt Tsingtau und ihre direkte Umgebung, also den Ort, von dem man zu Beginn viele chinesische Zeichen entfernt hatte, galt dies besonders. Von dort ausgehend nahm dieser Effekt dann mit der zunehmenden Entfernung von Tsingtau immer weiter ab, nur entlang der Eisenbahnlinien und in der Umgebung weniger Außenposten blieb er etwas anhaltender. Um ein noch klareres Bild der einzelnen Teilaspekte dieser Betrachtung zu gewinnen, könnte zukünftige Forschung sich eingehend mit der schwierigen Platzierung der vorliegenden Fotografien in einer linguistic landscape beschäftigen, die Bedeutung der Eisenbahn für die deutsche Kolonie weiter erörtern, die Benennungs- und Sprachgeschichte des ehemaligen Schutzgebietes über die Zeit der japanischen Besatzung hinweg bis zur Rückgewinnung durch die Chinesen
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zeichnen und vor allem versuchen, eine detaillierte chinesische Perspektive auf die Besetzung und der Begegnung mit den Deutschen und ihrer Kultur zu entwickeln. In jedem Fall steht fest: Die Anwesenheit der deutschen Verwaltung war zeichenhaft eindeutig und weitreichend wahrzunehmen. Die platzierten Zeichen dienten allerdings letztlich wohl mehr der Darstellung, Sicherung und Ausübung deutscher Herrschaftsgewalt als der kulturellen Beeinflussung Chinas. Man verstand sich nicht nur als überlegener Herrscher, sondern inszenierte sich auch so und schloss eine Hybridkultur so aus. Die deutsche Kulturpolitik war also hauptsächlich keine Relativierung der Realität deutscher Herrschaftsgewalt, „sondern eine Erweiterung und Ausdehnung derselben“ (Mühlhahn 2000: 284). Langfristig war die Ausgestaltung dieser deutschen Inszenierung größtenteils wohl ohne signifikante Auswirkung auf die Gestalt des Zeichensystems im ehemaligen Schutzgebiet und vermochte nicht, es kulturell und insbesondere sprachlich stark zu prägen oder gar einzudeutschen. Dies lag auch daran, dass man vor allem mit dem Beschränken und Verdrängen chinesischer Einflüsse beschäftigt war und die deutsche Überlegenheitsmetaphorik nicht vermochte, gleichzeitig effektiv breite Werbung für das Deutsche zu betreiben. In diesem Sinne widerspricht das Ergebnis dieser Arbeit in Bezug auf die Effektstärke der deutschen Bemühungen den Betrachtungen Mühlhäuslers, der befindet, dass es den Deutschen in den knapp 20 Jahren gelungen wäre, „die Sprachökologie Kiautschous ganz entschieden im Sinne der deutschen Kolonisten zu beeinflussen“ (Mühlhäusler 2011: 200); dergestalt, dass der festgestellte deutsche Einfluss nur kurzfristig und oberflächlich war. Unter Rückbezug auf Mühlhahn, der für den deutschen Kolonialismus das Bild der Bühne verwendete (Mühlhahn 2000: 284), ist als Ergebnis dieser Arbeit eher festzustellen, dass die deutsche Inszenierung zwar nichts dem Zufall überließ, andere Stücke verdrängte, nicht an Programmheften, Glanz oder Aufwand sparte und dennoch das lokale Publikum in ihrer Kürze nicht übermäßig überzeugen konnte und auch dementsprechend schnell wieder in Vergessenheit geriet. Einzig die Sitzordnung im Vorführungssaal, die man für das Stück extra umgestellt hatte, konnte sich bis heute erhalten. In Anbetracht der stetigen Kontinuität vieler Züge chinesischer Kulturen über Jahrtausende hinweg, überrascht allerdings nicht dieses Ergebnis, sondern viel mehr die anscheinende Blauäugigkeit, mit der auf deutscher Seite an jenes Projekt der rigorosen Vermittlung von Deutschtum und der Beeinflussung der Chinesen herangetreten worden war.
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Reichsmarineamt. 1908. Denkschrift betreffend die Entwicklung des Kiautschou-Gebiets von Oktober 1906 bis Oktober 1907. In Reichstag, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. Berlin: Norddeutsche Buchdruckerei. Reichsmarineamt. 1909. Denkschrift betreffend die Entwicklung des Kiautschou-Gebiets von Oktober 1907 bis Oktober 1908. In Reichstag, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. Berlin: Norddeutsche Buchdruckerei. Rose, Otto. 1907. Adress-Buch des deutschen Kiautschou-Gebietes von 1907–1908. Tsingtau: Verlag Otto Rose.
Abbildungen Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5
Abb. 6
Abb. 7
Die Karte wurde mit dem geographischen Informationssystem QGIS erstellt (https://www.qgis.org/). http://www.ub.bildarchiv-dkg.uni-frankfurt.de/Lexikon-Texte/_karten/Kiautschou/ Topkarte.jpg (zuletzt eingesehen am 07.08.2015). http://dibiki.ub.uni-kiel.de/viewer/!metadata/PPN688145795/9/-/ (zuletzt eingesehen am 07.08.2015). Behme, Friedrich & Max Krieger. 1906. Führer durch Tsingtau und Umgebung. Wolfenbüttel: Heckners Verlag, 64. Reichsmarineamt. 1907. Denkschrift betreffend die Entwicklung des KiautschouGebiets von Oktober 1905 bis Oktober 1906. In Reichstag, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. Berlin: Norddeutsche Buchdruckerei, Anlage 4. Reichsmarineamt. 1909. Denkschrift betreffend die Entwicklung des KiautschouGebiets von Oktober 1907 bis Oktober 1908. In Reichstag, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. Berlin: Norddeutsche Buchdruckerei, Anlage 4. Reichsmarineamt. 1908. Denkschrift betreffend die Entwicklung des KiautschouGebiets von Oktober 1906 bis Oktober 1907. In Reichstag, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. Berlin: Norddeutsche Buchdruckerei, Anlage 2.
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Appendix
Abbildung 2: Hervorhebung deutscher Toponyme im Schutzgebiet: Es ist jeweils das benannte Gebiet mit Namen markiert, Tsingtau ist durch einen Kreis markiert, alle Berge oder Erhebungen sind durch einen Stern kenntlich gemacht. Namen anhand dieser und der zweiten Karte.
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Abbildung 3: Deutsche Karte von Tsingtau und Umgebung 1912.
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Abbildung 4: Schriftzug „Warenhaus“ in Tsingtau (links).
Abbildung 5: Schriftzeichen in Ta Pau Tau (links).
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Abbildung 6: Schriftzeichen in Ta Pau Tau (rechts).
Abbildung 7: Panorama des großen Hafens mit Schriftzeichen.
Wolfram Karg
Vom Wahrzeichen zum Museumsexponat Zur öffentlichen Debatte über das Reiterdenkmal in Windhoek Abstract: On December 25, 2013 the Reiterdenkmal in Windhoek, an equestrian statue commemorating only the death of Germans in the Nama and Herero uprising, was removed to be replaced by the Independence Memorial Museum and two new statues. The way in which this removal was conducted sparked outrage not only among the Namibian public. The discussion remained on a rather superficial level, its main points being that the information policy of the government was poor and that the Reiterdenkmal represented only the colonizers’ view. It went unnoticed that the new statues followed the same principles, only replacing the content with the view of the SWAPO-dominated government. Keywords: equestrian statue Windhoek, Independence Memorial Museum, SWAPO, culture of commemorating, colonial statue, corpus linguistics, discourse analysis
1 Die Spuren des deutschen Kolonialismus in Namibia Der 21. März 2014 markiert den aus Sicht der namibischen Regierung glanzvollen Schlusspunkt unter ein Kapitel der Geschichte des Landes. An diesem Datum wurde das neue Independence Memorial Museum im Zentrum der namibischen Hauptstadt Windhoek eröffnet, dessen Name Programm ist und das nichts weniger zum Anspruch hat, als die Geschichte des unabhängigen Staates Namibia zu dokumentieren und zu präsentieren. Dabei stellt das Bauwerk nicht nur für das relativ kleine Namibia ein Monumentalprojekt dar, das für viele Generationen das Gesicht Windhoeks prägen wird. Vielmehr wurde das Museum an einem Ort errichtet, der zuvor bereits mit einem Denkmal belegt war, nämlich mit dem 1912 errichteten Reiterdenkmal, das aus der kolonialen Perspektive des deutschen Kaiserreiches an die Kriege gegen die Nama und Herero erinnern sollte.
|| Wolfram Karg: Univerzita Sv. Cyrila a Metoda v Trnave, Namestie J. Herdu 2, 91701 Trnava, Slowakei. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-245
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Damit wird deutlich, dass die Kolonialzeit auch im heutigen Namibia noch eine wichtige Rolle spielt. Tatsächlich stößt man bei einem Rundgang durch die Hauptstadt Namibias auf eine Vielzahl von kolonialen Spuren. Dies gilt für Straßen, die noch die Namen ehemaliger europäisch-kolonialer Akteure tragen, ebenso wie für Denkmäler und Bauwerke, die an die Zeit des deutschen Kolonialismus erinnern. Zu nennen ist hier das Denkmal für Curt von François, der als Gründer der Hauptstadt Windhoek bezeichnet wird, ebenso wie die Christuskirche und die Alte Feste sowie das ehemals zwischen Feste und Christuskirche platzierte Denkmal für den Krieg gegen die Herero, das bereits erwähnte Reiterdenkmal. An dessen Stelle befindet sich jedoch seit 2009 der Standort für das seit März 2014 eröffnete Independence Memorial Museum. Das Reiterdenkmal musste aus diesem Grund mehrfach umgesetzt werden und steht derzeit provisorisch gesichert und ohne den dazugehörigen Steinsockel, an dem auch eine Gedenktafel angebracht war, im Innenhof der Alten Feste. Der Status eines Nationaldenkmals wurde ihm am 29. August 2014 aberkannt.1 Der Umgang mit dem Reiterdenkmal von Seiten der namibischen Regierung verursachte heftige Kritik, besonders von deutschsprachigen Bewohnern Namibias, den Deutschnamibiern. Diese Kontroverse wurde in der Presse des Landes intensiv diskutiert. Der vorliegende Beitrag analysiert unter korpus- und diskurslinguistischen Gesichtspunkten die Art und Weise, wie die Debatte geführt wurde. Die Ergebnisse stammen dabei aus der kontrastierenden Analyse mehrerer Korpora, die unterschiedliche Positionen innerhalb der namibischen Akteursgemeinschaft im Diskurs um das Windhoeker Reiterdenkmal repräsentieren. Die Analyse kombiniert dabei den quantitativen mit dem qualitativen Zugang. Durch den quantitativen Vergleich von Korpora zu ähnlich gelagerten Themen, die aber in Bezug auf bestimmte Variablen (anderer Ort, andere Zeit, andere Stadt etc.) verschieden sind, wird eine Liste von Keywords generiert bzw. das signifikant häufigere (oder nicht häufige) Auftreten bestimmter sprachlicher Formen (z. B. Konnektoren) ermittelt. Der Untersuchung liegt die Annahme zu Grunde, dass die Sprache von Diskursen eine bestimmte linguistische Spezifik aufweist, die einen bestimmten Diskurs zwar nicht notwendigerweise zweifelsfrei identifizierbar macht, aber doch soweit charakteristisch ist, dass sie sich in bestimmten sprachlichen Mustern nachweisen lässt. Diese charakteristischen Eigenschaften, auch Sprachgebrauchsmuster genannt (vgl. Bubenhofer 2009), können nicht nur auf syntaktischer, lexikalischer oder morphologischer Ebene auftreten, sondern in Form von Topoi auch auf inhaltlicher Ebene. Die kontrastive || 1 http://www.nhc-nam.org/about/news/deproclamation-equestrian-statue-and-declarationnew-sites.
