Der Rhythmus in der Rede: Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus [Reprint 2012 ed.] 9783110938449, 9783484220591

The traditional concept of rhythm equates it with metre and consequently separates off rhythm from meaning, the subject,

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German Pages 260 [264] Year 1999

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Table of contents :
0 Einleitung
1 Zur Rhythmustheorie von Henri Meschonnic
1.1 Theorie und Praxis im Werk Meschonnics
1.2 Der Ausgangspunkt: Das Gedicht als Kritik des Zeichens
1.3 Die Entdeckung des vorplatonischen Rhythmusbegriffs
1.4 Das Metrum vom Rhythmus aus gesehen
1.5 Der Rhythmus empirisch: die Bibelübersetzung
1.6 Der Rhythmus als sprachtheoretisches Konzept
2 Die Rhythmusfrage in der deutschen Metrik
2.1 Rhythmus als Schallform und Takt
2.2 Der Rhythmus und die Sprachstruktur
3 Die Suche nach dem Metrum in der Sprache
3.1 Das rhythmische Ideal der Akzentalternanz
3.2 Die Akzentalternanz im Deutschen
3.3 Die Erfindung der Isochrome
3.4 Sprachrhythmus und abgeschwächte Isochrome bei Auer und Couper-Kuhlen
4 Der Rhythmus des Unheimlichen im Erlkönig
4.1 Warum der Erlkönig?
4.2 Der Rhythmus des Unheimlichen im Erlkönig
5 Die Sterntaler – Der Rhythmus eines Prosatextes
5.1 Sprecher- oder Textrhythmus?
5.2 Das Märchen von der Selbstaufopferung
5.3 Die Kinder- und Hausmärchen und die Entstehung des Sterntalermärchens
5.4 Der Rhythmus als Bedeutungsweise in Die Sterntaler
6 Die Metrisierung des Rhythmus bei Benn
6.1 Eine Poetik ohne Ethik?
6.2 Zu Situation und Kontext des Gedichtes
6.3 Die metaphorische Auflösung des Schmerzes
6.4 Syntaktische Reihung und statische Zeitlichkeit
6.5 Die prosodische Auflösung des Du
6.6 Die Metrisierung des Rhythmus
6.7 Der Rhythmus des Rausches bei Benn
7 Zusammenfassung
8 Literatur
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Der Rhythmus in der Rede: Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus [Reprint 2012 ed.]
 9783110938449, 9783484220591

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Peter Eisenberg und Helmuth Kiesel

Hans Lösener

Der Rhythmus in der Rede Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lösener, Hans : Der Rhythmus in der Rede : linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus / Hans Lösener. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ; 59) ISBN 3-484-22059-7

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Danksagung

Dieses Buch ist aus der Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Henri Meschonnic entstanden. Wenn es Neugierde zu wecken vermag, das Werk Meschonnics selbst kennen zu lernen, so wäre schon eines seiner Ziele erreicht. Daß es geschrieben werden konnte, verdanke ich denjenigen, die in zahlreichen Diskussionen und Gesprächen mit ihrer Kritik und ihren Ratschlägen dazu beigetragen haben, daß es in der vorliegenden Gestalt veröffentlicht werden konnte. Namentlich danken möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Jürgen Dittmann, Herrn Prof. Dr. Carl Pietzcker und seinem Graduiertenkolloquium, Frau Dr. Yvonne Domhardt, Peter Haug, Johannes Herlyn, Richard Lippmann und Georg Sachse vom phonetischen Institut in Köln.

Inhalt

0 Einleitung

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1 Zur Rhythmustheorie von Henri Meschonnic 1.1 Theorie und Praxis im Werk Meschonnics 1.2 Der Ausgangspunkt: Das Gedicht als Kritik des Zeichens . . . 1.3 Die Entdeckung des vorplatonischen Rhythmusbegriffs . . . . 1.4 Das Metrum vom Rhythmus aus gesehen 1.5 Der Rhythmus empirisch: die Bibelübersetzung 1.6 Der Rhythmus als sprachtheoretisches Konzept 1.6.1 Den Rhythmus definieren 1.6.2 Benvenistes Theorie der Rede 1.6.3 Saussure und der Wert-Begriff bei Meschonnic 1.6.4 Humboldts Konzeption der Jedesmaligkeit der Sprache

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2 Die Rhythmusfrage in der deutschen Metrik 2.1 Rhythmus als Schallform und Takt 2.1.1 Sievers schallanalytische Methode 2.1.2 Sarans Vortragsmetrik 2.1.3 Heuslers Taktmetrik 2.1.4 Elemente einer metrischen Anthropologie 2.1.5 Wolfgang Kay sers rhythmische Typenlehre 2.2 Der Rhythmus und die Sprachstruktur 2.2.1 Die Poetisierung des Metrums bei Christoph Küper 2.2.2 Der Rhythmus in Barschs generativer Metrik

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3 Die Suche nach dem Metrum in der Sprache 3.1 Das rhythmische Ideal der Akzentalternanz 3.2 Die Akzentalternanz im Deutschen 3.3 Die Erfindung der Isochrome

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Vili 3.4 Sprachrhythmus und abgeschwächte Isochronie bei Auer und Couper-Kuhlen 3.4.1 Rhythmustheorie als Kritik des strukturalistischen Sprachbegriffs 3.4.2 Der Rhythmus zwischen sprachlicher und perzeptueller Realität 3.4.3 Zur Methode der Isochroniemessung 3.4.4 Isochrome und Semantik

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4 Der Rhythmus des Unheimlichen im Erlkönig 113 4.1 Warum der Erlkönig ? 113 4.1.1 Die Eliminierung des Rhythmus in der £r/Aö«ig-Rezeption 114 4.1.1.1 Rupert Hirschenauer: Die Substitution des Rhythmus durch die Deutung 114 4.1.1.2 Formen der mimetischen Projektion 119 4.1.2 Die Varianten des Vater-Sohn-Dualismus 123 4.1.2.1 Der Erlkönig als Aufklärungsballade 123 4.1.2.2 Der Erlkönig als naturmagische Ballade 126 4.2 Der Rhythmus des Unheimlichen im Erlkönig 129 4.2.1 Zur Entstehung des Textes: Der Erlkönig von Herder zu Goethe 129 4.2.2 Eine Annäherung an den Rhythmus im Erlkönig . . . 136 4.2.2.1 Zur Naturmetaphorik 138 4.2.2.2 Die Wertigkeit der Interrogativsätze 138 4.2.2.3 Die Verszäsur 139 4.2.2.4 Die Bedeutungsweise der Silbenvarianz 141 4.2.2.5 Die Rhythmisierung des Metrums 143 4.2.2.6 Prosodische Figuren der Vater-Erlkönig-Kontinuität 149 5 Die Sterntaler - Der Rhythmus eines Prosatextes 5.1 Sprecher-oder Textrhythmus ? 5.2 Das Märchen von der Selbstaufopferung 5.3 Die Kinder- und Hausmärchen und die Entstehung des Sterntalermärchens 5.3.1 Die Kinder- und Hausmärchen als Volkspoesie 5.3.2 Jacob und Wilhelm Grimms Konzeptionen der Volkspoesie

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EX 5.3.3 Zur Entstehung des Textes Die Sterntaler 5.4 Der Rhythmus als Bedeutungsweise in Die Sterntaler 5.4.1 Die Bildung rhythmischer Themen durch dieAkzentik 5.4.2 Die prosodische Vernetzung der Aktanten 5.4.3 Die rhythmische Wertigkeit der Lexik 5.4.4 Syntagmatische Figuren des Bitten-Geben-Motivs 5.4.5 Vom Rhythmus eines Textes zum Rhythmus des Werkes

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6 Die Metrisierung des Rhythmus bei Benn 6.1 Eine Poetik ohne Ethik? 6.2 Zu Situation und Kontext des Gedichtes 6.3 Die metaphorische Auflösung des Schmerzes 6.4 Syntaktische Reihung und statische Zeitlichkeit 6.5 Die prosodische Auflösung des Du 6.6 Die Metrisierung des Rhythmus 6.7 Der Rhythmus des Rausches bei Benn

195 195 200 203 209 213 222 229

7 Zusammenfassung

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8 Literatur

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0 Einleitung

Die Frage nach dem Rhythmus in der Sprache, nach dem, was sich in unserer Auffassung von der Sprache ändert, wenn man beginnt, die Sprache vom Rhythmus her zu denken, diese Frage steht im Zentrum der Sprachtheorie von Henri Meschonnic. Da sein Werk in Deutschland noch kaum rezipiert ist,1 sei zunächst die sprachtheoretische Ausrichtung der vorliegenden Untersuchung kurz umrissen. Es geht bei der hier aufgeworfenen Frage nach dem Rhythmus in der Sprache um die Beziehung zwischen Subjekt und Sprache und um die Möglichkeit, die Subjektivierung der Sprache, wie sie sich in jeder Sprachäußerung vollzieht, linguistisch beschreibbar zu machen. Das Subjekt droht dort aus dem Blick zu geraten, wo die Sprache nur als Struktur betrachtet und auf Strukturen reduziert wird. Einen zentralen Aspekt dieser Reduzierung stellt das Kompositionalitätsprinzip dar, also die Zuriickfiihrung des Sinns auf die Sprachstruktur, wie sie sich etwa bei Umberto Eco findet. Für Eco ist der Sinn keine Eigenschaft des Textes, sondern des Codes, der im Text verwendet wird. Der Code enthält schon die Summe der möglichen Bedeutungen.2 Da der Code den Sinn hervorbringt, ist kein Platz mehr für das Subjekt, das Eco daher ausdrücklich aus dem Erkenntnisinteresse der Semiotik ausschließt.3 Die Ausklammerung des Subjekts durch die Verle-

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Der erste Aufsatz über Meschonnic in Deutschland stammt von Jürgen Trabant (1990). 1999 wird in der Zeitschrift Kodikas/Code ein Aufsatz von Achim Geisenhanslüke zur Poetik Meschonnics erscheinen. Für eine eingehendere Beschäftigung mit Meschonnics Arbeiten muß auf die französischen Orginalausgaben verwiesen werden, da bislang noch keine deutschsprachige Übersetzung seiner Bücher vorliegt. „Ein Code als langue muß deshalb als Summe von Vorstellungen [...] aufgefaßt werden, die man als Kompetenz des Sprechers betrachten kann." (Eco 1991: 179). Das Subjekt muß bei Eco „als Element des übermittelten Inhalts gelesen oder interpretiert werden. Jeder andere Versuch, eine Betrachtung des Subjekts in den semiotischen Diskurs einzuführen, würde die Semiotik eine ihrer »natürlichen« Grenzen überschreiten lassen." (a.a.O., 399f.). Das Subjekt kann für Eco nur Teil des Codes selbst sein, ein Signifikat, aber keine Signifikationsinstanz.

2 gung des Sinns in den Code und die Sprachstruktur findet sich auch bei anderen Semiotikem.4 Dieter Janik betont, daß sich die Rolle des Subjekts bei der Bedeutungskonstitution auf die Selektion vorgegebener Inhalte beschränken muß.5 Varianten des semantischen Kompositionalitätsprinzips begegnet man auch in der kognitiven Linguistik, etwa bei Ray Jackendoff (1992 und 1994) oder bei Steven Pinker (1994), wo jeweils an die Stelle der einzelsprachlichen eine universelle Struktur tritt, die die Bedeutung des Subjekts für die Sinnkonstituierung minimiert. Bei Pinker zeigt sich, daß mit dem Verschwinden des Subjekts sich auch die anthropologische Dimension der Sprache auflöst: Das Netz der Spinne und die Sprache des Menschen werden von Pinker auf die gleiche Stufe gestellt und als Phänomene begriffen, die sich nur durch den Grad ihrer genetischen Komplexität unterscheiden lassen.6 Eine Möglichkeit, die Subjektivität der Sprache in die sprachtheoretische Reflexion einzubeziehen, eröffnet sich dort, wo die Sprache von der Rede her gedacht und damit als Tätigkeit eines Subjekts wiederentdeckt wird, wie dies in vielleicht einzigartiger Weise bei Wilhelm von Humboldt der Fall ist.7 4

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Etwa bei Walter A. Koch („Poetische Strukturen sind letztlich im Code zu lokalisieren und nicht im Text", Koch 1981: 45), bei Wolfgang U. Dressler, der die Textperformanz als Realisierung der Sprachnormen definiert (Dressler 1989: 11) oder bei Michael Müller und Hermann Sottong, die Zeichen als „Objektivationen sozialer Tätigkeiten" definieren und unterstreichen, daß deshalb subjektive Momente für die Kommunikation (den Zeichenaustausch) nicht relevant seien (Müller/Sottong 1993: 23). „Die Freiheit des Autors, über die Bedeutungen einer Sprache zu verfügen, ist nämlich keine unbeschränkte Freiheit, sondern eine Wahlfreiheit. Er kann zwar beliebige Auswahlentscheidungen treffen, aber nur aus der Zahl der durch die Sprache jeweils vorgegebenen Möglichkeiten." (Janik 1985: 80). „[...] some cognitive scientists have described language as a psychological faculty, a mental organ, a neural system, and a computational module. But I prefer the admittedly quaint term »instinct«. It conveys the idea that people know how to talk in more or less the sense that spiders know how to spin webs [...]. Although there are differences between webs and words, I will encourage you to see language in this way [...]." (a.a.O.). (Pinker 1994: 18). Die Bedeutung Humboldts als Sprachwissenschaftler läßt sich erst ermessen, wenn man die im Nachlaß erhaltenen Arbeiten berücksichtigt, deren Veröffentlichung noch lange nicht abgeschlossen ist: „Die im Nachlaß erhaltenen Materialien dokumentieren mit überwältigender Beweisfülle, wie die Humboldtsche Sprachtheorie, von Anfang an mit dem Studium bestimmter Sprachen verbunden, sich entfaltet hat: vom Griechischen über das Baskische, die Eingeborenen-Sprachen

3 Die Begründung einer redeorientierten Sprachtheorie geht bei Humboldt Hand in Hand mit einer Kritik der Reduzierung der Sprache auf einen Zeichencode,8 auf ein reines Mittel der Kommunikation9 und auf eine Ansammlung von „Wörtern und Regeln": Gerade das Höchste und Feinste läßt sich an jenen getrennten Elementen nicht erkennen und kann nur (was um so mehr beweist, daß die eigentliche Sprache in dem Akte ihres wirklichen Hervorbringens liegt) in der verbunden Rede wahrgenommen oder geahndet werden. (Humboldt 1835: 36f.)

Humboldt versteht die Sprache nicht als Struktur, sondern als „verbundene Rede", als Jedesmaliges Sprechen" (a.a.O., 36), und damit als Tätigkeit eines Subjekts, als „Energeia" (a.a.O.), in der sich die unendliche Vielfalt des Geschichtlichen, die „anfangs- und endlose Unendlichkeit" der Sprache (a.a.O., 56), immer wieder neu manifestiert. Durch die Betonung der Jedesmaligkeit der Sprache könnten von Humboldt entscheidende Impulse für die Begründung einer Linguistik der parole ausgehen, die Saussure nicht entwickeln konnte und die bis heute zu den großen Herausforderungen der Sprachwissenschaft gehört. Um dem innovativen Potential des Humboldtschen Denkens gerecht zu werden, wird es aber kaum genügen, auf die Humboldt-Rezeption der inhaltsbezogenen Sprachwissenschaft zurückzugreifen. Das zeigt sich wohl nirgends so deutlich wie bei Leo Weisgerber, den die inhaltsbezogene Sprachwissenschaft zur Reinkarnation Humboldts erklärt hat,10 der jedoch Humboldts Energeia-Auffassung in ihr genaues Gegenteil verkehrte, indem er sie zu einer Konzeption der totalen Determi-

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der Neuen Welt, bis zu den Dialekten Polynesiens und den Sprachen des asiatischen Kontinents." (Mueller-Vollmer 1989: 191). In seinen Thesen zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft von 1811 heißt es etwa: „Denn die Sprache ist ein selbständiges, den Menschen ebensowohl leitendes, als durch ihn erzeugtes Wesen; und der Irrtum ist längst verschwunden, daß sie ein Inbegriff von Zeichen von, außer ihr, für sich bestehenden Dingen, oder auch nur Begriffen sei." (Humboldt 1811:13). „Die zunächstliegende, aber beschränkteste Ansicht der Sprache ist die, sie als ein bloßes Verständigungsmittel zu betrachten." (Humboldt 1827: 21). Noch 1986 sagte Helmut Gipper in einer Gedenkrede für Leo Weisgerber: „Wilhelm von Humboldt wurde der Leitstern für das gesamtes Schaffen Leo Weisgerbers. Sein Werk kann als der große Versuch bezeichnet werden, Humboldts wegweisende Gedanken und Entwürfe in konkrete wissenschaftliche Praxis umzusetzen." (Gipper 1989: 15), und an anderer Stelle heißt es: „Weisgerber wird somit zu einem echten Humboldtus redivivus." (a.a.O.,19).

4 nierung des Subjekts durch die Struktur der Muttersprache umdeutete.11 An Humboldts Konzeption der Rede, die bei ihm sowohl die geschriebene als auch die gesprochene Sprache umfaßt,12 knüpft der Titel der vorliegenden Arbeit an: Rede meint hier und im Folgenden also jeden mündlichen oder schriftlichen von einem Sprecher hervorgebrachten Äußerungskomplex von beliebiger Länge; der Begriff umfaßt also gleichermaßen die einzelne Interjektion wie den mehrere hundert Seiten starken Roman. Zu denen, die die Herausforderung angenommen haben, die Humboldts Sprachtheorie impliziert, gehört der französische Sprachwissenschaftler Emile Benveniste, dessen Konzeption der Rede nicht mehr auf die Saussuresche Dichotomie von langue und parole zurückzufiihren ist. Ausgehend von der Beobachtung, daß aus der Beschreibung der langue, also des Sprachsystems, noch nicht die Funktionsweise der Rede (des discours) abgeleitet werden kann, entwickelte Benveniste das Prinzip der doppelten Bedeutungsweise (double signifiance), die ein Wesensmerkmal der menschlichen Sprache gegenüber den reinen Zeichensystemen ist (Benveniste 1969: 63). Mit letzteren teilt die Sprache zwar die semiotische Bedeutungsweise (die Ebene des Zeichens und der paradigmatischen Zeichenrelationen, also der langue). Aber nur in der Sprache findet sich noch eine andere, nämlich die semantische Bedeutungsweise, deren Ebene die des Syntagmas, des Satzes, der Rede und des Sinns ist. Denn der Sinn läßt sich nicht aus der semiotischen Bedeutungsweise zusammensetzen, auch wenn man die Rede selbst wieder in Zeichen zerlegen kann.13 Benveniste betont daher immer wieder den Unterschied zwischen dem Bereich des Semiotischen und dem Bereich des Semantischen: 11

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Im letzten Absatz von Muttersprache und Geistesbildung (1. Aufl. 1929) heißt es: „Das also erscheint mir als das Entscheidende: der Mensch, der in eine Sprache hineinwächst, steht für die Dauer seines Lebens unter dem Bann der Muttersprache, sie ist wirklich die Sprache, die für ihn denkt." (Weisgerber 1941: 164). Zur Humboldt-Rezeption Weisgerbers siehe auch Jürgen Dittmann (1980), Klaus Junker (1986) und Stephan Saffer (1996). Humboldt zeigt am Beispiel der Taubstummen „wie tief und enge die Schrift, selbst wo die Vermittlung des Ohres fehlt, mit der Sprache zusammenhängt." (Humboldt 1835: 61). „[...] le message ne se réduit pas à une succession d'unités à identifier séparément; ce n'est pas une addition de signes qui produit le sens, c'est au contraire le sens (»l'intenté«), conçu globalement, qui se réalise et se divise en »signes« particuliers, qui sont les MOTS." (Benveniste 1969: 64). Alle von mir übersetzten Passagen werden in den Fußnoten im Original wiedergegeben.

5 Tatsächlich bildet die Welt des Zeichens eine in sich abgeschlossene Welt. Vom Zeichen zum Satz gibt es keinen Übergang, weder durch syntagmatische Umformung, noch auf eine andere Weise. Sie sind durch einen Graben voneinander getrennt. Man muß daher zugeben, daß die Sprache zwei unterschiedliche Bereiche enthält, die jeweils ihre eigene Begrifflichkeit verlangen.14 Die grundlegenden Erkenntnisse über die Subjektivität in der Sprache, die Benveniste zu verdanken sind (z.B. Benveniste 1958, 1965), wären ohne die Hinwendung zur Spezifik der Rede nicht möglich gewesen. Meschonnic verdankt Benveniste aber nicht nur seine Konzeption der Rede, sondern auch die Entdeckung der vorplatonischen Bedeutung des Begriffs rhythmos. Diese ältere Bedeutung von rhythmos (vor der Gleichsetzung von Rhythmus und Metrum bei Plato), nämlich als „veränderliche Anordnung" und als „improvisierte, augenblickliche Form", greift Meschonnic auf, um eine Theorie zu entwickeln, in deren Mittelpunkt die Kontinuität von Sprache, Sinn und Subjekt steht: Ausgehend von Benveniste, kann der Rhythmus nicht mehr eine Unterkategorie der Form sein. Er ist eine Gestaltung (Anordnung, Konfiguration) eines Ganzen. Wenn der Rhythmus in der Sprache ist, in einer Rede, dann ist er eine Gestaltung (Anordnung, Konfiguration) der Rede. Und da die Rede sich nicht von ihrem Sinn trennen läßt, läßt sich der Rhythmus nicht vom Sinn dieser Rede trennen.15 Der Rhythmus wird also bei Meschonnic nicht mehr über ein formales, z.B. metrisches, Prinzip definiert und kann somit als semantisches Prinzip verstanden werden, als die jeweilige Bedeutungsweise der Rede. Der Rhythmus als Bedeutungsweise läßt sich dann nicht mehr auf eine Struktur zurückführen, er existiert nur in der konkreten Rede 16 und ist damit so vielfaltig, unvorhersehbar und jedesmalig wie der Sinn selbst - und wie das Subjekt, das sich in ihm manifestiert:

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„En réalité le monde du signe est clos. Du signe à la phrase il n'y a pas de transition, ni par syntagmation ni autrement. Un hiatus les sépare. Π faut dès lors admettre que la langue comporte deux domaines distincts, dont chacun demande son propre appareil conceptuel." (a.a.O., 65). „A partir de Benveniste, le rythme peut ne plus être une souscatégorie de la forme. C'est une organisation (disposition, configuration) d'un ensemble. Si le rythme est dans le langage, dans un discours, il est une organisation (disposition, configuration) du discours. Et comme le discours n'est pas separable de son sens, le rythme est inséparable du sens de ce discours." (Meschonnic 1982: 70). Der Ausdruck konkrete Rede bezieht sich hier und im Folgenden nicht auf die pragmatische und situative Einbindung des Äußerungsaktes, sondern meint den mündlich oder schriftlich realisierten Äußerungskomplex, so wie er jeweils empirisch auftritt.

6 Wenn der Sinn eine Tätigkeit des Subjekts ist, wenn der Rhythmus eine Gestaltung des Sinns in der Rede ist, so ist der Rhythmus notwendigerweise eine Gestaltung oder Konfiguration des Subjekts in seiner Rede. Eine Theorie des Rhythmus in der Rede ist also notwendigerweise eine Theorie des Subjekts in der Sprache.17 Als Beitrag zu einer Theorie des Subjekts gewinnt Meschonnics Ansatz über die Sprachtheorie hinaus Bedeutung, denn heute gilt vielleicht mehr denn je, was Jürgen Dittmann schon 1982 feststellte, daß nämlich der Frage nach dem Subjekt „in den Geisteswissenschaften derzeit eine zentrale, orientierende Bedeutung" zukommt (Dittmann 1982: 91).18 Meschonnics Rhythmustheorie stellt sich dieser Frage und steht daher der Humboldtschen Konzeption der Sprache näher als der „Eliminierung des Subjekts" (a.a.O.) in den strukturalistischen Sprachtheorien. In der vorliegenden Arbeit wird versucht, Meschonnics Ansatz weiterzuführen.. Nach einer Einführung in Meschonnics Rhythmustheorie (Kapitel 1) wird im theoretischen Teil der Arbeit (Kapitel 2 und 3) untersucht, inwiefern die Einbeziehung des Sinns in den Rhythmus eine notwendige Bedingung für die Begründung einer Sprachrhythmustheorie darstellt. Diese Frage wird zum einen anhand des Rhythmusbegriffs der Metrik (Kapitel 2) und zum anderen anhand verschiedener RJiythmusmodelle aus der linguistischen Forschung (Kapitel 3) diskutiert. Im zweiten, dem empirischen Teil (Kapitel 4-6) wird dann, ausgehend von Meschonnics Rhythmusbegriff, die semantische Funktionsweise des Rhythmus in drei deutschsprachigen Texten analysiert. Es handelt sich um die Ballade Der Erlkönig von Johann Wolfgang von Goethe, das Märchen Die Sterntaler der Brüder Grimm und das Gedicht Abschied von Gottfried Benn. Die Texte wurden vor allem im Hinblick auf ihre Verschiedenartigkeit und den Reichtum ihrer rhythmisch-semantischen Gestal17

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„Si le sens est une activité du sujet, si le rythme est une organisation du sens dans le discours, le rythme est nécessairement une organisation ou configuration du sujet dans son discours. Une théorie du rythme dans le discours est donc une théorie du sujet dans le langage." (Meschonnic 1982: 71). Als Indiz dafür, daß der Frage nach dem Subjekt in einem Großteil der modernen Linguistik noch keine Priorität eingeräumt wird, kann der Umstand angesehen werden, daß sich beispielsweise in dem großen von Helmut Glück herausgegebenen Metzler Lexikon Sprache (1993) mit über 8000 Stichworten, keine Einträge zu den Begriffen Subjekt (im nicht grammatischen Sinn), Subjektivität und Individuumfinden.Sie fehlen auch in anderen vergleichbaren Nachschlagewerken, etwa bei Werner Welte (1974), Carl Hempel (1978), Hadumod Bußmann (1990) und Theodor Lewandowski (1990).

7 tungsweise ausgewählt. Es wäre aber ebensogut möglich gewesen, den Rhythmus in anderen Textsorten, etwa in einem Zeitungsartikel oder in einem Werbetext zu untersuchen. Wenn dennoch drei poetische Texte den Gegenstand der Untersuchung bilden, so deshalb, weil sich in der Dichtung besonders deutlich zeigt, was sich überall, in jeder Sprechtätigkeit, ereignet: Die Subjektivierung der Sprache durch den Rhythmus. Denn wenn man davon ausgeht, daß Subjekt, Sinn und Rhythmus in der Sprache in einer engen Wechselbeziehung stehen, dann wird der Rhythmus dort am unmittelbarsten zutage treten, wo auch die Subjektivität des Sprechens besonders ausgeprägt ist, und das ist sicherlich im poetischen Sprechen der Fall. Dieser zweite Teil hat, auch aufgrund der Textauswahl, eine doppelte, nämlich eine linguistische und eine literaturwissenschaftliche Perspektive. Wobei sich die linguistischen Erkenntnisse der Rhythmusanalyse auch für literaturwissenschaftliche Fragestellungen als fruchtbar erweisen werden, so wie umgekehrt die literaturwissenschaftlichen Einzelergebnisse der Untersuchungen ihrerseits die empirische Bedeutung des Rhythmus für die semantische Funktionsweise der Sprache vielfaltig zu belegen vermögen. Die Arbeit versteht sich deshalb auch als Beitrag zu einem Brückenschlag zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft, deren gemeinsamer Forschungsgegenstand die „anfangs- und endlose Unendlichkeit" der Sprache ist.

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Zur Rhythmustheorie von Henri Meschonnic

1.1 Theorie und Praxis im Werk Meschonnics Auch wenn Henri Meschonnic in Deutschland noch kaum bekannt ist, läßt sich schon heute absehen, daß von seinen Arbeiten vielfaltige Impulse für die gegenwärtige Sprach- und Literaturtheorie ausgehen werden. In einem Aufsatz der Zeitschrift New Literary History bezeichnet Gabriella Bedetti Meschonnic als „one of the key figures of French New Poetics" (Bedetti 1992: 431), und Richard D. Cureton schreibt in Rhythmic Phrasing in English Verse (1994): Schließlich darf kein Überblick der Arbeiten über Rhythmus, besonders über die nicht-metrischen Aspekte des Rhythmus, Henri Meschonnics gewichtige Critique du rythme (1982) vernachlässigen, zur Zeit bei weitem die umfassendste Auseinandersetzung mit diesen Fragen.1

In Deutschland hat als erster Jürgen Trabant nachdrücklich auf das Werk und die Bedeutung Meschonnics aufmerksam gemacht (Trabant 1990). Trabant sieht den Grund für die geringe Bekanntheit Meschonnics in dessen Unabhängigkeit von den großen Modeströmungen der strukturalistischen und poststrukturalistischen Schulen: Den aufsteigenden Stars der französischen Theorien steht damit in Meschonnic ein Kritiker gegenüber, der die Grenzen ihrer Bemühungen, die in Frankreich so erfolgreich sein sollten, laut bekennt. (Dies macht natürlich nicht beliebt und hat sicher lange Zeit einen entsprechenden Erfolg der Meschonnicschen Poetik verhindert). (Trabant 1990: 202)

Doch in dieser Unabhängigkeit liegt auch das innovative Potential von Meschonnics Sprachtheorie, die, gegenüber der Entsubjektivierung und der Entgeschichtlichung der Sprache durch die Struktur, die langue und das

„Finally, no survey of writings about rhythm, especially non-metrical aspects of rhythm, can neglect Henri Meschonnic's massive Critique du rythme (1982), by far the most extensive discussion of these matters to date." (Cureton 1994: 67).

10 Zeichen, eine Konzeption der radikalen Geschichtlichkeit und der sich in jedem Äußerungsakt vollziehenden Subjektivierung der Sprache eröffiiet. Von seinen ersten Veröffentlichungen an bedingen sich in Meschonnics Arbeiten Theorie und Praxis. Seine Theorie des Rhythmus ist einerseits aus der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der modernen Linguistik, der Sprachphilosophie und den literaturwissenschaftlichen und psychoanalytischen Sprachtheorien entstanden und geht andererseits direkt aus der doppelten Praxis des Übersetzens und des Dichtens hervor. Diese spezifische Ausrichtung von Meschonnics gesamtem Werk spiegelt sich auch in der Chronologie seiner Publikationen wider. So erscheinen 1970, im selben Jahr, in dem er Pour la poétique veröffentlicht, wo die Grenzen der strukturalistischen Poetik aufgezeigt werden, auch Les Cinq Rouleaux, seine Übersetzungen von Büchern des Alten Testaments. Zwei Jahre darauf erhält sein Gedichtband Dédicaces proverbes den Prix Max Jacob und im folgenden Jahr, 1973, kommen zwei weitere Bände von Pour la poétique heraus. Im ersten dieser beiden Bände untersucht er die ideologischen und sprachtheoretischen Prämissen verschiedener Bibelübersetzungen, während der zweite Studien zur Poetik Nervals, Apollinaires u.a. gewidmet ist und mit einer detaillierten Analyse von Baudelaires Chant d'automne schließt. 1975 folgt Le signe et le poème, eine Untersuchung zur Wirksamkeit des Zeichendualismus in der klassischen Sprachphilosophie, der Semiotik, der Psychoanalyse, im Marxismus, in der Phänomenologie und im Dekonstruktivismus, 1976 dann der Gedichtband Dans nos recommencements und 1977 Pour la poétique IV, eine zweibändige Studie zum Gesamtwerk Victor Hugos. 1979 erscheint neben dem Gedichtband Légendaire chaque jour der letzte Band der Reihe Pour la poétique, in dem sich Meschonnic unter anderem mit Chomskys Humboldt-Rezeption auseinandersetzt. 1981 veröffentlicht er Jona et le signifiant errant, eine Übersetzung des Buches Jona aus dem Hebräischen, und 1982 Critique du rythme, anthropologie historique du langage, die siebenhundert Seiten starke Grundlegung seiner Rhythmustheorie. So wie die vorangegangenen Publikationen auf vielfältige Weise zu Critique du rythme hinführen, so findet diese ihrerseits in Les états de la poétique (1985), Modernité, Modernité (1988), La Rime et la Vie (1990) und Politique du rythme, politique du sujet (1995) ihre Fortsetzung. Nicht unerwähnt bleiben sollen aber auch seine Gedichtbände Voyageurs de la voix (1985, er erhält 1986 den Prix Mallarmé) und Nous le passage (1990), seine Analyse des Heideggerschen Sprachrealismus in Le Langage Heidegger (1990) und seine

11 linguistische Untersuchung zu den impliziten Sprachtheorien der großen französischen Wörterbücher in Des mots et des mondes (1991). Es ist kaum möglich, ein so vielseitiges und umfangreiches Werk auf wenigen Seiten darzustellen. Aber es ist wahrscheinlich ebenfalls unmöglich, Meschonnics Theorie des Rhythmus isoliert zu behandeln, unabhängig von seinem dichterischen Werk und seinen anderen Arbeiten, unabhängig von seiner Übersetzungstheorie und seinen Bibel-Übersetzungen, unabhängig von seinen Untersuchungen zu Baudelaire, Victor Hugo etc., und unabhängig von seiner linguistischen Kritik der Zeichentheorie. Dennoch können viele Aspekte von Meschonnics Werk in diesem Kapitel nur angedeutet und manche überhaupt nicht berücksichtigt werden. So gehe ich nicht auf seine vielfaltigen Arbeiten zur Poetik einzelner Dichter ein, auch wenn sie neben den Übersetzungen die empirische Grundlage für Meschonnics Theorie bilden und in ihnen die konkrete Wirksamkeit des Rhythmus besonders anschaulich zutage tritt. Der Grund dafür liegt einfach darin, daß der Systemcharakter des Rhythmus in der Auswahl einiger Beispiele nur unzureichend deutlich werden würde und daß andererseits eine sinnvolle Zusammenfassung einer einzelnen Rhythmusanalyse, etwa der sechzigseitigen Studie zu Baudelaireä Chant d'automne (Meschonnic 1973), den Rahmen des Kapitels sprengen würde. Auch auf Meschonnics eigene Gedichte kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Stattdessen werde ich zunächst den sprachtheoretischen Stellenwert der Dichtung bei Meschonnic erläutern, der Dichtung als Kritik des Zeichens, da diese Kritik der Zeichentheorie und ihrer Dualismen von Form und Inhalt, Sprache und Subjekt zeigt, warum es notwendig ist, die Sprache vom Rhythmus her zu denken (1.2). Anschließend werde ich kurz Benvenistes etymologische Untersuchung zur vorplatonischen Bedeutung des Begriffes Rhythmus skizzieren, auf der Meschonnics Rhythmusbegriff, der sich nicht mehr auf eine metrische Struktur zurückzufuhren läßt, aufbaut (1.3). Inwiefern dieser Rhythmusbegrifif eine Kritik des Metrums impliziert, soll im darauffolgenden Abschnitt dargelegt werden (1.4). Der erste Teil des Kapitels schließt dann mit zwei Beispielen aus Meschonnics Bibelübersetzungen, die die Funktionsweise des Rhythmus in der Sprache empirisch verdeutlichen (1.5). Im zweiten Teil des Kapitels (1.6) werde ich untersuchen, in welcher sprachtheoretischen Tradition Meschonnics Rhythmustheorie steht.

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1.2 Der Ausgangspunkt: Das Gedicht als Kritik des Zeichens Die Besonderheit von Meschonnics Ansatz resultiert aus der engen Wechselwirkung zwischen poetischer Praxis und theoretischer Reflexion. Diese Wechselwirkung führt zu einem Neubeginn der Sprachtheorie in der Poetik. Meschonnic begründet die Interdependenz von Poetik und Sprachtheorie damit, daß der Gegenstand der Poetik einen erkenntnistheoretischen Eckstein im Feld der allgemeinen Sprachtheorie darstellt. Dies folgt unmittelbar aus der Spezifik der Dichtung als sprachlicher Aktivität. Und diese Spezifik ist für Meschonnic nicht ästhetischer Natur. Denn Dichtung wird nicht durch rhetorische Ausschmückungen, die Verwendung von Metaphern und Metonymien oder durch metrische Konventionen zu Dichtung. Metaphern, Metonymien oder auch rhetorische Figuren sind überall in der Sprache zu finden; und Dichtung ist - wie nicht erst die Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts gezeigt haben - nicht an das Metrum gebunden. Aber Dichtung ist genausowenig eine Sondersprache in der Sprache, ein Verstoß gegen die Sprachnorm oder ein parasitärer Sprachgebrauch, wie noch Manfred Bierwisch meinte (Bierwisch 1965: 55). Ihre Spezifik liegt anderswo: Sie ist eine Sprachaktivität, ein Bedeutungsmodus, in dem mehr als in allen anderen zutage tritt, daß das, was bei der Sprache, bei der Geschichtlichkeit der Sprache, auf dem Spiel steht, das Subjekt ist, das empirische Subjekt als Funktion aller Individuen; Die Dichtung schafft ein Zu-tage-treten des Subjekts.2

Dieses Zu-tage-treten des empirischen, also geschichtlichen Subjekts in der und durch die Dichtung ist sprachtheoretisch von besonderer Bedeutung, denn das Subjekt und die Subjektivität selbst sind ja kein Privileg der Dichtung, sondern in jeder Sprechtätigkeit präsent. Wenn sich in der Dichtung also nur deutlicher zeigt, was sich überall in der Sprache ereignet, dann kann die Dichtung als Testfall für den Status des Subjekts in der Sprachtheorie insgesamt angesehen werden. Zu einem solchen Testfall wird sie vor allem für die Zeichentheorie. Denn das Gedicht eröffnet eine Kritik des Zeichens. Es zeigt die Grenzen der Zeichenvorstellung auf, der Vorstellung, daß die Sprache aus Zeichen besteht, die die Verbindung eines Inhalts mit einer Form darstellen. Dieser Dualismus versagt beim Gedicht: „Die Zeichen sind austauschbar [...]. Wenn das Gedicht aus ihnen gemacht wäre, könnte es in

„Elle est une activité de langage, im mode de signifier qui expose plus que tous les autres que l'enjeu du langage, de son historicité, est le sujet, le sujet empirique comme fonction de tous les individus. Elle fait une exposition du sujet." (Meschonnic 1982: 35).

13 die eigene Sprache übersetzt werden"3 und: „Die Paraphrase ist der Schwachpunkt des Zeichens".4 Jede Inhaltsangabe, und sei sie noch so präzise, muß sich notwendigerweise vom Gedicht, von dessen Funktionsweise, entfernen. Man kann Goethes Erlkönig nacherzählen oder interpretieren, aber jeder Versuch, den Sinn des Gedichtes aus dem Gedicht herauszudestillieren, führt unweigerlich dazu, daß sich das, was das Gedicht zum Gedicht macht, verflüchtigt. Das Gedicht hegt ebensowenig im Sinn wie in einer formalen Kodifizierung: Ein Sonett von Rilke und ein Sonett von Gryphius haben, trotz der strengen Regeln der Sonettform, wenig miteinander gemein, und das, was sie gemein haben, macht sie noch niclit zu einem Gedicht. Daß das Gedicht nicht vom Metrum lebt, haben schon Hölderlin und Klopstock gezeigt - und Jean Paul, der in den Flegeljahren seinen Protagonisten den „Streckvers" erfinden läßt, die Auflösung des Metrums im Prosagedicht.5 Die Unvereinbarkeit von Zeichentheorie und Gedicht beträfe die Zeichentheorie lediglich am Rande, wenn der Dichtung eine nur ästhetische Funktion innerhalb der Sprache zukäme. Wenn das Gedicht aber die maximale Subjektivität der Sprache realisiert, wenn die Sprache im Gedicht in höherem Maße als in anderen Äußerungsformen in ein „System des Ichs" verwandelt wird,6 dann beruht die Unvereinbarkeit zwischen Zeichen und Gedicht auf der Unvereinbarkeit zwischen einer Konzeption der Sprache als Zeichensystem und der Empirie der Sprache als Subjektsystem. Die Zeichenvorstellung verstellt den Zugang zum Subjekt in der Sprache, wie sie den Zugang zum Gedicht verstellt; beide, Gedicht und Subjekt, können für sie nur Epiphänomene der Sprache und des Sprachgebrauchs sein. Denn die Zeichentheorie geht notwendigerweise von der Objektivierung der Sprache im Zeichensystem aus und nicht von der Subjektivierung der Sprache in der Rede: In der Zeichentheorie ist das Sprachsystem primär und die Rede sekundär. Es kann gar nicht anders sein. Für sie ist die Rede ein Zeichengebrauch, eine Aus-

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6

„Les signes sont interchangeables [...]. Si le poème en était fait, il serait traduisible dans sa propre langue." (a.a.O., 37). „La paraphrase est la faiblesse du signe." (a.a.O.). „Herr Graf," (sagte Schomaker und ließ die Pfalz weg) „in der Tat eine neue Erfindung des jungen Kandidaten, meines Schülers, er machet Gedichte nach einem freien Metrum, so nur einen einzigen, aber reimfreien Vers haben, den er nach Belieben verlängert, Seiten-, bogenlang; was er den Streckvers nennt, ich einen Polymeter." ( Jean Paul 1996: 634). „système du je" (Meschonnic 1982: 85).

14 Wahlentscheidung, eine Reihung von Auswahlentscheidungen in dem System präexistenter Zeichen.7 Das Subjekt muß sich, um Sprache benutzen zu können, den vorgegebenen Zeichenstrukturen unterordnen und wird so selbst zu einer Funktion des Zeichensystems, zu dessen ausfuhrenden Organ. Seine Subjektivität kann daher aus der Perspektive der Zeichentheorie nur eine Illusion der Subjektivität sein. Die Kritik der Zeichentheorie durch die Poetik wird bei Meschonnic so zum Ausgangspunkt einer asemiotischen Konzeption der Sprache, einer Konzeption, in der die Sprache vom Subjekt her gedacht wird, von der Subjektivierung der Sprache in der Rede. Da diese Subjektivierung sich immer wieder neu in jedem Äußerungsakt vollzieht und somit so unabschließbar und unvorhersehbar ist wie die Geschichte selbst, kann bei Meschonnic die Geschichtlichkeit an die Stelle der Struktur treten. Dieser Perspektivenwechsel erklärt, warum sich das Subjekt bei ihm ebenso von dem abstrakten Subjekt bei Chomsky,8 wie von dem solipsistischen Subjekt bei George Steiner9 oder dem subversiven Subjekt bei Roland Barthes10 unterscheidet. Da es selbst

8

'

10

„Dans la théorie du signe, la langue est première, et le discours, second. Il ne peut pas en être autrement. Le discours y est un emploi des signes, un choix, une série de choix dans le système des signes préexistant." (a.a.O., 70). „Gegenstand einer linguistischen Theorie ist in erster Linie ein idealer SprecherHörer, der in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft lebt, seine Sprache ausgezeichnet kennt und bei der Anwendung seiner Sprachkenntnis in der aktuellen Rede von solchen grammatisch irrelevanten Bedingungen wie begrenztes Gedächtnis, Zerstreutheit [...] nicht affiziert wird." (Chomsky 1971: 13). „Innerhalb der »öffentlichen« Konventionen von Grammatik und Wortschatz verbergen sich inhaltliche Assoziationen, die sich, auch wenn sie latent bleiben, zwangsläufig einstellen. Diese Inhalte sind zum großen Teil unverrückbar individuell und im üblichen Sinn privater Natur. Wenn wir uns mit anderen unterhalten, sprechen wir an der »Oberfläche« unseres Selbst [...] Fritz Mauthner geht noch weiter, wenn er meinte: »Durch die Sprache haben es sich die Menschen für immer immöglich gemacht, einander kennen zu lernen.«." (Steiner 1981: 183f.). Nachdem Barthes in seiner Antrittsvorlesung im Collège de France die Sprache als Gesetzgebung, der man sich unterwerfen muß, beschrieben und sie schließlich sogar als »faschistisch« bezeichnet hat, heißt es gegen Ende seines Vortrags: „Wenn man Freiheit nicht nur die Kraft nennt, sich der Macht zu entziehen, sondern auch und vor allem die, niemanden zu unterwerfen, kann es Freiheit also nur außerhalb der Rede [langage] geben. Unglücklicherweise besteht für die menschliche Rede [langage humain] kein Außerhalb: Sie ist ein geschlossener Ort [...] Uns jedoch bleibt nichts, wenn ich so sagen kann, als sie zu überlisten." (Barthes 1977: 21f.).

15 einen Aspekt der Geschichtlichkeit der Sprache darstellt, ist das Subjekt bei Meschonnic der Sprache weder übergeordnet noch aus ihr ausgeschlossen, noch kann es sich nur durch den Verstoß gegen die sprachlichen Normen artikulieren, vielmehr tritt es in der Sprachtätigkeit selbst, in jeder Äußerung, auch der alleralltäglichsten, als Rhythmus, als jedesmalige Gestaltung des Sprechens durch den Sprecher und des Sprechers durch das Sprechen, unaufhörlich zu tage. Eine solche Theorie des unaufhörlichen Wiederbeginns der Sprache und des Subjekts im Sprechen kann ebensowenig an die Zeichentheorie anknüpfen, wie an die traditionelle Vorstellung vom Rhythmus. Sie braucht einen Rhythmusbegriff, der der unvorhersehbaren Geschichtlichkeit der Sprache gerecht wird.

1.3 Die Entdeckung des vorplatonischen Rhythmusbegriffs Wenn es etwas wie Rhythmus in der Sprache gibt, und Sprache nur als Rede verwirklicht wird, so muß der Sprachrhythmus die Charakteristika der Rede teilen, er muß wie sie vielfaltig, unvorhersehbar, individuell sein, also Eigenschaften aufweisen, die mit dem traditionellen Verständnis des Rhythmus als Takt, Gleichmaß und gleichmäßig gegliederter Bewegung nur schwer in Einklang zu bringen sind. Den Rhythmus in der Sprache zu denken, bedeutet dann, ihn gegen seine traditionelle Bedeutung, gegen seine Identifikation mit Takt und Metrum zu denken. Eine Voraussetzung für diese Modifikation des Rhythmusbegriffes hat Emile Benveniste geschaffen, indem er in dem Aufsatz Der Begriff des »Rhythmus« und sein sprachlicher Ausdruck (Benveniste 1951) die Etymologie des Wortes Rhythmus genauer untersucht hat. Ausgangspunkt für Benveniste war eine seltsame Unvereinbarkeit zwischen der Bedeutung des Wortes und seiner üblichen etymologischen Herleitung. Diese widersprüchliche Beziehung zwischen Etymologie und Bedeutung illustriert der Artikel Rhythmus im Kluge (Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., 1989) in geradezu klassischer Weise: Rhythmus m. 'periodischer Wechsel, gegliederte Bewegung'. Seit dem Althochdeutschen entlehnt aus gleichbedeutend 1. rhythmus, dieses aus gr. rhythmós (dass, wörtlich: 'das Fließen'), zu gr. rhein 'fließen, strömen'. Wohl so bezeichnet nach der Bewegung von Meereswellen.

16 Benveniste bemerkte zunächst, daß die semantische Verbindung zwischen rhythmos, bzw. rhein mit der gleichmäßigen Bewegung der Wellen einen Widerspruch darstellt. Denn fließen kann ja nur ein Fluß oder ein Strom, nicht aber das Meer; ein Fluß wiederum hat aber keinen Rhythmus im Sinne einer gleichmäßigen Wellenbewegung, wie man sie von den Meereswellen kennt. Daraufhin untersuchte Benveniste die ältesten griechischen Belege für die Verwendung von rhythmos und stellte fest, daß der Begriff dort nirgends auf das Fließen des Wassers bezogen wird und darüber hinaus auch nicht die Bedeutung von „regelmäßiger Bewegimg" besitzt (Benveniste 1951: 364). So bedeutet rhythmos bei Demokrit „besondere Form", „charakteristische Anordnung", wenn er lehrt, daß Wasser und Luft sich durch den Rhythmus der sie konstituierenden Atome unterscheiden (ρυθμω διαφέρει,ν, a.a.O., 366). Diese Bedeutung hat rhythmos auch bei Herodot, der das Wort zur Bezeichnung der unterschiedlichen Form der Buchstaben des Alphabets verwendet. Bei den lyrischen Dichtern dient es meist dazu, „die individuelle und distinktive »Form« des menschlichen Charakters zu definieren" (a.a.O., 368). Auch bei den Tragikern wird es, wie Benveniste feststellt, mit der Bedeutung „besondere Form" verwendet. So kommt er zu folgenden Schlußfolgerungen: 1) Ρυθμός bedeutet niemals »Rhythmus«, vom Anfang bis zur attischen Periode, 2) es wird niemals auf die regelmäßige Bewegung der Wellen angewandt; 3) die konstante Bedeutung lautet: »distinktive Form; proportionierte Figur, Veranlagung«11 in den vielfaltigsten Verwendungen. (a.a.O., 369)

Nun stellt sich die Frage, wodurch rhythmos sich dann von den anderen griechischen Wörtern mit der Bedeutung Form, wie schema, morphe oder eidos unterscheidet. Tatsächlich besitzen schema und rhythmos verschiedene semantische Wertigkeiten, auf die auch der Zusammenhang zwischen rhythmos und rhein φ ε ΐ ν ) hindeutet. Während nämlich schema eine feste, vergegenständlichte Form bezeichnet, tritt rhythmos in Kontexten auf, in denen es um eine augenblickliche, fließende oder vorübergehende Form geht, wie die Form eines Charakters oder einer Laune. Daß rhythmos wörtlich „eine besondere Art des Fließens" bedeutet, wird einsichtig, wenn man bedenkt, daß, wie Benveniste ausführt, „(bsiv das wesentliche Prädikat der Natur und der Dinge in der ionischen Philosophie seit Heraklit" war, und fortfährt:

11

Wilhelm Bolle übersetzt „disposition" mit „Veranlagung" (a.a.O.), was in dem Kontext keinen Sinn ergibt. Benveniste gebraucht das Wort hier im Sinne von „Gestalt", „Anordnung".

17 Die Wahl einer Ableitung von f>elv, um die spezifische Modalität der »Form« der Dinge auszudrücken, ist charakteristisch für die sie inspirierende Philosophie; es ist eine Darstellung des Universums, bei der die einzelnen Formen des sich Bewegenden als »fließend« definiert werden. (a.a.O., 371)

Angesichts dieser „kohärenten und konstanten Semantik" (a.a.O.) kann man sich fragen, wie der Rhythmus dann überhaupt mit einer gleichmäßigen Bewegungsabfolge in Verbindung gebracht werden konnte. Tatsächlich ist die Bedeutung von „improvisierter, momentaner und veränderlicher Form" (a.a.O.) bis zur Mitte des 5. Jh. v. Chr. bezeugt. Erst bei Plato findet eine folgenschwere Neufestlegung des Begriffes statt. Zwar benutzt er rhythmos noch im Sinne von „distinktiver Form", aber diese Form wird nun als Teil einer festen Ordnung begriffen. So bezieht er den Begriff auf die Bewegungsabfolge der Töne in der Musik (Philebos 17d) und auf die Bewegungsabläufe des menschlichen Körpers beim Tanz (Gesetze 665 a), und er spricht von Rhythmen und Maßen (ρυθμούς και μέτρια, Philebos 17 d). Von nun an werden Rhythmus und Metrum zu synonym verwendeten Begriffen. Benveniste ging es bei seiner etymologischen Kritik darum zu zeigen, daß das, was man für das natürliche Signifikat eines Wortes hielt, nur ein Ausschnitt aus seiner Geschichte ist. Deshalb liegt für Meschonnic die Bedeutung von Benvenistes Entdeckung nicht in der Aufindung eines „wahren" Sinns, der alle anderen Verwendungsweisen des Begriffes Rhythmus obsolet machen würde. Sie liegt in der Möglichkeit, von Benveniste aus eine neue Konzeption des Rhythmus in der Sprache zu entwickeln. Auf Grund seiner Entdeckung der vorplatonischen Bedeutung des Begriffes Rhythmus als vorübergehender Gestalt und veränderlicher Form, als besonderer Anordnung des Fließenden, kann der Rhythmus als ein durch und durch sprachliches und damit semantisches Phänomen aufgefaßt werden. Dadurch erhält die Rhythmustheorie eine völlig neue Ausrichtung. Denn bis dahin ermöglichte die platonische Reduzierung des Rhythmus auf das Metrum nur Rhythmuskonzeptionen, in denen Rhythmus und Sprache getrennt blieben, da er lediglich als abstraktes, numerisches Schema, als auf die Sprache projizierte Form gedacht werden konnte. Erst in dem Augenblick, wo man den Rhythmus als veränderliche, vorübergehende Anordnung auffaßt, kann er zu einem sprachlichen Phänomen werden und in Korrelation zur Rede und zum Sinn treten: Ausgehend von Benveniste, kann der Rhythmus nicht mehr eine Unterkategorie der Form sein. Er ist eine Gestaltung (Anordnung, Konfiguration) eines Ganzen. Wenn der Rhythmus in der Sprache ist, in einer Rede, dann ist er eine Gestaltung

18 (Anordnung, Konfiguration) der Rede. Und da die Rede sich nicht von ihrem Sinn trennen läßt, läßt sich der Rhythmus nicht vom Sinn dieser Rede trennen.12

Damit erhält der Sinn eine zentrale Stellung in Meschonnics Rhythmuskonzeption. Sie eröffnet die Möglichkeit, den Sinn von der Rede her zu denken, anstatt ihn auf die langue, also auf die Sprachstruktur zurückzuführen (Meschonnic 1982: 69). Sinn (sens) meint bei Meschonnic deshalb weder das Signifikat (signifie), die Inhaltsseite der Lexik, noch die pragmatische Bedeutung einer Äußerung in einer konkreten Situation (signification), sondern die aus dem Zusammenspiel der Signifikanten resultierende jeweilige semantische Ausrichtung der Rede.13 In dieser Weise wird der Begriff Sinn auch in der vorliegenden Arbeit verwendet. Wenn Rhythmus, Sinn und Rede zusammengehören, dann ist der Rhythmus genauso veränderlich und unvorhersehbar wie die konkrete Rede und der Sinn selbst und kann nicht mehr auf ein metrisches Schema reduziert werden. Diese Abkopplung von Rhythmus und Metrum führt Meschonnic zu einer Kritik der traditionellen französischen Metrik.

1.4 Das Metrum vom Rhythmus aus gesehen Sprachrhythmus ist etwas Alltägliches. Man trifft überall auf ihn, in der Dichtung, in der Werbung, in dem banalsten Gespräch und in den heiligsten Texten. Meschonnic untersucht in Critique du rythme unter anderem einen Zeitungsartikel aus Le Monde und weist die rhythmische Wirksamkeit der typographischen Zeilenaufteilung, der Parallelen in der syntaktischen Segmentierung und der Häufung von Daten und Eigennamen am Satzende nach (Meschonnic 1982: 512ff.). Die Schwierigkeit, auf die Meschonnics Rhythmustheorie trifft, liegt also nicht im Nachweis der empirischen Funktions-

„A partir de Benveniste, le rythme peut ne plus être une souscatégorie de la forme. C'est une organisation (disposition, configuration) d'un ensemble. Si le rythme est dans le langage, dans un discours, il est une organisation (disposition, configuration) du discours. Et comme le discours n'est pas séparable de son sens, le rythme est inséparable du sens de ce discours." (Meschonnic 1982: 70). „II s'agit du sens, non de la signification, qui, elle, est une variable de situation dans le discours, d'un (interlocuteur à l'autre. Quand Jakobson parle de l'acteur à qui Stanislavski faisait dire Sevodnja vécerom, »ce soir«, sur ime quarantaine d'intonations différentes, le sens restait le même, mais la signification changeait: surprise, indignation, etc." (Meschonnic 1995a: 49).

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weise des Rhythmus. Die Schwierigkeit liegt in der einseitigen Fixierung ;der Rhythmusdiskussion auf den platonischen Rhythmusbegriff. Diese Fixierung verhindert, daß der Rhythmus als Sinn-Organisation der Rede begriffen wird und führt dazu, aus dem Rhythmus eine abstrakte Kategorie zu machen, die sowohl auf die Sprache wie auf die Musik, aber auch auf biologische und astronomische Phänomene angewendet werden kann. Ein solcher allgemeiner Rhythmusbegriff, der alle Anwendungen des Wortes unter einen einzigen Begriff subsumiert (Periodizität, Takt, regelmäßige Wiederkehr des Gleichen oder des Ähnlichen) blockiert, wie Meschonnic immer wieder betont, die Möglichkeit einer Konzeption des Rhythmus in der Sprache. Der Rhythmus wird auf das reduziert, was gerade nicht sprachspezifisch ist: auf das Metrum, das Schema und die taktmäßige Struktur: Aber das fuhrt zu einem absurden Standpunkt: nämlich zu dem Zugeständnis, daß der sprachliche Rhythmus, der Rhythmus in der Sprache, nicht sprachlich ist.14

In dieser paradoxen Situation befindet sich die Metrik, für die das Metrum gleichsam den Idealfall des Rhythmus in der Sprache darstellt. Die Stärke des Metrums liegt in seiner Kompatibilität mit der Zeichenvorstellung; es steht auf der Seite der Form und läßt sich vom Sinn trennen. Diese Stärke birgt aber auch seine größte Schwäche; demi wenn es eine Form ist, ist es vielleicht nur eine Form, eine formale Projektion auf die sprachlichen Phänomene und ohne notwendigen Bezug zu ihnen. Ein spektakuläres Beispiel für eine solche metrische Fiktion ist, wie Meschonnic in Critique du rythme sorgfaltig nachweist, die Metrik im Französischen. Wenn man nämlich davon ausgeht, daß die grundlegende Einheit der Metrik der Versfuß ist und es nur dort ein Metrum geben kann, wo es auch Versfuße gibt, dann existiert im Französischen kein Metrum: Die Schädlichkeit des Begriffes Versfuß kommt daher, daß es keinen metrischen Code, keine Versfüße und in diesem Sinne keine Metrik im Französischen gibt; aufgrund der sprachlichen Tatsache, daß das Französische keinen Wortakzent, sondern einen Wortgruppenakzent besitzt.15

„Mais ceci mène une à une position absurde: à admettre que le rythme du langage, dans le langage, n'est pas du langage." (Meschonnic 1985: 107). „La nuisance du terme pied vient de ce qu'il n'y a pas de code métrique, pas de pieds, et, en ce sens, pas de métrique, en français. Pour la raison linguistique qu'il n'y a pas, en français, accent de mot, mais accent de groupe." (Meschonnic 1982: 229).

20 Weil im Französischen, als Sprache ohne Wortakzent, immer die letzte Silbe einer Wortgruppe betont wird, was man etwa folgendermaßen notieren könnte: Dans ce restaurant I, on peut manger I de midi I à minuit I gibt es im Französischen keine Jamben, Anapäste etc., wie im Englischen und Deutschen. Das erklärt auch die Bedeutung des Taktbegriffes in der neueren französischen Metrik. Der Takt dient als Substitut für die fehlenden Versfüße. Meschonnic weitet die Kritik des Versfußes aber auch auf den Takt aus: „Man kann nicht im Französischen den Versfuß verwerfen und am Takt festhalten."16 Er illustriert den formalen Charakter des Taktbegriffes an mehreren Beispielen, unter anderem an einem Vers von Victor Hugo, den Maurice Grammont in folgende Takte unterteilt: Et pas à pas, / Roland, / sanglant, / terri / ble, las17 Da jeder Takt mit einer betonten Silbe enden soll, wird „terrible" auf zwei Takte aufgeteilt. Die Taktzäsuren korrelieren also nicht mit den Pausen der Rede selbst, und sie sind nicht aus der syntaktischen Segmentierung ableitbar und damit auch keine Komponenten der Rede selbst: Sie lassen sich nur über der Rede konstruieren. Deswegen unterschlägt die Taktierung auch den semantischen Effekt der Pause zwischen „terrible" und „las": Man kann den Irrealismus der Metrik in Bezug auf die empirische Realität der Rede und dessen Rhythmus nicht besser verdeutlichen, - den radikalen Schnitt zwischen der Metrik und der Rede.18 Von der Metrik bleibt im Französischen nur die Betonung des Alexandriners auf der 12. (und im klassischen Alexandriner auch auf der 6.) Position des Verses. Tatsächlich kann es aber bis zu zwölf betonte Positionen im Alexandriner geben, ohne daß diese einer metrischen Kodifizierung miterliegen. Wenn das Metrum des Alexandriners also von dem französischen Poetikund Metrikspezialisten Jacques Roubaud so wiedergegeben wird: 000001 + 00000 l"

16

„On ne peut pas rejeter le pied enfrançaiset garder la mesure." (a.a.O., 232). „Und Schritt für Schritt, Roland, blutend, furchterregend, erschöpft" (zitiert a.a.O., 233). " „On ne peut mieux marquer l'irréalisme de la métrique par rapport la réalité empirique du discours et de son rythme, - la coupure radicale entre la métrique et le discours." (a.a.O.). 19 0 = unbetonte, 1 = betonte Silbe (zitiert, a.a.O., 201). 17

21 so handelt es sich um eine imaginäre Idealisierung, da die metrisch vorgeschriebenen Betonungen weder die einzigen, noch unbedingt die stärksten Akzente eines Verses bilden und daher das Schema in der Praxis so gut wie nie erfüllt wird (a.a.O., 201) Das Hauptproblem besteht für die Metrik darin, eine Brücke von der metrischen Form zum sprachlichen Sinn zu schlagen. Ihre Notation kann Symmetrien und numerische Beziehungen beschreiben, aber der Sinn, die Gestaltung des Sinns durch die Signifikanten, also der jeweilige Rhythmus, fließt unweigerlich durch die Maschen der metrischen Notation. Deshalb schlägt Meschonnic eine rhythmische Notation vor. Der Unterschied zwischen rhythmischer und metrischer Notation soll hier lediglich anhand eines Verses von Racine verdeutlicht werden, den Matila Ghyka so metrisiert: w



vs

f



^





__

L'éclat de mon nom même augmente mon supplice (a.a.O., 252)

Die versfußähnliche harmonische 2424-Symmetrie, die Ghyka aus dem Vers herausliest, bezeichnet Meschonnic als „metrische Fiktion", da sie sowohl den Konflikt zwischen Syntagmatik und Metrum (der 6. Position im Alexandriner) als auch den konsonantischen Rhythmus des Verses verwischt. Meschonnic versucht, diesen Phänomenen in seiner Notation Rechnung zu tragen: ^,—.±

w

j,

,—.JL

w



w

L'éclat de mon nom même augmente mon supplice (a.a.O.) Ghyka akzentuiert nur „même", nicht aber „nom" und unterschlägt damit einen doppelten und doppeldeutigen Bezug: Einerseits tritt „même" verstärkend zu der Wortgruppe „L'éclat de mon nom" hinzu und andererseits (und nur so erscheint es bei Ghyka) ist es das letzte Glied der nominalen Ergänzung „de mon nom même", die zum Substantiv „L'éclat" gehört. Aus dieser doppelten syntaktischen Relation resultiert die Betonung sowohl von „nom" als auch von „même". Die Hervorhebung von „mon nom même" wird darüber hinaus durch die monosyllabische Qualität der drei Worte und durch die prosodischen Bezüge zwischen ihnen verstärkt.21 Meschonnic unterstreicht, daß die prosodische Serie auf Imi keine bloße Alliteration darstellt, sondern 20 21

„Gerade der Glanz meines Namens erhöht meine Qual", Phèdre, 5. Akt, 7. Szene, Wie der Rhythmus ist auch die Prosodie für Meschonnic kein exklusives Charakteristikum der gesprochenen Sprache. Im Geschriebenen rechnet Meschonnic vor allem die vokalisch-konsonantischen Bezüge zur Prosodie (Meschonnic 1970a: 65 und 1982: 260). In diesem Sinne verwende ich den Begriff Prosodie auch im folgenden.

22 (vor allem wenn man den Kontext miteinbezieht) eine semantische Linearität schafft, die Teil der poetischen und dramatischen Spannung des Dialoges ist, in dem dieser Vers steht. Ein Element dieser Spannung bildet eben auch die Akzentuierung von „même" und „nom" und der sich daraus ergebene Konflikt zwischen der fünften und der sechsten Position. Die doppeldeutige Skansion notiert Meschonnic mit ( - ) und mit Gegenakzenten ( ' ), nämlich den prosodischen Akzenten auf „mon" und „nom" und den Wortgruppenakzenten auf „nom" und auf „même". Die zunehmende Zahl der Gegenakzente ( ' ' " ) soll verdeutlichen, daß es sich um eine Akzentsequenz handelt und bedeutet nicht etwa, daß die dritte Silbe dreimal so stark hervorgehoben wird wie die erste. Die Akzentmarkierungen auf „L'éclat" erklären sich aus der konsonantischen Verdopplung (hier: Hf). Diese findet sich auch in „supplice" (durch das /s/); das vorausgehende „mon" ist sowohl durch die Wiederholung als auch durch die Serie auf /m/ markiert. Neun Positionen von zwölf sind also rhythmisch und damit auch semantisch hervorgehoben. Dieses isolierte Beispiel aus Critique du rythme, das nur ein Bruchstück einer wirklichen Analyse des Rhythmus darstellt, da es nicht über den einzelnen Vers hinausgeht, vermag dennoch eine Vorstellung von den Grenzen der metrischen Notation und ihrer Reduzierung des Rhythmus auf ein metrisches Schema zu geben. Darüber hinaus zeigt es auch, wie der platonische Rhythmusbegriff zu einer Trennung zwischen Rhythmus und Sinn, Metrik und Semantik fuhrt. Erst wenn man den Rhythmus als Anordnung des Fließenden, als veränderliche, momentane Gestalt aufifaßt, treten die vielfaltigen Korrelationen zwischen Rhythmus und Sinn zu tage.

1.5 Der Rhythmus empirisch: die Bibelübersetzung Die Bibelübersetzungen Meschonnics zeigen in eindrücklicher Weise, und vielleicht plausibler, als es jede theoretische Erläuterung vermag, warum es notwendig ist, dem Rhythmus in der Sprache Rechnung zu tragen. Denn die hebräischen Texte der Bibel legen die Funktionsweise des Rhythmus in besonderer Weise offen; man kann den Rhythmus in der Bibel nicht nur hören, man kann ihn auch sehen und - jedenfalls in einem etymologischen Sinn - auch schmecken. Von ta 'am, hebräisch für „Geschmack", leitet sich nämlich ta 'amim her, die Bezeichnung für die Akzente in den hebräischen Bibeltexten. In der Tat besitzt die hebräische Bibel ein einzigartiges rhythmisches Notationssystem, das mit der Starrheit unserer im Neuhochdeutschen

23 stark grammatikalisierten Interpunktion wenig gemein hat. Jeder Vers wird im Althebräischen durch ein genau abgestuftes System von trennenden und verbindenden Akzenten gegliedert. Die durchgehende Akzentuierung „hierarchisiert, semantisiert, rhythmisiert den Bibeltext und gliedert seine Kantillation".22 Die zentrale Rolle der Akzentuierung für die Bibeltexte macht die Frage der Übersetzung zu einem Prüfstein für die Rhythmustheorie, wie umgekehrt auch die Frage des Rhythmus zu einem Prüfstein für die Übersetzungspraxis werden kann. Eine Übersetzung, die nur vom Zeichen ausgeht, wird zwangsläufig zu anderen Resultaten führen als eine Übersetzung, die den Rhythmus des Textes miteinbezieht. Hier zeigt sich die Originalität von Meschonnics Ansatz, denn er ist der erste, der in der Geschichte der Bibelübersetzungen den hebräischen Text mit allen seinen Akzenten übersetzt. In der Einleitung zu Les Cinq Rouleaux schreibt er dazu: Es ist mir darum gegangen - und ich glaube, das ist noch nie versucht worden die Akzente und Pausen wiederzugeben, deren komplexer Hierarchie der biblische Vers seine Modulationen und manchmal sogar seinen Sinn verdankt. Der Rhythmus ist der tiefe Sinn eines Textes.23

Da die Interpunktionszeichen des modernen Französisch der differenzierten hebräischen Akzentuierung nicht gerecht werden, gibt Meschonnic die unterschiedliche Stärke der trennenden Akzente durch verschieden große Leerblöcke zwischen den einzelnen Wortgruppen wieder. Der erste Vers des bei Luther als Prediger bezeichneten Buches Paroles du Sage sieht bei Meschonnic deshalb so aus: Paroles du Sage fils de David roi dans Jerusalem24 Der große Leerblock nach David steht für einen starken trennenden Akzent, während die schwächeren Trennungsakzente durch die kleineren Leerblöcke nach Paroles und roi wiedergegeben werden. Was sich ändert, wenn man einen Text von seinem Rhythmus her übersetzt und inwiefern Rhythmus und Sinn untrennbar verbunden sind, soll hier nur anhand zweier beliebig ausgewählter Verse aus Meschonnics Übersetzungen

23

24

„Une accentuation continue hiérarchise, sémantise, rythme le texte biblique et règle sa cantillation." (Meschonnic 1982: 473). „J'ai voulu rendre, et je crois qu'on ne l'avait jamais tenté , les accents et les pauses dont la hiérarchie complexe fait la modulation du verset biblique, son rythme et parfois même son sens. Le rythme est le sens profond d'un texte." (Meschonnic 1970b: 15). Worte des Weisen Sohn Davids König in Jerusalem. (Meschonnic 1970b: 135).

24 der Cinq Rouleaux angedeutet werden. Es handelt sich um den bereits zitierten und den darauffolgenden Vers (1,1-2) aus dem im Deutschen unter dem Namen Prediger bekannten Bibeltext. Hervorgehoben werden muß dabei, daß die folgenden Erläuterungen nur illustrierenden Charakter haben und daß sie deshalb nicht den Anspruch erheben, alle textkritischen und philologischen Fragen, die der Text aufwirft, klären zu wollen. Um die Ausrichtung von Meschonnics Übersetzung deutlich zu machen, soll seine Version mit zwei anderen Übersetzungen verglichen werden: mit der LutherÜbersetzung in der Fassung von 1545 und mit der ökumenischen Einheitsübersetzung von 1980. Luthers Text wurde wegen seiner historischen Bedeutung für die Geschichte der deutschen Bibelübersetzung ausgewählt und die Einheitsübersetzung, weil sie einen der neueren Versuche darstellt, die Bibel aus dem hebräischen und griechischen Urtext ins Deutsche zu übertragen. Ich gebe zuerst den hebräischen Text nach der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) wieder, zusammen mit einer Transkription der Aussprache und einer Interlinearübersetzung (beide wie das hebräische Original von rechts nach links zu lesen). Dann folgt die Übersetzung Luthers, die Einheitsübersetzung und schließlich Meschonnics Version. fl^Bn-a ihn? rfcnp 'n?·? 1 l25 bijrshalaim melech ben-david qohelet divrê: (in Jerusalem) (König) (Sohn David) (?) (Worte von)

1)

2)

I. Dis sind die Rede des Predigers / des sons Dauids/des Königes zu Jerusa lem.26

3)

Buchtitel: 1,1 'Worte Kohelets, des Davidsohnes, der König in Jerusalem war.27

4)

1 Paroles

du Sagefilsde David

roi

dans Jerusalem28

Schon der erste Vers verrät drei verschiedene Übersetzungsstrategien. Luther übersetzt Γΐ^πρ (qohelet) mit „Prediger" und HS"! (Plural constructus von "ü^, davar. Wort) mit „Rede". Er stellt den Text in eine konkrete Situation und legt so dessen rhythmische Ausrichtung fest. Der Text wird zur Rede eines Predigers, zur gesprochenen Predigt an eine Gemeinde. Diese Situie25 26 27

28

(BHS 1990: 1336) Luther (1545: CCCXLm). Rede ist hier Nominativ Plural. Einheitsübersetzung (1980: 720). Die Zwischenüberschriften („Buchtitel: 1,1") hier und im folgenden sind Zusätze der Herausgeber der Einheitsübersetzung. Meschonnic (1970b: 135).

25 rung ist charakteristisch für Luthers Übersetzungspoetik überhaupt: Die ganze Bibel und jeder einzelne Vers, bis hin zu den erläuternden Randglossen, erhalten bei Luther den Charakter einer mündlichen Predigt an die Gemeinde.29 Diese Übersetzungspoetik hat im vorliegenden Vers vor allem zwei Auswirkungen. Zum einen führt sie dazu, daß die Gegenwart des Textes und die Gegenwart des Lesers/Hörers verknüpft werden, und zum anderen bewirkt sie eine Annäherung an den Rhythmus des Textes, an das, was Meschonnic die Mündlichkeit des Textes nennt und was er mit einer Formulierung von Gerard Manley Hopkins als die „Bewegung des Sprechens im Geschrieben" bezeichnet.30 Beides zeigt sich in dem „Dis sind", mit dem Luther den Vers beginnt und das die doppelte Funktion hat, den Text in die Gegenwart des Lesers/Sprechers zu setzen und das Substantiv „Rede" hervorzuheben. Damit leistet die Demonstrativ-Kopula etwas ähnliches wie der trennende Akzent auf dem ersten W o r t , i m Hebräischen, durch den das Wort isoliert und dadurch hervorgehoben wird. Die nachfolgenden parallelen Genetiv-Appositionen fungieren durch ihre syntaktische Konstruktion als Echo des zentralen Nominalsyntagmas „die Rede des Predigers", den sie so als Zentrum des Verses ausweisen. Die Einheitsübersetzung beschreitet einen anderen Weg. Auch hier ist die Übersetzung oder besser Nicht-Übersetzung des Wortes qohelet aufschlußreich. Die direkte Übernahme des Wortes aus dem Hebräischen hat einen Distanzierungseffekt: Kohelet wird zu einem neuen, dem Leser unbekannten Eigennamen. Die Einheitsübersetzung betont von Anfang an die Distanz zwischen der Gegenwart des Textes und der Gegenwart des Lesers. Aus diesem Grund verwendet sie auch das archaisierend wirkende Kompositum „Davidsohn" und fugt ein Präteritum („war") ein. Die Voranstellung der tautologischen Zwischenüberschrift, mit der der erste Vers von dem übrigen

29

30

Dies hat Luther selbst hervorgehoben. So schreibt er, das Evangelium sei „eygentlich nicht das, das ynn buechern stehet und ynn buchstaben verfasset wirtt, sondernn mehr eyn mundliche predig und lebendig wortt und eyn stym, die da ynn die gantz wellt erschallet und öffentlich wirt auß geschryen, das mans Uberai hoeret." (Epistel Sanct Petri gepredigt und ausgelert, 1523, in: Luther Werke 1966: 259). „L'oral est compris comme un primat du rythme et de la prosodie dans l'énonciation. Il compose une sémantique particulière - Apollinaire parlait de »prosodies personnelles«, et Gerard Manley Hopkins du »record of speech in writing«. L'oral est alors une propriété possible de l'écrit comme du parlé." (Meschonnic 1995: 150).

26 Text abgetrennt wird (auf „Buchtitel" vor dem ersten Vers folgt vor dem zweiten „Vorspruch"), und die syntaktische Reihung verstärken diesen Effekt zusätzlich. Meschonnic schließlich wählt einen dritten Weg für die Übersetzung von qohelet. Er geht von der Wertigkeit des Ausdrucks im Text aus: Als Sohn Davids ist qohelet mit Salomo assoziiert, in dessen Nähe er auch durch die Bezeichnung „le Sage", der Weise, gerückt wird, ohne daß die Identität der Person dadurch zu eindeutig festgelegt wird. Durch die Einbeziehung der Akzentuierung in Meschonnics Übersetzung tritt an die Stelle der aufzählenden Reihung die Hervorhebung einzelner Worte und Wortgruppen. Bemerkenswert ist vor allem die Übersetzung der Akzentuierung des ersten Wortes (divrê: „Paroles"), da sie zwei grammatikalisch eng verknüpfte Glieder trennt („Paroles" und „du Sage"), während die grammatikalisch unabhängigen Glieder „Sage" und „fils de David" eine einzige Wortgruppe bilden. Weder die Einheitsübersetzung noch Luther geben die Hervorhebung von „roi" und „David" wieder, die bei Meschonnic den Rhythmus des Verses prägt. Denn erst durch den insistierenden Hinweis auf David und auf den königlichen Ursprung der Worte erhält der Vers seinen Ankündigungscharakter. Der Rhythmus realisiert diesen Ankündigungscharakter. Deswegen ist es auch nicht gleichgültig, daß der Vers in Meschonnics Übersetzung nicht aus drei syntaktischen, sondern aus vier rhythmischen Gruppen besteht, denn jede dieser Gruppen dient der Aufwertung dieses einen, ersten Wortes, auf das der ganze Vers ausgerichtet ist. Erst der Rhythmus schafft also den appellativen Charakter des Verses, der zum Zuhören aufruft und die Gegenwart des Textes im Jetzt der Lesung und des Lesens betont. Diese unterschiedlichen Übersetzungsstrategien finden ihr konsequente Fortführung im zweiten Vers des Textes: 1)

:*?3,n

bpn

D'bsq

baq

n^fip τρκ

o^aq

baq 2

havel hakol havalim havel qohelet amar havalim havel (Hauch) (alles das Xvon Hauch) (Hauch) (?) (sagte) (von Hauch) (Hauch)31 2)

31

32

Es ist alles gantz Eitel / sprach der Prediger / Es ist alles gantz eitel.32

(BHS 1990: 1336).. havalim ist im Hebräischen Plural. Wörtlich müßte es also eigentlich heißen: „Hauch der Hauche". Luther (1545: CCCXLm).

27 3)

Vorspruch: 1,2-3 Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.33

2

4)

2 Buée de buées

a dit le Sage

buée de buées

tout est buée34

Lexikalisch schließt Luthers Übersetzung an das Vanitas-Motiv aus der Vulgata an.35 Rhythmisch dagegen weicht er sowohl vom Hebräischen wie auch von der Vulgata ab. Weder die Constructus-Verbindungen, die Hieronymus durch die Genitive wiedergibt, noch die fünffache Wiederholung des Signifikanten havel- versucht Luther ins Deutsche zu übertragen. Der insistierende Rhythmus des hebräischen Orginals paßt nicht in Luthers Vision des Textes, weil er keine Predigt eröffnen könnte. Deswegen beginnt Luther mit einem allgemeinverständlichen und -gültigen moralischen Werturteil, das durch einmalige Wiederholung nochmals bekräftigt wird. Der Prediger beginnt seine Rede. Gegen die jahrhundertealte Tradition des „vanitas vanitatum" sucht die Einheitsübersetzung wieder die Nähe zum hebräischen Urtext. Aber sie bleibt auf halber Strecke stehen. Obwohl „Windhauch" dem hebräischen hevel, entspricht, vernachlässigt die Einheitsübersetzung die ConstructusVerbindung {havel havalim, „Hauch von Hauch"). Diese (im Hebräischen durch Akzentuierung noch unterstrichene) Konstruktion bewirkt eine Superlativisierung des Signifikanten hevel. Die Vernachlässigung der grammatikalischen und der rhythmischen Organisation des Verses führt zu einer Sinnentstellung, denn das fünfmalige Wiederholen des gleichen Kompositums wirkt wie ein unmotiviertes Stammeln oder wie eine archaisierende Beschwörungsformel und überbietet noch den Distanzierungseffekt des ersten Verses. Auch hier, wie im vorangegangenen Vers, ersetzt die Aneinanderreihung den Rhythmus des Textes, dessen spezifische Sprechweise, und damit seine semantische Ausrichtung. Nicht nur in diesen beiden Versen, auch sonst legt die Einheitsübersetzung in ihrer Version des Alten Testamentes

33 34

35

Einheitsübersetzung (1980: 720). „Hauch von Hauch hat der Weise gesagt Hauch von Hauch alles ist Hauch." (Meschonnic (1970b: 135). Da der Plural von „Hauch" im Deutschen ungebräuchlich ist, habe ich, anders als Meschonnic, der den Numerus des Hebräischen im Französischen {buées) beibehält, überall den Singular gesetzt. Bei Hieronymus lautet der Vers (Vulgata 1994: 605): „Vanitas vanitatum, dixit Ecclesiastes; Vanitas vanitatum, et omnia vanitas."

28 das Gewicht vor allem auf das Attribut alt. Es ist fraglich, ob sie damit dem Rhythmus der Texte gerecht wird. Die Übersetzung Meschonnics zeigt, wie der Rhythmus den Sinn gestaltet. Die unverbrauchte Metaphorik, die insistierende Wiederholung des Signifikanten „buée" (für hevel), die steigernde Wirkung der ConstructusVerbindung und die rhythmische Gliederung durch die Akzentuierung bleiben bei ihm erhalten und eröflhen dem Leser einen Zugang zu der kraftvollen und fast herben Sprechweise dieses überraschend modernen Textes. Zwei einzelne Verse vermögen zwar nur ein unzureichendes Bild von dem einzigartigen Rhythmus dieses Textes zu geben. Denn wenn der Rhythmus die Gestaltung des Sinns in der Ganzheit der Rede ist, dann kann er auch nur in der Ganzheit der Rede untersucht werden. Textauschnitte werden also immer nur Ausschnitte des Rhythmus bieten können. Aber schon an diesen Ausschnitten erweist sich über die Bedeutung der Akzentuierung hinaus die Wichtigkeit aller anderen sprachlichen Elemente (z.B. der Lexik, Syntax und phonematischen Beziehungen) für die Gestaltung des Sinns durch den Rhythmus. Sie zeigen, wie der Rhythmus aus dem Zusammenwirken der Signifikanten entsteht und daß er somit nicht als isolierbare, rein formale und damit semantisch neutrale Ebene des Textes begriffen werden kann.

1.6

Der Rhythmus als sprachtheoretisches Konzept

1.6.1 D m Rhythmus definieren Wenn der Rhythmus in der Sprache als die veränderliche, immer neue Gestaltung des Sinns aufzufassen ist, fragt es sich, ob es überhaupt möglich ist, ihn eindeutig zu definieren. Tatsächlich werden die Elemente und Bezüge, die für den Rhythmus ausschlaggebend sind, von Text zu Text jeweils anders gewichtet sein, und die Funktionsweisen des Rhythmus in der Sprache werden sich als so unausschöpfbar erweisen, wie die kulturellen, geschichtlichen und individuellen Verwandlungen der Sprache selbst. Die Definition, die Meschonnic in Critique du rythme vorschlägt, versucht daher weniger, den Rhythmus auf ein einziges sprachliches Prinzip festzulegen, als vielmehr, die Vielfalt der für den Rhythmus relevanten Phänomene in der Sprache deutlich werden zu lassen:

29 Ich definiere den Rhythmus in der Sprache als die Gestaltung von Merkmalen, durch die die Signifikanten, seien diese sprachlich oder (vor allem bei mündlicher Kommunikation) außersprachlich, eine spezifische Semantik hervorbringen, welche sich von der lexikalischen Bedeutung unterscheidet, und die ich die Bedeutungsweise nenne; damit sind diejenigen Werte gemeint, die einer und nur dieser einen Rede angehören. Diese Merkmale sind auf allen »Ebenen« der Sprache zu finden: auf der akzentischen, der prosodischen, der lexikalischen, der syntaktischen. Zusammen bilden sie eine Paradigmatik und eine Syntagmatik, die den Begriff der Ebene gerade auflösen. Im Gegensatz zur gängigen Reduzierung des »Sinns« auf das rein Lexikalische ist die gesamte Rede an der Bedeutungsweise beteiligt, sie ist in jedem Konsonanten enthalten, in jedem Vokal, in jeder Silbe, die in ihrer syntagmatischen und paradigmatischen Funktionsweise die Bildung von Reihen bewirkt. Somit sind die Signifikanten sowohl syntaktische als auch prosodische Einheiten. Der »Sinn« liegt nicht mehr - lexikalisch - in den Worten. [...]. Der Rhythmus, der sowohl die Bedeutungsweise als auch die Bedeutung der Rede gestaltet, ist selbst die Gestaltung des Sinns in der Rede. Und da der Sinn die Aktivität des Äußerungssubjektes bildet, ist der Rhythmus die Gestaltung des Subjekts als Rede in und durch seine Rede.36 Die Rolle, die in dieser Passage Begriffe wie z.B. Rede, Äußerungssubjekt

Bedeutungsweise,

und Wert spielen, weisen auf die sprachtheoretische Kon-

tinuität hin, in der Meschonnics Rhythmustheorie steht. Diese Kontinuität soll nun, gleichsam als Kommentar und als Erläuterung zu dem zitierten Abschnitt, herausgearbeitet werden. Es sind dabei vor allem drei Namen, an die Meschonnic anknüpft und deren Arbeiten in seine Rhythmustheorie einfließen: Emile Benveniste, Ferdinand de Saussure und Wilhelm von Humboldt.

36

„Je définis le rythme dans le langage comme l'organisation des marques par lesquelles les signifiants, linguistiques et extralinguistiques (dans le cas de la communication orale surtout) produisent une sémantique spécifique, distincte du sens lexical, et que j'appelle la signifiance: c'est-à-dire les valeurs, propres à un discours et à un seul. Ces marques peuvent se situer à tous les »niveaux« du langage: accentuelles, prosodiques, lexicales, syntaxiques. Elles constituent ensemble une paradigmatique et une syntagmatique qui neutralisent précisément la notion de niveau. Contre la réduction courante du »sens« au lexical, la signifiance est de tout le discours, elle est dans chaque consonne, dans chaque voyelle qui, en tant que paradigmatique et syntagmatique, dégage des séries. Ainsi les signifiants sont autant syntaxiques que prosodiques. Le »sens« n'est plus dans les mots, lexicalement. [...]. Organisant ensemble la signifiance et la signification du discours, le rythme est l'organisation même du sens dans le discours. Et le sens étant l'activité du sujet de l'énonciation, le rythme est l'organisation du sujet comme discours dans et par son discours." (Meschonnic 1982: 216).

30

1.6.2 Benvenistes Theorie der Rede Benveniste vor allem ist es, auf den Meschonnic aufbaut, nicht nur wegen seiner Entdeckung des vorplatonischen Rhythmusbegriffes, sondern ebenso wegen seiner Theorie der Rede, die zugleich eine Theorie der Subjektivität in der Sprache eröffnet. Meschonnic selbst hebt die Bedeutung Benvenistes für seine eigenen Arbeiten immer wieder hervor, etwa wenn er in Critique du rythme schreibt: Was ich hier unternehme, ist nur durch Benveniste möglich und zielt nur darauf ab, ihn fortzuführen.37

Die entscheidende Neuerung von Benvenistes Konzeption der Rede {discours) gegenüber Saussures Konzeption der parole liegt in der Aufhebung des Primats der langue, also des Sprachsystems, über die Rede. Die Realität der Rede ist nicht identisch mit der Realität der langue, sie läßt sich nicht aus der langue ableiten und erschöpft sich nicht in ihr. Der Grund dafür liegt nach Benveniste in der doppelten Bedeutungsweise (double signißance), die die Sprache vor allen Zeichensystemen auszeichnet. Denn nur in der Sprache gibt es eine semiotische und eine semantische Bedeutungsweise. Zur semiotischen Bedeutungsweise gehören alle Charakteristika der Einzelsprache außerhalb des konkreten Äußerungsaktes. Ihre Grundeinheit ist das Zeichen, und sie konstituiert sich durch die Oppositionen der Zeichen im Sprachsystem (Benveniste 1966: 222f.). Davon zu unterscheiden ist die semantische Bedeutungsweise, die keine Funktion der semiotischen Bedeutungsweise ist, da sie ausschließlich der Rede angehört. Denn nur in der Rede und durch die Rede konstituiert sich die semantische Dimension der Sprache, der Sinn (le sens)·, und dieser Sinn ist kein Produkt einer semiotischen Zusammensetzung, keine einfache Abfolge von Zeichen, weil er sich nicht aus den einzelnen Zeichen und den Modi ihrer Kombinationen herleiten läßt. Aus einem Gedicht von Rilke lassen sich ohne weiteres semiotische Elemente des Neuhochdeutschen erschließen, aber keine Zeile Rilkes läßt sich aus dem deutschen Sprachsystem herleiten. Der Unterschied zwischen den beiden Ebenen findet sich wieder in dem Verhältnis zwischen Wort und Satz:

„Ce que j'entreprends ici n'est possible que par Benveniste et ne vise qu'à le continuer." (a.a.O., 45). Siehe auch Meschonnic (1985: 135).

31 Entgegen der Vorstellung, daß der Satz ein Zeichen im Sinne Saussures darstellen könnte [...] denken wir, daß das Zeichen und der Satz zwei verschiedene Welten sind und daß sie verschiedene Beschreibungen verlangen.38 Es ist diese grundsätzliche Scheidung der Ebenen - Benveniste spricht von einem „radikalen Perspektivenwechsel" - , 39 die Benvenistes discours von Saussures parole unterscheidet. 40 Die semiotische Ebene ist die des Sprachsystems und des Zeichens, die semantische dagegen die des Satzes, der Rede, der sprachlichen Tätigkeit eines Subjekts - und damit des Sinns: Die Ordnung des Sëmantischen ist identisch mit der Welt des Äußerungsaktes und dem Universum der Rede.41 Die deutsche Sprachwissenschaft hat die Tragweite von Benvenistes Konzeption der doppelten Bedeutungsweise bislang kaum zu würdigen gewußt. Es gibt in Deutschland verschwindend wenig Arbeiten zu Benveniste, und es fehlen immer noch Übersetzungen seiner wichtigsten Aufsätze. 42 Das ist überraschend, wenn man bedenkt, welche Beobachtungen Benveniste im „Universum der Rede" gemacht hat. So hat er etwa in dem Aufsatz Le langage et l'expérience humaine (1965) gezeigt, daß die Zeit eine Funktion der Rede ist. Denn der Kalender steht still, und die Uhizeit kennt wedei1 Zukunft noch Vergangenheit. Die Bewegung der Zeit existiert nur in Bezug auf einen Punkt, nämlich auf das Jetzt der Gegenwart, und dieses Jetzt konstituiert sich immer wieder neu in und durch den Äußerungsakt selbst: Jedesmal, wenn ein Sprecher die grammatikalische Form des »Präsens« (oder ein Äquivalent davon) verwendet, setzt er das Ereignis als gleichzeitig mit der konkreten Rede, die es nennt [...]. Diese Gegenwart wird jedesmal, wenn ein Mensch

39

40

41

42

„Contrairement à l'idée que la phrase puisse constituer un signe au sens saussurien, [...] nous pensons que le signe et la phrase sont deux mondes distincts et qu'ils appellent des descriptions distinctes." (Benveniste 1966: 224). „Du sémiotique au sémantique il y a changement radical de perspective." (a.a.O., 225). „Nous instaurons dans la langue une division fondamentale, toute différente de celle que Saussure a tentée entre langue et parole." (a.a.O., 224). „L'ordre sémantique s'identifie au monde de Pénonciation et à l'univers du discours." (Benveniste 1969: 64). Der gesamte zweite Band der Problèmes de linguistique générale (1974) mit so grundlegenden Aufsätzen wie Sémiologie de la langue und La forme et le sens dans le langage ist immer noch unübersetzt. Die neueste Einführung in seine Theorie stammt von Gérard Dessons. (Dessons 1993).

32 spricht, neu erfunden, denn sie ist, buchstäblich, ein neuer, noch nicht gelebter Augenblick.43 Eine andere Entdeckung Benvenistes im „Universum der Rede" betrifft die sprachliche Grundlage der Subjektivität. Benveniste geht dabei aus von der Funktionsweise des Personalpronomens der ersten Person ich, dessen Besonderheit darin liegt, daß es nicht als Zeichen aufgefaßt werden kann: Es gibt weder einen abstrakten Begriff, der alle ich umfaßt, wie der Begriff des Baumes alle konkreten Verwendungen des Wortes Baum abzudecken scheint, noch bezieht sich ich nur auf eine konkrete Person, wie ein Eigenname, noch vertritt es einen Eigennamen, wie die „echten" Pronomina der dritten Person: Aufweiche »Realität« bezieht sich also ich oder du? Allein auf eine »Realität der Rede«, was etwas sehr Einzigartiges ist. Ich kann nur in einer Begrifflichkeit des »Sprechens« definiert werden, nicht in einer Begrifflichkeit der Gegenständlichkeit, wie das nominale Zeichen.44 Das Pronomen ich bezeichnet jedesmal das Subjekt der Rede, in der es steht, das Subjekt, aber nicht unbedingt den Sprecher, wie noch Karl Bühler meinte, 43 denn sonst könnte man niemand den Brief eines anderen vorlesen, kein Zitat anführen und keine wörtliche Rede verwenden, ohne beim Zuhörer auf gänzliches Unverständnis zu stoßen: Man muß diesen Punkt unterstreichen: ich kann nur durch die konkrete Rede identifiziert werden, die es enthält, und nur durch sie. Es gilt nur für die Rede, in der es steht.46

44

45

46

„Chaque fois qu'un locuteur emploie la forme grammaticale de »présent« (ou son équivalent), il situe l'événement comme contemporain de l'instance du discours qui le mentionne [...]. Ce présent est réinventé chaque fois qu'un homme parle parce que c'est, à la lettre, un moment neuf, non encore vécu." (Benveniste 1965: 73f.). Zu einer ähnlichen Auffassung gelangt Jürgen Dittmann, wenn er die Zeitkonstituierung als performativen Akt beschreibt, für den der Rückgriff auf ein physikalisches Zeitprinzip überflüssig ist (Dittmann 1976: 140ff.). „Quelle est donc la »réalité « à laquelle se réfère je ou tul Uniquement à une »réalité de discours«, qui est une chose très singulière. Je ne peut être défini, qu'en termes de »locution«, non en termes d'objets, comme l'est un signe nominal." (Benveniste 1956: 252). Bühler versucht das Personalpronomen „ich" mal als Sendersignal und mal als Individualsignal zu deuten (Bühler 1934: 79, 95f.). „II faut donc souligner ce point: je ne peut être identifié que par l'instance de discours qui le contient et par là seulement. Il ne vaut que dans l'instance où il est produit." (a.a.O.).

33 Ich bezeichnet also nicht einfach den Sprecher, sondern es ist ein Indikator des Subjekts der jeweiligen Rede und mit dieser untrennbar verbunden. Andere Subjektindikatoren sind etwa die Adverbien jetzt und hier und ihre funktionalen Äquivalente. Über diese Beobachtungen zur Funktionsweise des Pronomens ich gelangt Benveniste zum Zusammenhang zwischen Subjektivität und Sprache überhaupt: Der Äußerungsakt konstituiert das Subjekt in der Sprache und damit die Möglichkeit der Subjektivität (Benveniste 1958: 262). In jeder Rede vollzieht sich somit eine erneute Subjektivierung der Sprache. Meschonnic seinerseits knüpft an Benveniste an, indem er dessen Beobachtung zur Funktionsweise des Personalpronomens ich auf die gesamte Rede erweitert: Nicht nur eine Klasse von Wörtern, sondern die gesamte Rede mit all ihren Elementen und Beziehungen kann - und das ist etwa beim Gedicht der Fall - durch den Rhythmus zu einer „Figur des Ichs" (Meschonnic 1985: 84) werden: Das Rhythmus-Subjekt der Rede ist in allen Merkmalen gegenwärtig, die die Rede gestalten. Das Subjekt ist gerade die Integration dieser Merkmale, die Integration des Rhythmus und des Sinns in einer umfassenden Bedeutungsweise. 47

Wobei Meschonnic Bedeutungsweise (signißance) in einem gegenüber Benveniste modifizierten Sinne gebraucht. Die Bedeutungsweise ist bei Meschonnic das jeder Rede eigene Zusammenwirken aller Signifikanten (deshalb spricht er von umfassend, généralisée). Jede Rede hat also ihre je eigene Bedeutungsweise, nämlich diejenige ihres Rhythmus, der immer zugleich der Rhythmus eines Subjekts ist. Im Rhythmus zeigt sich somit, was in der Zeichenvorstellung ausgeklammert bleibt: die Untrennbarkeit von Sprache, Subjekt und Sinn: Wenn der Sinn eine Aktivität des Subjekts ist, wenn der Rhythmus eine Gestaltung des Sinns in der Rede ist, dann ist der Rhythmus notwendigerweise eine Gestaltung oder Konfiguration des Subjekts in seiner Rede. Eine Theorie des Rhythmus in der Rede ist also eine Theorie des Subjekts in der Sprache.48

„Le sujet-rythme du discours est présent dans toutes les marques qui organisent le discours. Le sujet est l'intégration même de ces marques, l'intégration du rythme et du sens en signifiance généralisée."(Meschonnic 1985: 84). „Si le sens est ime activité du sujet, si le rythme est une organisation du sens dans le discours, le rythme est nécessairement une organisation ou configuration du sujet dans son discours. Une théorie du rythme dans le discours est donc une théorie du sujet dans le langage." (Meschonnic 1982: 71).

34 Wie das Pronomen der ersten Person Singular immer nur ein bestimmtes Subjekt bezeichnet, aber dennoch von jedem Subjekt immer neu verwendet werden kann, so gründet auch die Subjektivierung der Sprache durch den Rhythmus in der Intersubjektivität der Sprache.49 Dies ist möglich, weil der Rhythmus nicht die Bedeutung der Wörter negiert oder umdefiniert, wie der Mann in Peter Bichseis Geschichte Ein Tisch ist ein Tisch, was unweigerlich in den Solipsismus fuhren muß, sondern weil der Rhythmus in der Veränderung des Wertes wirksam wird. Meschonnics Konzeption des Wertes knüpft dabei direkt an Ferdinand de Saussure an.

1.6.3 Saussure und der Wert-Begriff bei Meschonnic Das herrschende Saussure-Bild zeigt den Genfer Sprachwissenschaftler noch immer in der Rolle des Begründers des Strukturalismus. In zahlreichen Einführungen in die Linguistik erhält er nach wie vor den zweifelhaften Ruhmestitel des Erfinders der Ausklammerung der Rede und der geschichtlichen Dimension aus der Sprachwissenschaft.50 Meschonnic bezieht sich dagegen auf einen anderen, mcht-strukturalistischen Saussure, einen Saussure, der sich erschließt, wenn man die originalen Vorlesungsmitschriften des Cours 49

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Sprachliche Subjektivität kann nur als Intersubjektivität aufgefaßt werden, wenn man nicht entweder gegen das Prinzip der Sprachlichkeit oder der Subjektivität verstoßen will: „Im Konzept der interagierenden Individuen muß die Explikation des Begriffe der individuellen Rede wurzeln, das Konzept der Subjektivität muß mit dem der Intersubjektivität vermittelt werden, wenn ein sprachtheoretisch haltbarer Begriff der individuellen Rede entstehen soll." (Dittmann 1986: 275). Z.B. bei Gerhard Nickel (1979: 66), Harro Gross (1988: 22ff.) und bei Brigitte Bartschat (1996: 69). Er wird damit zum idealen Antipoden zu Humboldt. Während Saussure, meint etwa Brigitte Bartschat, die langue nur als „Vorrat von Zeichen, die durch paradigmatische Beziehungen miteinander verbunden sind." betrachtet, ist die Sprache bei Humboldt auch „energeia, immerwährende Schöpfung, nicht nur ergon, das Geschaffene" (Bartschat 1996: 67). Dabei wird aus Saussure ein Anti-Saussure, denn die Kritik der Wortinventar- Vorstellung war ja gerade der Ausgangspunkt von Saussures Sprachtheorie. Niemand hat die strukturalistische Reduzierung Saussures in Deutschland so gründlich kritisiert wie Ludwig Jäger (1975 und 1990). Und Jürgen Dittmann schreibt: „Nicht nur verwendete Saussure den Begriff »Struktur« (im Sinne von »Struktur« eines Systems) noch nicht, sondern er war auch kein Strukturalist im Sinne der Schule, die sich auf ihn als ihren Ahnherrn berief." (Dittmann 1982: 91). Neue Impulse für die Saussure-Rezeption in Deutschland sind auch von den von Johannes Fehr übersetzten und kommentierten Notizen aus dem Nachlaß zu erwarten (Fehr 1997).

35 und die eigenhändigen Notizen Saussures einbezieht. Dieser Saussure eröffnet die Möglichkeit, die Geschichtlichkeit der Sprache zu denken, indem er die Sprache von der Arbitrarität, vom System und vom Wert her begreift. Bei Saussure löst das Prinzip der Arbitrarität den ahistorischen Dualismus von Zeichen und Ding ab, auch wenn der Strukturalismus es mit genau diesem Dualismus verwechselt hat, indem er das Arbitraritätsprinzip mit dem alten Konventionalismus gleichgesetzt hat. Die Konvention impliziert einen vorsprachlichen Ursprung und damit eine ahistorische Präexistenz des Begriffs, wohingegen die Arbitrarität den Ursprung der Sprache in die Funktionsweise selbst legt.51 Die Struktur ist ahistorisch, weil sie in mehreren oder sogar allen historischen Systemen zugleich sein kann, wie Chomskys universelle Grammatik oder Jakobsons universelles poetisches Prinzip des Parallelismus.52 Das System bei Saussure dagegen entgeht gleich zwei ahistorischen Reduktionen, derjenigen durch die Struktur und deijenigen durch die Nomenklatur, in der die Sprache als ein Vorrat einzelner Wortatome erscheint. Für Saussure gibt es keine Wortatome, weil es keine Sinnatome gibt und damit auch keine Präexistenz des Sinns vor der Sprache. Denn an die Stelle des transzendenten Sinns tritt bei Saussure die valeur, der jeweilige Wert im jeweiligen Sprachsystem. So hat etwa der bestimmte Artikel im Englischen einen anderen Wert als im Deutschen (Time passes quickly vs. die Zeit vergeht schnell), das deutsche Präteritum einen anderen Wert als das französische passé simple (das auf das imparfait angewiesen ist) und das deutsche Verb mieten, um Saussures eigenes Beispiel anzuführen, nicht den gleichen Wert wie das französische Verb louer, das sowohl für mieten wie für vermieten gebraucht wird. Meschonnic knüpft an Saussure an, wenn er vom Wert-System und vom radikal Arbiträren, als dem radikal Geschichtlichen ausgeht.53 Aber, und

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„La question de l'origine du langage n'existe même pas." (Saussure 1967: 160, 3. Spalte) und in seinen Aufzeichnungen heißt es: „II n'y a aucun moment où la genèse diffère caractéristiquement de la vie du langage, et l'essentiel est d'avoir compris la vie." (Saussure 1967: 30). „Was ist das empirische linguistische Kriterium fur die poetische Funktion? Vor allem, welches ist das unentbehrliche, jeder Dichtung inhärente Merkmal? [...] Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination." (Jakobson 1960: 110). Tullio de Mauro schreibt in der Einleitung seiner kritischen Ausgabe des Cours de linguistique générale: „Saussure [...] a cerné le caractère radicalement arbitraire et par là radicalement social de toutes les langues: il a ainsi ratifié leur caractère ra-

36 darin liegt vielleicht die entscheidende Differenz gegenüber Saussure, er bezieht das Wert-System nicht mehr nur auf die Einzelsprache, sondern auf die Rede. Das läßt einen zunächst an ein durchaus bekanntes Phänomen denken, das man häufig bei wertenden Begriffen beobachtet: Ob Adjektive wie poetisch, sozialistisch, emanzipiert, modern abwertend, aufwertend, beschreibend, ironisch etc. gebraucht werden, hängt von ihrer Stellung in der jeweiligen Rede ab. Meschonnic geht allerdings mit seiner Verschiebung des Wert-System-Gedankens von der Einzelsprache auf die Rede noch weiter: Nicht nur einzelne Wörter, sondern jedes Element kann in der Rede einen eigenen semantischen Wert erhalten, was für alle Formen der Rede und in charakteristischer Weise für die Dichtung gilt. Es gibt einen eigenen Wert der dem Verstummen nahen Kurzzeile bei Paul Celan und der burlesken orthographischen Verfremdung bei Arno Schmidt. Noch die allerbanalsten Wörter können durch die Rede einen besonderen Wert erhalten. So gibt es etwa bei Rilke eine eigene semantische Wertigkeit der Konjunktion und, die sich so nur bei ihm findet.54 Es ist kein Zufall, daß in der Dichtung die Eigenständigkeit der redeabhängigen Wert-Systeme besonders ausgeprägt ist. Sie ist in gewissem Sinne der Stoff, aus dem das Gedicht gemacht ist. Denn dort, wo es nicht sein eigenes Wert-System hervorbringt, droht das Gedicht in das Klischee, in die Stereotype abzugleiten. Aber die Schaffiing eigener semantischer Wert-Systeme ist auch deshalb so eng mit dem poetischen

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dicalement historique." (Saussure/de Mauro 1972: XIV). Saussure hat in seinen Aufzeichnungen „radicalement arbitraire" geschrieben, die Herausgeber des Cours haben das Wort „radicalement" allerdings unterschlagen (a.a.O., Anmerkung S. 442). Das wiederholte und (häufig mit Enjambement) ist bei ihm ein Element einer plötzlichen Emphase, z.B in dem 2 . Sonett des ersten Teils der Sonette an

Orpheus·. UND fast ein Mädchen wars und ging hervor aus diesem einzigen Glück von Sang und Leier und glänzte klar durch ihre Frühlingsschleier und machte sich ein Bett in meinem Ohr. Und schlief in mir. Und alles war ihr Schlaf. [.·•] Rilke war sich über Bedeutung des Wertes aller Elemente für das Gedicht im klaren. In einem Brief vom 17.März 1922 an die Gräfin Margot Sizzo-Noris Crouy heißt es: ,JCein Wort im Gedicht (ich meine hier jedes »und« oder »der«, »die«, »das«) ist identisch mit dem gleichlautenden Gebrauchs- und Konversationsworte [...]." (Rilke 1987: 770).

37 Sprechen verbunden, weil die Subjektivität des Sprechens im Gedicht deutlicher als in anderen Formen der Rede hervortritt. Denn, wie Meschonnic betont, das Wert-System der Rede ist zugleich ein Subjekt-System: Die Subjektivität eines Textes resultiert aus der Umwandlung von Werten oder Sinn im Sprachsystem zu Werten in einer Rede, und nur in dieser Rede. Auf welcher sprachlichen Ebene auch immer. Auf allen sprachlichen Ebenen. Die maximale Subjektivität ist also ganz und gar differentiell, ganz und gar systematisch. Der Rhythmus ist System."

Die sprachliche Subjektivität ereignet sich im Wert-System der Rede. Und wenn der Rhythmus als Rhythmus eines Subjekts verstanden werden soll, dann ist er das jedesmalige Wert-System der jeweiligen Rede. Die Verlagerang des System-Gedankens von der Einzelsprache auf die Rede zieht noch eine zweite wesentliche Modifikation gegenüber Saussure nach sich: Der Signifikant ist bei Meschonnic nicht mehr das Gegenstück zu einem Signifikat. Denn wenn alle sinnmachenden Elemente zum Rhythmus als Gestaltung des Sinns gehören, dann sind sie alle signifikant, d.h. relevant für den Sinn, eben sinnmachend, unabhängig davon, ob sich jedem von ihnen ein einzelnes Signifikat zuordnen läßt oder nicht (Meschonnic 1982: 70) Wenn Meschonnic auf die Verwandtschaft zwischen Saussures Wert-Begriff und dem Ausdruck Geltung bei Humboldt hinweist (Meschonnic 1995b: 73), dann geht es ihm nicht nur um eine punktuelle Überschneidung, sondern um die Kontinuität zwischen zwei Sprachauffassungen, die beide die Sprache von der Geschichtlichkeit, oder in den Worten Humboldts, von ihrer „anfangs- und endlosen Unendlichkeit" her zu begreifen suchen. Aber es gibt auch eine Kontinuität zwischen Humboldt und Meschonnic selbst; und es ist durchaus bezeichnend, wenn der Humboldt-Spezialist Jürgen Trabant eine Parallele zwischen Meschonnics Rhythmusbegriff und Humboldts enérgeiaAuffassung zieht (Trabant 1990: 203).56

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„La subjectivité d'un texte résulte de la transformation de ce qui est sens ou valeurs dans la langue en valeurs dans un discours, et seulement dans ce discours. Quels qu'en soient les niveaux linguistiques. A tous les niveaux linguistiques. La subjectivité maximale est donc toute différentielle, toute systématique. Le rythme est système." (Meschonnic 1982: 86). Die mögliche Kontinuität zwischen Humboldts und Meschonnics Auffassimg zeigt sich auch bei Michael Böhler, der in seinem Nachwort zu Humboldts Schriften zur Sprache, offensichtlich ohne die Arbeiten Meschonnics zu kennen,

38 1.6.4 Humboldts Konzeption der Jedesmaligkeit der Sprache Die Rhythmustheorie von Meschonnic zeigt die Aktualität Humboldts für die moderne Sprachtheorie. Aber diese Aktualität hat nichts mit Chomskys Humboldt-Rezeption zu tun. Denn was bei Chomsky von Humboldt übrig bleibt, ist die „Seite der Grammatiken, die für Humboldt die tote Darstellung der Sprache, »das todte Gerippe«, war" (Meschonnic 1995: 70)." Sie hat auch nichts mit dem Humboldt-Bild der inhaltsbezogenen Sprachwissenschaft, insbesondere dem von Leo Weisgerber zu tun, der Humboldt auf die Seite des ergon reduziert hat, indem er die Sprache als „Objekti\gebilde" (Weisgerber 1929: 45, Hervorhebung von mir) verstand, das keinen Raum für das Subjekt läßt.58 Zu Weisgebers Umdeutung des Begriffs der enérgeia, die bei ihm allein auf das Wirken der Muttersprache bezogen wird, schreibt Jürgen Dittmann: Die Hypostasierung von Sprache als Energeia führt Weisgerber fort zur Auffassung vom Walten eines Subjekts Sprache bei der Determination der gedanklichen Erfahrungen des Kindes im Spracherwerb. Ergebnis ist die Unterwerfung unter die »muttersprachliche Herrschaft«; das Subjekt Sprache setzt sich gegenüber dem einzelnen als Objekt des »Spracherlemungs«-Prozesses durch. (Dittmann 1980: 50) Weder Weisgerber noch Chomsky denken die Sprache als enérgeia, als Tätigkeit, wie Humboldt, wenn er in der berühmten Passage aus der Einleitung zum Kawi-Werk schreibt: Die Sprache in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes [...]. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). (Humboldt 1835: 36)

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bei der Erläuterung der Humboldtschen Begriffe „innere Sprachform" und „Arbeit des Geistes" unwillkürlich vom Rhythmus spricht: „Da diese Arbeit ein dauernder Prozeß ist, muß dementsprechend auch dieses Gesetz ein bewegendes sein; es ist der rhythmisch-pulsierende Schlag, welcher der Arbeit des Geistes sein Gepräge aufdrückt, nicht etwa der Takt, denn der tritt von außen an eine Bewegung heran, sondern der innere Rhythmus, oder der innere AnStoß." (Böhler 1973: 251). Obwohl der platonische Rhythmusbegriff wirksam bleibt („rhythmischpulsierend"), wendet sich Böhler gegen die alte Reduzierung des Rhythmus auf den Takt („nicht etwa der Takt") und spricht, sich intuitiv Benvenistes etymologischer Kritik annähernd, von einem sich bewegenden Gesetz. Zur Humboldt Rezeption bei Chomsky siehe auch Dittmann (1981), Scharf (1994) und Schneider (1995). Zu Weisgerbers Humboldt-Deformation siehe auch Junker (1986) und Saffer (1996: 100,153 und 182).

39 Denn Sprache als „etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes", als „Tätigkeit", impliziert die Geschichtlichkeit der Sprache, eine Geschichtlichkeit, die die Sprache grundlegend, eben „in ihrem wirklichen Wesen", durchdringt. An diesen Humboldt knüpft Meschonnic an: Ich nenne Humboldt denken ein Denken, das die Sprache als Element einer radikalen Historizität und eines Unendlichen des Sinns nimmt [...]. In der Geschichte des abendländischen Sprachdenkens heißt das, die Sprache gegen das dominante und traditionelle Denken des Sinns zu denken, das paradoxerweise gleichzeitig ein Nicht-denken der Sprache ist [...]. (Meschonnic 1995b: 70)

Das „dominante und traditionelle Denken des Sinns" verhindert, daß die Sprache als Sinn-Tätigkeit aufgefaßt werden kann, indem es den Sinn von der jedesmaligen Tätigkeit des Sprechens in das Zeichen und die Sprachstruktur verlegt. „Humboldt denken" heißt für Meschonnic darum auch, Humboldts Kritik der Zeichentheorie weiterzuführen.59 Von Humboldt aus ist nicht mehr das Zeichen die grundlegende Einheit der Sprache, sondern das Jedesmalige Sprechen", die „verbundene Rede" (Humboldt 1835: 36). Dieser Ansatz führt zu einem Sprachbegriff, der heute - wo die Hypothese der angeborenen Sprachstrukturen in extremen Formen vertreten wird (z.B. von Steven Pinker 1994) - noch an Aktualität gewonnen hat: Die Sprache liegt nur in der verbundenen Rede, Grammatik und Wörterbuch sind kaum ihrem todten Gerippe vergleichbar. (Humboldt 1829: 186)

Meschonnics Konzeption des Rhythmus stellt einen Versuch dar, mit Humboldt und über Humboldt hinaus die Jedesmaligkeit der Sprache, ihre radikale Geschichtlichkeit zu denken. Ausgehend vom Rhythmus, von der „Tätigkeit", vom Jedesmaligen Sprechen" in der „verbundenen Rede" eröffnet sich so zugleich eine Konzeption des Subjekts in der Sprache: „Geschichtlichkeit und Subjektivierung", schreibt Meschonnic, „sind zwei Aspekte derselben Tätigkeit". (Meschonnic 1995a: 16).60 Die Jedesmaligkeit 59

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Schon in seinem Fragment Latium und Hellas aus der Zeit um 1806 warnt Humboldt vor dem „nachteiligsten Einfluß", den die „beschränkte Vorstellung" ausübt, daß „das Wort nichts als Zeichen einer unabhängig von ihm vorhandenen Sache ist." (Humboldt 1806: 7). Auch Jürgen Trabant schreibt: „Humboldts Sprachdenken beginnt eigentlich in dem Moment, wo er die tradtionelle semiotische Auffassung der Sprache kritisiert." (Trabant 1989: 205). Bei Hans-Werner Scharf findet sich eine Aufstellung der wichtigsten Passagen, in denen sich Humboldt gegen die Zeichenvorstellung wendet (Scharf 1989: 126). „[...] historicité et subjectivation sont deux aspects d'un même travail." (Meschonnic 1995a: 16). Das Subjekt ist auch für Humboldt Teil der Sprache selbst und bleibt nicht als Zeichenbenutzer außerhalb des Sprachlichen: „Denn sie die Sprache hat nirgends, auch in der Schrift nicht, eine bleibende Stätte, ihr

40 der Sprache ist immer zugleich die Jedesmaligkeit eines Subjekts, und die unablässigen Verwandlungen der Rede sind der Stoff der Geschichtlichkeit selbst. In der Entdeckung der Kontinuität zwischen Sprache, Subjekt und Geschichte liegt die Herausforderung Humboldts fur die moderne Sprachtheorie. Denn diese Kontinuität impliziert andere Kontinuitäten: z.B. die zwischen Sprache und Körper, Sprache und Kultur, Sprache und Literatur. Humboldts Herausforderung anzunehmen heißt daher, Sprachtheorie als anthropologisches Projekt zu verstehen. In diesem Sinne schreibt Meschonnic: Humboldt ist wahrscheinlich der erste und vielleicht noch der einzige, der eine Sprachtheorie entwickelt hat, die eine Anthropologie ist.61

In der Möglichkeit anknüpfend an Humboldts Konzeption der Jedesmaligkeit der Sprache eine historische Anthropologie der Sprache zu entwickeln, liegt wahrscheinlich der entscheidende Beitrag von Meschonnics Rhythrriustheorie.

gleichsam toter Teil muß immer im Denken aufs neue erzeugt werden, lebendig in Rede oder Verständnis, und folglich ganz in das Subjekt übergehen [...] sie erfahrt auf diesem Wege jedesmal die ganze Einwirkung des Individuums." (Humboldt 1835: 57). „Humboldt est sans doute le premier et peut-être encore le seul à avoir fait une théorie du langage qui soit une anthropologie." (Meschonnic 1982: 47).

2 Die Rhythmusfrage in der deutschen Metrik

In keinem sprach- oder literaturwissenschaftlichen Zweig der Germanistik wurde und wird so häufig vom Rhythmus gesprochen wie in der Metrik. Dabei haben sich im Laufe der Zeit bestimmte Auffassungen herausgebildet, die sich inzwischen längst über die Grenzen der eigentlichen Metrik hinaus verbreitet und durchgesetzt haben. Nicht nur Jost Trier oder Felix Trojan haben ihren Rhythmusbegrifif direkt aus der Metrik, insbesondere von Andreas Heusler, übernommen, auch moderne linguistische Rhythmusmodelle, die von isochronen, taktierenden oder alternierenden Sprachstrukturen ausgehen, basieren letztlich auf einem metrischen Rhythmusbegriff. Bevor auf die Bedeutung des metrischen Rhythmusbegriffs in der Linguistik eingegangen wird (Kapitel 3), ist in diesem Kapitel zunächst zu fragen, welche Rolle er in der Metrik selbst spielt und welche Konsequenzen die metrischen Rhythmusmodelle für die Frage nach dem Sprachrhythmus haben. Insgesamt ist das Verhältnis der Metrik zum Rhythmus bis heute äußerst kontrovers geblieben. Auf der einen Seite herrscht zwar weitgehend Einigkeit über das, was man in der Metrik unter Rhythmus versteht: In der neueren Literatur ist Metrum meist die Bez. für das Versschema als abstraktes Organisationsmuster des Verses, im Ggs. zum Versrh., der durch die Spannung zwischen diesem Versschema (= Metrum) und der sprachl. Füllung entsteht. Der Rh.-Begriff der neueren Theorie bezieht sich also auf die individuelle Realisierung eines Metrums.1

Der Rhythmus wird also als individuelle sprachliche Umsetzung des metrischen Schemas aufgefaßt.2 Die breite Akzeptanz, die dieser Auffassung ' 2

Metzler Literatur Lexikon (1990) im Artikel Rhythmus. Hervorhebungen hier wie in allen folgenden Zitaten so im Text. „Metrum existiert nur theoretisch [...]. Rhythmus nur praktisch. Beide stehen in einer unmittelbaren, wesentlichen Beziehung, insofern sich der Rhythmus stets auf das Substrat bezieht, in essentieller Freiheit." (Schlawe 1972: 8); „Das Zusammenwirken zwischen dem metrischen Schema und seiner sprachlichen Verwirklichung wird meist Rhythmus genannt." (Binder et al. 1974: 19); „Nach weitgehen-

42 zuteil wird, läßt vermuten, daß die Frage des Rhythmus für die Metrik im wesentlichen geklärt ist. Doch das Gegenteil ist der Fall. Denn auf der anderen Seite gehört der Rhythmus immer noch „zu den umstrittensten Begriffen der Verstheorie" (Metzler Literatur Lexikon 1990) und scheint die Metrik vor tatsächlich unlösbare Probleme zu stellen: Die rhythmische Gestalt eines Verses entzieht sich uneingeschränkter rationaler Deutung und Analyse. Eine umfassende Theorie des Versrhythmus fehlt daher bis heute. (a.a.O.)

Dieter Burdorf möchte in seiner Einführung in die Gedichtanalyse daher „ganz oder weitgehend auf den Rhythmusbegriff verzichten" (Burdorf 1995: 72). Und auch Christoph Küper hält ihn für „arg strapaziert" und „sehr vage" (Küper 1988: 9), genau wie etwa L.L. Albertsen, für den er „eine Idee, aber kein Arbeitsterminus" ist (Albertsen 1971: 68). Trotz aller Skepsis und allen offensichtlichen Unbehagens ist die Frage nach dem Rhythmus in der Metrik präsent geblieben. Denn die Metrik braucht den Rhythmus. Sie braucht ihn, weil sie ohne den Rhythmus die Verbindung zum konkreten Vers, zur Sprache und zum Sinn verlieren würde. Ohne den Rhythmus bliebe ihr nur noch das „abstrakte Organisationsmuster" des metrischen Schemas. Und genau in dieser Reduzierung auf das Metrum hat die Metrik selbst immer wieder ihre größte Gefahr gesehen: Wenn die Metrik nur noch über das Metrum spricht, spricht sie schließlich lediglich über abstrakte Gebilde, die ohne jeden Bezug zur sprachlichen Realität des Verses bleiben. Nicht zufällig war daher fast jeder Versuch einer Erneuerung der Metrik im 20. Jh. mit einer Kritik der metrischen Überabstraktion verbunden. Schon Eduard Sievers hatte am Ende des 19. Jh. für eine „Erweiterung des herkömmlichen Begriffs der Metrik" plädiert, da die „altherkömmliche Auffassung der Metrik als der Lehre von den Zeitmaßen der gebundenen Rede viel zu eng und einseitig" sei (Sievers 1893: 36).3 Im Anschluß an Sievers hatte Franz S aran die Überwindung der „mageren Metrik" gefordert (Saran 1907: VIII). Und Oskar Walzel schrieb in den 20er Jahren: der Übereinstimmung der deutschen und englischen Metriker unterscheiden sich Metrum und Rhythmus dadurch, dass das Metrum die Grundform, das Schema des Verses darstellt, der Rhythmus die verschiedenartigen Ausprägungen dieses Schemas, dessen Individualisierung und Verlebendigung." (Jost 1976: 22); „Metrum bezeichnet das Schema, Rhythmus die Art, wie dieses Schema sprachlich erfüllt wird." (Behrmann 1989: 16). „Was bleibt von der formvollendetsten Dichtung übrig, wenn wir etwa, Form und Inhalt voneinander trennend, bloß das sog. metrische Schema herauspräparieren?" (a.a.O., 37f.).

43 Ich glaube der Metrik und Stilistik keinen unberechtigten Vorwurf zu machen, wenn ich sie als niedere Mathematik bezeichne [...]. Daher klafft zwischen Poetik und Metrik meist eine große Lücke, (zitiert bei Schultz 1981: 9)4

Das Bewußtsein für die Gefahr eines bloßen Schematismus jenseits von Sprache und Gedicht hat zur Forderung nach einer „Abkehr von der bloß schematischen Einzelbehandlung künstlerisch isolierter Formen" gefuhrt, wie es etwa bei Erwin Arndt heißt (Arndt 1989: 28), der dafür eintritt, daß „nicht mehr allein das abstrakte Schema, sondern der lebendig gestaltete Rhythmus" im Vordergrund steht (a.a.O.).5 Die Schwierigkeiten, auf die die Metrik bei der Suche nach dem „lebendig gestalteten Rhythmus" trifft und aus denen das chronische Unbehagen der Metrik gegenüber dem Rhythmus resultiert, sind in ihrem eigenen Rhythmusbegriff begründet, in der Ableitung des Rhythmus aus dem Metrum. Denn das Primat des Metrums in der metrischen Rhythmusauffassung hat zwei Konsequenzen, die zusammen bewirken, daß der Rhythmus zu einer Aporie der Metrik wird. Die erste Konsequenz betrifft das Problem der Beschreibbarkeit des Rhythmus: Auch als Individualisierung des Metrums bleibt der Rhythmus ein durch und durch metrisches Phänomen, da selbst die Individualität, die die Metrik dem Rhythmus als „individueller Realisierung des Metrums" zugesteht, noch metrischer Natur und allein durch den Bezug zur metrischen Norm konstituiert ist. Der Zirkelschluß zwischen Rhythmus und Metrum (das Metrum existiert sprachlich nur als Rhythmus, der seinerseits nur als Realisierung des Metrums existiert), erklärt, warum dem Rhythmus in der Metrik etwas „sehr vages" anhaftet: Entweder fallt er mit dem Metrum zusammen und verschwindet somit in der Identität mit diesem oder er geht über das Metrum hinaus und entzieht sich der metrischen Beschreibbarkeit. Aus diesem Dilemma resultiert auch die Ablehnung des Rhythmusbegriffs bei Albertsen:

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Hartwig Schultz faßt das Dilemma der neueren Metrik mit folgenden Worten zusammen: „die Metrik kreist um sich selbst: Immer wieder werden - z.T. in dogmatischer Weise - die gleichen unfruchtbaren Probleme der Taktlosigkeit, der Unterscheidung von Vers- und Wortfiißen, der Übernahme antiker Versstrukturen, der zulässigen Abweichungen von der Norm und der Unterscheidung von Vers und Prosa diskutiert [...]." (a.a.O.). In diesem Sinne schreibt Fritz Lockemann: „Rhythmus entzieht sich einer Maßlehre, einer Metrik. So sind die neueren Bemühungen um den Vers dadurch gekennzeichnet, daß sie vom Metrischen zum Rhythmischen durchzustoßen suchen." (Lockemann 1960: 9).

44 Der Begriff bezieht sich mehr auf den Gehalt einer Poesie als auf ihre akustische Außenseite, ist mehr wertend als beschreibend und läßt kein kommunizierbares System zu. (Albertsen 1971: 68)

Die zweite Konsequenz betrifft die Frage des „Gehalts", die Albertsen hier anspricht. Denn im Rhythmus als sprachlicher Realisierung tritt eine Dimension hinzu, die im metrischen Schema noch nicht enthalten war: die Dimension des Sinns. Die Frage nach dem Sinn ist aber der eigentliche Prüfstein fiir die Möglichkeit einer Theorie des Sprachrhythmus. Denn nur wenn der Rhythmus am Sinn, an der Jedesmaligkeit der sprachlichen Sinngestaltung teilhat, kann er auch als Komponente der sprachlichen Funktionsweise und damit der Sprache überhaupt aufgefaßt werden. Wenn aber der Sinn zum Rhythmus gehört, dann kann der Rhythmus nicht mehr nur die individuelle Verwirklichung eines metrischen Schemas sein. Er muß dann über das Metrische hinausgehen und, wie der Sinn selbst, mit allen sinnmachenden Elementen der Rede untrennbar verknüpft sein. Er wäre dann nicht nur ein metrisches, sondern ebensogut ein phonematisches, syntaktisches und lexikalisches Phänomen. Sowenig wie der Sinn auf das Lexikalische, ließe der Rhythmus sich dann auf das Metrische reduzieren. Eine solche Einbeziehung des Sinns in den Rhythmus verhindert der metrische Rhythmusbegriff aber, indem er den Rhythmus als individuelle Realisierung des Metrums auffaßt und auf die formalen Pole von Norm und Abweichung einengt. Die metrische Trennung zwischen Rhythmus und Sinn ist eine direkte Konsequenz des einseitigen Verhältnisses zwischen Metrum und Sinn. Einseitig ist dieses Verhältnis deshalb, weil vom Sinn, vom Rhythmus des konkreten Gedichts aus, ein Weg zum Metrum fuhrt, aber kein Weg vom Metrum zum Sinn. Das metrische Schema ist in sich asemantisch, erst durch die Sprache, durch das Gedicht erhält es eine semantische Wertigkeit. Wenn der Hexameter in der deutschen Klassik als erhabenes Versmaß galt, so nicht deshalb, weil dem Versschema an sich schon etwas Feierliches anhaftet, sondern weil es das Versmaß der homerischen Epen ist. Goethe etwa unterstreicht diese intertextuelle Wertigkeit des Metrums im Helena-Auftritt zu Beginn des dritten Aktes im zweiten Teil des Faust, indem er Helena nicht nur in antikisierenden jambischen Trimetern sprechen läßt, sondern ihr auch noch Verse in den Mund legt, die direkt einer Übertragung von Johann Heinrich Voss entlehnt zu sein scheinen:

45 Bewundert viel und viel gescholten Helena Vom Strande komm' ich, wo wir erst gelandet sind, Noch immer trunken von des Gewoges regsamem Geschaukel, das vom phrygischen Blachgefild uns her Aufsträubig-hohem Rücken, durch Poseidons Gunst Und Euros Kraft in vaterländische Buchten trug. (Goethe 1994: 335,V. 8488-8493) Die Semantizität des Metrums setzt seine Einbindung in das Gedicht voraus. Wenn hier also von der metrischen Trennung von Rhythmus und Sinn gesprochen wird, so nicht um zu leugnen, daß das Metrum im konkreten Gedicht, in jedem konkreten Gedicht, eine semantische Wertigkeit besitzt (wie dies auch die Rhythmusanalysen in Kapitel 4 und 6 der vorliegenden Arbeit bestätigen), sondern um zu unterstreichen, daß der Rhythmus durch die Reduzierung auf ein metrisches Schema aus der semantischen Funktionsweise der Sprache ausgeschlossen wird. Daß dieses Problem in der Metrik selbst durchaus gesehen wurde, belegen die immer wieder anzutreffenden Versuche, in denen schon dem bloßen Versschema eine Bedeutungsweise zugesprochen wird. Dies hat zu verschiedenen Formen des metrischen Realismus geführt, von denen auch in diesem Kapitel immer wieder die Rede sein wird und deren verbreitetste wohl die Unterscheidung zwischen „fallenden" Trochäen und „steigenden" Jamben ist, wie sie sich etwa auch bei Wolfgang Kay ser findet: Man darf vielleicht sagen, daß der Jambus besser trägt, daß der Bewegungsverlauf ausgeglichener ist, daß er im ganzen schmiegsamer gleitet als der Trochäus. Der beginnt schwerer, er ist offensichtlich für eine fallende Bewegung geeignet. (Kayser 1962: 27) Aber Kayser beschreibt hier nicht den Jambus oder den Trochäus, sondern er liest in die Versmaße seine eigene Rezitationsweise der beiden Gedichtbeispiele hinein, die dieser Charakterisierung unmittelbar vorausgehen. Denn die angebliche Schwerfälligkeit des Trochäus und die Schmiegsamkeit des Jambus ist aus den metrischen Schemata allein noch nicht abzuleiten, da die Grenze der Versfüße selbst ja sprachlich nicht realisiert wird und sie sich nur durch die erste betonte bzw. imbetonte Silbe jedes Verses unterscheiden.6

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Bernhard Asmuth schreibt zur Frage des metrischen Realismus: „Metaphorische Begriffsanleihen bei anderen Bewegungsformen allein helfen nicht weiter (z.B. hüpfend, tänzelnd, gemessen schreitend, gehämmert). Nicht einmal die seit Jahrhunderten übliche auf der Silbenabstufung beruhende Unterscheidung von steigenden (xxxx. . . ) und fallenden Rhythmen (xxxx. . . ) kann als allgemein gesicherte Funktionsbezeichnung gelten, weil sie der wirklichen Intonation nicht

46 Die Projektion des Sinns in das Metrum zeigt so die Kluft, die beide trennt, die Unmöglichkeit, vom bloßen Metrum zum Sinn zu gelangen. Die Trennung zwischen Rhythmus und Sinn durchzieht wie ein roter Faden die metrischen Theorien des 20. Jh. Er verknüpft die in diesem Kapitel zu analysierenden metrischen Theorien und bezeichnet die Grenze zwischen dem metrischen Rhythmusbegriff und einer Konzeption, die den Rhythmus von der sprachlichen Funktionsweise, von der Jedesmaligkeit des Sinns in der Rede her versteht. Zunächst wird es in diesem Kapitel um die an Sievers orientierte Vortragsmetrik (2.1.1), besonders diejenige von Saran (2.1.2), gehen, und anschließend um die wahrscheinlich einflußreichste metrische Rhythmuskonzeption des 20. Jh., die Taktmetrik von Andreas Heusler (2.1.3) und ihre anthropologischen Konsequenzen (2.1.4). Als Alternative zu Heuslers Auffassung wird dann auf Wolfgang Kaysers Rhythmustypologie eingegangen (2.1.5). Im zweiten Teil des Kapitels werden dann zwei der neueren Metrik-Theorien analysiert, die semiotisch-strukturelle von Christoph Küper (2.2.1) und die generative von Achim Barsch (2.2.2). Die Auswahl der untersuchten Theorien möchte repräsentativ sein, aber erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Nicht berücksichtigt werden neben anderen etwa die Deutsche Metrik von Christian Wagenknecht (1993), welche als Einführung in die historische Verslehre gute Dienste leistet, und die Deutsche Metrik und Versgeschichte von Dieter Breuer (1981), die über die Grenzen eines Metrik-Handbuches hinausgeht und eine umfassende und erhellende Darstellung der Geschichte der deutschen Versformen bietet.

2.1

Rhythmus als Schallform und Takt

2.1.1 Sievers' schallanalytische Methode Von entscheidendem Einfluß auf die Metrik der ersten Hälfte des 20. Jh. waren die Arbeiten des Junggrammatikers Eduard Sievers. Noch Wolfgang Kayser spricht von der Sieverschen Schallanalyse als einem „besonderen

recht entspricht; auch am Ende »steigender« Verse wird man z.B. die Stimme eher senken." (Asmuth 1973: 226f.). Und Ewald Standop stellt fest: „Jamben und Trochäen unterscheiden sich durch Stehen bzw. NichtStehen des 1-s Auftaktes. Was darüber hinausgeht, ist haltlose Spekulation." (Standop 1989: 69).

47 Wissenschaftszweig" (Kayser 1967: 99). Ausgangspunkt für Sievers' Ansatz waren die Mängel der „altherkömmlichen Auffassung der Metrik", die durch die Trennung von Form und Inhalt aus dem „lebendigen Organismus" des Gedichtes nur „das tote Knochengerüst", nämlich das „sogenannte metrische Schema", herausschäle (Sievers 1893: 37). Über das, was die Dichtung zur Dichtung mache, „die kunstvolle Gliederung und die kunstvolle Bindung der Glieder", vermöchten aber die „bloßen Schemen" nichts zu sagen (a.a.O., 38). Der Grund für dieses Dilemma der Metrik hegt für Sievers im Gedicht selbst begründet, in dessen sprachlicher Gestalt, die als geschriebener Text schon nicht mehr mit dem Gedicht identisch sei: In der Regel wirkt das Dichtwerk durch eine schriftliche Überlieferung hindurch, die doch nur als ein kümmerliches Surrogat fur das lebendige Wort gelten kann. (Sievers 1893: 39)

Erst durch den Vortrag, durch die „mündliche Interpretation" könne das „in der Schrift erstarrte Dichtwerk" dann „wieder ins Leben zurückgerufen werden" (a.a.O.). Sievers hebt also den Dualismus von Form und Inhalt keineswegs auf, sondern verlegt ihn nur in den Gegensatz von geschriebener und gesprochener Sprache: Das Geschriebene ist die Form, der Signifikant, der erst durch die lautsprachliche Realisierung mit Sinn und Leben, also mit einem Signifikat, gefüllt wird. Dies ist die grundlegende sprachtheoretische Prämisse, auf der Sievers' schallanalytische Methode beruht und mit deren Hilfe er „das in der Schrift erstarrte Dichtwerk" wieder „ins Leben zurückzurufen" hoffte, und zwar so, wie es dem Autor im Augenblick der Niederschrift vorgeschwebt habe. Das Widersprüchliche von Sievers Position liegt dabei in der Tatsache, daß der Vortragende in der Lage sein soll, die authentische „rhythmisch-melodische Stimmung" der Dichtung wiederzufinden, obwohl diese ja gerade nicht in die schriftliche Form eingegangen ist.7 Da der Text über den Rhythmus keine Auskunft gibt, wird die Einfühlung zum wichtigsten Instrument des Schallanalytikers.8 Durch die Reaktion der Zuhö-

„Wir dürfen also überzeugt sein, daß jedes Stück Dichtung ihm fest anhaftende melodische Eigenschaften besitzt, die zwar in der Schrift nicht mit symbolisiert sind, aber vom Leser doch aus dem Ganzen heraus empfunden und beim Vortrag entsprechend reproduziert werden." (Sievers 1901a: 58). „Um voll wirken zu können, muß das in der Schrift erstarrte Dichtwerk erst durch Vortrag wieder ins Leben zurückgerufen werden. Das kann aber nicht anders geschehen, als indem der Vortragende sich zunächst in Inhalt und Stimmung der Dichtung so versetzt, daß sie in ihm, wie einst in ihrem Urheber, wieder lebendig wird, daß er von ihr so ergriffen wird, als ob er sie im Augenblick aus eigener Stimmung heraus selbst erzeugte." (Sievers 1893: 39).

48 rer (Sievers dachte an „vergleichende Massenuntersuchungen", a.a.O., 62) sollte die historistische Einfühlung in den Text objektiviert werden. Von der Substitution des Textes durch die Rezitation erhoffte sich Sievers eine über den metrischen Schematismus hinausgehende Annäherung an die rhythmische Dimension der Sprache. Wenn Sievers in der Tat eine Fülle von rhythmischen Phänomenen der sprachwissenschaftlichen Beschreibung zugänglich machen konnte, so deshalb, weil sie sich allesamt auf den Rhythmus eines bestimmten - nämlich seines eigenen - Vortrage bezogen. So glaubte er entdeckt zu haben, daß im Urfaust die Reden des Faust eine Neigung zum Tiefschluß hätten (fallender Tonhöhenverlauf am Ende der Intonationsphrase), während die übrigen Personen mit Ausnahme Mephistos den Hochschluß (steigender Tonhöhenverlauf) bevorzugen (Sievers 1901a: 69). Die Verse, die Sievers zum Beleg seiner These anführt, legen allerdings die Vermutung nahe, daß Sievers diese Tonhöhenverläufe nicht aus einer wirklichen Rezitation ableitet, sondern vielmehr in den Text hineinprojiziert: Faust. O Tod! ich kenn's: das ist mein Famulus. Nun werd' ich tiefer, tief zunichte, daß diese Fülle der Gesichte Der trockne Schwärmer stören muß! (zitiert a.a.O., 69)

Die semantische Ausrichtung des Textes und vielleicht auch der insistierend wiederholte Signifikant „tief-" scheint Sievers zu seiner TiefschlußHypothese verleitet zu haben. Daß etwa die Ausrufesätze in dieser Passage mit Tiefschluß realisiert werden müssen, würde heute wohl kein Phonetiker mehr zu behaupten wagen. Ahnlich fragwürdig ist auch seine Konzeption der „Sprungikten", d.h. von Akzenten, die „sich sprunghaft über das sonstige Niveau des Verses hinaus erheben" (Sievers 1893: 52), z.B. in folgender Faust-Passage: Weh, steck' ich in dem Kérker noch ? Verflúchtes, dumpfes Mauerloch, (a.a.O.)

Es ist nicht einzusehen, wieso „Kerker" stärker betont werden muß, als etwa „Weh". Dieselbe Schwierigkeit findet sich in den von Sievers postulierten „Skalenversen" wieder (mit stufenweise ansteigendem Tonhöhenverlauf in jedem Vers, a.a.O., 52) oder auch bei den sogenannten „steigenden" und „fallenden Dipodien" (steigende, bzw. fallende Intonationskurve zwischen zwei akzentuierten Silben, a.a.O., 47), z.B. in: sah ein Knab | ein Röslein stehn (steigend) (fallend)

(a.a.O., 47)

49 Weder die Verteilung der Schweregrade, noch die Unterteilung des Verses in zwei Dipodien läßt sich aus der Textgestalt erschließen. Man muß sie voraussetzen, um sie auch im Text zu finden. Der Rhythmus wird aus dem tatsächlichen oder imaginierten Vortrag abgeleitet und in den Text projiziert. Er ist insofern mit der Vortragsweise identisch. Dies zeigt sich deutlich, wenn Sievers die wichtigsten rhythmisch-melodischen Sprachmittel aufzählt, nämlich die Tonlage, Intervallgröße, Tonftihrung, die Anwendung spezifischer Tonschritte und deren Verteilung auf die Silben (Sievers 1901a: 66), lauter Charakteristika also, mit denen sich vielleicht eine Stimme, aber kein Text identifizieren läßt. Durch die Verlegung des Rhythmus in die Rezitation vergrößert Sievers die Kluft zwischen Rhythmus und Text. Es ist heute nur noch schwer nachzuvollziehen, wieso die Rezitationsillusionen der Sieverschen Schallanalyse eine so suggestive Wirkung auf seine Zeitgenossen haben konnten.9 Sievers glaubte schließlich sogar, daß bestimmte kinetische Kurvengestalten in den Texten zu erkennen seien. Er ging von einer endlichen Menge ursprünglicher Kurvengestalten aus, wobei jeder Mensch eine eigene Kurvenform aufweist. So haben Goethes Texte nach Sievers Auffassung die Grundform „spitz-rund", bei Schiller herrscht „rund-rund" vor und bei Heine „spitz-spitz" (Sievers 1924: 75). Ermittelt werden die jeweiligen Kurvenformen durch das laute Lesen begleitende Armbewegungen der rechten Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger, wobei wieder die Einfühlung das ausschlaggebende Kriteriinn darstellt. Nicht mudas spekulative methodische Vorgehen, sondern auch die Fonnalisierung des Rhythmus in den Kurvenformen setzen so die Trennung zwischen Rhythmus und Sinn, und damit auch zwischen Rhythmus und Subjekt, fort. Sievers

Sievers wollte seine Methode auch zur Textkritik einzusetzen, etwa bei der mittelhochdeutschen Dichtung: dort, wo die rhythmisch-melodische Gestalt sich ändere, so folgerte er, müsse es sich um spätere Hinzufügungen handeln (Sievers 1903: 92). Die Krönung seiner Projekte stellen aber zweifellos seine monumentalen Metrischen Studien (Sievers 1901b) dar, in denen er nachzuweisen versuchte, daß die meisten Bücher des Alten Testamentes in verlorengegangenen Metren abgefaßt worden seien. Eine Konsequenz der Trennung von Rhythmus und Text bei Sievers zeigt sich darin, daß er, da sich die von ihm postulierten Metren nicht ohne weiteres nachweisen ließen, die vorliegenden Fassungen des hebräischen Urtextes kurzerhand für verderbt erklärte und alle Elemente, die sich nicht in seine Metrisierungen einfügen wollten (ganze Vershälften, einzelne Worte oder Wortgruppen und die Akzente), für spätere Zusätze erklärte, die aus dem Text zu tilgen seien (1901b: 360ff.).

50 betont zwar den Zusammenhang zwischen Kurvenform und Subjekt,10 aber dieser Zusammenhang bleibt rein formal und ohne Bezug zur semantischen Dimension der konkreten Rede. Deswegen ist es bezeichnend, daß Sievers die „Personalkurven" oder „Beckingkurven" (nach ihrem Erfinder Gustav Becking, einem mit Sievers befreundeten Musikwissenschaftler) schließlich auch auf genetische und ethnische Merkmale, und nicht auf die sprachliche Tätigkeit des Subjekt zurückführt.11 Am deutlichsten ist Sievers Einfluß aber in der Vortragsmetrik von Franz S aran zu spüren, dem wohl wichtigsten zeitgenössischen Metriker neben Andreas Heusler.

2.1.2 Sarans Vortragsmetrik Wie Sievers begründet Franz Saran (in Deutsche Verslehre, 1907, und Deutsche Verskunst, 1934) seinen Ansatz aus der Kritik der metrischen Überabstraktion heraus, wobei er aber noch weiter geht als Sievers, denn er lehnt die Vorstellung ab, daß das Metrum als „Gerippe des Verskörpers" oder als „eine Art Muster, dem man beim Vortrag möglichst nahe zu kommen habe" aufzufassen sei (Saran 1934: 41). Saran erkennt in der Lehre vom Metrum als dem rhythmischen Ideal des konkreten Verses einen Rest „antiker Metaphysik" (a.a.O.). In der Dichtung geht nach Saran die Idee nicht dem Gedicht voraus, es gibt keinen „idealen Rhythmus, der von der Wirklichkeit des Vortrags nie erreicht würde" (a.a.O.). Seine Kritik mündet in der Feststel-

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„Über sie [die Bewegungskurven oder „Beckingkurven", wie er sie auch bezeichnete] scheint mir durch meine Untersuchungen einwandfrei festgestellt zu sein, daß sie das Konstanteste sind, was es überhaupt beim denkenden und handelnden Menschen gibt; wenigstens ist mir trotz mehrjährigem Suchen kein Fall bekannt geworden, daß ein Individuum beim eigenen Produzieren über mehr als eine Bekkingkurve frei verfügt, mag es auch sonst noch so reich sein an klanglicher Variabilität." (Sievers 1924: 74). Sievers meint, daß die Beckingkurve „zum angeborenen Besitz des Individuums gehört (wie ich bei Neugeborenen habe feststellen können), und daß bei ihrer Übertragung von Individuum zu Individuum die üblichen Allgemeingesetze der Vererbimg eine große, wenn auch nicht die allein ausschlaggebende Rolle spielen. So ist es auch allein zu verstehen, wenn ganze Stämme oder gar Völker sich manchmal fast bis zur Ausschließlichkeit nur einer und derselben Beckingkurve bedienen." (Sievers 1924: 74). Die Schallanalyse hat eine Reihe späterer Rhythmustheorien beeinflußt. Noch Christian Winkler (1954) und Jürgen J aiming (1974) greifen auf Sievers' Methode zurück, um den Prosarhythmus im Sterntal/rMärchen zu beschreiben (siehe Kapitel 5.1).

51 lung, daß längst „nicht alle rhythmischen Einzelheiten, die man am Vers beobachtet", und die für diesen wesentlich sind, durch das metrische Schema zu erfassen seien (a.a.O.). Statt des metrischen Schemas sucht Saran daher den Rhythmus des einzelnen Textes, die „dem Kunstwerk innewohnende Form, die den Sprecher und Hörer in ihren Bann schlägt" (a.a.O., 55). Aber obwohl er die Verbindung von Rhythmus und Text unterstreicht,12 übernimmt Saran den Sieverschen Rhythmusbegriff, und mit ihm die Verlagerung des Rhythmus vom Text in den Vortrag. Der Rhythmus ist die „ganz bestimmte Schallform", die jeder Dichter, jede Dichtung und jeder Sprecher besitzt (a.a.O., 55). Es ist vor allem der Begriff der „Schallform", der bei Saran das entscheidende Hindernis für eine Theorie des Rhythmus als Bedeutungsweise darstellt. Denn der „Schall" ist für ihn kein Bündel von sprachlichen Gliederungsprinzipien (der geschriebenen wie der gesprochenen Sprache), sondern setzt sich aus den dem metrischen Schema hinzugefügten Intonationsmerkmalen zusammen, wozu er vor allem Tonlage und -bewegung, Klangfarbe und -fülle, Lautstärke, Tempo, gebundene oder abgesetzte Sprechweise zählt (a.a.O., 59). Durch die unwillkürliche Trennung von Text und Rhythmus - Saran stellt der „Schallform" die „Bedeutungsform" des Textes gegenüber (a.a.O., 57) - muß sich der Rhythmus des Textes dem Rezipienten gleichsam wie durch höhere Gewalt oder, wie Saran sagt, durch „das gesunde Gefühl" offenbaren.13 Die Auswirkungen des impliziten Dualismus zwischen Schallform und Textgestalt zeigen sich nicht zuletzt auch in Sarans eigenen Versanalysen. So empfiehlt er etwa, das Heideröslein von Goethe nicht „nach der Satzlehre und den Satzzeichen zu sprechen" (a.a.O., 47). Falsch sei deshalb die folgende Versaufteilung: Knabe sprach: | „ich breche dich". (a.a.O., 48) Als Begründung gibt Saran folgende Erklärung: „Man muß »sprach ich« binden, denn »ich-dich« sind als Ganzes zu nehmen, als einfaches Objekt zu »sprach«, nicht als einsetzende Rede" (a.a.O.) Mögliche Einwände gegen diese Auffassung werden mit einem apodiktischen „Es geht eben nicht anders" (a.a.O.) entkräftet. Die Einfühlung duldet keinen Widerspruch.

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„Rhythmus, Melodie, Klang, Sprechart, überhaupt alle Einzelheiten der ganzen Schallform einer Dichtung liegen gleichsam im Wortzusammenhang drin." (a.a.O., 54). „Das gesunde Gefühl sagt deutlich, daß eine rhythmische Form innerhalb bestimmter Grenzen liegt, die nicht überschritten werden dürfen." (a.a.O., 49), und: „Man findet sie [„die vom Dichter gewollte Form"], wenn man sich frei dem Kunstwerk hingibt, wenn man sich unbefangen »einfühlt« [...]." (a.a.O., 54).

52 Nirgendwo wird die Trennung zwischen dem Rhythmus und Text so deutlich wie dort, wo S aran explizit vom Rhythmus spricht. Der Rhythmus ist bei ihm nämlich keine Eigenschaft der Sprache („Es heißt den Begriff Rhythmus überspannen, wenn man der menschlichen Rede schlechthin Rhythmus zuspricht." , a.a.O., 16), sondern kommt aus dem Tanz („die Tanzschritte sind die Grundlage des Rhythmus", a.a.O., 18) und ist ursprünglich „orchestriseli" (a.a.O., 21). Im Begriff des „orchestrischen Rhythmus" kehrt auch das Metrum zurück, denn aus der Verbindung von Sprachakzent und orchestrischem Rhythmus entsteht der mit dem Metrum identische „gemischte Rhythmus", auf den es Saran ankommt („Es ist der gemischte, metrische Rhythmus, der hier allein in Betracht kommt.", a.a.O., 58). So wird schließlich die Metrik wieder in ihre alten Rechte eingesetzt: Immer ist ein Metrum nichts anderes als der Inbegriff der wesentlichen rhythmischen Merkmale gewisser Formen. (a.a.O., 42) Auf diese Weise verschwindet der Rhythmus bei Saran gleich doppelt: in der Schallform und im Metrum, beide gleich weit entfernt von der Gestaltung des Sinns durch die Signifikanten des Textes. Dabei hätte aus der Einbeziehimg der Mündlichkeit eine Erneuerung der Rhythmustheorie entstehen können, wenn Saran die Mündlichkeit im Text selbst und nicht in der Rezitation gesucht hätte. Denn es gibt eine textuelle Mündlichkeit, wie z.B. in der ersten Strophe von Matthias Claudius Kriegslied: 's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre, Und rede Du darein! 's ist leider Krieg - und ich begehre Nicht schuld daran zu sein! (Conrady 1978: 198) Die kurzen Ausrufesätze, die insistierenden Wiederholungen, die Elisionen, die Interjektion (verstärkt durch das darauffolgende loi in Gottes), der Gedankenstrich, - all dies sind rhythmische Elemente des Textes, in denen Sprechweise und Bedeutungsweise untrennbar verbunden sind. Die methodische Beschränkung auf die Rezitation und das Festhalten am metrischen Rhythmusbegriff verhindern jedoch bei Saran eine Annäherung an den in der Mündlichkeit des Textes begründeten Rhythmus des Gedichtes.

53

2.1.3 Heuslers Taktmetrik Andreas Heusler ist der Verfasser der wohl einflußreichsten Rhythmuskonzeption innerhalb der deutschen Metrik des 20. Jh. Während Sievers' und Sarans Theorien heute nur noch von historischem Interesse sind, berufen sich - trotz der vielfältigen Kritik, mit der Heuslers Taktmetrik bedacht worden ist - nach wie vor viele Versspezialisten auf seine Arbeiten.14 Heusler selbst hat seine Distanz gegenüber der Schallanalyse deutlich zum Ausdruck gebracht und sie als „die unter hohem Druck betriebene Kunst des Sicheinredens (zu deutsch Autosuggestion)" bezeichnet (Heusler 1930: 423). Es wird sich zeigen, inwiefern auch Heuslers Rhythmuskonzeption auf einer autosuggestiven Grundlage beruht. Im Zentrum von Heuslers Ansatz steht das Projekt einer grundlegenden Reformierung der traditionellen Metrik. Es geht Heusler weniger um den metaphysischen Charakter der metrischen Idealisierungen, als vielmehr um die von ihm postulierte Unvereinbarkeit zwischen der deutschen Dichtung und der romanisch-antiken Verslehre. Damit setzt Heusler die Tradition der nationalistisch ausgerichteten Poetiken des 19. Jhs. fort.15 Aus dieser ideologischen Ausrichtung erklärt sich auch Heuslers Bewertung der Opitzschen Reform.16 Denn er gesteht Opitz zwar das Verdienst zu, die Verslehre auf die 14

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Z.B. Otto Paul und Ingeborg Glier (1961), Werner Hoffinann (1981), Bernd Nagel (1989), Erwin Arndt (1989), Ewald Standop (1989), Alfred Behrmann (1989) und Daniel Frey (1996). Trotz seiner Kritik nennt auch Dieter Breuer Heusler „den bedeutensten, weil konsequentesten deutschen Metriker" (Breuer 1981: 74). Arndt bezeichnet Heuslers dreibändige Deutsche Verslehre als „das für die heutige Forschung unentbehrliche Handbuch" (Arndt 1989: 23). Und Standop sieht in Heusler den „Pionier der rhythmischen Versauffassung" und will an „das Bleibende der Heuslerschen Erkenntnisse" anknüpfen (Standop 1989: 25). Für Behrmann ist Heuslers Versgeschichte immer noch „das umfassendste und eindrucksvollste Werk, das über den Gegenstand vorliegt" (Behrmann 1989: 14). So feiert etwa C. Beyer in seiner Deutschen Poetik (1881) im Volksliedvers die Befreiung von den Fesseln der romanisch-antikisierenden Verslehre. Über Heine schreibt er in diesem Zusammenhang: „Heute darf ein Jeder rühmend nachsprechen, daß in Heines Dichtungen instinktiv der unsterbliche, urgermanische Sprachgeist auflebt und waltet, und daß durch ihn allein unsere Sprache nach tausendjähriger Irrfahrt in der Fremde heimgekehrt ist zum rhythmischen Gesetze des altgermanischen epischen Verses." (Beyer 1881: 366). In seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) suchte Martin Opitz die deutsche Dichtung gegenüber der italienischen und französischen aufzuwerten, indem er die Nachbildung französischer Strophen- und Versformen (u.a. Sonett

54 Betonungsstruktur des Deutschen abgestimmt zu haben, aber das alternierende Metrum, das Opitz privilegiert hatte, ist für ihn unvereinbar mit dem germanischen Wesen des Verses; und so wirft er Opitz vor, dieser hätte „alles Germanische preisgegeben: die zackige Linie und den Einklang zwischen Vers und Sprachfall." (Heusler 1925, ΙΠ: 130).17 Heuslers Polemik zielt auf eine posthume Revision der Optizschen Reform: auf eine Befreiung der deutschen Metrik und der deutschen Dichtung von dem „Welschvers" (a.a.O., 131), also von dem „silbenzählenden, starren Alternieren" (a.a.O., 130). Wobei die Kopplung des „Welschen" mit dem alternierenden Versmaß ein reines Produkt der Heuslerschen Nationalphantasmen ist, da es im Französischen - als Sprache ohne Wortakzent - überhaupt keine Jamben und Trochäen gibt oder geben kann (s.a. Kap. 1.4).18 Heusler löst sich daher völlig von der traditionellen Versfußlehre und gründet die gesamte Metrik auf das Taktprinzip. Verse sind für Heusler „taktierte, takthaltige Rede" (Heusler 1925, I: 4). Der Takt macht das Gedicht zum

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und Alexandriner) empfahl und die Zahl der Versmetren auf den Jambus und den Trochäus einschränkte. Dabei setzte er an die Stelle des quantifizierenden Prinzips (bei dem, wie im Lateinischen oder Griechischen, nur die Länge und Kürze der Silbe entscheidend ist) das akzentuierende, das sich nach dem Wortakzent richtet: „nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse grosse der sylben können inn acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen / welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden." (1624: 37f.). Wobei Heusler den alternierenden Versmaßen ihre „Glättung" vorwirft, die er als Wesensmerkmal des „Welschen" versteht: „In der Opitzischen Versordnung ist die letzte Stufe der Glättung erreicht; eine nicht mehr zu überschreitende. Und Glättung ist hier Verwelschung. Ihr Gegenteil, die zackige Linie, die Vielheit der Bausteine, das ist seit stabreimender Zeit der germanische Trieb." (1925, ΙΠ: 128). Hugo Blank nennt Heuslers Deutsche Versgeschichte eine „Apologie des altgermanischen (ur-germanischen) Verses" (Blank 1990: 46) und stellt fest: „Die drei Bände der Deutschen Versgeschichte sind [...] durchzogen von dem roten Faden einer Polemik gegen alles »Welsche«." (a.a.O., 45). Heusler bezeichnet den französischen Alexandriner irrtümlich als .jambischen 12/13-Silber" (1925, ΙΠ: 161). Gefolgt sind Heusler in dieser Auffassung etwa Wolfgang Kayser (1946: 31) oder Otto Paul und Ingeborg Glier, die davon ausgehen, daß Hartmann von Aue das „Prinzip der Alternation" von Chrétien de Troyes übernommen habe (Glier/Paul 1970: 54). Und noch Alfred Behrmann steht unter Heuslers Einfluß, wenn er Opitz wegen der von ihm vorgeschriebenen alternierenden Versmaße kritisiert („Das ist im Grunde undeutsch", 1989: 165) und glaubt, daß der „alternierende Vers aus der Romania entlehnt" sei (a.a.O.).