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Korpusanalyse ist für die Identifizierung solcher Muster ein anerkanntes Mittel (vgl. Stukenbrock 2007: 217). Die Befunde der quantitativen Analyse dienen in einem weiteren Schritt als Zugang für die qualitative, d. h. in diesem Fall inhaltliche Analyse der Textteile, in denen sich signifikant häufig auftretende Muster finden. Andererseits besteht auch die Möglichkeit, bestimmte sprachliche Phänomene (wie etwa Kontrastkonnektoren) für eine inhaltliche Analyse gezielt zu bestimmen. Die quantitative Analyse zeigt dabei die Auftretenshäufigkeit von Konnektoren (oder anderen sprachlichen Ausdrücken) an. In der vorliegenden Analyse werden beide Herangehensweisen exemplarisch ausgeführt. Da der Diskurs um das Reiterdenkmal sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache geführt wird, ergibt sich eine neue Herausforderung für die Zusammenstellung sowohl des Untersuchungskorpus als auch der Vergleichskorpora, weil für jede Sprache jeweils eine gesonderte kontrastive Analyse durchgeführt werden muss, da die sprachliche Oberfläche der beiden Sprachen bekanntermaßen trotz sprachgeschichtlicher Verwandtschaft deutliche Unterschiede aufweist.
2 Die Geschichte des Windhoeker Reiterdenkmals: Ereignisse und Akteursgruppen Die Chronologie in Bezug auf das Windhoeker Reiterdenkmal verdeutlicht die Wirkungsweise des Denkmals und verweist auch auf die verschiedenen Akteursgruppen, die es rezipiert oder kommentiert haben. Darum soll die Entwicklung in groben Zügen umrissen werden. Das Denkmal ging auf den Vorschlag zu einem 1909 ausgeschriebenen Wettbewerb zurück und wurde am 27.01.19122 feierlich eingeweiht. Nach dem Ersten Weltkrieg, etwa im Zeitraum zwischen 1919 und 1945, diente das Denkmal als Treffpunkt für kolonialagitatorische Gedenkrituale (vgl. Zeller 2007/2016). Nach genau 60 Jahren wurde dem Denkmal 1969 der Status als „National Monument“ zuerkannt (vgl. Zeller 2007/2016). In einer Zeit, in der viele französische und britische Kolonien unabhängig wurden und somit Zeichen kolonialer Beherrschung oftmals entfernt wurden, muss diese prestigeträchtige Statuserhöhung wie ein Anachronismus gewirkt haben. Bis in die 1980er Jahre erfuhr das Denkmal kaum eine kritische
|| 2 Die Einweihung fand am Geburtstag Kaiser Wilhelms II. statt, was sicher die Symbolkraft des Denkmals als Repräsentant der Kolonialherrenseite verstärken sollte. Auf diese Repräsentationsdeutung verwies explizit auch Gouverneur Seitz in seiner Einweihungsrede (Zeller 2007/ 2016).
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Betrachtung. Das änderte sich erst im Lauf des ausgehenden 20. Jahrhunderts, als die öffentliche Haltung gegenüber dem Denkmal vor allem im Rahmen des aufflammenden Unabhängigkeitskampfes Namibias zunehmend ablehnender wurde. Die tatsächliche Unabhängigkeit Namibias 1990 brachte allerdings nicht die zu erwartende Beseitigung des Denkmals, das als Symbol für Unterdrückung und Kolonialismus gelten musste. Vier Jahre später gab es stattdessen eine Initiative, die unter dem Namen „Reiter-Initiative“ das Ziel verfolgte, eine weitere Tafel anzubringen, die aller Opfer seit der Kolonisierung bis zur Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1990 gedenken sollte, einschließlich der gefallenen Herero und Nama. Die Initiative musste jedoch nach über 10 Jahren erfolgloser Versuche und Streitigkeiten ihr Engagement 2004 aufgeben, da von Regierungsseite die Pläne zur geplanten Gedenktafel abschlägig beschieden worden waren. In den darauffolgenden Jahren war das Reiterdenkmal nur selten im Fokus der Öffentlichkeit. Mit den ersten Plänen zu einem möglichen Standortwechsel änderte sich das 2001. Erst 2009 wurden allerdings die Pläne in die Tat umgesetzt, indem die Bronzeskulptur sorgfältig verpackt und zunächst eingelagert wurde. Ein Jahr später erfolgte eine feierliche Einweihung des Denkmals am neuen Standort, direkt vor dem Nordwest-Turm der Alten Feste. Der Grund für die Umsetzung war, dass am ursprünglichen Standort, einem unbebauten Grundstück zwischen Christuskirche und Alte Feste Platz für das Independence Memorial Museum geschaffen werden sollte. Überraschend wurde am 25. Dezember 2013 das Reiterdenkmal unter starkem Polizeischutz erneut umgesetzt, diesmal in den Innenhof der Alten Feste. Der Granitsockel und die Bronzetafel wurden nicht mit umgesetzt. Der Sockel wurde sukzessive im Februar 2014 abgetragen, kurz vor der Eröffnung des Independence Memorial Museum im darauffolgenden Monat und noch vor der Aberkennung des Denkmalstatus (vgl. oben); die weiteren Pläne zur Verwendung der Gedenktafel sind unbekannt, sie wird derzeit in unmittelbarer Nähe zur bronzenen Reiterfigur aufbewahrt. An den beiden vorhergehenden Standorten des Reiterdenkmals finden sich seit 2014 neue Statuen. Eine Plastik von Staatsgründer Sam Nujoma steht vor dem Independent Memorial Museum und begrüßt somit am ursprünglichen Standort des Reiterdenkmals die Besucher des nun an dieser Stelle stehenden Museums. Am zweiten Standort direkt vor der Alten Feste wurde die Statue einer Familie aufgebaut, die sich symbolwirksam von den Ketten der Unterdrückung befreit. Die Pläne zum Verbleib des Reiterdenkmals waren lange unklar, bis 2014 bekannt wurde, dass das Denkmal ein Exponat des neuen Museums werden solle (vgl. Zeller 2007/2016).
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Bild 1: Die Überreste des Reiterdenkmals 2014 im Innenhof der Alten Feste (Widmungstafel an der Wand lehnend, im Bild unmittelbar links von den Hinterbeinen des Pferdes). Foto: B. Kellermeier-Rehbein.
Die Chronologie dieser Ereignisse zeigt bereits die verschiedenen Akteursgruppen des Diskurses. Zum einen sind dies die Vertreter des deutschen Kaiserreiches als Kolonisatoren, zum anderen die kolonisierte Bevölkerung, die jedoch durch das Denkmal nicht repräsentiert wird. Dies wird an dem Text der Tafel, die ursprünglich am Sockel des Denkmals angebracht war, deutlich: „ZUM EHRENDEN ANGEDENKEN AN DIE TAPFEREN DEUTSCHEN KRIEGER, WELCHE FUER KAISER UND REICH ZUR ERRETTUNG UND ERHALTUNG DIESES LANDES WAEHREND DES HERERO= UND HOTTENTOTTENAUFSTANDES 1903–1907 UND WAEHREND DER KALAHARI=EXPEDITION 1908 IHR LEBEN LIESSEN“ „ZUM EHRENDEN ANGEDENKEN AUCH AN DIE DEUTSCHEN BUERGER, WELCHE DEN EINGEBORENEN IM AUFSTANDE ZUM OPFER FIELEN.“ GEFALLEN, VERSCHOLLEN, VERUNGLUECKT, IHREN WUNDEN ERLEGEN UND AN KRANKHEITEN GESTORBEN VON DER SCHUTZTRUPPE: VON DER MARINE: OFFIZIERE 100 OFFIZIERE 7 UNTEROFFIZIERE 254 UNTEROFFIZIERE 13 REITER 1180 MANNSCHAFTEN 72
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MAENNER FRAUEN KINDER
IM AUFSTANDE ERSCHLAGEN: 119 4 1
(https://de.wikipedia.org/wiki/Reiterdenkmal_(Windhoek)#/media/File:Südwest_Reiter_ Inschrift.jpg)
Die Menschen, die durch die deutschen Truppen getötet wurden, finden hier keine Erwähnung. Ihnen fehlte bis vor kurzem auch weitestgehend eine Repräsentation an anderer Stelle. Damit reduziert sich die Zahl der der im Diskurs thematisierten Gruppen während der Kolonialzeit auf lediglich eine. Den Missstand der einseitigen Repräsentation der ausschließlich deutschen Opfer wollte die Reiter-Initiative zwischen 1994 bis 2004 durch eine ergänzende Gedenktafel beheben. Diese Pläne wurden aber von der Regierung Namibias nach knapp zehn Jahren gestoppt (vgl. oben). Damit sind zwei weitere Akteursgruppen benannt, nämlich die Namibische Regierung und die auf privates Engagement zurückgehende Reiter-Initiative. Die Reiter-Initiative und ihre Akteure bleiben aber, ähnlich wie die Herero und Nama, in diesem Diskurs nur passiv, da sich keine Texte finden, in denen zweifelsfrei feststellbar ist, dass ein Akteur der Reiter-Initiative selbst zu Wort kommt. Stattdessen wird nur in der dritten Person über sie berichtet. Auch die namibische Regierung Pohamba3 wird in den öffentlich zugänglichen Texten nur erwähnt, tritt aber lediglich in wenigen Einzelfällen in Form von eigenen sprachlichen Äußerungen in Erscheinung, sondern meist durch konkrete Handlungen, wie die Umsetzung des Reiterdenkmals. Sämtliche genannten Akteure bzw. Akteursgruppen spielen aber in dem Diskurs, der sich in den Jahren 2013 und 2014 um die Neugestaltung des Areals zwischen Alter Feste und Christuskirche (dem ursprünglichen Standort des Reiterdenkmals) entwickelte, eine wichtige Rolle, da in den Äußerungen der Diskursteilnehmer oft auf diese Akteursgruppen oder ihre Handlungen referiert wird. Die sich durch sprachliche Äußerungen aktiv am Diskurs beteiligenden Akteursgruppen traten in den Jahren 2013 und 2014 vor allem in den großen landesweiten namibischen Medien (vor allem Radio und Zeitungen) in Erscheinung. Insgesamt lassen sich die politischen Lager innerhalb des Diskurses in vier Gruppen einteilen. Zum einen gibt es die Unterstützer der Regierung, die selbst an der teilweisen Zerstörung des Reiterdenkmals durch die Entfernung des Steinsockels und der dort angebrachten Gedenktafel keinen Anstoß neh-
|| 3 Hier ist vor allem die zweite Regierung unter Pohamba, die von 2010 bis 2015 dauerte, relevant.
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men, sondern den Kampf gegen die ihrer Meinung nach durch das Reiterdenkmal ausgedrückte kolonialistische Fremdbestimmung als Rechtfertigung für dessen Entfernung angeben. Daneben gibt es eine regierungskritische Seite, die sich aufgrund der (von ihr wahrgenommenen) Dominanz der Regierung und des zunehmenden Ausschlusses der Öffentlichkeit aus den Entscheidungsprozessen Sorgen um die Demokratie macht und die SWAPO-geführte Regierung als zunehmend autoritär kritisiert. Dazwischen findet sich die Gruppe der moderaten Stimmen, die versuchen, das Vorgehen möglichst objektiv und differenziert zu betrachten, dabei aber oft deskriptiv vorgehen und Kritik an den jeweils anderen Akteursgruppen weniger direkt äußern als es bei den anderen Gruppen der Fall ist. Die vierte Gruppe umfasst die deutschsprachigen Namibier, die sich aus historischen Gründen am stärksten mit dem Reiterdenkmal identifizieren und seine Entfernung als einen Angriff auf ihre Identität interpretieren.