55 Gedicht. Aber wie kommt der Takt in den Vers? Heusler fuhrt „Wanderers Nachtlied" von Goethe an und bemerkt dazu: dies, so schwarz auf weiß, sind noch keine Verse. Die Verse stecken darin. Der Vortrag, sprechend und singend, hebt sie heraus [...]. Dann erst ist das rhythmische Erlebnis da: die Größe, worauf dem Versforscher alles ankommt. (Heusler 1925,1: 6)

Wie das Rhythmisch-Melodische bei Sievers und Saran, ist also auch Heuslers Taktprinzip ein Rezitationsprinzip: Der Takt resultiert erst aus dem Vortrag, nicht aus dem Text, denn, wie Heusler hervorhebt, „die Buchstabenschrift hat keine Mittel, die rhythmischen Werte abzubilden" (Heusler 1925, 1: 13).19 Das Entstehen des Taktes aus der Rezitation zeigt sich in der rhythmischen Notation, die Heusler dem Goethe-Gedicht unterlegt. Dessen erste Zeilen müssen nach Heusler nämlich so gesprochen werden: Über allen gipfeln Ist ruh In allen wipfeln Spürest du

Kaum einen hauch

|χ χ χ χ | - χ χ I- Λ ΛI |Λ Χ Χ Χ| - Χ Δ | Λ Λ Χ Χ | - Δ Δ |

|- Χ Χ

|- Δ (Heusler 1925a: 482) 20

Es stellt sich die Frage, wie diese taktierende Rezitation begründet werden kann, wenn sie nicht unmittelbar aus dem Text zu erschließen ist. Die Lösimg des Problems liegt in Heuslers Rhythmusbegriff, in der impliziten Gleichsetzung von Takt und Rhythmus. Zwar definiert Heusler den Rhythmus zunächst nur als „Gliederung der Zeit in sinnlich faßbare Teile" (Heusler 1925, I: 17) und gesteht auch der Prosa Rhythmus zu, aber der Prosarhythmus ist für ihn nur ex negativo beschreibbar, nämlich als „ungeordneter Rhythmus" (a.a.O., 19); methodisch faßbar ist in Heuslers System allein der geordnete, der „metrische Rhythmus" (a.a.O.) des Verses, und was diesen „ordnet", sind nichts anderes als - Takte (a.a.O., 24). Und weil der Takt das Wesensmerkmal des Rhythmus darstellt und der Rhythmus 19

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„Und ließe man abstimmen, in welcher rhythmischen Linie »Über allen gipfeln« seinem Schöpfer erklungen sei, so wäre das Ergebnis wohl: Tot capita, tot sensus." (Heusler 1925,1: 13). ( - ) entspricht einer halben Note, (x) einer Viertelnote, (Λ) einer Viertelpause, der Akut ( ') bezeichnet die Haupthebung, der Gravis ( ") die Nebenhebung, und ( [) den Taktstrich (für die übrigen Zeichen, die er verwendet, siehe Heusler 1925,1: 34). Indem er den ersten und den letzten Vers einrückt, paßt Heusler bereits die Typographie des Gedichtes seiner Skansion an. Auch die Kleinschreibung der Substantive stammt von Heusler.

56 das Wesensmerkmal des Gedichtes, weil es sich also bei Versen notwendigerweise um „takthaltige Rede" (Heusler 1925, ΙΠ: 281) handelt, deswegen kann man Gedichte gar nicht anders als taktierend vortragen. Heuslers gesamte Theorie steht und fällt mit der impliziten Gleichsetzung von Rhythmus und Takt. Diese Gleichsetzung wirft drei Probleme auf. Das erste ist die schon bei Sievers wirksame Privilegierung der Rezitation gegenüber dem Text;21 das zweite die fehlende Beziehung zwischen sprachlichen und rhythmischen Einheiten. Heusler selbst hat betont, daß den von ihm notierten Taktstrichen keine sprachlichen Einheiten entsprächen.22 Dasselbe gilt aber auch für die Pausen (in Wanderers Nachtlied also etwa die zahlreichen von Heusler notierten Viertelpausen), die Hugo Blank als „metrische Phantome" bezeichnet (Blank 1990: 44) - und für die Kadenzen. Heusler hat für die Versausgänge verschiedene Typen von Kadenzen angenommen, die allein aus dem Taktprinzip resultieren, sich aber weder durch das Metrum, noch durch den Wortoder Satzakzent belegen lassen (in dem obigen Beispiel etwa die auffallige Dehnung der kurzen Stammsilben bei „gipfeln" und „wipfeln"). Kadenzen, Takte, Viertelpausen - Heuslers Rhythmusbegriff beruht allein auf musikalischen Strukturprinzipien; und diese Analogie zur Musik stellt das dritte und wichtigste Problem dar, das die Identifikation von Takt und Rhythmus aufwirft, denn sie verhindert eine Theorie des Sprachrhythmus bei Heusler, indem sie den Rhythmus nur als musikalisches Strukturprinzip auffaßt und somit den Rhythmus von der Sprache und also auch vom Sinn trennt.23

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Dieter Breuer nennt Heuslers Theorie deshalb eine „Rezitationsmetrik" (Breuer 1981: 74); und er stellt fest, daß Heusler sich nur „einbildet, den vom Dichter gesetzten Zeitfall authentisch aufzufinden. Auffinden kann er nur seine eigene rhythmische Interpretation." (a.a.O., 80). Ahnlich lehnt Christian Wagenknecht die Bestimmung des Verses als „takthaltige Rede" mit dem Hinweis ab, daß nur die Rezitation takthaltig sein könne, „und insofern bezeichnen die Heuslerschen Symbolketten treffend nur gewisse Vortragsmuster." (Wagenknecht 1981: 23). Ähnlich argumentiert auch Hugo Blank (1990: 43). Der Taktstrich „bezeichnet keine Pause, keinen hörbaren Einschnitt" (1925,1: 25). Die Gleichsetzung von musikalischer und sprachlicher Rhythmusstruktur ist es auch, die Heusler am häufigsten vorgeworfen wurde. Schon vor Heusler hatte Jakob Minor auf die Inkonsistenz des Taktprinzips für die Sprache hingewiesen (Minor 1902: 137f., 148f., und 298f.). Hartwig Schultz schreibt zu Heuslers Rhythmusauffassung: „Heusler projiziert also ein textfremdes System, das auch die metrischen Lehrbücher, die der Dichtung zugrundeliegen, nicht kennen, in den Verstext hinein, indem er den Takt als konstituierendes Merkmal des Verses ein-

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Die Zwei-, Vier- und Sechstakter, welche Heusler in die Dichtung hineinliest, bleiben ohne Bezug zur semantischen Organisation des Gedichtes. Die Takthaltigkeit genügt sich selbst und bringt die gesamte deutsche Dichtung vom altgermanischen Stabreimvers bis zu Heines Nordseebildern in den Gleichschritt des Taktes. Heuslers Versuch einer Erneuerung der Metrik durch das Taktprinzip fuhrt unweigerlich zum Metrum zurück, zur Reduzierung des Rhythmus auf das Metrische. Der Takt ist in gewisser Hinsicht ein Hypermetrum, ein Metrum außerhalb der Geschichtlichkeit der ästhetischen Konventionen, überzeitlich und allgegenwärtig zugleich. Das konkrete Gedicht ist dabei nur noch ein Vorwand für die Verwirklichung dieses allmächtigen Taktes. Es wird zum bloßen Material für die gewaltige Taktmaschinerie, die Heusler in seiner dreibändigen Versgeschichte in Gang setzt und die jedes Gedicht übertönt. An die Stelle des Poetischen tritt bei Heusler deshalb die „Lust am Gleichmaß" (Heusler 1925,1: 19), die Auflösung des Gedichts, des Sinns und des Rhythmus im formalen Schema. Wem das Gleichmaß langweilig erscheint, der ist für Heusler ein „Gehirnmensch", denn der Takt ist das Ursprüngliche: „Dem Naiven ist Monotonie süß, nicht unerträglich." (a.a.O.). Heuslers Rhythmusbegriff impliziert somit auch eine Anthropologie, und diese Anthropologie zeigt, daß die Bedeutung der Frage nach dem Rhythmus über die rein sprachtheoretischen Konsequenzen hinausgeht.

2.1.4 Elemente einer metrischen Anthropologie Die anthropologische Dimension des Heuslerschen RhythmusbegrifFs wird sichtbar, wenn es darum geht, zu erklären, wie der Rhythmus (der nach Heusler ja selbst nicht sprachlicher Natur ist) in die Sprache gelangen kann.

fuhrt." (Schultz 1981: 128). Auch Walter Jost setzt sich ausführlich mit der Kritik an Heuslers „Identifizierung von Vers- und Musikrhythmus" auseinander (Jost 1976: 19ff.). Das Metzler Literatur Lexikon faßt in dem Artikel Taktmetrik die Kritik an Heusler so zusammen: „Die Einwände gegen Heuslers die germanistische Verswissenschaft über mehrere Jahrzehnte beherrschende T.faktmetrik] richten sich v.a. gegen den abstrakten Rhythmusbegriff (Rhythmus kein abstraktes Gesetz, das der reinen Zeit innewohnt, sondern eine Funktion der Sprache), gegen die Übertragung des musikwissenschaftl. Begriffes Takt, der in der musikal. Rhythmik selbst nur geschichtl. Bedeutung hat, auf eine allgemeine sprachimmanente Erscheinung und gegen das Prinzip der Viertaktigkeit der Periode." (Metzler Literatur Lexikon 1990).

58 Da der Rhythmus sich nicht aus der Sprache ableiten läßt, braucht Heusler ein Bindeglied zwischen Rhythmus und Sprache und findet es im Körper.24 Der Rhythmus ist die Anwesenheit des Körpers in der Sprache. Aber dieser Körper ist nicht der Körper eines konkreten Subjekts, er ist nicht geschichtlich, kulturell und individuell, sondern zeitlos, triebhaft, organisch. Er steht dem Tier näher als dem Menschen.25 Damit haftet dem Rhythmus selbst etwas Tierhaftes an; er zeugt vom Tier im Menschen. Daraus resultiert der für die metrische Anthropologie bezeichnende Dualismus zwischen dem „Primitiven" und dem „Zivilisierten", etwa bei Felix Trojan, der in seinen Prolegomena zu einer Metrik (1952) ausdrücklich an Heusler anknüpft. Trojan versucht Heuslers Auffassung vom Rhythmus mit dem Hinweis auf die „rhythmische Wiederholung" zu belegen, die „das frühkindliche Lallen ebensowohl wie die Sprache der Primitiven" kennzeichnen soll (Trojan 1952: 180). Die „Sprache der Primitiven", das sind die „primitiven Sprachen", in denen „auf 1000 Wörter 38-170 reduplizierende Wörter kommen, während im Griechischen, Französischen und Englischen nur 2-3 Wörter unter tausend auf gleiche Weise aufgebaut sind" (a.a.O., 181). Abgesehen davon, daß diese Behauptungen jeglicher linguistischen Evidenz entbehren, verrät der Hinweis auf die europäischen Sprachen, was Trojan unter den „primitiven Sprachen", von denen keine einzige namentlich erwähnt wird, versteht: die Sprachen der außereuropäischen Völker, die nicht zu den alten Kolonialmächten gehören. Aber „primitiv" hat bei Trojan noch eine zweite Bedeutung. Trojan teilt nämlich die Geschichte der Verskunst in drei Perioden ein: in die „naiv-Schöpferische" (das archaische Griechenland, die germanische Dichtung), in der die metrischen Formen erfunden werden und die Dichtung „die natürlichen emotionalen Regungen der Liebe und der Kampfeslust" besingt; die „reflexiv-nachahmende" (Hellenismus und Aufklärung), in der das „wissenschaftliche Denken gegenüber der naiven Produktion" der Dichtung die Führung übernimmt; und schließlich die „regressive Periode" (Sturm und Drang, Romantik), in der es zu einer Wiederbelebung altüberlieferter metrischer Formen kommt (a.a.O., 182f.). Das Rhythmische ist also auch das Ursprüngliche, Emotionale, Anti-Rationale

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Der Mensch „zeugt selber Rhythmen, triebhaft und bewußt: im Pulse des Blutes, im Atmen; in den Bewegungen der Glieder und der Sprechwerkzeuge: Singen und Sprechen." (Heusler 1925,1: 18). "Die Lust am geordneten Rhythmus ist das älteste der Schönheitsgefiihle; viel älter als der homo sapiens, wie uns die Spiele der Tiere zeigen." (Heusler 1925,1: 18).

59 und damit zugleich das, was es zu überwinden gilt. Denn die Regressionstendenzen der letzten Periode, die „zur Primitivität zurückstreben", sind nicht nur „von ausgesprochen unstabilem Charakter", sie werden darüberhinaus von solchen Naturen verkörpert, „die auf Grund ihrer pathologischen Veranlagung einer so weitgehenden Regression fähig sind" (a.a.O., 184). Der Rhythmus fungiert somit als ein anthropologisches Paradigma des Kindlichen, Primitiven, Außereuropäischen und Pathologischen. Bei Trojan muß die Menschheit sowohl vom Rhythmus geheilt werden als auch von der Dichtung, an deren Stelle die wissenschaftliche Tätigkeit treten soll.26 Auch wenn die metrische Anthropologie nicht immer zu einer so drastischen Abwertung des Rhythmus fuhrt, bleibt der Dualismus zwischen dem Primitiven und dem Zivilisierten, dem Emotionalen und dem Rationalen dennoch eines ihrer wesentlichen Charakteristika. Er findet sich auch bei einem anderen Heusler-Schüler, nämlich bei Jost Trier.27 Trier bezeichnet den Rhythmus in seinem berühmten Rhythmus-Aufsatz aus dem Jahre 1949 als „Urphänomen" und als „primäre Anlage", durch die der Mensch ein „kindhaft-unzerspaltenes Bei-sich-selbst-sein" und eine „Süße der Dumpfheit" erfahrt (Trier 1949: 138). Dieser Dualismus ist ein Kennzeichen der Dichtung selbst, in der Trier „ein elastisches Gegeneinander von (Ρυθμός und λόγος" sieht (a.a.O.), wobei die absolute Verwendung des Begriffes λόγος hier einen doppelten Gegensatz suggeriert: den zwischen Rhythmus und Ratio einerseits und zwischen Rhythmus und Sprache andererseits. Aber die Irrationalisierung des Rhythmus hat bei Trier eine andere Ausrichtung als bei Trojan. Der Mensch erlebt den Rhythmus, indem er sich „bis zur Aufhebung der Individualitätsgrenze der eigenen Kleine und Enge entrückt und gegen die Gemeinschaft verströmend geöflhet fühlt" (a.a.O.). Der Rhythmus dient der Schaffung einer Gruppenidentität. Auch wenn Trier den Anteil des Subjekts am Rhythmus hervorhebt („Zum Rhythmus gehört, daß er intendiert ist und erlebt wird", a.a.O., 137), verhindert die Kopplung von Rhythmus und

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Der letzte Satz des Aufsatzes lautet: „Denn die im Metrischen und vielleicht auch im Künstlerischen überhaupt sich langsam verlierende Produktivität setzt sich auf anderen Ebenen des Kulturschaffens, vor allem auf wissenschaftlichem Boden, ungebrochen fort." (Trojan 1952: 194). Ewald Standop bezeichnet Trier als „archarnierten Heuslerianer" (Standop 1989: VU).

60 Takt, daß der Rhythmus aus der Jedesmaligkeit des Subjekts hervorgeht.28 Er ist vorgegeben, wie der Takt, und ermöglicht eine weitgehende Synchronisierung der Subjekte, eine Eingliederung des Einzelnen in die Gemeinschaft. Trier beschwört Bilder urgennanischer Rituale, um die gemeinschaftstiftende Wirkung des Rhythmus zu veranschaulichen (a.a.O., 135). Franz Nobert Mennemeier hat daher von den „völkischen" Implikationen bei Trier gesprochen (Mennemeier 1990: 231). Diese politische Dimension der Gleichsetzung von Rhythmus und Takt ist aber nicht an eine bestimmte Ideologie gebunden, sie findet sich auch in der marxistischen Heusler-Schule, vor allem bei Erwin Arndt. Wie bei Trier dominiert auch bei Arndt im Rhythmus der Takt und das kollektive Moment. Die Funktion des „für alles Rhythmische kennzeichnenden Lustgefühls" sieht Arndt darin, daß „man sich zum Beispiel beim Marschieren oder bei der Arbeit die Anstrengung erleichtern kann" (Arndt 1989: 51).29 Der Rhythmus fungiert als kollektives Regulativ. Es ist bezeichnend, daß Arndt immer wieder vom Marschieren spricht, wenn er das „gemeinschaftsbildende Element des Rhythmus" zu beschreiben sucht (a.a.O., 51, 52 und 53). In der metrischen Anthropologie kann es keinen Rhythmus eines Subjekts geben, sondern nur den Takt des normbildenden Kollektivs. Denn dort, wo „auf jede objektivierende metrische Bindung verzichtet" wird, besteht die Gefahr, „sich ins rein Subjektive zu verlieren" (a.a.O., 245). Das Subjektive wird bei Arndt zu einem Paradigma des Haltlosen, Asozialen und Sinnlosen; nur im Takt, im Gleichschritt, im Metrum kann es einen Halt für das Subjekt geben. Wie das Gedicht in der Reduzierung auf ein allgemeines metrisches Schema verschwindet, so verschwindet in der metrischen Anthropologie das Subjekt, wenn es nur noch als Realisierungsinstanz der kollektiven Norm fungiert. Es läßt sich wohl schwerlich ein größerer Gegensatz zur metrischen Anthropologie finden als die anthropologische Konzeption Humboldts. Es ist bezeichnend, daß Humboldt sich gegen die zu seiner Zeit herrschende Privilegierung des Indogermanischen wendet und sich den außereuropäischen

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„Rhythmus ist die Ordnung im Verlauf gegliederter Gestalten, die darauf angelgt ist, durch regelmäßige Wiederkehr wesentlicher Züge ein Einschwingungsstreben zu erwecken und zu befriedigen." (Trier 1949: 136). An der gleichen Stelle heißt es: „Rhythmische Gestaltung der Arbeit [...] ermöglicht auch die gleichzeitige Kraftaufbietung aller Beteiligten [...]. Gleichzeitig zwingt der Rhythmus wegen seiner allgemeinen Verbindlichkeit zu gleicher Arbeitsleistung und steigert oder mindert die Arbeitsintensität." (a.a.O., 51).

61 Sprachen zuwendet.30 Dies ist vor allem deshalb möglich, weil er an die Stelle des Dualismus zwischen dem Primitivem und dem Zivilisiertem eine Anthropologie der Vielfalt setzt („vermutlich ist der eigentliche Grund der Vielheit der Sprachen das innere Bedürfiiis des menschlichen Geistes, eine Mannigfaltigkeit intellektueller Formen hervorzubringen", Humboldt 1811: 13) und deswegen von der Vorstellung der „primitiven" Sprachen Abschied nehmen kann.31 In Humboldts Anthropologie der Vielfalt gibt es keinen Primat des Kollektivs über das Subjekt. Vielmehr stehen das Subjektive und das Soziale in einer unauflöslichen Wechselwirkung. Sie bedingen sich gegenseitig und liegen der Sprachtätigkeit zugrunde: „Alles Sprechen [...] ist ein Anknüpfen des einzeln Empfundenen an die gemeinsame Natur der Menschheit." (Humboldt 1836: 49) und: „Der Subjektivität aber wird nichts geraubt, [...] ja auch sie wird verstärkt, da die in Sprache verwandelte Vorstellung nicht mehr ausschließend einem Subjekt angehört." (a.a.O., 48). Dies ist möglich, weil für Humboldt die Sprache keine kollektive Norm darstellt, sondern einen unaufhörlichen Prozess. Was die metrische Anthropologie von Humboldt trennt, ist die fur sie charakteristische Unmöglichkeit, den Rhythmus so aufzufassen, wie Humboldt die Sprache begreift, als „Energeia", als etwas „in jedem Augenblicke Vorübergehendes", (a.a.O., 36), das in jedem Sprechen neu geschaffen wird und auf diese Weise teilhat an der unendlichen Vielfalt des Geschichtlichen.

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31

Allein im Nachlaß von Humboldt befinden sich eine „große Anzahl (etwa 50) von Grammatiken in unterschiedlichen Graden der Vollendung, die Humboldt selber nach seinen eigenen sprachwissenschaftlichen Prinzipien ausgearbeitet hat [...]. So gibt es für das klassische Nahuatl, die Sprache der Azteken, zahlreiche Bearbeitungen in deutscher und französischer Sprache [...]. Andere grammatische Ausarbeitungen gelten dem Malayischen, den pazifischen Südsee-Sprachen, dem Mongolischen, Chinesischen, Sanskrit, Malagasch, dem Tschechischen, Baskischen, Japanischen, zahlreichen der Indianersprachen von Nord-, Mittel- und Südamerika sowie der karibischen Inseln." (Mueller-Vollmer 1989: 186). „Selbst die Anfange der Sprache darf man sich nicht auf eine so dürftige Anzahl von Wörtern beschränkt denken, als man wohl zu tun pflegt, indem man ihre Entstehung, statt sie in dem ursprünglichen Berufe zu freier, menschlicher Geselligkeit zu suchen, vorzugsweise dem Bedürfiiis gegenseitiger Hülfeleistung beimißt und die Menschheit in einen eingebildeten Naturzustand versetzt. Beides gehört zu den irrigsten Ansichten, die man über die Sprache fassen kann." (Humboldt 1836: 54).

62 2.1.5 Wolfgang Kaysers rhythmische Typenlehre Wolfgang Kayser ist in der Literatur immer wieder zum Antipoden Heuslers erhoben worden, so daß der Eindruck entstehen konnte, er habe eine geradezu anti-metrische Haltung eingenommen.32 Ganz so feindselig kann aber Kaysers Haltung zu Heusler nicht gewesen sein. Immerhin wird Heusler im Vorwort zu Kaysers Kleiner deutscher Versschule als einziger zeitgenössischer Metriker namentlich und „mit Dank" genannt (Kayser 1962: 7) und auch in Kaysers Hauptwerk Das sprachliche Kunstwerk (1967) wird Heusler nirgends kritisch erwähnt. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß Kayser unabhängig von Heusler nach einer eigenen Rhythmus-Konzeption gesucht hat. Zunächst wirkt Kaysers Ansatz allerdings wie eine Rückkehr zur traditionellen Metrik mit ihrem Versfußrealismus. Kayser glaubt an die rhythmischsprachliche Realität der Versfuße, an das schmiegsame Gleiten des Jambus und die Schwerfälligkeit des Trochäus. Über letzteren meint er, daß er „offensichtlich für eine fallende Bewegung geeignet" sei und deshalb „ernster als der Jambus" wirke (Kayser 1962: 27).33 Bedeutsam wird dieses Anknüpfen an die Versfußmetrik aber dadurch, daß es Kayser erlaubt, anders als Heusler, der Takt und Rhythmus gleichsetzt - zwischen Rhythmus und Metrum zu unterscheiden. Kayser betont immer wieder die eigenständige Realität des Rhythmus gegenüber dem Metrum („Metrum und Rhythmus müssen also gesondert werden.", a.a.O.) und versucht, ihr Verhältnis in einem berühmt gewordenen Bild wiederzugeben: Das metrische Schema gleicht einem Kanevas, der bei der vollendeten Stickerei nicht mehr zu sehen ist, aber Richtung, Struktur und Dicke der Fäden beeinflußt. (a.a.O.)

Doch auch in Kaysers Unterscheidung von Rhythmus und Metrum bleibt der metrische Rhythmusbegriff durch die Vorstellung vom Rhythmus als individuelle Realisierung des Metrums wirksam. Der Rhythmus „gehört zum Indi32

33

Walter Jost spricht von einem „klaffenden Gegensatz zwischen Kaysers Hang zu rhythmischer Gelöstheit und Heuslers Behagen an metrischer Ordnung" und fügt hinzu: „Kaysers Stellung zum Metrum ist mit »feindlich« kaum zu schroff bezeichnet." (Jost 1976: 25). Und Dieter Burdorfsieht Kayser in einer „dualistischen Gegenposition zu Heusler" (Burdorf 1996: 70). An anderer Stelle kritisiert er allerdings den metrischen Realismus und weist daraufhin, daß sich Anapäste und Daktylen nur durch die Lage der Taktstriche unterscheiden: „Auf dem Papier bleibt noch als Unterschied die verschiedene Lage der Taktstriche vor bzw. nach den Hebungen. Dieser Unterschied steht aber nur auf dem Papier und wird nicht wirksam." (a.a.O., 33).

63 viduellen jedes Gedichtes", aber „er hängt jeweils von dem metrischen Schema ab, das zugrunde liegt" (Kayser 1967: 242). Dadurch wird die Möglichkeit einer Eigenständigkeit des Rhythmus gegenüber dem Metrum wieder verschlossen. Die Folge ist die Trennung zwischen Rhythmus und Sinn, wenn Kayser auf die Funktion des Rhythmus zu sprechen kommt. Der Rhythmus soll nämlich laut Kayser „Abwechslung" in die „Eintönigkeit" des Metrums bringen (Kayser 1962: 107), und „lebendiger Rhythmus ist da, [...] wo dieses Grundmaß frei umspielt wird" (a.a.O., 105). Die rhythmische Abweichung dient der Bestätigung der metrischen Norm. Aber Kayser sucht im Rhythmus mehr als nur ein Abweichungsprinzip. Um dem „rhythmischen Gehalt", dem „individuellen Rhythmus eines Werkes", dem „Gefügecharakter des Ganzen" (Kayser 1967: 252) Rechnung zu tragen, schlägt Kayser eine rhythmische Typenlehre vor, die unabhängig vom Metrum zwischen „fließendem", „bauendem", „gestautem" Rhythmus unterscheidet (Kayser 1962: 11 Iff.; 1967: 259). Als Beispiel für den fließenden Rhythmus analysiert Kayser Brentanos Wiegenlied: Singet leise, leise, leise Singt ein flüsternd Wiegenlied Von dem Monde lernt die Weise, Der so still am Himmel zieht.

xxxx|xx|xx χ χ χ χ χ χ χ| x x x x ' x x x x | χ χ χ χ χ χ χ|

Singt ein Lied so süß gelinde, Wie die Quellen auf den Kieseln, Wie die Bienen um die Linde Summen,murmeln,flüstern,rieseln.

x x x x x x x x x χ x'x

' x x x x x ' x x x x ' x x x x|x x|x

x | x | x | χ

(Kayser 1967: 256f.) Das Grundmaß des Rhythmus ist in Kaysers Notation das durch Virgeln abgeteilte Kolon, eine Mischung aus Intonationsphrase und Syntagma. Syntagmatisch ist sein Zusammenfallen mit syntaktischen Einschnitten, intonativ seine Verwandtschaft mit dem Sieverschen Versfußbegriff in der Unterscheidung zwischen stark (x) und schwach (x) betonten Hebungen. Denn daß „still" stärker als „zieht" (V. 4), „summen" schwächer als „murmeln" (V. 8) und „singt" (V. 2+5, im Gegensatz zu „Singet", V. 1) und „lernt" (V. 3) überhaupt nicht betont wird, hängt allein von der Auffassung des Vortragenden ab und geht aus der Textgestalt selbst nicht hervor.34 Der Einfluß der 34

Die Instabilität der notierten Skansion zeigt sich auch bei Arndt, der in der Annahme, es läge bei Kayser (Kayser 1967: 256f.) ein Druckfehler vor, dessen Nota-

64 Vortragsmetrik spiegelt sich auch in Kaysers Charakterisierung der rhythmischen Gestalt dieses Gedichtes wieder: „Eine langsame [...] Zeile eröffnet das Gedicht", die folgende verläuft „etwas schneller, und die raschere Bewegung erhält sich, zumal immer die metrische Eingangshebung ganz schwach zu sprechen ist" (Kayser 1967: 256). Kaysers fließender Rhythmus ist ein Produkt seiner eigenen Rezitation. In dem Moment, wo Kayser die Versfußmetrik verläßt, holt ihn die Vortragsmetrik ein, und die Rezitation tritt an die Stelle des Textes. Sievers' Einfluß spiegelt sich auch in der Terminologie wider, mit der Kayser die verschiedenen Rhythmustypen charakterisiert.35 Aber die traditionelle Metrik bleibt in Kaysers Rhythmus-Typik ebenfalls wirksam, etwa wenn er bestimmten Rhythmustypen bestimmte Strophenformen zuordnet, z.B. dem bauenden Rhythmus das Sonett und die Stanze (Kayser 1967: 261f.) und dem tänzerischen Rhythmus das Triolett (a.a.O., 262) Vortragsmetrik oder Taktmetrik - diese Alternative beherrscht die MetrikTheorien der ersten Hälfte des 20. Jh. Beiden Richtungen ist dabei die Trennimg von Rhythmus und Text gemeinsam: ob der Rhythmus vom Metrum abgeleitet oder mit diesem gleichgesetzt wird, ob er in die Rezitation verlegt oder als Takt verstanden wird, immer klaffen Rhythmus und Bedeutungsweise des Textes unüberbrückbar auseinander.

2.2 Der Rhythmus und die Sprachstruktur Die Metrik ist nicht bei Sievers und Heusler stehengeblieben. Unter dem Einfluß des Strukturalismus und der generativen Grammatik sind in der zweiten Hälfte des 20. Jh. viele Ansätze erarbeitet worden, die auch in der Frage nach dem Rhythmus andere Wege gehen als die Takt- und Vortragsmetrik. Der Rhythmusbegriff zweier Metriktheorien soll hier näher untersucht werden. Die eine stammt von Christoph Küper und stellt den Versuch einer Symbiose verschiedener strukturalistischer, semiotischer und metri-

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tion „verbessert" und statt der leichten Betonung auf „zieht" eine schwere setzt (Arndt 1989: 17). So zeichnet etwa den „fließenden Rhythmus" unter anderem „das ständige Weiterdrängen der Bewegung, die verhältnismäßige Schwäche der Hebungen, die Leichtigkeit und Gleichmäßigkeit der Pausen [...]" aus (Kayser 1967: 259).

65 scher Ansätze dar, die andere von Achim Barsch, der vor allem Modelle der generativen Metrik aufgreift und weiterentwickelt.

2.2.1 Die Poetisierung des Metrums bei Christoph Küper Christoph Küper unternimmt in Sprache und Metrum (1988) den Versuch, Linguistik, Semiotik und Metrik zu verbinden und eine allgemeine Ästhetik der Sprache zu begründen. Dabei bezieht er sich ebenso auf die strukturalistischen Theorien von Roman Jakobson und Jurij Lotman, wie auf die Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß und die generativen Modelle von Morris Halle, Samuel J. Keyser und Paul Kiparsky. Im Mittelpunkt dieser Ästhetik steht aber nicht die Dichtung und nicht der Rhythmus, sondern das Metrum. Das Metrum an sich ist für Küper schon ästhetisch: „der metrisch organisierte Text ist an sich schon Ausdruck oder Realisationsform einer grundsätzlich poetischen, oder allgemeiner ästhetischen Einstellung." (Küper 1988: 9), heißt es in der Einleitung zu Sprache und Metrum. Dort spricht Küper auch erstmals vom Rhythmus, den er zwar als „leider arg strapazierten und in metaphorischer Redeweise oft nur sehr vagen" Begriff (a.a.O.) ablehnt, auf den aber seine Ästhetik dennoch nicht verzichten kann. Den Angelpunkt von Küpers Theorie bildet die Frage nach der sprachlichen Realität des Metrums. Dieses Problem diskutiert Küper ausgehend von dem metrischen Rhythmusbegrifif des Russischen Formalismus, wo das Metrum als Norm dem Rhythmus als dessen Realisierung gegenübergestellt wird. Bis hierher, so meint Küper, bestände unter den Metrikern ja Einigkeit, aber: Sobald man jedoch fragt, wovon denn das Metrum eine Abstraktion sei, sobald man den oder die korrelativen Begriffe) sucht, setzt der Wirrwarr erneut ein. (a.a.O., 103)

Diese Frage ist aufschlußreich für die Ausrichtung von Küpers Ansatz. Er begreift das Metrum nicht einfach nur als eine tradierte und damit arbiträre Form der Versifikation. Er sucht nach einer Motivation für das Metrum. Deshalb lehnt er Heuslers Rezitationsmetrik, in der das Metrum nur als Effekt der taktierenden Skansion existiert, ab (a.a.O., 104). Aber auch Jakobsons Unterscheidung zwischen Verstyp (verse design) und konkretem Vers (verse instance) stößt auf Küpers Kritik.36 Denn der Verstyp wird bei Jakob36

Beim Verstyp handelt es sich nach Jakobson nicht um ein abstraktes Schema, sondern um alle sprachlichen Normen (Intonation, Zäsuren, Pausen, Silbenzahl,

66 son „nicht wie bei Chomsky als Kompetenz eines »idealen«, d.h. ahistorischen Sprechers/Hörers (in unserem Kontext Autors) verstanden, sondern als jeweils historisch bedingte Kompetenz." (Küper 1988: 105f.). Und als „historisch bedingte Kompetenz" wäre das Metrum wieder arbiträr, oder wie Küper sagt, es würde sich nur um eine „Abstraktion niederer Stufe" handeln (a.a.O., 106). Küper möchte dem Metrum aber höchste Abstraktheit und höchste Konkretheit zugleich zuerkennen. Es soll unabhängig von der Rezitation, von dem geschichtlichen Kontext und schließlich auch vom Text selbst sein. Dies erreicht Küper, indem er das Metrum als semiotisches Phänomen auffaßt. Er macht das Metrum zu einem Zeichen, das unabhängig von der Rezitation, vom Text und vom jeweiligen Kontext immer auf den gleichen Inhalt verweist, nämlich auf die Sprachstruktur selbst: Es ist eine Grundhypothese dieser Arbeit, [...] daß die in einer Sprache herrschende Versifikationspraxis [...] grundlegende Eigenschaften dieser Sprache abbildet (modelliert). (a.a.O., 9)

Wenn Heuslers Taktmetrik auf eine Revision der Opitzschen Reform ausgerichtet war, so könnte man von Küper sagen, daß er die metrischen Vorschriften von Opitz zur allein gültigen Norm der deutschen Dichtung erheben will. Denn die beiden Metren, die Küper geeignet scheinen, die „grundlegenden Eigenschaften" des Deutschen zu „modellieren", sind eben jene, die Heusler als Verkörperung des „Welschen" ansah und darum verwarf: die von Opitz propagierten alternierenden Versmaße, der Jambus und der Trochäus. Aufgrund der Stammsilbenbetonung und der Vielzahl zweisilbiger Wörter mit der Akzentstruktur „xx" glaubt Küper, daß der Trochäus „auf der Ebene der Wortstruktur" dasjenige Versmaß ist, „das dem Deutschen am adäquatesten ist" (a.a.O., 229). Und da im syntagmatischen Zusammenhang häufig unbetonte Einsilber vorausgehen, gilt nach Küper: „auf der Ebene der Satzstruktur bildet das jambische Versmaß die typische Struktur des Deutschen ab" (a.a.O.). Daraus folgt, „daß das jambische Versmaß im Deutschen (wie im Englischen) eine größtmögliche sprachliche Natürlichkeit ermöglicht" (a.a.O.). Nachdem er von Heusler geächtet wurde, wird der Jambus nun wieder zum deutschesten aller Versmaße. Küper naturalisiert das Metrum und macht es zum Ort der harmonischen Vereinigung von Natur, Sprache und Ästhetik. Küpers Naturalisierung des Metrums be-

Enjambements), die für das jeweilige geschichtlich-kulturelle »richtige« Sprechen und Verfassen von Versen von Bedeutung sind: „Auf diese Weise geht das Problem des Musters weit über das der bloßen Lautfonn hinaus; es stellt ein weit umfassenderes linguistisches Phänomen dar [...]." (Jakobson 1960: 119).

67 ruht jedoch auf einem dreifachen - einem poetischen, einem literaturgeschichtlichen und einem linguistischen - Paradox. Das poetische Paradox liegt in der Tatsache, daß Küpers Idealisierung des jambischen Versmaßes in einem krassen Gegensatz zur Dichtungspraxis des 20. Jh. steht, die ja gerade gezeigt hat, daß das Metrum mitnichten ein notwendiger Bestandteil des Gedichtes ist. Küpers Ästhetik setzt also die Ausklammerung der modernen Dichtung und damit der Gegenwart voraus.37 Auch aus dem Blickwinkel der Versgeschichte ist Küpers Hypothese paradox, und zwar insofern, als der Jambus in der deutschsprachigen Dichtung nur ein Versmaß unter vielen darstellt, und keineswegs die jambischen Gedichte immer auch zu den ästhetisch wertvollsten gehören. Linguistisch paradox schließlich ist die Vorstellung, daß das Metrum die Sprachstruktur abbildet. Wenn dies nämlich zuträfe, wir also tatsächlich jambische Akzentmuster bevorzugen würden, könnte man ein jambisches Gedicht schwerlich als solches erkennen, da es ja mit der Sprachstruktur zusammenfiele.38 Methodisch fuhrt Küpers metrische Natürlichkeitshypothese zu einem Verwischen der Grenzen zwischen sprachlicher und metrischer Struktur. Dies zeigt sich etwa in seinem „dreistufigen Modell metrischer Abstraktion", das Küper für die Versanalyse entwickelt: Es ist der Vater mit seinem Kind x x x x x x x x χ x x x x x x x x χ 1 1

37

38

3

.

1. Akzentstruktur 2. metr. Schema Assonanz (a.a.O., 130)

Die Ausklammerung der modernen Dichtung überhaupt ist ein Charakteristikum der metrischen Dichtungstheorien. Heusler hat von einer „Art Totengräberamt" gesprochen, um die Rolle der freien Rhythmen in der deutschen Dichtung zu charakterisieren (Heusler 1925, ΠΙ: 316). Friedrich Georg Jünger („Im Gedicht also sind Rhythmus und Metrum eins", Jünger 1952: 14) sieht im Verzicht auf das Metrum (= Rhythmus) ein Indiz für den Verfall der Sprache insgesamt: „Verfallt der Rhythmus, dann ist das schon ein Kennzeichen dafür, daß die Sprache verfallt." (a.a.O., 21). Weil sie auf das Metrum verzichten kann, besitzt die moderne Dichtung fur Gerhard Storz keinen Rhythmus (Storz 1970: 231). Und Bernhard Asmuth behauptet, daß die moderne Lyrik sich durch den „Verzicht auf Metrum und schnelle Verstehbarkeit" in „ein künstlerisches Getto" begebe (zitiert bei Burdorf 1995: 7). Eine Gegenposition nimmt Dieter Breuer ein, der in seiner Versgeschichte ausführlich auch auf die nichtmetrische Dichtung des 20. Jh. eingeht und betont, daß die Ausklammerung der modernen Lyrik in der Metrik eine Verschleierung der „Historizität der metrischen Normen" bewirke: (Breuer 1981: 69). Zur Frage der alternierenden Akzentmuster im Deutschen siehe Kapitel 3.2.

68 Daß Küper sein Modell ausgerechnet mit einem Vers aus dem nichtjambischen Erlkönig illustriert, ist hier weniger von Belang,39 als das, was das Modell über die von Küper intendierte Beziehung von Metrum und Sprache verrät: nämlich die Gleichzeitigkeit von metrischer Modellierung der Sprachstruktur und höchster Abstraktheit des Metrums und das Verwischen der metrischen Konturen, die daraus resultieren. Die abstrakte Realität des Metrums, das heißt die Möglichkeit, zwischen metrischem Schema und Akzentstruktur überhaupt zu unterscheiden, wird in Küpers Modell nur durch ein einziges Element garantiert: durch das unbetonte „ist" der ersten Ebene. Deswegen bemüht sich Küper auch nachzuweisen, daß dies „ist" keinesfalls betont sein kann, und weist darauf hin, daß ein betontes /ist/ automatisch die Bedeutung „ißt" haben würde (a.a.O., 129). Küper übersieht aber, daß der Unterschied zwischen /ist/ (essen) und /ist/ (sein) im Deutschen nicht phonetischer (wie dies in einer Tonsprache möglich wäre), sondern kontextueller Natur ist, weswegen eine korrekte Skansion der Ballade auch keinen komischen Effekt bewirkt. Bei Küper darf /ist/ aber nicht betont sein, da sonst die beiden ersten Ebenen zusammenfielen, was unweigerlich dazu führen würde, daß der Unterschied zwischen Metrum und Sprachstruktur überhaupt nicht mehr auszumachen wäre: das Metrum würde, in dem Augenblick, wo es die Sprachstruktur „modelliert", auch in ihr verschwinden. Dafür ist nicht das Metrum des Erlkönigs verantwortlich, sondern Küpers Art der metrischen Notation. Der eigentliche Widerspruch seines „dreistufigen Modells" liegt nämlich nicht in dem betonten oder unbetonten „ist", sondern in der Tatsache, daß das Metrum in Küpers Modell überhaupt nicht vorkommt. Was Küper als metrisches Schema ausgibt, ist tatsächlich nichts anders als eine Abbildung der Akzentstruktur genau dieses Verses. Das eigentliche Metrum der Ballade müßte dagegen eher so wiedergegeben werden: W

_

W

W

— - w w



w

w



[χ...] χ χ [χ...] χ χ [χ...] χ χ [χ...] χ

Also vier Hebungen mit freier Senkungsfüllung (die Zahl der eingeklammerten Senkungen ist jeweils variabel), entsprechend dem von Goethe verwendeten Volksliedvers. Küpers Notation dagegen suggeriert, daß sich das metrische Schema mit jedem Vers wandelt, was aber heißen würde, daß ein solches überhaupt nicht existent ist. Küpers Modell ist für eine metrische

39

Auch wenn Küper dem Erlkönig eine „Tendenz zu alternierendem Rhythmus" unterstellt (a.a.O., 130). Einzelheiten zum Metrum des Erlkönig siehe Kapitel 4.1 und 4.2.5.

69 Analyse kaum brauchbar und auch Küper verwendet es in seinen eigenen Versanalysen nicht. Schwerer als die aufgezeigten Unstimmigkeiten wiegt aber für die hier verfolgte Fragestellung die Abwesenheit des Rhythmus, des Gedichtes und des Sinns in Küpers Modell. Die Verteilungen der Hebungen, die festgestellten Assonanzen bleiben beziehungslose Elemente ohne irgendeine semantische Bedeutung. Dabei gibt es diese semantischen Beziehungen, und die Assonanzen sind für die Bedeutungsweise der Ballade von ebenso fundamentaler Bedeutung wie die jeweilige Realisierung des metrischen Schemas, was ich in meiner Analyse des Gedichtes zeigen werde (Kapitel 4.2). Aber die Wertigkeit der rhythmischen Elemente verschwindet, wenn man sie von dem Textsystem löst, zu dem sie gehören. Die isolierende Versanalyse kehrt dem Rhythmus den Rücken und geht über ein indifferentes Registrieren der Akzentverteilung nicht hinaus. Die Ausklammerung des Rhythmus, des Sinns und des Gedichtes muß Küper deshalb in Kauf nehmen, weil im Zentrum seiner Ästhetik das Metrum steht. Das Metrum verkörpert für ihn das Schöne, Harmonische, Gleichmäßige und Symmetrische. Das Problem seiner metrischen Ästhetik liegt dabei in der Monotonie: Wenn die Gleichmäßigkeit schon schön ist, dann müßte die Monotonie den Gipfel der Vollkommenheit darstellen.40 Das MonotonieProblem ist ein Charakteristikum fast aller metrischen Ästhetiken und findet sich nicht nur bei Küper. In den meisten Fällen, und auch bei Küper, wird das Dilemma aufgelöst, indem auf den Rhythmus zurückgegriffen wird, der eine kompensatorische Funktion erhält: er dient dazu, die drohende metrische Monotonie durch kleine Abweichungen aufzulockern.41 Die gestörte Monotonie wird daher zum ästhetischen Ideal erhoben: Die Funktion, Monotonie durch den dauernden Wechsel von Erwartungsstabilisierung, Erwartungsfrustration und Erwartungsstabilisierung zu vermeiden, ist selbst

40

41

Diese Position wird in der metrischen Theorie tatsächlich bisweilen vertreten, etwa von Friedrich Georg Jünger („Die Eintönigkeit dürfen wir das stärkste aller Kunstmittel nennen", Jünger 1952: 30). Auch Wolfgang Kayser sieht in der „starken Neigung zur Gleichförmigkeit" eine Vorstufe des Schönheitsgefühls (1962: 107). „Fügt sich der Rhythmus dem Metrum ein, so entsteht Monotonie. Bricht der Rhythmus aus dem Metrum aus, so spannt oder ballt sich der Vers; über längere Strecken verliert er sein Profil. In guten Versen wird das Verhältnis des Rhythmus zum Metrum zwischen Einfügen und Abweichen wechseln [...]." (Behrmann 1989: 16). Ähnliche Auffassungen finden sich bei Heusler (1925,1: 19), Kayser (1946: 105), Schlawe (1972: 9) und Jost (1972: 24).

70 wiederum in einer übergreifenden poetisch/ästhetischen [...]. (Küper 1988: 252)

Funktion begründet

Die Reduzierung des Poetischen auf das Metrische und des Rhythmus auf die Abweichung vom Metrum führt dazu, daß das Gedicht und der Sinn in den Hintergrund treten. An ihre Stelle tritt das abstrakte Prinzip von metrischer Normerfüllung und -abweichung. Aus dieser Reduzierung des Poetischen auf ein mehr oder minder instabiles Signalmuster ergibt sich auch die Aufgabe der Metrik. Sie dient dazu, das Verhältnis von metrischer Erfüllung und Abweichung im jeweiligen Vers festzustellen. Dieses Verhältnis bezeichnet Küper mit dem aus der generativen Metrik entlehnten Begriff der „metrischen Komplexität". Die metrische Komplexität kann auf verschiedene Art und Weise realisiert werden; etwa, indem die Akzentstruktur dem Metrum zuwiderläuft, wie am Anfang der folgenden drei jambischen Verse: (1) Aùfstèigt der Strahl und fallend gießt er voll (Meyer, Der römische Brunnen, a.a.O., 216) (2) Einsam mit seiner Schuld und Pein (Droste, Mondesaufgang, a.a.O., 217) (3) Dúnkel, aber mit einem Helm von Gold (Rilke, Der Knabe, a.a.O., 218)

Zur „Komplexitätsmessung" verwendet Küper die von Paul Kiparsky (1975) entwickelte Methode, die den Komplexitätsgrad in eine numerische Hierarchie überträgt. Für die obigen Verse sieht diese so aus: aufsteigt 1 2 4 1 4

einsam 13 4 1 5

dunkel 14 4 1 6

Akzentstruktur metrisches Schema Komplexität (Küper 1988: 218)

Die erste Ebene bezeichnet die Akzentstärke (1 = stärkste und 4 = schwächste Betonung), die zweite Ebene das jambische Schema (4 = Senkung, 1 = Hebung) und die dritte die verschiedenen Grade der Komplexität der einzelnen Versfüße. Sie wird ermittelt, indem die Differenzen innerhalb der Akzentstruktur und innerhalb des metrischen Schemas addiert werden (z.B. für „aufsteigt": 1 + 3 = 4). Küper spricht in diesem Zusammenhang von einer „zunehmenden Komplexität", da der Komplexitätsindex linear aufsteigt. Es bleibt allerdings fraglich, welche Aussagekraft die einzelnen Ziffern tatsächlich besitzen. Denn wie der Komplexitätsgrad jeweils ausfällt, hängt nicht so

71 sehr von der Beziehung zwischen Akzentstruktur und metrischem Schema ab, als vielmehr von der Höhe der Akzentstufe, die der Interpret den einzelnen Silben zubilligt (ob also etwa „einsam" die Folge 1 3 oder 1 4 erhält).42 Selbst, wenn man von dem EinfLuß der Rezitation absieht, bleibt immer noch die Frage, was der ermittelte Komplexitätsgrad über den Vers, das Metrum oder das Gedicht auszusagen vermag. Die Komplexitätsanalyse ersetzt eine Abstraktion durch eine andere, ohne zu der Gestaltung des Sinns durch die Signifikanten, ohne zum Textsystem und damit zum spezifischen Rhythmus des Textes zu gelangen. Eine andere Form der metrischen Komplexität entsteht nach Küper aus der Beziehung zwischen Wortgrenze und Versfuß. Als Beispiel dafür, daß „der Rhythmus der Verse mit dem metrischen Schema (der Folie, dem Hintergrund) scharf kontrastiert, wodurch der Rhythmus hervorgehoben, in den Vordergrund gestellt wird" (a.a.O., 232), führt Küper ein Gedicht von Rilke aus dem Buch der Bilder an: Herbst Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fallt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fallt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. (a.a.O., 2 3 2 )

Die Kontrastierung besteht nach Küper darin, daß das Metrum des Gedichtes jambisch, sein „Rhythmus aber klar »fallend« ist" (a.a.O.), und er fahrt fort:

42

Die Abhängigkeit der Komplexität von der individuellen Rezitation zeigt sich besonders deutlich bei den Einsilbern wie zum Beispiel in folgendem Vers aus Nathan der Weise (Π, vii):

Wolfs Wuchs, Wolfs Gang: auch seine Stimme. So 2 1 2 1 (a.a.O., 200). Offensichtlich unter dem Einfluß des metrischen Schemas gesteht Küper dem zweiten und vierten einsilbigen Substantiv einen stärkeren Akzentgrad zu als dem ersten und dritten. Auch hier verwechselt Küper also Metrum und Akzentstruktur.

72 24 lexikalischen Wortfüßen vom Typ x x steht kein einziger vom Typ x x gegenüber (!); die ikonische Funktion dieser Kontrastierung ist wohl fur jeden augenfällig. (a.a.O.)

Zwei Schwierigkeiten treten bei Küpers Analyse auf. Die erste betrifft, erneut, die Realität des Metrums. Die „Kontrastierung", von der Küper spricht und die den Rhythmus des Gedichtes hervortreten lassen soll, existiert nur auf der Ebene des metrischen Schemas; sprachlich dagegen ist sie überhaupt nicht wirksam oder wahrnehmbar. Einerseits, weil die Versfußgrenzen kein sprachliches Korrelat besitzen und andererseits, weil trochäische Wortfüße in jambischen Versen, wie Küper selbst darlegt, im Deutschen der Regelfall sind.43 Die zweite Schwierigkeit hängt mit der von Küper vorgenommenen Semantisierung des Metrums zusammen. Küper spricht von einer „ikonischen Funktion dieser Kontrastierung" (a.a.O.), und meint damit offensichtlich einen Zusammenhang zwischen dem Motiv des Fallens in Rilkes Gedicht und den von ihm als „»fallend«" charakterisierten Trochäen. Die Hypothese einer „ikonischen Funktion" des Metrums ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie die einzige semantische Komponente in Küpers Theorie darstellt: Auf einzelne Verse bezogen, besteht eine wichtige Funktion metrischer Komplexität in der ikonischen Abbildung bestimmter Inhalte [...]. (a.a.O., 251)

Die Vorstellung, daß das Metrum durch seine Form den Inhalt des Verses widerspiegle, beruht aber in den meisten Fällen auf einer ad-hoc-Projektion, auf die ich im Abschnitt 5.2.2 im Zusammenhang mit dem angeblichen metrischen Pferdegetrappel im Erlkönig noch ausführlicher zurückkommen werde.44 Die Ad-hoc-Projektion des Sinns in das Metrum ist vielleicht das deutlichste Symptom für die Kluft, die sich bei Küper zwischen das Metrum und den

44

„Der Grund hierfür liegt darin, daß es erstens nur wenig zweisilbige Wörter des Typs x x gibt und daß Wörter des Typs x x [...] nicht auf der Folge WS [ = Senkung/Hebung] vorkommen, sondern nur auf der Folge SW - die aber ist im jambischen Metrum stets auf zwei Versfüße verteilt." (a.a.O., 229). Im ersten Teil seines Buches kritisiert Küper selbst solche spontanen Ikonisierungen des Metrums und stellt fest, daß es bei Gedichtinterpretationen oftmals vorkomme, „daß bestimmte Bedeutungen von Gestalten abgeleitet werden, aus denen sie eigentlich gar nicht abzuleiten wären. Eine dieser immer wieder vorgeschobenen Gestalten ist der Rhythmus des Textes, dem Zeichenqualitäten zugestanden werden, die tatsächlich weitgehend der semantische Textstruktur zukommen." (a.a.O., 97).

73 Rhythmus als Bedeutungsweise des Textes schiebt. Denn wenn es einen Rhythmus des Fallens in Rilkes Herbst gibt, so beruht dieser nicht auf den metrischen Versfußgrenzen, sondern auf der rhythmischen Funktionsweise des Signifikanten „fallen" in dem Gedicht selbst, auf den EchoGguren, durch die sich das Fallen auf das ganze Gedicht ausdehnt. Vom ersten Vers an, wird „fallen" zu seinem eigenen Echo („fallen, fallen", V.l); im ganzen erscheint es in den neun Versen viermal in der Form „fallen" (V. 1,3,6) und dreimal als Polyptoton („fällt", V.4+6, und „Fallen", V.8). Hinzu kommen phonematische Beziehungen, von denen die wichtigsten das dreifache Echo auf ,,alle(n)" ist („aus allen Sternen", V.5; „Wir alle fallen", V.6; „es ist in allen", V.7). Das ganze Gedicht beruht auf der rhythmischen Ausweitung des Reimpaares fallen/allen. Die Ausweitung des Signifikanten „fallen" fuhrt schließlich dazu, daß auch die zahlreichen Zweisilber durch ihr Akzentmuster zu einem Paradigma des Fallens werden. Der spezifische Rhythmus dieses Gedichtes gibt der Akzentfolge xx seine Wertigkeit und nicht die metrische Fiktion „fallender" oder „steigender" Versfüße. Obwohl Küper Sprache und Metrum durch eine mimetische Beziehung miteinander zu verknüpfen sucht, bleibt in seiner metrischen Ästhetik die Kluft zwischen Metrum und Sinn erhalten. Denn die semiotische Verknüpfung von Metrum und Sprache klammert die Semantik aus und realisiert nur die Figur einer doppelten Mimesis: die Poesie wird als sprachliche Imitation des Metrums verstanden, welches seinerseits als Imitation der Sprachstruktur begriffen wird. In dieser tautologischen Zirkelbeziehung, in der der poetische Text durch das Metrum zu seiner eigenen Imitation wird, bleibt für die Jedesmaligkeit des Sinns und für das konkrete Gedicht kein Platz; sowenig wie für den Rhythmus, der nur noch als diskreter Störfaktor in der ästhetischen Monotonie des Metrums erscheint.

2.2.2 Der Rhythmus in Barschs generativer Metrik Die generative Verstheorie von Achim Barsch (1991) steht am Ende dieses Kapitels, weil sie am konsequentesten zeigt, wie der metrische Rhythmusbegriff eine Konzeption des Rhythmus als Bedeutungsweise der Rede verhindert. Die Ausblendung des Rhythmus beginnt bei Barsch mit der Darlegung seiner erkenntnistheoretischen Prämissen, in der er „wissenschaftlich" mit „mechanistisch" gleichsetzt und nur „mechanistische Erklärungen" für wis-

74 senschaftlich valide erklärt.45 Im positivistischen Wissenschaftsverständnis von Barsch kann es nur allgemeine Regeln und Abweichung von allgemeinen Regeln geben. Diese zu formulieren ist daher auch das Ziel seiner Theorie: Im Sinne Chomskys (1973) wird die Metrik verstanden als eine kognitivpsychologische Theorie, die die metrisch-rhythmische Kompetenz eines idealen Dichter/Lesers beschreibt und erklärt. (Barsch 1991: 15).

In Hinblick auf die Frage nach dem Rhythmus ist die wichtigste Konsequenz der generativen Ausrichtung von Barschs Ansatz die vollständige Ausklammerung des Sinns aus der Metrik. Denn es gibt nach Barsch „vom abstrakten metrischen Schema und seiner sprachlichen Realisierung keinen unilinearen, in Regeln faßbaren und somit wissenschaftlich haltbaren Weg zur semantischen Ebene eines Textes" (a.a.O.). Das Semantische gehört nicht eigentlich zur Sprache, denn in der Kommunikation werden „keine Bedeutungen transportiert" und „sprachliche Äußerungen tragen auch keine Bedeutungen mit sich herum" (a.a.O., 30). Bedeutungen sind nur „inner-systemische Erlebnisse, die unter dem Einfluß sprachlicher Wahrnehmung entstehen" (a.a.O., 58). Die Sprache hat bei diesem Prozess weder eine semantische noch eine semiotische Funktion, sie dient lediglich als Auslösereiz.46 Barsch erläutert seinen Sprachbegriff, indem er Parallelen zum „biologischen Reizbegriff" und zur „ E b e n e exzitatorischer Neuronenverbindungen" (a.a.O., 31) zieht und von einer „Reiz-Wirkungs-Beziehung" (a.a.O., 32) spricht. Der Sinn wird als solipsistischer Reflex aufgefaßt und aus dem eigentlich Sprachlichen ausgeschlossen. Ausgehend von dieser sprachtheoretischen Position erübrigt sich die Frage nach der Beziehung zwischen Metrik und Semantik („Damit kann [...] die Semantik bei der metrischen Analyse ausgeblendet bleiben", a.a.O., 165). Wie die Sprache hat auch das Metrum nur die Funktion eines Auslösereizes oder eines Signals: Entsprechend bildet die metrische Struktur eines Textes ein geeignetes Signal, diesen als literarisch intendiert auszuzeichnen, bzw. als literarisch intendiert zu rezipieren. (a.a.O., 67)

46

„Ein gegebenes Phänomen läßt sich wissenschaftlich erklären durch die Entwicklung oder Angabe eines generativen Mechanismus, der dieses Phänomen erzeugt. Insofern ist jede wissenschaftliche Erklärung immer eine mechanistische." (Barsch 1991: 11). Barsch bezieht sich vor allem auf die konstruktivistischen Ansätze von S.J. Schmidt (1980) und P.M.Heijl (1987), zitiert (a.a.O., 32).

75 Mit der Semantik verschwindet aber auch das Gedicht selbst. Das Poetische, die „Literarizität" kann für Barsch „ebensowenig wie die Bedeutung als eine interne Eigenschaft von Texten betrachtet werden" (a.a.O., 39). Die Konstruktion des „literarischen Sinnzusammenhangs" findet nur im Rezipienten statt und hat mit dem Gedicht nicht viel zu tun: Der Text an sich ist dabei soweit belanglos, bzw. wird nicht in Frage gestellt, wie diese Sinnstiâung gelingt. (a.a.O., 40)

Für das Gedicht sind nur die „literarischen Normen" (a.a.O., 46), die „literarischen Konventionen" (a.a.O., 49) von Bedeutung. Das Gedicht wird zum Vorwand für die Erfüllung der literarischen Konventionen. Der eigentliche Untersuchungsgegenstand der Metrik ist für Barsch deshalb auch nicht das Gedicht, nicht einmal der Vers (die „durchgeführten Versanalysen stellen ein Beiprodukt dar", a.a.O., 146). Nur das Metrum besitzt eine wissenschaftlich beschreibbare Realität. Die Aufgabe der Metrik besteht folgerichtigerweise in einer einfachen Zuordnungstätigkeit: Die Metrik ordnet - wie oben kurz angedeutet - sprachlichen Äußerungen auf eine bestimmte Weise das Prädikat »ist metrisch« zu. (a.a.O., 54).47

Im analytischen Teil seines Buches stellt Barsch dann seine „Kerngrammatik der deutschen Metrik" vor, wobei er im wesentlichen an die traditionellen generativen Metriken von Morris Halle und Samuel J. Keyser (1971), Paul Kiparsky (1975) und Bruce Hayes (1983) anknüpft. Für die „wohlgeformte abstrakte metrische Struktur" eines sechsfüßigen Jambus sieht Barsch im Rahmen seiner metrischen Kerngrammatik folgendes Modell vor:

47

Daneben spricht Barsch zwar noch von anderen Aufgaben der Metrik, etwa von der Beschreibung und Erklärung der „menschlichen kognitiven Fähigkeit, die man »metrische Kompetenz« nennen könnte" (a.a.O., 54) oder von Erklärungen „für die Entstehung unterschiedlicher Verssysteme." (a.a.O.), aber diese kommen in seiner Arbeit nicht vor.

76

(a.a.O., 150)

Barsch betont, daß diese Struktur unabhängig von jeglicher sprachlichen Realisierung gedacht werden muß und „bis jetzt noch kein Zusammenhang mit der Prosodie des Deutschen besteht" (a.a.O.). Die Abkopplung der Sprache von dem Metrum führt bei Barsch zu einer Verstärkung des metrischen Realismus, denn das Schema weist Charakteristika aus, die sprachlich überhaupt nicht realisiert werden. So stehen einige Buchstaben für Konstituenten, die außerhalb der Baumstruktur nicht nachzuweisen sind. Wenn S (für „Stichos", der dem Vers entspricht) und c (für „Chronos", der der Silbe entspricht) noch sprachlichen Einheiten zuzuordnen sind und Ρ (für „Pous" entsprechend dem Versfuß) zwar sprachlich nicht mehr existent ist, aber wenigstens auf ein Element der traditionellen Metrik zurückgeht, so haben M (für „Metron" ) und C (für „Colon") weder mit dem Metrum noch mit dem Kolon etwas zu tun und entsprechen auch sonst keinen Einheiten des Verses. Sie verdanken ihre Existenz einzig dem generativen Bedürfiiis nach binär sich verzweigenden Baumstrukturen. Ein anderes Resultat dieses binären Formalismus ist der alternierende Wechsel zwischen hervorgehobenen (unterstrichenen) und unmarkierten (nicht unterstrichenen) Konstituenten. Zwar erscheint diese Unterscheidung auf der Ebene der Silben für den Jambus noch durchaus plausibel, sie ist jedoch auf allen anderen Ebenen (M gegenüber Μ, Ρ gegenüber Ρ etc.) völlig willkürlich und nur eine formalistische Übererfüllung des Prinzips der Alternation, die keinerlei Beziehungen zu empirisch feststellbaren Einheiten der Sprache aufweist.48 48

Die Regel, mit der Barsch diese Unterscheidung rechtfertigt, lautet: „In einer Konfiguration KNi N 2 gilt: a. ist Κ ein Stichos, ein Colon oder ein Pous, dann ist N2 hervorgehobener als Ni, b. ist Κ ein Metron, dann ist Ni hervorgehobener als N2" (a.a.O., 150). Eine Herleitung der Regel findet sich bei Barsch nicht.

77

Die eigentliche metrische Analyse besteht dann darin, daß diese Baumstruktur mit einer der sprachlichen Realisierung entsprechenden verknüpft wird. Barsch bezeichnet diese Verknüpfung als „rhythmische Abbildung" (a.a.O., 151). Für den folgenden Vers aus Opitz' Morgenlied ergibt sich somit die nachstehende Struktur: S

Ρ

Ρ

Ρ

Ρ

Α Λ Λ Α

C

C

C

Φ

C

C

C

Φ

der

eitlen

s

Φ s s

C

c

Φ

Werke kalten Schein 0 Φ s

s

Φ s

s

s

(s)

I ν V V V

F

F

F

F

F

W

W

W

W

W

I (a.a.O., 156)49 Bei der im unteren Strukturbaum dargestellten „Repräsentation prosodischer Strukturen" stützt sich Barsch (mit leichten Abweichungen) auf Heinz J. Giegerich (1985), wobei Barsch die Symbole ,,»s«, »F«, »W«, »P«, »I« für die prosodischen Kategorien »Silbe«, »Fuß«, »Wort«, »Phrase« und »Intonationsgruppe«" verwendet (a.a.O., 152). Auf das Problem der Nullsilbe (0), die in der Darstellung erscheint, obwohl übrigens Barsch selbst an

49

Ich gebe das Baumschema so wieder, wie es bei Barsch aufgeführt ist, auch wenn es manche Unstimmigkeiten aufweist, wie etwa das Fehlen der Zuordnungspfeile bei Schein und das immarkierte »s« unter dem gleichen Wort.

78 ihrer sprachlichen Existenz Zweifel hegt,50 werde ich in Kapitel 3.2 näher eingehen. Barsch sieht nun den Vorteil seiner Formalisierung vor allem darin, daß „die rhythmische Abbildung generell für die Beziehung zwischen prosodischen und metrischen Strukturen gilt und nicht etwa nur für bestimmte Typen von Verszeilen" (a.a.O., 156). Von dieser Abstraktheit erhofft sich Barsch eine Vereinfachung der Analyse („Das macht diesen Ansatz weitaus einfacher als bisherige Vorgehensweisen", a.a.O.). Empirisch bestätigt sich diese Hoffnung aber nicht, denn tatsächlich untersucht Barsch in seiner umfangreichen Datenanalyse ausschließlich jambische und trochäische Versmaße. Nicht alternierende Versmaße dagegen (Hexameter, Volksliedvers, Knittelvers etc.) zeugen von einer schwächer ausgeprägten „metrischen Kompetenz" und werden deshalb von Barsch aus der generativen Metrik en bloc ausgeschlossen.51 Die Substitution der Sprache, des Gedichtes und des Rhythmus durch das Metrum führt zu der tautologischen Ausgangshypothese seiner empirischen Versanalyse: Mit den oben aufgestellten metrischen und rhythmischen Regeln verbindet sich nun eine bestimmte Hypothese. Es ist nämlich anzunehmen, daß rhythmische Gebilde, die aus dem Abbildungsprozess als unmetrisch [...] hervorgehen, in der Dichtungspraxis allgemein vermieden werden und in dem zu untersuchenden Datenmaterial nur selten auftreten. (a.a.O., 159)

Mit anderen Worten: nicht-jambische Verse sind in jambischen Gedichten eher selten anzutreffen. Als Korpus der Untersuchung dient die große LyrikAnthologie von Karl Otto Conrady (1978), jedes metrische Muster (dreifüßiger, vierfüßiger, fünffüßiger Jambus etc.) ist mindestens 1300 belegt. Die Ergebnisse der Analyse faßt Barsch jeweils in Tabellenform zusammen. So sieht beispielsweise die Tabelle für die zweisilbigen lexikalischen Komposita (z.B. Baumstamm, Weltkreis, Dichtkunst etc.) so aus:

„[...] die Einführung der Nullsilbe scheint mir nun aus verschiedenen Gründen auf Schwierigkeiten zu stoßen bzw. die Theorie unnötig zu belasten." (a.a.O., 94). „Bei der Auswertung wurden nur Gedichte berücksichtigt, die einen regelmäßigen Aufbau zeigten, d.h. zum Beispiel Strophen mit regelmäßig abwechselnden dreifüßigen und vierfüßigen Jamben. Gedichte, die eine solche Ordnung nicht aufwiesen, wie etwa unregelmäßige Aneinanderreihungen jambischer und trochäischer Verstypen, wurden von der Datenanalyse ausgeschlossen. Der Grund für diese Beschränkung liegt darin, daß ich davon ausgehe, daß sich die metrische Kompetenz von Dichtem in dieser Art von Texten am deutlichsten manifestiert und die genannte Anordnung von Verstypen nicht bloß auf einem Zufall beruht." (a.a.O., 159). Alle Gedichte, die von der jambischen Ordnung abweichen, werden in den Bereich des bloß Zufalligen verwiesen.

79 Häufigkeit

unmetrisch

Proport.

dreif. Jam.

80

11

13,75

vierf. Jam.

232

21

9,05

2,26

fiinff. Jam.

309

20

6,47

11,11

sechsf. Jam.

V.-Wert

86

17

19,77

8,21

vierf. Tro.

163

4

2,45

0,72

fünff. Tro.

78

1

1,28

Tabelle 5

zweisilbige lex. Komposita (a.a.O., 176)

Die erste Spalte gibt die Häufigkeit der zweisilbigen lexikalischen Komposita in dem entsprechenden Verstyp wieder, die zweite die unmetrischen Verwendungen, die dritte die Proportion zwischen beiden und die vierte einen Vergleichswert aus einer Arbeit über das niederländische Verssystem. Es fragt sich, welchen Aussagegehalt ein solcher Vergleichswert, die ermittelte Proportionalität und die Zahl der metrischen, bzw. unmetrischen Verse haben. Ihr Erkenntniswert erschöpft sich augenscheinlich in der Bestätigung der von Barsch formulierten Arbeitshypothese: jambische Verse haben ein jambisches Metrum. Nirgendwo zeigt sich wohl so deutlich wie bei Achim Barsch, daß der Rhythmus eine Aporie der Metrik darstellt. In seiner „Kerngrammatik der deutschen Metrik" spiegelt sich im Vers nur noch die metrische Baumstruktur. Alles, was im Vers daneben noch eine Rolle spielt, der Rhythmus, der Sinn, das Textsystem (von dem der Vers ja nur ein willkürlich abgetrenntes Segment ist), wird als möglicher Störfaktor aus den metrischen Mechanismen ausgeklammert. Wo der Rhythmus und der Sinn ausgeschlossen bleiben, ist auch kein Platz für das Subjekt. Das Ich wird außerhalb von Sprache, Körper und Welt gestellt, denn Barsch trennt explizit zwischen der „Dingwelt (Weltschema)", zu der der Text gehört, der „Körperwelt (Körperschema)" und „einem letzten Bereich (Ich), in dem unsere Gefühle, Vorstellungen, Gedanken etc. existieren" (a.a.O., 31). Wie die Bedeutung, so ist auch das Subjekt eine solipsistische Illusion.52 Deswegen spricht Barsch auch lieber von „lebenden Systemen" als von Subjekten (a.a.O., 31, 35). Das 52

„Demgemäß lassen sich der TEXT als physikalische Größe und die mit ihm verknüpfte Kommunikatbasis [= Einzelsprache] der Dingwelt bzw. der erfahrenen Umwelt zuordnen. Das Kommunikat [= Bedeutung] dagegen wird im Bereich des Ich [...] kognitiv konstruiert." (a.a.O., 31).

80 Verschwinden des Sinns, des Rhythmus und des Subjekts stehen in einer untrennbaren Korrelation. Damit tritt bei Barsch besonders deutlich zutage, was für alle der hier behandelten metrischen Rhythmustheorien kennzeichnend war: die Unmöglichkeit, vom Metrum aus eine Rhythmus-Konzeption zu entwickeln, die den Rhythmus nicht vom Sinn und damit letztlich auch von der Sprache trennt. Die Trennung von Rhythmus und Sprache, Rhythmus und Sinn, Rhythmus und Subjekt ist eine Konstante der metrischen Rhythmuskonzeptionen. Sie findet sich ebenso in der Vortragsmetrik von Saran wie in Heuslers Taktmetrik oder in Kaysers Konzeption des Rhythmus als Individualisierung des Metrums. Küper versucht die Kluft zwischen Rhythmus und Sinn zu kompensieren, indem er das Metrum ins Zentrum seiner Ästhetik stellt und den Rhythmus nur als Störfaktor in der metrischen Monotonie zuläßt, und Barsch schließlich verzichtet ganz auf den Rhythmus und konzentriert sich allein auf das metrisch Beschreibbare: die Regelhaftigkeit des Metrums. Der metrische Rhythmusbegriff fuhrt zum Metrum, nicht zur Sprache. Deswegen ist es nicht gleichgültig, daß ein Großteil der neueren linguistischen Rhythmusmodelle von einer metrischen Strukturierung der Sprache ausgehen. Welche Konsequenzen der metrische Rhythmusbegriff für die linguistischen Sprachrhythmusmodelle hat, soll nun untersucht werden.

3 Die Suche nach dem Metrum in der Sprache

Die gegenwärtige Rhythmusdiskussion in der Linguistik wird unübersehbar von metrischen Modellen beherrscht. Fast alle Rhythmustheorien beteiligen sich an der Suche nach einem Metrum in der Sprache. Das liegt nur zum geringsten Teil an einer fehlenden Kritik des platonisierten Rhythmusb egriffs mit seiner Angleichung von Rhythmus und Metrum. Es liegt zuallererst an der Faszination, die das Metrum auf einen Großteil der modernen Linguistik ausübt. Denn die Suche nach dem Metrum in der Sprache ist eine Suche nach einem missing link zwischen Sprache und Natur. Das Metrum wäre ein ideales Bindeglied zwischen dem Bereich des Sprachlichen und dem Bereich des Biologischen. Wenn die Sprache ein Metrum besäße, so ließe sich der Rhythmus in der Sprache direkt aus biologischen Rhythmen (Atem-, Herz-, Schlaf-, Laufrhythmen) ableiten, wie dies etwa Eric H. Lenneberg in Die biologischen Grundlagen der Sprache versucht: Die Fähigkeit, Konzepte zu benennen, mag mit perzeptuellen und modifizierten neurophysiologischen Prozessen zusammenhängen. Gewisse angeborene neurophysiologische rhythmische Aktivitäten könnten umgeformt sein, um in einer sehr spezialisierten Weise der Sprache zu dienen.1

Dieses als Bindeglied fungierende Metrum aufzufinden, ist eines der Hauptziele der generativen Metrik. Paul Kiparsky hat in diesem Zusammenhang die Begründung einer „universellen Metrik" gefordert und hinzugefügt: Nur wenn die Grundlagen für eine allgemeine Theorie des Metrums gelegt sind, werden wir fähig sein, uns emsthaft mit solchen Fragen auseinanderzusetzen, wie der nach der Beziehung zwischen dem poetischen Metrum und dem Rhythmus in

1

(Lenneberg 1972: 337). An Lenneberg knüpft etwa Stanislaw Puppel an, wenn er schreibt: „In his extremely significant contribution, Lenneberg (1967) [Biological Foundations of Language, deutsch 1972] states that rhythm belongs in the most general category of central regulatory mechanisms of motor coordination. [...]. The rhythm which underlies speech is certainly a manifestation of biological rhythm outlined above and constitutes both an organizing principle and a timing device for articulation." (Puppel 1986: 103).

82 Musik und anderen Künsten und dem Rhythmus in biologischen Organismen im Allgemeinen.2

Hinter einer solchen Gleichsetzung von biologischen und anthropologischen Rhythmen steht der schon 1949 von Jost Trier kritisierte Wunsch nach einer „naturphilosophischen Vereinigung".3 Die Gefahr einer solchen Gleichsetzung liegt in dem Verlust der anthropologischen Dimension des Rhythmus und der Sprache, also dem Verlust dessen, was über das rein Biologische hinausgeht: nämlich der Geschichtlichkeit, jener „anfangs- und endlosen Unendlichkeit" der Sprache, von der Humboldt gesprochen hat und die die Sprache in jedem Subjekt immer wieder neu beginnen läßt.4 Im Metrum dagegen kann es keine Jedesmaligkeit eines konkreten Subjekts geben, sondern nur die Identität eines zeitneutralen Schemas mit sich selbst. Wenn die Sprache aber dem Bereich des Geschichtlichen angehört und der Rhythmus zur Sprache selbst gehört, also an der geschichtlichen Jedesmaligkeit teil hat, dann ist das Metrum ein unzureichendes Modell für den Rhythmus in der Sprache. Die Probleme, die das Metrum als Modell für den Rhythmus in der Sprache aufwirft, sollen anhand von zwei Paradigmen diskutiert werden, der Alternanz- und der Isochronie-Hypothese, deren Gemeinsamkeit in ihrer Reduzierung des Rhythmus auf ein metrisches Muster liegt. Zunächst werden einige Charakteristika der in der generativen Metrik entwickelten AlternanzHypothese dargelegt (3.1) und danach die Probleme analysiert, die bei der Übertragung der Alternanz-Hypothese auf das Deutsche entstehen (3.2). Im darauf folgenden Abschnitt (3.3) geht es um die klassische Form der Isochronie-Hypothese, wie sie David Abercrombie aufgestellt hat, und zum Schluß (3.4) wird anhand der Rhythmustheorie von Peter Auer und Elizabeth

3

4

„Only when the foundations have been laid for a general theory of meter will we be able to begin raising seriously such questions as the relationship of poetic meter to rhythm in music and other arts, and to rhythm in biological organisms in general." (Kiparsky 1975: 612). In Hinblick auf die anthropologische Spezifik des Rhythmus sah Trier eine Gefahr in der Vermischung der verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Rhythmus": „Zum Rhythmus gehört, daß er intendiert ist und erlebt wird [...]. Es ist daher ein erweiterter und nicht ungefährlicher Sprachgebrauch, wenn vom Rhythmus des Herzschlags (wie schon Aristoteles) oder vom Rhythmus des Atems gesprochen wird." (Trier 1949: 137). „Die Sprache hat diese anfangs- und endlose Unendlichkeit für uns, denen nur eine kurze Vergangenheit Licht zuwirft, mit dem ganzen Dasein des Menschengeschlechts gemein." (Humboldt 1835: 56).

83 Couper-Kuhlen die sogenannte abgeschwächte Isochronie-Hypothese untersucht. Es werden also nicht alle Rhythmustheorien der gegenwärtigen Linguistik behandelt, sondern es geht lediglich darum, bestimmte Charakteristika des metrischen Rhythmusbegriffs an ausgewählten Beispielen herauszuarbeiten. Im Vordergrund werden dabei die Fragen nach der Vereinbarkeit zwischen metrischen und sprachlichen Phänomenen, nach dem transzendenten Status des Metrums und nach der Beziehung zwischen Metrum und Semantik stehen. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, Unstimmigkeiten in dieser oder jener Theorie nachzuweisen, vielmehr zielt dieses Kapitel darauf ab, zu zeigen, daß das Metrum ein unzureichendes Modell für den Rhythmus in der Sprache abgibt, weil es den Zugang zum Rhythmus verstellt und zu formalen Schemata führt, die ohne Bezug zur semantischen Organisation der konkreten Rede bleiben. Deshalb braucht die Sprachtheorie einen Rhythmusbegriff, der den Rhythmus von der semantischen Organisation der Rede her begreift. Ein so verstandener Rhythmus wäre untrennbar von der Jedesmaligkeit des Sinns und könnte auf kein Schema reduziert werden. Im letzten Teil der Arbeit wird versucht werden, diese semantische Wirksamkeit des Rhythmus als Organisationsprinzip der Rede an drei Texten empirisch zu untersuchen.