3 Möglichkeiten und Grenzen der kontrastiven Korpusanalyse Nicht nur die linguistische Analyse von Diskursen, sondern jeder Versuch, Diskurse zu erfassen und zu beschreiben, steht vor dem Problem, dass „der Diskurs“ nicht per se und schon gar nicht analysefertig vorliegt, sondern lediglich durch Indizien und Hilfsmittel näherungsweise umrissen werden kann. Eines dieser Hilfsmittel kann die Korpusanalyse sein, die davon ausgeht, dass Korpora Diskurse repräsentieren können. Im Sinne Bubenhofers (2009) dient damit die Korpuslinguistik als Methode der Diskursanalyse. Die Korpuszusammenstellung bildet dabei die Grundlage für alle weiteren Analyseschritte und beeinflusst diese. Die Repräsentationsfunktion des Korpus bringt es auch mit sich, dass eine Auswahl an Texten getroffen werden muss, da Diskurse „stets nur exemplarisch und in Ausschnitten ihrer Streuung wissenschaftlich zu beschreiben sind“ (Warnke 2007: 18). Die Problematik setzt sich auch bei den weiteren Vorarbeiten für die Korpusanalyse fort, wie dem Tagging, der Kategorisierung und dem Analysemodus (vgl. Lüdeling 2007: 29–31). Aufgrund der Repräsentationsfunktion des Korpus für den Diskurs muss die Analyse des Korpus sorgfältig und nach festgelegten Kriterien erfolgen und transparent sein. Die erste Frage ist dabei die nach der Art des Korpus. Eine entsprechende Typologie findet sich etwa bei Scherer (2006: 16–31). Dass für das oben formulierte Forschungsziel nur computerlesbare Korpora in Frage kommen, versteht sich dabei beinahe von selbst, da die Quellen bereits digitalisiert vorliegen. Die
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Digitalisierung schließt eine klassische, textbasierte Analyse nicht aus und ist darum als Mehrwert anzusehen. Durch die Sondersituation, dass der Diskurs um das Reiterdenkmal sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache geführt wird, ergibt sich zudem schon nahezu zwangsläufig die Unterteilung in verschiedene Teilkorpora, die nach Sprachen getrennt sind (vgl. weitere Erläuterungen zum Korpusaufbau in Kap. 4). Auch die Dichotomie zwischen statischem Korpus oder Monitorkorpus4 ist durch die außersprachlichen Gegebenheiten vorgegeben. Die Themen der Diskurse sind zeitlich zwar nicht auf den Tag genau festzulegen, können aber dennoch in einem relativ überschaubaren zeitlichen Rahmen von mehreren Monaten bis maximal zwei Jahren eingegrenzt werden. Der Aufbau eines Monitorkorpus, das im Lauf der Zeit den neueren Entwicklungen angepasst wird (vgl. Scherer 2006: 21), ist für diese Themen nicht durchführbar, da zu den untersuchten Debatten kaum noch neue Äußerungen getätigt werden. Zudem ist die Annotierung des Korpus, da die Analyse mit computergestützten Analysetools durchgeführt wird, gesichert. Allerdings umfasst die Annotierung kein POS-Tagging,5 da das verwendete Analysetool „AntConc“ lediglich graphisch getrennte oder mit Bindestrich verbundene Worteinheiten voneinander abgrenzt (vgl. Anthony 2011). Eine Annotierung findet jedoch durch Metadaten statt, indem zu jedem Text die Quelle und das Datum seiner Erscheinung angegeben werden. Die Quelle bezeichnet im Fall der vorliegenden Untersuchung die Zeitung, aus der ein ausgewählter Text stammt. Da die Zeitungen in Namibia relativ genau nach ihrer Haltung zur namibischen Regierung klassifiziert werden können, liefert die Angabe der Zeitung wichtige Metainformation. Das gilt in ähnlicher Weise auch für das Datum, da, wie bereits im chronologischen Überblick erwähnt, einige Diskursakteure sich nicht durch sprachliche Aktivität in den Diskurs einbringen, sondern ihn durch bestimmte Diskursereignisse steuern. Das Datum zeigt darum an, ob der Autor eines konkreten Textes (oder auch nur einer bestimmten Äußerung) von einem Diskursereignis bereits Kenntnis haben konnte oder nicht. Da es sich bei der vorgestellten Studie um einen ersten Versuch handelt, die Diskussion um das Reiterdenkmal zu erkunden, bietet sich der Corpus-drivenAnsatz an. Dabei erfolgt die Hypothesenbildung erst „nach bzw. durch die Analyse“ (Gür-Şeker 2014: 599). Darum ist eine detailgenaue Annotierung des Kor-
|| 4 Nach Scherer (2006: 20) ist ein statisches Korpus in seiner Zusammensetzung konstant, während beim Monitorkorpus die Zusammensetzung im Lauf der Zeit verändert wird, z. B. durch Ergänzung aktueller Texte. 5 POS steht für ‚Part of Speech’. Beim POS-Tagging wird jedem Ausdruck eine Wortkategorie zugeordnet (vgl. McEnery et al. 2006: 34).
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pus, etwa durch inhaltliche Vorstrukturierung oder POS-Tagging, wenig sinnvoll, da durch diese bereits Daten zu stark vorstrukturiert werden (vgl. Bubenhofer 2009: 17). Der Corpus-driven-Ansatz kann aber nichts an der Tatsache ändern, dass auch die Auswahl der Texte bereits eine Interpretation darstellt. Im vorliegenden Fall ist die Relation zwischen ausgewählten Texten und Grundgesamtheit günstiger als in anderen Untersuchungen, da die Gesamtzahl der Texte, die zur Umsetzung des Reiterdenkmals verfasst wurden, noch überschaubar ist. Liegt eine größere Grundgesamtheit vor, muss das Verhältnis durch strengere Auswahlkriterien gesteuert werden, was wiederum eine stärkere Vorinterpretation und Kategorisierung der Texte bedeutet. Ein weiterer möglicher Kritikpunkt am Corpus-driven-Ansatz kann sein, dass zwar die Vorinterpretation der Texte weniger selektiv ist, dass dafür aber die Datenmenge, die durch die Analyse generiert wird, entsprechend groß und unstrukturiert ist. Die ausbleibende Selektion bei der Textauswahl muss darum spätestens bei der Frage, was nun als Auffälligkeit (oder nach Bubenhofer 2009 als sprachlich auffälliges Muster) gilt, nachgeholt werden. Es ist wohl nicht abzustreiten, dass jede Form der Analyse selektiv und damit auch interpretierend ist. Der Corpusdriven-Ansatz macht aber die Selektion der Quellen transparent und reduziert somit das Risiko möglicher Interpretationsfehler. Nach Teubert hat sich in der Korpuslinguistik die Erkenntnis durchgesetzt, dass es „Repräsentativität in diesem Sinne nicht geben kann“ (Teubert 1998: 131), trotzdem werden Forderungen nach repräsentativen Korpora nach wie vor gestellt (vgl. etwa Deppermann & Hartung 2012: 423–424) oder durch die Forderung nach „Ausgewogenheit“ ersetzt, der aber weiterhin das Prinzip der Repräsentativität zu Grunde liegt (vgl. Teubert 1998: 131). Statt des Versuchs, repräsentative oder ausgeglichene Korpora zusammenzustellen, haben sich in der Korpuslinguistik Spezialkorpora als Mittel bewährt, die gezielt auf die formulierte Forschungsfrage zugeschnitten sind und nach klar definierten Kriterien zusammengestellt werden. Eines dieser Kriterien kann die Ausgeglichenheit oder Gewichtung der ausgewählten Texte gezielt nach bestimmten einzelnen Kategorien wie etwa Textsorten, Subthemen oder Autoren sein (vgl. für weitere Kategorien Gür-Şeker 2014: 590). Bei Fragestellungen der Koloniallinguistik, die auf ein oft lückenhaft erhaltenes Archiv an kolonialen Texten zurückgreifen müssen, zeigt sich, dass bei der Formulierung der Kriterien immer mit dieser Lückenhaftigkeit und der damit verbundenen Nichtverfügbarkeit bestimmter Texte gerechnet werden muss. Noch so sorgfältig und präzise definierte Kriterien helfen wenig, wenn sich im Lauf der Korpusgenerierung herausstellt, dass von einem bestimmten Periodikum nicht die Zahl von Exemplaren vorhanden ist, die man idealerweise für eine ausgeglichenes oder gewichtetes Korpus be-
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nötigt hätte. Dazu kommt noch, dass die Grundgesamtheit, nach der sich die Repräsentativität des Korpus berechnen lassen könnte, gar nicht bekannt ist. Dieses Grundproblem besteht sowohl bei Diskursen zu historischen Themen als auch bei Diskursen zu noch aktuell laufenden oder erst kürzlich abgeschlossenen Debatten, da die Gesamtzahl der produzierten Äußerungen (noch) nicht ermittelbar ist. Aus diesem Grund muss dem Postulat Bibers, demzufolge sich die Repräsentativität eines Korpus empirisch untersuchen lasse, widersprochen werden (vgl. Biber 2005: 195). Stattdessen soll an dieser Stelle die oben zitierte Aussage Teuberts, dass Korpora nicht für einen gesellschaftlichen Gesamtdiskurs repräsentativ sein können, dahingehend erweitert werden, dass Korpora, zumindest im koloniallinguistischen Kontext, grundsätzlich nicht im statistischmathematischen Sinne repräsentativ sein können, weder für einen themenunspezifischen Gesamtdiskurs noch für bestimmte Themen. Linguistische Diskursanalysen müssen zunächst von Einzelbelegen ausgehen (vgl. Warnke 2007: 17). Sind Diskursanalysen aber korpusbasiert und damit aus großen Datenmengen konstituiert, ist die Auswahl von Einzelbelegen entweder zufällig oder sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, nur besonders eindeutige oder in ein möglicherweise vorher geformtes Bild passende Belege ausgewählt zu haben. Die Kombination sowohl qualitativer als auch quantitativer Untersuchungsschritte ermöglicht eine Auswahl von Einzelbelegen für eine nähere Analyse, ohne sich diesen Vorwürfen aussetzen zu müssen. Dabei erfolgt zunächst eine quantitative Untersuchung, die im Sinne des Corpus-drivenAnsatzes signifikant häufige sprachliche Oberflächenphänomene aufdeckt. Die entsprechenden Textstellen können dann einzeln einer qualitativen Analyse unterzogen werden. Dabei kann der Fokus einerseits nur auf die Phänomene gelenkt werden, die bei der quantitativen Analyse als signifikant häufig auftreten und so als charakteristisch für den speziellen untersuchten Diskurs gelten können. Es können aber auch gezielt bestimmte Phänomene, wie beispielsweise Deiktika, Verneinungspartikeln oder Kontrastkonnektoren, ausgewählt werden. Sinnvollerweise sollte es sich dabei um Phänomene handeln, die lexikalischsemantisch nicht in Zusammenhang mit dem Kolonialismus stehen. Das ermöglicht die Überprüfung der durch die Analyse entwickelten Hypothesen an thematisch anders orientierten Diskursen und erlaubt so den Vergleich verschiedener thematischer Diskurse. Damit lässt sich auch die Spezifik eines Diskurses beschreiben, jedoch nur in Hinblick auf die gewählte Variable. Bei einer Untersuchung zum Beispiel zur Verwendung von Kontrastkonnektoren ließe sich also die Spezifik der Verwendung von Kontrastkonnektoren im Kontext der Debatte um das Reiterdenkmal in Windhoek beschreiben.
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Die vorliegende Untersuchung sieht sich im Kontext einer Diskussion um (post)koloniale Erinnerungskultur in Namibia und im Kontext der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands (genauer: des Deutschen Reiches). Die hier präsentierten Analysen sind darum exemplarisch. Sie sollen zudem vor allem auf die Schwierigkeiten hinweisen, die eine postkoloniale Perspektive in einer ehemaligen deutschen Kolonie wie Namibia mit sich bringt. Durch die Festlegung des Englischen als Amtssprache sind die meisten landesweit rezipierten Medien wie große Zeitungen und Radiosender englischsprachig. Als Konsequenz aus der Kolonialzeit gibt es aber eine wirtschaftlich und gesellschaftlich einflussreiche Gruppe von Deutschnamibiern, die sich durch die Entfernung des Reiterdenkmals in besonderer Weise betroffen fühlen. Da diese Personengruppe große Teile des Diskurses dominiert, sollte ihre Position nicht fehlen. Dadurch werden der Diskurs um das Reiterdenkmal und auch der gesamte Diskurs um die Erinnerungskultur in Namibia mindestens zweisprachig. Damit müssen auch die Vergleichskorpora für die quantitative Korpusanalyse in zwei Sprachen vorliegen. Da in diesem Fall die deutsche Sprache vor allem dafür verwendet wird, die Position der sehr homogen auftretenden Gruppe der Deutschnamibier zu vertreten, sind die sprachlichen Strukturen im Vergleich englisches/deutsches Korpus aufschlussreich. Gleichzeitig sollte aber für die qualitative Analyse eine sprachliche Struktur gewählt werden, die in beiden Sprachen vorkommt und die Zugriff auf Satzinhalte ermöglicht. Das Untersuchungsobjekt der Kontrastkonnektoren erfüllt diese Anforderungen. Konnektoren werden dabei definiert als „Ausdrücke, [deren] Bedeutung […] im Normalfall mindestens die Bedeutung zweier Sätze zueinander in eine spezifische Relation [setzt], welche eine spezifische Beziehung zwischen den von den Sätzen beschriebenen Sachverhalten identifiziert […].“ (Pasch et al. 2003: 1). Die Beziehung zwischen den Sätzen kann mit den gängigen semantischen Kategorien, wie sie auch bei Konjunktionen und Subjunktionen Anwendung finden, umschrieben werden. Demnach kann die Relation zwischen den Sätzen kausal, additiv, konsekutiv, final, konzessiv und adversativ sein. Das Handbuch der deutschen Konnektoren (Pasch et al. 2003) beschränkt die Konnektorfunktion aber nicht auf Konjunktionen und Subjunktionen, auch Adverbien, Adjektive sowie Fokuspartikeln werden zu den Konnektoren gezählt (vgl. Pasch et al. 2003). Besonders konzessive und adversative Konnektoren dienen dazu, die eigene Position in der Diskussion gegen andere Positionen abzugrenzen. Adversativität und Konzessivität werden zu diesem Zweck zu einer neuen Kategorie Kontrast gebündelt (vgl. Breindl 2004: 226). Kontrastkonnektoren können damit als sprachliche Mittel der Differenzierung angesehen werden, da der Urheber einer Aussage seine Zugehörigkeit zu einer be-
246 | Wolfram Karg
stimmten Gruppe von Akteuren im Diskurs ganz oder teilweise bestätigen oder ablehnen kann. Das konstituierende Element einer kontrastiven Relation ist dabei die Annahme, dass in der Aussage obwohl p, q gilt, dass p und q wahr sind. Impliziert wird gleichzeitig durch die Verwendung des Konnektors obwohl (oder auch durch jeden anderen Kontrastkonnektor6), dass aus p‘ normalerweise ¬ q‘ folgt. Es handelt sich bei dieser Relation um eine konditionale wenndann-Beziehung (vgl. König 1991: 634). Diese konditionale Beziehung wird aber im Fall der Kontrastrelation nicht erfüllt. Statt ¬ q tritt q ein. Geht man wie Di Meola (1997) davon aus, dass jede Wirkung eine Ursache bzw. jede Folge einen Grund hat, dann ergibt sich eine doppelte Kausalitätsrelation. Aus pA folgt qA und aus pB folgt qB. Der Konnektor obwohl impliziert beide Kausalrelationen und verbindet sie entgegen der Erwartung: Obwohl pA, folgt qB. Kontrastkonnektoren können vom Urheber einer Äußerung dazu verwendet werden, sich von anderen Positionen abzugrenzen. In einer Debatte, die so kontrovers wie die um das Reiterdenkmal geführt wird, liegt die Erwartung nahe, dass die Untersuchung von Kontrastkonnektoren die Mechanismen von Abgrenzung und Gegenüberstellung von Eigenem und Anderem in besonderer Weise ermöglicht.
4 Textauswahl und Korpusaufbau Die Grundlage für die Zusammenstellung des Korpus, das die Debatte um das Reiterdenkmal in Namibia erfassen soll, bilden Texte aus der überregionalen namibischen Presse, die sich ihrem Hauptthema nach mit der Umsetzung des Reiterdenkmals in Windhoek befassen. Der Entscheidung, Texte aus der überregionalen Presse aufzunehmen, liegen zunächst praktische Überlegungen zu Grunde. Die meisten landesweit erscheinenden namibischen Zeitungen bieten ein umfangreiches und auch gut zugängliches Online-Angebot an, das damit bereits in digitalisierter Form vorliegt und so für die computergestützte Analyse verwendet werden kann. Die Presselandschaft Namibias ist gemessen an der Einwohnerzahl des Landes von knapp zwei Millionen zumindest auf überregionaler Ebene vielfältig und kann vor allem nach der gesellschaftlichen und politischen (Selbst)charakterisierung der jeweiligen Medien gegliedert werden. Der Großteil der Zeitungen erscheint in der offiziellen Amtssprache Englisch. Ins
|| 6 Für eine Übersicht zu den als Kontrastkonnektoren eingestuften Ausdrücken vgl. Rudolph (1996: 4–5).
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Korpus fließen sowohl drei englischsprachige Zeitungen als auch die einzige deutschsprachige Tageszeitung Namibias ein, die damit die politische Bandbreite an öffentlichen Positionen abbilden. Es wurden demnach vier Zeitungen ins Korpus aufgenommen, nämlich Namibian, Namibian Sun, New Era und Allgemeine Zeitung. Die auflagenstärkste Zeitung ist dabei der Namibian, der als regierungskritisch gilt und eher am linken Spektrum orientiert ist. Die zweite Tageszeitung ist die Namibian Sun, ein Boulevard-Blatt, das als tendenziell bürgerlich-konservativ gelten kann und vor allem jüngere Leser zwischen 20 und 39 Jahren ansprechen möchte. Die dritte Zeitung trägt den programmatischen Namen New Era und wird von einem Verlagshaus herausgegeben, das sich in Regierungshand befindet. Diese Zeitung kann also als Sprachrohr der Regierung gelten und stellt damit das diametrale Gegenstück zum Namibian dar. Die Allgemeine Zeitung charakterisiert sich selbst als die älteste Tageszeitung Namibias (vgl. AZ-Profil 2015) und ist die einzige bekannte überregionale namibische Tageszeitung in deutscher Sprache. Sie kann vor allem als Sprachrohr der etwa 20.000 im Land lebenden Deutschnamibier gelten und steht der Vorgehensweise der namibischen Regierung im Zusammenhang mit dem Reiterdenkmal skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die Gewichtung der englischsprachigen Zeitungen zu deutschsprachigen Zeitungen im Verhältnis 3:1 vermitttelt zunächst den Eindruck eines Ungleichgewichts. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass dieses Ungleichgewicht auch in der Realität besteht, da die Mehrheit der namibischen Bevölkerung die offizielle Amtssprache Englisch spricht und es darum zu erwarten ist, dass auch die nationale Presse (möglicherweise im Gegensatz zu einer Regionalpresse) sich vornehmlich des Englischen bedient. Als nächstes stellt sich die Frage, wie man die koloniale bzw. postkoloniale Spezifik der Diskussion auf sprachlicher Ebene erfassen kann. Das Mittel der Wahl ist dabei die kontrastive Korpusanalyse. Dabei werden zwei Korpora miteinander verglichen. Um die Vergleichbarkeit sicherzustellen, sollten sich die Korpora dabei nur in einer Variablen unterscheiden. Dazu müssen zunächst Debatten, die sich mit einer ähnlichen Problematik befassen, aber nicht im Kontext ehemaliger Kolonialgebiete stehen, gefunden werden. Im vorliegenden Beitrag ist die unterscheidende Variable das Merkmal „kolonialer/nicht-kolonialer Kontext“. Als paralleles Diskursereignis, um das sich eine gesellschaftliche Debatte mit entsprechender Öffentlichkeitswirkung gebildet hat, die in den Medien auch möglichst umfassend dokumentiert ist, wurde die Umsetzung eines politisch bedeutsamen Denkmals definiert. Die Debatte um die geplante Versetzung des Marx-Engels-Denkmals in Berlin weist einige Parallelen zur Diskussion um das Windhoeker Reiterdenkmal
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auf. Zunächst ist der Gegenstand der Debatte die Umsetzung eines Denkmals, das während des Bestehens der DDR errichtet wurde. Wie die Kolonialzeit in Namibia ist die Zeit der DDR eine inzwischen überwundene Epoche, von der sich die gegenwärtige Gesellschaft auf politischer und gesellschaftlicher Ebene distanziert hat oder im Prozess ist, sich zu distanzieren. Ähnlich wie in Namibia stellt die Verlagerung dieses Denkmals nur einen Teil in dem viel weiter reichenden Konzept zum Neuaufbau eines nationalen Baudenkmals dar, im Fall von Berlin handelt es sich dabei um das Stadtschloss. Im Jahr 2010 wurde das Denkmal tatsächlich umgesetzt, allerdings zunächst, um Platz für den Ausbau der U-Bahn Linie U 5 zu machen. 2012 äußerte der damalige Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Peter Ramsauer, Überlegungen, das Denkmal auf den Friedhof Friedrichsfelde zu versetzen (vgl. Conrad 2012). Diese Äußerungen waren aber nur spekulativ, sodass die derzeitigen Pläne eine Rückversetzung an den ursprünglichen Standort nach Abschluss des U-Bahnbaus bis 2018 vorsehen (vgl. Fülling 2012). Besonders in der lokalen Berliner Medienlandschaft, aber auch in der überregionalen deutschen Presse fanden die Äußerungen Ramsauers entsprechenden Wiederhall. Texte, die sich mit der Diskussion um den Verbleib des Marx-Engels-Denkmals befassen, bilden die Grundlage für das deutschsprachige Kontrastkorpus. Die Texte stammen vor allem aus der Berliner Regionalpresse und auch aus der überregionalen deutschen Presse aus den Jahren 2010 und 2012. Folgende Zeitungen dienten dabei als Quellen: Berliner Morgenpost, Berliner Zeitung, Kölner Stadt-Anzeiger, Mitteldeutsche Zeitung, TAZ, Der Tagesspiegel und Die Welt. Für die kontrastive Korpusanalyse, bei der das Untersuchungskorpus mit einem Vergleichskorpus kontrastiert wird, stellt die Mehrsprachigkeit des Untersuchungskorpus eine neue Herausforderung dar. Es gibt kein bekanntes Tool, das Korpora in zwei verschiedenen Sprachen gleichzeitig durchsuchen kann. Die einzige Möglichkeit dazu bieten Parallelkorpora. Die für diese Analyse verwendeten Korpora sind aber keine Parallelkorpora, da die ausgewählten Texte nur in einer Sprache vorlagen. Die Alternative, sich nur auf eine Sprache zu beschränken, ist unbefriedigend, weil dadurch wichtige Beiträge und Positionen, die in anderen Sprachen vorliegen, verloren gehen könnten. Bestätigt wird diese Befürchtung auch durch Beobachtungen, die bereits während der Quellenaushebung gemacht wurden, dass nämlich in der deutschsprachigen Presse eine viel kritischere Haltung zum Vorgehen der namibischen Regierung eingenommen wird als in den englischsprachigen Artikeln und Kommentaren. Aus diesem Grund wurde neben dem schon beschriebenen Vergleichskorpus aus Texten zum Marx-Engels-Denkmal ein weiteres Korpus erstellt, in dem eine Debatte erfasst wird, die in englischsprachigen Medien behandelt wird. Die
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Wahl fiel auf die Debatte um den sogenannten kneeling soldier. Diese begann im Januar 2015, als ein US-Gericht das Urteil fällte, dass eine Statue in der Stadt King im US-Bundestaat North Carolina die Grundrechte eines Klägers verletze. Daraufhin war die Gemeinde King gezwungen, diese Gedenkplastik umzuändern. Streitpunkt war die Tatsache, dass der Soldat vor einem Kreuz betet, was der Kläger als eine Einschränkung seiner konstitutionell verbrieften Rechte auf Religionsfreiheit ansah. Das Gericht folgte dieser Auffassung. Diese Position stieß aber erwartungsgemäß bei christlich geprägten Amerikanern auf wenig Gegenliebe, sodass eine kontroverse Diskussion entstand. Die Debatte eignet sich als Vergleich darum gut, weil in ihr ebenfalls ein Denkmal und seine Bedeutung aufgrund neuer gesellschaftlicher Einstellungen in der bisherigen Form nicht mehr akzeptiert wird. Bei den Quellen für dieses Korpus handelt es sich um die Zeitung Daily Mail, das Online-Portal von Fox News, eine regionale Zeitung mit dem Namen Winston-Salem-Journal und die Washington Times. Die Korpusanalyse stützt sich damit auf vier Teilkorpora. Das Korpus zur Debatte um das Reiterdenkmal in Windhoek besteht aus einem deutschsprachigen Teil und einem englischsprachigen Teil. Zu jedem dieser Korpusteile wurde ein eigenes Vergleichskorpus erstellt, das sich auf ein anderes Diskursereignis bezieht. Die Zusammenstellung der Korpora gestaltet sich wie in der Tabelle dargestellt. Tabelle 1: Verteilung der Tokenzahlen auf die Subkorpora.