3.1 Das rhythmische Ideal der Akzentalternanz Bevor die Probleme, die die Alternanz-Hypothese für das Deutsche aufwirft, analysiert werden, ist es notwendig, einen Blick auf die Theorien von Liberman/Prince (1977), Hayes (1984) und Selkirk (1984) zu werfen, die die bis heute einflußreichsten Alternanz-Modelle entwickelt haben. Noam Chomsky und Morris Halle hatten bereits in The Sound Pattern of English (1968) angenommen, daß die Akzentalternanz, also der alternierende Wechsel von betonten und unbetonten Silben, den Regelfall der Akzentuierung des Englischen darstellt und daraus die „Alternating Stress Rule" abgeleitet.5 Die „Rule (39) [Alternating Stress Rule] produces alternations of stressed and unstressed vowels. It is thus one of the factors contributing to the frequently observed predominance of jambic rhythms in English." (Chomsky/Halle 1968: 78). Es gibt aber noch frühere Belege für die Altemanz-Hypothese in der englischsprachigen Linguistik, z.B. bei Henry Sweet (1875), Otto Jespersen (1933) oder A.C. Gimson (1962). Nach Couper-Kuhlen herrscht bezüglich der Altemanz-Hypothese in der Linguistik seit jeher ein allgemeiner Konsens: „There is a general consensus

84 eigentliche Diskussion um das Phänomen der Akzentalternanz begann aber erst mit einem Aufsatz von Marc Liberman und Alan Prince {On Stress and Linguistic Rhythm, 1977), wo die Autoren eine „rhythmische Regel" („rhythm rule") aufstellten, die die postulierte Akzentalternanz auch bei Gegenakzenten, d.h. bei der unmittelbaren Aufeinanderfolge von zwei Wortakzenten, garantiert (Liberman/Prince 1977: 316). Dann nämlich wird laut Liberman und Prince einer der beiden Akzente so verschoben, daß eine alternierende Abfolge entsteht. So verschiebt sich die Betonung von „thirteen" auf „tHirteen", wenn „thirteen" mit „men" verbunden wird:

a. input scansion:

b. output scansion: 6

4

1 2 thirteen

5

3 men

4

5

1 2 thirteen

3 men

(Liberman/Prince 1977: 316)6

Auch wenn Liberman und Prince glaubten, mit dieser ,jambischen Umkehrung" („Iambic Reversal") einer allgemeinen rhythmischen Gesetzmäßigkeit zur Schaffung alternierender Akzentmuster auf der Spin· zu sein, betonten sie in ihrem Aufsatz immer wieder, daß es sich lediglich um eine fakultative Regel handle („Je nach Umständen erscheint die Rhythmus-Regel mehr oder minder fakultativ", a.a.O., 320; „Es bleibt zu bedenken, daß die jambische Umkehrung eine fakultative Regel ist [...] in allen diesen Fällen bleiben

6

among traditional phoneticians and modern-day prosodists that prosodie wellformedness in English requires alternation between strong (stressed) and weak (unstressed) syllables." (Couper-Kuhlen 1993: 39). „R" steht fur „Root", „w" für „weak" (unbetont) und „s" für „strong" (betont). Die Stärke des Akzents wird nicht durch die Höhe der Zahlen, sondern der ZahlenAolonne angegeben, d.h. der stärkste Akzent wird durch drei übereinanderstehende Zahlen bezeichnet. Die kursiven Ziffern bezeichnen die Ebene der Akzentverschiebung.

85 beide Betonungen möglich.", a.a.O.; „wir sind gezwungen zu sagen, daß die jambische Umkehrung immer freigestellt bleibt.", a.a.O., 321).7 Der Ausdruck „fakultative Regel" ist aber nicht ganz unproblematisch, insofern Fakultativität und Regelhaftigkeit einander ausschließen. Nur wenn es auch notwendige Bedingungen ihrer Anwendung gibt, kann man von einer echten Regel sprechen. Von solchen Bedingungen ist bei Liberman und Prince aber nicht die Rede, genausowenig wie von der Funktion der Rhythmus-Regel, über die die Autoren kaum etwas sagen: Der einzige Zweck des alternierenden Rhythmus ist laut Liberman und Prince nämlich „die Maximierung metrischen Alternierens und die Angleichung oder Maximierung der Betonungsintervalle",8 was das gleiche ist. Die Akzentalternanz bleibt damit ein rein formales Phänomen ohne jeden Bezug zum Sinn, zur konkreten Rede oder zum sprechenden Subjekt. Die Zurückhaltung, mit der noch Liberman und Prince unterstrichen, daß es sich bei ihrer Rhythmus-Regel lediglich um eine mögliche Betonungsvariante handle, fehlt in den jüngeren Alternanz-Theorien. So gelangt Bruce Hayes, der die von Liberman und Prince aufgestellte Rhythmus-Regel durch seine „Eurhythmie-Regeln" („rules of eurhythmy", Hayes 1984: 45) weiter1 spezifiziert, zu folgendem Akzentverschiebungsphänomen:

X X

X X X X X

X X X X X

Mississippi Mabel s w s w s w

V V s w \

/

w

V s

X X

χ X X

X X X X X

X X

Mississippi Mabel s w s w s w

V Vw V s \

s /

/

w

/κ (Hayes 1984: 45)

7

8

„Depending on circumstances, the Rhythm Rule appears to be more or less optional", a.a.O., 320; „Recall that Jambic Reversal is an optional rule [...] in all such cases both pronunciations remain possible.", (a.a.O.); „we are forced to say that Iambic Reversal is always an option." (a.a.O., 321). „maximization of metrical alternation, equalization or maximization of interstress", (a.a.O., 321).

86 Die Akzentverschiebung dient hier nicht der Vermeidung von Gegenakzenten, sondern der Schaffung eines 4/4 Taktes, der nach Hayes das rhythmische Ideal des Englischen darstellt. Hayes geht sogar soweit, dieses Metrum als „Norm" zu bezeichnen (Hayes 1984: 51). Aber er räumt gleichzeitig ein, daß diese Norm empirisch eher die Ausnahme darstellt („Dennoch weichen die meisten englischen Texte aus mehreren Gründen deutlich von dieser Norm ab").9 Um diesen Widerspruch erklären zu können, gibt er zu bedenken, daß die Akzentuierung auch anderen Zwecken als der Realisierung der Eurhythmie dienen kann, nämlich der semantischen Hervorhebung, Kontrastierung und Segmentierung der Äußerung. Das bedeutet aber auch, daß Hayes' Eurhythmie nur verwirklicht werden kann, wenn die semantische Funktion der Akzentuierung in den Hintergrund tritt.10 Damit wäre die Eurhythmie also ein rein formales Prinzip, das sich nur auf Kosten der semantischen Organisation der Sprache realisieren läßt. Dieser Antagonismus zwischen eurhythmischer und semantischer Akzentorganisation läßt daran zweifeln, ob das von Hayes postulierte rhythmische Ideal tatsächlich sprachlicher Natur ist, oder ob es sich nicht vielmehr um ein abstraktes Taktprinzip handelt, an das die Sprache angepaßt werden soll.11 Bei Elisabeth Selkirk (1984) wird dann aus der Akzentaltemanz, die für Liberman/Prince fakultativer Natur war und bei Hayes den Status einer „Ausnahmenorm" erhielt, ein universelles Ideal:

10

11

„However, most English texts diverge considerably from the norm, for several reasons." (Hayes 1984: 51). „Thus, the effects of the eurhythmy rules become clear only when other factors are controlled for." (a.a.O.). Auch zehn Jahre nach seiner Formulierung der Eurhythmie-Regeln hat Hayes diesen Antagonismus zwischen rhythmischer und semantischer Ebene nicht auflösen können: „Functionally, there is good reason for stresses not to be produced with perfect rhythm. Stress serves multiple purposes: it creates phonemic contrasts, marks morphological and syntactic structure, signals the distribution of focus, and so on [...]. Thus many factors compete with rhythm in determining the location and timing of stress, and the outcome can be thought of as a compromise between differing goals." (Hayes 1994: 31). Der Grund für dieses Dilemma ist die Reduzierung des Rhythmus auf das Metrum („The most basic feature of rhythm is repetition of beats at roughly equal intervals", Hayes 1984: 44), also auf ein formales Organisationsprinzip.

87 Es gibt begründetermaßen ein universelles rhythmisches Ideal, eines, das den strikten alternierenden Wechsel starker und schwacher Schläge begünstigt.12

Die Verabsolutierung der Akzentalternanz korreliert zugleich mit einer doppelten Platonisierung des Rhythmus, nämlich durch die Gleichsetzung von Rhythmus und Metrum („Rhythmus [...] gründet sich auf die Wiederkehr von Impulsen")13 und durch den transzendenten Status des Rhythmus bei Selkirk, da sie den Rhythmus explizit als ein „platonisches Ideal" bezeichnet, („das PRA [= Prinzip des rhythmischen Alternierens] ist etwas wie ein platonisches Ideal, das von der auf Silben, Lauten und syntaktischen Strukturen beruhenden rhythmischen Struktur angestrebt wird." a.a.O., 55).14 Der transzendente Status des Rhythmus spiegelt sich auch in dem Regelapparat wieder, den Selkirk aufstellt. Neben den Regeln für die Akzentverschiebimg („Beat Movement"), die Akzenthinzufügung („Beat Addition") und die Akzenttilgung („Beat Deletion"), die der Erzeugung des rhythmischen Alternanzideals dienen (a.a.O., 55), nimmt Selkirk auch stumme Schläge („Silent Beats") an.15 Im ersten Beispiel soll mit Hilfe der stummen (durch Unterstreichung gekennzeichneten) Schläge die fehlende Akzentalternanz kompensiert, im zweiten sollen Gegenakzente vermieden werden: χ X

χ a)

XX

traveling

X

χ X

XXX

χ

χ b)

12

13 14

15

X

χ

(Selkirk 1984: 306)

χ χ χ

χ X

χ

tomorrow

(χ)

χ

Χ Χ XX χ really good play

(Selkirk 1984: 320)

„There is arguably a universal rhythmic ideal, one that favours a strict alternation of strong and weak beats." (Selkirk 1984: 37). "Rhythm [...] is founded upon a recurrence of pulses", (Selkirk 1984: 36). „[...] the PRA is a sort of Platonic ideal to which the rhythmic structure, grounded in syllables, tones and syntactic structures aspires." (Selkirk 1984: 55). In ihren neueren Arbeiten schränkt Selkirk die Gültigkeit des Alternanz-Prinzips wieder etwas ein (Selkirk 1995: 566). Selkirk kann dabei auf den Begriff des silent stress bei Liberman (1975) und Abercrombie (1968) zurückgreifen (Selkirk 1984: 298).

88 Phonetisches Korrelat dieser stummen Schläge sind nach Selkirk Pausen oder Längungen der vorangehenden Silbe. Aber selbst wenn diese Pausen und Längungen tatsächlich phonetisch nachzuweisen wären, könnte die durch die stummen Schläge erzeugte Akzentalternanz nur aus der Notation des metrischen Gitters erschlossen werden; sie selbst bliebe unhörbar. Die Notation realisiert in den Modellen der generativen Metrik eine Skansion, die die Sprache den Erfordernissen des postulierten Metrums anpaßt. Diese Skansion garantiert die Erzeugung metrischer Muster auch gegen die Akzentregeln der jeweiligen Sprache. Das Problem der fakultativen Regel bei Liberman/Prince, die Postulierung des Rhythmus als „Ausnahmenorm" bei Hayes, der transzendente Status des Rhythmus bei Selkirk und die semantische Afunktionalitität des Rhythmus in allen drei Theorien resultieren aus dem metrischen Rhythmusbegriff, der der Alternanz-Hypothese zugrundeliegt. Das Metrum ist die Stärke und die Schwäche der generativen Rhythmustheorie; die Stärke, wenn es um die Postulierung eines abstrakten universellen Rhythmusideals geht und die Schwäche, wenn es um die semantische Funktionsweise des Rhythmus in der konkreten Rede geht. Bislang hat diese Schwäche der Alternanz-Hypothese wenig geschadet; denn sie hat sich auch in der deutschen Sprachwissenschaft längst einen festen Platz gesichert.

3.2 Die Akzentalternanz im Deutschen Geht man vom Wortakzent aus, so sind alternierende Akzentfolgen im Deutschen aufgrund der Stammbetonung nichts Ungewöhnliches: (1)

Die Autoschlange zieht sich über viele Kilometer hin.16

(2)

Es war einmal ein kleines Mädchen

Die Akzentalternanz resultiert hier aus der Reihung von Zweisilbern als Einzelworte („über viele", „kleines Mädchen") oder als Kompositaglieder („Autoschlange") und dem Wechsel zwischen betonten und unbetonten 16

Ich unterscheide nur zwischen betonten (x), betonbaren (x) und unbetonten Silben (x), da es mir nicht um die Wiedergabe einer bestimmten lautsprachlichen Realisierung, sondern lediglich um die Notation der Wortakzentstellen geht.

89 Einsilbern („zieht sich", „Es war"). Jedes dieser Phänomene ist im Deutschen relativ häufig. Das zweite Beispiel scheint sogar die Rhythmus-Regel von Liberman und Prince zu bestätigen, denn in (2) wird die Akzentalternanz nur durch die Akzentverschiebung auf dem Wort „einmal" ermöglicht. Tatsächlich ist diese Akzentverschiebung aber nicht sprachstrukturell, sondern poetisch begründet. Sie ist Teil der traditionellen Skansion der Grimmschen Eingangsformel „Es war einmal" (siehe die Rhythmus-Analyse von Die Sterntaler, Kapitel 5) und steht in Zusammenhang mit Wilhelms Grimms Konzeption der Volkspoesie. Solche Akzentverschiebungen sind am häufigsten in metrischen Dichtungen zu finden, wo sie zur sogenannten schwebenden Betonung fuhren (also zu betonten Silben in metrisch unbetonter Position oder unbetonten Silben in metrisch betonter Position), wie in dem folgenden jambischen Fünflieber von Goethe („Der Spaziergang", Vers 141): V

(5)

~

w



V —



w J7

zwecklose Kraft unbänd(i)ger Elemente

Daß die Akzentverschiebung auch außerhalb der metrischen Dichtung der Erzeugung alternierender Akzentfolgen dient, ist dagegen eher die Ausnahme, denn die Akzentalternanz stellt im Deutschen nur eine unter vielen möglichen Akzentanordnungen dar. Häufiger finden sich Akzentreihen mit mehreren aufeinanderfolgenden imbetonten Silben (7), Blöcke mit Gegenakzenten (8) und gänzlich unregelmäßige Akzentfolgen (9): (7)

So jedenfalls war es in den Geschichtsbüchern zu lesen.

(8)

der einst blühenden Stadt

(9)

Neueren Forschungen zufolge war es jedoch ein Erdbeben18

Die hier vorgenommene Akzentnotation geht vom Wortakzent und nicht vom intonationsabhänigen Satzakzent aus, aber es ließe sich dennoch schwerlich eine Satzakzentuierung finden, die die Beispiele (7), (8) und (9) in ein alternierendes Akzentmuster brächte. Um so bemerkenswerter ist es, daß die Akzentalternanz-Hypothese in der deutschen Sprachwissenschaft so weite Verbreitung gefunden hat und daß sie gerade in neueren Einfuhrungen in die Phonetik immer wieder zur rhythmischen Norm erklärt wird. So etwa von Pompino-Marschall:

17

18

Die betonten Silben in metrisch unbetonter Position bezeichne ich mit (x), die unbetonten Silben in betonter Position mit ( χ ). Alle Beispiele sind der Badischen Zeitung vom 13.8.1996 entnommen.

90 Den unmarkierten Fall des sprachlichen Rhythmus stellt die Alternation von betonten und unbetonten Silben im Metrum des Trochäus dar. (Pompino-Marschall 1995: 237)

und von Hakkarainen : Die Euphonieregeln des metrischen Gittermodells formalisieren den empirisch verifizierbaren Befund, daß die Satzakzente einander im Deutschen in gleichmäßigen Abständen folgen und auf diese Art und Weise der deutschen Sprache den ihr eigenen Rhythmus geben. (Hakkarainen 1995:140).19

Diese Auffassung hat sich nach und nach durchgesetzt. Den Anfang machte in der modernen Sprachwissenschaft Paul Kiparsky, als er 1966 anknüpfend an Chomsky und Halle Regeln für den „rhythmischen Nebenakzent" im Deutschen postulierte, die die Schaffung alternierender Betonungsmuster begünstigen sollten. Die Beispiele, die Kiparsky für den „rhythmischen Nebenakzent" gibt, spiegeln aber eher eine metrische Skansion als eine allgemeine Aussprachenorm. So nimmt Kiparsky eine Akzentverschiebung an, die das Zusammentreffen von zwei betonten Silben vermeiden soll, wenn ein 1 Z 3 Präfix vor ein Adjektiv mit Anfangsbetonung tritt. Das heißt, statt unsichtbar (die niedrigste Ziffer bezeichnet jeweils den stärksten Akzentuierungsgrad) muß die „Normalbetonung" nach Kiparsky unsichtbar lauten (Kiparsky 1966: 94). Dieselbe Gesetzmäßigkeit postuliert er für substantivische Komposita; er akzentuiert also Vorurteil und Handarbeit, so daß die an sich unbetonten Endsilben wie -bar, -teil, -beit, bei Kiparsky einen Nebenakzent erhalten. Die Regel wendet Kiparsky auch auf Wortgruppen an. Aus anziehen wird in Verbindung mit Rock deshalb Rock anziehen.20 Dieses Beispiel macht deutlich, daß Kiparsky über den Nebenakzent hinausgeht und sein Rhythmus-Gesetz auch auf die Verschiebung der Hauptakzente anwendet. Kiparskys Rhythmus-Gesetz ist von Wolfgang Ullrich Wurzel in seine Wortakzenttheorie aufgenommen worden (Wurzel 1980).21 Wurzel geht von sechs

19

20

21

Auch für Silvia C. Löhken „ist das Deutsche eine akzentzählende Sprache, d.h. die Abstände zwischen betonten Silben sind relativ gleichmäßig." (Löhken 1997: 168). Siehe auch Kohler (1995: 116f.). Diese Skansion wird in der generativen Metrik allgemein akzeptiert, z.B. bei Jacobs (1988: 16). Auch Wilbur Α. Benware greift sie in leicht modifizierter Form wieder auf: „Ableitungen mit der Struktur un + Präfix + Lexem + Suffix weisen aus syntaktischen und aus rhythmischen Gründen Alternation auf, z.B.: unabweisbar, unan-

tastbar, unbeschreibbar, unentwegt." (Benware 1988: 275).

91 Akzentprinzipien aus: einem „segmental-phonologischen" (zur phonologil

o

o

1

•>·>

sehen Unterscheidung von Wörtern wie Party und Partie ), einem „morphologischen" (in Abhängigkeit von der morphologischen Klasse, z.B. erteilen gegenüber Ürteil), einem „syntaktischen" (das dem ersten Glied bei Komposita den Hauptakzent zuweist), einem „semantischen" (zur Signalisierung der Zugehörigkeit zu einer semantischen Klasse, z.B., steinreich (= sehr reich) gegenüber fischreich (= reich an Fischen), einem „kommunikativen" (für die kontrastive Akzentuierung, wie in „Germanistik nicht Romanistik") und einem „rhythmischen" (das er von Kiparsky übernimmt) (Wurzel 1980: 313f.). Im Gegensatz zu Kiparsky versucht Wurzel, das „rhythmische Akzentprinzip" auch funktional zu begründen: Der [rhythmische] Akzent signalisiert keine grammatischen oder kommunikativen Verhältnisse. Seine Funktion ist die Erzeugung von artikulatorisch und/oder perzeptiv einfachen Akzentmustern. (Wurzel 1980: 314)

Der Verweis auf artikulatorisch und perzeptiv einfache Akzentmuster scheint zwar zunächst plausibel, impliziert jedoch einen paradoxen Gegensatz zwischen Perzeption und Kommunikation, und damit auch zwischen Rhythmus und Semantik; denn die Akzentalternanz kann ja, wie sich bei Kiparskys rhythmischem Nebenakzent gezeigt hat, häufig nur auf Kosten der dem deutschen Sprachsystem eigenen Wortakzentuierung realisiert werden.23 Wurzel selbst hat dieses Problem durchaus gesehen: Diese Beispiele [...] zeigen recht deutlich, daß es Konstellationen gibt, wo sich eines der Akzentprinzipien jeweils nur auf Kosten eines anderen in einem bestimmten Bereich durchsetzen kann. Artikulatorisch-perzeptive Erleichterungen im Sinne eines einfach zu realisierenden Sprechrhythmus müssen mit der Aufgabe der Signalisierung der syntaktischen Struktur des Wortes bezahlt werden, was zu deren Verdunklung und Uminterpretation führen kann. (a.a.O., 316)

Obwohl Wurzel diesen Widerspruch nicht auflösen kann („hier ist damit die Widersprüchlichkeit quasi programmiert." a.a.O., 316), stellt er die Hypothese der vermeintlich „einfachen" Perzeptionsmuster dennoch nicht in Frage, sowenig wie die Existenz des „rhythmischen Akzentprinzips" überhaupt.

22 23

Die Null über den Ziffern bezeichnet bei Wurzel eine unbetonte Silbe. Der gleiche Widerspruch taucht auch schon bei Sievers auf, der ebenfalls von metrischen Mustern in der Sprache ausgeht. Er spricht von einem „Antagonismus" zwischen „der speciellen sprachlichen Füllung einerseits, die von Inhalt und Wortwahl abhängt, und allgemeinen rhythmischen Neigungen anderseits." (Sievers 1893: 214).

92 Die bei Wurzel deutlich gewordene Unvereinbarkeit zwischen der Akzentalternanz und der semantischen Funktion der Akzentuierung hat bislang zu keiner grundlegenden Kritik der Alternanz-Hypothese geführt. Trotzdem ist auch bei den Vertretern der Alternanz-Hypothese hin und wieder eine gewisse Skepsis zu spüren. So schreibt Caroline Féry in ihrem Aufsatz „Rhythmus und tonale Struktur der Intonationsphrase" (1988): Es wird manchmal behauptet, daß die ideale rhythmische Struktur der Sprache eine ständige Alternanz von schwachen und starken Silben ist; oder auch, daß in einer akzentmetrisierenden Sprache wie dem Deutschen die Füße isochron sein sollen. Dieser allzu mechanische Rhythmus ist aber in der gesprochenen Sprache praktisch gar nicht zu finden (außer in Kinderreimen). (Féry 1988: 48)

Féry gibt die Alternanz-Hypothese dennoch nicht auf, sondern modifiziert sie nur dahingehend, daß sie neben bisyllabischen auch trisyllabische Füße annimmt. Ihr geht es vor allem darum, die Gültigkeit von Hayes' Euryhthmie-Prinzipien, zur „Vermeidung von rhythmischen Lücken" und damit „kein Akzentzusammenstoß vorkommt" (a.a.O.), auch für das Deutsche nachzuweisen. Die Vermeidung von „Akzentzusammenstößen" ist für Féry allerdings wichtiger als die Erzeugung alternierender Muster. Sie nimmt daher an, daß die Nebenakzente möglichst weit von den Hauptakzenten wegwandern, z.B. in: die schonen jungen Manner (a.a.O., 49)

Falsch wäre laut Féry dagegen: 2 1

die schönen jungen Manner (a.a.O.)

Aber Féry stellt die von ihr selbst postulierten Eurythmiegesetze in Frage, wenn sie Kiparskys Skansion von den Rock anziehen kritisiert und statt dessen eine Akzentuierung vorschlägt, in der gleich zweimal der von ihr als unkorrekt bezeichnete „Akzentzusammenstoß" auftritt: Rock anziehen (a.a.O., 50)

Richard Wiese (1996: 306) versucht das Problem zu lösen, indem er davon ausgeht, daß die Akzentverschiebung in Fällen wie „den Rock anziehen" fakultativ ist. Aber diese Abschwächung von Kiparskys Regelapparat stellt keinen Fortschritt dar, denn sie führt wieder zum Paradox der fakultativen Regel, und da Wiese den Sprachrhythmus auf die Akzentalternanz reduziert („alternation is the essence of rhythm", a.a.O), erhält der Rhythmus selbst einen fakultativen Charakter. In Texten wären dann nur diejenigen Passagen als rhythmisch anzusehen, in denen Akzentalternanz vorliegt. Tatsächlich

93 zeigt aber die Rhythmusanalyse etwa des Sterntaler-Märchens, daß der Rhythmus des Textes sich nicht in den alternierenden, sondern ebenso in den nicht-alternierenden Akzentfolgen und - wenn man seine semantische Funktionsweise berücksichtigt - auch in der syntaktischen, lexikalischen und phonomatischen Gliederung wirksam ist und die spezifische Bedeutungsweise des Textes hervorbringt. Die Probleme, die die Akzentuierung des Syntagmas „den Rock anziehen" für die Alternanz-Hypothese aufwirft, weist auf eine grundsätzliche Schwierigkeit hin. Denn trotz Postulierung der „Alternating Stress Rule", der „Eurhythmie-Regeln" und des „rhythmischen Nebenakzents" ist fraglich, ob im Deutschen tatsächlich Gegenakzente (also das Aufeinandertrefifen betonter Silben, der sogenannte „stress-clash") durch Akzentverschiebung vermieden werden. Es sind vor allem zwei Phänomene, die zeigen, daß Gegenakzente vielmehr einen Normalfall der deutschen Akzentprinzipien darstellen. Auf das eine Phänomen hat Susanne Uhmann in einer Arbeit über den stressclash im Deutschen hingewiesen (1994). Sie untersucht dort Gegenakzente in Ausrufesätzen und wertenden Äußerungen („assessment utterances") und zeigt, daß in solchen Sätzen dreifache Gegenakzente wie die folgenden durchaus die Regel sind: 'jah're'lang (Uhmann 1994:15) 'ir're:'heiß (a.a.O., 19) 'ent'setz'lich (a.a.O., 23)

Uhmann will jedoch durch diese Beispiele die Alternanz-Hypothese nicht in Frage stellen, denn sie schreibt: Aber diese Tatsache beweist nicht, daß das Prinzip des rhythmischen Alternierens falsch ist. Im Gegenteil: elative Komposita - obgleich im Deutschen hochfrequent - stellen hinsichtlich ihrer rhythmischen Eigenschaften stark markierte Fälle dar. (a.a.O., 16)24

Mit anderen Worten: Die elativen Komposita sind markiert, weil sie das „Prinzip des rhythmischen Alternierens" durchbrechen. Das setzt jedoch voraus, daß die Akzentalternanz den unmarkierten Normalfall darstellen würde. Aber Uhmann behauptet auf der gleichen Seite das genaue Gegenteil, nämlich daß Akzentalternanz und Isochrome („rhythmisch integriertes Sprechen" ) im Deutschen vielmehr die absolute Ausnahme bilden: 24

„But this fact does not prove the Principle of Rhythmic Alternation to be wrong. On the contrary: Elative compounds - though quite frequent in German - are highly marked cases concerning their rhythmical properties." (a.a.O.).

94 Wenn tatsächlich deutsche Sprecher nur sehr selten rhythmisch integriertes Sprechen zustande bringen, dann müßten solche Beispiele, in denen Isochrome hervorgebracht wird, von besonderem interaktiven Interesse sein. (a.a.O., 16).25 Folglich sind die von der Akzentalternanz abweichenden Akzentuierungen also auch die Gegenakzente - eher die Regel. Dies entspricht nicht nur ihrer Untersuchung der Ausrufe- und Wertungssätze, sondern auch den von Uhmann selbst angeführten Adjektivkomposita, die einen lexikalischen Doppelakzent besitzen und deshalb nicht in ein alternierendes Schema zu bringen sind („'stroh.'dumm,, 'stock'steif, 'haut.'nah" etc., a.a.O., 15). 26 Es gibt aber noch ein weiteres Phänomen, das die Häufigkeit von Gegenakzenten belegt und auf das Uhmann nicht eingeht: nämlich die akzentuierten Einsilber. Die akzentuierten Einsilber stehen im Widerspruch zur angenommenen Akzentalternanz, weil in Einsilberfolgen die meisten Gegenakzente anzutreffen sind. Dies ist auch in der generativen Metrik erkannt worden. Heinz J. Giegerich (1985) hat deshalb den Begriff der „Nullsilbe" eingeführt, der gewährleisten soll, daß auch Folgen akzentuierter Einsilber in das AlternanzSchema passen. So wird etwa ein Satz mit drei akzentuierten Einsilbern („John slept well") durch die Nullsilbe in ein alternierendes Muster überführt:

/ \ / \ / \ S W S W S w John 0 slept 0 well 0

(Giegerich 1985: 15)

Genauso verfahrt Giegerich, wenn im Deutschen akzentuierte Einsilber vor eine betonte Silbe treten, („lernt 0 kennen", „macht 0 schön", a.a.O., 167). Als sprachliches Korrelat der Nullsilbe nimmt Giegerich eine Pause oder

26

„If indeed speakers of German only quite rarely achieve rhythmically integrated speech, those instances in which isochrony is achieved must be of particular interactional interest." (a.a.O.). Auf die Existenz solcher Adjektivkomposita wird fast in jeder Darstellung des deutschen Wortakzents hingewiesen (z.B. Kohler 1977: 193ff.; Meinhold/Stock 1980: 228ff. und Giegerich 1984: 135), aber Uhmann ist die erste, die dieses Phänomen im Zusammenhang mit der Alternanz-Hypothese anführt.

95 eine Längung der vorangehenden Silbe an.27 Gäbe es die Nullsilbe tatsächlich in der Sprache, müßten alle betonten Einsilber etwa doppelt so lang wie die nachfolgende betonte Silbe oder von einer gleich langen Pause gefolgt sein. Dafür gibt es aber keinerlei phonetische Evidenzen. Giegerichs Nullsilben existieren, genau wie Selkirks „silent beats", nur in der metrischen Notation der Strukturbäume, wo sie den Eindruck eines alternierenden Wechsels zwischen starken und schwachen Positionen erwecken.28 Es sind also im wesentlichen vier Einwände, die gegen die Hypothese einer Akzentalternanz im Deutschen sprechen: Erstens die Unmöglichkeit, notwendige Bedingungen für die postulierten Akzentverschiebungen anzugeben, zweitens der Widerspruch zwischen der postulierten Akzentalternanz und ihrer semantischen Funktionslosigkeit, drittens die Vielzahl deutscher Komposita mit Gegenakzent („stockfinster") und viertens die Häufigkeit der Gegenakzente bei betonten Einsilberfolgen („Der Wind weht stark"). Bislang fehlen phonetische Untersuchungen, die die Alternanz-Hypothese und ihre sprachtheoretischen Implikationen (Akzentverschiebung, Nullsilbe) empirisch überprüfen. Diese Untersuchungen können im Rahmen dieser Arbeit nicht vorgenommen werden, aber die hier vorgenommene Kritik soll als Anregung für solche phonetischen Überprüfungen der Alternanz-Hypothese dienen. Sie könnten dazu beitragen, die Sprachwissenschaft von einer alten Fiktion zu befreien.

28

„The zero syllable represents the pause, or the lengthening of the stressed syllable, characteristic of monosyllabic feet." (a.a.O.). Dank Giegerichs Nullsilben-Konzept kann Luigi Burzio alle Akzentfolgen auf zweisilbige trochäische Verfüße zurückführen. Denn die Einsilber können ja als Folgen einer akzentuierten (dem Einsilber) und einer unakzentuierten Silbe (der Nullsilbe) aufgefaßt werden („they are in fact bisyllabic containing empty structure", Burzio 1994: 4). Die Umdeutung der Einsilber zu Zweisilbern zeigt, wie stark die generative Metrik von den sprachlichen Gegebenheiten abstrahiert.

96

3.3 Die Erfindung der Isochrome Vorstufen der Isochronie-Hypothese finden sich im englischsprachigen Bereich schon bei Joshua Steele im 18. Jh. 29 Auch die deutschen Junggrammatiker, besonders Eduard Sievers, zeigen durch die ihre Verwendung des Taktbegriffs eine deutliche Nähe zum Isochronie-Gedanken. 30 Obwohl das Taktprinzip eine Reihe von Problemen aufwirft (Inkompatibilität von Taktund Wortgrenzen, Fehlen eines phonetischen Korrelats, Annahme von „leeren" Schlägen), wird es bis heute vielfach vertreten,31 wobei nicht immer von gleichlangen Takten ausgegangen wird (Kohler 1977: 202). Christian Winkler lehnt die Vorstellung isochroner Takte fur die Sprache explizit ab,32 und Otto von Essen schreibt: Das freie Sprechen ist zunächst arhythmisch [= unmetrisch], denn es bildet nicht, wenn nicht rein zufällig, periodisch wiederkehrende Ordnungen. (von Essen 1953: 127)

Diese Festellung hat dem Siegeszug der Isochronie-Hypothese in der modernen Linguistik allerdings wenig anhaben können. Der Siegeszug beginnt bei David Abercrombie, der zu den entschiedensten Verfechtern der Isochronie-Hypothese gerechnet werden muß. Abercrombie stützt sich seinerseits auf Kenneth Pike, der, ohne den Begriff selbst zu verwenden, in seinem Werk Intonation of American English (1945) bereits den Grundgedanken des Isochronie-Konzepts formuliert hatte: Die zeitliche Anordnung der Rhythmus-Einheiten bringt eine rhythmische Abfolge hervor, welche eine ungeheuer wichtige Eigenschaft der phonologischen Struktur

29

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32

Schon 1775 hatte Joshua Steele in An essay towards establishing the melody and measure of speech to be expressed and perpetuated by peculiar symbols behauptet, die Sprache setzte sich aus gleichlangen periodischen Takten zusammen (Auer/Uhmann 1988: 214). „Eine solche Gruppe d.h. eine Sprechtaktgruppe ist gewissermaßen eine aus Einzelbewegungen zusammengesetzte rhythmische Figur, nach deren Ablauf, ganz wie beim Tanz, eine neue ähnliche oder gleiche Figur sich anschliessen kann." (Sievers 1893: 215). Z.B. bei Pheby (1975: 47f.), Kohler (1977: 202), Möbius (1993: 16f.), PompinoMarschall (1990: 9) „In diesem Sinn bleibt der Rhythmus der Musik vergleichsweise taktstreng, während sprachlicher Rhythmus kaum je (allenfalls im Abzählreim) reine Takte hat." (Winkler 1954: 236).

97 des Englischen ist. Die Einheiten neigen dazu, so aufeinander zu folgen, daß die Zeitspanne zwischen dem Anfang ihrer akzentuierten Silben etwa gleich ist.33 Konstitutiv für den Rhythmus ist nach Pike also die gleiche Länge zwischen den „Rhythmus-Einheiten". Dabei fallt auf, daß Pike zwar von gleichlangen („uniform") Zeitintervallen ausgeht, aber diese Annahme gleich zweifach wieder relativiert („neigt dazu" („tend to"), „etwa" („somewhat"). Dieses Oszillieren zwischen „ungefähr" und „genau gleich lang" ist bis heute ein Topos der Isochronie-Debatte. 34 Auch bei David Abercrombie, der als erster explizit von Isochrome gesprochen hat, findet sich diese Vorsichtsklausel. Seine Ausführungen über den Sprachrhythmus in Elements of General Phonetics (1967) beginnen mit den Worten: Obwohl Verzögerungen und andere Pausen dazu neigen, diese Tatsache hin und wieder zu verdecken, besitzt doch alle menschliche Rede Rhythmus Der Rhythmus wird also zugleich als universelles Charakteristikum der Rede und als ein von ihr selbst verschleiertes Phänomen aufgefaßt. Die Ambivalenz, die der Rhythmus dadurch erhält, versucht Abercrombie aufzulösen, indem er den Sprachrhythmus direkt aus dem Atemrhythmus ableitet: Der Sprachrhythmus ist im wesentlichen ein muskulärer Rhythmus, und die von ihm betroffenen Muskeln sind die der Atemmuskulatur.36 Je nachdem, ob die Länge der Silbe oder die Position des Wortakzents für die rhythmische Struktur verantwortlich sind, lassen sich nach Abercrombie zwei Sprachtypen unterscheiden. Bei dem einen wird durch die zeitliche Identität der Silbenlängen eine auf den Atemrhythmus abgestimmte periodische Gleichmäßigkeit geschaffen; dies sind die silbenzählenden

Sprachen.

Bei dem andern Typus sind es die Akzente, die die periodisch gleichen Zei-

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„The timing of rhythm units produces a rhythmic succession which is an extremely important characteristic of English phonological structure. The units tend to follow one another in such a way that the laps of time between the beginning of their prominent syllables is somewhat uniform." (Pike 1945: 34). Peter Auer und Susanne Uhmann haben in Bezug auf diese Passage von „einer für die Linguistik klassischen Formulierung der Isochronie-Hypothese in diesem Jahrhundert" gesprochen (Auer/Uhmann 1988: 216). Die Vertreter der Isochronie-Hypothese sprechen deshalb meist von einer „Tendenz zur Isochrome", z.B. Bell (1977: 3), Faure/Hirst/Chafcouloff (1980: 77), Buxton (1983: 111), Jassem/Hill/Witten (1984: 205), Cruttenden (1986: 24). „Although hesitations and other pauses tend at times to disguise the fact, human speech possesses rhythm." (Abercrombie 1967: 96). „Speech rhythm is essentially a muscular rhythm, and the muscles concerned are the breathing muscles." (a.a.O.).

98 tintervalle hervorbringen; deswegen heißen die zu ihnen gehörenden Sprachen akzentzählend. Die Unterscheidung zwischen silben- und akzentzählend, die sich schon bei Pike findet (Pike 1945: 35f.), darf aber nicht mit Trubetzkoys Unterteilung in „morenzählende" und „silbenzählende" Sprachen verwechselt werden (Trubetzkoy 1958: 171f), die sich nur auf die Position des Akzentes innerhalb des einzelnen Wortes bezieht.37 Bei Abercrombie und Pike ist diese Dichotomie vielmehr das Resultat einer Analogiebildung zur Metrik.38 Das größte Problem für die Isochronie-Hypothese stellt die empirische Überprüfbarkeit dar. Deswegen kommt den Methoden der Isochronie-Messung jeweils besondere Bedeutung zu. Das gilt auch für Abercrombie, der das Metrum, das er in der Sprache zu finden glaubt, zuvor selbst hineingelegt hat. Für die akzentzählenden Sprachen, also die Sprachen mit Wortakzent, geht Abercrombie dabei folgendermaßen vor: Um die gleiche Länge der Akzentintervalle im Englischen nachzuweisen, unterteilt er einen Beispielsatz mit vier Wortakzenten in ebensoviele Takte, wobei jeder Takt mit einer betonten Silbe beginnt: |Which is the |train for |Crewe, |please? Anschließend empfiehlt er,

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38

Allein auf Trubetzkoys Unterteilung beziehen sich die Artikel „akzentzählend" und „silbenzählend" in dem von Helmut Glück 1993 herausgegebenen Metzler Lexikon Sprache. Dagegen wird in dem Artikel „Rhythmus" Trubetzkoys Unterscheidung irrtümlicherweise mit deijenigen von Abercrombie gleichgesetzt. Aus der Metrik ist die Unterscheidung zwischen silbenzählenden Metren (z.B. dem Alexandriner mit zwölf, bzw. dreizehn Silben) und akzentzählenden Metren (z.B. dem Jambus in Wortakzentsprachen) geläufig. Der Rückgriff auf die Metrik wird nicht selten schon als Beleg für die Isochronie-Hypothese betrachtet. So schreibt etwa Pier Marco Bertinetto: „Even if it found no other support, the fundamental justification of this dichtotomy might rest on the opposition of the two main systems of versification, respectively based on »stress-counting« and »syllable-counting«." (Bertinetto 1989: 100). Die Sorglosigkeit, mit der hier bestimmte historische Normen der Metrik in die Sprachstruktur projiziert werden, ist bemerkenswert. Denn wie würde wohl eine linguistische Theorie aufgenommen werden, die behauptete, wir sprächen in Versen und Strophen, da diese ja auch grundlegende Einheiten der Metrik seien?

99 (sofern dies überhaupt nötig ist) [... daß man] bei den vier betonten Silben gleichzeitig mit dem Stift auf eine harte Oberfläche schlägt, wenn der Satz gesprochen wird. Die sich ergebenden Schläge werden eindeutig isochron sein.39

Die Demonstration beruht offensichtlich auf dem Prinzip der Autosuggestion, denn tatsächlich geschieht das genaue Gegenteil von dem, was Abercrombie zu beobachten meint: Nicht die Schläge passen sich dem Sprachrhythmus an, sondern der Sprachrhythmus den Schlägen; ein alltägliches Phänomen, das in jedem Abzählvers zu beobachten ist. Die Demonstration erzeugt also erst das Phänomen, das sie zu belegen sucht. Bemerkenswert ist Abercrombies Klopf-Experiment auch insofern, als es zeigt, daß die vorangehenden Ausführungen zur Interdependenz von Atemrhythmus und Sprachrhythmus rein hypothetischer Natur waren. Denn sobald es um den tatsächlichen Nachweis dieser Beziehung geht, wird der Atem mit keinem Wort mehr erwähnt. Auch der Nachweis der silbenzählenden Isochrome ist nicht stichhaltig. So illustriert Abercrombie die für die silbenzählenden Sprachen angenommene „konstante Geschwindigkeit der Silbenabfolge" („the constant rate of syllable-succession", a.a.O., 98) an einem französischen Beispielsatz, dessen betonte Silben jeweils kursiv gedruckt sind: C'est absolument ridica/e (a.a.O.) Wegen der rhythmisch bedingten gleichen Silbenlänge, so folgert Abercrombie, liegt die betonte Endsilbe -ment zeitlich näher an dem vorangehenden so als an dem nachfolgenden -cule. Aber das ist noch kein Beweis für die gleichbleibende Silbenlänge, und Abercrombies Akzentnotation ist darüberhinaus ungenau, denn er unterscheidet nicht zwischen dem vokalischen Wortgruppenakzent (dem sogenannten „accent de groupe" [χ]) und dem V

zumeist konsonantischen Intensitätsakzent (dem „accent d'intensité" [χ]). Die Akzentuierung müßte also so notiert werden: .

I

ν

·



«

«



C'est absolument ridicule Und Abercrombie übersieht, daß die Akzente im Französischen, entgegen seiner These von der gleichbleibenden Silbenlänge, zum Teil beachtliche Längungen erfahren. Abgesehen davon sind auch die unbetonten Silben keineswegs gleichlang. Um beides zu illustrieren, genügt ein Blick auf ein 39

„[...] their equal spacing in time can be made apparent (if it is not at once) by tapping with a pencil on a hard surface simultaneously with these four syllables as the sentence is spoken. The resulting taps will be clearly isochronous." (Abercrombie 1967: 97).

100 Beispiel aus einer phonetischen Untersuchung von Pierre Léon (zitiert bei Zollna 1994: 23f.). Léon gibt fur den in expressiver Sprechweise gesprochenen Satz Elle m'a dit: Vous savez qu'il est arrivé une chose ahurissante à Gismonde. die folgende Auszählung der Silbenlängen in Hundertstelsekunden an: εΙ ma di vu sa ve k¡ Ιε ta ri ve y ne ¡oz 8 7 6 14 9 11 10 9.5 7.5 6.5 13.5 7 10.5 39 sâ 39.5

ta 17

a: y ri 53 5.25 19.5

3¡s mö:de 30.5 64

Die stärkste Längung erfahrt hier der Intensitätsakzent auf a-hurissante (hier vokalisch realisiert). Aber auch die Längung der Wortgruppenakzente ist unübersehbar.40 Im ganzen enthält die Äußerung sechs Wortgruppenakzente, die wegen der Dominanz der Intensitätsakzente unterschiedlich stark ausgeprägt sein können: εΙ mad[l vu sa ve I ki Ιε ta ri ve I χ ne Joz I a: y sä I taw Ί

π

3¡s mó:de I w " I

Weder die Silbenlänge der Sprachen mit Wortgruppenakzent noch die Intervalle zwischen den betonten Silben in Sprachen mit Wortakzent sind also isochron. Das haben seit Abercrombies Formulierung der IsochronieHypothese inzwischen eine Vielzahl von phonetischen Untersuchungen gezeigt.41 Zusammenfassend sei zur Frage der empirischen Grundlagen der Isochronie-Hypothese Bernd Möbius zitiert: Neuere Untersuchungen zur Bestimmung von Dauerdaten, denen die Betonungsgruppe als Einheiten der temporalen Organisation einer Äußerung zugrundeliegt, kommen zu dem Ergebnis, daß sich das vielzitierte Isochronie-Konzept nicht halten läßt. Vielmehr nimmt die Dauer einer Betonungsgruppe mit der Anzahl der Silben und Laute zu, die sie enthält. (Möbius 1993: 17)42

40

41

42

Es trifft also nicht zu, daß im Französischen "die Silbenlänge nicht distinktiv ist", weil „die Silben phonologisch gleich lang sind", wie Pheby behauptet (Pheby 1975: 47f.). Eine umfassende Übersicht findet sich bei Auer/Uhmann, (1988) und bei Bertinetto (1989). Ahnlich äußert sich Bernd Pompino-Marschall, der selbst zu den Vertretern der sogenannten „abgeschwächten Isochronie-Hypothese" gehört:

101 Die Forschungslage hat sich also seit Abercrombies Formulierung der Isochronie-Hypothese grundlegend gewandelt. Die Vielzahl der Experimente, die die Inexistenz isochroner Strukturen in der Sprache nachgewiesen haben, ließe daher erwarten, daß die Isochronie-Hypothese nunmehr der Vergangenheit angehört. Dies ist aber keineswegs der Fall. So vertreten zwar nur noch wenige Linguisten die Isochronie-Hypothese in ihrer ursprünglichen Form (z.B. Catford, 1977: 84; Cutler/Ladd 1983: 112; Cruttenden 1986: 24), aber sie beherrscht in der neuen Form der sogenannten abgeschwächten Isochrome immer noch die Rhythmus-Diskussion der Sprachwissenschaft.

3.4

Sprachrhythmus und abgeschwächte Isochrome bei Auer und Couper-Kuhlen

Die Probleme, die die Isochroniehypothese auch in ihrer abgeschwächten Form aufwirft, sollen nun anhand der Rhythmustheorie von Peter Auer und Elizabeth Couper-Kuhlen genauer untersucht werden.43 Der Ansatz von Auer und Couper-Kuhlen ist nicht nur wegen seiner theoretischen und methodischen Implikationen aufschlußreich, sondern auch, weil die Autoren den Rhythmus in Beziehung zur Semantik, zur Pragmatik und zur Zeitlichkeit setzen, also über einen rein formalen Rhythmusbegriff hinauszugehen versuchen.

3.4.1 Rhythmustheorie als Kritik des strukturalistischen Sprachbegriffs In der Einleitung zu ihrem Aufsatz erläutern die Autoren die Bedeutung des Rhythmus für eine Überwindung der strukturalistischen Prämissen der

43

„Im Bereich der Sprachproduktion konnten keine direkten Beziehungen zwischen einzelnen artikulatorischen Gesten und dem gleichmäßigen Rhythmus in Form von strikten Isochromen beobachtet werden." (Pompino-Marschall 1990: 6f.). Die Autoren haben sich in mehreren Veröffentlichungen mit dem Sprachrhythmus auseinandergesetzt (Auer 1986, 1990a, 1990b, 1991, 1993), (Couper-Kuhlen 1991, 1993). Der hier untersuchte gemeinsame Aufsatz erschien 1994 unter dem Titel Rhythmus und Tempo in konversationeller Alltagssprache in der Zeitschrift Linguistik und Literaturwissenschaft 96 (1994), S.78-106.

102 Sprachwissenschaft. Sie zeigen, daß die Frage nach dem Rhythmus kein linguistisches Detailproblem ist, sondern die Sprachtheorie als Ganzes betrifft. Die Vernachlässigung der Frage nach dem Rhythmus („Keines der großen und einflußreichen sprachwissenschaftlichen Lehr- und Überblicksbücher der letzten 50 Jahre räumt dem Rhythmus der Sprache auch nur ein Nebenkapitel ein", Auer/Couper-Kuhlen 1994: 79) wird von den Autoren als ein Indikator für die „Entzeitlichung" der Sprache im europäischen Sprachdenken gewertet. Diese Entzeitlichung schlägt sich vor allem in drei ebenso unbefriedigenden wie weitverbreiteten sprachtheoretischen Konstanten nieder: Die erste ist die Auffassung von der Sprache als Werkzeug (des Denkens, oder des Austausches von Gedanken), das von seinen Verwendungen abgelöst existiert, so wie die Werkzeuge eines Maurers von den Bauten, die damit errichtet werden, unabhängig sind. (a.a.O., 80)

Die Entzeitlichung ist also auch eine Verdinglichung, die zu einer Trennung von Mensch und Sprache führt. Die Organon-Vorstellung wurde in ähnlicher Weise auch von Benveniste kritisiert.44 Ihr entspringt die in der Sprachphilosophie des 18. Jh. vieldiskutierte Fiktion eines rekonstruierbaren Urzustandes, in dem der Mensch als Mensch ohne Sprache existiert. An zweiter Stelle führen Auer und Couper-Kuhlen die Beschränkung der Sprache auf die Darstellungsfunktion an, in der die Beziehung zwischen Zeichen und Referenz als „wiederholbar und daher zeitneutral" gedacht wird (Auer/Couper-Kuhlen 1994: 80). Diese Prämisse führt zu der von Saussure kritisierten Nomenklatur-Konzeption: Korrelat dieser ideologischen Presupposition ist der Verweis auf die Lexik als Ansammlung stabiler Bezeichnungsmöglichkeiten, die quasi als Bausteine in sprachliche Äußerungen eingebaut werden. (a.a.O.)

Die dritte ideologische Konstante schließlich resultiert aus den anderen beiden und besteht in der „Dekontextualisierung der Sprache zur Grammatik". Wobei Dekontextualisierung für Auer und Couper-Kuhlen nicht nur die „Loslösung der Sprache" aus ihrem „unmittelbaren situativen oder sprachlichen (ko-textuellen) Umfeld" meint, sondern die Ausblendung der kulturellen Bedingtheit von Sprache überhaupt (a.a.O.).

„Tous les caractères du langage, sa nature immatérielle, son fonctionnement symbolique, son agencement articulé , le fait qu' il a un contenu, suffisent déjà à rendre suspecte cette assimilation à un instrument, qui tend à dissocier de l'homme la propriété du langage." (Benveniste 1958: 259).

103 Es könnte sein, daß sich Auers und Couper-Kuhlens sprachtheoretische Kritik als wegweisend für die Rhythmusforschung erweist, denn die Autoren entdecken im Rhythmus die Möglichkeit, die Sprache von der Tätigkeit eines Subjekts her zu denken. Und diese Tätigkeit steht in einer Zeitlichkeit und bringt diese hervor. Die Untrennbarkeit von Zeitlichkeit, Tätigkeit und Rhythmus macht die Stärke von Auers und Couper-Kuhlens Kritik aus. Ohne Humboldt zu erwähnen, finden sie dennoch in die Nähe seiner EnergeiaAuffassung. Der Rhythmus als Zeitlichkeit und Tätigkeit der Sprache entspricht Humboldts Auffassung der Jedesmaligkeit der Sprache. Wenn man von dieser Jedesmaligkeit ausgeht, so stehen Subjekt, Geschichte und Kultur nicht außerhalb der Sprache, sondern sind unlösbar mit ihr verbunden. Auer und Couper-Kuhlen haben mit ihrer Kritik an der „europäischen Sprachideologie" Maßstäbe gesetzt, an denen sich aber nicht nur jede andere, sondern auch ihre eigene Rhythmustheorie messen lassen muß.

3.4.2 Der Rhythmus zwischen sprachlicher und perzeptueller Realität Auer und Couper-Kuhlen sehen den Rhythmus in der Sprache als einen Sonderfall eines allgemeinen oder universalen Phänomens, das gleichermaßen dem Kosmos („Wechsel zwischen Tag und Nacht, den Jahreszeiten, Monaten und Jahren"), der Natur der Lebewesen überhaupt („Schlafen/Wachen, Herzschlag, Atmung") und der Kultur des Menschen im besonderen („Musik, Tanz und Dichtung") zugrunde zu liegen scheint, nämlich des Phänomens von „in der Zeit rekurrenten Ereignismustern" (a.a.O., 79). Die Nähe zu einer metrischen Bestimmung des Rhythmus ist hier unübersehbar, und man muß sich fragen, ob eine solche bereits von Jost Trier kritisierte „naturphilosophische Vereinigung" physikalischer, biologischer und anthropologischer Phänomene (Trier 1949: 138) nicht schon eine Entzeitlichung des Rhythmus bewirkt, da sie an die Stelle der Jedesmaligkeit der menschlichen Zeit die identische Wiederholung des Gleichen setzt. Diese metrische Ausrichtung hat Folgen für Auers und Couper-Kuhlens gesamte Rhythmus-Theorie und verhindert, wie nun zu zeigen sein wird, daß die zuvor kritisierte Entzeitlichung der Sprache aufgehoben wird. Die Entscheidung für das Metrum korreliert mit einer Erneuerung der Isochronie-Hypothese. Aber Auer und Couper-Kuhlen kehren nicht einfach zu Abercrombies Postulat zurück. Peter Auer selbst hat in einem Überblicks-

104 artikel zusammen mit Susanne Uhmann die negativen Befunde zur Isochronie-Hypothese zusammengetragen und kommentiert (Auer/Uhmann 1988). Wenn Auer und Couper-Kuhlen den Isochronie-Gedanken wieder aufgreifen, so in der neuen Form der sogenannten abgeschwächten Isochrome. Die abgeschwächte Isochronie-Hypothese unterscheidet sich insofern von Abercrombies Version, als die Isochrome von einer akustisch-phonetischen in eine psychologisch-perzeptuelle Ebene verlegt wird. Diese Variante des Isochronie-Gedankens hat sich heute in der Linguistik weitgehend durchgesetzt.45 Die Grundidee der abgeschwächten Isochronie-Hypothese liegt laut Pompino-Marschall in der Annahme, daß die Vorstellung von einer Isochrome bestimmter Einheiten eher auf einer Täuschung unserer Wahrnehmung beruht, nämlich der Tolerierung gewisser Dauerabweichungen wie der wahrnehmungsmäßigen Gruppierung von Einzelereignissen, so daß die - nur scheinbar speziellen - Erscheinungen des Sprachrhythmus allein auf der Grundlage allgemeinerer Erscheinungen der Rhythmusproduktion und -Wahrnehmung erklärbar sind. (Pompino-Marschall 1990: 8) Der Rhythmus läßt sich also nicht mehr aus sprachlichen Einheiten ableiten, sondern er geht aus allgemeinen Wahrnehmungsprinzipien hervor; das bedeutet aber auch, daß er durch die Verlegung in die Wahrnehmung von der Sprache selbst abgelöst wird. Die Sprache dient nur noch als Projektionsfläche für die perzeptuelle Rhythmisierung. Aufgrund der Verallgemeinerung isochroner Strukturierungen auf die gesamte Wahrnehmung muß die abgeschwächte Isochronie-Hypothese eher als eine Verstärkung denn als eine Abschwächung des Isochronie-Postulats angesehen werden. Allerdings modifizieren Auer und Couper-Kuhlen die abgeschwächte IsochronieHypothese insofern, als sie nur von kurzen isochronen Äußerungsabschnitten und nicht von einer durchgängigen Isochrome ausgehen. Die abgeschwächte Isochronie-Hypothese kann, da sie perzeptueller und nicht sprachlicher Natur ist, durch phonetische Messungen weder bestätigt noch widerlegt werden. Auf diese Weise wird aber die Frage nach den empirischen Evidenzen für die Isochrome nur verschoben, nicht obsolet, da nun psychoakustische Untersuchungen zur Untermauerung der Hypothese herangezogen werden müssen. Wie heikel die Übertragung der Ergebnisse solcher Untersuchungen auf die Wahrnehmung des Sprachrhythmus ist, zeigt sich beispielsweise bei Bernd Pompino-Marschall. Dieser verweist im Zusam-

45

Zum Beispiel bei Pheby (1980), Kohler (1983), Bertinetto (1989), PompinoMarschall (1990), Hakkarainen (1995), Janker (1995).

105 menhang mit den akustischen Parametern, die die Rhythmuswahrnehmung determinieren sollen, auf psychoakustische Untersuchungen, in denen sich herausstellte, daß Tonsequenzen mit einem gleichmäßigen zeitlichen Abstand zwischen 0.1 und 3 sec. zwischen den einzelnen Tönen, die in regelmäßigen Abständen jeweils einen lauteren Ton aufwiesen (z.B. jeder zweite oder dritte Ton), als in trochäische bzw. daktylische Takte gegliedert wahrgenommen wurden, d.h. in fallende Takte, die mit diesem lauteren Ton beginnen, während Sequenzen, die ebenso regelmäßig längere Töne beinhalten, wahmehmungsmäßig in jambische und anapestiscHe Takte, d.h. steigende Versfüße gegliedert wurden. (Pompino-Marschall 1990: 9)

Diese Untersuchungsergebnisse kann man als empirisch gesichert ansehen. Festzuhalten ist lediglich, daß die Versuchsanordnimg „Tonsequenzen mit einem gleichmäßigen zeitlichen Abstand" vorsieht, daß es sich also nur um die perzeptuelle Gliederung bereits vorgegebener isochroner Impulse handelt. Wenn aber Pompino-Marschall anschließend behauptet, „diese Prinzipien der Rhythmuswahrnehmung" gelten auch „für alle Formen gesprochener Sprache", so setzt er voraus, was er gerade zu belegen sucht: nämlich eine metrische Strukturierung der Wahrnehmung selbst. Das Metrum wurde jedoch in dem von ihm beschriebenen Experiment nicht von der Wahrnehmung hervorgebracht, sondern war schon in der Versuchsanordnung vorgegeben. Die von Pompino-Marschall angeführten Experimente sagen folglich nichts über den Rhythmus in der Sprache aus, da es in der Sprache keine „Tonsequenzen mit einem gleichmäßigen zeitlichen Abstand" gibt, wie die Isochronie-Forschung ja vielfach gezeigt hat.46 Eine ähnliche Gleichsetzung unterläuft Auer und Couper-Kuhlen, wenn sie den Sprachrhythmus auf allgemeine psychologische Wahrnehmungsmuster zurückführen und sich dabei auf Paul Fraisse und die gestaltpsychologischen Arbeiten von Christian von Ehrenfels berufen.47 Von Fraisse übernehmen sie 46

47

Die Verwechslung von in der Wahrnehmung vorgegebener und in der Versuchsanordnung vorgegebener Isochronie findet sich auch bei Lehiste (1977: 258), Zollna (1994: 31), Küper (1988: 81ff.) und Selkirk (1984: 39). Nicht zufallig gibt es theoretische und historische Berührungspunkte zwischen dem Strukturalismus und der Gestaltpsychologie. Christian von Ehrenfels, der Begründer der Gestaltpsychologie, verkehrte mit Jakobson und mit Karl Bühler, der ja selbst Gestaltpsychologe war. (Bartschat 1996: 77). Ehrenfels' Theorie geht aber noch über den Strukturalismus hinaus, denn Ehrenfels suchte nach einer „Ableitung sämtlicher Vorstellungsinhalte aus einem gemeinsamen Urelement, [...um] die ganze bekannte Welt unter einer einzigen mathematischen Formel zu begreifen." (Ehrenfels 1890: 154). Der Rückgriff auf die Gestaltpsychologie im-

106 den Begriff der „subjektiven Rhythmen" (Auer/Couper-Kuhlen 1994: 82). Bei Fraisse bezieht sich dieser Ausdruck aber allein auf das von PompinoMarshall beschriebene Phänomen der taktmäßigen Gliederung vorgegebener isochroner Impulse (Fraisse 1985: 76). Auer und Couper-Kuhlen verlegen also auch die Isochrome aus der Versuchsanordnung in die Wahrnehmung, wenn sie schreiben: Alle sprachlichen Rhythmen, die für die Interaktion relevant werden können, sind also »subjektive Rhythmen«. (Auer/Couper-Kuhlen 1994: 82)

Die Isochrome ist somit kein Wahrnehmungseffekt, sondern das Resultat einer Vertauschung, in der ein Teil einer Versuchsanordnung mit einem Teil der Wahrnehmung verwechselt wird. Die Verankerung der Isochrome in der Wahrnehmung erlaubt Auer und Couper-Kuhlen auch dann von rhythmisch isochronen Akzentintervallen auszugehen, wenn diese akustisch stark von einander abweichen, da „»objektive« Schwankungen von bis zu 30% nicht notwendigerweise als rhythmusstörend empfunden" werden (a.a.O.). Das vorsichtige „nicht notwendigerweise" impliziert offensichtlich ein „möglicherweise schon".48 Die Isochrome bleibt also bei Auer und Couper-Kuhlen ein schwebendes Konzept, ein Konzept, das sich weder in der Sprache noch in der Wahrnehmung verankern läßt und doch in beiden zugleich sein will.

3.4.3 Zur Methode der Isochroniemessung Der ambivalente Charakter der Isochrome verleiht der Frage nach der Messung der Isochrome in einer konkreten Äußerung besonderes Gewicht. Denn wenn die Isochrome weder in der Sprache noch in der Wahrnehmung eindeutig nachweisbar ist, kann sie eigentlich erst durch die Messung selbst in die Sprache gelangen. Kennzeichnend für das Vorgehen von Auer und Couper-Kuhlen ist die sukzessive Ablösung von den konkreten sprachlichen Einheiten zugunsten einer immer stärkeren sprachunabhängigen metrischen

48

pliziert eine Abkehr von der Geschichtlichkeit der Sprache und des Denkens und verstärkt somit die von Auer und Couper-Kuhlen kritisierte Dekontextualisierung der Sprache. Diese Einschränkung ist angebracht, denn es gibt psychoakustische Experimente, die gezeigt haben, „daß eine Desynchronisation [...] in der Größenordnung von 10 msec, durchaus wahrnehmbar ist." (Pompino-Marschall 1990: 25).

107 Abstraktion.49 Am Anfang der „zahlreichen interpretativen Transformationen" (a.a.O., 85), die zur Gewinnung der isochronen Struktur führen sollen, dominiert noch das sprachliche Material (Ton- bzw Videoband), da es lediglich um das „Feststellen der prosodischen Hervorhebungen und Pausen" geht (a.a.O., 90). Wie der Begriff „prosodische Hervorhebung" genau zu verstehen ist, lassen die Autoren offen: Es sei „in der Regel" ausreichend, wenn man „ungefähr die Ebene der phonologischen Phrase ansteuern" würde, um „mindestens eine Hervorhebung pro intonatorischer Phrasierungseinheit" festzulegen (a.a.O.). Diese Freiheit bei der Festlegung der Akzente hat den Vorteil, der Isochrome widersprechende Akzente von vornherein zu ignorieren. In einem nächsten Schritt sollen dann die „regelmäßigen Abstände zwischen den prosodischen Hervorhebungen" bestimmt werden. Dies geschieht in Anlehnung an die autosuggestive Klopfmethode von Abercrombie: Zur Bestimmung der Isochrome zwischen prosodischen Hervorhebungen ist es hilfreich, beim wiederholten Vorspielen kürzerer Abschnitte eine Körperbewegung (z.B. Klopfen oder Kopfnicken) mit den vermeintlichen Schlägen zu synchronisieren. In einem bestimmten Datenausschnitt sollten probeweise unterschiedliche Abfolgen von prosodischen Hervorhebungen auf diese Weise »getestet« werden. Stellt sich eine kinetische Regelmäßigkeit beim Synchronisieren ein, so kann von einer isochronen Sequenz ausgegangen werden. (a.a.O.).50

Die Isochrome entsteht durch die Meßmethode. Anders als bei Abercrombie kann sich zwar das sprachliche Material nicht an die Schläge anpassen, aber die ausdrücklich als „vermeintlich" bezeichneten Schläge der Äußerung werden auch hier aus den tatsächlichen Schlägen des Versuchsleiters abgeleitet. Die vermeintliche Isochronie wird durch die vorgegebene „ k i n e t i s c h e Regelmäßigkeit" der Klopfbewegung erzeugt. Das Synchronisieren ist also tatsächlich ein Isochronisieren. Daran ändern auch die von Auer und CouperKuhlen nachträglich vorgenommenen fakultativen instrumenteilen Überprüfungen der gewonnenen Isochromen nichts, denn die dabei festgestellten Abweichungen von bis zu 30% sind ja „in der Regel" zu vernachlässigen, da der „auditive Eindruck immer den Ausschlag gibt" (a.a.O., 92).51 Die Unab49

50

31

Im wesentlichen entspricht die Methode deijenigen, die Couper-Kuhlen bereits in English Speech Rhythm. Form andfimction in everyday verbal interaction (1993) anwendet. Die Klopfmethode findet auch bei Couper-Kuhlen (1993) Verwendung: „Rhythmic structures must first be identified through multiple listenings, with tapping as an auxiliary aid." (a.a.O., 78). Der Gestaltbegriff kompensiert die fehlende Isochronie in der Sprache und die vagen, mehrdeutigen Entscheidungen des Versuchsleiters: „Ultimately, the analyst's decision is a perceptual one, which means that vague and ambiguous judg-

108 hängigkeit der ermittelten Isochromen von den sprachlichen Einheiten zeigt sich besonders deutlich in dem Begriff des „leeren Schlags", dem die Autoren eine „zentrale Rolle" in ihrer Rhythmuskonzeption zugestehen (a.a.O., 87). Auer und Couper-Kuhlen unterscheiden zwischen Akzent und Schlag. Nur diejenigen Akzente, aus denen eine rhythmische Struktur abgeleitet werden kann, gelten als Schläge und damit als Rhythmus konstituierend, alle anderen Akzente werden dagegen „als schwache rhythmische Ereignisse eingestuft" (a.a.O.). Der Unterschied zwischen Schlag und Akzent ist also nicht auf sprachliche Einheiten zurückzuführen, sondern eine rein metrische Abstraktion. Auf dieser Abstraktionsebene sind auch die leeren Schläge angesiedelt, mit denen diejenigen Akzente gemeint sind, die empirisch nicht vorhanden sind, aber für das metrische Schema gebraucht werden; was zu der paradoxen Situation führt, daß zwei funktional völlig heterogene Elemente, nämlich eine Pause und eine akzentuierte Silbe, rhythmisch den gleichen Status erhalten. Die Notation eines isochronisierten Äußerungsabschnitts sieht dann wie folgt aus: he was /tàlking: a/ /bòut (0.1) in/ /fëcted / /Λ (0.6) / /méat being sòld (0.2) for /hùmans, in/stèad of being /processed for /pèt foods.

/ / / / (a.a.O., 93)

Mit jedem Schlag beginnt ein Takt, der auf der letzten unbetonten Silbe vor dem nächsten Schlag endet. Alle untereinanderstehenden Takte bilden jeweils einen isochronen Abschnitt. Textstücke, die von den Autoren nicht als isochron angesehen werden, sind nicht von zwei Taktstrichen begrenzt (also in dem obigen Beispiel die erste und die sechste Zeile). Das Zeichen [Λ] steht für einen leeren Schlag. In den runden Klammern sind die instrumenteil ermittelten Pausen angegeben. Die Exaktheit der dabei verwendeten Zentelsekundenangaben stehen in einem deutlichen Kontrast zu den metrischauditiv konstruierten Schlägen. Zwar legen die Autoren bei den Pausen, und ments must be reckoned with. But this is the nature of rhythm as gestalt." (Couper-Kuhlen 1993: 78)

109 nur dort, auf eine instrumentalphonetische Erfassung ausdrücklich großen Wert, da „beim Sprechen manche Pausen generell überhört, andere, etwa nach Silbendehnung, hingegen regelrecht »hineingehört« werden" (a.a.O., 90). Die Autoren lassen aber offen, wieso Pausen nicht, leere Schläge jedoch sehr wohl „hineingehört" werden dürfen. Die Notation, die sie verwenden, zeigt gleich mehrfach die metrische Abtrennung des Rhythmus von den sprachlichen Einheiten: durch die willkürlichen, d.h. syntaktisch-semantisch unmotivierten Taktwechsel (zwischen „infected" und „meat" und zwischen „for" und „humans"), durch die nur in Hinblick auf das Metrum zu rechtfertigende Vernachlässigung möglicherweise realisierter Wortakzente (etwa auf „being" und „foods") und durch die Indifferenz der Takte gegenüber den Wortgrenzen. Die Notation macht offensichtlich, daß die Isochrome nur als Projektion der Analyse existiert, da weder die isochronen noch die leeren Schläge noch die Taktstriche ein sprachliches Korrelat besitzen. Sie resultiert allein aus einer metrischen Skandierung, welche mit der Methode der Isochroniemessung selbst identisch ist.52

3.4.4 Isochrome und Semantik Das Hauptproblem jeder metrischen Rhythmustheorie ist die Frage nach dem Sinn des Metrums, nach seiner semantischen Funktionsweise. Auer und Couper-Kuhlen stellen sich dem Problem, indem sie den Rhythmus als „indexikalisch-ikonisches Zeichen" auffassen, das metakommunikative Signalfunktionen besitzt. Die Autoren sprechen in Anlehnung an John Gumperz (1982) von „Kontextualisierungshinweisen" (Auer/Couper-Kuhlen 1994: 78).53 Dabei nehmen Auer und Couper-Kuhlen drei Funktionen für die als isochron bezeichneten Äußerungspassagen an:

52

53

Pier Marco Bertinetto hat daher die Vertreter der abgeschwächten IsochronieHypothese als „Wahrnehmungsillusionisten" („perceptual illusionists") bezeichnet, da bei ihnen offenkundig wird, „how much the belief in the isochrony issue might influence the interpretation of the experimental results, even at the cost of some incoherence." (Bertinetto 1989: 102). Der Begriff „Kontextualisierung" entspricht weitgehend dem älteren Konzept der Metakommunikation. Auer schreibt dazu in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Bandes The Contextualization of Language (1992): „Bateson's concept of »metacommunication« [...] is almost identical to Gumperz' notion of »contextualization cues«, it refers on the information interactants need to send off in addition to what they want to convey as a message, in order to mark the

110 1) Die Ankündigung eines Sprecherwechsels („Taktgeber für den Einsatz des nächsten Sprechers", a.a.O., 93), 2) Die Signalisierung von Ablehnung oder Zustimmung des vorher Gesagten, durch Abweichung oder Fortfuhrung des Sprechrhythmus der vorausgehenden Äußerung. Ob der Zusammenhang zwischen Rhythmus und Äußerungsbewertung aber tatsächlich nachzuweisen ist, wird von den Autoren selbst in Zweifel gezogen (a.a.O., 98), 3) Zur „Initiierung und Beendigung von Themen sowie von ganzen Gesprächen". (a.a.O., 100) Welche dieser drei Funktionen der Rhythmus jeweils erfüllt, hängt, da das Signal, nämlich die isochrone Schlagabfolge, jedesmal das gleiche ist, allein von dem Äußerungskontext ab. Das Signal dient also lediglich als Verstärker einer jeweils vom Kontext vorgegebenen Bedeutung. Damit leistet die Isochrome deutlich weniger als ein „indexikalisch-ikonisches Zeichen". Es entspricht daher eher der von ihnen beschriebenen Funktionsweise der Isochronie, wenn Auer und Couper-Kuhlen den Rhythmus lediglich als „zusätzliche Komponente" bezeichnen, der nicht unbedingt der Status eines „distinktiven Merkmals" zukommt (a.a.O., 98f.). Aber damit wird der Rhythmus vom Sinn abgekoppelt. Denn als „zusätzliche Komponente" wird er wieder zu einer semantisch neutralen Form, in die jeweils diejenige Bedeutung hineingelegt werden kann, die der Kontext vorgibt. Aber das Hauptproblem bleibt auch hier die Frage der empirischen Nachprüfbarkeit: Insofern die Autoren nämlich die Isochronie in der Perzeption ansiedeln, schließen sie sie zugleich aus dem Kommunikationsvorgang aus. Eine Wahrnehmungsstruktur kann keine Signalfunktion haben, eben weil sie der Kommunikation immer schon vorausgeht. Und insofern sie die Existenz von isochronen Passagen im Äußerungsakt selbst postulieren, fragt es sich, wie die nur durch die aufwendigen Hör- und Klopfmessungen wahrnehmbar zu machenden isochronen Äußerungsabschnitte in einer alltagssprachlichen Gesprächssituation (in der mehrmaliges Hören desselben Sprechereignisses fast immer ausgeschlossen ist) kommunikativ wirksam sein können. Auch wenn man einmal von diesen Schwierigkeiten absieht und der Isochronie die Funktion eines „indexikalisch-ikonischen Zeichens" zubilligt, bliebe die semantische Wirkungsbreite des Rhythmus äußerst eingeschränkt. Der boundaries of the message and in order to indicate its type." (Auer 1992: 23). Am Ende der Einleitung muß Auer jedoch feststellen: „the concept is not entirely unproblematic and has fuzzy theoretical contours." (a.a.O., 35).

Ill Rhythmus würde dann nichts weiter sein als ein Teil eines Signalrepertoires, also einer „Ansammlung stabiler Bezeichnungsmöglichkeiten", die abgelöst von der Tätigkeit des wirklich sprechenden Menschen existiert. Für Auer und Couper-Kuhlen gibt es den Rhythmus als festes Inventar von Intonationssignalen, nicht als unreduzierbare Eigenschaft der Rede. Über den Rhythmus eines Gedichtes vermag ihre Theorie deshalb nichts zu sagen. In ihr ist kein Platz für den spezifischen Rhythmus eines Subjekts, für den jeweils eigenen Rhythmus etwa in Goethes Erlkönig, in Grimms Die Sterntaler, in Benns Abschied oder für die Subjektivierung des Sprechens in irgendeiner anderen geschriebenen oder gesprochenen Rede. Deswegen fehlt bei ihnen auch die Darlegung eines Zusammenhangs zwischen Zeitlichkeit und Rhythmus. Aus der Isochrome allein läßt sich die Zeitlichkeit nicht ableiten, so wenig wie aus dem Herzschlag oder aus der Erdrotation. Es ist hilfreich, sich bei der Frage nach der Beziehung zwischen Zeitlichkeit und Sprachlichkeit den Aufsatz von Benveniste über Die Sprache und die menschliche Erfahrung (1965) in Erinnerung zu rufen. Benveniste zeigt, daß die Zeitmessung selbst die Zeit noch nicht hervorbringen kann, daß also der Kalender, die Uhr statisch bleibt, außerhalb von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, während die Rede, das Jetzt der Rede, die Gegenwart und mit ihr auch die Zukunft und die Vergangenheit und damit die Bewegung der Zeit überhaupt unaufhörlich und immer wieder neu hervorbringt (siehe Kapitel 1.6.2). Die Isochronie bei Auer und Couper-Kuhlen läßt eher an die statische Natur der Zeitmessung denken, als an den unaufhörlichen Wiederbeginn der Gegenwart in der Rede. Die Trennung zwischen Zeit und Rhythmus ist schon in Auers und Couper-Kuhlens Definition des Rhythmus angelegt, wo sie von „in der Zeit rekurrenten Ereignismustern" sprechen (Auer/Couper-Kuhlen 1994: 79), also die Zeit schon voraussetzen, die damit nicht mehr vom Rhythmus selbst hervorgebracht werden kann. Um Rhythmus und Zeitlichkeit zusammenzudenken, ist es nötig, den Rhythmus von der Jedesmaligkeit der Rede her zu verstehen, vom Wiederbeginn der Gegenwart im Hier und Jetzt jedes Äußerungsakts. Erst wenn der Rhythmus an diesem Wiederbeginn teilhat, wenn er unvorhersehbar, veränderlich, augenblicklich ist und nicht mehr in der Statik einer metrischen Struktur aufgeht, kann er zu einer Manifestation der Zeitlichkeit werden. Das Metrum von Goethes Erlkönig läßt sich leicht reproduzieren, der Rhythmus der Ballade aber ist unwiederholbarer Teil eines Werkes in einem historischen Augenblick.

112 Das Metrum, oder besser die Reduzierung des Rhythmus auf das Metrum entzeitlicht den Rhythmus, macht ihn zu einer formalen Struktur und korreliert mit einem Sprachdenken, in dem die Sprache getrennt vom wirklich sprechenden Menschen als bloßes Werkzeug, als Ansammlung stabiler Bezeichnungsmöglichkeiten, losgelöst von aller Geschichtlichkeit gedacht wird. Um die Entzeitlichung der Sprache, auf deren Konsequenzen Auer und Couper-Kuhlen in der Einleitung zu ihrem Aufsatz eindrücklich hingewiesen haben, zu überwinden, wäre es notwendig, an die Stelle der bloßen Sprachstruktur die Sprachtätigkeit zu setzen. Für die Frage nach dem Rhythmus bedeutet das, daß auch der Rhythmus als Tätigkeit eines Subjekts in der Sprache aufgefaßt werden muß. Und da diese Tätigkeit sich nur in der Rede manifestiert, da sie notwendigerweise jedesmalig ist und die Dimension des Semantischen einschließt, muß auch der Rhythmus eine Eigenschaft der Rede sein, jedesmalig und untrennbar mit dem Sinn verbunden. Aus diesem Grund wird in den folgenden Textanalysen die semantische Funktionsweise des Rhythmus in der Rede zu untersuchen sein. Dabei wird sich zeigen, daß jeder dieser Texte von den vielfaltigen rhythmischen Möglichkeiten der Sprache einen anderen Gebrauch macht und daß auch dort, wo das Metrum mit dem Rhythmus interagiert, wie in Benns Abschied oder in Goethes Erlkönig, der Rhythmus weit über das Metrum hinausgeht.

4

Der Rhythmus des Unheimlichen im Erlkönig

4.1 Warum der Erlkönig ? Noch eine Interpretation zu der unüberschaubar gewordenen Masse der Erlkön¡g-Deutungen hinzuzufügen, erscheint wenig sinnvoll. Die Ballade ist nicht nur ein Lesebuchklassiker, sondern auch eines der berühmtesten und meistinterpretierten deutschen Gedichte überhaupt. Sie wurde unzählige Male Gegenstand literatur- und gattungsgeschichtlicher, soziologischer, philosophischer, linguistischer, musikgeschichtlicher, psychoanalytischer und fachdidaktischer Untersuchungen. Dabei haben sich im Laufe der Zeit einige konstante Deutimgsmuster herausgebildet, die auf eine gewisse Erschöpfung des Gegenstandes deuten. Der Erlkönig erscheint im großen Ganzen als ein abgegrastes Feld, auf dem es schwerlich etwas Neues zu entdekken gibt. Deshalb ist die folgende Rhythmusanalyse auch keine Interpretation. Es geht nicht darum, die Ballade auf eine, auf die Bedeutung festzulegen, sondern darum, ihrer Bedeutungsweise, die Art und Weise, wie sie Bedeutung schafft, nachzugehen. Die Frage nach der Bedeutungsweise, nach dem spezifischen Rhythmus dieses berühmten Gedichtes ist sowohl von linguistischer als auch von literaturwissenschaftlicher Relevanz: Linguistisch, insofern sie die empirischen Grenzen der Form-Inhalts-Dichotomie aufzuzeigen vermag, da es, wie deutlich werden wird, innerhalb der semantischen Funktionsweise des Textes keine Trennimg mehr in formale und inhaltliche Elemente geben kann. Und literaturwissenschaftlich, weil sie einen neuen Zugang zur Poetik des Textes eröffiiet. Die Rezeptionsgeschichte des Textes steht fast völlig im Zeichen einer Deutungsstereotype, die die zahlreichen Interpretationen ungeachtet ihrer grundlegenden methodischen Unterschiede einander annähert. Diese Deutungsstereotype möchte ich als den Vater-Sohn-Dualismus bezeichnen. Die Unbeirrbarkeit, mit der fast jede Interpretation die ein oder andere Form des Vater-Sohn-Dualismus in die Ballade hineinliest, hat dazu gefuhrt, daß dieses Deutungsmuster schließlich mit der Ballade selbst verwechselt wurde und gleichsam an die Stelle des

114 Textes getreten ist. Die Geschichte der Erli'g-Rezeption ist die Geschichte eines Textes, der hinter einem schematisierenden Deutungsklischee verschwinden mußte, weil er ohne seinen Rhythmus gelesen wurde. Ich möchte in diesem Teil der Arbeit zeigen, aufweiche Weise und warum der Erlkönig zu einem Text ohne Rhythmus geworden ist, und was geschieht, wenn man beginnt, die Ballade vom Rhythmus her zu lesen. Voraussetzung für eine solche Rhythmusanalyse ist ein Rhythmusbegriff, der jenseits der Reduzierung des Rhythmus auf ein metrisches Muster den Rhythmus von der semantischen Organisation im jeweiligen Wert-System der Rede her begreift. Aus diesem Grunde wird in dieser und den folgenden Analysen von der Rhythmuskonzeption von Henri Meschonnic ausgegangen.