Sprache
Funktion
deutsch
Behandeltes Ereignis
Tokens (Wortformen)
Texte
Zeitraum
Untersuchungs- Diskussion um Windkorpus hoeker Reiterdenkmal
7524
11
Aug. 2013 bis Jun. 2014
deutsch
Vergleichskorpus
2697
7
Aug. 2010 bis Jan. 2012
englisch
Untersuchungs- Diskussion um Windkorpus hoeker Reiterdenkmal
11990
20
Sept. 2013 bis Apr. 2014
englisch
Vergleichskorpus
7
Jan. 2015 bis Feb. 2015
Umsetzung Marx- und Engels-Denkmal
Kneeling Soldier North 2376 Carolina
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5 Quantitative Befunde Die Keywordliste der beiden Teile des Untersuchungskorpus weicht stark voneinander ab. Erwartungsgemäß finden sich in beiden Korpora Ausdrücke wie Reiterdenkmal und Namibia auf den vordersten Plätzen. Dieses Ergebnis dient auch der Bestätigung, dass das Korpus themenrelevante Texte enthält. Bei den anderen Keywords gibt es wenige Gemeinsamkeiten. Die Belege mit absoluter Vorkommenshäufigkeit von 10 oder mehr in der mit „AntConc“ generierten Keywordliste sollen hier in absteigender Reihenfolge aufgezählt werden (zur Funktionsweise von AntConc vgl. Anthony 2005). Dabei wurden lediglich Ausdrücke mit semantischem Gewicht ausgewählt. Funktionswörter, Artikel oder auch Abkürzungen wurden aussortiert. Zudem wurden Varianten (die etwa durch Flexion oder Groß- und Kleinschreibung entstehen) zusammengefasst. Auch Eigennamen, die in allen Fällen zusammen auftreten, wurden in diesen Fällen als ein Keyword (und nicht als zwei verschiedene Ausdrücke) gezählt. Tabelle 2: Keywords im englischsprachigen und deutschsprachigen Teilkorpus.
Häufigkeit
Ausdruck deutsch
Häufigkeit
Ausdruck englisch
54
Reiterdenkmal/Reiterdenkmals
108
German/Germans
7
23
Feste
72
Reiterdenkmal
20
Alten
54
Namibian/Namibians
19
erhalten
58
people
19
Namibia
44
history
17
Interesse
40
Germany
16
Reiter
40
government
14
Windhoek
29
National/national
13
gehört
28
country
12
Gebäude
28
horse
11
Denkmalrat
27
colonial
|| 7 Entgegen der auf den ersten Blick naheliegenden Annahme gehören Alten und Feste nicht zusammen, da es einen Fall gibt, in dem Alten i.S. von ‚das Alte‘ verwendet wird. Feste dagegen referiert nicht in allen Fällen auf die Alte Feste in Windhoek, sondern wird im Sinn von ‚Feierlichkeit‘ verwendet. Darum erfolgt hier eine getrennte Auflistung. Im englischsprachigen Teilkorpus dagegen tritt Alte und Feste immer zusammen auf und wird darum als ein Ausdruck angesehen.
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Häufigkeit
Ausdruck deutsch
Häufigkeit
Ausdruck englisch
11
Recht
26
monument
11
Regierung
24
Heritage/heritage
11
Staat
23
years
11
uns
22
nation
10
Bürger
19
statues
10
Eigentum
17
Nama
10
Standbild
17
President
10
öffentlichen
15
genocide
10
Öffentlichkeit
15
groups
15
human
15
remains
15
way
14
rider
14
side
13
erected
13
historical
13
museum
13
Pohamba
13
war
12
Herero
12
Kaapanda
12
past
12
victims
12
Ekandjo
11
independence
11
Museum
10
Africa
10
Andreas Vaatz
10
cultural
10
Alte Feste
10
reconciliation
10
atrocities
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Einige der Unterschiede zwischen der deutschen und der englischen Keywordliste lassen Schlüsse auf das Selbstverständnis der Akteure zu. Dies gilt etwa für die Signifikanz von Germany im englischen Korpus. Der explizite Verweis auf Deutschland oder Deutsche durch die Ausdrücke Germany und German/Germans im englischsprachigen Korpus findet sich im deutschsprachigen Korpus nicht. Betrachtet man den Kontext der einzelnen Belege, dann ergibt sich folgende Verteilung: Tabelle 3: Kombinationen mit German im englischsprachigen Subkorpus zum Reiterdenkmal.
Ausdruck
Häufigkeit
German-speaking
18
German community
5
German citizens
5
German soldiers
4
German groups
4
Die 18 Fälle des Adjektivs German-speaking treten meist mit den Ausdrücken Namibians, community oder people kombiniert auf, womit deutlich wird, dass hier auf die Deutschnamibier referiert wird. Die gleiche Referenz haben die Ausdrücke German community, ebenso wie vier der fünf Fälle von German citizens, die durch das Attribut Namibian spezifiziert sind. In einem Fall aber sind mit German citizens Bewohner des Deutschen Reiches gemeint. Bei den German soldiers wird durch den Kontext deutlich, dass die Angehörigen der Schutztruppe gemeint sind. Der Ausdruck German groups referiert auf organisierte Interessenvertretungen wie die Kriegsgräberfürsorge, in denen sich zum überwiegenden Teil Deutschnamibier engagieren, sodass auch hier die Referenz auf die in Namibia lebenden Nachfahren der deutschen Ansiedler bezogen ist. Die Satzeinheiten, in denen auf die Deutschnamibier referiert wird, enthalten mit einer Ausnahme alle eine Zurückweisung der durch die Deutschnamibier vorgebrachten Kritik am Umgang mit dem Reiterdenkmal. Ob diese kritische Haltung tatsächlich von allen Deutschnamibiern geteilt wird, wird dabei nicht angezweifelt, sodass man hier von einer Verallgemeinerung durch die sich äußernden Akteure sprechen kann. Daraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die englischsprachigen Medien Namibias den Deutschnamibiern gegenüber zumindest in der Frage der Umsetzung des Reiterdenkmals wenig wohlwollend gegenüberstehen. Die Ausdrucksweise ermöglicht aber eine klare
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Differenzierung zwischen Deutschen im Sinne von ‚Bürgern der Bundesrepublik‘ und Deutschnamibiern, sodass hier keine Verwechslungsgefahr besteht. Im Gegensatz dazu steht die Verwendung des Ausdrucks Germans. Die Wortart ist hier eindeutig ein Nomen, sodass die Referenz ebenfalls auf bestimmte Personengruppen bezogen ist. Anders als bei German sind aber mehrere unterschiedliche Gruppen gemeint, deren eindeutige Identifikation erst durch den Kontext des gesamten Satzes möglich wird, da die meisten Ausdrücke nicht durch Attribute näher bestimmt werden. Zwar sind in sechs der Fälle wieder die Namibier mit deutschen Vorfahren gemeint, in jeweils fünf Fällen wird aber offensichtlich auf Angehörige der Bundesrepublik Deutschland oder auf Vertreter des Deutschen Reiches referiert. In einem Fall bezieht sich zudem die Referenz auf die Bürger des Dritten Reiches. In drei weiteren Fällen ist nicht eindeutig zu erkennen, ob der Ausdruck Germans sich auf Bürger oder Vertreter der DDR, der BRD oder auf die Gruppe der Deutschnamibier bezieht. Die Vielfalt der möglichen Referenzobjekte ist dabei aber nicht spezifisch für diesen oder einen anderen (kolonialen) Diskurs, da sie durch die fehlenden Differenzierungsmöglichkeiten des Ausdrucks Germans bedingt ist. So wird auch in anderen Kontexten mit German auf die verschiedenen deutschen Staatsgebilde referiert. Das gilt auch für den entsprechenden Ausdruck Deutsche in der deutschen Sprache. Dass allerdings innerhalb eines Diskurses und teilweise innerhalb eines Textes alle bestehenden und aufgelösten deutschen Staaten zu den Referenzobjekten zählen, ist doch selten und nur durch die spezielle historische Situation Namibias möglich, weil dort Nachkommen der deutschen Kolonisatoren leben, die sich in dem Diskurs um den Abbau des Reiterdenkmals lebhaft zu Wort gemeldet haben. Die Keywordtabelle (Tabelle 2) verdeutlicht, dass in den Äußerungen der Deutschnamibier im deutschsprachigen Korpus vor allem Ausdrücke wie Staat, Regierung, Bürger, Öffentlichkeit und Denkmalrat dominieren. Mit diesen kann entweder auf kollektive Menschengruppen referiert werden oder auch auf einzelne Mitglieder dieser Gruppen, ohne sie direkt nennen zu müssen. Zudem benennen die aufgelisteten Ausdrücke Instanzen und Akteure innerhalb eines Staates. Auch wenn hier auf Akteure und damit Menschen referiert wird, so vermitteln diese Ausdrücke trotzdem Unpersönlichkeit, was die Texte oft wie Verwaltungsschreiben oder Rechtsgutachten wirken lässt. In den englischsprachigen Texten dagegen dominieren auf den vorderen Rängen der Keywordliste vor allem Ausdrücke aus den Themenbereichen Erbe, Vermächtnis (heritage) und Bevölkerung (people) oder Akteure, bei denen Referenzidentität zwischen Amt bzw. staatlicher Instanz und Person bestand, wie dem zu dieser Zeit amtierenden Präsidenten Namibias (president). Diese Ausdrücke sind zwar ebenfalls
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weitgehend unpersönlich, verweisen aber auf einen anderen Themenbereich. Nicht das staatliche Handeln steht bei den englischsprachigen Texten im Vordergrund, sondern das kollektive Erbe bzw. der Präsident, der als Identifikationsfigur dienen soll. Damit wird im direkten Vergleich der deutschsprachigen mit den englischsprachigen Texten deutlich, dass die Autoren im englischsprachigen Teilkorpus häufiger auf eine gesamtgesellschaftliche Einheit, die sowohl die Bevölkerung als auch staatliche Institutionen einschließt, referieren. Im deutschen Teilkorpus wird dagegen der Staat als eine Einheit beschrieben.
6 Die Rolle des Staates in der Debatte um das Reiterdenkmal – exemplarische qualitative Analyse Die Kombination quantitativer und qualitativer Analysen wurde als Möglichkeit vorgestellt, einerseits größere Korpusdatenmengen zu erschließen und gleichzeitig auch eine inhaltsbasierte Analyse zu ermöglichen. Den ersten Zugang bietet zunächst die quantitative Analyse in Form eines Abgleichs der Vorkommenshäufigkeit von Kontrastkonnektoren zwischen dem Untersuchungs- und dem Vergleichskorpus. Das Ergebnis dieser quantitativen Analyse zeigt die folgende Tabelle. Tabelle 4: Kontrastkonnektoren in den Untersuchungsteilkorpora zum Windhoeker Reiterdenkmal (signifikant häufig auftretende Konnektoren sind mit (s) gekennzeichnet).
Konnektor
Häufigkeit
Konnektor
Häufigkeit
although
3
aber
13 (s)
but
11 (s)
allerdings
5 1
despite
4 (s)
andererseits
for all that
1
auch wenn
3
however
8 (s)
dafür
11
instead
3
dennoch
1
on the other hand
1
doch
8 (s)
only
21 (s)
gleichwohl
1
still
14
immerhin
1
while
11
jedoch
4
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Konnektor
Gesamt
Häufigkeit
77
Konnektor
Häufigkeit
natürlich
2 (s)
nur
19
obwohl
4 (s)
sondern
14 (s)
trotz
2 (s)
trotzdem
2 (s)
zwar
6 (s)
Gesamt
97
Die Tabelle veranschaulicht, dass die Zahl der im deutschsprachigen Korpus vorkommenden Kontrastkonnektoren größer ist, obwohl das Korpus weniger Texte und Tokens umfasst (vgl. Tabelle 1). Das gilt sowohl für die Gesamtzahl der Ausdrücke als auch für die Auswahl an verschiedenen Konnektoren. Zwar kann man bei den Konnektoren, die nur einmal auftreten, im Sinne Bubenhofers (2009) nicht von einem Muster sprechen, doch die Unterschiede in der Verwendungshäufigkeit von Kontrastkonnektoren insgesamt kann man auch als ein sprachliches Muster betrachten. Im Folgenden werden nun exemplarisch einige der Belege, in denen Kontrastkonnektoren auftreten, analysiert. Der erste Beleg greift ein Beispiel aus der Allgemeinen Zeitung auf, in dem die Rolle des namibischen Staates in Bezug auf Gebäude in Staatseigentum kommentiert wird. (1)
Der Staat ist als Eigentümer nicht nur verpflichtet, diese [sc. die staatlichen Gebäude] zu nutzen, sondern auch zu erhalten, was leider oftmals vernachlässigt wird. (AZ, 31.01.2014)
Dem Staat wird hier vorgeworfen, seine Pflichten zu vernachlässigen. Diese Pflichten werden ihrerseits aus dem Postulat abgeleitet, dass der Staat der Eigentümer des Reiterdenkmals sei. Mit dem schwer zu fassenden Ausdruck der Staat hält der Autor des AZ-Beitrages sich die Möglichkeit einer Exklusion der eigenen Person aus diesem Staat offen, da er die generische Bezeichnung der Staat, etwa im Gegensatz zu unser Staat, wählt. Dabei muss der Leser sich erst aus dem Kontext des Gesamttextes erschließen, dass sich die Referenz auf den namibischen Staat bezieht. Jeder einzelne namibische Bürger ist auch Teil des namibischen Staates. So besteht die Möglichkeit, dass der Autor sich als Teil dieses Staates sieht oder eine weitere sprachliche Distanzierung erreicht. Der Zusammenhang zum Reiterdenkmal wird aus diesem Beleg zudem erst durch eine Kontrastrelation klar, die mit dem Kontrastkonnektor nicht nur …,
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sondern auch markiert ist. Im vorliegenden Beleg werden sowohl die Pflicht zur Nutzung als auch die Pflicht zum Erhalt vom Urheber als gültig angesehen. Deutlich wird diese Relationsbedeutung durch die ergänzenden Konnektorteile nur und auch, die eine Einschränkung und eine Ergänzung der beinhalteten Propositionen indizieren.8 Damit gelten zwei Kausalitätsbeziehungen gleichzeitig, sodass diese Relation stärker einer Kontrastrelation als einer Kausalitätsrelation ähnelt. Allerdings besteht ein Unterschied zur Kontrastrelation, weil aus der Angabe, dass der Staat die Rolle des Eigentümers habe, zwei gleichberechtigt nebeneinander stehende Schlussfolgerungen gezogen werden, nämlich einerseits die Pflicht zur Nutzung, aber auch die Pflicht zur Erhaltung. Für die Diskussion um das Reiterdenkmal ist die Pflicht zur Erhaltung relevant. Erst durch diese Schlussfolgerung kann der Urheber den Vorwurf anbringen, dass der namibische Staat dieser Verpflichtung im Fall des Reiterdenkmals nicht nachgekommen sei. Offen bleibt die Frage, ob die Pflichten eines Gebäudeeigentümers auf den Umgang mit dem Reiterdenkmal übertragen werden können. Der folgende Beleg ist dem gleichen Kommentar aus der Allgemeinen Zeitung entnommen wie Beleg (1). Hier werden aber keine direkten Vorwürfe erhoben, sondern nur Pflichten formuliert. (2)
Obwohl der Staat juristisch der Eigentümer ist, gehört das Reiterdenkmal der Allgemeinheit, die zukünftige Generationen einschließt. (AZ, 31.01.2014)
Die Phrase Obwohl der Staat juristisch der Eigentümer ist erfüllt die Rolle von pA. Die Phrase […] gehört das Reiterdenkmal der Allgemeinheit erfüllt dagegen die Rolle von qB. Gemäß der Annahme, dass aus p‘ normalerweise ¬ q‘ folgt (vgl. König 1991: 634), kann man eine Normalitätserwartung ableiten, die wie folgt lautet: (2')
Wenn der Staat juristisch Eigentümer ist, dann gehört das Reiterdenkmal nicht der Allgemeinheit.
Es wird in dieser Relation also die Eigentumsfrage und damit verbundene Berechtigungen zur Verfügungsgewalt über das Reiterdenkmal zur Argumentation eingesetzt. Kontrastiert wird dabei die Rolle des Staates als Eigentümer mit der Rolle der Allgemeinheit als Eigentümer. Die Kritik am Staat ist hier also eine Kritik an der Regierung. Die Kontrastierung von ‚Allgemeinheit‘ und ‚Staat‘
|| 8 Bei einem Fehlen der Ausdrücke nur und auch würde die Kombination aus Negationspartikel und sondern als Korrektur bezeichnet (vgl. Zifonun 1997: 2413). Das Phänomen der Korrektur basiert auf der Annahme, dass p (Der Staat ist verpflichtet, die Gebäude zu nutzen) ersetzt wird durch q (Der Staat ist verpflichtet, die Gebäude zu erhalten) (vgl. Zifonun 1997: 2413).
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ergibt nur Sinn, wenn man ein Verständnis von Staat ansetzt, das diesen als unabhängige, dritte Einheit neben der Allgemeinheit und dem hier sprechenden Individuum ansieht. Die Gleichsetzung von Staat und Regierung ist dabei an sich weder spezifisch für einen (post)kolonialen Diskurs noch eine Innovation des untersuchten Textes. Sie bietet aber im Sinne der Analyse nach dem diskurslinguistischen Mehrebenenanalyse-Modell (DIMEAN, vgl. Spitzmüller & Warnke 2011: 201) die Möglichkeit, weitere Diskursakteure zu identifizieren sowie Ideologien, Mentalitäten und historische Begebenheiten mit in die Analyse einzubeziehen. Damit fungieren die Belege und die in ihnen vorgefundenen sprachlichen Strukturen als Indizes für diskursiv geteiltes Wissen (vgl. Warnke et al. 2014). Wir überprüfen im Folgenden, ob sich im englischsprachigen Korpus ebenfalls kritische Äußerungen zur namibischen Regierung und ihrem Vorgehen bei der Umsetzung des Reiterdenkmals finden. Der Kommentator der englischsprachigen Zeitung The Namibian, einer aus historischen Gründen regierungskritisch eingestellten Zeitung, äußert sich in ähnlich negativer Form wie die der Urheber des vorangehenden Belegs. Jedoch nimmt der Autor hier eine stärker persönliche Position ein, indem er den potenziellen Leser, genauer: den intendierten Adressaten („Swapo-led government leaders“), direkt anspricht. (3)
Many of your people are already suffering because you are selfish and arrogant, and you are doing it with hard earned money of all taxpayers in this country and you are driving German made Mercedes Benz, BMW and Audi vehicles. Swapo-led government leaders do not lead by example (except the minority of you). (Nam, 31.01.2014)
Der Urheber der Äußerung (3) ist deutschsprachiger Namibier, was er explizit im Einleitungssatz des betreffenden Beitrags mit dem Hinweis „[a]s a German speaking Namibian“ (Nam, 31.01.2014) angibt. Neben der deutlich hervorgebrachten Kritik an der SWAPO-Regierung im letzten Satz des Belegs (3) ist diese Selbstcharakterisierung ein weiteres Indiz dafür, den Text dem Lager der Regierungsgegner zuzuordnen. Dieser Text passt, auch wenn er auf Englisch verfasst ist, zu den Texten aus dem deutschsprachigen Korpus. Der Regierung wird explizit Versagen und schlechte Arbeit vorgeworfen. Allerdings ist diese Kritik sehr undifferenziert und generalisierend, auch wenn in Klammern eine Einschränkung dieser Behauptung erfolgt. Der Beleg bezieht sich jedoch gar nicht explizit auf das Reiterdenkmal, sondern wirft den Regierungsmitgliedern generelles Versagen sowie Korruption und Selbstbereicherung vor. Zudem ist die Kritik offensichtlich parteipolitisch motiviert (auch wenn nicht bekannt ist, welche genaue politische Orientierung der Urheber der Äußerung hat), da nicht,
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wie in den deutschsprachigen Belegen, der Staat kritisiert wird, sondern die Regierung, die mit der regierenden SWAPO-Partei gleichgesetzt wird. Damit ist dieser Beitrag zwar regierungskritisch, aber nicht themenspezifisch. Die Themenspezifik ergibt sich erst durch den Äußerungskontext, im vorliegenden Fall dadurch, dass die Äußerung in der Debatte um das Reiterdenkmal produziert wird. Anders als es der vorangehend vorgestellte Beleg vielleicht suggerieren mag, ist aber das englischsprachige Korpus grundsätzlich ausgeglichen und sachlich. Dies zeigen die folgenden Belege: (4)
In a letter written by the groups’ lawyer Andreas Vaatz to the Ministry of Works and Transport on 21 February 2014, they threaten to sue the government. (Nam, 24.03.2014)
(5)
He [historian Andreas Vogt] warned that [the]government should be careful, because the Reiterdenkmal is a symbol for the German-speaking community and if it is destroyed there will be 25 000 Germans in uproar. (NamSun, 19.09.2013)
Beide Belege geben die Aussagen von zwei Deutschnamibiern in indirekter Rede wieder. Anders als der Beitrag der deutschsprachigen Presse Namibias, in dem der Autor die Regierung gezielt kritisiert, sehen sich die englischsprachigen Zeitungen offensichtlich eher in der Rolle des neutralen Beobachters. Die Möglichkeit, dass diese berichtend-neutrale Wirkung möglicherweise dadurch bedingt ist, dass die Originaläußerungen der Deutschnamibier in deutscher Sprache gemacht wurden und sie in den englischsprachigen Medien in indirekter Rede oder auch nur sinngemäß wiedergegeben werden und dabei auch eine Übertragung ins Englische erfolgt, erscheint auf Grund der Tempuswahl wenig wahrscheinlich. Im Englischen wird indirekte Rede durch entsprechende Tempusformen markiert. Das ist in den oben dargestellten Beispielen aber nicht erfolgt, da als Haupttempus simple present und will-future verwendet wurde. Keine dieser Formen ist im Englischen ein übliches Mittel zur Markierung von indirekter Rede. Konzentriert man sich auf den Inhalt der Aussagen in den Belegen (4) und (5), dann muss man diesen ebenfalls als deskriptiv bezeichnen, da hier keine eigene Stellungnahme zum Problem erkennbar ist, sondern die Position der deutschsprachigen Namibier wiedergegeben wird. Diese Position deckt sich mit der aus den Belegen (1) und (2), in denen vor allem die juristischen Fragen der Versetzung des Reiterdenkmals verhandelt werden. Die historischen Implikationen und die Bedeutungsgenese des Denkmals werden bei dieser Argumentationsweise dagegen nicht explizit genannt. Zudem muss man nach derzeitigem
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Stand davon ausgehen, dass die Ankündigung, gegen die namibische Regierung zu klagen, in ihrer Ernsthaftigkeit zweifelhaft war, da eine Meldung der Allgemeinen Zeitung vom April 2014 den Verzicht auf diese Klage bekannt gibt (vgl. AZ, 07.04.2014). Die Argumentationsweise der Regierungskritiker (die hier gleichzeitig als Befürworter des Denkmals gelten können) kann charakterisiert werden als überwiegend sachlich-neutral, da sie sich auf rechtliche Prinzipien, vornehmlich die Eigentumsverhältnisse und die daran geknüpften Berechtigungen zur Entscheidung über den weiteren Verbleib des Denkmals stützen. Ganz anders dagegen argumentieren die Befürworter der Regierung, vertreten durch die SWAPO-nahe Zeitung New Era, aus der der nächste Beleg stammt. (6)
Its [the Equestrian statue] removal from the site is not an attempt to rewrite history but simply to give the statue a befitting place of rest: in a museum. (NewEra, 27.09.2013)
In dem Beleg findet sich mit der Konjunktion but ein weiterer Kontrastkonnektor. Jedoch signalisiert er anders als in Beleg (2) kein gleichberechtigtes Nebeneinander von zwei Kausalrelationen. Stattdessen wird ein Teil der Aussage, nämlich der Vorwurf, das Entfernen der Statue von ihrem Standort sei der Versuch, die Geschichte (vermutlich Namibias) umzuschreiben, gegen einen anderen ersetzt, der beinhaltet, dass das Entfernen der Statue nur dazu dient, ihr einen angemessen Platz in einem Museum zu schaffen. Dies ist ein neuer Aspekt und eine Reaktion auf die auch in der internationalen Presse häufig geäußerte Sorge, Namibia könnte sein kulturelles Erbe auslöschen. Diese Sorge versucht der Autor zu zerstreuen, indem er das Reiterdenkmal als Teil der namibischen Geschichte akzeptiert. Man kann wie der Autor die Auffassung vertreten, dass dieser Teil der Geschichte Namibias im Museum dokumentiert sein sollte. Die in diesem Beleg angedeuteten Pläne bieten auch eine mögliche Erklärung für den Abbau des Sockels, für dessen Größe der Platz im Museum nicht ausgereicht hätte. Außer Acht lässt der Urheber des Belegs die letztendlich mit ihrem Anliegen gescheiterte „Reiter-Initiative“, durch die das Reiterstandbild bereits viel früher die dringend notwendige Kommentierung hätte erfahren können. Damit kommen aber Zweifel auf, ob hier nicht doch eine Einflussnahme auf das Geschichtsbild erfolgt, besonders wenn man bedenkt, dass an beiden alten Standorten neue Statuen errichtet wurden, die nun die diametral entgegengesetzte Position einnehmen und wie oben bereits erläutert in Form und Funktion den Mustern europäischer Erinnerungskultur zu folgen scheinen. So interessant der Einwand darum zunächst klingt, die Zweifel über die Motive der Entfernung des Reiterdenkmals kann er nicht ganz ausräumen.