4.1.1

Die Eliminierung des Rhythmus in der £r/£öw/g-Rezeption

4.1.1.1 Rupert Hirschenauer: Die Substitution des Rhythmus durch die Deutung Rubert Hirschenauers Interpretation des Erlkönig erschien 1968 in der von ihm zusammen mit Albrecht Weber herausgegebenen Sammlung Wege zum Gedicht. Sie gehört auch heute noch zu den einflußreichsten ErlkönigDeutungen innerhalb der Germanistik. 1 Aber nicht nur deshalb soll hier auf Hirschenauers Untersuchung genauer eingegangen werden, sondern vor allem, weil er auf exemplarische Weise zeigt, wie eine Deutung den Rhythmus des Textes eliminieren kann; und zwar in einer Interpretation, die gerade die Funktionsweise des Rhythmus offenlegen möchte. Hirschenauer sucht den Rhythmus, er spricht von „rhythmischer Beschleunigung" (Hirschenauer 1968: 161), und Formulierungen wie „Töne und Rhythmus" (a.a.O., 163), „den rhythmischen Fluß" (a.a.O., 167), „Rhythmus und Melodie" (a.a.O., 168) etc. durchziehen den gesamten Aufsatz. Selten wurde in einer Interpretation des Erlkönig so viel vom Rhythmus gesprochen und so wenig über ihn gesagt. Denn Hirschenauer verfehlt den Rhythmus des Textes dreifach: durch die Vortragsmetaphorik, durch die Textparaphrase und durch die Projektion der Vertonungen in den Text.

1

So beruft sich etwa Annemarie Christiansen auf ihn mit der Bemerkung, Hirschenauer biete eine „zuverlässige Zusammenstellung aller Stilmittel" (Christiansen 1993: 15).

115

Von der Analyse des ersten Verses an spricht Hirschenauer auch vom Rhythmus: In der ruhigen Bewegung einer Frage, ohne Erzählerdistanz, packend gegenwärtig setzt die Dichtung ein. (a.a.O., 161)

Aber der Rhythmus, den er hier beschreibt, ist der Rhythmus einer Textrezitation und nicht der des Textes selbst. Die Rezitationsmetaphorik, die Hirschenauer immer wieder gebraucht („rhythmische Beschleunigung", a.a.O.; „bewegtes Sprechen", a.a.O.; „erstaunte Fragen" a.a.O., 163) fuhren nicht zum Text, sondern zu einem dramatisierenden Vortrag, der von einem theatralisierenden Pathos geprägt ist („der Ton der milde und gütig beschwichtigenden väterlichen Stimme", a.a.O., 163; „langsam strömt des Vaters Wort", a.a.O., 165).2 So wie sich Hirschenauers Vortragsweise vor den Rhythmus schiebt, schiebt sich auch seine Deutung vor den Text der Ballade. Hirschenauer inszeniert die Ballade, indem er sie paraphrasiert. Das emphatische Nacherleben und -erzählen ist die bevorzugte Technik seiner textimmanenten Interpretation. So wird die Ballade von Anfang an von einem Metatext überlagert, der seinen eigenen Rhythmus hat. Hirschenauer übersetzt Goethes Ballade in den Rhythmus seiner Deutung. Er übersetzt den Titel der Ballade gegen Herder und Goethe, wenn er nicht nur vom „Erlkönig", sondern immer wieder auch vom „Elfenkönig" spricht. Hirschenauer korrigiert Herder und Goethe und setzt ein imaginiertes Signifikat an die Stelle des textuellen Signifikanten. Diese Transposition ist nicht gleichgültig, denn damit wird die Gestalt des Erlkönig auf das Märchenhafte und Phantastische reduziert. Hirschenauer schmückt den Text poetisierend aus („im Gefilde der nächtlichen Erlenwiese", a.a.O., 161) und imaginiert zugleich eine szenische Umsetzung: 2

Die Verwechslung von Textrhythmus und Rezitationsrhythmus findet sich auch schon bei Erich Hock: „Ähnlich wandelt sich der Rhythmus von gefalligem Fluß (»Du liebes Kind, komm geh mit mir!«) zu aufstachelnder Bewegung (»Willst, feiner Rnabe, du mit mir gehn?«) [...]." (Hock 1937: 196). Sicherlich gibt es eine dialektische Beziehung zwischen Text- und Rezitationsrhythmus, aber wenn der Rhythmus ausschließlich in einer Vortragsterminologie beschrieben wird, löst man ihn vom Text ab und macht ihn zu einer Variablen der Rezitation. Die Vagheit, die der Rhythmusbegriff dadurch erhält, ist auch bei anderen ErlkönigInterpretationen zu spüren, die Rhythmus und Intonation gleichsetzen, z.B. bei Vögeli (1946: 224Í) und bei Wittsack (1962: 1173ff.).

116 Es nähert sich ihnen spürbar die dritte Kraft, der angekündigte Erlenkönig, aus dem Hintergrund. (a.a.O., 162)

Er benennt die Aktanten um, aus dem Erlkönig -wird vorübergehend ein „König der Nacht", und erzählt seine eigene Version der Ballade: Aber sie entkommen nicht den Fängen des Königs; für Vater und Sohn, die durch das verzaubernde, bannende Reich des Königs der Nacht dahinjagen, gibt es keine Grenze, keinen Horizont, keinen bergenden Raum, in den das Unheimliche nicht eindringen könnte. (a.a.O., 164)

Hirschenauers Paraphrase ist durch ein Schicksalspathos geprägt, das Goethes Text nicht hergibt. Er steigert dieses Pathos in eine kosmologische Dimension („Es ist der Urgriff des Infernos hinein in das gefährdete Dasein des Menschen", a.a.O., 166) und sucht die Ballade schließlich religiös zu verbrämen: Wir spüren, wie nicht so sehr episch-dramatischer Vorgang Goethe bestimmt, sondern Offenbarung eines heimlich in ihm wirkenden mysterium tremendum, numinosum, das er nicht gerne preisgibt. (a.a.O., 167)

So wird der Text bei Hirschenauer zu einem Musterbeispiel für eine naturmagische Ballade. Die Paraphrase kann keine Annäherung an den Rhythmus der Ballade leisten, denn sie sucht in ihr nur noch Anlaß und Ausgangspunkt für die Entfaltung ihres eigenen Rhythmus; eines Rhythmus, der die Ballade nicht so sehr analysiert als vielmehr imitiert. Die Interpretation verfallt selbst in die Daktylen der Erlkönigrede, wenn sie diese zu beschreiben sucht: Die gleißend betörende, glitzernd verwirrende Gebärde der Sprache läßt den Fliehenden nicht los. (a.a.O., 163)3

Zugleich imitiert Hirschenauer hier auch die prosodischen Echos der Erlkönigrede, so wie er sie zuvor charakterisiert hat („eine weiche alliterierende, wie ein Summen klingende Weise", a.a.O., 162). Die Mimesis belegt tautologisch, was sie im Text zu entdecken vermeint. Dabei ist das Verfahren immer dasselbe: Hirschenauer nimmt ein Element des Textes, zum Beispiel das Iii in der Erlkönigrede und gibt ihm durch seine paraphrasierende Analyse die Wertigkeit, die er ihr zuschreibt, etwa wenn er in Bezug auf die Worte 3

Und an anderer Stelle imitiert er die Sprechweise des Sohnes durch ein daktylischtrochäisches Muster und die des Vaters durch gleichmäßige Trochäen: „Schnell rast des Kindes Rede dahin, langsam strömt des Vaters Wort." (a.a.O., 165). Bis in die Vierhebigkeit des Versmaßes hinein wird Hirschenauers Deutung zur mimetischen Paraphrase.

117 des Erlkönig von dem „spitzen Klingen" (a.a.O., 164), den „singenden zischenden Figuren" (a.a.O., 162) und von seinem sich „ringsum ringelnden Schweif (a.a.O., 163) spricht. Das viermal wiederholte /a/ in dem dritten Vers der siebten Strophe paraphrasiert er mimetisch mit den Worten: „die nackte Gewalt packt hart und gierig zu" (a.a.O., 166). Und zur Funktionsweise der Analyse des /u/ in dem letzten Vers der fünften Strophe heißt es: Dump/stampf der leichte Fuñ der El/èn in den stwmp/en Versausgang [...]. (Hervorhebungen von mir, a.a.O., 165)

Das, was Hirschenauer zuvor bei Goethe zu entdecken vermeinte, nämlich die Evokation der Elfen durch das /u/, bringt erst seine Deutung durch die Verknüpfung zwischen dem /u/ und dem Iii hervor. Die doppelte Mimesis (des Textes und seiner Deutung) wiederholt den Text nicht, sondern deckt ihn zu, indem die rhythmischen Elemente des Textes umfunktioniert werden. Die Ballade wird zu einem moralisierend-allegorischen Schauermärchen, einer naturmagischen Version des Luzifer-Motivs: Das Gestaltlose ist er [der Erlkönig], das in leidenschaftlichem Gebaren der schönen Gestalt nachstellt, der unschuldigen Natur, aus der er herausgefallen oder verstoßen scheint durch Schuld. (a.a.O., 167)

Je mehr die Deutung sich einer naturmagischen Mythologie nähert, desto mehr entfernt sie sich vom Text. Aber nicht nur die mimetische Paraphrase und die Vortragsmetaphorik verstellen den Zugang zum Rhythmus des Textes. Hirschenauer eliminiert den Rhythmus auch mittels der Substitution des Textes durch seine Vertonungen. Diese Substitution kündigt sich zunächst in der musikalischen Metaphorik an, die zur Beschreibung des Textrhythmus verwendet wird („in melodischer Bewegung", a.a.O., 161; „im melodischen Nachäffen des Tanzes", a.a.O., 164; „die Klangkomposition der reimenden Versausgänge", a.a.O., 165). Und sie wird fortgesetzt in der Überführung von Textelementen in eine quasi-musikalische Notation: Die drei Fermaten, als Gedankenstriche ausgedrückt, lassen das Wehen und Rauschen des nächtlichen Reiches hören. (a.a.O., 162)

Die Gedankenstriche sind aber keine Fermaten, sie signalisieren hier nicht einmal Sprechpausen, sondern dienen lediglich der Bezeichnung des Sprecherwechsels, da Goethe die Anführungsstriche aus Gründen, auf die noch zurückzukommen sein wird, allein der Erlkönig-Rede vorbehalten hat.4 Hir4

Darauf weist auch Erich Trunz in den Anmerkungen zum Erlkönig in der von ihm herausgebenen Werkausgabe hin. (Trunz 1978: 542).

118

schenauer beläßt es nicht bei der Fermate („die große Fermate, die schon spürbare Fermate der Todesmacht", a.a.O., 164), er unterlegt den Text auch mit einer Melodie: Es singt wie ein schmeichelndes Streicheln und liebendes Kosen in kaum merklicher melodischer Bewegung wie auf einem Ton gesprochen, auf und nieder, mit verführerischem Klang [...]. (a.a.O., 162)

Diese musikalische Vision des Textes entpuppt sich aber in der Folge lediglich als Projektion der Reichhardt-Vertonung auf die Goethesche Ballade. In einer Anmerkung heißt es nämlich: Die Vertonung J.F. Reichhardts von 1793 (G-Moll, 3/8) zeigt das Pianissimo der Werbung des Erlkönigs auf einen Ton gestellt in allen Strophen, die der König allein spricht. (a.a.O., 163)

Dank dieser Substitution des Textes durch seine Vertonungen kann Hirschenauer am Ende seines Aufsatzes schreiben: Diese Ballade ist Musik. Sie bedarf der Vertonungen nicht, das Wort ist Ton geworden. (a.a.O., 168).'

Bei Hirschenauer verschwindet der Rhythmus der Ballade hinter dem Rhythmus der Deutung: durch die Rolle, die die Vortragsmetaphorik, die Paraphrase und die Vertonungen in seiner Interpretation spielen. Das dreifache Verschwinden des Rhythmus in einem Text, der vorgibt, von nichts anderem zu sprechen als von eben diesem Rhythmus, macht Hirschenauers Aufsatz zu einem besonders krassen Beispiel für die Eliminierung des Rhythmus in der Erlkönig-Rezeption; aber keineswegs zu einem Sonderfall. Denn dasjenige Prinzip, das diese Eliminierung am stärksten vorangetrieben hat, das Prinzip der mimetischen Projektion, ist in der gesamten ErlkönigRezeption zu finden.

5

Hirschenauer steht hier nicht allein. Auch bei Max Kommerell, der in Bezug auf den Erlkönig von „einer kaum je gehörten Musik in Worten" gesprochen hat (Kommerell 1943: 354), ersetzt die musikalische Metaphorik eine Analyse des Rhythmus. Ähnlich heißt es bei Valentin Merkelbach: „Sprache wird Musik." (Merkelbach: 1985: 316). Die musikalische Metaphorik fuhrt dazu, daß der Rhythmus nur noch als Ausschmückung aufgefaßt wird. Für Merkelbach ist die Häufung „dreisilbriger Verstakte" in der 5. Strophe daher nur „rhythmisch reizvoll." (a.a.O.).

119 4.1.1.2 Formen der mimetischen Projektion Das Prinzip der mimetischen Projektion ist nicht auf die Erlkönig-Rezeption beschränkt. Man kann es überall antreffen, wo es um die Deutung metrischer Phänomene geht. Das ist insofern überraschend, als es sich dabei um ein sprachtheoretisch äußerst fragwürdiges Konstrukt handelt; fragwürdig, aber einfach, denn es besteht lediglich darin, daß das Metrum als Zeichenkomponente aufgefaßt wird, als eine Form, die den Inhalt widerspiegelt. In der mimetischen Projektion wird das Metrum als Mimesis des Sinns begriffen. 6 Dieses Prinzip hat einen festen Platz in der Tradition der ErlkönigInterpretation, insbesondere, wenn es um die Deutung der metrischen Form geht. Man trifft in diesem Zusammenhang immer wieder zwei sich einander logisch ausschließende, aber systematisch zusammengehörende Topoi. Der erste ist der Topos der metrischen Imitation des galoppierenden Pferdes, den kaum eine Interpretation ausläßt. So hat man etwa von dem „förmlich hörbaren Hufschlag des Pferdes" (Müller-Waldeck 1983: 30) gesprochen, von „der anfanglichen rhythmischen Imitation des Pferdegetrappels" (Ueding 1980: 105), von der „bedeutsamen Rolle des Rhythmus", der die „Hast des eiligen Ritts" suggeriere (Heiske 1971: 41). Und Annemarie Christiansen fuhrt aus: Das gemeinsame Reiten - der Eindruck des Galopps wird durch mindestens einen Anapäst in fast jedem der vierhebigen jambischen Verse hervorgerufen - verbindet sie [nämlich Vater und Sohn] auch rhythmisch. (Christiansen 1993: 20)

Bei Norbert Berger galoppiert gleichfalls das Pferd durch das Metrum: Die 4hebigen Jamben [sie] enthalten mindestens je einen Anapäst, was dem Rhythmus eines im Galopp reitenden Pferdes in etwa entspricht. (Berger 1991: 81).7

Dieses „in etwa" ist aufschlußreich (genau wie der „Eindruck" bei Christiansen), denn „in etwa" würde man wahrscheinlich in jedem beliebigen Metrum ein Pferdegetrappel zu hören vermeinen, wenn, und das ist entscheidend, wenn der Text die Präsenz des Pferdes nahelegt. Diese Beliebigkeit, mit der 6

7

So schreibt etwa James Bailey in seinem Aufsatz über das Akzentmetrum im Erlkönig·. „The meaning of the poem is very subtly enhanced by the rhythm. The semantic layer and the rhythmical layer justify and reinforce each other." (Bailey 1969: 350). Durch die Trennung des Rhythmus von dem „semantic layer" kann der Rhythmus lediglich als Widerschein des Sinns fungieren. Auch bei Danièle Pic (1990: 156) und in dem Aufsatz von Bik/Lemaire (1990: 121) taucht dieser Topos auf.

120 das Signifikat jedes beliebige Metrum vorübergehend zu seinem Signifikanten machen kann, zeigt, daß die metrische Imitation nicht so sehr auf dem Zeichenprinzip als vielmehr auf einer Zeichenfiktion beruht. Die Zeichenfiktion gibt sich als solche zu erkennen, wenn dem selben Metrum in dem selben Text plötzlich ein völlig anderes Signifikat zugeordnet wird, nämlich eine Imitation des Tanzrhythmus im letzten Vers der 5. Strophe. Dies ist der zweite Topos der metrischen Mimesis innerhalb der Erlköwg-Rezeption. Hirschenauer hat ihm seine klassische Form gegeben: Im melodischen Nachäffen des Tanzes der schönen Töchter glitzert die dämonische Schönheit wie in keinem anderen Vers der Ballade. Der Rhythmus, der Klang, die Melodie lassen den Reigen sichtbar herumtanzen; der Knabe wird in die Mitte des verzückten Hebens und Senkens hineingeschwungen. (Hirschenauer 1968: 164).8

Seitdem sind viele Interpreten Hirschenauer gefolgt: so W. Heiske (1971: 41), Valentin Merkelbach (1985: 316), Gert Ueding (1988: 105), Norbert Berger (1991f: 81) und Annemarie Christiansen (1993: 18) In der Stärke des Prinzips der mimetischen Projektion, nämlich der Möglichkeit, jedes metrische Element als Reflex des jeweils vorliegenden Signifikats zu erklären, liegt zugleich seine Schwäche. Denn wenn das Metrum tatsächlich eine Zeichenkomponente wäre, müßte die Zuordnung zwischen rhythmischer Form und semantischem Inhalt innerhalb des Systems (des Textes, der Gattung, der Epoche etc.) stabil bleiben. Das ist aber nicht der Fall, wenn das Metrum in einem Vers das Galoppieren der Pferde und in einem anderen eine Tanzbewegung bedeuten kann. Die mimetische Projektion beruht also auf einer Zeichenfiktion, da jede beliebige Form zur Projektionsfläche des gerade vorliegenden Inhalts werden kann. So haben manche Interpreten der Ballade versucht, das Metrum zu psychologisieren: Der metrische Bau spiegelt exakt sowohl die Erregung des Sprechers als auch seine Todesangst und Todesverfallenheit f...] im Vers 26 zählt man drei Anapäste. Dadurch erhält der Redefluß.des zur Untat entschlossenen Erlkönigs etwas Hemmungsloses und Kaltblütig-Grausames. (Behrendt 1981f: 56).

Aber wieso haben drei „Anapäste" etwas Kaltblütiges, wenn Behrendt selbst zuvor feststellt hat, daß auch in den Sohn-Versen der vierten, sechsten und siebten Strophe drei „Anapäste" zu finden sind? Im übrigen ist schon der Terminus „Anapäst" fragwürdig, wie sich bei Nobert Beyer zeigt, der wie

8

Der Topos findet sich aber schon vor Hirschenauer, z.B. bei Kayser (1936: 120).

121 Behrendt zunächst die dreifachen „Anapäste" in den Sohn-Versen als Ausdruck der „Angst des Knaben" deutet, und dasselbe Phänomen an anderer Stelle durch die „hemmungslose, kaltblütige Rede des Erlkönigs" zu erklären versucht (Berger 1991: 81). Um dann aber die „Tanzrhythmen" aus dem Metrum ableiten zu können, verwendet er in Bezug auf die fünfte Strophe den Begriff „Daktylen": Die Daktylen in Strophe V geben den Versen einen wiegenden, tanzenden Rhythmus, was dem Inhalt voll entspricht. (a.a.O.)

Bis in die Formulierung („wiegenden, tanzenden") hinein wird die mimetische Projektion sichtbar, die den Inhalt des Verses („und wiegen und tanzen und singen dich ein", V 4) als die Bedeutung des Metrums der Strophe ausgibt. Tatsächlich gibt es aber sowenig Daktylen wie Anapäste im Erlkönig, da der Volksliedvers nicht in Versfüße untergliedert ist. Die „kaltblütigen" Anapäste aus VII 2 unterscheiden sich nicht im geringsten von den wiegenden Daktylen aus V 4. Die Verteilung von Hebungen und Senkungen in beiden Versen ist schlichtweg identisch: und wiegen und tanzen und singen dich ein. (V,4) V



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und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.

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(VU,2)

Da die mimetische Projektion das Metrum nur als Verdopplung des Signifikats sieht, kann sie seine Funktion als Wert im Textsystem nicht erkennen, ihr muß die Wertigkeit entgehen, die hier die Wiederkehr des gleichen Betonungsmusters in zwei verschiedenen Versen hat und auf die noch zurückzukommen sein wird. An die Stelle des Textsystems setzt die mimetische Projektion die Isolierung der sprachlichen Elemente. Das läßt sich auch bei der Bewertung des prosodischen Rhythmus beobachten. Schon in der frühen £/7£öwg-Interpretation von August Wilhelm Grube von 1864 kann man über den Vers ΠΙ 3 („Du liebes Kind, komm, geh mit mir") lesen: Des Elfen Rede beginnt mit dem hohen, feinen, schmeichelnden »i«, das im ersten Verse (der dritten Strophe) vier Mal [...] vorkommt. (Grube 1864: 27)

Grube projiziert eine Bedeutung in die Materialität des Phonems und erweckt gleichzeitig den Eindruck, als würde er umgekehrt die Bedeutung aus dem Phonem selbst ableiten: In der einen Verszeile «In dürren Blättern säuselt der Wind» empfinden wir das Bewegte im sich wiederholenden flüssigen 1 und s und zugleich das Schaurige in

122 der Verbindung des s mit dem tonlosen e und η und in den gehäuften Zungenlauten d und t. (a.a.O., 27f)

Das silbische IrJ und der schwa-Laut sind weder innerhalb des Textsystems noch an sich schaurig, noch drückt das ñ/ notwendigerweise eine Bewegung aus, auch wenn es zu den Liquiden gehört. Dennoch findet sich diese phonematische Projektion unverändert in den späteren Erltów/^-Interpretationen bis auf den heutigen Tag. Für Viktor Vögeli verkörpert das /i/ in ΠΙ 1+2 die „liebliche, lockende, schmeichelnde Stimme des Erlkönigs" (Vögeli 1946: 224). Hirschenauer dagegen spricht von den „unheimlichen i-Klängen" in VE 1 (Hirschenauer 1968: 166). Bei Martin Behrendt schließlich heißt es: Den Balladentext überzieht ein Netz von Wiederholungen sprachlicher Bauelemente. Einzellautwiederholungen finden sich am häufigsten in der Verlockungsrede Erlkönigs (Str.3). Die klangmusikalische Wirkung seiner Einschmeichlungsworte sollen [sie] ihm das hilflose Kind gefugig machen. Als es nicht gelingt, droht er: »Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« Die w-, ch- und i-Laute klingen in dieser Sprechsituation im Gegensatz zur Lockrede aggressiv. Das ist gestische Sprache. (Behrendt 1981: 55)

Das Bemerkenswerte an dieser Passage ist, daß Behrendt vom Rhythmus des Textes zu sprechen scheint („gestische Sprache") und vom Text als WertSystem („ein Netz von Wiederholungen sprachlicher Bauelemente"), aber tatsächlich über den Atomismus der mimetischen Projektion nicht hinausgelangt. Es wird ein Zusammenhang zwischen der „Einzellautwiederholung" und der „Verlockungsrede" behauptet, die eine „klangmusikalische Wirkung" hätten. Aber zwei Sätze weiter wird dieser Zusammenhang wieder geleugnet, die Phonemwiederholungen sind nun ohne "klangmusikalische Wirkung" und nur noch „aggressiv". Was sich als Analyse des prosodischen Rhythmus ausgibt, entpuppt sich als eine Paraphrase des Inhalts, in dem der Verweis auf den Rhythmus nur eine Alibi-Funktion hat. Weil die mimetische Projektion den Rhythmus auf die Imitation des Sinns reduziert, ihn vom Textsystem isoliert und zu einer formalen Komponente des Textes macht, bewirkt sie eine Ausblendung des Rhythmus. Das Dilemma einer Rhythmus-Analyse ohne Rhyhmuskonzeption hat in der ErlkönigRezeption dazu geführt, daß die Ballade immer wieder ohne, und das heißt gegen ihren Rhythmus gelesen wurde. Dieses Lesen des Textes gegen seine Bedeutungsweise hat die Herausbildung einer Deutungsstereotype ermöglicht, die beinah die gesamte Literatur über den Erlkönig durchzieht, und die zu einer Art interpretatorischem Gemeinplatz geworden ist: des Vater-SohnDualismus.

123

4.1.2 Die Varianten des Vater-Sohn-Dualismus Die traditionelle Erlkönig-Rezeption liest die Ballade als Allegorie der Varianten des Gegensatzes zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen: nämlich zwischen der Vernunft und dem Gefühl, dem Erwachsenen und dem Kind, der Wirklichkeit und der Phantasie, dem Gesunden und dem Kranken etc. Diese Gegensatzpaare fasse ich im folgenden unter dem Begriff VaterSohn-Dualismus zusammen. Wenn auch in fast allen ErlkönigInterpretationen dieser Dualismus in der ein oder anderen Form anzutreffen ist, so unterscheiden sie sich doch in seiner Bewertung. Dabei lassen sich im wesentlichen zwei Grundpositionen ausmachen: die rationalistischen Erlköw/g-Interpretationen, die auf der Seite des Vaters stehen, und die naturmagischen auf der Seite des Sohnes.

4.1.2.1 Der Erlkönig als Aufklärungsballade Die aufklärerische Deutungstradition ist wahrscheinlich die ältere. Schon in dem Aufsatz von August Wilhelm Grube steht sie ganz im Vordergrund. Für Grube entspringt der Erlkönig der Phantasie des Kindes. Die „»Idee« des Gedichts" ist die eines nächtlichen Rittes durch die „feuchtkalte Herbstnacht", die die „Phantasie" des Kindes erregt und die in der Gestalt des „Elfenkönigs und in ihren Schauern das junge Leben vernichtet" (Grube 1864: 31). Diese Idee enthält zugleich einen „allgemeinen Gedanken" (a.a.O.). Das Kind steht nämlich für den „noch nicht zum Selbstbewußtsein" gelangten Menschen, der Vater für die geistig gereifte Persönlichkeit („Es ist ein ewiger Gegensatz zwischen Natur und Geist, Bewußtem und Unbewußtem [...].", a.a.O., 32). Damit hat die Ballade auch eine eindeutige Moral: Je mehr aber der Mensch nur mit seiner Empfindung der Natur gegenübersteht und seine Phantasie von ihren Eindrücken hinreißen läßt: desto gewaltsamer dringt sie auch mit ihren Reizen auf ihn ein, und desto sicherer wird er ihre Beute. Das ist der Grundgedanke, abstrakt gefaßt. (a.a.O.)

Hans Kohmann hat dann diese Moral noch stärker pädagogisiert. Für ihn kann das Kind „ohne psychologischen Zwang als fieberkrank betrachtet werden" (Kohmann 1927: 625), während im Vater „der nüchterne Wirklichkeitssinn verkörpert" ist (a.a.O., 624). Die Ballade ist folglich ein Plädoyer für den Wirklichkeitssinn und gegen schlechte Lektüren: Der Knabe im Erlkönig sieht, was er weiß, und so steigen im nächtlichen Grauen die heidnischen Geistergestalten in seiner erregten Phantasie auf und ihm er-

124 scheint als Wirklichkeit, was man ihm vorher zum geistigen Eigentum machte. Und er leidet Schaden daran. (a.a.O., 626)

In den späteren Erlkönig-Deutungen wenden sich die Vertreter der rationalistischen Richtung dann immer entschiedener gegen die naturmagische Richtung. So fragt sich Winfried Freund: Ist „die Ballade vom Erlkönig wirklich so naturmagisch verschwommen, so numinos nichtssagend?" (Freund 1978: 28). Er beantwortet die Frage durch eine Verschärfung des Vater-SohnDualismus („Halluzinatorische und realistische Sichtwéise stehen sich in der Ballade im Vater-Sohn-Dialog gegenüber", a.a.O., 29), indem er den Sinn des Textes auf ein starres Entweder-Oder reduziert, das den Vater gegen den Sohn ausspielt („Immerhin erweist sich also der Realist auch als der Lebenstüchtigere", a.a.O.; „So gesehen hat nicht das Kind recht, [...] sondern der Vater, weil er einen höheren Reifegrad erreicht hat", a.a.O., 32). Die an die Kantische Terminologie angelehnte Moral der Ballade bleibt dabei die gleiche wie bei Kohmann und Grube: Der Mensch, der die realistische Erkenntnishaltung hinter sich läßt und sie nicht zur Richtschnur seines Verhaltens und seines Handelns erhebt, begibt sich in die selbstverschuldete Unmündigkeit. (a.a.O., 34)

Neu ist bei Freund dagegen die Erweiterung des Vater-Sohn-Dualismus um eine weitere Variante: den Gegensatz zwischen der Klassik und dem Sturmund-Drang.9 Das Kind ist einerseits die Epoche des Sturm-und-Drang („Für das Kind ist die Welt wie für die Vertreter der Geniezeit etwas in letzter Konsequenz Unbegreifliches und Geheimnisvolles", a.a.O., 31), wie das Genie bedarf es deshalb des „gesetz- und formgebendes Regulativs der Wirklichkeit, um nicht ins Chaotische und Anarchistische abzugleiten", (a.a.O.). Andererseits steht es für das noch unemanzipierte Bürgertum des 18. Jh., das gegen die absolutistischen Herrschaftsformen aufbegehrt. Der 9

Hier konnte Freund allerdings auf Gerolf Fritsch zurückgreifen, der die Ballade auch als Parabel für den „Übergang vom Sturm und Drang zur Klassik" liest (Fritsch 1976: 62). Darüber hinaus findet sich bei Fritsch aber noch eine zusätzliche Abwandlung des Vater-Sohn-Dualismus. Der Vater verkörpert nämlich das männliche Realitätsprinzip („es ist das patriarchalische, das des Vaters, des Landes- wie des Familienvaters, in dem Liebe sich zusammenfindet mit Vernunft." a.a.O., 62). Der Erlkönig dagegen steht für das „mütterliche Prinzip" (a.a.O.). Die Moral der Ballade verlangt folglich die Unterordnung der Frau unter den Mann: „Zugespitzt müßte die von der Ballade vermittelte Erkenntnis lauten: Der Mensch ist kein Triebwesen, nur eine Frau ist eines. Und Vernunft ist männlich; sie ist so viril wie bürgerlich." (a.a.O.). Goethe wird eine Frauenverachtung in den Mund gelegt, die aus seinem Werk nicht ableitbar ist. Und die Ballade wird gegen die männliche Konnotation der Erlkönig-Gestalt gelesen.

125 Vater, im Gegensatz dazu, ist nicht einfach der Aufklärer, sondern „die objektive, selbstbewußte Haltung des erfolgreichen Großbürgertums" (a.a.O. 32), der durch wirtschaftliche Interessen mit dem Adel vereint das „klassische Harmoniemodell" (a.a.O.) verwirklicht. Auch wenn in den neuesten £r/fó«íg-Interpretationen die sozial- und literaturgeschichtlichen Varianten des Vater-Sohn-Dualismus fehlen, bleibt er doch uneingeschränkt wirksam. Bei Annemarie Christiansen steht der Vater „für Rationalität, für schlüssige Logik" und der Sohn „für Irrationales, Chaotisches" (Christiansen 1993: 16). Die Überlegenheit des Erwachsenen gegenüber dem Kind wird behauptet, aber nicht begründet: Es ist klar, daß unangefochten rationales Verhalten im allgemeinen dem älteren Mann, Verführbarkeit und Angst vor Ungeheurem mehr dem Jugendlichen zuzuschreiben sind. (a.a.O., 16f.)

Der Erlkönig bleibt ein Produkt der kindlichen Phantasie, der auch hier als weibliches Prinzip gelesen wird ( „ E r s c h r e c k e n e ^ e s Heranwachsenden, der sich Bildern verlockender Weiblichkeit gegenübersieht.", a.a.O., 17) Die rationalistische Erlkön ¡'^-Rezeption verlegt die Gestalt des Erlkönig in den Sohn und stellt ihm das Prinzip des rationalen vernünftigen, gesunden, erwachsenen Vaters gegenüber. Die Ballade wird zu einem Lehrgedicht, das vor den Gefahren der Phantasie, der Triebe, des Weiblichen, der schlechten Lektüre und des Ungehorsams warnt. Zugleich dient sie als Geschichtsparabel, die die Klassik und das bürgerliche Zeitalter abbildet. Dabei scheint niemanden zu stören, daß Goethe die Ballade vor der Französischen Revolution, vor den preußischen Reformen und vor der Klassik geschrieben hat. Goethe wird so zum Propheten seiner eigenen literaturwissenschaftlichen Auslegung. Eine neue Variante der rationalistischen Erlkön /g-Rezeption hat Richard Bertelsmanns psychoanalytische Interpretation geliefert. Hier wird der VaterSohn-Dualismus in die Freudsche Triade überführt, ohne allerdings in Frage gestellt zu werden. Denn wenn der Erlkönig auch „für die Triebregung im Es [steht], wie der Vater für das Über-Ich" (Bertelsmann 1985: 72), so bleibt er dennoch eine „kindliche Phantasiebildung" (a.a.O., 76), ein Produkt von „Halluzination" und „Projektionen" des Kindes (a.a.O., 74). Bertelsmann geht sogar so weit, das Kind mit dem Erlkönig zu identifizieren:

126 Unter dem Druck des verbotenen Wunsches und ihn begleitender Ängste und Selbstvorwürfe sieht das Kind SICH SELBST als Erlkönig mit mächtigem Schweif. (a.a.O., 78)

Im Gegensatz zu den meisten rationalistischen Deutungen wird der Vater als Vertreter des Über-Ichs aber durchaus kritisch gesehen: die gesellschaftlichen Normen bekommen die kindliche Psyche schon »in den Griff«, wenn das Kind darin auch zugrundegeht. (a.a.O., 75)

Der Vater-Sohn-Dualismus kehrt in Form des Gegensatzes zwischen den gesellschaftlichen Normen und der verdrängten Sexualität wieder. Auch hier führt diese Deutungsstereotype weg vom Text; die Deutung wird zum Vorwand, um die Theorie Freuds in langen Zitateinschüben darzulegen. Bertelsmann fuhrt zu Freud, nicht zu Goethe. Eine mittlere Position zwischen den rationalistischen und den naturmagischen Erlkönig-Deutungen nimmt die marxistische Interpretation von Horst Hartmann ein. Ohne den Vater-Sohn-Dualismus aufzugeben, sucht Hartmann sowohl eine einseitig aufklärerische wie auch eine rein naturmagische Deutung des Gedichtes zu vermeiden. Hartmann führt den Vater-SohnDualismus auf den Gegensatz zwischen Mensch und Natur zurück, wobei der Sohn „noch eine naive Naturbeziehung" besitzt (Hartmann 1976: 40), der Vater dagegen „dem Knaben natürlich weit überlegen" ist (a.a.O., 41). Aber dessen „nur rational bestimmtes" Verhältnis zur Natur empfindet Hartmann ebenfalls als unzureichend. So werden Vater und Sohn in Hegelscher Manier zu These und Antithese, um im Sozialismus ihre Synthese zu finden: Das Ringen um ein immer intensiveres Verhältnis des Menschen zur Natur im einzelnen und zur Wirklichkeit im ganzen ist ein entscheidendes Wesensmerkmal des sozialistischen Menschenbildes und integriert die Einheit der beiden in der Ballade einseitig vertretenen Haltungen zur Natur. (a.a.O., 42).

In den achtziger Jahren wurde diese schematische Deutungspraxis innerhalb der marxistischen £r/£ön/g-Rezeption dann von Gunnar Müller-Waldeck aufgebrochen, die gezeigt hat, daß die einseitige Reduktion der Ballade auf ein aufklärerisches „Warngedicht" nicht haltbar ist (Müller-Waldeck 1983).

4.1.2.2 Der Erlkönig als naturmagische Ballade Die naturmagische Richtung hat sich nicht zuletzt aus geschichtlichen Gründen als die einflußreichere Deutungstradition für die &/iö«/g-Rezeption erwiesen. In der naturmagischen Deutung wird das Kräfteverhältnis des

127 Vater-Sohn-Dualismus umgekehrt, indem er als Gegensatz zwischen der Vernunft des Menschen und den übersinnlichen Kräften der Natur aufgefaßt wird. Die Natur steht auf der Seite des Unerklärlichen und des Gefühls. So schreibt Paul Ludwig Kämpchen in seiner Balladentypologie, wo er die naturmagische Ballade als eine Form der „numinosen" Ballade begreift: Die numinose Ballade geht aus vom Gefühl [...]. Im Mittelpunkt des durch die Kräfte der Phantasie ins Numinose erhobenen Naturerlebnisses steht das Mysteriöse. (Kämpchen 1930: 36) Die Natur ist aber nicht bloß Ausdruck der Stimmung, des Gefühls und des Irrationalen, sondern eine „schicksalhaft überwältigende Macht" (Müller 1925: 576). Dies hat vor allem Wolfgang Kayser in seiner Geschichte der deutschen Ballade (1936) hervorgehoben. Für Kayser offenbart die naturmagische Ballade „eine ganz neue Weltordnung" (1936: 117), in deren Zentrum ein Naturbegriff steht, der an die völkische Ideologie anknüpft. Die Natur wird zum alles beherrschenden Prinzip („Sie umfaßt alles und sie ist alles", a.a.O.), welches das Subjekt zum Objekt werden läßt: Der Mensch ist nicht mehr Mittelpunkt der Weltordnung [... er ist] in den Balladen das Objekt, nicht das Subjekt des Geschehens. (a.a.O., 118) Folglich bleibt ihm auch nur die Unterwerfung unter das „Numinose": Darunter ist das Gefühl der eigenen Ohnmacht gegenüber einer irrationellen, schlechthin überlegenen Macht zu verstehen, die erschreckt oder lockt. (a.a.O.). Welche Naturmächte Kayser im Auge hat, wird deutlich, wenn er etwa im Schlußkapitel von den „formenden Kräften" spricht, die „dauernder sind als das einzelne Werk" und unter anderem auch „Stamm und Landschaft und Rasse" (a.a.O., 295) darunter zählt. Nach dem Krieg hat sich die naturmagische Erlkört zg-Rezeption von dem völkischen Naturbegriff gelöst, aber am Aspekt der schicksalhaften Naturgewalt festgehalten. Ihier Inszenierung dient nun der Vater-Sohn-Dualismus, etwa bei Johannes Wilhelmsmeyer (1959). Auf der einen Seite stehen die „dunklen Mächte der Natur" (a.a.O., 39), die bei Goethe „phantomhaft aus dem Kosmischen" (a.a.O., 38) kommen, und die nur das der Natur nahestehende Kind wahrzunehmen vermag, und auf der anderen Seite die Ohnmacht der Ratio und die Erkenntnis, „daß der Mensch den dämonischen Mächten schutzlos ausgeliefert ist" (a.a.O., 38) Hirschenauer knüpft genau an diese naturmagische Tradition an, wie auch Erich Trunz, der in den Anmerkungen seiner Goethe-Werkausgabe schreibt:

128 Den Sinn fur die magischen Kräfte der Welt haben der Künstler, die feinfühlige Frau, der primitive Mensch (die Diener, im Gedicht: Der Fischer) und vor allem auch das Kind (im Erlkönig). Ihnen gegenüber steht der verstandeskühle, dem Tag angehörende Mensch des Lebens (der Vater im Erlkönig), historisch gesprochen: der Aufklärer. Das Ende der Erlkönig-Ballade gibt dem Kinde recht, und dennoch ohne den Vater überzeugen zu können. (Trunz 1978: 541) In dieser Passage finden sich fast alle Paradigmen des Vater-Sohn-Dualismus vereint: das Irrationale (der Künstler, die Frau, der Primitive, das Kind) auf der einen und das Rationale (der Mensch des Lebens, des Verstandes, des Tages, der Aufklärer) auf der anderen Seite.10 Die Stereotype ist auch hier stärker als der Text, der nur noch zu dessen Illustration herangezogen wird. Auch die neueren Erlkönig-Interpretationen perpetuieren unverändert dieses binäre Schema.11 Die Hartnäckigkeit, mit der die naturmagische wie auch die rationalistische Erlkönig-Rezeption die Ballade auf die Paradigmen des Vater-SohnDualismus reduzieren, haben die Ballade selbst, ihren Rhythmus, ihre spezifische Bedeutungsweise mehr und mehr in den Hintergrund treten lassen und sie unter einem Berg von ideologischen Diskursen begraben. Der Erlkönig ist ein Text, der, so paradox das klingen mag, von der Germanistik wiederentdeckt werden muß. Das geschieht etwa in den wenigen ErlkönigInterpretationen, die sich dem Rhythmus des Textes nähern, wie bei Ursula Isselstein Arese. Sie konnte noch 1979 schreiben: Wir gehen bei der Analyse dieser Ballade weitgehend vom Formalen aus, da bisher eine detaillierte Strukturanalyse fehlt. (Isselstein Arese 1979: 34) Bei Isselstein Arese beginnt eine Lösung vom Vater-Sohn-Dualismus, weil sie, auch wenn sie hier von „Struktur" spricht, vom Wert der sprachlichen Elemente im System des Textes ausgeht. Deswegen knüpft der folgende 10

11

Hier wird deutlich, daß der Vater-Sohn-Dualismus nur eine Variante einer alten abendländischen Stereotype darstellt: nämlich der schematischen Trennung zwischen dem Männlichen und dem weiblichen Prinzip. Irmgard Roebling und Wolfram Mauser schreiben dazu: „Solche Unterscheidungen zwischen einem mütterlichen Naturprinzip und einem männlichen Geistprinzip prägen die naturphilosophische Strömung bis ins 19. Jahrhundert und spielen selbst heute eine Rolle." (Roebling/Mauser 1996:13). Irmgard Roebling hat am Beispiel des Wasserfrauenmotivs und der mit ihm assozierten Prinzip des Weiblich-Irrationalen gezeigt, daß diese Stereotypen zwar in der Literatur wirksam sind, aber auch verwandelt und umgewertet werden können (Roebling 1991). Z.B. bei Behrend (1981: 57£), Stoye-Balk (1982: 298ff.), Ueding (1988: 102f.), Liedke (1992: 71ff.).

129 Versuch, die Erlkönig-Ballade vom Rhythmus her zu lesen, auch an ihren Aufsatz an. Es wird sich zeigen, daß der Erlkönig einen spezifischen Rhythmus besitzt und daß dieser Rhythmus etwas anderes macht, als in dem unendlichen Oszillieren zwischen den Positionen des Vater-Sohn-Dualismus zu verschwinden.

4.2

Der Rhythmus des Unheimlichen im Erlkönig

4.2.1 Zur Entstehung des Textes: Der Erlkönig von Herder zu Goethe Goethe verdankt Herder mehr als nur einen Übersetzungsfehler und den Stoff der Ballade. 12 Er entdeckt bei Herder einen Rhythmus, den er aufgreifen und modifizieren wird. Dies wird deutlich, wenn man sich Herders Fassung der Ballade in Erinnerung ruft.13 Erlkönigs Tochter Herr Oluf reitet spät und weit, Zu bieten auf seine Hochzeitleut'; Da tanzen die Elfen auf grünem Land', Erlkönigs Tochter reicht ihm die Hand. 5

»Willkommen, Herr Oluf, was eilst von hier? Tritt hier in den Reihen und tanz' mit mir.« Ich darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag. Frühmorgen ist mein Hochzeittag.

12

13

Merkelbach sieht in Herder nur den „Stoff- und Motivlieferanten" für Goethe. (Merkelbach 1985: 313). Ähnlich urteilt Ueding (1988: 95). Herder übersetzte „ellerkonge" nicht mit „Elfenkönig", sondern mit „Erlkönig" (wegen Eller niederdt.: Erle). Da Goethe nur die Herdersche Übersetzung, nicht aber die dänische Vorlage kannte, gehe ich auf diese im Folgenden nicht mehr ein. Johann Gottfried Herder: Erstdruck: Volkslieder, Teil II 1779 (zitiert bei Freitag 1986: 128). Es handelt sich um eine Übersetzung aus den dänischen, 1739 erschienen Kiämpe Viiser.

130 10

»Hör' an, Herr Oluf, tritt tanzen mit mir, Zwei güld'ne Sporen schenk' ich dir. Ein Hemd von Seide so weiß und fein. Meine Mutter bleicht's mit Mondenschein.« Ich darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag Frühmorgen ist mein Hochzeittag.

15

»Hör' an, Herr Oluf, tritt tanzen mit mir, Einen Haufen Goldes schenk' ich dir.« Einen Haufen Goldes nahm ich wol; Doch tanzen ich nicht darf noch soll.

20

»Und willst, Herr Oluf, nicht tanzen mit mir; Soll Seuch' und Krankheit folgen dir.« Sie thät einen Schlag ihm auf sein Herz, Noch nimmer fühlt' er solchen Schmerz. Sie hob ihn bleichend auf sein Pferd, »Reit' heim nun zu dein'm Fräulein werth.«

25

Und als er kam vor Hauses Thür, Seine Mutter zitternd stand dafür. »Hör' an, mein Sohn, sag' an mir gleich, Wie ist dein' Farbe blaß und bleich?«

30

Und sollt' sie nicht sein blaß und bleich, Ich traf in Erlenkönigs Reich. »Hör' an, mein Sohn, so lieb und traut, Was soll ich nun sagen deiner Braut?« Sagt ihr, ich sei im Wald zur Stund', Zu proben da mein Pferd und Hund.

35

Frühmorgens und als es Tag kaum war, Da kam die Braut mit der Hochzeitsschaar. Sie schenkten Meth, sie schenkten Wein. »Wo ist Herr Oluf, der Bräut'gam mein?«

131 »Herr Oluf, er ritt' in Wald zur Stund', Er probt allda sein Pferd und Hund.«

40

Die Braut hob auf den Scharlach roth, Da lag Herr Oluf, und er war todt.

Goethe verwandelt Anfangs- und Schlußvers der Ballade. Er übernimmt Syntagmen („Meine Mutter", „mein Sohn"), die Motive der Erlkönigtochter, des Reitens, des Tanzens, lexikalische Elemente („Erlkönig", „gülden") und Varianten („Erlkönigs", „Erlenkönigs"). Die Frage der Mutter („Wie ist dein' Farbe blaß und bleich") wird bei Goethe zu: „Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?" mit der gleichen phonomatischen Echofigur auf IbL Er übernimmt auch die interpunktorische Hervorhebung durch die Anfuhrungsstriche, die bei Goethe nur die Rede des Erlkönigs aufweist. Angesichts dieser Annäherungen sind die Abweichungen von Herder um so bezeichnender: Goethe ersetzt die Erlkönigtochter durch den Erlkönigvater und reduziert die Handlung allein auf die Begegnung mit diesem, und er setzt an die Stelle von Herrn Oluf die Vater-Sohn-Konstellation. Die vielleicht wichtigste Entdeckung, die Goethe bei Herder macht, betrifft aber den Akzentrhythmus. Auch Goethe wird den vierhebigen Volksliedvers mit freier Senkungsfullung verwenden, aber die Zahl der rein jambischen Verse drastisch verringern (bei Herder sind 19 von 42 Versen jambisch, bei Goethe dagegen sind es nur zwei) und für die Senkungsfüllungen auch drei unbetonte Silben zwischen zwei Hebungen verwenden. Es wird zu zeigen sein, daß diese anscheinend minimalen Änderungen für den Rhythmus von Goethes Ballade von fundamentaler Bedeutung sind. Was Goethe bei Herder entdeckt, ist aber nicht der Volksliedvers selbst, sondern seine rhythmische Funktion innerhalb des Dialogs. Bei Herder wird nämlich die Wiederaufnahme des gleichen Betonungsmusters zwischen verschiedenen Dialogpartnern zu einem Paradigma der Intimität.14 Ihre Äußerungen entsprechen sich: w



w



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w

w



Ich darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag. υ

14



υ



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(7)



Frühmorgen ist mein Hochzeittag.

(8)

»Hör' an, Herr Öluf, tritt tanzen mit mir,

(9)

Zwei giild'ne Sporen schenk' ich dir.

(10)

Unter „Betonungsmuster" verstehe ich nur die Verteilung der metrischen Hebungen und Senkungen, also nicht die Wortakzente.

132 Die Versuchung gleicht sich rhythmisch der Stimme der Vernunft an. Bei Herder ist die Versuchung aber auch auf der Seite von Herrn Oluf, der will, aber nicht darf („nicht tanzen ich mag" reimt sich auf „Hochzeittag", also auf das, was ihn moralisch-sozial bindet), denn auch Herrn Olufs Antworten werden zu einem rhythmischen Echo auf die Stimme der Versuchung: »Hör' an, Herr Oluf, tritt tanzen mit mir, W W



w



w



w

Einen Haufen Goldes schenk' ich dir.« W W

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W



w

·—

w

(15)



(16)



Einen Haufen Goldes nahm ich wol;

(17)

So wie umgekehrt der Fluch der Erlkönigstochter wieder das Betonungsmuster der Vernunftgründe aufgreift (mit dem prosodischen Echo auf „soll"): w



w

·

w



w



Doch tanzen ich nicht darf noch soll.

(18)

»Und willst, Herr Oluf, nicht tanzen mit mir;

(19)

Soll Seuch' und Krankheit folgen dir.«

(20)

Diese rhythmische Wertigkeit des Metrums findet sich dann im Dialog von Mutter und Sohn wieder. Auch hier wird nur die Rede des weiblichen Parts, der Mutter, durch Anführungsstriche eingerahmt: »Hör' an, mein Sohn, sag' an mir gleich,

(27)

Wie ist dein' Farbe bläß und bleich?«

(28)

Und sollt' sie nicht sein blaß und bleich,

(29)

Ich traf in Erlenkönigs Reich.

(30)

Auch hier, wie übrigens auch in der Fortsetzung des Dialogs, schaffen die metrischen Echos eine Intimität zwischen den Aktanten. Konsequenterweise divergieren daher die Betonungsmuster in dem Mutter-Braut-Dialog und unterstreichen die Distanz: »Wo ist Herr Öluf, der Bräut'gam mein?«

(38)

»Herr Öluf, er ritt' in Wald zur Stund',

(39)

Goethe wird im Erlkönig das metrische Echo als rhythmisches Prinzip aufgreifen und daraus ein Paradigma des Unheimlichen und der Ambivalenz des Erlkönigs machen.

133 Goethes Erlkönig schließt aber nicht nur an Herder, sondern auch an die 1788 vier Jahre vor dem Erlkönig entstandene Ballade Der Fischer an. Goethe selbst hat die beiden Balladen als zusammengehörig betrachtet und zu seinen Lebzeiten auch als Balladenpaar veröffentlicht. 15 Damit setzt der Erlkönig das Thema der Verknüpfung der bedrohlichen Natur mit dem todbringenden Eros fort. Diese Verknüpfung erfolgt im Fischer über das Wasser-Motiv („Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll"). Die besondere Wertigkeit des Wassers als einer tödlichen Verlockung besaß für Goethe eine bis zum Aberglauben gehende Realität. In einem Brief an Christiane von Stein vom 19. Januar 1778 schreibt er: [...] schonen Sie sich und gehen nicht herunter [zum See], Diese einladende Trauer hat was gefahrlich anziehendes wie das Wasser selbst, und der Abglanz der Sterne des Himmels der aus beyden leuchtet lockt uns. Gute Nacht, ich kans meinen Jungen nicht verdoncken die nun Nachts nur zu dreyen einen Gang hinüber wagen, (zitiert bei Isselstein Arese 1978: 26) Das Wasser-Motiv ist im Erlkönig selbst nur indirekt präsent (durch die Hinweise auf den „Strand", die „Weiden" und natürlich auf die Erlen im Namen der Titelfigur). Dennoch gehört der Erlkönig thematisch zu den „Wasser-Dichtungen" (wie übrigens auch, wenn auch auf andere Weise, die Balladen Der König von Thüle oder Der Zauberlehrling). Sie war nämlich ursprünglich Bestandteil des Singspiels Die Fischerin, das 1782 auf der Naturbühne in Tiefurt bei Weimar am Ufer der Ilm („Unter hohen Erlen am Flusse", heißt es in der Regieanweisung) aufgeführt wurde. Die Ballade selbst bildet den Auftakt dieses auf den ersten Blick eher harmlosen RokokoDramoletts. Sie wird darin von der Fischertochter Dortchen gesungen, die aus Verärgerung über die späte Heimkehr ihres Vaters und ihres Verlobten vom Fischfang beschließt, einen Unfall, nämlich einen Sturz ins Wasser beim Wasserholen, vorzutäuschen. Der Streich gelingt, und auf dem Höhepunkt des kurzen Stückes suchen die Männer mit Hilfe der Nachbarn im Fackelschein nach dem Mädchen. Goethe schrieb zu dieser Szene: Auf diesen Moment war eigentlich die Wirkung des ganzen Stücks berechnet [...] in dem gegenwärtigen Augenblick sah man erst Fackeln sich in der Nähe bewegen [...] dann loderten auf den ausspringenden Erdzungen flackernde Feuer auf, welche mit ihrem Schein und Widerschein den nächsten Gegenständen die größte 15

Isselstein Arese schreibt dazu: „In den Schriften 1789, Bd.8 erscheinen beide Balladen unter »Vermischte Gedichte« in der Reihenfolge Erlkönig - Fischer, in der ersten Cottaschen Werkausgabe weiterhin, unter »Balladen und Romanzen« in derselben Reihenfolge, die in allen weiteren Ausgaben beibehalten wird [...]." (Isselstein Arese 1978: 8).

134 Deutlichkeit gaben, indessen die entferntere Gegend ringsumher in tiefer Nacht lag. (zitiert bei Ueding 1988:96)

Trotz des glücklichen Endes, der allgemeinen Versöhnung zwischen den besorgten Männern und dem reuigen Dortchen, bleibt das Stück durch die Wasser-Tod-Thematik, die unheimliche Szenerie und die eingestreuten Arien ambivalent. So schildert etwa das Lied vom Wassermann, das der Verlobte singt, wie ein Mädchen den Lockungen des als Ritter verkleideten Wassermanns nachgibt: »O schönes Mädchen zieh' mit mir.« Das schöne Mädchen die Hand ihm reicht: »Hier hast du meine Treu, ich folg' dir leicht.« (Goethe 1974:1,346)

Wie in der Ballade vom Fischer endet das Gedicht mit dem allem Anschein nach tödlichen Gang ins Wasser: Das schöne Mädchen sank zu Grund. Noch lange hörten am Lande sie, Wie das schöne Mädchen im Wasser schrie. (a.a.O.)

Die Schreie des Mädchens gehen also auch unter Wasser weiter, durch das Wasser hindurch. Das Wasser ist somit nicht einfach der Ort des Todes, auch wenn es die „andere" Seite verkörpert. Es ist die Seite des verlockenden und bedrohlichen Eros, des Unbeherrschten und Unbeherrschbaren. Deswegen ist bei Goethe der Sieg über den Eros ein Sieg der Selbstbeherrschung, eine Rückkehr der Kontrolle, wie der Sieg der Selbstbeherrschung über das Wasser in dem Gedicht Seefahrt (um 1776): Doch er stehet männlich an dem Steuer; Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen; Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen: Herrschend blickt er auf die grimmige Tiefe Und vertrauet, scheiternd oder landend, Seinen Göttern. (a.a.O., 76)

oder der Sieg der Selbstbeherrschung über den Liebesschmerz in Auf dem See (1775): Aug, mein Aug, was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder? Weg, du Traum! so gold du bist; Hier auch Lieb und Leben ist (a.a.O., 64)

135 Auch in An den Mond (1789) gibt es die Rückkehr zur Kontrolle („Selig, wer sich vor der Wel t/ Ohne Haß verschließt") nach dem Erlebnis der mit dem Wasser assoziierten Macht des Eros: Fließe, fließe, lieber Fluß! Nimmer werd ich froh, So verrauschte Scherz und Kuß, Und die Treue so. (a.a.O., 85) Und es ist bezeichnend, daß hier die Rückkehr der Kontrolle an die Tätigkeit des Gedichts selbst gebunden ist: Rausche, Fluß, das Tal entlang Ohne Rast und Ruh, Rausche, flüstre meinem Sang Melodien zu, (a.a.O.) Im Gedicht selbst („meinem Sang") findet die Distanzierung vom Schmerz statt. Die Kontrolle ist für Goethe so faszinierend wie der Eros, der sie bedroht.16 Seine Poetik sucht beide zu verbinden. Das letzte Terzett des Sonetts Natur und Kunst (1800) lautet: Wer Großes will, muß sich zusammenraffen; In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. (a.a.O., 258) Hier ist das Sonett selbst dieses Gesetz. Auch das Metrum ist bei Goethe ein grundlegender Teil dieses Gesetzes, dieser Möglichkeit der Kontrolle, die immer auch eine Kontrolle des Eros impliziert. In den Römischen Elegien (1788-1790) wird diese Beherrschung des Eros durch das Metrum zur harmonischen Symbiose: Oftmals hab ich auch schon in ihren Armen gedichtet Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand Ihr auf den Rücken gezählt. Sie atmet in lieblichem Schlummer (a.a.O., 133)

16

Zum Beispiel auch in dem Gedicht Willkommen und Abschied, wie Carl Pietzcker gezeigt hat. Der Abschied bewirkt poetisch wie biographisch die Wiederherstellung der Kontrolle. Dies belegt etwa auch eine Briefpassage, die Pietzcker zitiert und in der Goethe über seine Beziehung zu Friedericke Brion schreibt: „Wenngleich die Gegenwart Friederickens mich ängstigte, so wußte ich doch nichts Angenehmeres, als abwesend an sie zu denken [...]. Die Abwesenheit machte mich frei, und meine Zuneigung blühte erst recht auf durch die Unterhaltung in der Ferne." (zitiert bei Pietzcker 1996: 127).

136 Auch im Erlkönig ist dieser Rhythmus von Kontrolle und Eros wirksam, aber ohne jede Möglichkeit einer Harmonisierung. Vielmehr schafft dort ihr Zusammenspiel die einzigartige Dramatik des Unheimlichen.

4.2.2 Eine Annäherung an den Rhythmus im Erlkönig Was hier versucht werden soll, ist weder eine inhaltliche Interpretation, noch eine formale Analyse. Versucht werden soll lediglich, die Ballade vom Rhythmus her zu lesen. Also nicht das Was des Sinns, sondern das Wie des Sinns, die Sinntätigkeit des Textes soll untersucht werden. Dabei beansprucht die folgende Untersuchung nicht, eine vollständige Beschreibung aller rhythmisch relevanten Elemente und Beziehungen der Ballade zu geben. Es geht vor allem um eine erste Annäherung an den Rhythmus des Erlkönig durch die Analyse einiger für den Rhythmus grundlegenden Aspekte, denen in der Erlkönig-Forschung bislang keine oder zu wenig Beachtung geschenkt wurde.

Erlkönig I

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind ? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.

Π

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht ? Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht ? Den Erlenkönig mit Krön und Schweif ? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. -

ΠΙ

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir ! Gar schöne Spiele spiel ich mit dir: Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand."

IV

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht ? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. -

137 V

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn ? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter fuhren den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein."

VI

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort ? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. -

VII

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an ! Erlkönig hat mir ein Leids getan ! -

VIH

Dem Vater grauset's, er reitet geschwind, Er hält in den Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot.

Geht man vom Rhythmus aus, so gibt es im Erlkönig keinen Dualismus zwischen väterlicher Vernunft und kindlicher Phantasie. Es gibt nur eine rhythmische Kontinuität, die nicht nur den Erlkönig mit dem Kind, sondern auch den Erlkönig mit dem Vater verbindet. Gegen die beruhigende Trennung von Rational und Irrational, Vernunft und Angst, die der Deutungskanon der Erlkönigballade seit über hundert Jahren perpetuiert, löst der Rhythmus des Gedichtes gerade die Grenzen der schematisierenden Dualismen auf. Und das Unheimliche der Ballade liegt in dieser Verwischimg der Grenzen durch die Ambivalenz des Erlkönigs. Vom Rhythmus ausgehen heißt, den Rhythmus nicht auf eine „Imitation des Pferdegetrappels" oder des „Tanzrhythmus" (Ueding 1988: 105) zu reduzieren. Es geht nicht um die Wiederholung des Inhalts in der Form, nicht um eine Projektion des Signifikats in den Signifikanten. Es geht um die spezifische Funktionsweise der Signifikanten als Systemwerte im Text. Und diese Signifikanten gehen über die traditionelle Unterteilung in Lexik und Syntax hinaus. Jedes sprachliche Element eines Textes ist ein Signifikant und damit Teil des Rhythmus eben dieses Textes. Ich werde die rhythmische Wertigkeit folgender Signifikanten behandeln: die Bedeutungsweise der Naturmetaphorik, der Interrogativsätze, der Verszäsuren, des Silbenrhythmus, des Akzentrhythmus und der Prosodie.

138

4.2.2.1 Zur Naturmetaphorik Betrachtet man nur die Lexik, so stellt man eine Erlkönig-Sohn-Kontinuität durch die Einbindung beider Aktanten in die Naturmetaphorik fest. Die Natur ist der Ort des Unheimlichen, vom ersten Vers an. Und vom ersten Vers an wird das Kind durch den Reim („Wind" / „Kind", I 1/2) in den Bereich der Natur hineingezogen. Die Natur läßt den Signifikanten „Kind" nicht mehr los, nicht in IV 3/4, wo nochmals „Wind" auf „Kind" reimt, und nicht in VIII 1/2, wo diese Verknüpfung im Reimpaar „geschwind" / „Kind" wiederaufgenommen wird. Nicht nur durch den auf die Erlen verweisenden Namen, auch durch den Reim wird die Natur mit der Gestalt des Erlkönigs verbunden („Krön und Schweif / „Nebelstreif', Π 3/4), wobei der Binnenreim zwischen „Krön" und „Sohn" (Π 3/4) die Bindung des Sohns an den Erlkönig bekräftigt. Die Naturlexik in der Rede des Erlkönigs („bunte Blumen sind an dem Strand", ΠΙ 3) gehört ebenfalls in die Sphäre des Unheimlichen, da sie metonymisch auf das Wasser als den Ort der Bedrohung verweist. Neben der Naturlexik entfaltet die Ballade ein Wortfeld der familiären Bezüge. Nicht umsonst hat Raimar Stefan Zons die Ballade als ein „Familienzentrum" bezeichnet (Zons 1980: 125). Goethe unterstreicht die exemplarische Bedeutung des Vaters durch den Gebrauch des bestimmten Artikels („Es ist der Vater", 12). Auch Mutter und Tochter sind präsent, aber nur in der Rede des Erlkönigs (ΠΙ 4 und V 2+3). Das Weibliche ist hier, wie in der Ballade vom Fischer, auf der Seite des Bedrohlichen. Einzig der Erlkönig selbst fällt aus diesen Familienrelationen heraus. Über ihn läßt sich nur soviel sagen, daß er sich durch die Art seiner Anrede („Du liebes Kind", ΠΙ 1, „feiner Knabe", V 1) und den Hinweis auf seine Töchter (V 2+3) als Erwachsener zu erkennen gibt. Und er gehört in die Sphäre des Männlichen. Darauf weist auch der „Schweif hin, der, auch wenn das Wort hier nur die Schleppe bezeichnet, durch den Kontext der Ballade sexuell konnotiert ist.

4.2.2.2 Die Wertigkeit der Interrogativsätze Die Dialoge im Erlkönig sind gescheiterte Dialoge: Kein Dialog zwischen Erlkönig und Vater, verweigerter Dialog zwischen Erlkönig und Sohn und

139 verfehlter Dialog zwischen Vater und Sohn. Die Interrogativsätze spielen eine wichtige Rolle in dieser paradialogischen Struktur. Die Frage leitet die erste Erzählstrophe ein und steht von Anfang an auf der Seite der Angst und des Unheimlichen („so spät", „Nacht und Wind", I I ) . Die Frage nach dem Wer in I 1 schließt durch den unmittelbar vorausgehenden Gedichttitel auch hier schon den Erlkönig und damit das Unheimliche mit ein. Die folgenden drei Verse dagegen als Antwort auf die Eingangsfrage suchen das Unheimliche zu entkräften; sie stehen gegen den Titel und die Eingangsfrage und verstärken sich durch ihr anaphorisches „er" bis an die Grenze der Redundanz. Von Anfang an stehen Frage und Antwort in einem Konflikt. Diese dialogische Konstellation wird dann in den drei Vater-Sohn-Dialogen aufgenommen und gesteigert. Immer weiter verfehlen sich Angstfrage und Beruhigungsantwort, immer deutlicher negiert die Antwort den Standpunkt der Frage und umgekehrt. Das parataktische „und" in den Fragen des Sohns zeigt, wie sich Frage an Frage reiht, ohne daß diese von einer Antwort berührt werden („und hörest du nicht" , IV 1; „und siehst du nicht", VI 1). Also nicht nur der Vater ist taub für das, was der Sohn hört, auch den Sohn erreichen die Worte des Vaters nicht. Bevor der Erlkönig das Kind ergreift, sind Vater und Sohn schon durch ihren Nicht-Dialog voneinander getrennt.17

4.2.2.3 Die Verszäsur Wenn hier von Zäsuren die Rede ist, dann handelt es sich dabei nicht um metrisch vorgeschriebene Einschnitte, sondern um die syntaktische Versauf17

Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist also nicht so harmonisch, wie in der Literatur häufig behauptet wird: Bräutigam sieht ein „echtes Zwiegespräch" zwischen Vater und Sohn (Bräutigam 1971: 41). Hirschenauer spricht von der ,,höchste[n] Not, die Vater lind Sohn zusammenschließt [...]." (Hirschenauer 1968: 165). Und Christiansen betont die „Zusammengehörigkeit" von Vater und Sohn sogar gegen ihre eigenen Beobachtungen über die semantische Wertigkeit der Reimpaarungen: „Die Reimtechnik ist aufschlußreich. Reimt zunächst ein Wort des Sohnes auf ein Wort des Vaters (»Gesicht - nicht«) und ein Wort des Vaters auf ein Wort des Sohnes (»Schweif - Nebelstreif«), so wird die zunehmende Trennung zwischen beiden in der vierten und sechsten Strophe dadurch betont, daß die Reden jedes einzelnen nur in sich selbst reimen." (Christiansen 1993: 19). Trotzdem behauptet sie unmittelbar darauf: „Die innere Verbindung hört auch nach dem Zerreißen der Reime nicht auf." (a.a.O., 20). Für sie ist die „Zusammengehörigkeit von Vater und Sohn ganz gefühlsbetont", denn: „Jeder Vater ist »mit seinem Kind« so verbunden." (a.a.O.).

140

teilung. So werden drei Verse der ersten Strophe syntaktisch in zwei Teile geteilt. Die Zäsur befindet sich dabei jeweils in der Mitte des Verses: Subjekt-Prädikat-Gruppe + Adverbialgruppe (12-3) (zwei Hebungen) (zwei Hebungen) Subjekt-Prädikat-Gruppe + Subjekt-Prädikat-Gruppe (14) (zwei Hebungen) (zwei Hebungen)

Die Mittelzäsur schafft eine Symmetrie, eine vorhersagbare Ordnung der Rede, die zugleich eine Ordnung der Welt suggeriert. In der Mittelzäsur (aber nicht nur in ihr, wie zu sehen sein wird) verwirklicht sich ein kontrolliertes Sprechen, das gegen die Angst und das Unheimliche steht. Die einleitende Frage setzt sich dagegen durch ihre ternäre Aufteilung vom kontrollierten Sprechen ab: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind ? ( I I ) Sub.-Präd.-Gruppe + Adverb.-Gruppe ι + Adverb.-Gruppe 2

In der zweiten Strophe mit ihrer Frage-Serie wird diese ternäre Aufteilung fortgeführt: Siehst, I Vater, | du den Erlkönig nicht? (12)

Die ternäre Versaufteilung ist hier mit der Angst verknüpft: durch die Frageform, durch die Nennung des Erlkönigs als Verkörperung des Unheimlichen und durch das Anrufungsmotiv. Sie findet ihr Echo in dem ersten Vers der Erlkönig-Rede (ΠΙ 1): Angst und Bedrohung werden rhythmisch aufeinander bezogen. Überraschenderweise kehrt die Mittelzäsur aber im dritten Vers der zweiten Strophe, also demjenigen, der allein der Erscheinung des Erlkönigs vorbehalten ist, wieder. Der Erlkönig scheint hier nun an der Ordnung jener Welt teilzunehmen, die die erste Strophe so vehement gegen die Angst gestellt hat. Daß dies kein Zufall ist, zeigt sich in der dritten Strophe, wo die Rede des Erlkönigs (ΙΠ) selbst in drei von vier Versen eine unverkennbare Tendenz zur Mittelzäsur aufweist: Nominalgruppe (zwei Hebungen)

+

Subjekt-Prädikatgruppe + (zwei Heb ungen)

Verbalgruppe (ΠΙ2+3) (zwei Hebungen) Objektgruppe (ΙΠ4) (zwei Hebungen)

Der Erlkönig versucht sich von Anfang an als Teil jener Ordnung zu geben, deren Bedrohung er zugleich darstellt. Noch im Augenblick der Gewalttat in VII 2 ist in der Mittelzäsur die Berufung auf diese Ordnung präsent: Und bist du nicht willig, | so brauch ich Gewalt. (VII 2)

141 Auf der anderen Seite verfestigt sich im Laufe der Ballade die Verknüpfung der temaren Gliederung mit dem Angstthema und dem Anrufungsmotiv. Sie ergreift erstmals in IV 3 und dann in VI 3 auch die Rede des Vaters. In VHI verschwindet mit der Rückkehr des kontrollierten Sprechens auch die ternäre Versaufteilung, und die Mittelzäsur setzt sich wieder durch. Sie ist von solcher Bedeutung für Goethe, daß er im letzten Vers eine syntaktisch ungewöhnliche Anordnung in Kauf nimmt, um sie zu realisieren: In seinen Armen Adverb ialgruppe (zwei Hebungen)

das Kind war tot. (VIII4) Subjekt-Prädikat-Gruppe (zwei Hebungen)

Ich sehe also in der apositiven Wortstellung des Verses anders als einige £r/fö«ig-Interpretationen kein Signal für die Erschütterung des Erzählers durch die Ereignisse.18 Die Zäsur ist nur eine Komponente des Rhythmus, in der sich das Eindringen des Unheimlichen in das kontrollierte Sprechen vollzieht. Erst zusammen mit dem Silbenrhythmus, dem Akzentrhythmus und der Prosodie zeigt sich, wie sehr diese Ambivalenz der Kontrolle selbst das Gedicht auf allen Ebenen seiner semantischen Organisation durchdringt.

4.2.2.4 Die Bedeutungsweise der Silbenvarianz Für sich genommen erscheint die Zahl der Silben pro Vers zunächst ohne Bedeutung; ob ein Vers zehn oder elf Silben besitzt, macht bei einer isolierten Betrachtung der Verse keinen Unterschied. Erst die systematischen Beziehungen der Verse zueinander zeigen, daß es eine rhythmische Wertigkeit der Silbenvarianz im Erlkönig gibt. Dabei geht es nicht um eine numerische Spielerei, sondern um die semantische Funktion der variierenden Silbenanzahl pro Vers.

18

Hirschenauer kommentiert den Schlußvers mit den Worten: „Der Rhythmus ist durch die Stellung des Subjekts gestaut: »In seinen Armen, - das Kind - war tot« Und diese Steigerung sagt: Angehaltener Atem des Vaters - Entsetzen des Vaters - schreckenserstanter Blick des Vaters!" (Hirschenauer 1968: 167). Hirschenauers Interpretation ahmt das Entsetzen, das er in den Worten des Vaters zu lesen glaubt, bis in die Interpunktion hinein nach (wobei er Vater und Erzähler verwechselt). Aber schon diese Interpunktion ist eine Projektion, denn bei Goethe stehen in dem Vers weder ein Komma noch zwei Gedankenstriche. Der Vers ist bei Goethe nicht drei-, sondern zweigeteilt.

142 Die erste Strophe ist die einzige, in der jeder Vers genau neun Silben enthält. Der Neunsilbenvers korreliert mit dem kontrollierten Sprechen, das in dieser Strophe noch überwiegt. Mit dem endgültigen Durchbruch des AngstThemas in Π 1 erhöht sich die Silbenzahl dann erstmals auf zehn. Die Fragen des Sohnes (Π 2+3) dagegen überschreiten zunächst nicht die Neunsilbengrenze. Der Sohn bricht noch nicht aus dem kontrollierten Sprechen aus. In dem Vater-Vers am Ende der Strophe (Π 4) findet dann eine Überakzentuierung der Kontrolle statt, indem die Silbenzahl von neun auf acht sinkt: Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. (Π 4)

Der Erlkönig nimmt im folgenden Vers (ΙΠ 1) die Silbenzahl des VaterVerses auf, um in den mittleren Versen der Strophe (ΙΠ 2+3) zum Neunsilbenmaß zurückzukehren und erst in IQ 4, also kurz bevor wieder der Sohn das Wort ergreift, die Neunsilbengrenze zu überschreiten. Damit bildet die Erlkönig-Strophe einen progressiven Übergang von dem kontrollierten Sprechen des Vater zu den Angst-Fragen des Kindes. In IV 1 entspricht der Steigerung der Angst in den Worten des Sohnes eine Erhöhimg der Silbenzahl auf elf. Von nun an wird jede Rede des Sohns mit einem Elfsilbenvers eingeleitet werden. Im Laufe der Strophe sinkt die Silbenzahl dann mit den beruhigenden Worten des Vaters wieder auf das Neunsilbenmaß (IV 3+4). Die zweite Erlkönig-Strophe (V) bildet wieder einen kontinuierlichen Silbenanstieg vom vorangegangenen kontrollierten Sprechen des Vaters (Neunsilbenvers in V 1) zu den darauffolgenden AngstFragen des Sohnes (Elfsilbenvers in V 4) Bis hierin folgt die Silbenzahl pro Vers also einem dramatischen Prinzip: Fallende Silbenzahl in den VaterSohn-Strophen, steigende in den Erlkönig-Strophen. Auch in der sechsten Strophe ist dieses Prinzip wirksam, allerdings steigt in dem letzten Vater-Vers die Silbenzahl wieder auf zehn an: das kontrollierte Sprechen des Vaters löst sich auf und bereitet den dramatischen Höhepunkt der Ballade vor. Dieser dramatische Höhepunkt stellt auch die Klimax des Silbenrhythmus dar. Denn VII 1 ist der Vers mit der höchsten Silbenzahl, der einzige mit zwölf Silben: Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt (ΥΠ 1)

Wie bereits in VI 1 greift auch im folgenden Vers (VU 2) die Silbenzahl des Erlkönig-Verses auf die Rede des Sohnes über. Auf diese Übergänge von der Sprechweise des einen zur Sprechweise des anderen wird noch zurückzu-

143 kommen sein. Nach dem Angsthöhepunkt sinkt die Silbenzahl in VII 4 wieder auf neun. Der Rückgang der Silbenzahl korreliert hier mit der perfektiven Verbform (hat... getan)·. Die vernichtende Handlung hat schon stattgefunden, und das sterbende Kind befindet sich bereits jenseits aller Angst und aller Hoflhung. Die letzte Strophe schließlich müßte als Erzählerstrophe wieder ganz dem kontrollierten Sprechen gehören. Aber der Erzähler findet erst nach zwei Versen wieder zu dem Neunsilbenvers des Anfangs zurück. Der Silbenrhythmus hat im Erlkönig also eine dramatisierende Funktion. Er gliedert den dramatischen Verlauf der einzelnen Strophen, ihre zunehmende und abnehmende Intensität und ihre Höhepunkte. Er zeigt aber auch durch die Übergänge, die die Erlkönig-Strophen zwischen der Rede des Vaters und der Rede des Sohns bilden, daß der schematisierende Gegensatz zwischen Vater-Sohn auf der einen und Erlkönig auf der anderen Seite nicht aufgeht und vielmehr eine Vater-Erlkönig-Sohn-Kontinuität festzustellen ist, die untrennbar mit der Ambivalenz des Erlkönigs verknüpft ist.

4.2.2.5 Die Rhythmisierung des Metrums Die Ambivalenz der Gestalt des Erlkönigs tritt noch deutlicher in der rhythmischen Wertigkeit des Metrums zutage. Vor allem die metrischen Echos, deren Funktionsweise Goethe von Herder übernimmt, aber auch die metrisch-akzentischen Elemente des kontrollierten Sprechens bringen diese Ambivalenz hervor, die von den Dualismen der Interpretationen (Vater vs Sohn, Vater/Sohn vs Erlkönig, Vernunft vs Gefühl, Rationalität vs Irrationalität) verschleiert worden sind. Wo die Deutungen nur Antagonismen gesehen haben, schafft der Rhythmus Kontinuitäten, die die beruhigende Trennung zwischen dem Beschützenden und dem Bedrohlichen aufheben und das Feld des Unheimlichen erzeugen. Das Metrum beruht auf dem Volksliedvers (vier Hebungen mit freier Senkungsfüllung), den auch Herder in seiner Übersetzung verwandte. Ich notiere jeweils die Hebungen, die Senkungen und die Wortakzente, so daß vier diakritische Zeichen Verwendung finden: ( χ ) für eine Senkung ohne Wor-

144

takzent, ( χ ) für eine Senkung mit Wortakzent, ( χ ) für eine Hebung mit und ( x) für eine Hebung ohne Wortakzent.19 Erlkönig V

I

— w

ν



w



w



Wer reitet so spät durch Nacht und Wind ? W



W

·

ν

w



w



Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl inw dem Arm, U U W W — Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. V

II



V



w

V



W

^



Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht ? V

— W

w

W

_

V V



Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht ? Den Erlenkönig mit Krön und Schweif ? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. III

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir ! Gar schöne Spiele spiel ich mit dir: W



W



W



W

W



Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand." IV

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht ? V

— W



w

— W

V



Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der W i n d V

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn ? V W



w



w

w



w



Meine Töchter sollen dich warten schön; V W



W



W

W



W W



Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich ein."