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7 Fazit Auf der Ebene der Sprachoberfläche konnten deutlich Unterschiede bei der Verwendung bestimmter Keywords und deren Referenz festgestellt werden. Die Referenz auf Deutschland in seinen verschiedenen historischen Ausprägungen deutet dabei an, dass die englischsprachigen Korpustexte in den meisten Fällen eine Reaktion auf die Beschwerden der deutschnamibischen Interessensvertretungen waren. Zudem wurde deutlich, dass die Verwendung von Kontrastkonnektoren sich im englischen und deutschen Untersuchungskorpus in Zahl und Auswahl stark unterscheidet. Die inhaltlich analysierten Beispiele haben insofern mehr Übereinstimmung gezeigt, als die meiste Kritik sich sowohl im englischsprachigen als auch im deutschsprachigen Teilkorpus darauf konzentriert, entweder das Vorgehen der Regierung oder die Handlungen der Akteursgruppe der Deutschnamibier zu verurteilen. Inhaltliche Kritik an den Statuen, die nun das Reiterdenkmal teilweise ersetzt haben sowie am grundsätzlichen Denkmalkonzept der namibischen Regierung (oder genauer: der regierenden SWAPO), ist dagegen selten. Damit bleibt die Kritik sehr stark auf die zum Jahreswechsel 2013/2014 aktuelle Lage begrenzt. Offensichtlich haben nur wenige der beitragenden Akteure eine Chance gesehen, Kritik am grundsätzlichen Denkmalkonzept der namibischen Regierung zu äußern, die nicht nur die Umsetzung des Reiterdenkmals umfasst, sondern eine Reihe von neuen Erinnerungsorten schafft, wie etwa das Independence Memorial Museum. Das Independence Memorial Museum wird zwar in den deutschsprachigen und vor allem in den englischsprachigen Beiträgen signifikant häufig erwähnt, es wird aber nur selten nach seiner inhaltliche Ausrichtung oder dem bis zu seiner Eröffnung kaum bekannten Konzept gefragt. Damit steht der in der namibischen Öffentlichkeit geführte Diskurs in starkem Kontrast zum wissenschaftlichen Diskurs (vgl. z. B. Kößler 2005, Zeller 2007/2016), der zwar nicht einer korpusbasierten Diskursanalyse unterzogen wurde, aber zum Sammeln von Hintergrundinformationen vom Autor rezipiert wurde. Fokus der Kritik ist hier vor allem das offizielle Geschichtsbild, das die Regierung Pohamba wie auch die Nachfolgeregierung in Namibia zu propagieren versucht, „nach dem die neue Nation im Streben nach gemeinsamen Werten […] geformt wird und etwa im nationalen Befreiungskampf diesen Zusammenhang begründet und bekräftigt“ (Kößler 2005: 49). Diesen gemeinsamen Wert stellt in Namibia zweifelsohne die Unabhängigkeit dar, zumindest für den Großteil der Bevölkerung; eine Ausnahme bilden hier wohl aufgrund der historischen Konstellation die Deutschnamibier. Das wird auch in den im Korpus analysierten Texten deutlich. Vielleicht ist darum
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auch die Erwartung, dass die Diskussion und Aufarbeitung des dunklen Kapitels des Kolonialismus in den ehemaligen Kolonialgebieten genauso tabulos und selbstkritisch durchgeführt werden muss wie das in den sogenannten Mutterländern gefordert wird (aber nicht notwendigerweise konsequent umgesetzt wird), bereits wieder eine imperialistisch-paternalistische Bevormundung der ehemaligen Kolonialgebiete.
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Donata Weinbach
Appetit auf Afrika Stereotype Bedeutungszuschreibungen am Beispiel von Chakalaka und Joe’s Beerhouse Abstract: The text compares descriptions of food products from a postcolonial point of view and discusses the question how food labels create a meaning based on the example of a crisps flavor. Further, a Namibian restaurant’s website and its menu are examined. How does food appear on the menu? What kind of narrative appears? A postcolonial reading leads through the text by naming concepts of “Africa”-clichés Keywords: discourse analysis, food descriptions, generation of meaning, postcolonial interpretation
1 Einführung Was haben die Gestaltung einer Chipstüte aus einem Supermarkt in Deutschland und die Gestaltung einer Speisekarte des namibischen Restaurants Joe’s Beerhouse gemeinsam? Mit dem ersten Phänomen wird eine extern-eurozentrische Bedeutungszuschreibung (Chipstüte), mit dem zweiten eine interne Bedeutungszuschreibung (Speisekarte) untersucht. Beide teilen ein konstruiertes Bild von Afrika. Im Folgenden werden somit zwei Phänomene verglichen, die Bedeutungszuschreibungen vornehmen und dabei ein stereotypisiertes exotisches Bild von Afrika als konzeptuellem Raum entwerfen.
2 Chakalaka – Willkommen in Afrika „Chakalaka“: die „Würze Afrikas“ – das steht auf einer Tüte Chips geschrieben, die es aktuell in deutschen Supermärkten zu kaufen gibt. Der Aufdruck auf der Tüte zeigt in auffallend breiten rot-braunen Buchstaben die Sortenbezeichnung
|| Donata Weinbach: Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften, Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal. E-Mail: [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110561210-275
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Chakalaka, hinterlegt mit schwarz-weißen Streifen, die das Fell eines Zebras symbolisieren. Darunter steht in Weiß die Erläuterung: „Würze Afrikas“. Die Konturen der Buchstaben von Chakalaka sind weiß, die Konturen von Würze Afrikas spiegeln das Farbmotiv. Auffallend ist die Vignettierung des Ausschnitts, durch die die Bildmitte mit der Schrift sowie zwei bunt bemalte DipSchalen betont werden, der Zebra-Hintergrund erscheint zurückgesetzt.
Abbildung 1: Funny frisch: Chipsfrisch – Chakalaka (http://www.funny-frisch.de/produkte/ chipsfrisch/chakalaka.html, Zugriff: 24.02.2015).
Welches stereotype Konzept von Afrika wird hier konstruiert? Dieser Frage wird im Folgenden mit einer text-linguistischen, -analytischen sowie bildkompositorischen Einzelbetrachtung nachgegangen. Bestellt man im südlichen Afrika ein Gericht namens Chakalaka, so erhält man meist eine rote, scharfe Soße, manchmal mit Gemüse, manchmal mit Reis oder Brot. Somit beschreibt Chakalaka am ehesten einen scharfen Geschmack, genauer allerdings lässt es sich aufgrund großer Variationen nicht bestimmen. Welche Folgen hat dies für Afrika-Bilder, die in den Medien (und Köpfen) zirkulieren, und wie spiegelt die Produktgestaltung diese Bilder bzw. in welcher Weise ist sie gleichzeitig auch eine zustimmende Reaktion auf solche Bilder?
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Sawubona! Willkommen in Afrika – der Welt der Savanne, des Abenteuers und leckerer Spezialitäten. Chipsfrisch Chakalaka lädt alle Abenteurer auf eine aufregende Entdeckungsreise ein! So schmeckt die Würze Afrikas – temperamentvoll scharf und sinnlich süß. Auf geht’s: CHAKALAKA!
Auf der Rückseite der Verpackung befindet sich diese detaillierte Produktbeschreibung. Der Text begrüßt mit „Sawubona!“ einer Grußformel auf isiZulu, die übersetzt „Guten Tag“ bedeutet. Darauf folgt: „Willkommen in Afrika – der Welt der Savanne, des Abenteuers und leckerer Spezialitäten“ – eine direkte Anrede wird vermieden, allerdings wird auf eine Mehrzahl von Adressaten verwiesen. „Alle Abenteurer“ werden in „Afrika“ willkommen geheißen. Das nunmehr als Raum aufgefasste Konzept Afrika wird im Folgenden mit drei Attributen genauer bestimmt: „Afrika“ sei eine „Welt“ gekennzeichnet durch „Savanne“, „Abenteuer“ und „Spezialitäten“. Anhand des geographischen Merkmals „Savanne” ist davon auszugehen, dass das hier entfaltete Konzept Afrika gleichgesetzt wird mit Subsahara-Afrika, der nördliche Teil wird ganz ausgegrenzt. Abenteurer sind eingeladen, diese Welt zu entdecken. Die Entdeckung erfolgt hierbei über eine durch Geschmack erfahrbare Reise: „So schmeckt die Würze Afrikas – temperamentvoll scharf und sinnlich süß. Auf geht’s: CHAKALAKA!“ (funny-frisch.de, Zugriff: 21.10.2016). Die Würze des beschriebenen Raumes schmeckt nach ihren Attribuierungen, die in der folgenden Spezifizierung gustatorisch bestimmt werden. Die „Würze Afrikas“ sei demnach „temperamentvoll scharf“ und „sinnlich süß“. Die Kombination von zwei unterschiedlichen semantischen Feldern – nämlich zum einen dem der Charakterbeschreibungen („sinnlich“, „temperamentvoll“); zum anderen dem möglicher Geschmacksbeschreibungen („scharf“, „süß“) – erzeugt unterschiedliche Konnotationen: Der Raum Afrika wird gleichgesetzt mit seiner Würze, die „temperamentvoll“ und „sinnlich“ sei. Diese Anthropomorphisierung versieht den konstruierten Raum mit exotisierenden Eigenschaften. Hinzu kommt eine erotische Konnotation. Damit vollzieht der Text eine Reduktion auf Metaphern, die mit einem Charakterisierungskonzept korreliert werden. Die Attribuierung spricht dem hier entfalteten Raum Afrika ein zivilisatorisches Signum ab und beschreibt ihn in diesem Zuge mit den beiden räumlichen Figuren, der Savanne und des Abenteuers, zwei Attribute, die das nicht-zivilisatorische verstärken und stattdessen Konnotationen wie Weite, Einöde (→ Savanne) sowie Wildnis, Tiere und Gefahren (→ Abenteuer) aktivieren. Folglich werden hier Konzepte (re-)aktualisiert, deren Indices auf Exotik verweisen. Mit Blick auf die Kommunikationssituation des Textes lässt sich herausarbeiten: Es gibt einen Sprecher, der dem Konsumenten verspricht, durch das Verspeisen der Chips eine Reise zu erleben. Man
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könnte behaupten, die eigentliche Reise in eine Ferne wird durch das Konsumieren der Chips ersetzt und als tatsächliche Unternehmung somit redundant. Durch die „Würze Afrikas“ ist es möglich, ein Abenteuer (qua Einverleibung) zu erleben. Hierfür ist es Voraussetzung, „Abenteurer“ zu sein („Chipsfrisch Chakalaka lädt alle Abenteurer ein ...“) bzw. nur „Abenteurer“ sind angesprochen. Zudem ist eine zweite Lesart möglich: der Aspekt der Einverleibung lässt den Gedanken zu, dass durch das Verkosten eine (Ver-)Wandlung vollzogen werden kann. Subtext: Wer sich tatsächlich traut, die „Würze Afrikas“ zu kosten, wird (automatisch) ein Abenteurer. Der hier konzipierte Raum namens Afrika wird transportabel gemacht. Es wird impliziert, dass die extrahierte Würze dieses Raumes dem/der Speisenden die Erfahrung ermöglicht, die man in dem gleichnamigen realen Raum selbst machen könnte. Die „Würze Afrikas“ ersetzt somit das Betreten eines topographischen Afrikas. Süße und Schärfe als Korrelate dieser Würze verweisen auf zwei gustatorische Topoi dieses Afrikas. Für diese Mobilisierung des Raumes Afrika qua Chipstüte kann die mit Russell (1911) vorgenommene Unterscheidung von Wissenstypen, die von Spitzmüller & Warnke (2011) aufgegriffen wird, aufschlussreich sein: Demnach beruhe „knowledge by acquaintance“ „auf einer unmittelbaren kausalen Interaktion zwischen Wissenssubjekt (jemand, der etwas weiß) und Wissensobjekt (das, worüber etwas gewusst wird) [...]” (vgl. Spitzmüller & Warnke 2011: 42). Erfährt man Wissen allerdings nicht unmittelbar, sondern teilt es ohne eigene Erfahrung, dann lässt sich von „knowledge by description“ sprechen (vgl. Spitzmüller & Warnke 2011: 42). Und um Letzteres handelt es sich – ganz im Sinne diskursiver Produktion – in diesem Fall: Der Kunde muss nicht mehr selbst nach Afrika fahren, sondern bekommt ein über die Chipsproduzenten vermitteltes Bild von „Afrika“. Hierbei werden Wissensinhalte ausgewählt bzw. festgelegt, die dieses Konzept anfüllen. Was genau das Wort Chakalaka eigentlich bedeutet, wird aus dem vorliegenden Text nicht ersichtlich. Der Text schließt mit einem adhortativen „Auf geht’s“, worauf „Chakalaka“ folgt, so als sei dies die Übersetzung des Aufrufs oder aber ein Aufruf, der den adhortativen Charakter unterstreicht. Die Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika war ein Katalysator für exotische „Afrika“-Repräsentationen in Schrift-, Aufdruck- und Bildform. Chakalaka nahm dabei eine prominente Position ein: Der Ausdruck wurde für die Vermarktung von Chipstüten, Fertiggerichten, Fertigsoßen und anderen Produkten verwendet und fand so seinen Weg in die Supermärkte des globalen Nordens. Er trug damit signifikant zur exotischen Konnotation des Austragungsorts Südafrika bei.