19

Ich gehe davon aus, daß alle Einsilber, die nicht zur Klasse der Atona gehören (Substantive, Adjektive, Verben, Adverbien) einen Wortakzent besitzen und die Atona, also die pro- und enklitisch gebrauchten Präpositionen, Artikel und Pronomen unbetont bleiben. Das proklitische Pronomen mein ist durch das Anrufungsmotiv, die insistierenden Wiederholungen ebenfalls akzentuiert.

145 V

VI

— W

V

— W

W



w

ν



Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort ? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau: W — W W — W — W W — Es scheinen die alten Weiden so g r a u -

VII

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." V

— w

w

— w

v



w

w



Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an ! Erlkönig hat mir ein Leids getan ! -

VIII

Dem Vater grauset' s, er reitet geschwind, Er hält in den Armen das ächzende Kind, W



W



W



WW



Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot.

Das kontrollierte Sprechen manifestiert sich in der ersten Strophe durch die geringe Zahl der Gegenakzente (d.h. der unmittelbaren Aufeinanderfolge zweier betonter Silben, also der Folgen χ χ und χ χ), wodurch die vierhebige metrische Ordnung rhythmisch dominiert. In V 2 - 4 fehlen die Gegenakzente völlig. Nur in I 1, also demjenigen Vers, der durch die Frageform, die Naturmetaphorik und das Eilmotiv („so spät") das Unheimliche ankündigt, finden sich zwei Gegenakzente: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind ? (I 2)

„Wer" ist nicht nur betont (weil die Interrogativpronomen zur Klasse der betonten Einsilber gehören), sondern auch prosodisch markiert und zwar doppelt: durch die Antizipation des /v/ in „Wind" und durch das /er/, das nicht nur ein Echo des Titelwortes bildet, sondern als prosodisches Thema die ganze erste Strophe durchzieht. Diese dreifache Hervorhebimg des einleitenden Interrogativpronomens entspricht seiner semantischen Gewichtung. Die Frage nach dem „Wer" durchzieht die ganze Ballade und kann hier also nicht unbetont sein. Auch der zweite Gegenakzent auf „so" hat systematischen Charakter, denn er wird in Π 1 („so bang") wieder aufgegriffen. Die Gegenakzente des ersten Verses kündigen schon die Auflösung des kontrollierten Sprechens an, die dann in der zweiten Strophe beginnt. Der erste Vers der zweiten Strophe kann deshalb direkt an den Einleitungsvers anknüpfen, der als rhythmisch-prosodisches Echo wieder aufgenommen wird:

146 ν

Wer V

was



^

reit

ν

et



so

w



spät (II)

V

birgst du

so



bang (II 1)

In der zweiten Strophe im zweiten Vers findet sich auch schon das später bis zum Schrei gesteigerte Anrufungsmotiv (χ χ χ), allerdings noch nicht in der V



w

endgültigen Gestalt (Mein Vater) sondern in der Form: Siehst, Vater,

(112)

Der einzige Vers dieser Strophe ohne Gegenakzent (Π 3) hat die gleiche Betonungsfolge wie 12: Den Erlenkönig mit Krön und Schweif ? - (II 3) Es ist der Vater mit seinem Kind; (I 2)

Beide Verse weisen nicht nur die gleiche Akzentik (und damit auch die gleiche Silbenzahl), sondern auch die gleiche Mittelzäsur und eine von der Konjunktion „mit" eingeleitete Adverbialgruppe auf. So wird dieser Vers der zweiten Strophe zu einem rhythmischen Paradigma des zweiten Verses der ersten Strophe und damit zu einer möglichen Alternativantwort auf die Frage nach dem „Wer". Sie bekräftigt also die Präsenz des Erlkönigs im ersten Vers. Um diese rhythmische Parallelität zu verwirklichen, mußte Goethe hier die phonetische Variante „Erlenkönig" (statt „Erlkönig") verwenden. Die Verwendung beider Varianten („Erlenkönig" taucht nochmals in IV 2 auf) unterstreicht aber auch die Ambivalenz der Erlkönig-Gestalt durch die Inkonsistenz des Signifikanten: Erlkönig ist der, der sich verwandelt: in seiner Erscheinung, in seinem Namen und in seiner Rede. In ΠΙ 1 zeigt sich erstmals, wie Goethe Herders metrische Echos verwendet. Sie sind im Erlkönig, anders als bei Herder, kein Paradigma der Intimität (Intimität zwischen Herrn Oluf und der Erlkönigtochter und zwischen Herrn Oluf und seiner Mutter), denn sie tauchen an keiner Stelle des Vater-SohnDialoges auf. Die Annäherung zwischen den Sprechern, die sie bewirken, ist hier anderer Natur. Etwa, wenn der Erlkönig im ersten Vers von ΠΙ das jambische Betonungsmuster des Vater-Verses von Π 4 als metrisches Echo wiederaufiiimmt: Mein Sohn, es „Du

lieb

ist

ein

Nebelstreif.- (IV 2)

es Kind, komm, geh mit mir ! (III 1)

Nicht nur in der Silbenzahl, auch im Betonungsmuster paßt sich der Erlkönig an den Vater an: Er spricht mit der Stimme des Vaters. Und zugleich besitzt seine Rede die Merkmale des kontrollierten Sprechens durch den Rückgang

147 der Gegenakzente in dieser Strophe. Man könnte seine Rede sogar als hyperkontrolliertes Sprechen bezeichnen, denn die metrischen Elemente, und damit die Elemente der Kontrolle, werden überbetont, indem sich die Verteilung der Hebungen und Senkungen einem festen Schema annähert: w

ν



ν

Gar schöne Manch bunte Meine Mutter



w

_

w

w



Spiele spiel ich mit dir: (III 2) Blumen sind an dem Strand, (III 3) hat manch gülden Gewand." (III 4)

Erst im letzten Vers wird das kontrollierte Sprechen durch die erhöhte Silbenzahl, die Zunahme der Wortakzente (neben den metrisch betonten Positionen sind auch „Meine" und „manch" betont) und die zusätzlichen prosodischen Markierungen mehrerer Senkungspositionen (außer Imi in „Meine" und „manch" auch /g/ in „Gewand" als Echo auf „gülden") aufgelöst und der Übergang zu der Rede des Sohnes geschaffen. Dieser Übergang ist insofern bemerkenswert, als der Sohn sich hier noch durch die Abweichung von der Akzentik, der Silbenzahl und der syntaktischen Aufteilung des vorangehenden Verses von dem Erlkönig absetzt: Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht (IV 1)

Dieses Betonungsmuster mit dem verdoppelten Anrufungsmotiv (χ χ χ) wird von nun an jede Rede des Sohns einleiten. Die Angst beginnt von nun an auch auf den Vater überzugreifen. In IV 3 steht sein Sagen auf der Seite der Kontrolle, aber der Rhythmus ist deijenige der Angst: mit der Dreiteilung des Verses, dem Anrufungsmotiv und den Gegenakzenten. Erst im vierten Vers wird diese Kontrolle durch geringere Silbenzahl und fehlende Gegenakzente auch rhythmisch realisiert: In dürren Blättern säuselt der Wind. -

(IV 4)

Aber die Worte des Vaters können trotz der Elemente der Kontrolle das Unheimliche nur verstärken, denn das Betonungsmuster der Worte des Vaters ist identisch mit dem metrischen Schema der Erlkönigstrophe (ΙΠ 2-4). Im kontrollierten Sprechen des Vaters spricht der Erlkönig mit. Und auch umgekehrt geht wieder die Rede des Erlkönigs in V aus derjenigen des Vaters hervor, allerdings nicht metrisch, sondern durch die Silbenzahl und den prosodischen Übergang „fFind"-„PFillst". Wie in ΠΙ ist auch diesmal eine Tendenz zu einer metrischen Schematisierung erkennbar. Isselstein Arese hat die Korrespondenzen der Strophe V in einer Graphik wiedergegeben:

148 (xxx)

(xxx)

(xxxx)

(xxx)

(xxx)

(xxxx)

(xxx)

(xxxx)

(xxx)

(xxxx) (Isselstein Arese 1979: 37).

Das Prinzip des metrischen Echos wird dann wieder beim Übergang der zweiten Erlkönig-Rede zur Sohn-Rede in VI 1 wirksam.21 Die polysyndetische „und" Reihung in V 4 unterteilt den Vers in drei rhythmische Gruppen:

Diesmal übernimmt der Sohn exakt die rhythmische Gliederung des Erlkönig·Verses (VI 1). Das Sprechen des Erlkönigs ergreift den Sohn, bevor sich der Erlkönig seiner ganzen Person bemächtigt. Dasselbe Ergriffensein des Kindes durch die Sprechweise des Erlkönigs findet sich in VII 2+3 wieder: —

W

V

V



Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." (VII 2) Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an ! (VII 3)

So wie das Sprechen des Erlkönigs hier das Sprechen des Sohnes dominiert, wird in dieser Strophe (VE) auch das Alternieren der Vater-Sohn-Strophen mit den Erlkönig-Strophen durchbrochen und der Sohn in die ErlkönigStrophe hineingezogen. Die letzte Strophe schließlich sucht die Distanz zum Schrecken, den Abstand zum Geschehen. Die Gegenakzente verschwinden, die Mittelzäsur setzt sich durch und die Betonungsmuster der ersten Strophe werden wieder aufgegriffen. Der dritte Vers wiederholt das Betonungsmuster aus I 3 und der vierte das aus I 2. Die Distanzierung von dem Geschehen zeigt sich auch in dem einzigen Gegenakzent der Strophe auf dem einzigen Präteritum der 20

21

Isselstein Arese schreibt dazu: „Zeile 1 und 2 haben die letzten Kola gemeinsam (xxx) (xxx), Zeile 2 und 3 die beiden ersten (xxxx) (xxx) und Zeile 3 und 4 wiederum die beiden letzten (xxx) (xxxx) [...]." (a.a.O.). Als eine der wenigen Interpreten hat Isselstein Arese diese rhythmischen Bezüge gesehen. Sie spricht von der „Kontaminierung des Kindes durch die Worte des Erlkönigs" und fügt hinzu: „Die Sprache spiegelt damit auf perfekte Weise die immer tiefere Verstrickung des Kindes wider [...]." (Isselstein Arese 1979: 38).

149 Ballade („war", Vili 4), der das Geschehen in eine weite Ferne zu rücken scheint. Das kontrollierte Sprechen gibt Goethe den Rahmen, den er braucht, um den Schrecken sagen zu können.

4.2.2.6 Prosodische Figuren der Vater-Erlkönig-Kontinuität Der Ausdruck Prosodie wird hier von Henri Meschonnic übernommen, der den Begriff in einem erweiterten Sinne verwendet. Die Prosodie ist nicht mehr nur auf die Intonation beschränkt (Stimmhöhenverlauf, Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke etc.), sondern umfaßt die gesamte lautliche Modellierung der Sprache, insbesondere die vokalisch-konsonantische Organisation. Daher ist die Prosodie auch im geschriebenen Text wirksam, (siehe auch Kapitel 1.4). Wenn hier also nicht, wie sonst allgemein üblich, von „Klangstrukturen", „Klangbeziehungen", „Lautfiguren" etc. gesprochen wird, so um zu verdeutlichen, daß es nicht um ein formales Phänomen geht, das die Trennung von Laut und Bedeutung, Form und Inhalt voraussetzt. Denn eine solche Dichotomie führt entweder zur völligen Ausklammerung der phonematischen Seite aus der Bedeutung oder dazu, daß die lautliche Dimension als Imitat der Bedeutung aufgefaßt wird.22 In beiden Fällen wird die lautliche Natur des Signifikanten nicht als bedeutungskonstituierend angesehen. Die Prosodie als vokalisch-konsonantische Gestaltung hingegen ist vom Sinn nicht zu trennen; sie gewichtet, modifiziert, verbindet und kontrastiert die Signifikanten, so daß sie in gleichem Maße wie Lexik und Syntax die Bedeutungsweise der Rede prägt.

22

Häufig sind beide Konsequenzen der Form-Inhalt-Dichotomie gleichzeitig wirksam, etwa bei András Horn, der das sprachliche Kunstwerk durch den Inhalt, durch seine „übergeschichtliche" Objektivität definiert, die er von der sprachlichen Form trennt: „Kurz: der Inhalt im hier gemeinten Sinne ist Seelisches oder Gedankliches; als etwas, das prinzipiell nicht sinnhafi, nicht räumlich ist, ist er allemal Geistiges, welches im Vollzug der Rezeption von uns hinter den sinnlichsinnhaften Vordergrund hinaus verlegt wird, (so daß wir) [...] das Erlebnis haben, als würde dieser Inhalt aus der Objektivität heraus auf uns vermittelt [...]." (Horn 1993: 216). Die Ausdrucksseite dient der Nachahmung des „allemal Geistigen": „Die Form wiederholt »pleonastisch« den Inhalt." (a.a.O. 229). Die Trennimg von Form und Inhalt macht aus der Bedeutung eine immaterielle, überzeitliche Substanz, die unabhängig von der Funktionsweise der Sprache als differentiellem System bleibt.

150 Der Rhythmus der Ballade ist auch ein prosodischer Rhythmus, ein Rhythmus jenseits der Reduzierung der Prosodie auf die mimetische Projektion, ein Rhythmus, der im kontrollierten Sprechen und im Unheimlichen der Vater-Erlkönig-Sohn-Kontinuität wirksam ist. Die wichtigste prosodische Figur des kontrollierten Sprechens ist dabei die phonematische Markierung des Versendes: Dasselbe Phonem erscheint jeweils am Anfang und am Ende eines Verses. Diese Figur tritt in der ersten Strophe in allen vier Versen auf. Im ersten Vers wird sie konsonantisch („Wer"/„fPlnd", 11), in den folgenden drei Versen vokalisch realisiert und fällt jeweils auf die erste und letzte Hebung („j'st"/„Kmd", I 2; „hat'V^rm", I 3; „foßf7„warm", I 4). Die Prosodie hebt so die Einheit des Verses als ein festes, voraussagbares Element der Kontrolle hervor. Die metrische Ordnung steht hier noch gegen das Unheimliche. In der zweiten Strophe ist diese Versendmarkierung trotz der einsetzenden Angst-Thematik noch immer wirksam („Solm"/„Gesicht", „Siehst"/,,nzcht", „Mem"/„Nebelstre z'f').23 Im dritten Vers, in dem die Gestalt des Erlkönigs am stärksten hervortritt, fällt die Versendmarkierung dagegen weg. Sie wird aber in der ersten Erlkönig-Rede der folgenden Strophe in zwei von vier Versen fortgeführt („lieben"/„mir", m 1; „Manch"/„Strand", ΙΠ 3). Auch prosodisch geht also das kontrollierte Sprechen auf den Erlkönig über. Dazu tragen noch die Alliterationen und Assonanzen bei, die die Hebungen zusätzlich akzentuieren und so eine Hypermetrisierung der Verse bewirken: Gar schönt Spiele spiel ich mit dir: (III 2) Manch bunte ¿lumen sind an dem Strand, (III 3)

In der vierten Strophe verschwinden die Versendmarker. Nur im letzten Vers, wo die Kontrolle sich nochmals gegen die Angst zu behaupten sucht, kehren sie zurück („/«"/„Wi'wd"). Vor ihrem endgültigen Verschwinden finden sie sich dann ausschließlich beim Erlkönig, und zwar nicht nur in seinen Verführungsreden („Töchter"/"schön", V 2; „Meine"/ „Reih/j", V 3), sondern sogar im Augenblick der Gewalttat selbst („/iebe"/ „Gesta/t"). Die Kontrolle, die am Anfang der Ballade gegen das Prinzip des Unheimlichen steht, wird so in die Funktionsweise des Unheimlichen integriert. Der Erlkönig vereinnahmt das Prinzip der Kontrolle und löst es zugleich auf. Diese

23

Daß die Phoneme sich durch die Merkmale stimmhaft/stimmlos und lang/kurz voneinander unterscheiden, könnte man allerdings als Indiz einer Auflösung des kontrollierten Sprechens deuten.

151 Auflösung läßt sich an Phänomenen beobachten, die man als rhythmische Ausweitungen bezeichnen könnte: Ausweitung der Erlkönig-Rede durch die allmähliche Steigerung der Silbenzahl von Vers zu Vers, durch das Enjambement in V 3 und durch das Übergreifen der prosodischen Akzente auf die metrisch imbetonten Positionen, zunächst in den letzten Versen der ersten beiden Erlkönigstrophen: ν

w

>

w



ν



w

w



Meine Mutter hat manch gülden Gewand." (III 4) w

·

w

w



w

w

w



Und wiegen und tanzen und singen dich ein" (V 4)

Und schließlich in VII 1, dem einzigen Vers mit zwölf Silben, wo die rhythmische Ausweitung ihren Höhepunkt erreicht. Hier ist jedes Wort mehrfach prosodisch markiert: W



W

W

W



V

u



w

W

—.

,Jch liebe dich, mich reizt deine schöne Gestell; (VII 1)

Rationalität und Irrationalität sind im Erlkönig genauso wenig Gegensätze, wie Kontrolle und Gewalt. Die Stimme der Begierde verwandelt sich, wie Mephistopheles, und paßt sich der Gestalt ihres Gegenübers an, bevor sie ihr wahres Gesicht zeigt. Vom Rhythmus her gelesen löst sich also die Grenze auf, die man zwischen dem Vater und dem Erlkönig ziehen wollte, zugunsten einer Kontinuität zwischen den Aktanten, und zwar zwischen allen Aktanten. Bislang wurde in der £r/tó«/g-Forschung vor allem die Erlkönig-Sohn-Kontinuität hervorgehoben, die als Paradigma des Irrationalen dem „verstandeskühlen" Vater gegenübergestellt wurde. Der Rhythmus realisiert diese Kontinuität zwischen Erlkönig und Sohn als Konflikt, als Vernichtung des Einen durch den Anderen. Diese Vernichtung und der Widerstand gegen sie wirkt bis in die Prosodie hinein. So ergreift in VI 1 den Sohn nicht nur das Betonungsmuster des Erlkönigs aus V 4, sondern seine Worte werden auch zu einem prosodischen Echo auf die des Erlkönigs {„und singen dich", V 4 wird in VI 1 zu „und siehst du nicht"). Doch bis zuletzt gibt es auch einen prosodischen Widerstand gegen die Erlkönig-Rede. In VII, wo der Sohn schon im metrischen Echo gefangen ist, fuhrt dieser Widerstand bis an die Grenze des Schreis mit dem vierfachen lai in betonter Position: V

— U

V

— W

V



W

W



Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an ! (VII 3)

Doch dieser Schrei steht seinerseits bereits in der Gewalt des Erlkönigs, in der Gewalt des Signifikanten „Gewalt", mit dem der vorangehende Erlkönigvers endet und dessen betonte Silbe /valt/ vokalisch (durch das betonte lai) und konsonantisch (durch das IM und den Labiodental /v/, der in VII 3 zu Ifl

152 wird) im Schrei des Sohnes fortgeführt wird. Die Kontinuität zwischen Erlkönig und Sohn verwirklicht sich durch die allmähliche Auflösung des Sohnes in der Rede des Erlkönigs. Insofern offenbart sich in dieser Kontinuität vor allem ein vernichtender Antagonismus. Die andere Kontinuität, diejenige, welche die dualistischen Deutungsschemata bislang verdeckt haben, ist die zwischen Vater und Erlkönig.24 Auch sie findet sich (neben den metrischen Echos) im prosodischen Rhythmus wieder. Die Worte des Erlkönigs schließen an die Worte des Vaters an: Wenn der ,flebelstreif in Π 4 nur eine sehr entfernte prosodische Fortsetzung in den „jB/umew" und dem „Strand" der Erlkönigstrophe erfährt, so schließt das „fF/llsf" in V 1 unmittelbar an den „Wind" des vorhergehenden Verses an. Und das grau" des Vaters in VI 4 findet sein prosodisches Echo in dem o brauch" des Erlkönigs in VU 2; so wie aus dem scheinen die alten" (VI 4) im folgenden Vers das „deine schöne Gestalt" wird. Die Worte des Erlkönigs entstehen buchstäblich aus den Signifikanten des Vaters.

24

In einzelnen Interpretationen wird allerdings mehr oder weniger explizit auf Elemente einer Vater-Erlkönig-Kontinuität hingewiesen. Das kurioseste Beispiel einer solchen Assoziation zwischen dem Erlkönig und dem Vater findet sich bei Martin Behrendt, der, nachdem er die 7. Strophe eindeutig dem Erlkönig zugeordnet hat („die Schlußszene, in der der Erlkönig Gewalt braucht (Str.7)." (Behrendt 1981: 52), in einer „Bauplanskizze" dieselbe Strophe als „Vater/Sohn-Dialog" bezeichnet (a.a.O., 52). Aufschlußreicher als diese offensichtliche Fehlleistung sind die Ausführungen von Danièle Pic, die den Erlkönig als den „andern Vater" („un autre père") bezeichnet hat. Ausgehend von dem „Roi des Aulnes fantasmé par l'enfant" schreibt sie: „[...] dès lors va s'opérer la rupture entre le père et son enfant. Un nouveau couple se forme, en surimpression. L'un des éléments est le même enfant, mais le père est un autre père, qui ne protège plus celui-là, il est même invisible aux yeux du »normal« [...]. Peut-être sont-ils une seule et même figure, deux faces de la même imago, séparés littéralement, mais unies aussi sur la chaîne signifiante [...]." (Pic 1990: 158). Im gleichen Jahr ist auch ein Aufsatz von Elisabeth J. Bik und Ria Lemaire erschienen, in dem der Erlkönig als die fürchterliche Seite des Vaters („l'aspect terrible du Père") bezeichnet wird: „Notre hypothèse sera: Le Fils est arraché au Père bon, juste, fort et bienveillant par l'Autre, qui est soit l'aspect terrible du Père, son Double démoniaque, soit un autre agresseur masculin." (Bik/Lemaire 1990: 121). Was hier von Bik/Lemaire noch als Hypothese und von Pic als Vermutung („Peut-être") formuliert wird, belegt die Analyse des Rhythmus auf vielfältige Weise: Die Kontinuität zwischen dem Vater und der Gestalt des Erlkönigs.

153 Und umgekehrt entsteht der Vater aus dem Signifikant „Erlkönig". Beide teilen miteinander die Silbe „er". Goethe motiviert den Namen der Titelfigur, indem er in der ersten Strophe das prosodische /er/-Thema, in jedem Vers leitmotivisch wiederkehren läßt. Schon das erste „Wer" in I 1 greift den Balladentitel wieder auf (prosodisch ist der Erlkönig also im ersten Vers präsenter als der Vater, der erst im zweiten Vers erscheint). Die folgenden /er/ nicht nur in I 2 („der Vater"), 25 sondern auch in I 3 („£r hat") und dann zweimal in I 4 („Er faßt" und „er hält") festigen, auch wenn sie sich syntaktisch nur auf den Vater beziehen, gerade durch das anaphorische Insistieren die rhythmische Assoziation mit dem Erlkönig. Auch in der letzten Strophe geht der verseinleitenden /er/-Serie („er reitet", Vin 1, ,JLr hält", VIE 2 und „erreicht", VIII 3) der ebenfalls am Versanfang stehende Signifikant „Erlkönig" in VE 4 voran. Die Silbe /er/ fungiert also als rhythmischer Konjunktor zwischen dem Vater und dem Erlkönig. Wie stark die Verbindimg zwischen Vater und Erlkönig ist, zeigt sich auch in der rhythmischen Wertigkeit des Anrufungsmotivs, mit dem der Sohn zwar immer wieder an den Vater appelliert (Mein Vater), das aber als Akzentmuster (χ χ χ) durch die metrische Positionierung des Signifikanten Erlkönig am Versanfang (in VI 2 und VII 4) zugleich den Erlkönig evoziert. Das Unheimliche der Ballade, ihr Rhythmus, beruht auf dieser doppelten Wertigkeit des Erlkönigs bis hinein in das Motiv des väterlichen Im-ArmHaltens, das die erste Strophe so eindringlich hervorhebt. Denn die gleiche Lexik, die in der ersten Strophe den väterlichen Schutz evoziert („Er faßt ihn sicher", I 4), dient in VII 3 der Bezeichnung der Gewalttat (,jetzt faßt er mich an"). Und auch hier ist der Vater noch in dem Signifikanten „faßt" als prosodisches Echo präsent („Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er"). Nur ein einziges Phonem trennt „Vater" von „faßt er".26 Diese Ambivalenz des Erlkönigs und mit ihr die Bedeutungsweise des Gedichtes zu entdecken, die durch die dualistische Deutungstradition mit ihren Gegensatzpaaren von rational und irrational, gesund und krank, Vernunft und Phantasie bislang mehr oder weniger verschleiert worden war, wird möglich, wenn man beginnt, die Ballade vom Rhythmus her zu lesen.

25 26

Auch wenn das „er" in „Vater" als abgeschwächtes /B/ realisiert wird. Hierzu Rainer Stefan Zons: „[...] nie verwechselt der Knabe den Vater mit Erlkönig. Der »sichere«, «warme« Griff des Vaters ist nicht Erlkönigs Griff, und dennoch greift Erlkönig nach dem Knaben und «braucht Gewalt«." (Zons 1980: 125).

5

Die Sterntaler - Der Rhythmus eines Prosatextes

Der metrische Rhythmusbegriff erschwert den Zugang zum Prosarhythmus, denn wo es keine metrische Struktur gibt, entfällt für ihn auch die Möglichkeit einer Beschreibung des Rhythmus. In Kapitel 3 wurden die Probleme analysiert, die sich daraus für linguistische Rhythmusmodelle ergeben. Daher wird in der folgenden Rhythmusanalyse nicht von einer formalen Struktur ausgegangen, sondern von der semantischen Funktionsweise der Signifikanten im jeweiligen Wert-System der Rede, also vom Rhythmus als Bedeutungsweise im Sinne Meschonnics (siehe Kapitel 1). Die Kopplung von Rede, Sinn und Rhythmus eröflhet die Möglichkeit der linguistischen Beschreibung des Sprachrhythmus jenseits des Metrums, also in jeder beliebigen Sprachäußerung, mag sie der geschriebenen oder gesprochenen Sprache angehören, alltagssprachlich oder poetisch sein. Dies zeigt sich besonders deutlich im Sterntalermärchen, das, obgleich als geschriebener Text konzipiert, von der gesprochenen Sprache herkommt und in seiner poetischen Gestalt durch und durch der Alltagssprache verpflichtet bleibt.

5.1 Sprecher- oder Textrhythmus ? Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich nicht um die erste Rhythmusanalyse des Sterntalermärchens. Schon Christian Winkler hat sich in Deutsche Sprechkunde und Sprecherziehung (1954) mit der Frage nach dem Rhythmus in diesem Grimmschen Märchen auseinandergesetzt. Ihm ging es dabei vor allem um den Nachweis, daß auch Prosa Rhythmus besitzt. Winkler versuchte, den Rhythmus des Textes folgendermaßen zu veranschaulichen:

156 Auch Prosa kann sich ins Rhythmische steigern, in jenem Einklang des Leibes und Geistes schwingen. In Grimms Sterntalermärchen zeigen die Sinnschritte ein deutliches Streben, sich zeitlich anzugleichen, während der Ort der Gewichte im Sinnschritt ziemlich frei wechselt. Schlägt man, um sich das bewußt zu machen, eine Füllkurve mit - hier eine liegende Acht —, so schwingt die Hand sehr gleichmäßig hin und her, der Sprachstoff aber verteilt sich jeweils auf eine Schwingung und läuft drum mal schnell, mal langsam. Diese Tempoverschiebungen sind nicht logisch-verständig begründet (etwa das Gewichtige langsam, das Unwichtige rasch), sondern folgen offenbar einem rhythmischen Bedürfnis.

OO

Es war einmal ein ¡deines Mädchen, •· dem war Vater und Mutter gestorben, ·* und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, — und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr, — als die Kleider auf dem Leib >~ und ein Stückchen Brot in der Hand, M— das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. — . . . (Hand kehrt ohne Wort nach rechts zurück!) — Es war aber gut —und fromm. — Und weil ts so von aller Welt verlassen war, —ging es im Vertrauen auf den lieben Gott — hinaus ins Feld.

(Winkler 1954: 237) Das Vorgehen Winklers erinnert an die Klopfmethode Abercrombies zum Nachweis isochroner Sprachmuster. Winkler dirigiert den Text im wahrsten Sinne des Wortes, um so jenen Rhythmus deutlich hervortreten zu lassen, der tatsächlich erst aus der an die Annbewegung angepaßten Rezitationsweise entsteht. Um den Text in der von Winkler intendierten Weise zu rezitieren, muß man - wie Winkler ja selbst einräumt - enorme Temposchwankungen in Kauf nehmen, die zu eigenartigen, durch den Text nicht zu begründenden Verfremdungseffekten führen: So müßte „und es war so arm" sehr langsam, „daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen" dagegen mehr als doppelt so schnell gesprochen werden, wenn man von einer einigermaßen gleichmäßigen Kurvenbewegung ausgeht. Auch die lange Pause, die Winkler vorschreibt, läßt sich aus dem Text selbst nicht ableiten. Man könnte bei Winkler von einer Metrisierung des Textes sprechen, und diese Metrisierung erklärt sich aus seinem Rhythmusbegriff. Winkler knüpft einerseits an Eduard Sievers (siehe Kapitel 2.1.1.) und andererseits an den metrischen Rhythmusbegriff von Ludwig Klages an: Welche Sachverhalte meinen wir, wenn wir von »Rhythmus« sprechen? Das eigentümlich Rhythmische etwa der Schaukelbewegung, schildert Klages, liegt in

157 der Wiederkehr ähnlicher Bewegungsabläufe, in ihrer »gegliederten Stetigkeit«. (Winkler 1954: 235) 1

Winklers gestische Textinterpretation demonstriert auf anschauliche Weise, wie der metrische Rhythmusbegriff zu einer Formalisierung des Sprachrhythmus führt. Die choreographische Transposition, auf die Winkler zurückgreifen muß, zeigt deutlich die durch den metrischen Rhythmusbegriff bedingte Kluft zwischen Rhythmus und Sprache. Jürgen Janing hat zwanzig Jahre später Winklers gestische SterntalerDeutung seiner eigenen Rhythmusanalyse zugrunde gelegt. Auch Janing geht es in seinem Aufsatz unter anderem um die „rhythmische Komposition" des Märchens (Janing 1974: 180), die „rhythmische Struktur des Textes" (a.a.O., 182), und er sucht nach der „Realisierung einer dem Märchen selbst entnehmbaren Ausdrucksstruktur" (a.a.O., 182); aber was er beschreibt, sind wiederum seine eigenen den Text begleitenden Bewegungen und die Bedeutung, die er in sie hineinlegt: Die weithin schwingende Bewegung, durch welche die Sanftheit des Mädchens schon in den ersten Sätzen hervortritt, ist Grundrhythmus des ganzen Märchens. (a.a.O., 184) '

Janing bedient sich der mimetischen Projektion, also der ad-hoc-Projektion des Inhalts in die Form,2 um die Trennung zwischen gestischer Rhythmisierung und textuellem Sinn zu kompensieren. Nach demselben Prinzip leitet er den gestischen Rhythmus aus dem Text ab. So gibt er für die Notwendigkeit einer „nachdrücklichen Fallbewegung der Füllkurve" (a.a.O., 185) folgende Begründung: Die im Verbum »fielen« bezeichnete Bewegung ist schon im Artikulatorischen angelegt (die Spannung der Spirans f »fällt« in die Lösung des nachfolgenden Vokals), die Bewegung erfährt im Zusammenwirken dieser und der gesamtrhythmischen Komponente ihre sprecherische Verwirklichung. (a.a.O.)

Diese Ableitung beruht auf einer doppelten Projektion: die lexikalische Bedeutung eines Signifikanten wird in die Artikulationsweise eines Phonems

2

Obwohl Klages den Gegensatz zwischen Metrum und Rhythmus immer wieder betont hat, so überschreitet er dennoch nicht die Grenzen des metrischen Rhythmusbegriffs, der Ableitung des Rhythmus aus dem metrischen Ideal: „Wiederholte der Takt das Gleiche, so muß es vom Rhythmus lauten, es wiederkehre mit ihm das Ähnliche [...]." (Klages 1934: 32). Siehe dazu auch Kapitel 4.1.2.2.

158 projiziert und diese wiederum in die gestische Umsetzung.3 Sowenig wie sich aus dem labiodentalen Frikativ Iii eine Fallbewegung ergibt, läßt sich aus dem Signifikanten „fielen" auf eine „nachdrückliche Fallbewegung der Füllkurve" schließen. Wie Sievers' empathisch ermittelte Bewegungskurven entzieht sich Janings Interpretation der empirischen Nachprüfbarkeit. Auch Otto von Essen hat, allerdings mit anderer Zielsetzung, eine „rhythmisch-melodische Aufzeichnung" des Stemtalermärchens in der von ihm entwickelten Notation vorgelegt. Obwohl es von Essen dabei in erster Linie um die Veranschaulichung der im Hauptteil seines Buches dargelegten Intonationsregeln des Deutschen geht, spielt der Textrhythmus eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn: „Die Intonation steht in enger Abhängigkeit von der rhythmischen Gestaltung des Ausspruchs." (Von Essen 1956: 13). Den Anfang des Märchens (es handelt sich um eine auditive Transkription einer Tonbandaufiiahme) notiert der Autor wie folgt.:

3. Die Stemtaler (Grimm)

1) Es war einmal ein kleines Mädchen.

2) Dem war Vater und Mutter gestorben,

• ·

— /1 *Ί

*

*



— ·

·

·

. .I

3) und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte,

i'··

-



darin zu wohnen,



*

·

j II i

" * iI

4) und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen,

3

Wobei allerdings der Eindruck entsteht, daß Janing Position und Artikulation verwechselt, denn jeder prävokalische Konsonant „fallt in die Lösung des nachfolgenden Vokals", insofern beim Vokal die den Konsonanten bedingende Behinderung des Luftstroms aufgehoben wird.

159

5) und endlich gar nichts mehr, als die Kleider auf dem Leib

i · · · ·

j. . .

/ μ w I·

·

·

j. . . .

und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges

J . j

im I

Herz geschenkt hatte.

(von Essen 1956: 67) Die Tonhöhen sind auf vier Stufen fixiert. Die unbetonten Silben tragen einen Punkt, die betonten einen Strich. Stärker hervorgehobene Silben erhalten zusätzlich einen Akut über dem Strich. Hinauf- oder Hinabschleifen des Stimmtons wird durch Haken an den Längsstrichen, Neuansatz durch nach unten weisende Pfeile über den Punkten bezeichnet. Die Einfachheit und Funktionalität dieser Notation ist in der Tat bestechend und entspricht der didaktischen Zielsetzung des Lehrwerks.4 Das Problem, das sich bei von Essens Methode für die Analyse des Textrhythmus stellt, liegt in der Beziehimg zwischen Intonation und Rhythmus. Zwar impliziert der jeweilige Rhythmus eines Textes auch seine jeweilige Mündlichkeit (z.B. durch Ausrufesätze, Gedankenstriche, den Aufbau der Satzperioden etc.),5 aber diese Mündlichkeit ist nicht identisch mit der Sprecher- und situationsabhängigen Intonation, die sich aus dem Text selbst nicht ableiten läßt. Beispiele für die situative Unvorhersehbarkeit der Intonation sind in dem obigen Ausschnitt aus von Essens Transkription etwa die unterschiedliche Realisierung der parallelen Syntagmen „darin zu wohnen" und „darin zu schlafen", das Fehlen eines Akzentes auf „Stückchen" und die einzelnen Stufen des Stimmhöhenverlaufs. Daher gehe ich im folgenden nicht von der Intonation aus. Das bedeutet aber nicht, daß der Rhythmus nur als Phänomen der geschriebenen Sprache betrachtet wird, da alle hier untersuchten Komponenten des Rhythmus sowohl im Gesprochenen wie im Geschriebenen wirksam sind. Die folgende Rhythmusanalyse unterscheidet sich auch von einer stilistischen Analyse, die die individuellen Abweichungen von einer gegebenen 4

5

Es ging von Essen darum, zur „Klärung der Intonationsfragen des Hochdeutschen" beizutragen und der Lautlehre, Morphologie und Syntax „eine Art methodischer »Intonationsgrammatik« ergänzend an die Seite" zu stellen (im Vorwort, a.a.O.). Siehe Kapitel 2.1.2.

160 Sprachnorm untersucht oder eine Aufstellung formaler Stilmerkmale vornimmt, da zum einen jede Komponente des Rhythmus ausschließlich in Bezug auf ihre Gewichtung im Wert-System der Rede analysiert wird, und zum anderen, da es bei der Frage nach den systematischen Beziehungen der Signifikanten um die semantische Funktionsweise der Rede geht, also auch um den Sinn, oder genauer um die Art und Weise, wie die Rede Sinn macht.

5.2 Das Märchen von der Selbstaufopferung In der Regel wird das Sterntalermärchen als volkstümliche Heiligenlegende gelesen, in der die christliche Tugend der Selbstaufopferung gepredigt wird. So schreibt etwa Christina Koch: Obwohl das Kind keine Heiligengestalt ist und der Stemregen nicht als göttliches Wunder hervorgehoben wird, entsteht der Eindruck, daß wir es mit einer christlichen Legende zu tun haben. (Koch 1983: 40)

Auch Karl Justus Obenauer geht von dem „christlichen Sinn" des Märchens aus, der darin zu finden sei, daß „das barmherzige Kind sein Letztes aus Mitleid opfert" (Obenauer 1959: 326). Ahnlich urteilt Friede Lenz („Auch noch das Letzte opfert die Seele [...]", Lenz 1971: 272), wenn er betont: „Selbstlosigkeit ist das Leitmotiv" (a.a.O., 270). Diese Einschätzung teilt auch Rudolf Geiger, wenn er in seiner Sterntalerinterpretation von „Selbstentäußerung" und immer wieder von „Verzicht" spricht: Der Verzicht "spielt die entscheidende Rolle, auf den Verzicht kommt es überhaupt an" (Geiger 1982: 82). Verzicht und Opfer gehören zusammen: „Das Mädchen weiß um seinen Verzicht und opfert sich freiwillig." (a.a.O.). Was auf der Ebene der Handlungsstruktur plausibel erscheinen mag, wird aber in Hinblick auf die ungeheure Popularität des Märchens schnell fragwürdig. Wenn der Text tatsächlich nur ein christliches Moralexemplum wäre, wieso ist er dann nicht wie zahllose andere Erbauungsgeschichten von den schnell wechselnden Moden des Kinderbuchmarktes hinweggespült worden? Denn das Motiv des die Sterntaler auffangenden Mädchens ziert ja nicht nur die höchste Banknote der Bundesrepublik Deutschland und wird nach wie vor immer wieder von der Werbung aufgegriffen, sondern das Märchen gehört auch immer noch „zu den Lieblingsmärchen der audiovisuellen Medien (Schallplatte, Video)", wie Hans-Jörg Uther im 4. Band seiner Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen feststellt (Grimm/Uther 1996: 287). Die immer wieder zu entdeckende Modernität des Märchens läßt sich durch seine ideo-

161 logischen Prämissen nicht erklären. Sie muß in der poetischen Spezifik des Textes selbst gesucht werden. Da es bei der Frage nach der semantischen Funktionsweise des Rhythmus auch um eben diese Spezifik geht, stellt die folgende Untersuchung zugleich den Versuch einer Annäherung an die Poetik der Kinder- und Hausmärchen dar.

5.3

Die Kinder- und Hausmärchen und die Entstehung des Sterntalermärchens

Mehr als bei anderen Texten drängt sich bei den Grimmschen Märchen, sobald das Problem des Rhythmus ins Blickfeld gerät, die Frage auf: Wessen Rhythmus? Der Rhythmus Jacob oder Wilhelm Grimms oder derjenige der Zuträger aus dem Volk? Oder der Rhythmus des Volkes, der Gattung oder vielleicht der deutschen Sprache überhaupt? Die Frage nach dem Subjekt des Rhythmus ist tatsächlich entscheidend, da der Begriff Rhythmus je nach Antwort eine andere Bedeutung erhält. Es bedeutet etwas anderes, wenn man von dem Rhythmus der Gattung oder aber, wenn man von dem Rhythmus Wilhelm Grimms spricht. Im ersten Fall meint Rhythmus „Struktur", „Gattungsstruktur" (genau, wie der Ausdruck Rhythmus des Deutschen nur Eigenschaften der Sprachstruktur meinen kann), im zweiten kann sich der Begriff auf das sprachliche Wert-System eines Subjekts beziehen, so wie es sich in der konkreten Rede manifestiert. Um zu klären, um was für einen Rhythmusbegriff es sich hier nur handeln kann, ist es nötig, einige Bemerkungen zur Entstehung der Kinder- und Hausmärchen im allgemeinen und des Sterntalermärchens im besonderen vorauszuschicken.

5.3.1 Die Kinder- und Hausmärchen als Volkspoesie Ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für eine Annäherung an den Rhythmus in den Kinder- und Hausmärchen stellt die Konzeption der Volkspoesie dar. Als Relikt der deutschen Romantik durchzieht sie einen Großteil der Grimm-Rezeption. André Jolies (1956), von dem der Ausdruck „Gattung Grimm" stammt, versucht unter ausdrücklicher Berufung auf die Brüder Grimm den romantischen Gegensatz zwischen Natur- und Kunstpoesie zu erneuern, indem er das Begriffspaar in „Einfache Formen" (Naturpoesie) und „Kunstformen" (Kunstpoesie) umbenennt (Jolies 1956:

162 186). Die „einfachen Formen" zeichnen sich dadurch aus, daß sie „sich sozusagen ohne Zutun eines Dichters in der Sprache selbst ereignen, aus der Sprache selbst erarbeiten." (a.a.O., 8). An die Stelle des geschichtlichen Textes tritt somit die übergeschichtliche Sprache, Ausdruck eines ebenso übergeschichtlichen Volkes. Das entscheidende Merkmal der Volkspoesie ist aber, daß sie immer zugleich übergeschichtlich und geschichtlich ist. Erst durch diese Verknüpfung der ahistorischen Transzendenz mit der historischen Immanenz konnte die Volkspoesie zu einem Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung werden, ohne als romantischer Mythos in Frage gestellt werden zu müssen.6 Diese Gleichzeitigkeit des Geschichtlichen und des Übergeschichtlichen bedingt eine radikale Trennung von Signifikat und Signifikant: Wir halten fest und betonen, daß Jacob Grimm im Märchen eine »Sache« erkannt hat, die vollkommen sie selbst bleiben kann, auch wenn sie von anderen mit anderen Worten erzählt wird. (Jolies 1956: 186)

Der Inhalt wird als etwas Zeitloses verstanden, nur die Form ist der Geschichte unterworfen, also auswechselbar, sekundär, denn der Inhalt bedarf ihrer nicht, um mit sich selbst identisch zu bleiben.7 Sogar dort, wo die Konzeption der Volkspoesie kritisiert wird, bleibt sie durch die Form-InhaltsDichotomie wirksam. So sieht Maria Tatar zwar in den Grimmschen Märchen „keine authentischen Schöpfungen des Volkes" (Tatar 1990: 64), aber glaubt dennoch, daß es möglich sei, „die wesentliche und authentische Form von dem zu trennen, was Ausschmückung der Herausgeber oder Künstelei der Autoren ist" (a.a.O., 65). Denn „der harte Kern des Märchens blieb unbeschädigt" (a.a.O., 68). Sie glaubt weiterhin an „die Wahrheit des ursprünglichen Märchens", die „Vorstellungswelt des Volkes" und die „ursprüngliche Bedeutung" (a.a.O., 67f.). Die methodische Konsequenz dieses Festhaltens an der Konzeption der Volkspoesie liegt in der Privilegierung des Signifikats. Das Signifikat wird als das Ursprüngliche und Authentische verstanden. Dem Signifikanten dagegen bleibt nur die Rolle der aus6

7

Dies kann man etwa bei Max Lüthi beobachten, der einerseits den geschichtlichen Wandel des Märchens betont und andererseits Jacob Grimms Formulierung des „Sichvonselbermachens" der Volkspoesie aufgreift und feststellt: „In diesem Sinn hat das Märchen wirklich etwas Überzeitliches oder Ahistorisches - und zwar ganz ohne daß solche zeitlose Geltung von den Erzählern angestrebt werde; sie ergibt sich von selbst." (Lüthi 1975: 32). Auch in der neueren Literatur über die Grimms findet sich diese Stereotype: „Indem sie den Kem der Überlieferung treu bewahrten, faßten sie das Ganze doch in eine Sprache, die ihnen gemäß war." (Gerstner 1994).

163 wechselbaren äußern Schale. Und diese Rolle teilt er mit dem Rhythmus. Denn wenn der Signifikant nur als „Ausschmückung der Herausgeber oder Künstelei der Autoren" verstanden wird, dann ist auch die Gestaltung der Signifikanten im Textsystem, also der jeweilige Rhythmus, keine wesentliche Komponente des Märchens.8 Der Rhythmus wird ausgeblendet, wo das Märchen zur Volkspoesie erklärt wird. Innerhalb der Grimm-Forschung hat Heinz Rölleke wesentlich zu einer Entmythologisierung der Volkspoesie-Konzeption beigetragen. Rölleke hat gezeigt, daß die Brüder Grimm keineswegs von Dorf zu Dorf zogen, um in engen Bauernstuben die Erzählungen uralter Großmütter wortgetreu mitzuschreiben. Denn auf ihrer Suche nach geeigneten Märchen wurden sie hauptsächlich bei gebildeten jungen Damen des Bürgertums fundig, so etwa bei den Geschwistern Hassenpflug, den äußerst belesenen Töchtern eines Kasseler Regierungspräsidenten hugenottischer Herkunft. Da die Grimms aber ihre Quellen in den Anmerkungen zu den Märchen mit Angaben wie „aus den Maingegenden" oder „rheinisch" versahen, konnte der von ihnen erwünschte Eindruck entstehen, daß sie tatsächlich als heimatkundliche Feldforscher tätig waren. Nicht frei von Idealisierung ist auch das Bild der voif ihnen als Quelle namentlich genannten Frau Viehmann: Seit der Vorrede zum zweiten Band der Kinder- und Hausmärchen von 1815 weiß man von Frau Viehmann aus Niederzwehren bei Kassel, sie sei »Bäuerin«, »ächt hessisch«, »nicht viel über fünfzig Jahre alt«, sie erzähle »bedächtig, sicher und ungemein lebendig«. Diese Züge sind ebenso bezeichnend für die von den Grimms bewußt suggerierte Idealvorstellung eines Märchenbeiträgers aus dem »Volk«, der zudem stillschweigend für alle übrigen stehen soll, wie die von ihnen nicht genannten Tatsachen, daß Dorothea Viehmann Frau eines Schneidermeisters war, daß sie - eine geborene Pierson - von französischen Hugenotten abstammte und daß sie durch die Familie des französischen Predigers in Kassel zu den Grimms 8

Die strukturalistische Märchenforschung hat durch ihre Reduzierung der Texte auf Motiv- und Erzählschemata bewußt oder unbewußt die romantische Konzeption der Volkspoesie und ihre Ausblendung des Rhythmus fortgesetzt. So löst etwa Vladimir Propp (1972) das einzelne Märchen zugunsten der Gattungsstruktur auf: „Wir wollen die einzelnen Sujets dieser Märchen untereinander vergleichen. Zu diesem Zweck isolieren wir die Bestandteile der Zaubermärchen nach speziellen Methoden und vergleichen anschließend auf dieser Basis die einzelnen Märchen. So gelangen wir zu einer morphologischen Darstellung, d.h. zu einer Beschreibung der Märchen auf der Grundlage ihrer Bestandteile sowie deren Beziehungen untereinander und zum Ganzen." (Propp 1972: 25). Der Signifikant und damit auch der Rhythmus gehen bei Propp verloren, denn nur die Motive (also nur die Ebene des Signifikats) werden als wesentliche „Bestandteile" betrachtet.

164 geschickt wurde - diese also keinesfalls etwa marchensammelnd über Land gezogen sind. (Rölleke im Nachwort zu Grimm 1984, ΙΠ: 600)

Den Kinder- und Hausmärchen liegt also eine sehr bewußte Auswahl zugrunde, und sie sind alles andere als eine ethnologische Quellensammlung. Aber zugleich zeigt die Präsentation des Werkes durch die Grimms, welchen hohen Stellenwert diese der Idee der Volkspoesie beimaßen, jeder der beiden Brüder allerdings aus anderen Motiven heraus.

5.3.2 Jacob und Wilhelm Grimms Konzeptionen der Volkspoesie Das Interesse an den Märchenstoffen war bei den Grimms von Anfang an literarisch ausgerichtet. Den ersten Anstoß zu ihrer Beschäftigung mit dieser Gattung erhielten die 22- bzw. 21jährigen Brüder Grimm während ihrer Mitarbeit an Achim von Arnims und Clemens Brentanos Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn im Herbst 1807 in Kassel. Das auf Herder zurückgehende Ideal einer ursprünglichen Dichtung des Volkes konkretisierte sich für die Brüder über dieser Arbeit und wurde grundlegend für ihr gesamtes späteres Werk. In seinem Briefwechsel mit Achim von Arnim hat Jacob Grimm seine Konzeption der Volkspoesie dargelegt. Volkspoesie bedeutet für ihn Naturpoesie, und Naturpoesie heißt „alte Poesie". Denn die „alte Poesie" trägt noch die Züge des paradiesischen Ursprungs: „Die alte Poesie ist unschuldig und weiß von nichts." (Jacob an Arnim am 20. Mai 1811, Steig 1904:117). Und die „alte Poesie" besitzt denselben religiösen Status wie die alte Sprache: Glaubst Du mir, daß die Religion von einer göttlichen Offenbarung ausgegangen ist, daß die Sprache einen ebenso wundervollen Ursprung hat und nicht durch Menschenerfindung zuwege gebracht worden ist, so mußt du schon darum glauben und fühlen, daß die alte Poesie und ihre Formen, die Quelle des Reims und der Alliteration ebenso in einem Ganzen ausgegangen sind, und gar keine Werkstätten oder Überlegungen einzelner Dichter in Betracht kommen können. (Jacob an Arnim, Juli 1811, Steig 1904:139)

Die Kunstpoesie, also die neue Poesie, ist dagegen durch den Verlust der Göttlichkeit geprägt. Sie ist für Jacob im besten Falle eine Nachahmung der Naturpoesie.9 Die Fixierung auf die „alte Poesie" eröffiiet den Zugang zur 9

Achim von Arnim betont dagegen in seinem Briefwechsel mit den Grimms immer wieder die Geschichtlichkeit der Poesie („weil es keinen Moment ohne Geschichte giebt als den absolut ersten der Schöpfung, so ist keine absolute Naturpoesie vor-

165 Geschichte der Poesie, indem sie zugleich diese Geschichte selbst für beendet erklärt. Da keine neuere Poesie jemals an die alte heranreicht, muß nun die Philologie das Erbe der Naturpoesie antreten. Der Philologe wird zum Bewahrer der alten Poesie und damit zum Sprachrohr der wahren, aller neueren Literatur überlegenen Dichtung. Jacobs Poetik ist - durch die Ausklammerung der Gegenwart - auch ein Kind des Historismus, insofern der Historismus den Betrachter aus der Geschichtsbetrachtung ausschließen zu können glaubte.10 Historistisch ist daher auch Jacobs Sprachtheorie mit ihrer Idealisierung der „alten" Sprache: Die alte Poesie ist ganz wie die alte Sprache einfach und nur in sich selber reich. In der alten Sprache sind lauter einfache Wörter, aber diese in sich selbst einer solchen Flexion und Biegung fähig, daß sie damit wahre Wunder tun. (Jacob an Arnim, 20. Mai 1811, Steig 1904: 117)

Die Qualitäten der alten Poesie gehen aus der „alten" Sprache selbst hervor, die deshalb mehr und mehr in den Mittelpunkt von Jacobs Interesse rückt. Seine Bemühungen um die Naturpoesie finden daher in der Arbeit an der Deutschen Grammatik (1819-1840) und am Deutschen Wörterbuch (1854— 1862) ihre naturgemäße Fortsetzung. Die Herausgabe der Kinder- und Hausmärchen dagegen hat Jacob nach der Erstausgabe (1812-1815) bezeichnenderweise ganz seinem Bruder Wilhelm überlassen. Wilhelm Grimms Interesse an der Volkspoesie hat dagegen eine andere Ausrichtung. Wilhelm sucht - ganz im Gegensatz zu seinem Bruder - innerhalb des Modells der Naturpoesie einen Ausweg aus der Festlegung der Dichtung auf die „alte Poesie". Denn für Wilhelm war die Arbeit an den Kinder- und Hausmärchen immer auch eine poetische, nicht nur eine philologische Aufgabe. Das Problem der Treue stellt sich für Wilhelm daher anders als für Jacob, für den „Sammeln und Dichten" grundsätzlich „unverträglich miteinander sind" (Jacob an Arnim am 31. Dezember 1812, Steig 1904: 257). So schreibt Wilhelm an Arnim am 28. Januar 1813: Hätten wir verändert, zugesetzt, so wären wir verantwortlich. Wenn Du sagst, es sei ein gewisses Fortbilden und eigener Einfluß gar nicht zu vermeiden [...] so hab

10

handen", an Jacob und Wilhelm am 14. Juli 1811, Steig 1904: 134), und er löst so den Dualismus zwischen Kunst- und Naturpoesie auf, weil dieser die Poesie von der Gegenwart abtrennt (,jede Zeit und jeder Mensch hat sein Recht", 24. Dezember 1812, Steig 1904.249). Aufschlußreich fiir das Problem der Geschichtlichkeit bei Jacob Grimm ist die Untersuchung von Ulrich Wyss: „Das Prinzip Poesie [...] funktioniert [bei Jacob Grimm] als Katalysator der Zersetzung von Geschichte." (Wyss 1979: 52).

166 ich das niemals leugnen wollen. Es ist natürlich, daß, wenn wir etwas selbst empfunden, diese Empfindung auch sichtbar werden muß und ihren besonderen Ausdruck haben. Darum hab ich mir in den Worten, der Anordnung in Gleichnissen und dergleichen gar keine Schwierigkeiten gemacht, und so gesprochen wie ich in dem Augenblick Lust hatte - doch wird ein Hauptmangel im Buch die Ungeschicktheit in poetischen Arbeiten sein, die Du vielleicht und wer die Sache besonders liebt, noch am leichtesten übersieht. ( in: Steigl904: 267)

Wenn für Willielm „ein gewisses Fortbilden und eigener Einfluß gar nicht zu vermeiden" ist, so deshalb, weil die Volkspoesie immer auch aus der Gegenwart des Erzählens entsteht. Die Märchen werden im Erzählen nicht einfach wiedergegeben, sondern wiedererfunden. Und das Erzählen ist eine dichterische Tätigkeit, es schließt die Suche nach dem eigenen Rhythmus ein, die Suche nach dem „besonderen Ausdruck" für das, was der Erzähler „selbst empfunden". Der Rhythmus kann somit gar kein anderer als deijenige des Erzählers sein („Darum hab ich [...] so gesprochen wie ich in dem Augenblick Lust hatte"). Für Wilhelm war daher die poetische Arbeit wichtiger als die philologische („doch wird ein Hauptmangel im Buch die Ungeschicktheit in poetischen Arbeiten sein"). Die unermüdlichen Änderungen und Hinzufügungen, die man von Ausgabe zu Ausgabe beobachten kann, zeugen von dieser poetischen Praxis, von dieser Arbeit am Rhythmus, aus der die Grimmsche Erzählweise hervorgegangen ist. Während Jacob also die Philologie zur wahren Volkspoesie der Gegenwart erhebt, durchbricht Wilhelm durch die Berufimg auf die Volkspoesie gerade die Jacobsche Abwertung der zeitgenössischen Dichtung. Dadurch erhält der Begriff eine völlig andere Ausrichtung. Die Volkspoesie wird zu einem poetischen Ideal, das die Dichtung immer neu zu erreichen sucht und in dessen Dienst auch Wilhelms eigene Bearbeitungspraxis steht. Deswegen schreibt Wilhelm im Vorwort der von ihm besorgten Ausgabe von 1819: Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen wollten, sondern es zugleich Absicht war, daß die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann [...]. (Grimm 1984,1: 16)

Das Märchen Die Sterntaler eignet sich für die Untersuchung dieser poetischen Praxis in besonderem Maße, weil es sich bei diesem Text nicht um die mehr oder minder starke Bearbeitung einer mündlichen oder schriftlichen Quelle handelt, sondern um ein originäres Stück „Volkspoesie" aus der Feder Wilhelm Grimms.

167

5.3.3 Zur Entstehung des Textes Die Sterntaler Das Motiv der vom Himmel fallenden Sterne ist alt. Sternschnuppen galten schon in der Antike als Glückszeichen. In der Ilias (4,75) verkünden sie dem Schiffer günstigen Wind. Wie alt die assoziative Verbindung zwischen den Sternschnuppen und dem Geld bzw. dem Gold ist, läßt sich nur schwer abschätzen, jedenfalls ist sie im deutschsprachigen Raum vielfach anzutreffen: Nach schwäbischem Volksglauben [...] sind die Sternschnuppen Dochtbutzen, die von den Engeln an den Himmelslichtern abgezwickt werden; wer einen findet, wird ein reicher Mann, denn der Butzen ist von Gold und Silber. In der Oberpfalz [...] erzählt man, daß dort, wo eine Sternschnuppe niederfalle, ein Kreuzer, der nie weicht, so oft man ihn auch ausgibt, oder ein Napf Geld zu finden sei. Nach tirolischem Glauben fällt sie auf die Stelle, wo ein Schatz verborgen liegt. (Bolte/Polivka 1918: 234)

Bei den Grimms erscheint das Motiv der vom Himmel fallenden Sterne in einem Märchen mit dem Titel Die Sterntaler, das in der Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen von 1812 noch den Titel Das arme Mädchen trägt. In den von den Grimms angefugten Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen findet sich unter der Nr. 153 folgender Eintrag: Die Sterntaler Nach dunkler Erinnerung aufgeschrieben, mögte es jemand ergänzen und berichtigen. Jean Paul gedenkt seiner in der unsichtbaren Loge 1, 214. auch Arnim hat es in den Erzählungen S. 231. 232 benutzt (Grimm 1984, ΙΠ: 250)

Daß außer bei Grimm das Märchen auch bei Jean Paul und Achim von Arnim auftaucht, erweckt den Eindruck einer gemeinsamen, vermutlich mündlichen Quelle. Die Formulierung „Nach dunkler Erinnerung" ist einmalig in den Anmerkungen zu den Märchen. Rölleke hält es für möglich, daß sich dahinter eine Kindheitserinnnerung an eine Frau Gottschalk in Steinau verbirgt (in: Grimm 1984, ΠΙ: 502). Aber bei genauerer Betrachtung der Quellenlage führen die Spuren in eine andere Richtung. Die Brüder Grimm vernichteten vorsorglich alle Vorarbeiten zu den Märchen, um kritischen Nachforschungen ihrer Zeitgenossen vorzubeugen.11 Nur dank eines glücklichen Umstandes besitzen wir heute Kenntnis von den 11

Dieses Vorgehen ist durchaus verständlich. Denn schon 1811 hatte Arnim an Jacob Grimm geschrieben: „[...] ich glaube es Euch nimmermehr, selbst, wenn Ihr es glaubt, daß die Kindermärchen von Euch so aufgeschrieben sind, wie Ihr sie empfangen habt, der bildende fort schaffende Trieb ist im Menschen gegen alle Vorsätze siegend und schlechterdings untilgbar." (zitiert in: Steig 1904: 248).

168 Vorstufen einer ganzen Reihe der Märchen. Nach dreijähriger Sammlertätigkeit sandten die Grimms 1810 eine Abschrift ihrer handschriftlichen Märchensammlung von Kassel nach Berlin an Clemens Brentano, der damals eine großangelegte Märchenpublikation vorhatte. Als daraus nichts wurde, nahmen Jacob und Wilhelm die Veröffentlichung der Märchen selbst in die Hand. Glücklicherweise vergaß Brentano auch auf die nachdrückliche Bitte der Grimms hin die Rücksendung des Manuskripts, das sich auf diese Weise im Nachlaß des Dichters erhalten hat. In dieser Urschrift findet sich zum Sterntalermärchen nichts weiter als folgender kryptische Eintrag von der Hand Jacobs: Armes Mädchen Kindermährchen von dem armen Mädchen, ohne Abendbrot, ohne Eltern, ohne Bett, ohne Haube u. ohne Fehler, die aber allemal so oft ein Stern sich putzte unten einen hübschen Thaler fand u.s.w J Paul uns. Loge 1. p. 214. (Grimm/Rölleke 1975: 60)

Diese zwei Jahre vor der Erstveröffentlichung der Kinder- und Hausmärchen verfaßten Zeilen sind in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich: Zum einen enthalten sie keine Urschrift des Märchens, nicht einmal ein grobes Handlungsgerüst, sondern nur zwei Motive aus dem Sterntalermärchen. Und zum anderen fehlt dieser kurzen Notiz jeglicher Hinweis auf eine, wenn auch nur dunkel erinnerte, mündliche Quelle. Tatsächlich stellt sie nämlich das wörtliche Zitat aus dem in der letzten Zeile genannten Roman Die unsichtbare Loge (1793) von Jean Paul dar. Damit bleibt das Quellenproblem weiter ungelöst: Auf wen geht nun die Vorlage für die Druckfassung des Märchens zurück? Zwei Lösungsmöglichkeiten bieten sich an. Die eine fuhrt in die Werkstatt von Arnim. Arnim hatte die Vorarbeiten zu den Kinder- und Hausmärchen mit Interesse verfolgt und sogar die Urschriften zu den Märchen bei den Grimms in Kassel eingesehen (Grimm/Rölleke 1975: 353). Dieser Austausch mit den Grimms fand dann seinen Niederschlag in Arnims Novelle Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber, die 1812, also im Jahr der Erstveröffentlichung der Kinder- und Hausmärchen, gedruckt wurde. In dieser Novelle findet sich eine Sterntaler-Episode, die auffällige Parallelen zur Grimmschen Fassimg aufweist: So mochte ich wohl eine halbe Stunde gegangen sein, da begegnete mir ein artig Kind, das bettelte mich an, und bat um ein Schürzchen, und alle meine Verzweiflung wurde Mitleid und ich gab ihm meine blau und weißgestreifte Schürze [...]. Bald kam ein andres Kind und bat um ein Jäckchen, denn ihm friere: ich gab ihm mein braunes Jäckchen [...] und endlich kam ein viertes Kind, da war es schon dunkel geworden, und wimmerte und sagte, daß es kein Hemde habe, da zog ich

169 auch mein Hemde aus, und wollte es ihm reichen, als ich vor mir stehen sah, [...] eine schöne Frau, mit einer goldenen Krone auf dem Haupte [...]. Bei diesen Worten winkte ihre milde weiße Hand den Sternen, und es Selen silberne Münzen in mein ausgespanntes Hemdchen [...]. (Arnim 1812: 589)

Obwohl das Märchen in der ersten Person erzählt wird, eine Marienerscheinung hinzukommt, und sowohl lexikalische wie syntaktische Abweichungen von der Grimmschen Version festzustellen sind, zeugen dennoch viele Elemente (z.B. die Verwendung des parataktischen und, die kam-bat-gab-Serie, der Doppelpunkt, die Häufung der Diminutive) von der Verwandtschaft der beiden Fassungen. Rölleke hat aus dieser Überschneidung den Schluß gezogen, „daß die Novelle Arnims von Einfluß auf die KHM-Druckfassung war" (Grimm/Rölleke 1975: 353). Diese Position hat sich in der GrimmForschung inzwischen allgemein durchgesetzt (Grimm/Uther 1996, IV: 285) Es gibt aber noch eine zweite Möglichkeit, nämlich die, daß Arnim auf eine Grimmsche Vorschrift des Märchens zurückgegriffen hat. Für diese Möglichkeit spricht eine Briefpassage Arnims an die Brüder Grimm vom 24. Dezember 1812, in der Arnim die heikle Frage nach dem Einfluß der Grimms auf die Fassung der Märchen erörtert: Wißt Ihr aber, daß ich meine Behauptung [...], man könne es nicht lassen fortzubilden, schon beim flüchtigen Anblick bestätigt sehe? In dem Fragment, das ich in dem Färber zwischenfugte, von dem Kinde das alles verschenkte, stand fniherhin nicht, daß die Sterne wie Thaler herunterfallen, sondern das war ein andres Fragment bei Euch; seht nach, ich meine dieser Erinnerung gewiß zu sein. (zitiert bei Grimm/Rölleke 1975: 353)

Entsprechend kurz fällt Jacobs Erwiderung aus: Was Du Dir bei dem Märchen vom armen Mädchen nicht erinnerst, steht in Jean Paul, der im Anhang citiert wird. (a.a.O.)

Jacobs ausweichende Antwort wird verständlich, wenn man sie im Zusammenhang mit der Vernichtung aller Vorarbeiten und Vorstufen zu den Märchen sieht, die dazu dienen sollte, eben den Vorwurf des eigenmächtigen Eingriffs in die Märchengestalt vorzubeugen. Jacob weicht Arnim insofern aus, als er ihn auf das Jean-Paul-Zitat verweist, nicht aber von dem Text redet, den Arnim im Auge hat, nämlich von dem Fragment „von dem Kinde das alles verschenkte", das ja bei Jean Paul nicht erwähnt wird. Bei dem fraglichen Fragment müßte es sich also um eine frühere (verlorengegangene) Vorstufe zu dem Sterntalermärchen aus der Feder der Brüder Grimm handeln. In dieser widersprüchlichen Quellenlage wird die genaue Genese des Märchens wohl kaum mehr zu rekonstruieren sein. Die hier vorgenommene

170 Rhythmusanalyse vermag aber immerhin zur Erhellung eines Aspektes seiner Entstehungsgeschichte beizutragen, indem sie wahrscheinlich machen kann, daß Wilhelm Grimm der Verfasser der Erstfassung war.

5.4

Der Rhythmus als Bedeutungsweise in Die Sterntaler

Ausgangspunkt der folgenden Analyse von Die Sterntaler ist die Fassung des Märchens der letzten von Wilhelm Grimm herausgegebenen Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen von 1857: Die Sterntaler Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr, als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte (1). Es war aber gut und fromm (2). Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld (3). Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: „Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungerig" (4). Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: „Gott segne dir's", und ging weiter (5). Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: „Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann" (6). Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm (7). Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin (8). Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: „Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben", und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin (9). Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter harte blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen (10). Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag (11). (Grimm 1984,1: 269)

5.4.1 Die Bildung rhythmischer Themen durch die Akzentik Wenn im folgenden von Akzentik gesprochen wird und nicht von Akzentuierung, so um zu unterstreichen, daß hier nicht von der intonationsbedingten Akzentuierung, der Satzakzentuierung, ausgegangen wird, die immer auch

171 Sprecher- und situationsabhängig ist. Mit Akzentik sind vielmehr diejenigen Akzentuierungsmerkmale gemeint, die durch die im Deutschen lexikalisch determinierte Wortakzentuierung vorgegeben sind. Ich möchte zeigen, daß die Wortakzentuierung zum Rhythmus und damit auch zur Bedeutungsweise des Textes gehört, daß es also - auch in Prosatexten - eine semantische Funktionsweise der Wortakzentuierung gibt. Die semantische Funktionsweise der Wortakzentuierung läßt sich nicht von dem rhythmischen Zusammenhang trennen, in den sie eingebunden ist. Sie ist nur im Wert-System der betreffenden Rede wirksam und beschreibbar und setzt die Einbeziehung aller anderen Komponenten des Rhythmus (der jeweiligen syntaktischen, lexikalischen, phonematischen Gestaltung der Rede) voraus. Bei der Notierung der Akzente wird von den lexikalisch festgelegten Wortakzenten ausgegangen. Alle mehrsilbigen Wörter haben demnach mindestens einen Wortakzent (Notation: χ ). Alle Einsilber, die nicht zur Klasse der Atona gehören, erhalten ebenfalls einen Wortakzent (Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien). Die Atona, also die pro- und enklitisch gebrauchten einsilbigen Artikel, Präpositionen und Pronomen besitzen dagegen keinen Wortakzent (Notation: χ ). Sekundärakzente sowie Akzente, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen, werden mit χ gekennzeichnet. Die Sterntaler Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr, als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte (1). Es war aber gut und fromm (2). Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld (3). Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: „Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungerig" (4). Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: „Gott segne dir's", und ging weiter (5). Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: „Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann" (6). Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm (7). Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin (8). Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: „Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben", und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin (9). Und wie es so

172 stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter harte blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen (10). Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag (II).' 2

Die rhythmische Gestalt des Textes wird auf der Ebene der Akzentik durch die hohe Frequenz der Einsilber geprägt, die zur Bildung von Akzentblöcken führen (z.B. in: (8) „da bat eins", oder (9) „da kam noch eins"). Diese häufig mit Modaladverbien (so, noch, auch) gebildeten Gruppen tragen zur emphatischen Aufladung der Schilderung bei und formen den „Ton" der Erzählung. Die Akzentblöcke häufen sich auf dem dramatischen Höhepunkten: und noch weitet, da bat eins um ein Röcklein (8) da kam noch eins und bat um ein Hemdlein,

(9)

und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin (9)

Die Akzentik trägt neben der Hervorhebung einzelner Passagen auch zur narrativen Gliederung des Textganzen bei. Sie faßt Wörter und Wortgruppen zu rhythmischen Themen zusammen, die assoziative oder kontrastive Beziehungen eingehen. Das semantisch produktivste dieser Themen beherrscht schon den Anfang des Textes: Es war einmal ein kleines Mädchen (1)

Die offensichtliche Anspielung auf ein jambisches Metrum ist kein Zufall und hängt mit der Entstehungsgeschichte der Kinder- und Hausmärchen zusammen. Das Interesse der Grimms für die Märchen war, wie bereits erwähnt, während ihrer Arbeit für Brentanos Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn erwacht. Volkslied und Märchen gehörten für die Grimms als gleichberechtigte Erscheinungsformen der Naturpoesie von Anfang an zu-

12

Zu (1): Möglich wäre statt „darin" auch „darin". Die Betonung auf „kein" erklärt sich durch die Wiederholung des Signifikanten, die alliterative Verstärkung auf ñd und die emphatische Aufladung durch den Kontext. Zu (3) „Und weil": Die satzeinleitenden Konjunktionen sind betont, wenn ihnen ein proklitisches „und" vorausgeht (so auch in „Und als" (8), „Und wie" (10), ,,Ündöb"_(llJ). Zu (6) „das jammerte": Das Relativpronomen trägt hier einen Akzent, da es Teil eines rhythmischen Paradigmas ist, nämlich des satzeinleitenden Doppelakzents mit einer Assonanz auf /a/ (wie in „Da tat es [...] da gab [...] da bat" etc.). Zu (7) „tat... ab": Die trennbaren Halbpräfixe sind betont (so auch in „gab ... hin" (8) + (9) und „zog ...ab" (9), siehe auch Duden 1984: 426ff.).

173 sammen. Aus beiden sprach, was Wilhelm in seiner Vorrede der zweiten Auflage der Kinder- und Hausmärchen von 1819 den „epischen Grund der Volksdichtung" nannte (Grimm 1984,1: 20). Ihm suchten die Grimms, und vor allem Wilhelm, sich auch in der Erzählweise bis hin zu einer Imitation des Volksliedverses anzunähern. Aber die Verwendung des jambischen Musters fuhrt nicht zu einer Metrisierung des Textes; das Märchen läßt sich nicht jambisch skandieren. Die eingestreuten jambischen Sequenzen dienen nicht als formale Struktur, sondern werden als semantisches Motiv in die Funktionsweise des Textes integriert, indem sie durch die Schaflung von Reihen dazu beitragen, die verschiedenen Aktanten des Textes miteinander zu vernetzen. Zunächst ist der Signifikant „Mädchen" mit diesem rhythmischen Thema verbunden, das daher in (9) wiederkehrt („und das fromme Mädchen dachte"). Aber die alternierende Akzentfolge bezieht sich nicht nur auf Mädchen. In (1) erscheint sie in der verkürzten Form χ χ χ χ („ein Stückchen Brot"), die dann in (4) „ein armer Mann" wieder aufgegriffen wird. „Mann" und „Brot" werden auf diese Weise Teil eines rhythmischen Paradigmas, sie sind von Anfang an einander zugeordnet und zugleich mit Mädchen assoziiert. In (3) wird das Thema auf fünf bzw. vier Hebungen erweitert („Ünd weil es so von aller Welt verlassen war" , „den lieben Gott hinaus ins Feld" ). Der rhythmischen Erweiterung entspricht eine semantische durch den Verweis auf Gott, das Feld und die Welt. Auf diese Weise wird eine Kontinuität zwischen dem Kosmischen und dem Mädchen geschaffen, die das Ende des Märchens vorbereitet. Im Mittelteil verbindet das Thema das schenkende Mädchen mit dem bittenden Kind: das ganze Stückchen Brot und sagte (5) „Es friert mich so an meinem Kopfe (6)

Das rhythmische Echo unterstreicht die dialogische Verknüpfung der Aktanten. Schließlich findet in ihm auch die Umkehrung des Elends in Reichtum statt, wobei phonematische Äquivalenzen in (10) das rhythmische Thema besonders prägnant hervortreten lassen: weil es so von aller Welt verlassen war (3) und waren /au/er h arte blanke Taler (10)

In (10) wird jedes Graphem von „Taler" mindestens zweimal antizipiert, wodurch diese Sequenz zu einem rhythmischen Höhepunkt des Textes wird.

174 Auch wenn das Mädchen auf der Ebene der Handlung allein und verlassen ist, so wird es durch den Rhythmus doch von Anfang an in eine dialogische Beziehung zur Welt, zum Göttlichen und zu den anderen Aktanten eingebunden. Diese dialogische Kontinuität durchdringt den gesamten Rhythmus des Textes. Sie findet sich auch in der Funktionsweise einer anderen prägnanten Akzentfolge des Textes wieder, die mit den abwesenden Eltern verbunden ist und erstmals in (1) erscheint: Vater und Mutter gestorben ( 1 )

Im gleichen Satz wird sie in verkürzter Form noch zweimal bekräftigt; auch hier als Paradigma des fehlenden elterlichen Schutzes: darin zu wohnen, [...] darin zu schlafen (1)

Erst im vorletzten Satz wird die ursprüngliche Form wieder aufgegriffen und erweitert, aber nun hat sich ihre Wertigkeit umgekehrt: fielen auf einmal die Sterne vom Himmel,

(10)

Nicht mehr die Verlassenheit, sondern die Geborgenheit wird in den vom Himmel fallenden Sterntalern wirksam. Die Sterne und die Eltern - übrigens die einzigen Pluralsubjekte des Märchens - sind rhythmisch eng miteinander verbunden. Die Steme werden zu einer rhythmischen Fortsetzung der Eltern, sie nehmen ihren Platz ein. Im letzten Syntagma des Textes wird die Umkehrung der Verlassenheit in Geborgenheit noch einmal durch das akzentische Eltern-Motiv bekräftigt: Taler hinein und war reich für sein Lebtag. (11)

Im Mittelteil wird der Text durch akzentische Echofiguren in Blöcke gegliedert. Als Echofiguren bezeichne ich Akzentmuster, die in abgewandelter Form wiederholt werden. Im ersten Block werden zwei Echofiguren miteinander kontrastiert. Ihre Gegenüberstellung erscheint erstmals in: 1. Echofigur und ging weiter

2. Echofigur (5) Da kam ein Kind, das jammerte und sprach (6)

Die erste Echofigur in (5) ist durch einen von zwei unbetonten Silben eingerahmten Doppelakzent charakterisiert (χ χ χ) und wird von der Konjunktion „und" eingeleitet, die zweite durch einen Doppelakzent am Anfang des Satzes oder Teilsatzes (x x), wobei die Kontrastierung der beiden Themen pho-

175 nematisch durch die vokalische Gegenüberstellung zwischen /ai/ (in der ersten Echofigur) und lai (in der zweiten Echofigur) verstärkt wird. Die beiden Figuren bilden im Mittelteil folgende Sequenz: Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wie der ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter,

da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. (8)

Die Wiederholung und Verdichtung der rhythmischen Motive dient der dramatischen Steigerung der Erzählung. Zugleich wird durch die zweite Echofigur (x x) eine Reihung geschaffen, die die dialogische Bezogenheit von Bitten und Geben unterstreicht („kam... gab ... bat... gab!') Auf dem Höhepunkt des Märchens finden sich die meisten der schon erwähnten Akzentblöcke. Sie werden in (9) vorbereitet („da kam noch eins") und häufen sich in (9) und (10): du kannst wohl dein Hemd weggeben, und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. (9) Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte (10)

Die mit „und" eingeleitete Echofigur („und χ χ χ χ") aus (9) wird in (10) wieder aufgenommen und erweitert. Die rhythmische Figur ist hier ganz auf der Seite des Gebens. Das rhythmische Insistieren lädt das letzte Geben semantisch auf und motiviert so den dramatischen Umschlag mit dem Sternenfall vom Himmel, in dem die Figur des Gebens ins Kosmische erweitert wird. Die Akzentik gehört zum Rhythmus des Textes. Sie gliedert den Text, bildet Serien und kontrastive Themen, deren semantische Wirksamkeit sich aber erst aus dem Zusammenspiel aller Signifikanten des Textes (also neben der Lexik auch der anderen sinnmachenden Komponenten der Rede, wie der Syntax oder der Prosodie) ergibt.

176 5.4.2 Die prosodische Vernetzung der Aktanten Häufig werden prosodische Beziehungen nur in Hinblick auf Alliterationen und Assonanzen betrachtet, denen eine bloß ausschmückende Funktion zugestanden wird, oder aber sie werden lautsymbolisch gedeutet, indem eine beliebige Bedeutung in ein beliebiges Phonem projiziert wird.13 Beide Verfahren beruhen auf einer Trennung von Form und Inhalt, bei der die semantische Dimension der Prosodie minimiert wird. Deswegen soll hier versucht werden, die Prosodie in den Rhythmus einzubeziehen und nach den systematischen Beziehungen der Signifikanten auf Silben-, Vokal- und Konsonantenebene und ihrer Wertigkeit im Textsystem zu fragen. Tatsächlich läßt sich zeigen, daß die Prosodie für die Bedeutungsweise des hier untersuchten Märchens eine zentrale Rolle spielt, da sie alle Aktanten miteinander verknüpft und so die dialogische Umkehrung von Geben und Nehmen motiviert und ermöglicht. Auf der Silbenebene fällt zunächst eine paradigmatische Reihe auf, die durch das Suffix -chen gebildet wird: Mädchen ... Kämmerchen ... Bettchen ... Stückchen (1) Stückchen (5) Leibchen (8) Mädchen (9) Diese Diminutivkette beginnt und schließt also mit dem Substantiv „Mädchen", das so als eine Art Reimecho die Serie dominiert. Die lautliche Assoziation impliziert eine motivische Verbindung, die einen Übergang zwischen Aktanten und Objekten bewirkt: Die Gegenstände sind mit dem „Mädchen" verbunden und umgekehrt, so daß im Schenken auch ein SichSchenken stattfindet. Der Text enthält aber noch eine zweite Diminutivreihe, die man als unvollständig bezeichnen könnte und die mit der ersten nicht viel gemein zu haben scheint: Röcklein (8) Hemdlein (9) Hemd (9) Hemd (9) Hemdlein (10)

13

Zum Begriff der Prosodie im hier verwendeten Sinne siehe Kapitel 4.2.2.6.

177 Tatsächlich ist aber „Hemd" als das dominierende Element dieser Reihe /hemt/ ein prosodisches Anagramm von /me:t/ in „Mädchen", so daß der Signifikant „Hemd", der viermal hintereinander auf dem narrativen Höhepunkt des Textes erscheint, das Ineinander von Subjekt und Objekt und die Kontinuität zwischen Schenken und Sein noch verstärkt. In dem Signifikanten „Mädchen" wird also das Prinzip des Schenkens als Sich-Schenken am radikalsten durchgeführt, indem alle seine Bestandteile (nämlich die Stammsilbe Mäd- und das Suffix -cheri) in die prosodische Assoziation von Aktant und Objekt einbezogen werden. Semantisch noch produktiver ist die auch im Diminutivsuffix enthaltene Silbe „ein". Es ist aber nicht ihre statistische Häufigkeit, die ihre rhythmische Funktion bedingt. Die Tatsache, daß sie in einem Text von 298 Wörtern 32 mal vorkommt, sagt noch nichts über ihre rhythmische Bedeutung aus, schließlich ist „ein" schon als Bestandteil des unbestimmten Artikels im Deutschen besonders frequenzstark. Die rhythmische Funktion eines Elements ergibt sich nicht aus seiner Stellung im Sprachsystem, sondern einzig aus seiner Motivierung durch das Wert-System der jeweiligen Rede. Und dies erklärt, warum auch ein stilistisch so unmarkiertes (weil frequenzstar» kes) Element wie die Silbe „ein", wie nun gezeigt werden soll, zu einer wesentlichen Komponente des Rhythmus werden kann. „Ein" stellt vielleicht das zentrale prosodische Thema des Textes dar. Schon am Beginn des Märchens erhält die Silbe „ein" durch die dreifache Wiederholung ein starkes rhythmisches Gewicht: Es war e/'/imal ein klemes Mädchen (1)

Dieses prosodische Insistieren kündigt nicht nur das Silbenthema „ein" selbst an, sondern antizipiert auch seine semantischen Ausrichtungen, die der Text fortfuhren und entwickeln wird: ein ein ein

-

erhält einen zeitlichen Wert (einmal) erhält einen personalen Wert (ein) erhält einen qualitativen Wert (kleines)

Gleichgültig, ob „ein" als Wort, Silbe oder Silbenbestandteil auftritt, diese dreifache Wertigkeit läßt sich durch den ganzen Text hindurch verfolgen:

178 PERSONALBEZOGEN ein kleines

Mädchen

OBJEKTBEZOGEN (1)

ein kleines

ZEITBEZOGEN

(l) 1 4

ein mitleidiges Herz (1)

kein Kämmerchen

ein armer Mann (4)

kein Bettchen (1)

einmal (1) (1)

eine Weile (8) einen Wald (9) 15

ein Kind (6)

ein Stückchen (1)

auf einmal (10)

ei« Kind (8)

meinem Kopfe (6)

sein Lebtag ( Π )

eins

seine Mütze (7)

(8)

noch eins

(9)

kein Leibchen (8) seins

(8)

ein Röcklein

(8)

ein Hemdle/n (9) dein Hemd (9) sein Hemdlein (10) ein neues (10) vom allerfeinsten Linnen (10) hinein (11)

Die vorstehende Tabelle verdeutlicht die Bedeutungsweise dieses prosodischen Signifikanten. Die Silbe ein zirkuliert innerhalb des gesamten Textes, bildet Reihen („da bat eins um ein Röcklei'«" (8), „noch eins und bat um ein

Hemdlei'n" (9)) und ordnet den Text zu einem einzigen, die Wort- und Satzgrenzen übergreifenden assoziativen Netz. Wie die Diminutivserie auf ,,-chen" und die phonologischen Permutationen /ηηε:ΐ/ und /hemt/ realisiert ein die Zuordnung von Aktant und Objekt {„ein armer Mann" (4) —> „ein Stückchen Brot" (5); „ein Kind" (6) —» „seine Mütze" (7); „eins -> ein

Röcklew" (8) etc.). Und diese Kontinuität zwischen Objekt und Aktant macht den Austausch von Gegenständen zu einem Sich-Austauschen zwischen den Aktanten. Im Gegebenen und Genommenen ist immer auch etwas von dem Gebenden und dem Nehmenden präsent. Das em-Thema ist sowohl die Schnittstelle für die Umkehrung von „kein" und „ein" als auch von „Kleines" ist sowohl personalbezogen, insofern es im ersten Satz Attribut des Prädikatsnomens „Mädchen" ist, als auch objektbezogen, weil es durch seine lexikalische Bedeutung auf die Diminutivserien vorausweist, die allesamt Objektcharakter besitzen. „einen Wald" läßt sich dem temporalen Paradigma zuordnen, da „Wald" Teil der Raum-Zeit-Metaphorik des Textes ist, die (mit Ausnahme von „sein Lebtag") das semantische Feld der zunehmenden Bedrohlichkeit („hinaus ins Feld", „in einen Wald", dunkle Nacht") aufbaut.

179 „mein" und „dein". Die Funktionsweise des prosodischen Themas zeigt, wie die Umkehrung des Nicht-Habens in das Haben und die Umkehrung von Geben und Nehmen miteinander verbunden und in einer umfassenden dialogischen Gegenseitigkeit begründet sind. Ein wird zum gemeinsamen prosodischen „Nenner" aller Aktanten: Von „ein kleines Mädchen" bis „eins" und „noch eins" erscheint das Silbenthema bei jeder Person im Text. Das einThema ermöglicht eine Spiegelung des einen Aktanten im anderen. Sie ist eine Figur des Intersubjektiven. Auf der Verwirklichung dieser intersubjektiven Identifikation und nicht auf der Erwartung einer überirdischen ausgleichenden Gerechtigkeit beruht die Logik des Schenkens im Märchen Die Sterntaler. Das Geben ist hier kein Verzicht, keine Selbstaufopferung, sondern Teil eines dialogischen Prozesses von Geben und Nehmen, den das Märchen auf das ganze Universum ausdehnt. Damit ist die rhythmische Wirksamkeit der Prosodie aber noch nicht erschöpft. Semantisch produktiv sind ferner: -

die parallelen Vokalreihen in: dem war Vater und Mutter gestorben (1) war aber gut und fromm, (2) die bewirken, daß die Echokonstruktion „gut und fromm" in eine semantische Kontinuität zu „Vater und Mutter" tritt. Die ethische Haltung übernimmt in dem Mädchen die Funktion der beschützenden Eltern.

-

die Reimformen in: Vater und Mut/er ( 1 ) Welt...Feld (3) sprach: »Ach, (4) die in (1) die semantische Einheit der Elternteile unterstreichen und, in (3), die kosmische Ausweitung der Erzählung vorbereiten, indem das Feld phonematisch schon auf die Ganzheit der Welt deutet. Das Beispiel in (4) ist in seiner semantischen Funktion verwandt mit ähnlichen Rekurrenzfiguren, wie in: (5) „und sagte: »Gott segne dir's" und in (9) „dachte: »Es ist dunkle NacA/". Diese systematischen Echobeziehungen zwischen einem Verb des Sagens und der wörtlichen Rede bewirken eine Verschmelzung von Sagen und Gesagtem. Die Personen sind in dem, was sie sagen und sie sind das, was sie sagen.

-

Die Beziehung zwischen unpersönlichem und persönlichem „es", das sowohl als grammatisches Subjekt wie als Personalpronomen ein dem Mädchen zugeordnetes prosodisches Thema („Es war einmal" (1), „es

180 war so arm" (1), „es war schon dunkel" (9)) bildet. Das Mädchen wird so prosodisch mit der Nacht verbunden und schließlich selbst zur Nacht (JEs ist dunkle Nacht"(9)), bevor es dann die Sterne in seinem Hemd auffangt.

5.4.3 D i e rhythmische Wertigkeit der Lexik Die Lexik des Sterntalermärchens und der Kinder- und Hausmärchen überhaupt spiegelt ein Sprachideal wider, das auch für die Arbeit der Grimms an dem Deutschen Wörterbuch bestimmend war: Könnte das Wörterbuch dahin wirken, daß die sinnliche Rede, der bildliche Ausdruck (ich meine nicht die von allen Händen abgegriffenen Gleichnisse) selbst auf die Gefahr, derb oder eckig zu erscheinen, wieder in ihr Recht gesetzt werde! (Wilhelm Grimm: Bericht über das deutsche Wörterbuch, 1846)16 Das Ideal der „sinnlichen Rede", der Anschaulichkeit und Konkretheit führt in den Kinder- und Hausmärchen zur systematischen Vermeidung von Fachtermini, Fremdwörtern und abstrakten Ausdrücken und zur Herausarbeitung einer ausgesprochen einfachen und konkreten Lexik. Das Sterntalermärchen selbst nimmt teil an dieser Konkretisierung der Sprache, etwa indem auf dem dramatischen Höhepunkt der Handlung die idiomatische Wendung „das letzte Hemd weggeben" aus der übertragenen Bedeutung in die wörtliche überführt wird. Das Anschauliche ist für Wilhelm Grimm zugleich das Lebendige und Leibliche: Jede gesunde Sprache ist bildlich, auch der zarteste Gedanke verlangt einen sichtbaren Leib [...] denn das abstrakte Wort schließt sich nicht fest an den Gedanken: es läßt eine Leere dazwischen und läuft Gefahr, inhaltlos zu werden. (a.a.O.) Wilhelms Erzählweise realisiert diese Lebendigkeit, an der sich sein Ideal der „gesunden Sprache" orientiert, auch durch eine Lexik der Leiblichkeit. Weil die Sprache lebendig ist, ist sie auch leiblich und spricht vom Leib. Im Sterntalermärchen gibt es aber neben dem Wortfeld der Leiblichkeit auch ein ebenso starkes Wortfeld der Dinglichkeit. Diese beiden Wortfelder werden schon im ersten Satz aufeinander ausgerichtet, wobei das verbindende Element zwischen ihnen die existentielle Bedürftigkeit des Körpers ist:

16

Zitiertin: Reiher(1993: 156).

181 Kämmerchen Bettchen Kleider Stückchen Brot



Ό

wohnen schlafen Leib Hand

Die Dinge sind über ihre Beziehung zum Körper definiert. Der bedürftige Körper und lebensnotwendige Dinge werden dann im weiteren Verlauf des Märchens in die dialogische Beziehung der Aktanten integriert, indem das Geben zum Antworten wird: »Ich bin so hungerig« (4)

—»

Es reichte ihm aber das ganze Stückchen Brot (5)

»Es friert mich so an meinem Kopfe« (6)

Da tat es seine Mütze ab (7)

Diese Beziehung verleiht den Gegenständen erst ihre Konturen. In der dialogischen Begegnung wird „ein Stückchen Brot" zu „das ganze Stückchen Brot", der allgemeine Begriff „die Kleider" wird im Laufe des Textes spezifiziert zu „Mütze", „Röcklein", „Hemdlein" und „Leibchen". Die Wechselwirkung zwischen dem Körperlichen und dem Dinglichen ist so eng, daß beide Bereiche im Signifikanten „Leibchen" schließlich sogar miteinander verschmelzen. Die Zuordnung der beiden paradigmatischen Achsen erfolgt über zwei Verbreihen, die des Gebens und des Bittens: BITTEN

GEBEN

geschenkt hatte (1) gib mir etwas (4)

—>

Es reichte ihm (5)

schenk mir etwas (6)

—»

und gab sie ihm (7)

und hatte kein Leibchen an und fror (8) -»

da gab es ihm seins (8)

da bat eins (8)

das gab es auch von sich hin (8)

da kam noch eins und bat (9)



und gab es auch noch hin (9)

In (8) zeigt sich besonders deutlich, wie der Text seine Lexik gewichtet, wie die Worte durch das Textsystem einen Wert erhalten, den sie außerhalb davon nicht besitzen, denn die Verbalphrase „und hatte kein Leibchen an

182 und fror" wird im narrativen Ablauf dem darauffolgenden Satz (8) „da gab es ihm seins" gegenübergestellt und so in die paradigmatische Reihe des Bittens integriert. Schon das Bedürfiiis nimmt den Platz der Bitte ein. Auch bei dem Mädchen hat das Bedürfiiis diesen appellativen Charakter: Auf (10) „und gar nichts mehr hatte" antwortet unmittelbar der Hauptsatz „fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte blanke Taler". Die Körperlichkeit ist nicht nur im Bitten, sondern auch im Geben präsent. Das Geben bezieht den Körper mit ein, so sehr, daß das Geben zum Hingeben wird: das gab es auch noch von sich hin (8) und gab es auch noch hin (9)

Das Hingeben impliziert die Hingabe, auch im erotischen Sinne. Wilhelm Grimm unterstreicht die erotische Konnotation der Hingabe noch durch die Hinzufügung eines Keuscbheitstopos: da sieht dich niemand (9)

Diese erotische Aufladung ist kein ironischer Kunstgriff, wie etwa in den Märchen von Johann Karl August Musäus. Sie ist Teil der dialogischen Umkehrung, die die Bedeutungsweise des Textes charakterisiert. Das Entkleiden des Mädchens wird zum Korrelat des Schenkens, das durch die dialogische Verflechtung der Aktanten auch ein Sich-Schenken impliziert.17 Aber dieses Schenken findet nicht in einer idyllischen Raum-Zeitlichkeit statt. Die räumliche Dimension thematisiert die Ausgesetztheit („von aller Welt verlassen"), das Unbewohnte („hinaus ins Feld") und das Unheimliche („gelangte es in einen Wald"). Und der zeitliche Verlauf fuhrt in die Dunkelheit der Nacht hinein. Die Klimax der Verlassenheit ereignet sich in jenem Satz, in dem zugleich die Körperlichkeit explizit thematisiert wird: Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand (9)

Die beiden semantischen Felder überschneiden sich, ohne sich gegenseitig aufzuheben. Der gebende, sich gebende Körper ist auch der bedrohte Körper. Die Dialogizität von Geben und Nehmen findet also in einer Welt existentieller Bedrohung statt. 17

Zugleich wird das entkleidete Mädchen auch zu einer poetologischen Allegorie. Es hat dieselben Attribute, die Wilhelm Grimm auch der Volkspoesie zuschreibt: „Die Volkspoesie lebt gleichsam in dem Stand der Unschuld, sie ist nackt, ohne Schmuck, das Abbild Gottes an sich tragend [...]." (Wilhelm Grimm: Vorrede zu den Altdänischen Heldenliedern, (1811) zitiert in: Köstlin 1993: 78).

183 Ihre ideologische Rechtfertigung erhält die Radikalität des Gebens nachträglich durch die von Wilhelm zum Teil erst in der zweiten Auflage der Kinderund Hausmärchen (1819) hinzugefugte religiöse Metaphorik. Die religiösen Motive werden nun systematisch mit der lebensbedrohlichen Bedürftigkeit kontrastiert: dem war Vater und Mutter gestorben (1) von aller Welt verlassen (3)

vi VJ

gib mir etwas zu essen (4) und gar nichts mehr hatte (10)

vi vs

Es war aber gut und fromm (2) im Vertrauen auf den lieben Gott (3) Gott segne dir's (5) fielen auf einmal die Sterne vom Himmel (10)

Was unabhängig und außerhalb vom Text als formelhafte Wendung erscheint („gut und fromm", „von aller Welt verlassen", „im Vertrauen auf den lieben Gott"), wird durch das Textsystem motiviert und - durch seine Integration in die Geben-Nehmen-Reihe - zu einem Element des spezifischen Rhythmus des Märchens. Auch das Motiv der vom Himmel fallenden Taler geht über die religiöse Metaphorik hinaus. Denn während das christliche Opferethos auf eine Leidenskompensation im Jenseits baut, sind hier die Gaben des Himmels diesseitiger und materieller Natur. Innerhalb der Bedeutungsweise des Textes, also innerhalb der dialogischen Umkehrung stehen die Sterntaler in einer narrativen Logik, sie bilden die letzte Stufe einer thematischen Entwicklung, die das dialogische Prinzip des Bittens und Gebens zum universalen Prinzip erhebt: Dem alles wegschenkenden Mädchen entspricht eine genauso maßlos sich selbst schenkende Welt. Auf der Ebene der Lexik wird der Rhythmus des Sterntalermärchens von einer thematischen Vernetzung des Körperlichen und des Dinglichen innerhalb eines narrativen BittenGeben-Prozesses geprägt. Diese Wertigkeit der Lexik setzt sich auf der Ebene der Syntax fort.

5.4.4 Syntagmatische Figuren des Bitten-Geben-Motivs Es ist fraglich, ob eine Analyse der rhythmischen Funktion syntagmatischer und syntaktischer Beziehungen von dem Prinzip von Norm und Abweichung ausgehen kann. Abgesehen davon, daß die Bestimmung einer verbindlichen Sprachnorm als Ausgangspunkt ftir das literarische Schafifen kaum möglich

184 sein dürfte,18 liefe etwa eine nonnorientierte Syntaxanalyse Gefahr, den Rhythmus aus dem Blick zu verlieren. Nicht der poetische Text, sondern die Einzelsprache würde zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung, und die Sprachstruktur träte an die Stelle der Rede.19 Deshalb sollen die syntagmatischen Beziehungen hier nur von ihrer Wertigkeit im Text her untersucht werden. Der Rhythmus des Sterntalermärchens läßt sich nicht von der interpunktorischen Gliederung des Textes trennen. Die Interpunktion unterteilt den Text in elf unterschiedlich lange Sätze. Sie gliedert den narrativen Verlauf des Märchens, schafft Zäsuren und Erzählblöcke sowie längere und kürzere Sinn- und Sprecheinheiten. Das Märchen wird eingeleitet durch den längsten Satz des gesamten Textes, in dem Parallelsyntagmen („war [...] gestorben", „war so arm", „kein Kämmerchen [...], darin [...], und kein Bettchen [...], darin [···]") dem Aufbau einer dramatischen Steigerung dienen. Der vierfache Verlust (Tod der Eltern, Armut, keine Wohnung, kein Bett), der hier thematisiert wird, findet später sein Gegenstück in den Begegnungen mit den ersten vier Bittstellern, denen das Mädchen seine Habe opfert. Die Begegnung mit

18

19

„Die Bestimmung von Graden der Abweichung von der Standardgrammatik und damit der »Akzeptabilität« der devianten Wendung erweist sich in der Praxis selbst wieder als außerordentlich schwierig. Zum einen ist sie vom Urteil des Untersuchenden abhängig [...], zum anderen stellt sich die Frage nach der »Akzeptabilität« sofort anders, wenn man den gewissermaßen externen Vergleichspunkt einer - wie auch immer zu normierenden - Standardsprache verläßt und eine Antwort innerhalb der Konventionen der poetischen Sprache sucht." (Ludwig 1979: 34). Noch deutlicher ist das Urteil von Coseriu über die Deviationspoetik: „Die »Abweichungsstilistik«, d.h. die Stilistik, die die Sprache eines Dichters als Abweichung, als »Originalität« gegenüber der sog. Gemeinsprache charakterisiert, bleibt gerade im Falle der großen Dichter ergebnislos. Es ist z.B. unmöglich, die Sprache von Dante als einen besonderen Sprachgebrauch innerhalb des Italienischen zu charakterisieren." (Coseriu 1971: 186). Das Primat der langue fuhrt dazu, daß die Möglichkeiten poetischen Schaffens auf die Struktur der Einzelsprache zurückgeführt werden. Die Einzelsprache und nicht der Dichter steckt die Grenzen der Poesie ab und wird zum Maßstab des Poetischen. Das genau geschieht etwa bei Jan Mukárovsky , wenn er schreibt: „The violation of the norm of the standard language, its systematic violation, is what makes possible the poetic utilization of language. The more the norm of the standard is stabilized in a given language, the more varied can be its violation, and therefore the more possibilities for poetry in that language. And on the other hand, the weaker the awareness of this norm, the fewer the possibilities of violation, and hence the fewer possibilities for poetry." (Mukárovsky 1964: 18).

185 dem letzten Kind, nach welcher der Zustand der absoluten Bedürftigkeit erreicht ist („und gar nichts mehr hatte" (10)), wird gleichfalls im ersten Satz vorbereitet („und endlich gar nichts mehr"), genau wie die Umkehrung durch das Beschenkt-werden („fielen auf einmal die Sterne vom Himmel" (10)) im letzten Teilsatz des ersten Satzes schon antizipiert wird („das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte"). Der erste Satz ist also mehr als nur eine Exposition. Er verweist schon auf den gesamten narrativen Verlauf, den das Märchen entfalten wird. Der zweite Satz, der kürzeste des Textes überhaupt, bildet ein Gegengewicht zum vorangegangenen. Zugleich greift er anaphorisch die es war-Serie auf (,3s war einmal" (1), „es war so arm" (1)) und bereitet durch das adversative „aber" die am Ende erfolgende Umkehrung der Armut in Reichtum vor. Auch im dritten Satz wird diese Umkehrung vorbereitet, indem Verlassenheit („von aller Welt verlassen") und Vertrauen („im Vertrauen auf den lieben Gott") in eine kausale Beziehung zueinander gebracht werden („Und weil [...], ging es [...]."). Die nun folgenden Satzaufteilungen (4 - 10) sind ganz in die Bitten-Geben-Reihung eingebunden, wobei zunächst auf je einen BittenSatz (4 und 6) ein Geben-Satz (5 und 7) antwortet. In (8) steigert sich das Erzähltempo, indem zwei Bitten-Geben-Sequenzen aufeinanderfolgen und diese nicht mehr durch Satzpunkte voneinander getrennt werden. Von nun an ( 8 - 1 0 ) verschmelzen Bitten und Geben in den Satzperioden. Sie werden zu einer rhythmischen Einheit. Nicht nur die Interpunktion, auch die Syntax trägt zur Verschmelzung von Bitten und Geben bei. Vom Mittelteil des Textes an dominiert ein parataktischer Satztyp mit zwei oder mehr durch die Konjunktion „und" verbundenen Prädikaten: Es reichte ihm das jammerte Da tat es kam wieder da kam noch eins dachte fielen Sterne Da sammelte

und sagte und sprach (6) und gab (7) und hatte und bat (9) und zog und waren (10) und war (11)

und ging weiter (5)

und fror (8) und gab es (9)

Der hohe Anteil an Hauptsätzen mit doppeltem Prädikat und polysyndetischem „und" verleiht den Verbalphrasen auffällig starkes Gewicht. Das Verbum rückt ins Zentrum der Sätze. Innerhalb des narrativen Ablaufs bildet

186 sich so ein iteratives Verbreihenmotiv heraus, das die Form „gehen-kommenbitten-geben" hat: GEHEN

KOMMEN

BITTEN

GEBEN

ging es (3) und ging weiter (5) gegangen war (8) und noch weiter (8) Endlich gelangte es (9)

Da begegnete (4) Da kam (6) kam wieder (8) da kam (9)

der sprach (4) und sprach (6) bat eins (8) und bat (9)

Es reichte (5) und gab sie ihm (7) da gab es ihm (8) das gab es auch (8) und gab es (9)

Die syntagmatischen Beziehungen, die die Verben über die Satzgrenze hinaus eingehen, sind mehr als nur ein formaler Parallelismus. Die Verbiteration bringt eine Art von semantischem Echoeffekt hervor. Gehen, kommen, bitten und geben sind keine isolierbaren Vorgänge, sondern werden von Mal zu Mal stärker aufeinander bezogen und bilden eine buchstäblich notwendige Abfolge. Im dialogischen Wechsel antwortet auf „Gehen" ein „Kommen", auf „Bitten" ein „Geben". Die Systematik der Verbbeziehungen schafft so eine eigene für den Text charakteristische Kausalität. Auch die Interpunktion unterstreicht diese Kausalität: und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins (8)

Der Doppelpunkt stellt die beiden Sätze in eine unmittelbare Folgebeziehimg. Die kausale Verknüpfung der Ereignisse spielt für den ganzen Text eine entscheidende Rolle. So werden die die Nebensätze einleitenden Konjunktionen durch ein vorangehendes „und" besonders hervorgehoben: Und weil es so von aller Welt verlassen war, (3) Und als es noch eine Weile gegangen war, (8) Und wie es so stand, (10) und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, (10)

Temporales und kausales Nacheinander werden zu einer gemeinsamen narrativen Ordnung verschmolzen. Doch diese Ordnung ist in ihrer Stabilität auch bedrohlich, da die unabänderliche Wiederkehr der Verbreihe dem Geben keine Grenze setzt. Das Geben könnte bis zur Selbstaufgabe fortgesetzt werden.2? Daß die Kausalität des Gebens keine selbstmörderische Dynamik besitzt, die ja in den bedrohlichen Elementen der Raum-Zeit-Metaphorik durchaus angedeutet wird, erklärt sich aus der Einbindung des Gebens in die

20

In dieser Radikalität des Gebens geht die Protagonistin über das „Ideal des biedermeierlichen Frauenbildes" hinaus, das Hans-Jörg Uther in dem Sterntalermärchen verwirklicht sieht (Grimm 1996, IV: 286).

187 dialogische Umkehmng. Auch in der semantischen Wertigkeit der Verben finden sich solche Umkehrungsbeziehungen. So kann man etwa eine Umkehrung des Wertes der beiden Verben „sein" und „haben" im Laufe des Textes beobachten. „Sein" erscheint erstmals in der Eingangsformel (1) „Es war einmal", wo die zeitliche Ebene des Erzählens durch das Präteritum determiniert wird. In den beiden folgenden Belegen wird das Verb „sein" als Volloder Hilfsverb mit dem Thema der Not gekoppelt: dem war... gestorben ( 1 ) es war so arm (1)

Die Umkehrung seines Wertes kündigt sich schon in (2) an, „Es war aber gut und fromm"; jedoch stehen in den folgenden Sätzen alle imiten Formen von „sein" noch im Zeichen der Verlassenheit, des Hungers und der Dunkelheit: von aller Welt verlassen war (3) ich bin so hungerig (4) Es war schon dunkel geworden (9) Es ist dunkle Nacht (9)

Erst in den letzten Sätzen findet die eigentliche Umkehrung der semantischen Gewichtung des Verbs statt: und waren lauter harte blanke Taler (10) das war vom allerfeinsten Linnen (10) und war reich für sein Lebtag (11)

Dieselbe Umkehrung der semantischen Wertigkeit charakterisiert auch die Distribution des Verbums „haben" im Sterntalertext. Auch hier deutet sich die Möglichkeit der Umkehrung schon am Beginn des Textes an. So wird bereits im ersten Satz „hatte kein" mit „hatte geschenkt" kontrastiert: hatte kein Kämmerchen ... kein Bettchen ... gar nichts mehr (1) das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. (1)

Im folgenden dominiert dann das Thema des Nicht-Habens: und hatte kein Leibchen an (8) und gar nichts mehr hatte (10)

Im vorletzten Satz schließlich erhält es dann ebenfalls einen positiven Wert: so hatte es ein neues an (10)

Die Umkehrungsfiguren sind aber nicht auf den verbalen Bereich beschränkt, sie finden sich auch in anderen Bereichen der Lexik, etwa in den Gegensatzpaaren:

188

-

der Substantive „Nacht" und „Tag": Es ist dunkle Nacht (9) für sein Lebtag (11)

-

der Adjektive „arm" und „reich": es war so arm (1) und war reich (11)

-

der Partikel „hinaus" und „hinein": hinaus ins Feld (3) Da ...hinein (11)

Durch seinen Rhythmus geht das Sterntalermärchen über den rhetorischen Rahmen eines christlichen Exemplums hinaus. Seine Logik des Gebens impliziert keine Selbstaufopferung, weil sie auf dem Prinzip der Umkehrbarkeit, der Identifikation des Einen im Anderen beruht. Dieser Rhythmus steht, wie nun zu zeigen sein wird, in einer Kontinuität zu zahlreichen anderen Grimmschen Märchen, und diese Kontinuität weist auf den Verfasser des Textes, nämlich auf Wilhelm Grimm.

5.4.5 Vom Rhythmus eines Textes zum Rhythmus des Werkes Daß tatsächlich nur Wilhelm Grimm (und nicht Jacob oder Arnim) als Verfasser des Sterntalermärchens in Frage kommt, wird deutlich, wenn man die Nachträge und Überarbeitungen heranzieht, die Wilhelm in den allein von ihm besorgten Editionen vorgenommen hat. 21 So erhält etwa das Motiv des gehenden Mädchens im Märchen Der Räuberbräutigam durch Wilhelms Bearbeitungen einen Rhythmus, der mit dem des Sterntalermärchens eng verwandt ist. In der Erstausgabe von 1812 heißt es noch: Von Morgen bis zu Abend ging sie durch einen langen, langen Wald, und kam endlich vor ein großes Haus, alles war still darin, bloß eine alte Frau saß vor der Thüre. (Grimm/Rölleke 1975: 235)

Von Edition zu Edition weitet Wilhelm diese Passage dann aus, bis sie in der letzten Ausgabe von 1857 so lautet:

21

Heckscher irrt also, wenn er das Sterntalermärchen Jacob Grimm zuschreibt: „the fairy tale in its definitive form is essentially the child of Jacob's inventive power." (Heckscher 1961: 188). Aber Heckscher geht auf die Frage der Autorschaft nicht näher ein, da es ihm nur darum geht zu zeigen, daß das Sterntalermärchen eine Grimmsche Schöpfung ist und kein Volksmärchen.

189 Es ging fast den ganzen Tag, bis es mitten in den Wald kam, wo er am dunkelsten war, da stand ein einsames Haus [...]. Es trat hinein, aber es war niemand darin [...] da ging die schöne Braut weiter [...] und ging durch das ganze Haus, aber es war alles leer und keine Menschenseele zu finden. Endlich kam sie auch in den Keller, da saß eine steinalte Frau, die wackelte mit dem Kopfe. (Grimm 1984,1: 220)

Es findet sich in Wilhelms Version dieselbe Dramatisierung des Motivs wie im Sterntalermärchen: die Wiederholung des Verbs „gehen", das einleitende „da" („da stand", „Da ging", „da saß"), die Steigerung durch die Adverbien („weiter", "endlich"), das Thema des Alleinseins („einsames Haus", „niemand darin", „alles leer und keine Menschenseele") und die Auf- bzw. Erlösung im Moment der höchsten Verlassenheit. Nicht nur in den stilistischen Überschneidungen, sondern mehr noch in der semantischen Funktionsweise des Rhythmus tritt die Verwandtschaft zwischen Die Sterntaler und anderen Märchen aus den Kinder- und Hausmärchen zutage. Wie eng der Rhythmus des Stemtalermärchens mit Wilhelms Märchenpoetik verwoben ist, soll hier, da eine umfassende Untersuchung den Rahmen der Arbeit sprengen würde, nur durch einen Vergleich mit dem Märchen Aschenputtel angedeutet werden. Aschenputtel ist für solch einen Vergleich besonders geeignet, da es zu den von Anfang an nur von Wilhelm bearbeiteten Märchen zählt.22 Der Märchenstoff war schon zu Zeiten der Grimms so populär („Das Märchen gehört zu den bekanntesten und wird aller Enden erzählt", schreiben sie in ihren Anmerkungen),23 daß zahlreiche zum Teil stark divergierende Versionen im Umlauf waren, unter anderem auch die von den Grimms erwähnte Fassung von Charles Perrault Cendrillon ou la petite pantoufle de verre. Der verschollenen Urfassung (1810) lag die mündliche Erzählung einer alten Frau aus dem Elisabeth-Hospital in Marburg zugrunde, welche später von Wilhelm mit Elementen aus anderen mündlichen Fassungen verbunden wurde (Grimm/Rölleke 1975: 387). Die Quellenlage ließ Wilhelm also relativ viel Spielraum bei der Ausarbeitung der Druckvorlage. Tatsächlich wird Aschenputtel unter den Händen von Wilhelm zu einem durch und durch Wilhelm-Grimmschen Märchen, das trotz der völlig anders gearteten Handlungsstruktur in einer rhythmischen Kontinuität zum Sterntalermärchen steht.

22 23

Siehe Grimin/Rölleke (1975: 387). Grimm (1984, III: 48).

190 Auch in Aschenputtel gibt es eine Mädchen-Gehen-Serie, diesmal mit einer doppelten Wertigkeit. Einerseits ist das Gehen ein Paradigma der Verlassenheit („Da ging eine schlimme Zeit fur das arme Stiefkind an", Grimm 1984, I: 134) 24 und impliziert ein Weggehen („Das Mädchen ging durch die Hintertüre", 129; „ging das Mädchen durch die Hintertüre", 129, „als nun niemand mehr daheim war, ging das Mädchen", 140). Andererseits bedeutet es „gehen 2x1", also ein auf ein Gegenüber gerichtetes Gehen, wobei zunächst unbelebte Objekte und später der Königssohn als Gegenüber fungieren: Das Mädchen ging jeden Tag hinaus zu dem Grabe der Mutter (137) ging das Mädchen zu seiner Mutter Grab (140) und ging zur Hochzeit (140) ging Aschenputtel zu dem Haselbaum (141) ging Aschenputtel wieder zu seiner Mutter Grab (142) Das Mädchen [...] ging heraus zum Königssohn (142) Da ging diese in die Kammer [...] und ging heraus zum Königssohn (143) ging dann hin und neigte sich vor dem Königssohn (144) Im Gehen selbst vollzieht sich die Umkehrung vom Unglück zum Glück, von der Armut in Reichtum, vom Verstoßensein zum Auserwähltwerden. Und diese Umkehrung ist in eine dialogische Kausalität eingebettet: Auf das Gehen des Mädchens antwortet ein Gehen des Königssohns: Der Königssohn kam ihm entgegen (140) Der Königssohn aber sprach: »Ich gehe mit und begleite dich«, (140) und der Königssohn ging ihm nach (141) wobei die Präfixe (ent-) und Partikel (mit, nach) die Ausgerichtetheit des Königssohns auf Aschenputtel verstärkt. Die Gehen-Serie findet ihren Abschluß in den beiden einzigen Pluralbelegen des Verbs gehen am Ende des Textes („Als die Brautleute nun zur Kirche gingen" 144, „Hernach, als sie herausgingen"), in denen das Gehen des Königssohns und des Mädchens miteinander verschmolzen sind. Die Gehen-Serie ist verknüpft mit einer Geben-Nehmen-Serie. Aber ihre Ausgestaltung ist komplexer als im Sterntalermärchen. Wie dort („das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte") erleidet das Mädchen auch hier das Geben zunächst passiv („und dem Aschenputtel gab er [der Vater] den Reis von dem Haselbusch", 138). Erst in den beiden Episoden des Linsenaufsammelns wird das Mädchen zum Agens des Gebens („Da brachte das Mäd-

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Die im Folgenden angegebenen Seitenzahlen beziehen sich alle auf denselben Fundort.

191 chen die Schüssel der Schwiegermutter", 139; "Da trag das Mädchen die Schüsseln zu der Schwiegermutter", 140). Aber anders als im Sterntalermärchen wird die Umkehrung von Geben und Nehmen hier als Konflikt thematisiert, denn dem Geben Aschenputtels antwortet die Stiefinutter durch ein Nicht-Annehmen. Diese Verweigerung wird erst durch den Königssohn aufgehoben, der das dialogische Gleichgewicht wiederherstellt, indem er fast ganz auf der Seite des Nehmens steht: Der Königssohn [...] nahm es bei der Hand (140) Der Königssohn [...] nahm es gleich bei der Hand (141) Da nahm er sie als seine Braut (142+143) er aber nahm Aschenputtel aufs Pferd (144)

Der Konflikt zwischen Geben und Nehmen wird - wie im Sterntalermärchen - über das Kleidermotiv entfaltet. Denn dem Nicht-Nehmen der Stiefinutter geht ein Wegnehmen durch die Stiefschwestern voraus: Sie nahmen ihm seine schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen Kittel an und gaben ihm hölzerne Schuhe. (137)

Nicht nur Geben, Nehmen, auch das Aus- und Ankleiden bleibt hier, am Anfang des Märchens, noch ganz auf der Seite der Erniedrigung und des Verlustes. Die gesamte folgende narrative Entwicklung des Märchens steht im Dienst einer sukzessiven Umkehrung der Wertigkeit dieser Signifikanten. Zunächst erhält das Kleidermotiv eine erste Umwertung, als der dreifachen Weigerung der Stiefinutter („Du hast keine Kleider und Schuhe und willst tanzen", 138, ähnlich auch 139 + 140) eine dreifache Erfüllung gegenübergestellt wird: Da warf ihm der Vogel ein golden und silbern Kleid herunter und mit Seide und Silber ausgestickte Pantoffeln. In aller Eile zog es das Kleid an und ging zur Hochzeit. (140, ähnlich auch 141+142)

Die Kleidung und das Ankleiden führen von nun an aus der Erniedrigung heraus. Auch das Entkleiden hat deshalb nicht mehr den Charakter des Verlustes, sondern des sich Verbergens („da hatte es die schönen Kleider abgezogen [...] und der Vogel hatte sie wieder weggenommen", 141; „hatte dem Vogel [...] die schönen Kleider wieder gebracht und sein graues Kittelchen angezogen", 142). Diese Umkehrung hat ihr Gegenstück in der gescheiterten Schuhanprobe der bösen Stiefschwestern, die sich Zehe und Ferse abhacken, um in den Schuh zu kommen. Vollendet wird der Umkehrungsprozess des Kleidungsthemas, als Aschenputtel sich den goldenen Schuh anzieht: Dann setzte es sich auf einen Schemel, zog den Fuß aus dem schweren Holzschuh und steckte ihn in den Pantoffel, der war wie angegossen. (144)

192 Die Körperlichkeit der Kleidung wird, wie im Sterntalermärchen, durch phonematische Echos zwischen Aktant und Objekt, hier zwischen dem Signifikanten Pantoffel und dem Leitsignifikanten Aschenputtel, hervorgehoben. Die Behandlung der prosodischen Themen in beiden Märchen steht in einer unverkennbaren Kontinuität. So findet sich auch in Aschenputtel eine Variante des e/M-Motivs. Im Gegensatz zum Sterntalermärchen verbindet ein allerdings nicht alle Aktanten miteinander, sondern schafft in erster Linie eine Verbindung zwischen Aschenputtel und der sterbenden Mutter: rief sie ihr e/'/iziges Töchterle/n zu sich ans Bett (137) wird kurz darauf wieder aufgegriffen in: deckte der Schnee ein weißes Tiichle/n auf das Grab (137) Dieses prosodische Thema wird in Aschenputtel noch durch ein M als Echo auf den Signifikanten weinen ergänzt, denn es ist die Trauer, durch die die Verbindung zur Mutter aufrechterhalten wird: und weinte [...] Als der fFinter kam, deckte der Schnee ein we/ßes Tüchle/n auf das Grab (137) weinte und betete, und allemal kam ein weißes Vögle;« auf den Baum (138) zwei weiße Täubchen herein (139) zwei we/ße Täubchen herein (a.a.O.) Dem Weinen kommt eine fast magische Macht zu, es konstituiert eine dialogische Beziehung, der sich auch die Stiefmutter kaum entziehen kann: Als es nun weinte, sprach sie: Wenn du mir zwei Schüsseln [...] rein lesen kannst. (139) Eine ähnlich Funktion besitzen die auf den Signifikanten Mädchen antwortenden Diminutivreihen mit -chen und -lein. So findet sich gleich zweimal folgende Passage: Das Mädchen [...] rief: »Ihr zahmen TäubcAew, ihr TurteltäubcAew, all ihr Vög/ein unter dem Himmel [...], die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. (139) Die dialogische Beziehung zwischen Mensch und Tier findet ihre prosodische Begründung in der Echobeziehung der Signifikanten. Auch die Wortakzentik weist Parallelen zum Rhythmus des Sterntalermärchens auf: Neben dem einleitenden Doppelakzent in Verbindung mit da als Mittel der dramatischen Steigerung („Da nahm er sie [...] da saßen [...] Da bückte er [...].", 142f.) und der Vorliebe fur alternierende Akzentmuster

193 (z.B.„Ünd als sie das gerufen hatten"(144), findet sich das Eltern-Thema wieder, und auch hier vollzieht sich eine Umkehrung der Verlassenheit hinaus zu dem Grabe der Mutter und weinte

(137)

durch die vom Himmel fallenden Gaben: Da warf ihm der Vogel ein golden und silbern Kleid herunter (140)

Der Rhythmus des Stemtalermärchens wird also in Aschenputtel fortgesetzt und erweitert, wobei diese Fortfuhrung nicht so sehr in der Wiederaufnahme einzelner Elemente besteht (das arme Mädchen, der Wald, die Sterne etc.), als vielmehr im systematischen Zusammenspiel der Signifikanten, aus dem die unterschiedlichen Formen der dialogischen Umkehrung hervorgehen, die sich in so vielen Grimmschen Märchen wiederfindet.25 Die dialogische Umkehrung als ein wesentlicher Bestandteil der Grimmschen Märchenpoetik impliziert auch eine Utopie, auf die Wilhelm Grimm selbst in der Vorrede zur ersten Auflage der Kinder- und Hausmärchen hingewiesen hat: Auch, wie in den Mythen, die von der goldnen Zeit reden, ist die ganze Natur belebt, Sonne, Mond und Sterne sind zugänglich, geben Geschenke, oder lassen sich wohl gar in Kleider weben, in den Bergen arbeiten die Zwerge nach dem Metall, in dem Wasser schlafen die Nixen, die Vögel (Tauben sind die geliebtesten und hülfreichsten), Pflanzen, Steine reden und wissen ihr Mitgefühl auszudrücken, das Blut selber ruft und spricht [...]. (Grimm 1812: X)

Das Märchenhafte in den Grimmschen Märchen ist wesentlich von dieser Ausweitung des Dialogischen („reden", „ruft und spricht") auf den gesamten Kosmos („Sonne, Mond und Sterne", „Vögel [...] Pflanzen, Steine") geprägt. Daß dieser universale Dialog keine Idylle ist, sondern Hunger, Not und Bedrohung mit einschließt, zeigt sich nicht zuletzt im Sterntalermärchen. Der Rhythmus im Sterntalermärchen ist keine Struktur. Deshalb läßt er sich nicht auf ein vorgegebenes Muster zurückfuhren, weder auf eine Gattungsstruktur (das Volksmärchen), noch auf eine Erzählstruktur, und auch nicht auf eine metrische Form, wie es Christian Winkler versucht hat, oder auf einen Inhalt, wie dies in der moralisierenden Märchendeutung geschieht. Der Rhythmus ist keine Struktur, eher ein System, die Verwirklichung eines

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Vgl. etwa Kurt Schmidts Analyse des Märchens Der Froschkönig. Schmidt untersucht vor allem den Dialog zwischen der Königstochter und dem Frosch und zeigt, daß zwischen den Äußerungen der beiden Aktanten eine Beziehung der „symmetrischen Umkehrung" besteht (Schmidt 1932: 34ff.).

194 poetischen Systems, das sich weiterentwickelt und über das SterntalerMärchen hinausgeht und die gesamte Bearbeitungs- und Erzählweise Wilhelm Grimms prägt.

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Die Metrisierung des Rhythmus bei Benn

Die folgende Rhythmusanalyse hat eine dreifache, nämlich eine empirische, theoretische und methodische Ausrichtung. Empirisch geht es, wie in den beiden vorangegangenen Kapiteln auch, um die Beschreibung der semantischen Funktionsweise des Rhythmus in einer konkreten Rede, wobei untersucht werden soll, wie die lexikalischen, syntaktischen, prosodischen, metrischen und akzentischen Elemente des Textes durch die Beziehungen, in denen sie stehen, zu Signifikanten werden, die die semantische Spezifik eben dieses Textes bedingen. Was die theoretische Ausrichtung dieses Kapitels angeht, so resultiert sie aus der Textauswahl. Denn das Werk von Gottfried Benn stellt einen Testfall für die Beziehung zwischen Rhythmus, Metrum und Subjekt dar. Bèi Benn werden, vielleicht deutlicher als bei irgendeinem anderen deutschen Dichter des 20. Jh., die Konsequenzen einer Metrisierung des Rhythmus für das Subjekt in der Sprache sichtbar, die bei ihm mit einer Poetik der Entsubjektivierung, der Auslöschung des Subjekts durch den Rausch, das Vergessen und das Gedicht korreliert. In methodischer Hinsicht schließlich geht es um die literaturwissenschaftliche Anwendung der Rhythmusanalyse. Denn die Interdependenz von Rhythmus- und Subjektkonzeption, der in diesem Kapitel nachgegangen wird, legt den Zusammenhang zwischen Poetik und Ethik, Dichterischem und Politischem offen, der in der Benn-Forschung bis heute kontrovers diskutiert wird.

6.1 Eine Poetik ohne Ethik? Benn selbst hat immer wieder, häufig unter Berufung auf Nietzsches Wort von der Kunst als der „eigentlich metaphysischen Tätigkeit dieses Lebens", die Trennung zwischen Kunst und Leben betont. 1 In der Nachkriegsrezep1

Zum Beispiel in Züchtung I (1933, Benn 1959,1: 216f.) und in dem Vortrag in Knokke{ 1953, a.a.O., 543).

196 tion seines Werkes fand Beans ästhetizistische Position ein positives Echo und wurde nicht selten zum Wesensmerkmal der Moderne überhaupt erhoben.2 Repräsentativ für diese Phase der Rezeption sind die folgenden Zeilen des Benn-Spezialisten Edgar Lohner aus dem Jahre 1961: Je ferner die Wirklichkeit rückt, desto mehr fallt die Dichtung auf ihr eigenes Element, das der Sprache, zurück. In dieser Hinwendung auf die eigene Substanz, auf das der Wirklichkeit entfremdete Wort, liegt Größe und Verhängnis der modernen Dichtung, liegt auch die Größe und das Schicksal Gottfried Benns. (Lohner 1961: 50f.)

Die Übereinstimmung mit Benns eigenen philosophischen und poetischen Positionen, auf die sich die ästhetizistische Rezeption berufen konnte, entpuppte sich bald als deren Hauptschwäche, denn die Interpretationen, die sie hervorbrachte, erschöpften sich zwangsläufig in ausgedehnten Paraphrasen des Werkes. Zu diesen paraphrasierenden Interpretationen gehört auch Edgar Lohners Gedichtanalyse von Abschied. Zur vierten Strophe des Gedichtes schreibt er etwa: Die letzte, entscheidende Fremdheit zwischen Dichter und Welt aber wird sichtbar in den Zeilen, in denen dieser Wissende die Ruhmlosigkeit seines Dichtens zum Ausdruck bringt. Nichts hat er gewonnen. Kein Segen wurde ihm zuteil. Die Welt versagt ihm das Zeichen der Fruchtbarkeit, die Ährenkrone. Seine Stirn bleibt leer. Das späte Ich ist ein einsames Ich [...]. (Lohner 1964: 460)

Lohner versucht das Gedicht noch einmal zu sagen, mit einem Vokabular, das teilweise dem Gedicht selbst entlehnt ist („Welt", „Zeichen", „Ährenkrone") und teilweise aus Benns Essays stammt („das späte Ich"). Die paraphrasierenden Interpretationen sind heute nur noch Zeugnisse einer historisch gewordenen Benn-Begeisterung, zur Erhellung des Werkes vermögen sie kaum mehr beizutragen. Die Grenzen der ästhetizistischen BennRezeption zeigen sich besonders dort, wo es um die Modernität Benns geht. So entdeckt etwa Harald Steinhagen in seiner Untersuchung der Statischen Gedichte als „zentrales Thema" des Zyklus den „Gegensatz von Kunst und Wirklichkeit" (Steinhagen 1969: 233). Dieser Gegensatz ist für Steinhagen das Charakteristikum der Moderne, denn spätestens seit Goethe gibt es

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In exemplarischer Weise von Hugo Friedrich: „Die seit dem endenden 18. Jh. angebahnte Macht der Phantasie ist im 20. Jh. endgültig geworden. Auch die Lyrik wurde endgültig zur Sprache einer ausschließlich von Phantasie erschaffenen, die Wirklichkeit überspringenden oder vernichtenden Welt." (Friedrich 1956: 149). Die Konsequenz von Friedrichs ästhetizistischem Modernitätsbegriff ist die Charakterisierung des modernen Gedichts in ausschließlich negativen Kategorien („Abnormität", „Enthumanisierung", „Desorientierung" etc.).

197 „innerhalb der Wirklichkeit nirgends mehr einen Punkt, von dem aus sich ihre chaotische Bewegung ordnen und sinnvoll deuten läßt" (a.a.O., 249). Nur der „Rückzug auf die Kunst" und die „gesetzmäßig gegliederte Form des Kunstwerks" gewähren noch einen „Abglanz der alten Ordnimg" (a.a.O., 249f.). Paradoxerweise muß sich deshalb die poetische Modernität in ihr Gegenteil verkehren: Sie ist nur noch die „Erinnerung an die alte Ordnung der Welt" (a.a.O., 262), ein „Abbild einer real nicht mehr vorhandenen, zerbrochenen Ordnung" (a.a.O., 263). Die Modernität Benns erschöpft sich damit in seinem Festhalten an der poetischen Tradition.3 Noch Bruno Hillebrand hält an diesem Deutungsmuster fest.4 Der Grund für die Verbreitung des Ästhetizismus in der Benn-Rezeption liegt nicht zuletzt in der politischen Situation der Nachkriegszeit. Benn bot eine Alternative zur Auseinandersetzung mit den Schrecken der jüngsten Geschichte, indem er die Möglichkeit eines Daseins jenseits aller politischen Widrigkeiten zu eröflhen schien.5 Benns Dichtung brauchte nicht nach ihrer 3

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In der einzigen mir bekannten Untersuchung zum Rhythmus bei Benn von Clemens Heselhaus findet sich ebenfalls diese Umkehrung des Modernen in die Tradition (Heselhaus 1962). Heselhaus sieht in dem Rhythmus den wichtigsten Beitrag Benns zur poetischen Moderne: „Alle diese verstreuten Ansätze, das moderne Gedicht auf dem Rhythmus zu begründen, gipfeln schließlich in dem rhythmischen Ausdruck, den Gottfried Benn seinen Gedichten geben konnte." (Heselhaus 1962: 258). Aber diese Modernität trägt eher die Züge einer nostalgischen Rückkehr zur poetischen Tradition: „In Benns Diktion klingt noch [...] der alte JambenRhythmus nach." (a.a.O., 268). Und zusammenfassend meint Heselhaus: „Der Rhythmus wird zur Melodie der Trauer und Schwermut. Das zeigt zuletzt noch einen geheimen Grundzug von Benns Lyrik, über den man meist verschämt hinwegsieht: die zarte Ergriffenheit, die sich nicht so selten bis zum Sentimentalen steigert. Dahin gehören die vielen Rosen in den Gedichten [...]. In solchen Motiven und Wendungen können Elemente der sonst so verurteilten Lyrik des 19. Jh. wieder auftauchen." (a.a.O., 285). Bruno Hillebrand stellt Benn mit Schiller und Hölderlin auf eine Stufe: „Er hat der geistigen Situation des Abschieds von alten Wertvorstellungen und Weltanschauungen noch einmal Ausdruck gegeben [...]. Er stand somit in einer Tradition, die heute zweihundert Jahre zurückreicht [...]. Schiller und Hölderlin eröffneten in Deutschland diesen Abschiedsgesang." (Hillebrand 1985:17). „Gottfried Benns Rückzug auf eine ästhetizistische Position bedeutete gleichzeitig eine Absage an die Geschichte an sich [...]. Diese Position, die das Apolitische zu ihrem Programm erklärte, mußte im Nachkriegsdeutschland erhebliche Anziehungskraft ausüben." (Deußen 1987: 81). Hans-Jürgen Schmitt schreibt zu dieser Anziehungskraft rückblickend: „Bei ihm wurden die Schmerzen unserer Jugend kompensiert, die Spannungen unserer Ambivalenzen; durch sein Pathos, seine

198 ethischen Dimension befragt zu werden, denn die Trennung von Dichtung und Welt setzte sich konsequenterweise in der Trennung von Ästhetik und Ethik fort, so daß dort, wo der Frage nach der politischen Dimension nicht mehr auszuweichen war, diese sich ausschließlich auf die Person Benns, nicht auf sein Werk erstreckte. Symptomatisch fur diese Verschiebung ist das Irrtum-Motiv in der Benn-Forschung. Zu den ersten, die von dem Irrtum Benns gesprochen haben, gehört Oskar Jancke, der 1950 die „Antithese Leben-Kunst" bei Benn hervorhob und Benns zeitweiliges Engagement für den Nationalsozialismus als den „grandiosen Irrtum eines Intellektualisten" bezeichnete (in: Hohendahl 1971: 243). Damit war das Muster vorgebildet, welches in der Benn-Rezeption bis heute nachwirkt.6 Von einem Irrtum bei Benn zu sprechen, impliziert aber zweierlei: Erstens, daß eine Unterscheidung zwischen einem eigentlichen Benn (dem Dichter) und einem uneigentlichen Benn (dem politischen Essayisten) möglich sei. Und zweitens, daß die politische Seite von Benns Werk auf eine biographische Episode beschränkt werden könne, so daß, sobald die Frage nach der politischen Dimension seines Werkes gestellt wird, nur noch über das Verhalten des Autors diskutiert wird. Das Irrtum-Motiv hat bewirkt, daß die Frage nach der politischen Dimension von Benns Werk ferngehalten wird, aber doch nicht überall und nicht dauerhaft.

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Weltverachtung, diese Mischung aus Melancholie und Zynismus, fühlten wir uns bestätigt, ja derart aufgehoben, daß wir auch seine Formel vom »zoon politikon, ein griechischer Mißgriff, eine Balkanidee« begeistert annahmen. Der Wiederaufbau der Bundeswehr war gerade im Gange, und die ersten Söhne, deren Väter in Hitlers Krieg gefallen waren, sollten in die Kasernen einrücken." (in: Hillebrand 1987: 282). Hier seien einige Varianten dieses Motivs in der neueren Benn-Rezeption aufgelistet: „Benn überantwortete sich blindlings den Nazis - nicht, weil er für deren Ideen etwas übrig hatte, sondern aus Trotz und politischer Instinktlosigkeit.", HansJürgen Heise, 1981 (in: Hillebrand 1987: 132); an anderer Stelle spricht Heise von Benns „Ignoranz in weltanschaulichen Dingen" (a.a.O., 132); „das zeitweilige Mißverständnis", Rudolf Hagelstange, 1982 (in: Hillebrand 1987: 218); „Benn als der »Himmel und der Erde Formalist« war [...] politisch naiv", Hans-Jürgen Schmitt, 1986 (in: Hillebrand 1987: 288), „Ein mit Blindheit Geschlagener", Albrecht Schöne, 1986 (in: Hillebrand 1987: 296); „Gottfried Benns Subjektkritik und sein politischer Fehlschritt", Silvio Vietta, 1989 (in: Glaser 1989: 236); „sein intellektueller Sündenfall, das rückhaltlose Bekenntnis zu den braunen Kolonnen 1933/34 kann unmöglich den ganzen Benn meinen.", Alexander Bormann, 1989 (in: Glaser 1989: 32).

199 Eine Gegenposition zu den ästhetizistischen Rezeptionen bildet die marxistische Kritik, die sich vor allem mit dem politischen Charakter von Benns Lyrik auseinandergesetzt hat: „Selbst die »politische« Wirkung des »unpolitischen« Kunstwerks steht außer Zweifel. Benn liefert dazu geradezu ein klassisches Beispiel [...]." (Reichel 1979: 337). Peter Reichel hat in seinem Aufsatz über Benns Artistenevangelium die ethischen Implikationen der Trennung zwischen Dichtung und Wirklichkeit herausgearbeitet: Mit der Abkehr von der Gesellschaft erkennt Benn auch keine gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers mehr an. Seiner Meinung nach steht er außerhalb einer verpflichtenden menschlichen Ethik, die Moral hat für ihn keine Gültigkeit. (a.a.O., 333)

Aber gerade dort, wo der Marxismus den politischen Charakter der Dichtung entdeckt, verliert er die Spezifik der Dichtung selbst aus dem Blick. Das Gedicht wird von Reichel auf eine klassenideologische Äußerung reduziert („Das Monologische dient dazu, in Gestalt der Lyrik ein reaktionäres politisches Programm zu formulieren", a.a.O., 338). Damit erscheint alles, was an einem Gedicht ideologisch nicht auflösbar ist, als dunkel, irrational und suspekt. So schreibt Reichel über die zweite Strophe des Gedichtes Abschied: Immer, wenn die Erkenntnis versagt und er, angeekelt vom »Wahn der Wirklichkeiten«, nichts über die Welt mitteilen kann und will, flüchtet sich Benn - wie hier im Gedicht »Abschied«- in Dunkelheit und Mystik, baut einen irrationalen Raum auf, den er glorifiziert und damit als Tiefe deklariert, über den er aber nichts auszusagen vermag. (a.a.O., 323)

Aber der schon 1934 von Georg Lukács in die Expressionismus-Debatte eingebrachte Irrationalismusvorwurf verfehlt das Gedicht, weil er eine objektive Realität postuliert, die das Gedicht widerspiegeln muß, um nicht als irrational abqualifiziert zu werden. Denn „irrational" kann hier nichts anderes bedeuten als „nicht konform mit der eigenen Ideologie". Aber das Gedicht selbst ist ja gerade eine Kritik der objektiven Realität, es kritisiert die ideologische Reduzierung der Wirklichkeit, indem es die Wirklichkeit in dem Ich-Jetzt-Hier-System der Rede, also in der Geschichtlichkeit des Sprechens selbst, neu begründet.7 Subjektivität und Ideologie müssen einen unversöhnlichen Gegensatz bilden, da sich die Ideologie in der Funktionalisierung des Subjekts gründet. In diesem Sinne hat Hilde Domin in Wozu Lyrik Heute von der Gefahr der „Funktionalisierung" gesprochen, gegen die sich das Gedicht wehrt: "Denn gerade das ist das Wesen der Funktionalisierung, daß die Identität verlorengeht, der Mensch zum »Treffpunkt seiner Funktionen« wird. Um so wichtiger, um so unentbehrlicher ist jener magi-

200 In der vorliegenden Untersuchung soll dem verschleierten oder geleugneten Zusammenhang zwischen Poetik und Ethik in Benns Werk durch die Analyse des Rhythmus in dem Gedicht Abschied nachgegangen werden. Dabei soll Benn weder auf eine ideologische Position, noch auf ein wertfreies ästhetisches Phänomen reduziert werden. Um den Zusammenhang zwischen der poetischen und der ethischen Dimension zu analysieren, werden deshalb bei der Analyse des Gedichtes Beziehungen zu anderen Gedichten, zu den Essays und den Briefen aufgezeigt werden. Insofern schließe ich an neuere Arbeiten zu Benn an, die die Beziehung von Poetik und Ethik untersucht haben, wie etwa von Jürgen Schröder (1986) und von Hugh Ridley (1990). Das Neue dieser Untersuchung liegt also nicht in der Fragestellung an sich sie hat schon Walter Muschg 1956 formuliert („das Rätsel Benn ist der nicht durchschaute Zusammenhang zwischen Kunst und Moral.", in: Hohendahl 1971: 328) - sondern darin, daß hier versucht werden soll, sie von der Funktionsweise des Rhythmus her zu beantworten. Denn wenn der Rhythmus die Gestaltung des Subjekts in der Rede ist, dann gibt es keine Trennung zwischen Dichtung und Wirklichkeit, Sprechen und Sein. Dann konstituiert sich im Sprechen das Subjekt als Intersubjektivität, als Beziehung zum Anderen, zur Umwelt und zur Gegenwart. Im Rhythmus entdeckt man das Gedicht nicht mehr nur als ästhetisches Objekt, sondern als Tätigkeit eines Subjekts, als ein Machen im Sagen. Dieses Sinn-Machen durch den Rhythmus ist Gegenstand der folgenden Untersuchung.

6.2 Zu Situation und Kontext des Gedichtes Abschied steht an letzter Stelle in den Zweiundzwanzig Gedichten, die Benn 1943 als Privatdruck an einige Freunde verschickte. Es gehört damit zu jenem Teil des Werkes, der während der Zeit des Schreibverbotes entstand, das die Reichsschriftkammer 1938 über Benn verhängte. Benn hat die Jahre nach 1935, in denen er zunächst als Militärarzt bei der Heeressanitäts-Inspektion in Hannover und ab 1937 als Sanitätsoffizier in Berlin arbeitete, als eine Zeit sehe Gegenstand, jenes Sesam-öflhe-dich, das die Lyrik ist." (Domin 1971: 30). Das Gedicht eröffnet den Bereich der Subjektivität: „Indem das Gedicht dem Menschen hilft, er selbst zu sein, indem es ihm hilft, die eigene Erfahrung zu benennen und mitzuteilen, hilft es ihm, der Wirklichkeit Herr zu werden, die ihn auszulöschen droht [...]. Wir sind fiir einen Augenblick Subjekt, nicht Objekt der Geschichte." (a.a.O., 48).

201 der inneren Emigration erlebt.8 Es wird zu untersuchen sein, inwiefern die politische Situation dieser Periode ihren Niederschlag in den Gedichten gefunden hat und ob der Rhythmus der Gedichte und ihre Poetik auch eine Antwort auf den Nationalsozialismus darstellen. Die Entstehungszeit der Zweiundzwanzig Gedichte wird von persönlichen Krisen begleitet. So schreibt Benn 1941, im Jahr der Abfassung des Gedichtes Abschied, an seinen Freund F. W. Oelze: Das Altem, das Herz, die Schlaflosigkeit, die Depressionen, die völlige Isoliertheit, die ununterbrochene innere Spannung, sich zu halten, auch sich zu verbergen, alles dies zusammen ist kaum erträglich.9 Die Zweiundzwanzig Gedichte sind geprägt von diesem Gefühl der Krise, die über das private Leiden hinausgeht und die politischen Verhältnisse miteinbezieht. Sie thematisieren daher immer wieder die Abkehr von einer unerträglich gewordenen Gegenwart: Den Darm mit Rotz genährt, das Hirn mit Lügen erwählte Völker Narren eines Clown's, (Monolog, Benn 1982: 295) Der Bestienblick: die Sterne als Kaidaunen, der Dschungeltod als Seins- und Schöpfungsgrund, Mensch, Völkerschlachten, Katalaunen hinab den Bestienschlund. (Verlorenes Ich, a.a.O., 309) Das Leiden an der Gegenwart führt zu einer Poetik der Innerlichkeit. Das Gedicht wird zum Rückzug nach innen: und nun die Stunde, deine: im Gedichte das Selbstgespräch des Leides und der Nacht. (Gedichte, a.a.O., 300) ein Außensein ist dem verboten, der das Gedicht im Keim bewahrt. (Du trägst, a.a.O., 303) Dieses Innen ist zugleich ein Außerhalb, ein Außerhalb der Zeit: Gebilde, die die Welt versöhnen, die ewig sind und nie zu spät. (Unanwendbar, a.a.O., 302)

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An Ina Seidel schreibt er am 12. 12. 1934: „am 1.1. 35 verlasse ich meine Wohnung, Praxis, Existenz, Berlin u. trete in die Armee zurück, aus der ich hervorgegangen bin. Standort unbekannt, Zukunft ungewiß, Titel: Oberstabsarzt [...] es ist eine aristokratische Form der Emigrierung. Kein leichter Entschluß!" (zitiert von Bruno Hillebrand in: Gottfried Benn 1982: 601). Am 24. 4. 1941 (Benn, Briefe an Oelze 1977:1,269).

202 die Macht vergeht im Abschaum ihrer Tücken, indes ein Vers der Völker Träume baut, die sie der Niedrigkeit entrücken, Unsterblichkeit im Worte und im Laut (Verse, a.a.O., 299) aber auch ein Außerhalb des Leidens: noch einmal zu den letzten süßen Worten und zum Vergessen, daß die Träume sind. [...] wenn es auch Träume sind,- noch einmal dies. (Die Züge Deiner, a.a.O., 284) Die Wendung nach Innen impliziert zudem eine Wendung zurück zum Vergangenen, eine Sehnsucht nach dem Früher: Gärten und Nächte tragen ein altes Bild dir her. (Gärten undNächte, a.a.O., 316) zurück, zurück, wo still die Wasser stehn du bist Erinnerung an Urgeschehn, (Unamvendbar, a.a.O., 302) Die Wendung zur Vergangenheit drückt sich ferner in der Dominanz bestimmter metrischer Formen aus: In den kirchen- und volksliedhaften achtund vierzeiligen Strophen, im Kreuzreim und den drei- bis fünfhebigen Jamben. Die Abkehr von der Gegenwart und vom Leiden durch den Rückzug nach Innen prägt, wie zu zeigen sein wird, auch den Rhythmus in dem Gedicht Abschied. Abschied schließt den Zyklus der Zweiundzwanzig Gedichte ab. Das Gedicht vollzieht also durch seine Stellung innerhalb der Sammlung das Ende, welches sein Titel ankündigt.

Abschied I

5

Du füllst mich an wie Blut die frische Wunde und rinnst hernieder seine dunkle Spur, Du dehnst dich aus wie Nacht in jener Stunde, da sich die Matte färbt zur Schattenflur, Du blühst wie Rosen schwer in Gärten allen, Du Einsamkeit aus Alter und Verlust, Du Überleben, wenn die Träume fallen, zuviel gelitten und zuviel gewußt.

203 Π

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Entfremdet früh dem Wahn der Wirklichkeiten, versagend sich der schnell gegebenen Welt, ermüdet von dem Trug der Einzelheiten, da keine sich dem tiefen Ich gesellt; nun aus der Tiefe selbst, durch nichts zu rühren, und die kein Wort und Zeichen je verrät, mußt du dein Schweigen nehmen, Abwärtsfuhren zu Nacht und Trauer und den Rosen spät.

m

Manchmal noch denkst du dich - ; die eigene Sage - : das warst du doch - ? ach, wie du dich vergaßt! war das dein Bild? war das nicht deine Frage, dein Wort, dein Himmelslicht, das du besaßt? 5 Mein Wort, mein Himmelslicht, dereinst besessen, mein Wort, mein Himmelslicht, zerstört, vertan wem das geschah, der muß sich wohl vergessen und rührt nicht mehr die alten Stunden an.

IV

Ein letzter Tag - : spätglühend, weite Räume, ein Wasser fuhrt dich zu entrücktem Ziel, ein hohes Licht umströmt die alten Bäume und schafft im Schatten sich ein Widerspiel, 5 von Früchten nichts, aus Ähren keine Krone und auch nach Ernten hat er nicht gefragt - , er spielt sein Spiel, und fühlt sein Licht und ohne Erinnern nieder - alles ist gesagt.

Die einzelnen Strophen des Gedichtes bilden jeweils eigene, auch durch die Interpunktion klar voneinander geschiedene Einheiten, welche wie aufeinanderfolgende, aber unabhängige Stationen einer Entwicklung wirken, die nicht so sehr beschrieben, als vielmehr im poetischen Sprechen selbst vollzogen wird. Das Gedicht sagt den Abschied, aber es macht etwas anderes. Um dieses Machen im Sagen, um die semantische Performativität des Sprechens auf allen Ebenen des Gedichtes, geht es in der folgenden Rhythmusanalyse.

6.3 Die metaphorische Auflösung des Schmerzes Die Serie der wie-Vergleiche, die das Gedicht einleitet, durchläuft eine Entwicklung vom Schmerzlichen („Blut", „Wunde", I I ) über das Nächtliche („Nacht", „Stunde", „Schattenflur", I 3+4) zum Sehnsüchtigen („Rosen",

204 „Gärten", I 5). Die Auflösung des Schmerzes im Naturhaften wird in Π 8 wiederaufgenommen („zu Nacht und Trauer und den Rosen spät") und in der e;>2-Serie der letzten Strophe (Vers 1-3) zu Ende geführt. Dreigliedrige Anordnungen unterstreichen den strophenübergreifenden Zusammenhang der metaphorischen Blöcke: wie Blut ( I I ) wie Nacht (12) wie Rosen (I 5) zu Nacht und Trauer und den Rosen spät. (Π 8) ein letzter Tag (IV 1) ein Wasser (IV 2) ein hohes Licht (IV 3)

Die Naturmotive fugen sich zu keiner Landschaft zusammen. Sie bleiben Chiffren einer Gegenwelt, die evoziert, aber nicht präzisiert wird. Im Unbestimmt-Naturhaften wird das schmerzhafte Hier und Jetzt dekonkretisiert. So vollzieht die Metaphorik eine Abkehr vom Schmerz. Der Distanzierung von ihm dient zugleich die häufige Verwendung von Substantiven mit unbestimmtem oder Nullartikel: wie Nacht (13) die Matte ... zur Schattenflur (14) wie Rosen... in Gärten (15) Du Einsamkeit aus Alter und Verlust (16) Du Überleben ... die Träume (17) zu Nacht und Trauer und den Rosen spät (Π 8) ein letzer Tag ... weite Räume ( I V I ) ein Wasser (IV 2) ein hohes Licht... die alten Bäume (IV 3) im Schatten ... ein Widerspiel (IV 4) von Früchten ... aus Ähren (IV 5) nach Ernten (IV 6)

Die Abkehr ist aber auch eine Rückkehr zur Naturlyrik des 19. Jh., die sich hier etwa in der von Stefan George beinflußten Lexik niederschlägt.10 Diese

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Edgar Lohner ordnet diese Bildlichkeit dem frühen Rilke zu: „Die Zeile »wie Rosen schwer in Gärten allen« weckt Assoziationen an frühe Rilkegedichte und klingt abgegriffen." (Lohner 1964: 452). Mir scheint hier das Vorbild Stefan Georges zu überwiegen. In Benns Rede aus dem Jahre 1934 wird seine ambivalente Haltung zu George deutlich. Einerseits lehnt Benn eine Rückkehr zur Georgeschen Dichtung ab: „[...] da steht George, und es gibt kein Zurück. Es gibt kein Zurück in eine vielleicht sehr schön gewesene deutsche Innerlichkeit, zu blauen Blumen und Idyll." (Benn 1959,1: 476f.). Andererseits wird George als der Dich-

205 Rückkehr zur Georgeschen Metaphorik fallt mit einer Betonung des Substantivischen zusammen. Benn ist fasziniert vom Substantiv.11 Schon in seinem Essay Epilog und lyrisches Ich (1921), aus dem er einzelne Passagen auch in seinen späteren Aufsätzen immer wieder zitiert, wird die besondere Qualität des Substantivs hervorgehoben: „Worte, Worte - Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öflhen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug." (Benn 1959f., IV: 13). Das Wort, das poetische Wort, ist zunächst einmal das Substantiv. Ihm gilt die Aufmerksamkeit des Dichters: „dem Wort, ganz besonders dem Substantivum, weniger dem Adjektiv, kaum der verbalen Figur. Sie gilt der Chiffre, ihrem gedruckten Bild, der schwarzen Letter, ihr allein."(a.a.O., 12). Das Substantiv wird zur Substanz; es wird stofflich und damit magisch, und wie eine magische Substanz wirkt es auch auf das Ich: „Regressionstendenzen, Zerlösung des Ich! Regressionstendenzen mit Hilfe des Worts, heuristische Schwächezustände durch Substantive das ist der Grundvorgang, der alles interpretiert." (a.a.O., 14). Es ist erstaunlich, daß ausgerechnet Benn, der vielleicht öfter als irgendein anderer deutscher Dichter des 20. Jahrhunderts vom „lyrischen Ich" gesprochen hat, durch seinen Sprachrealismus gerade eine antithetische Gegenüberstellung zwischen Wort und Ich bewirkt. Und es ist zu fragen, ob diese Antithese, auf die man in seiner Poetik immer wieder stößt, auch in seiner Dichtungspraxis wirksam ist. Das Sagen des Gedichtes ist zugleich ein Machen, auch dann, wenn es etwas anderes macht, als es sagt. Dieses Machen im Sagen wird in Abschied the-

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ter der Form und des Geistes zum poetischen Ideal erhoben: „Es ist das Formgeftihl, das die große Transzendenz der neuen Epoche sein wird [...]. Es wird also ein Zeitalter des Geistes sein [...]. Dieser Geist ist ungeheuer allgemein, produktiv und pädagogisch, nur so ist es zu erklären, daß sein Axiom in der Kunst Georges als ein Kommando lebt. Es ist der Geist des imperativen Weltbildes, das man an vielen geschichtlichen Stellen kommen sieht." (a.a.O., 475f.). Die autoritäre Sprache („imperatives Weltbild", „ein Kommando") ist nicht nur ein Zugeständnis an den Zeitgeist. Sie bewirkt, genau wie die prophetische Redeweise ( , 3 s wird ein Zeitalter des Geistes sein") eine poetische Unterordnung unter das Vorbild Georges und ein Zurück zu den blauen Blumen, das Benn sich zugleich verbietet. Was schon Carl Einstein bei den frühen Gedichten Benns bemerkt hatte, nämlich ihren substantivischen Rhythmus („Diese zerebralen Halluzinationen werden zwangsmäßig, orakelhaft herumgestoßen und verdichten sich zu einer Folge von Substantiven." in: Hohendahl 1971: 124), gilt, wenn auch in modifizierter Form, auch für den späten Benn.

206

matisiert. Es spricht nicht nur, es spricht auch vom Sprechen. Von der zweiten Strophe an wird ein Wortfeld des Sagens entwickelt: die kein Wort und Zeichen je verrät, (Π 6) mußt du dein Schweigen nehmen (Π 7) die eigene Sage (ΙΠ 1) deine Frage (ΠΙ3) dein Wort (ΙΠ4) Mein Wort... dereinst besessen, (LH 5) mein Wort... zerstört, vertan - (ΙΠ 6) vergessen (ΙΠ7) nicht gefragt - , (IV 6) alles ist gesagt. (IV 8)

Statt einer Antithese zwischen Wort und Ich zeigt sich in der Verwendung der Possessivpronomen zunächst die Verknüpfung von Wort und Subjekt; die Subjekthaftigkeit des Wortes („mein Wort") tritt in HI sogar ganz in den Vordergrund. Aber in dieser Verbindung artikuliert sich das Ich als Konflikt. Denn das Wort ist vor allem als Frage präsent. Es wird auch durch den Reim zweimal mit der Frage verknüpft (ΙΠ 1/3: „Frage", „Sage"; IV 6/8: „gefragt", „gesagt"). Die Frage ist in Abschied zugleich mit Erkenntnis verbunden („das warst du doch - ?"), mit der Erkenntnis des Schmerzlichen, dem Verlust („dereinst besessen", ΠΙ 5) und der Schuld („zerstört, vertan", ΠΙ 6). Deswegen steht dem Leiden an der Frage die Abkehr von der Frage durch das Vergessen gegenüber. Schon in ΙΠ negiert das Vergessen die Erkenntnis („wem das geschah, der muß sich wohl vergessen", ΠΙ 7).12 In IV wird der Zusammenhang von Vergessen und Nicht-Mehr-Fragen dann nochmals bekräftigt („hat er nicht gefragt", „ohne Erinnern nieder", IV 6/7). Das Gedicht selbst vollzieht dieses Vergessen schließlich durch das „alles" des Schlußverses („alles ist gesagt", IV 8). Denn dies „alles" vergißt das Ungesagte, das Unerinnerte. Das „alles" ist ein Alles „ohne Erinnern". Die Schmerz- und Erkenntnisvergessenheit schließt eine Ich-Vergessenheit mit ein („der muß sich selbst vergessen", ΠΙ 7). Das Ich wird aus dem Wort, 12

Die Abkehr von der Frage ist eine Konstante in den Gedichten Benns: „Die Ausschaltung des Fraglichen" (Durch 's Erlenholz kam sie entlang gestrichen , 1916, Benn 1982: 86), „nur nicht fragen, / nur nicht verstehen; den Himmel tragen, / die weitergehen," (Durch jede Stunde, 1933, a.a.O., 242), „frage nicht, was es nützt, / du leidest — " (Dein ist, 1934, a.a.O., 259), „was ist das? // die Frage der Fragen! aber kein Besinnlicher / fragt sie mehr — /" .(Stilleben, 1950, a.a.O., 387). In den Gedankenstrichen als Ausdruck einer Sprechpause vollzieht Benn selbst die Abkehr von der Frage und die Hinwendung zum Schweigen.