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Bei dem Wort Chakalaka handelt es sich um eine Wortneubildung. Laut Wikipedia ist der Name Chakalaka dem Setswana zuzuordnen, eine in Botswana und Südafrika verbreitete Bantusprache.1 Dies ist allerdings nicht belegt. Nach Klein-Arendt handelt es sich wahrscheinlich um ein Kunstwort2 – solche, so Klein-Arendt, kursieren zahlreich in südafrikanischen Bantusprachen. Es handelt sich um die jeweilige Imitation einer oder mehrerer Sprachen, durch Kombination unterschiedlicher Entlehnungen. Eindeutig kann Chakalaka also keiner afrikanischen Sprache zugerechnet werden. Um nichts weniger lässt sich genau daran etwas sehr Bezeichnendes feststellen: Dem Klang nach handelt es sich um ein afrikanisches Wort. Die Lautung des „ch“ [tᶴ] in Chakalaka ist aller Wahrscheinlichkeit nach Nguni-Ursprungs (nach linguistischen Aspekten zusammengefasste Gruppe verschiedener Bantu-Sprachen im Süden Afrikas).3 Außerdem erinnert die Wiederholung des Plosivs [k] in -aka und -laka an die Khoisan-Sprachen. Chakalaka besteht aus einer Reimverdoppelung (-chaka und -laka): Silben werden verdoppelt und nur der anlautende Konsonant wird abgewandelt. Vergleichbare Bildungen im Deutschen sind Kuddelmuddel, Hokuspokus, Techtelmechtel, Hottentotten4. All diese Bildungen haben im Deutschen meist einen pejorativen Charakter „Gemeinsam ist ihnen [= den Reimdoppelungen] der überwiegend pejorative Charakter, d. h., Doppelstrukturen dieser Art sind zumeist pejorativ besetzt” (Lohde 2006: 44). Für afrikanische Sprachen muss die Beschreibung Lohdes nicht zutreffen, allerdings richtet sich Chakalaka in diesem Fall an deutschsprachige Leser und deren intuitives Sprachgefühl. Zu Lohdes Aussage muss hinzugefügt werden, dass die Reimdopplungen von Chakalaka in ihrem nicht pejorativen Sinn als Vermarktungsstrategie fungieren. Man vergleiche in diesem Zusammenhang auch das zu Zeiten der Fußballweltmeisterschaft 2010 kursierende Lied der Popmusikerin Shakira „Waka Waka (This Time for Africa)“. Es weist eine parallele Struktur auf und erfüllt eine vergleichbare Funktion: Es ist einprägsam und leicht rezitierbar. Das bantu-
|| 1 http://de.wikipedia.org/wiki/Chakalaka (Zugriff: 21.10.2016). 2 Diese Aussage geht auf einen Emailkontakt zwischen der Autorin und Klein-Arendt vom 22.10.2013 zurück. 3 Diese Analyse deckt sich mit der Aussage von Klein-Arendt, dass “die unterschiedliche Lautung, (…) bestimmten südafrikanischen Bantusprachen zurechenbar” ist (Klein-Arendt, p.c.). 4 Das Beispiel Hottentotten unterstreicht die Annahme Klein-Arendts. Nach Kliewer sei dies “der europäische Versuch (…) diese Sprachen nachzuahmen“. Das komplexe Feld der Selbstund Fremdbezeichungen dieser Gruppen werde dabei ignoriert. Vgl. Kliewer (2012) und Arndt (2004).
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sprachliche Wort bedeutet übersetzt „Auf gehts“ und stammt aus einem kamerunischen Militärmarsch von 1987 (sueddeutsche.de, Zugriff: 12.04.2016). Da das Chakalaka-Gericht, wohlgemerkt in unterschiedlichsten regionalen Ausprägungen, sehr populär ist, haben viele südafrikanische Sprachgemeinschaften das Wort lautlich assimiliert. Es lässt sich zusammenfassen, dass der Gebrauch des Wortes variiert und seine Bedeutung meist mit Schärfe oder mit auffallend roter Farbe assoziiert wird. Der Zebra-Hintergrund und die zwei Tonschalen im Vordergrund verweisen auf ein Afrika-Narrativ. Ein diskurslinguistischer Zugriff erfordert zudem einen Blick auf die Diskursakteure, die „als Scharnier zwischen Einzeltexten […] und transtextueller Ebene“ fungieren (Spitzmüller & Warnke 2011: 136–137). Im Rekurs auf den Foucaultschen Diskurs wird der zentrale Ausgangspunkt der Diskursanalyse mit folgenden Fragen flankiert: „Wer spricht? Wer in der Menge aller sprechenden Individuen verfügt begründet über diese Art von Sprache? Wer ist ihr Inhaber?“ (vgl. Foucault 1973: 75). Ausgangspunkt ist die Annahme, dass der vorliegende Text mindestens einen Sprecher hat, nach dem gefragt werden kann. Konfrontiert man den Text der Chipstüte mit der Frage nach den Diskursakteuren, so ergibt sich daraus folgendes: Gesprochen wird von den Herstellern des Produkts. Die Firma ist in Deutschland angesiedelt und produziert dort. Textintern allerdings gibt es einen Sprecher, der in einem apostrophischen Duktus den imaginären Konsumenten zum Verzehr ermuntert. Mit der Frage, wer spricht, geht die Frage einher, wer nicht spricht. Hier sind es Akteure des globalen Nordens, die auf einen Raum („Afrika“) verweisen, von dessen Seite zunächst in diesem Text keine Stimme zu vernehmen ist. Allerdings ist unklar, wer „Sawubona“ sagt. Die Sprechsituation stellt sich an dieser Stelle wie folgt dar: Der Hersteller kommuniziert über die Produktgestaltung mit dem Konsumenten. Er lädt alle Abenteurer ein, sich „Afrika“ in Form von Chips einzuverleiben.
3 Perspektivwechsel – Willkommen in Joe’s Beerhouse Joe’s Beerhouse ist ein bekanntes Restaurant in der namibischen Hauptstadt Windhoek. Als Siedlungskolonie des Deutschen Reichs wurde das damalige Deutsch-Südwestafrika (1884–1919) von verschiedenen Traditionen und Kulturpraktiken geprägt. Heute leben ungefähr 20.000 Personen mit Deutsch als
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Muttersprache in Namibia. Seit der Unabhängigkeit 1990 gilt Deutsch als Minderheitensprache und teilt sich mit Otjiherero, Oshivambo, Afrikaans und weiteren Sprachen den Status der Nationalsprache. Die Amtssprache des Landes ist Englisch. Im Kontext der Entwicklung dieser sprachlichen Situation wurde die Bezeichnung Namibiadeutsch geprägt, mit der sich eine kleine Gruppe von Sprechern identifiziert. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Joe’s Beerhouse, wie im Folgenden gezeigt wird, eine unter anderem auf Deutsch verfasste Speisekarte präsentiert, die sich über die Webseite des Restaurants5 abrufen lässt (siehe Abb. 2). Hinzu kommt, dass die vielen deutschen Touristen, die nach Namibia reisen, bedient werden. Überdies erhält man darüber verschiedene Einblicke in das Lokal.
Abbildung 2: Webseite von Joe’s Beerhouse: Eröffnungsseite, http://www.joesbeerhouse.com/ home.html, Zugriff: 26.02.2015).
|| 5 Alle im Folgenden vorgenommenen Analyseinhalte beziehen sich auf die Webseite des Restaurants Joes Beerhouse, Stand: Feburar 2015. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Seite regelmäßig überarbeitet wird und somit sowohl Inhalt als auch Darstellung einer ständigen Veränderung unterzogen sind. Die hier dargestellten Analyseinhalte werden durch Abbildungen ergänzt.
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Durch das Zusammenspiel von Hintergrundbild, der Farbgebung und dem sprachlichen Motto „Live the legend“ ergeben sich folgende Konnotationen: Es gibt eine Geschichte (Legende). Das Restaurant ermöglicht die Erfahrung dieser Geschichte. Zusätzlich umreißt ein kurzer Text auf der Webseite das Profil des Restaurants: „Stumble across an oasis in a land of contrast, a retreat of wholesome, Namibian and German food“. Joe’s Beerhouse wird laut dieser Beschreibung raumsemantisch mit einer Oase der Ruhe in einem Land der Gegensätze gleichgesetzt. Die Anreicherung der Darstellung mit harmonischen Bildern des Rückzugs, der Gemütlichkeit im Gegensatz zu Kontrasten, die sich in einem Außen, also außerhalb des Restaurants, zu befinden scheinen, unterstreicht diese Lesart. Die Beschreibung speist weiterhin die Gegensätzlichkeit der beiden Räume, basierend auf einem geordneten Innen und einem ungeordneten Außen. Diese Dichotomie findet sich auch an anderer Stelle wieder. Weiterhin wird zwischen zwei Bereichen, „namibisch“ und „deutsch“, differenziert. In Joe’s Beerhouse wird „Namibian and German food“ (namibische und deutsche Speisen) angeboten. Was bedeutet die Trennung dieser Bereiche? Welche Gerichte auf der Speisekarte sind hier dem Bereich des „Namibian“, welche dem des „German food“ zuzuordnen? Die einleitende Erzählung wird fortgeführt: „A sanctuary of endless relics, they are the storytellers of Joe and his countless travels”. Der Ort scheint auf mystisch-geheimnisvolle Weise um die Figur Joe und seine „unzähligen Reisen“ zu kreisen. Der Sprecher des Textes ist vermutlich nicht Joe selbst, aber ihm wird der gesamte Raum gewidmet. Die mystische Aufladung des Raumes entsteht durch Reliquien, Zeugnisse seiner Reisen, denen die Eigenschaft zugesprochen wird, Geschichten zu erzählen. Die Erzählung mündet in die Aufforderung: „Give into African time. Take a seat at the bar, the night is still young ...“. In diesem letzten Abschnitt soll nur noch auf die adhortative Äußerung eingegangen werden, sich der (bzw. dem Konzept einer) „afrikanischen Zeit“ hinzugeben. Hierin werden pragmatische Inferenzen6 weitergegeben: Das Sprechen von einer „afrikanischen Zeit“ setzt
|| 6 Die Funktion von „pragmatischen Inferenzen“ beschreiben Spitzmüller & Warnke (2011: 149) wie folgt „Hinweise darauf, dass auch Diskurse als (zumindest partiell) kohärente Strukturen beschreibbar sind, geben voraussetzbare und ergänzbare Inhalte im Sinne pragmatischer >Inferenzen