207 der Frage, dem Schmerz und der Erkenntnis in das Schweigen verlegt. Das Schweigen seinerseits steht zum einen auf der Seite des Dunklen („mußt du dein Schweigen nehmen, Abwärtsfiihren / zu Nacht und Trauer [...] Π 7/8) und damit in einem Kontrast zur Lichtmetaphorik des Wortes („mein Wort, mein Himmelslicht", m 5f.). Zum anderen wird es über das Substantiv „Tiefe" dem Ich zugeordnet („[...] dem tiefen Ich [...] / Nun aus der Tiefe selbst", Π 4/5). Die Verbindung von Ich und Schweigen ist grundlegend für die Konzeption des lyrischen Ich bei Benn. Denn wenn „im akausalen Dauerschweigen des absoluten Ich", von dem Benn in seinem ExpressionismusEssay von 1933 gesprochen hat (Benn 1959, I: 243), das Wesen des lyrischen Ich liegt, so steht auch das Gedicht selbst auf der Seite des Schweigens. Die Suche nach dem Schweigen in der Sprache mündet in Benns Konzeption des Monologischen: Kein Zweifel, das moderne Gedicht ist monologisch, es ist ein Gedicht ohne Glauben, ein Gedicht ohne Hoffnung, ein Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren. ( Vortrag in Knokke, 1952, Benn 1959,1: 547)

Im poetischen Monolog wird die Sprache entsubjektiviert und erhält schließlich Dingcharakter („montieren"). Damit kann sie sich auch nicht mehr an ein Gegenüber richten: („Das Gedicht ist also absolut - gerichtet an das Nichts", a.a.O., 548). Der Monolog schließt bei Benn das Du aus der Sprache aus.13 Insofern ist das allein auf sich selbst bezogene „er" in der letzten Strophe nur eine Fortsetzung der Du-Verweigerung. Das abschließende „alles ist gesagt" braucht dann kein Aussagesubjekt mehr. Das Gedicht spricht sich selbst zu Ende. Es macht die Einsamkeit, die es thematisiert. Seine Bedeutungsweise schafft die Isolierung des Ichs. Die Ich-Isolation ist nicht nur ein Paradigma des Todes bei Benn, sie ist auch Teil seiner poetischen Utopie: die Hofíhung auf eine Erlösung durch das von allem losgelöste lyrische Ich.14 13

14

Paul Celan dagegen hat in seiner Rede anläßlich der Verleihung des GeorgBüchner-Preises 1960 hervorgehoben, daß im Gedicht, auch im modernen, das Monologische im Dialog begründet bleibt: „Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben. Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung - im Geheimnis der Begegnung'? Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu." (Celan 1992: 198). Das lyrische Ich tritt an die Stelle des Göttlichen: , 3 s gibt nur den Einsamen und seine Bilder, seit kein Manitu mehr zum Clan erlöst." (Zur Problematik des

208 Diese metaphysische Überhöhung des lyrischen Ich spiegelt sich in Abschied in der mehr oder minder offensichtlichen Christus-Identifikation. So paraphrasieren die Schlußworte „alles ist gesagt." (IV 8) das Es-ist-vollbracht des sterbenden Jesu am Kreuz, und im ersten Vers klingt Paul Gerhards „O Haupt voll Blut und Wunden" an.15 Die Form des protestantischen Kirchenliedes wird auch in der achtzeiligen kreuzreimenden Strophe wieder aufgegriffen. Dieser Erlösungsmotivik entspricht Benns Auffassung von der Dichtung als Substitut für das Religiöse.16 Benn hat in diesem Zusammenhang von seinem „Fanatismus zur Transzendenz" gesprochen, den er aus seinem Elternhaus mitgebracht habe, und hinzugefugt: „Aber ich sehe diese Transzendenz ins Artistische gewendet, als Philosophie, als Metaphysik der Kunst. Ich sehe die Kunst die Religion dem Range nach verdrängen." (Fanatismus zur Transzendenz, Benn 1959f., IV: 235). Die Erlösung impliziert fur Benn keine ethische Verantwortung; sie ist ohne Bezug zu einem Gegenüber: „Innerhalb des allgemeinen europäischen Nihilismus, innerhalb des Nihilismus aller Werte, erblicke ich keine andere Transzendenz als die

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Dichterischen, Benn 1959, I: 82). Und an anderer Stelle: „Ein Ich, mythenmonoman, religiös faszinär: Gott ein ungünstiges Stilprinzip, aber Götter im zweiten Vers etwas anderes wie Götter im letzten Vers - ein neues ICH, das die Götter erlebt: substantivistisch suggestiv." (Epilog und Lyrisches Ich, Benn 1959£, IV: 11). Auch in dem Gedicht Prolog (1936) dient das Paul-Gerhard-Lied der ChristusIdentifikation: „Niemandes - : beuge, beuge / dein Haupt in Dom und Schleh'n, / in Blut und Wunden zeuge/ die Form, das Auferstehn, / [...]." (Benn 1982: 274). Das Es-ist-vollbracht-Motiv findet sich in dem Schlußvers des Gedichtes Suchst du - (1936) wieder: „ach, nur im Werk der Vernichter / siehst du die Zeichen entfacht: / kühle blasse Gesichter / und das tiefe: Vollbracht." (a.a.O., 279). Schon in der frühen Prosa-Skizze Heinrich Mann. Ein Untergang (1913) findet sich der Satz: „Aller Abschied ist vollbracht." (Benn 1959t, Π: 11). Über Rönne, den Protagonisten seiner frühen Erzählungen, schreibt Benn 1950 in einem Brief an Dieter Wellershoff: „[...] eine Elevation durch das Wort, seine Sakramentation des Wortes, ein Heiligungs- und Erlösungssphänomen mit Hilfe des dichterischen Wortes - das ist Rönne." (zitiert in: Manthey 1989: 66). Jürgen Schröders Deutung der Christus-Identifikation weist in die gleiche Richtung: „Dieser Weg Benns in eine immer intensivere und eigentümlichere Nachfolge Christi hat zwei Voraussetzungen: die eine, die sich schon vor 1934 bildete, ist die Vorstellung, daß das Zeitalter der Religion nach Nietzsche von einem Zeitalter der Kunst abgelöst worden ist, daß die Kunst die Funktion der Religion übernommen hat; die zweite, wichtigere Voraussetzung - und ein Resultat seiner frühen Enttäuschung durch das »Dritte Reich« - bildet sein Wiederanknüpfen an der mittelalterlichen Zwei-Reiche-Lehre [...]." (Schröder 1986: 42).

209 Transzendenz der schöpferischen Lust." (a.a.O.).17 Der einzige Inhalt der Bennschen Erlösungspoetik ist die Abkehr vom Schmerz, also genau der Aspekt, der auch in Abschied die verschiedenen metaphorischen Ebenen verbindet.

6.4 Syntaktische Reihung und statische Zeitlichkeit Geht man von der Interpunktion aus, so bilden die Strophen I, Π und IV jeweils einen einzigen Satz. ΠΙ ist in jeweils zwei je vier Verse umfassende Sätze untergliedert, die durch die Großschreibung in ΠΙ 5 von einander getrennt werden. Damit wird die Strophe zur größten syntaktischen Einheit des Gedichts. Es gibt in Abschied weder einen Konflikt zwischen Syntax und Strophe noch zwischen Syntax und Vers. Zwar werden fast alle Verse mit Enjambement verbunden, aber die Enjambements fallen mit deutlichen syntaktischen Einschnitten zusammen. Die Einheit des Verses wird syntaktisch nicht in Frage gestellt. Nur in IV 7-8 trennt ein Enjambement Präposition und Substantiv voneinander („ohne / Erinnern"). Beide Worte werden durch diese Disjunktion betont und erhalten ein ähnlich starkes Gewicht wie das abschließende „alles ist gesagt". Die Syntax paßt sich der Strophe und dem Vers an. Diese metrische Anpassung ist ein Bekenntnis zum strophischen Charakter der Dichtung, zur Dichtung als Form, und das heißt bei Benn zur überlieferten und scheinbar zeitlosen Form.18 Die Syntax dient aber auch der Schaffung ternärer Gruppen, die das gesamte Gedicht durchziehen:, 17

18

Es gibt eine Affinität zwischen dieser Monomanie des lyrischen Ich und Benns eigener Sichtweise der nationalsozialistischen Ideologie: „Führer ist nicht der Inbegriff der Macht, ist überhaupt nicht als Terrorprinzip gedacht, sondern als höchstes geistiges Prinzip gesehen. Führer: das ist das Schöpferische, in ihm sammeln sich die Verantwortung, die Gefahr und die Entscheidung, auch das ganze Irrationale des ja erst durch ihn sichtbar werdenden geschichtlichen Willens [...]." (Züchtung 1, 1933, Benn 1959f., I: 214). Benn identifiziert die Funktion des Führers mit der des Dichters („Führer: das ist das Schöpferische"), die beide als Vollstrecker eines metaphysischen Auftrags („geschichtlichen Willens") erscheinen. Benns Rede auf Stefan George (1934) illustriert diesen überzeitlichen Anspruch seines Fonnbegriffs, etwa wenn er schreibt: „dieser Wille zur Form, dieses neue Formgefiihl, das ist nicht Ästhetizismus, nicht Intellektualismus, nicht Formalismus, sondern höchster Glaube: entweder es gibt ein geistiges Weltbild, und dann

210 Du + Verb + ObjektAxK + wie + Adverbialgruppe ( I I ) Du + Verb + ObjektAKK + wie + Adverbialgruppe (13) Du + Verb + + wie + Adverbialgruppe (I 5) Partizip Perfekt + Adverbial + Objekt DAT (Π 1) Partizip Präsens19 + Objekt DAT (Π 2) Partizip Perfekt + Objekt DAT (Π 3) Possessivpron.2 sm + Nomeni, Possessivpron.2 SIN + Nomen2, Possessivpron.2 sm + Nomenj Possessivpron. ι sm + Nomen2, Possessivpron. ι sm + Nomen3 Possessivpron. ι sm + Nomen2, Possessivpron. ι sm + Nomenj

(ΙΠ 3) (ΙΠ 4) (ΙΠ 5) (ΙΠ 6)

ein + Nominalgruppe (IV 1) ein + Nominalgruppe (IV 2) ein + Nominalgruppe (IV 3) Präp + Nomeni... Präp + Nomen2... (IV 5) Präp + Nomen3 (IV 6) In ΠΙ bilden die Nominalreihungen eine ineinander verschachtelte ternäre Struktur: horizontal durch die aufzählende Abfolge „[...] Nomen b [...] Norn en2,[...] Nomen3" und vertikal durch die dreifache Wiederholung der Folge „[...] Nomen2, [...] Nomen3".Dazu kommen ternäre Gruppen, die sich aus bestimmten Reihungsmustern ergeben. Das sind einerseits solche mit der Form „Syntagma!, Syntagma2 + „und" + Syntagma3": nun aus der Tiefe selbst, durch nichts zu rühren in: und die kein Wort und Zeichen je verrät, (Π 5-6) wem das geschah, der muß sich wohl vergessen in: und rührt nicht mehr die alten Stunden an. (ΙΠ 7-8) und andererseits solche, die durch polysyndetisches „und" gebildet werden: zu Nacht und Trauer und den Rosen spät (Π 8) er spielt sein Spiel, und fühlt sein Licht und ohne Erinnern nieder (TV 7-8) Die temaren Gruppen haben eine bestimmte semantische Wertigkeit innerhalb des Gedichtes. Sie sind eine Figur der Vollständigkeit, des Endgültigen, und dehnen somit das „alles" des Schlußverses auf das gesamte Gedicht aus.

19

steht es über der Natur und der Geschichte, oder es gibt keines, dann sind die Opfer, die Kleist, Hölderlin, Nietzsche brachten, umsonst gebracht." (Benn 1959,1: 475). Das Partizip Präsens „versagend sich" (Π 2) hat durch semantischen Kontext ebenfalls die Wertigkeit eines Partizip Perfekt.

211 Nimmt man zu den temaren Konstruktionen noch die zweigliedrigen Reihungsformen hinzu („Du Einsamkeit [...] / Du Überleben", I 6-7; „zuviel gelitten und zuviel gewußt", I 8; „nehmen, Abwärtsführen", Π 7; „zerstört, vertan" , ΠΙ 6; "Ein letzter Tag [...] weite Räume", IV 1), so erweist sich die Reihung als das bestimmende syntaktische Kompositionsprinzip des Gedichts. Die Reihung privilegiert besonders die Substantive und gibt ihnen eine zentrale Stellung in den einzelnen Strophen. Zugleich verstärkt die Reihung aber auch die metrischen Wiederholungsfiguren, indem sie die Grenzen von Vers und Strophe syntaktisch markiert. Die Syntax sucht die metrische Form und deren Zeitlichtkeit, eine statische Zeitlichkeit, die die Aufhebung der Linearität der Zeit in der formalen Wiederholung sucht. Diese Zeitlichkeit spiegelt sich auch in den Tempora wieder. Das Tempusgefiige setzt sich aus folgenden Ebenen zusammen: 1. Präsens:

füllst, rinnst, dehnst, färbt, blühst, fallen. (11-5,7) sich ... gesellt, verrät, mußt... nehmen. (Π 4,6,7) denkst, muß ...vergessen, rührt. (ΠΙ 1,7,8) führt, umströmt, schafft, spielt... fühlt. (IV 2-4,7)

2. Präteritum:

warst... vergaßt, war ... war, besaßt, geschah (1112-4,7)

3. Perfekt: a) elliptisch:

b) vollständig:

gelitten ... gewußt. (18) entfremdet, ermüdet. (Π 1,3) besessen, zerstört, vertan. (ΙΠ 5,6) hat... gefragt, ist gesagt. (IV 6,8)

Die frequenzstärkste Zeit ist das Präsens. Es ist die Zeit der Naturmetaphorik und des statischen Nebeneinanders. Was geschieht, ereignet sich in einem statischen „nun", jenseits der linearen Zeit. Die Reihungen unterstreichen dabei die parallele Zeitlichkeit („Du füllst [...] Du dehnst [...] Du blühst" etc.). Die Linearität der Zeit bleibt einzig durch die Opposition zwischen Präsens und Präteritum erhalten. Aber auch diese Opposition hebt die Statik des Präsens nicht auf, sie setzt vielmehr nur ein statisches „dereinst" dagegen. Auch das Perfekt bleibt auf der Ebene des Zustands („gelitten", „gewußt", „entfremdet", „ermüdet", „hat [...] gefragt"), mit einer Ausnahme: dem „alles ist gesagt" im letzten Vers. Es ist das einzige Tempus mit einem inchoativen Wert. Es setzt sich von dem statischen Präsens ab, so wie es sich auch von den vorangehenden Reihungen absetzt. Es markiert die Zäsur, die

212 das Gedicht vom Nicht-Gedicht trennt: Mit dem Ende des Gedichts endet auch dessen statische Zeit. Die statische Zeit ist eine Abkehr von der Zeit, ein Rückzug aus der Welt. Dem scheint zunächst die dialogische Ausrichtung des Gedichts zu widersprechen, das insistierende „Du" in I, der Wechsel zwischen erster und zweiter Person und die Frage- und Ausrufesätze in ΙΠ. Doch die dialogischen Formen werden monologisch gebraucht. Der Dialog ist ein Scheindialog. Das Du spiegelt lediglich das Ich.20 Schon in der ersten Metapher in I 1 sind Du und Ich zwei Bestandteile („Blut" und „Wunde") ein und desselben Körpers. So werden auch „Mich" und „dich" ausgetauscht: Aus „Du füllst mich an" (I 1) wird in I 3 „Du dehnst dich aus". Die monologische Ausrichtung wird durch die Häufung reflexiver Verbkonstruktionen noch verstärkt: dehnst dich (13) da sich die Matte färbt (14) versagend sich (Π 2) sich... gesellt (114) denkst... dich (ΠΙ1) dich vergaßt (ΙΠ2) sich ... vergessen (IE 7) schafft ... sich (IV 4)

Die Selbstbezüglichkeit findet sich auch im Gebrauch der Possessivpronomen wieder: rinnst... seine dunkle Spur (12) mußt du dein Schweigen nehmen (Π 7) dein Bild ... deine Frage (ΠΙ3) dein Wort, dein Himmelslicht (HI 4) Mein Wort, mein Himmelslicht (El 5) mein Wort, mein Himmelslicht (ΙΠ 6)

Nicht nur die ersten beiden, auch die dritte Person konstituiert sich als Selbstbezug: er spielt sein Spiel, und fühlt sein Licht (IV 7) .

„Der lyrische Monolog teilt sich vielfach in einen 1) dichtenden und 2) einen sich selbst anredenden, andichtenden Faktor. Dieser zweite ist das objektivierte, das gesehene, das ansprechbare Ich, also der Partner. Dieser erlebt in sich selbst das dualistische Gefìihl [...] zwischen diesen Beiden spielt das Gedicht." (undatierter Briefentwurf Benns, zitiert in: Steinhagen 1969: 313) .

213 Die Selbstbeziiglichkeit ist verwandt mit der statischen Zeitlichkeit. In beiden findet eine Verweigerung der Welt gegenüber und ein Rückzug in sich selbst statt, die sich auch in der syntaktischen Anpassung an das Metrum wiederfinden.

6.5 Die prosodische Auflösung des Du Die Prosodie, die im geschriebenen Text vor allem durch die vokalischkonsonantische Organisation der Rede wirksam ist, soll hier weder als klangliches noch als musikalisches Phänomen aufgefaßt werden. Gerade bei der Analyse von Gedichten findet man immer wieder den Rückgriff auf Musikund Klangmetaphern, wenn es um die vokalisch-konsonantischen Beziehungen geht. Diese Redeweise ist nicht ganz unproblematisch. So spricht Annemarie Christiansen etwa im Hinblick auf Benns Gedicht Valse triste von der „melodischen Sprache" und den „Klängen", die das Gedicht bestimmen und entzieht damit die vokalisch-konsonantischen Beziehungen jeder weitergehenden semantischen Analyse, so daß das Gedicht schließlich „seinerseits zu einem bildhaften und musikalischen Kunstwerk" wird (Christiansen 1976: 195). Auch Thomas Ehrsam droht die sprachliche Dimension des Textes aus dem Blick zu verlieren, sobald er bei seiner Analyse des Gedichtzyklus Schutt (1922) auf die Prosodie zu sprechen kommt, um festzustellen, daß hier „der Klang den Sinn ganz zu absorbieren scheint und dazu verlockt, sich mit ihm zufrieden zu geben" (Ehrsam 1989: 186). Um die Prosodie als Element des Rhythmus zu begreifen, darf man sich nicht mit dem „Klang" zufrieden geben, sondern muß nach der semantischen Wertigkeit der Prosodie fragen, die wie die Syntax, wenn auch mit anderen Mitteln, syntagmatische Verknüpfungen und paradigmatische Reihen schafft und so von der Bedeutungsweise des Textes nicht getrennt werden kann. Benn war sich der Bedeutung der Prosodie bewußt. Er hat mehrfach von der Tätigkeit des Dichters im „Laboratorium für Worte" gesprochen und das, was dort geschieht, so geschildert: „Silben werden psychoanalysiert, Diphtonge umgeschult, Konsonanten transplantiert. Für ihn [den Dichter] ist das Wort real und magisch, ein moderner Totem." (Marginalien, Benn 1959, I: 389f.). Die „Magie" der Wörter wird durch ihre prosodischen Beziehungen geschaffen. Im folgenden soll zunächst auf die Bedeutungsweise der vokali-

214 sehen und anschließend auf die der konsonantischen Serien eingegangen werden. Im Zentrum der prosodischen Arbeit des Gedichts steht ein Vokal: das /u/.21 Der ganze Konflikt zwischen Schmerz und Schmerzverweigerung und zwischen Frage und Vergessen konzentriert sich in der Wertigkeit dieses Vokals. Man könnte sagen, daß das Gedicht um das /u/ herum, oder besser auf dem Verschwinden des /u/ aufgebaut ist. Dies soll nun gezeigt werden. Schon die erste Strophe wird von einer /u/-Serie dominiert. Alle Verse in I, mit Ausnahme von I 4, beginnen mit diesem Vokal. Das /u/ markiert aber nicht muden Versanfang, sondern auch sein Ende: In sechs von acht Versen bildet /u/ den betonten Reimvokal. Zusätzlich kann noch ein /u/ unmittelbar vor ein Reimwort treten, das diesen Vokal enthält. Damit weist /u/ in I folgende Distribution auf: VERSANFANG

VERSMITTE

VERSENDE

Du und Du

Blut

Wände dunkle Spur. Stunde zur Schattenflur

Du Du Du zuviel

und Verlust und zuviel gewußt

Außer im ersten Vers, wo /u/ dreimal und im letzten, wo es viermal auftritt, ist die Position der /u/ also auf Versanfang und -schluß beschränkt. Durch seine Distribution bekräftigt das /u/ die Einheit des Verses, indem es seine Grenzen phonematisch markiert. Zugleich wird /u/ durch die fünffache DuAnapher zu einem Paradigma des „Du", so daß das „Du" und die Reimwörter auf /u/ prosodisch verknüpft sind. Obwohl also „Wunde" logisch dem „mich" zugeordnet ist, wird es prosodisch auch mit dem „Du" verbunden. Diese Art der Verknüpfung wird auch in den folgenden Versen fortgeführt. Die Du-Serie antizipiert die meist substantivischen Reimwörter und markiert zugleich den Versbeginn. In dieser Bindimg des „Du" an Vers, Reim und Substantiv wird das „Du" metrisiert. Es wird zum Indiz der metrischen Struktur. An die Stelle der persönlichen Anredefunktion des Pronomens tritt 21

Die Notation /.../ bezeichnet hier gleichermaßen die geschlossene, offene, lange und kurze Vokalvariante. Dies gilt auch fiir die anderen Vokale, da der rhythmischen Wirksamkeit der Unterscheidung geschlossen/offen bzw. lang/kurz hier nicht nachgegangen wird.

215 eine formale Signalfünktíon: „Du" verweist nicht auf ein Gegenüber, sondern auf das metrische Schema der Rede, in der es steht. Insofern findet schon in der ersten Strophe das Verschwinden des „Du" statt, welches sich prosodisch erst aus dem Gesamtzusammenhang des Gedichtes ergibt. Auch in Π bleibt /u/ an das Du-Motiv gekoppelt. Es häuft sich in der zweiten Strophe als Antizipation und Echo des „Du" in Π 7 (nämlich in Π 5-7 und in Π 8). Die /u/-Distribution aus I wird insofern wieder aufgegriffen, als die Verse Π 5-8 mit /u/ beginnen. Aber die /u/-Serie wird in den Reimwörtern nicht fortgeführt. Auch in ΠΙ und IV gibt es keinen Reim auf /u/: In ΠΙ wird zunächst die Du-/u/-Syntagmatik aufgegeben. Die „Du" in ΠΙ 1-2 werden nicht mehr von einem oder mehreren IvJ begleitet; ebenso wie die /u/ in ΠΙ 7-8 nicht mehr mit einem „Du" verknüpft werden. In IV schließlich ist dann auch das „Du" ganz verschwunden. Das /u/ taucht noch in der Präposition „zu" in IV 2, in der Konjunktion „und" in IV 4, 6-7 und in dem Verb „umströmt" in IV 3 auf. IV ist damit die Strophe mit der niedrigsten /u/Frequenz. Das Verschwinden des „Du" schafft auch eine Distanzierung vom „Du" als Paradigma des Schmerzlichen, von der Wunde ( I I ) und der Frage (ΠΙ 3). Die diminuierende /u/-Serie vollzieht prosodisch die Abkehr vom Schmerz und wird somit Teil des Vergessens, das im Zentrum des Gedichtes steht. Die Abkehr vom „Du" ist aber auch eine Rückkehr zum Ich. Zum Ich, als „lyrischem Ich" im Sinne Benns, d.h. als dem monologischen Ich, das die Welt in einer egomanischen Isolation zu überwinden sucht. Diese Konzeption des Ich zeigt sich prosodisch in der Opposition zwischen der Iii- und der /u/-Serie. In I steht Iii in den mittleren Positionen und wird häufig von /u/ eingeschlossen: Du ... mich ... wie Blut diefrischeWunde (11) und rinnst hernieder... dunkle Spur (12) Du ... dich ... wie ... in ... Stunde (I 3) ... sich die ... zur Schattenflwr (14) Du... wie... m (15) Du... die (17) zuviel gelitten und zuviel gewußt (18) In Π tritt diese Vokalverteilung mit Beginn der /u/-Serie in Π 5 wieder auf: nun ... Tiefe ... nichts zu (Π 5) und die ... und (Π 6)

216 In den vorangehenden Versen (Π 1-4) fällt die Einklammerung durch das IvJ fort. In Versen, die ein Iii enthalten, steht kein /u/ und umgekehrt: Wirklichkeiten (Π 1) sich (Π 2) Trwg (Π 3) sich tiefen /ch (Π 4) In ΙΠ taucht die /u/-Einklammerung nur noch in dem letzten Vers auf. Die lilSerie dominiert vor allem durch das dreifache „Himmelslicht" (ΙΠ 4-6). In IV überwiegt dann deutlich die /i/-Serie. Sie beherrscht die Substantive, erscheint in allen Versen (außer in IV 1) und in einem Reimpaar auf und klammert nun ihrereseits das lui mehrmals ein: dich ...zu... Ziel (IV 2)

Licht umströmt die (IV 3) und ... im .... sich .... Widerspiel (TV 4) nichts (IV 5) und ... n/cht (IV 6) spielt... Spiel uaà ... L/'cht und (TV 7) Erinnern nieder... ist (IV 8) Auch quantitativ findet ein Zurücktreten des /u/ zugunsten des Iii statt: 19*/u/ 10 χ lui 7 χ lui 6 χ lui

und und und und

17 χ Iii (I) 9 χ Iii (Π) 15 χ Iii (ΠΙ) 16 χ fil (IV)

Die komplementäre Distribution der Serien auf lui und Iii prägt den phonematischen Rhythmus des Gedichts. Iii und IvJ sind in Abschied nicht nur bedeutungsunterscheidende Phoneme, sondern Sinnfiguren, die zu der spezifischen Bedeutungsweise des Gedichts gehören. Ihre semantische Wertigkeit ergibt sich aus ihrer Funktionsweise. So wie das /u/ mit dem „Du" verbunden wird, bildet das Iii ein phonetisches Paradigma des „Ich". Das Zurücktreten des /u/ zugunsten des IH ist somit eine Figur der „Ausschaltung des Du-Charakters". Diese Verknüpfung ist durch das ganze Gedicht wirksam. „Ich" taucht zwar nur einmal als Substantiv auf (II 4), ist aber als Silbenthema /ich/ in allen Strophen präsent: ini: in II: ίηΙΠ: in IV:

mich (1),dich (3),sich (4) sich (2), sich ... Ich (4), nichts (5) dich (l),dich (2), nicht (3), Himmelslicht (4-6), sich (7), nicht (8) dich (2), Licht (3), sich (4), nichts (5), nicht (6), Licht (7)

217 Es erscheint in den Reflexivpronomen (ich, mich, dich) , in einem Adverb und einem Indefinitpronomen der Negation (nicht, nichts) und in einem Substantiv (Licht) und erhält eine dreifache Wertigkeit: als Paradigma des reflexiven Selbstbezugs, der Negation und der Lichtmetaphorik, die in Opposition zu der phonematisch mit dem „Du" verbundenen Nachtthematik (Blut, Wunde, dunkle Stunde etc.) steht. Ich, Selbstbezüglichkeit und Negation gehören bei Benn zusammen. In einem Brief an Oelze vom 27.10.1940 schreibt er: „Es gibt nur die geschichtliche Welt - und den einsamen inneren Rausch." (Briefe an Oelze, I 246). Seine Selbstbezüglichkeit ist eine Weltverneinung und impliziert eine unbeugsame Egomanie: Du mußt dir Alles geben, Götter geben dir nicht, gib du das leise Verschweben unter Rosen und Licht [...] (Du mußt dir alles geben, Benn 1982:215). 22

Weltverneinung und Selbstbezüglichkeit suchen eine Erlösung vom Schmerz durch die Lust. In Abschied vollzieht sich diese Erlösung durch das allmähliche Zurückdrängen des „Du" durch das „Ich" und durch die Depersonalisierung des „Ich" im „er".23 Die Erlösung ist eine progressive Isolation des Ichs, die an den Begriff der „inneren Emigration" denken läßt. Die Serie auf /y/ schafft eine Beziehung zwischen dem Verschwinden des „Du" und dem „nun", dem Jetzt des poetischen Sprechens. In I ist sie an das Du geknüpft, denn sie erscheint hier immer in der Kombination Du + /y/: Du füllst (II) Du blühst (15) Du Überleben (17)

In den anderen Strophen erscheint /y/ auch in anderen Positionen, aber überwiegend in verbalen Formen:

22

23

Siehe auch: Der Sänger (Benn 1982: 180), Gedichte (a.a.O., 300), Suchst du (a.a.O., 279), Leben - niederer Wahn (a.a.O., 278), Ist das nicht schwerer (a.a.O., 283), Dann gliederten sich die Laute (a.a.O., 291) . Die Auflösung des Du findet sich auch in anderen Gedichten Benns. So merkt Jürgen Schröder zu dem Gedicht Blaue Stunde an: „Das »du« wird zwar von der ersten bis zur dritten Strophe geradezu definiert, dabei aber als menschliche Person so weit aufgelöst, daß es zuletzt mit der »blauen Stunde« identisch erscheint." (Schröder 1986: 86).

218 früh ( Π Ι ) ermüdet (Π 3) rühren (Π 5) Abwärtsführen (Π 7) rührt ( m 8) spätglühend (IV 1) führt... entrücktem (IV2) Früchten (IV 5) fühlt (IV 7)

Die /y/-Serie verbindet eine Verbreihe, die von „füllst", „blühst" über „Abwärtsführen" bis zu „rührt", „führt", „fühlt" geht und alle Strophen durchläuft. Die /y/-Verben stehen alle im Präsens. Damit sind sie an das „nun" gebunden, also auch an das Jetzt des Äußerungsaktes und damit an die Wirksamkeit des poetischen Sprechens selbst. Im Übergang von „Du füllst" zu „Du blühst" vollzieht sich prosodisch die Befreiung vom Schmerzlichen. Diese Abkehr vom Schmerz vollendet sich dann in der Folge „der rührt nicht mehr" (ΠΙ 8), „ein Wasser führt dich zu entrücktem Ziel" (IV 2), „er fühlt sein Licht" (IV 7). Im „nun" des Gedichts wird der Schmerz aufgelöst. Benn feiert und sucht im Gedicht die Wirkungsweise eines schmerzlindernden Medikaments. In der Serie auf/a/, also jenes Vokals, der den Anfang („Ebschied") und den Schluß des Gedichtes („gesagt") markiert, wird die Befreiung vom Schmerz durch ein Wortfeld des Alters, des Vergangenen und der Vergänglichkeit motiviert: in I: in Π: in ΙΠ:

in IV:

Ebschied an (1), Nacht (3), da ... Matte ... Schattenflur (4), allen (5), Einsamkeit... Λ Iter (6), folien (7), Wahn (1), versagend (2), da (4), ^bwärtsführen (7), Nacht (8) Manchmal... Sage (1), das warst... ach ... vergaßt (2), war das ... war das ... Frage (3), das ... besaßt (4), vertan (6), das geschah (7), alten ... an (8). Tag (1), Wasser (2), alten (3), schafft ... Schatten(4), nach ... hat gefragt (6), alles ... gesagt (8).

Die Wiederkehr identischer oder abgewandelter Signifikanten innerhalb der /a/-Serie (Nacht, Schatten, Alter, alten, allen, alles, versagend, Sage, gesagt etc.) schafft zwischen den einzelnen Strophen Leitwortbeziehungen, die dem ganzen Gedicht seine einheitliche Stimmung verleihen. Auffallig ist die graphemische Bezugnahme der /a/-Serie auf den Titel durch die Großschreibung des Verbums „Abwärtsführen" in Π 7, die zwar der orthographischen

219 Norm widerspricht, aber eine visuelle Echofigur zum Titel darstellt. Der Abschied ist ein Abwärtsführen mit der besonderen Wertigkeit, die die Abwärtsbewegung bei Benn hat.24 Die /ai/-Serie veranschaulicht, wie ein Wort, das nur ein einziges Mal erscheint, im gesamten Text prosodisch und semantisch präsent bleiben kann. Die Verdoppelung des Diphtongs und das /n/ in „Einsamkeit" (I 2) wird als Echo in allen Strophen fortgeführt: Einsamkeit (16) .Einzelheiten (Π 3) Kein Wort und Zeichen (Π6) dein Schweigen (Π 7) dein Bild, deine Frage (ΙΠ 3) dein Wort, dem Himmelslicht (ΙΠ 4) mein Wort, mein Himmelslicht (ΙΠ 5) ein Wort, mein Himmelslicht (ΙΠ 6) s ein Spiel... sein Licht (IV 7)

So bilden die /ai/-Verdopplungen ein prosodisches Echo zu „Einsamkeit" (I 6) , das dadurch Leitwortcharakter erhält. Gleichzeitig spezifiziert die /ai/Serie die Einsamkeit, indem sie sie mit dem Schweigen, der Negation („Kein [...] kein") und dem Selbstbezug („mein [...] mein", „[...] sein [...] sein") verknüpft. Die konsonantischen Serien sind weniger produktiv als die vokalischen und diesen häufig zugeordnet. Das gilt etwa fiir das dem /y/ zugeordnete Iii oder für das /d/, welches seinerseits auf das Iwl und das Du-Thema verweist. Es verstärkt häufig Du/dein durch alliterative Reihungen: Du... die... Wunde (II) Du dehnst dich (13) du dein (Π7) denkst da dich (ΙΠ 1) das ... du doch ... du dich (ΙΠ 2) dein... deine (ΙΠ 3) dein ... dein.... das du (ΙΠ 4) 24

Die Abwärtsbewegung ist ein Paradigma des Sterbens („der einsame große Untergang", Valse d'Automne, Benn 1982: 294; „wenn Du ganz versinkst", Widmung, a.a.O., 253) und des Schweigens („ihr Fallen und Schweigen", Die Schale, a.a.O., 247; „tief im Schweigen [...] werden Blicke niedersteigen", Spät im Jahre -, a.a.O., 269; „ihr großes Land heißt Schweigen, / bis sie als süßer Wahn / von den Säulen niedersteigen, [...].", Leid der Götter, a.a.O., 249).

220 Die Anbindung an das „Du" führt mit dem Verschwinden des „Du" in IV auch zur Aufgabe der /d/-AIliterationen in der letzten Strophe. Das Substantiv „Verlust" (Ί 6) erhält durch die Prosodie eine ambivalente Wertigkeit. Prosodisch steht es nämlich nicht nur auf der Seite des Leidens. Das Verlust-Thema entwickelt sich aus der /s/-/{/-Distribution. In I 1-5 stehen /s/ und l\l in einer kontrastiven Distribution: /s/ steht in der ersten und l\l überwiegend in der zweiten Vershälfte: 1. VERSHÄLFTE

füllst rinnst dehnst... aus

2. VERSHÄLFTE

frische

blühst

(II) Spur (12) Stunde (13) Schattenflur (14) schwer (15)

In 16 dann wird diese Anordnung aufgegeben: aus

Verlust (16)

Hier erscheint /s/ erstmals in der bisherigen Position des l\l, so daß „Verlust" phonematisch und semantisch markiert wird. Die Assoziation zwischen /s/ und „Verlust" bleibt im ganzen Gedicht semantisch wirksam. Denn in Π wird der konsonantische Kontrast /s/: /J/ im siebten Vers wiederaufgenommen: mußt

Schweigen

Abwärtsführen (Π 7)

Hierbei bildet „mußt" zugleich ein Reimecho zu „Verlust" / „gewußt" aus I 6+8. In ΠΙ führt die /s/-Serie das Verlust-Motiv vor allem in den Reimpaaren („vergaßt" / „besaßt", ΙΠ 2+4; „besessen" / „vergessen", m 5+7) fort. In diesem phonematischen Zusammenhang, der eine paradigmatische Verbindung zwischen „Verlust" und „Vergessen" erzeugt, erhält der Signifikant „Verlust" seine Wertigkeit: Der Verlust ist selbst ein Aspekt des Schweigenund Vergessen-müssens, bis hin zum abschließenden „alles ist gesagt" (IV 8). Der Verlust ist damit, wie die Einsamkeit, nicht nur das passiv Erlittene, sondern auch das aktiv Gesuchte. Daß das l\l dagegen nicht nur an das Schweigen gebunden ist, zeigt sich in IV. Hier findet sich die größte Häufung von l\l im vierten Vers, wo der Reimsilbe „-spiel" ein doppeltes /J/ vorausgeht: schafft

Schatten

Widerspiel (IV 4)

In IV 7 beherrscht der Signifikant Spiel dann die /{/-Serie („spielt [...] Spiel"). Hier wird nicht mehr nur ein Phonem, sondern das ganze Wort wie-

221 derholt. Das Gewicht, das dem Signifikanten Spiel damit in Abschied zukommt, erklärt sich nicht zuletzt aus dem engen Zusammenhang zwischen Spielen und Dichten bei Benn.25 Das Spiel - wie das Gedicht - ist eine Abkehr von der Welt, eine Form der Vergessens (zum Beispiel in Kleines süßes Gesicht·, „ach, wir spielten / entwicklungsvergessen", Benn 1982: 336) und des verträumten Selbstbezugs, wie in dem Gedicht Melancholie: der Äon träumt, der Äon ist ein Knabe, der mit sich selbst auf einem Brette spielt. (a.a.O., 446)26 25

Über sein Dichten schreibt Benn an Oelze: „Täuschung - Hochmut - Abseitigkeit Sie entlarven mich ja völlig, Sie luchsäugiger Spürer und Jäger in den produktiven Dschungeln! In der Tat: Sie zielen hier in ein Centrum, das ich verschleiert glaubte, Sie kommen mir auf die Spur: ce qui vous amuse - : wahrhaftig: aufschreiben, was Ihnen einfällt, auffällt, amüsiert, dann diese Amüsements zusammenstellen und dann haben Sie die Kunst. Pas de pensum - ist das nächste Prinzip -: laufen lassen, spielen, fädeln nur nichts vorhaben, sich verdünnen eher als sich verdicken - und wieder sind Sie einen Schritt weiter! Mit »Täuschung« können Sie es dann abschliessen - nämlich nicht mehr wissen, wer Sie selber eigentlich sind im Sinne des Ptolemäerwortes: »unbestimmbar sich verhalten«. Ein altes Lied bei mir - schon in der ersten Rönne-Skizze des Jahres 1914 steht der Satz: »wer glaubt, daß man mit Worten lügen könne, könnte meinen, dass es hier geschähe« - , aber man kann ja mit Worten nicht lügen, sie ergeben sich ja von selbst, dem, der mit ihnen lebt und spielt." (am 23.1.1949, Benn, Briefe an Oelze, Π 1: 172f.). In diesem augenzwinkernden Geständnis Benns ist seine Poetik vielleicht offener formuliert als in manchen seiner Essays: Die Poesie als hedonistische Praxis („Amüsements"), in der der Dichter sich selbst vergessen kann („nicht mehr wissen, wer Sie selber eigentlich sind"), und die ohne Beziehung zur Realität („Täuschung") und damit auch ohne ethische Konsequenzen bleibt („man kann ja mit Worten nicht lügen") und von einer indifferenten Grundhaltung geprägt ist („unbestimmbar sich verhalten"). Benn spricht vom Dichten wie von einem Versteckspiel. Es geht um Tricks und Kniffe, also um eigentlich rhetorische, weniger um poetische Verfahren.

26

Auch wenn es sich bei dem zitierten Vers um eine Anspielung auf ein HeraklitFragment und eine Passage aus Nietzsches nachgelassener Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen handelt. Die entsprechende Stelle bei Friedrich Nietzsche lautet: „Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld - und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich." (Nietzsche 1873: 830). Das HeraklitFragment hat in der Übersetzung von Bruno Snell den folgenden Wortlaut: „Die Zeit ein Kind, - ein Kind beim Brettspiel; ein Kind sitzt auf dem Throne." (Snell 1986: 19). Die Selbstbezüglichkeit fehlt bei Heraklit. Sie hat Benn direkt von Nietzsche übernommen.

222 In diesem Spiel vollzieht sich fur Benn die selbstvergessene Abkehr von der Welt und ihrem Schmerz, ihrer Verantwortung und ihrer Bedrohung.

6.6 Die Metrisierung des Rhythmus Benn sucht in Abschied Metrum und Rhythmus zu harmonisieren. Wie die Syntax durch die Behandlung der Enjambements das Metrum verstärkt, so paßt sich der Wortakzent dem funfhebigen Jambus an. Aber Benn geht in der Harmonisierung von Rhythmus und Metrum noch weiter, indem der Jambus zusätzlich prosodisch markiert wird. Es lassen sich verschiedene Formen dieser prosodischen Metrisierung beobachten: 1) Vokalecho bei Hebungen: Du Einsamkeit (I 6) /ai / /ai/ —

W —i t s

zuviel gelitten (I 8) Ν fil —

w

-

w



sich ein Widerspiel (IV 4) Iii l\l Iii 2) Vokalecho bei Senkungen und Hebungen: der Einzelheiten (II 3) la\//&lla\/hl w

·•

w



wem das geschah (III 7) lei wlai lei lai w— — w Erinnern nieder (IV 8) l\llel I\IIBI 3) Konsonantenecho bei Hebungen: versagend sich (II 2) Ist Isl von Früchten nichts (IV 5) Iqtl Iqtl 4) Vokalisch/konsonantisches Echo: die Matte färbt zur Schattenflur (14) /ata f/ lata M

223 Du Uberleben (17) Ib 8 / / b 3/ W

· > < > / —

W

«

V

·

w



w

Entfremdet früh dem Wahn der Wirklichkeiten (II 1) /e//tfr/ /a//tfr/ / e / / v / /e//v/ zu Nacht und Trauer (II 8) /un/ /t//un//t/ w



w —

w

dereinst besessen (III S) /e/ Is/Ie/Isl w



ν



zerstört, vertan (III 6) /er/ Itlltrl/tl und schafft im Schatten (IV 4) ¡[Haliti /J//a//t/ —

w



w

keine Krone (IV 5) /k//ne//k//na/

Benn versucht nicht nur das metrische Schema zu erfüllen, sondern unterwirft sich ihm geradezu, indem er es phonematisch imitiert. Auch die Wortwiederholungen dienen der Verstärkung des Metrums, vor allem dort, wo sie den Versanfang anaphorisch hervorheben, wie in der Du-Anapher in I 1, 3, 5-7, das dreifache „dein (mein) Wort, dein (mein) Himmelslicht" in ΠΙ 4-6 und die ein-Anapher in IV 1-3. Nicht nur die Syntax und die Lexik, sondern auch die Prosodie passen sich also dem Metrum an. Man könnte von einer Übererfüllung des Metrums sprechen. Diese metrische Übererfüllung ist auch auf der Ebene der Reimbindung, die auf ganze Syntagmen zurückwirkt, festzustellen. So bei den syntaktischen Parallelen zwischen: wie ... Wunde / wie ... Stunde (11+3) dem... der Wirklichkeiten / dem ... der Einzelheiten (Π 1+3)

und durch prosodische Verlängerungen des Reims in das Versinnere hinein: schwer in Gärren allen (I 5) wenn die 7>äume fallen (17) und Verlust (16) zu vie/ gewußt (18) tfle eigene Sage (ΠΙ 1) deine Frage (ΠΙ 3) dich vergaßt (ΠΙ2) da besaßt (ΙΠ4) zerirört, vertan (ΙΠ 6) Sunden an (ΙΠ 8)

224 weite Räume (IV 1) alien Bäume (IV 3) hat er nichi gefragt (IV 6) alles ist gesagt (IV 8)

Die besondere Berücksichtigung, welche die Elemente der traditionellen Metrik bei Benn erfahren, steht in einem eigenartigen Widerspruch zum völligen Fehlen jeglicher Äußerung Benns zur Frage des Metrums in seinen vielhundertseitigen poetischen Reflexionen, die in seinen Briefen und Essays formuliert sind. Es gibt keine Frage des Metrums bei Benn: Das Metrum ist so sehr mit dem Dichterischen identisch, daß es sich von selbst versteht. Die metrische Übererfüllung ist keine formale Konvention. Sie hat eine semantische Ausrichtung, denn das Metrum ist ein entscheidendes Moment in der Bennschen Erlösungspoetik. Die Metrisierung des Sprechens bewirkt nämlich ebenfalls eine Abkehr von den Paradigmen des Schmerzes: der Frage, der Zeitlichkeit und dem „Du". Am deutlichsten zeigt sich dies vielleicht in der Beziehung zwischen Wortakzent und Metrum, die nun untersucht werden soll. Die folgende Notation dient zur Veranschaulichung der Distribution zwischen metrischer und akzentischer Betonung:27 —

w

Abschied

I

Du füllst mich an wie Blut die frische Wunde und rinnst hernieder seine dunkle Spur, Du dehnst dich aus wie Nacht in jener Stunde, da sich die Matte färbt zur Schattenflur, 5

Du blühst wie Rosen schwer in Gärten allen, Du Einsamkeit aus Älter und Verlust, Du Überleben, wenn die Träume fallen, zuviel gelitten und zuviel gewußt.

27

Hebungen und Wortakzente werden nach den in Kapitel 4.2.2.5 erläuterten Prinzipien notiert.

225 II

Entfremdet früh dem Wahn der Wirklichkeiten, w



w

«

ν



ν



ν





versagend sichder schnell gegeb(e)nen Welt, ermüdet von dem Trug der Einzelheiten, da keine sich dem tiefen Ich gesellt; 5

nun aus der Tiefe selbst, durch nichts zu rühren, und die kein Wort und Zeichen je verrät, mußt du dein Schweigen nehmen, Äbwärtsführen zu Nacht und Trauer und den Rosen spät. V

III

V

w



w

w

W



V



W

Manchmal noch denkst du dich - ; die eig(e)ne Sage-: V

·

υ



V

•·

W

w

W



das warst du doch - ? ach, wie du dich vergaßt! V



V



ν

«·

ν



W

-

w

«Q

war das dein Bild? war das nicht deine Frage, V



V



V



V

_

W —

dein Wort, dein Himmelslicht, das du besaßt? V

5



V



W

-

υ

-

w -

w

Mein Wort, mein Himmelslicht, dereinst besessen, V



V

ai

V «

W

a

W

«

mein Wort, mein Himmelslicht, zerstört, vertan wem das geschah, der Wmuß sich wohl vergessen W — V — — W — W — und rührt nicht mehr die alten Stunden an. IV

Ein letzter Tag -: spätglühend, weite Räume, ein Wasser führt dich zu entrücktem Ziel, ein hohes Licht umströmt die alten Bäume und schafft im Schatten sich ein Widerspiel, 5

von Früchten nichts, aus Ähren keine Krone und auch nach Ernten hat er nicht gefragt -, er spielt sein Spiel, und fühlt sein Licht und ohne u—

w



w



w



w



Erinnern nieder - alles ist gesagt. Die Notation der Akzente macht deutlich, daß Wortakzent und Metrum nicht überall übereinstimmen. Zu den metrisch vorgeschriebenen Hebungen treten noch eine Reihe von akzentisch betonten, aber metrisch unbetonten Positionen, nämlich die mit „x" bezeichneten Silben, hinzu. Obwohl diese Akzentsilben in unbetonten Positionen nicht im Metrum aufgehen, liegt damit noch 28

29

Das silbische /n/ in gegebenen ist genau wie in eigene (ΠΙ 1) für Benn metrisch nicht relevant. Die Betonung auf dein resultiert aus der insistierenden Wiederholung der Possessivpronomina hier und in den folgenden Versen.

226 kein Verstoß gegen die traditionelle Verslehre vor, denn die fraglichen Akzentsilben betreffen (mit Ausnahme von „spätglühend" in IV 1) allesamt Einsilber, die sowohl in Hebungs- wie in Senkungsposition stehen können. Wenn die Akzentik das Metrum also auch nicht aufhebt, so modifiziert sie es doch, wobei Wortakzent und Metrum in Konflikt geraten können. Dies geschieht in Abschied in erster Linie durch die Doppelbetonungen am Versanfang,30 und zwar erstmals in: ν



w



Du Einsamkeit (I 6) Du Überleben (17)

Der Wortakzent auf „Du" ergibt sich hier aus der Voranstellung vor ein Anredenominativ.31 Benn hebt das „Du" zusätzlich durch die Großschreibung hervor. Die akzentische Durchbrechung des Metrums schafft so eine Spannung zwischen Metrum und Rhythmus. Sie ist in Abschied ganz an das „Du" geknüpft, an die Wertigkeit des „Du" als Paradigma des Schmerzlichen und der unbeantworteten Vergangenheit. Das „Du" ist etwas, das stört. Schon in dem Prosatext Die Insel (1916) heißt es von dem Protagonisten Rönne: „Den Du-Charakter des Grammatischen auszuschalten, schien ihm ehrlicherweise notwendig, denn die Anrede war mythisch geworden." (Benn 1959f., Π: 40). In Abschied vollzieht sich diese „Ausschaltung des DuCharakters" nicht nur, wie bereits gezeigt wurde, auf der Ebene der Prosodie, sondern auch der Akzentik. Ein Element dieser Abkehr vom Du ist die häufige Verwendung unbetonter Reflexivpronomina in betonter Position („sich", II 2+4, IV 4, „dich", ΠΙ 1+2). Auch wenn „dich" grammatisch auf das Du verweist, vollzieht es doch, wie auch die übrigen Reflexivpronomina, rhythmisch eine Abkehr vom Du, insofern als ein Paradigma des Selbstbezuges fungiert, der bei Benn an der Ausschaltung des Du-Charakters teilhat. Wichtiger ist aber noch die Koppelung des Du an die Störung des metrischen Schemas. In den Fragesätzen in ΙΠ ist die Präsenz des „Du" und des „dein"

30

31

Auch Harald Steinhagen stellt in seiner Analyse der Statischen Gedichte eine Tendenz zu Doppelhebungen am Versanfang fest. Er sieht in ihnen aber lediglich ein Mittel zur emphatischen Steigerung: „Den Doppelhebungen kommt daher eine besondere rhythmische Funktion zu: Sie verstärken durch ihren Nachdruck den emphatischen Grundton des Gedichts, der inhaltlich bedingt ist, und bringen den emotional geprägten Stil des Gedichts gesteigert zur Geltung." (Steinhagen 1969: 146). Während das Du in „Du füllst", „Du dehnst" etc. proklitisch gebraucht wird.

227 am ausgeprägtesten. Und gerade hier finden sich auch die meisten Wortakzente in metrischen Senkungen (x): V





ν



W

w

W

·

das warst du doch - ? ach, wie du dich vergaßt! V



V



V



V

_

W

_

(III 2)

W

war das dein Bild? war das nicht deine Frage, (III 3) V



V

W



V

W

w



dein Wort, dein Himmelslicht, das du besaßt?

(III 4)

Die Destabilisierung des Metrums korreliert zugleich mit der Präsenz des Du und mit der Konfrontation durch die Frage, die das Bewußtwerden einer persönlichen Tragik auslöst. Umgekehrt entspricht der „Ausschaltung des Du-Charakters" in IV zugleich eine Rückkehr zum Metrum. Benn findet im Metrum eine Erlösung vom „Du". Diese Erlösung wird durch die Metrisierung des Sprechens verwirklicht. Sie tritt am stärksten in der vierten Strophe hervor, wo die Wortakzente auf Senkungspositionen am Versanfang völlig verschwinden. Statt dessen dominiert eine zweihebige Gruppe „x χ χ χ", die auch interpunktorisch unterstrichen wird: Ein letzter Tag - : (IV 1) ein hohes Licht (IV 3) von Früchten nichts, er spielt sein Spiel,

(IV 5) (IV 7)

Der zweihebige Jambus wird zu einem Signal des Versbeginns, er gliedert die Strophe gleichmäßig in Verspaare und unterstreicht so die metrische Ordnung. Aber auch die Strophenordnung wird durch eine strophenabschließende metrische Gruppe ( χ χ χ χ χ) als Antizipation des „alles ist gesagt" (I 8) betont. In I 8 und Π 8 wird diese Gruppe durch die Hebung auf der unakzentuierten Konjunktion „und" gebildet, das durch die Betonung beinah wie eine Satzkonjunktion erscheint und damit eine Zäsur im Vers bewirkt: zuviel gelitten und zuviel gewußt.

(I 8)

zu Nacht und Trauer und den Rosen spät.

(II 8)

Diese Gruppe fehlt bezeichnenderweise in LH, der Strophe mit den stärksten metrischen Spannungen, um dann in IV, noch hervorgehoben durch den Gedankenstrich, das Gedicht zu beschließen: Erinnern nieder - alles ist gesagt.

(IV 8)

Der Sprachrhythmus in Abschied sucht die Auflösung in der metrischen Form: in dem Jambus, dem Reim, dem Vers und der Strophe.

228 Es gibt bei Benn eine metrische Faszination. 32 Wenn er auch nirgends explizit vom Metrum spricht, so steht diese Faszination doch im Zentrum seiner Poetik. Denn das Metrum verkörpert für Benn die Form, die er mit dem Poetischen überhaupt identifiziert: Form isoliert, ist ein schwieriger Begriff. Aber die Form ist ja das Gedicht [...]. Eine isolierte Form, eine Form an sich, gibt es gar nicht. Sie ist das Sein, der existentielle Auftrag des Künstlers {Probleme der Lyrik, 1951, Benn 1959,1: 507f.) Sein ontologischer Fonnbegriff macht aus der Form eine metaphysische Größe; die Form ist der dem Leben übergeordnete Geist: Wir setzen also heute den Geist [...] als dem Leben übergeordnet ein, ihm konstruktiv überlegen, als formendes und formales Prinzip (Nach dem Nihilismus, 1932, Benn 1959,1: 159) Die Form ist ein Paradigma des Absoluten. In seiner Rede auf Stefan George (1934) setzt er die Form mit der Religion und dem Schicksal gleich („Es gibt nur den Geist und das Schicksal, die Religion ohne Götter, oder die neuen Götter: Form und Zucht", Benn 1959, I: 477). Die Form verkörpert eine Wahrheit, der man sich unterwerfen muß. Die Form ist also zugleich eine Herrschaftsform, die sich des Staates zu ihrer Verwirklichung bedient: die Schöpfung ist das Verlangen nach Form, der Mensch ist der Schrei nach Ausdruck, der Staat ist der erste Schritt dahin, die Kunst der zweite, weitere Schritte kennen wir nicht. (a.a.O., 473) In der Form löst sich das Individuelle, Geschichtliche, Gegenwärtige auf. Und ^M/lösung heißt bei Benn auch .Erlösung: Erlösung durch die Form und das Metrum, denn im Metrum als Paradigma des Zeitlosen, Objektiven und Formalen kann sich der Rhythmus des Ichs selbst vergessen. Daher ist der Rhythmus des Gedichts ein Rhythmus des Vergessens. Und dieser Rhythmus des Vergessens braucht das Metrum, er konstituiert sich durch das Metrum, durch die Metrisierung des Sprechens, in der er Erlösung durch Auflösimg sucht.

32

Diese metrische Faszination ist auch in den frühen Gedichten Benns ohne festes Metrum zu spüren. Dieter Breuer hat die „allmähliche Glättung im rhythmischen Verlauf' schon bei den Morgue-Gedichten nachgewiesen (Breuer 1981: 282). Und Clemens Heselhaus stellt in Bezug auf das Gedicht Söhne (1913) fest: „In Benns Diktion klingt noch in dieser Zeilenkomposition der alte Jamben-Rhythmus nach." (Heselhaus 1962: 268). Schon in seinen frühen, antibürgerlichen Gedichten gibt es also eine Sehnsucht nach der metrischen Ordnung und der poetischen Tradition.

229

6.7 Der Rhythmus des Rausches bei Benn An dieser Stelle müßte über das einzelne Gedicht hinausgegangen werden, um zu untersuchen, in welcher Beziehung der Rhythmus des hier analysierten Textes zum Rhythmus des Gesamtwerkes steht. Eine solche Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Trotzdem soll im folgenden versucht werden, anhand einiger Aspekte aufzuzeigen, wie der Rhythmus in Abschied den Rhythmus des Bennschen Werkes fortsetzt. Der Rhythmus in dem Gedicht Abschied ist ein Rhythmus des Vergessens. Er bewirkt eine Abkehr von der Welt, eine Abkehr, die zugleich eine Utopie ist: Die Überwindung der Welt durch das Sich-Verlieren. Diese Abkehr ist in der Erlösungs- und Naturmetaphorik mit ihrer Tendenz zur lyrischen Stereotypisierung ebenso wirksam wie in der Statik der Reihungssyntax und in der Privilegierung des Substantivs. Sie ist durch ihren monologischen Pronominagebrauch und vor allem durch rhythmische Wirksamkeit der Prosodie auch eine Abkehr vom Du. Die Verknüpfung des „Du" mit dem Schmerz macht aus der Abkehr vom „Du" eine Befreiung vom Schmerz, in deren Zentrum das Vergessen steht. Der Rhythmus sucht die Rückkehr zum Metrum, indem das Metrum prosodisch und syntaktisch überbetont wird. Er imitiert das Metrum, dessen zeitlose, von aller Individualität losgelöste Form, und macht es so zu einem Paradigma der Abkehr. Wie das lyrische Ich im Vergessen, so sucht der Rhythmus sich im Metrum zu verlieren. Benns Gedicht macht also etwas anderes als es sagt: Es sagt den Abschied und die Erkenntnis der Vergänglichkeit, aber es macht das Gegenteil, nämlich die Verweigerung der Erinnerung und den Vollzug des Vergessens. Es flüchtet vor dem Abschied nehmen. Der Rhythmus ist selbst diese Flucht, die Auflösung im Vergessen. Das Gedicht Abschied bietet nur einen Ausschnitt aus dem Rhythmus, der das Werk Benns insgesamt trägt, seine Essays wie auch seine Gedichte, von der expressionistischen Frühzeit bis zum elegischen Spätwerk, seine Poetik, seine Konzeption des lyrischen Ichs und seinen Formbegriff. Bezeichnenderweise hat Benn ausschließlich im Zusammenhang mit dem Phänomen des

230 Rausches explizit vom Rhythmus gesprochen. 33 Rausch und Rhythmus fallen bei ihm zusammen. In seinem Essay Provoziertes Leben (1943) liest man: Ob Rhythmus, ob Droge, ob das moderne autogene Training - es ist das uralte Menschheitsverlangen nach Überwindung unerträglich gewordener Spannungen, solcher zwischen Außen und Innen, zwischen Gott und Nicht-Gott, zwischen Ich und Wirklichkeit. ( Benn 1959,1: 339f.).34 Im Rausch soll die Wirklichkeit überwunden werden, und dieser Überwindung gibt Benn den Status einer Erlösung. Im gleichen Essay heißt es an anderer Stelle: „Gott ist eine Substanz, eine Droge." (a.a.O., 335). Aber diese Erlösung bleibt diesseitig, insofern sie nur in der Auflösung des Seienden, nicht in der Entdeckung eines Jenseits besteht: Abwehr gegen das beginnende Bewußtsein [...]. Soweit schon durch das Gehirn, als Aufreihungsorgan, Erinnerungsbestände da sind, Zivilisationen - : Vergessen! [...]. Das Ich zerfallt. (a.a.O., 334). Benn spricht hier nicht nur als Mediziner und Drogenkonsument über die Wirkungsweise von Rauschgiften, 35 sondern auch als Dichter über seine eigene Poetik und über seine Konzeption des lyrischen Ichs.

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So werden in der Akademie-Rede (1932) Rhythmus, Stil und Rausch miteinanander verknüpft: „Die mystische Partizipation [...] in Räuschen und Ekstasen [...] der Leib transzendiert die Seele [...] hier wäre eine Verankerung für unsere Variante [gemeint ist die „nachnietzschesche Epoche"], eine Konkretisierung ihres Vagen und sowohl Inhalt wie Rhythmus für ihren Stil. Aber wir kommen um die Frage nicht herum, was erleben wir denn nun in diesen Räuschen, was erhebt sich denn in dieser schöpferischen Lust, was gestaltet sich in ihrer Stunde [...] Und die Antwort kann nicht anders lauten, sie erblickt auch hier am Grunde nur Strömendes hin und her [...] erblickt das Nichts." (Benn 1959,1: 437). An anderer Stelle finden sich Formulierungen wie „locker konsolidierte Rhythmen verdeckter Schöpfungsräusche" (in: Antwort an die literarischen Emigranten, 1933, Benn 1959Í, IV: 242) und „Rhythmus-Trancen" (in dem Essay Provoziertes Leben, 1943, Benn 1959,1: 332). Die an Nietzsche angelehnte Idealisierung des Rausches ist eine Konstante in Benns Schaffen. Sie ist schon in der aufrührerischen Schlußparole des Einakters Ithaka (1913) enthalten: „Wir wollen den Traum. Wir wollen den Rausch." (Benn 1959, Π: 303) und wird später ins Resignative gewendet, wie z.B. in der Schlußstrophe des Gedichtes Durch jede Stunde -: „ein Tausch, ein Reigen, / ein Sagenlicht, / ein Rausch aus Schweigen, / mehr gibt es nicht." (Benn 1982: 243). So schreibt Benn 1946 an Frank Maraun: „Wenn ich das Zeitliche segne, was wohl sehr bald der Fall ist bei meiner exzessiven Art zu leben (mit Drogen, Zigaretten, Kofiein, Pyramidon à la carte u. in Mengen), [...]." (Zitiert bei Modick 1985: 50).

231 Benn hat sich in zahlreichen seiner Essays und seiner Gedichte mit dem lyrischen Ich auseinandergesetzt. 36 Er hat die Bedeutung dieses Ichs für das Gedicht immer wieder betont und verteidigt und ihm einen quasi metaphysischen Status eingeräumt: „Ein Ich, mythen-monoman, religiös faszinär [...] ein neues ICH, das die Götter erlebt: substantivistisch suggestiv." (Epilog und Lyrisches Ich, 1921, Benn 1959f., IV: 11). Das Paradox der Bennschen Parteinahme für das Ich liegt darin, daß dieses Ich sich bei ihm in der Auflösung des Ichs konstituiert. Schon in seinen frühen Werken ist er fasziniert von der Negation des Ichs. 37 Benn sucht im Gedicht eine Überwindung des Ichs; er transzendiert das Ich im lyrischen Ich, in jenem „akausalen Dauerschweigen des absoluten Ich", von dem er in seinem Essay über den Expressionismus gesprochen hat (Benn 1959,1: 243). Die Art und Weise dieser IchÜberwindung zeigt die Untrennbarkeit zwischen Subjekt- und Rhythmuskonzeption bei Benn. Benn hat die Subjektkonzeption seiner Rhythmuskonzeption: Das lyrische Ich konstituiert sich in der eigenen Auflösung, im Rhythmus des Rausches. Daher weist das lyrische Ich auch alle Symptome des Rausches, oder genauer des Drogenrausches, auf. Das lyrische Ich befindet sich in einem Zustand physischer Euphorie: „Das archaisch erweiterte, hyperämisch sich entladende Ich, dem scheint das Dichterische ganz verbunden", schreibt er 1930 in seinem Essay Zur Problematik des Dichterischen (Benn 1959, I: 81) und charakterisiert die Körperlichkeit dieses Ichs dann mit folgenden Worten:

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Hier seien nur einige genannt: Das moderne Ich (1919) , Das letzte Ich (1920) , Epilog und lyrisches Ich (1920), Zur Problematik des Dichterischen (1930), Probleme der Lyrik (1951), Vortrag in Knokke (1952). In dem Essay Probleme der Lyrikfindetsich der Satz: „Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich." (Benn 1959,1: 501). In Epilog und lyrisches Ich (1920) beschwört er die „Zerlösung des Ich" durch das Gedicht (Benn 1959f., IV: 14), an anderer Stelle bezeichnet er das Ich als eine „späte Stimmung der Natur" {Zur Problematik des Dichterischen, 1930, Benn 1959,1: 78) und in einem frühen Text, Schöpferische Konfession (1919), findet sich etwa folgende Passage: „Und da ich nie Personen sehe, sondern immer nur das Ich [...] keine Wissenschaft und keine Mythe, sondern immer nur die Bewußtheit, ewig sinnlos, ewig qualgestürmt - so ist es im Grunde diese, gegen die ich mich wehre, [...] bis zum Verlöschen im Außersich des Rausches oder des Vergehens". (Benn 1959f., IV: 189). In Kokain (1917) besingt er den „Ich-Zerfall, den süßen, tiefersehnten" (Benn 1982: 108) und thematisiert besonders in den frühen Gedichten immer wieder seinen Ekel vor dem Ich, z.B. in Psychiater (1917), Prolog (1920), Spätes Ich (1922).

232 Der Körper ist der letzte Zwang und die Tiefe der Notwendigkeit, er trägt die Ahnung, er träumt den Traum [...] alles gibt er: Tod und Lust. Er konzentriert das Individuum und weist es auf die Stellen seiner Lockerungen, der Germination und die Ekstase, für jedes der beiden Reiche einen Rausch und eine Flucht. Es gibt und damit endet diese hyperämische Theorie des Dichterischen - nur eine Ananke: den Körper, nur einen Durchbruchsversuch: die Schwellungen, die phallischen und die zentralen, nur eine Transzendenz: die Transzendenz der sphingoiden Lust. (a.a.O., 82) Diese Passage zeigt eindrucksvoll, wie weit bei Benn die Identifikation von Rausch und Poesie geht. Körper, Rausch und Dichtung bilden ein gemeinsames Paradigma. Die Dichtung wird erlebt wie der Rausch durch den Drogenkonsumenten, nämlich ebenso als Zwang („der letzte Zwang", „nur eine Ananke"), als Flucht und Befreiungsversuch („eine Flucht", „nur einen Durchbruchsversuch") wie auch als Lusterlebnis („Tod und Lust", „Ekstasen", „die Schwellungen, die phallischen und die zentralen", „die Transzendenz der sphingoiden Lust."). Die Identifikation von Rausch und Poesie erklärt auch die Vereinsamimg und die soziale Apathie, die das lyrische Ich bei Benn kennzeichnen. 38 Bei Benn flüchtet sich das empirische Ich in das lyrische Ich, u n sich in ihm aufzulösen wie der Rhythmus im Metrum. Daher rührt auch die Betonung des Dingcharakters, welche Benn dem Gedicht geben möchte. Im Ding ist keine Subjektivität. Das lyrische Ich erstarrt in der Form der Strophe, des Metrums, des Substantivs und der Wiederholung. Das repetitive Moment seines Rhythmus hat Benn bis zum Zwanghaften erlebt: „Aber in mir ist eine Wiederkehr dieser Zwänge zum Statischen u. Affektlosen, zur Form, und da gibt es für mich keine Rettung mehr - usque ad finem", schreibt Benn an seinen Freund F.W. Oelze in einem Brief vom 27.10.1940 (Benn, Briefe an Oelze 1249). 39

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Etwa in folgenden Passagen aus seiner Akademie-Rede (1932): „Dies Ich, das auf Verlust lebt, Frigidität, Vereinsamung der Zentren, ohne psychologische Kontinuität, ohne Biographie, ohne zentral gesehene Geschichte findet, will es sich seiner Existenz versichern, von einer bestimmten Organisationsstufe an keine andere Realität mehr als seine Triebe [...]." (Benn 1959,1: 436) und aus seinem Vortrag in Knokke (1952): „Ich muß zugeben, dieses lyrische Ich fühlt auch keine sittliche Aufgabe [...]. Es ist nicht indifferent, aber es ist nicht brüderlich, sondern egozentrisch, nicht kollektiv, sondern anachoretisch, nicht religiös, sondern monoman [...]." (Benn 1959,1: 546). In dem Aufsatz Zur Problematik des Dichterischen spricht Benn von „Wiederholungszwängen" (Benn 1959,1: 82) und beendet ihn in einem an Nietz-

233 Dieser Rhythmus impliziert auch eine bestimmte Haltung zur Modernität. Denn man kann sich fragen, ob die Abkehr vom Subjekt im lyrischen Ich nicht auch eine Abkehr von der Modernität bewirkt, von dem, was Benjamin die Jetztzeit genannt hat. Für Benn hat das Gedicht nur eine Vergangenheit, aber keine Zukunft.40 Das Jetzt bei Benn ist in vielen Gedichten ein Jetzt außerhalb der Zeit, weil das Gedicht eine Flucht vor der Zeit ist; eine Flucht zur Form, und das heißt bei Benn, in die Vergangenheit: zum Formenrepertoire des 19. Jhs., zu Reim, Strophe, Metrum und zur Naturmetaphorik des Jugendstils.41 Es ist nicht der Reim oder die Strophe an sich, sondern ihre Wertigkeit als rhythmische Elemente in Benns Gedichten, wodurch sie eine Negierung der poetischen Erneuerung bewirken. Die Metrisierung des Rhythmus endet in der Wiederholung, dem Schema und der poetischen Stereotype, in der alles schon gesagt ist. Der Rhythmus hat auch eine ethische Ausrichtung. Benn vertritt die Ethik seines Rhythmus: eine Ethik der Abkehr, der Überwindung des Politischen durch die Abkehr. Der Rausch führt auch in eine „innere Emigration". Er erlöst durch das Vergessen. Aber die politische Wirksamkeit des Rhythmus geht noch weiter, insofern seine Abkehr von der Erkenntnis, vom Leiden und von der Gegenwart auch eine Abkehr vom Subjekt bewirkt. Im Rausch löst

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sehe angelehnten Pathos mit den Worten: „Und wenn es scheint, er sinkt [gemeint ist „der Einsame"], gibt alles ihn zurück, die Mitternacht, die Mutternacht: »Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß, und daß du nie beginnst, das ist dein Los; dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe.« (a.a.O., 83) . Der gleiche Gedanke findet sich noch öfter im Werk Benns. Vielleicht steht auch das Noch-einmal-Motiv mit diesem Wiederholungszwang in Verbindung, z.B. in Astern: „Noch einmal die goldenen Herden [...] Noch einmal das Ersehnte [...] noch einmal ein Vermuten [...]." (Benn 1982: 268). In Doppelleben (1950) beschreibt er die Zukunft der Poesie so: „Der Stil der Zukunft wird der Roboterstil sein, Montagekunst [...]. Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichworten, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert - : Ein Mensch in Anfuhrungsstrichen. Seine Darstellung wird in Schwung gehalten durch formale Tricks, Wiederholungen von Worten und Motiven [...]." (Benn 1959, IV: 162f.). Diese Vision vom Ende der Poesie läßt sich auch als Beschreibung von Benns poetischer Praxis lesen. Der „Roboterstil" ist eine Projektion von Benns eigenem „Montagestil" („ein Gedicht aus Worten, die sie faszinierend montieren", Vortrag in Knokke (1952), Benn 1949: I, 547). Insofern ist es bezeichnend für Benns Subjektkonzeption, daß der Mensch im „Roboterstil" wie ein Objekt behandelt wird („neu zusammengesetzt", „in Anführungsstrichen"). Dies belegt auch die Untersuchung von Clemens Heselhaus'(1962).

234 sich das Subjekt auf, wie der Rhythmus in der Form, dem Metrum, dem Statischen und der Wiederholung. Die Faszination, die die Auflösung des Ichs auf Benn ausübte, findet sich in seiner zeitweiligen Befürwortung des Nationalsozialismus wieder.42 Benns Konzeption der Form kulminiert in dieser Phase seines Schaffens in dem Begriff der Zucht. Was die Form für den Rhythmus, ist die Zucht für das Subjekt. Form und Zucht folgen bei Benn derselben Logik. In seiner Rede auf Stefan George aus dem Jahr 1934 spricht Benn von der „unerbittlichen Härte des Formalen" (Benn 1959, I: 474) und setzt Form und Zucht auf die gleiche Stufe: „Sagen sie für Form immer Zucht oder Ordnung oder Disziplin oder Norm oder Anordnungsnotwendigkeit." (a.a.O., 473). Die Zucht schließt auch die Züchtung mit ein („auch der Züchtungsgedanke fallt unter dies Formproblem", a.a.O., 475), im geistigen und im biologischen Sinne.43 Gottfried Benn, der nach 1934 so vehement für eine Trennung von Ästhetik und Ethik, Dichtung und Leben, Poetik und Politik eingetreten war, zeigt durch seine eigene Praxis des Rhythmus die ethische Wirksamkeit der Dichtung und ihre Untrennbarkeit vom Leben.

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„ E i n e militante Transzendenz, ein Richtertum aus hohen hehren Gesetzen, Züchtung von Rausch und Opfer für das Sein verwandlungsloser Tiefe, Härte aus tragischem Gefühl, Form aus Schatten! [...] Noch einmal die weiße Rasse, ihr tiefster Traum: Entformung und Gestalt, noch einmal, im Norden: der Sieg der Griechen. Dann Asien, der neue Dschingis-Khan. Das ist die Perspektive." (Züchtung I, 1933, Benn 1959f., IV: 220f.). „Alle politischen Anstrengungen des neuen Staates gehen daher auf das eine innere Ziel: Anreicherung einer neuen menschlichen Substanz im Volk, Grundlegung eines neuen opferfähigen Lebensgefühls [...]. Anreicherung mittels der modernsten - oder wie wir sehen werden urältesten - Methoden: Eliminierung und Züchtung. Man kann das alles gar nicht weittragend genug sehen. Ein Mißlingen fiele gar nicht mehr unter den Begriff der Katastrophe, solche Vorstellung gäbe es dann schon nicht mehr." (Der neue Staat und die Intellektuellen, 1933, Benn 1959f., IV: 42f.).

7 Zusammenfassung

Methodischer Ausgangspunkt der hier analysierten Texte war die Rhythmuskonzeption von Henri Meschonnic, der anknüpfend an die vorplatonische Bedeutung des Wortes rhythmos (= veränderliche, vorübergehende Gestaltung) den Rhythmus als „Gestaltung des Sinns in der Rede" (Meschonnic 1982: 216) definiert und die Untrennbarkeit von Rhythmus, Sinn und Subjekt der Rede in den Mittelpunkt seiner Theorie stellt (Kapitel 1). Dieser Rhythmusbegriff unterscheidet sich von den in Kapitel 2 und 3 behandelten Sprachrhythmuskonzeptionen, in denen Rhythmus und Sinn durch die Rückführung des Rhythmus auf ein formales metrisches Prinzip getrennt bleiben. Drei Aspekte sind für die methodische Durchführung der Rhythmusanalysen grundlegend gewesen: erstens die Ausrichtung der Untersuchung auf die semantische Funktionsweise des Rhythmus, durch die ein bloß konstatierendes Auflisten einzelner Merkmale vermieden wurde. Der Rhythmus wurde als Prinzip der Sinngestaltung aufgefaßt, also als Art und Weise, wie ein Text durch die jeweilige Beziehung seiner Signifikanten Sinn macht. Daraus ergibt sich unmittelbar der zweite methodische Aspekt: nämlich die Einbeziehimg möglichst aller Signifikanten in die Analyse. Wenn Rhythmus und Sinn in enger Wechselwirkung stehen, dann gehören alle Elemente, die an der Sinngestaltung teilhaben, auch zum Rhythmus. In allen drei Analysen wurden deshalb akzentische, prosodische, lexikalische und syntaktische Elemente des Rhythmus herausgearbeitet. Daneben wurde aber von Fall zu Fall auch die rhythmische Wirksamkeit anderer Komponenten, wie der Interpunktion, des Metrums oder der Metaphorik, berücksichtigt. Jede dieser Komponenten - und dies bildet den dritten Aspekt - wurde immer innerhalb des jeweiligen Wert-Systems der Rede untersucht und nur insofern in die Analyse mit einbezogen, als sie innerhalb dieses systematischen Zusammenhangs und durch ihn eine spezifische Wertigkeit erhielt. Diese Methode unterscheidet die hier vorgenommenen Rhythmusanalysen von einer stilisti-

236 sehen Untersuchung, da keiner der genannten Aspekte für eine Stilanalyse, mag sie individuelle Abweichungen von einer Sprach- oder Gattungsnorm zum Gegenstand haben oder aber auf eine Kategorisierung formaler Stilmerkmale abzielen, von grundlegender Bedeutung ist. Die Einbeziehung des Sinns in die Frage nach dem Rhythmus und des Rhythmus in die Frage nach dem Sinn hat sowohl literaturwissenschaftliche wie linguistische Konsequenzen. Literaturwissenschaftlich, insofern sie neue Zugänge zu der poetischen Spezifik der Texte eröffnet und linguistisch, weil durch sie bestimmte Aspekte der semantischen Funktionsweise der Rede (wie sie etwa in der Prosodie, der Syntax und der Akzentik wirksam sind) der linguistischen Beschreibung zugänglich gemacht werden. Auf diese Weise macht die Rhythmusanalyse auch die Grenzen der Kompositionalitätshypothese, also der Vorstellung einer Rückführbarkeit des Sinns auf eine endliche Menge struktureller Grundelemente, deutlich. So haben etwa die hier vorgenommenen Analysen gezeigt, daß sich die durch den Rhythmus realisierte semantische Funktionsweise weder auf eine übergeordnete Struktur (z.B. auf die Gattung der naturmagischen Ballade im Falle des Erlkönigs oder auf den Typus des Volksmärchens beim Sterntalermärchen) zurückführen, noch in einzelne semantische Atome (z.B. die Lexik oder die Naturmetaphorik im Erlkönig oder im Benn-Gedicht) zerlegen läßt, sondern erst aus dem Zusammenwirken aller Signifikanten im Textsystem resultiert. Gemeint sind damit nicht nur die lexikalischen, sondern auch die prosodischen, akzentischen, syntaktischen, interpunktorischen oder typographischen Signifikanten, da - wenn man vom Rhythmus als Bedeutungsweise ausgeht, vom Wert-System der Rede - jedes Element in die Sinngestaltung eingebunden werden kann. Die hier vorgelegten Rhythmusanalysen können deshalb zugleich als eine empirische Kritik der Form-Inhalts-Dichotomie verstanden, werden, auf der etwa die gängige Unterscheidung zwischen Inhaltswörtern und Funktionswörtern, Autosemantika und Synsemantika beruht. Denn in keinem der hier analysierten Texte ist eine Scheidung in formale und in inhaltliche Elemente möglich; sowohl die Distribution der Vokale in Abschied von Benn, wie die Wortakzentsequenzen im Sterntalermärchen und die zu- und abnehmende Zahl der Silben in den Erlkönig-Vet&en sind durch die spezifische Wertigkeit, die sie jeweils erhalten - konstitutiv für die semantische Funktionsweise der einzelnen Texte. Im Fall der ErlkönigRezeption hat die Trennung zwischen formaler Analyse und inhaltlicher Interpretation dazu geführt, daß der Text hinter einer hartnäckigen Deutungsstereotype verschwinden konnte (Kapitel 4). Fast jede Interpretation geht von

237 der einen oder anderen Variante des Vater-Sohn-Dualismus aus, in der das Rationale (der Vater) und das Irrationale (der Sohn, der Erlkönig) zwei sauber getrennte Bereiche bilden, während der Rhythmus der Ballade die beruhigende Grenze gerade verwischt und eine Vater-Erlkönig-Kontinuität realisiert, in der die Paradigmen der Kontrolle und des Bedrohlichen sowohl durch den Erlkönig als auch durch den Vater realisiert werden. Auch in dem Grimmschen Märchen Die Sterntaler (Kapitel 5) ist eine Trennung in Form und Inhalt kaum möglich, ohne daß man Gefahr läuft, die semantische Funktionsweise des Märchens aus dem Blick zu verlieren. Dies geschieht in den Märchendeutungen, die den Text als Fabel über die Tugend der Selbstaufopferung lesen. Aber der Rhythmus des Textes widerspricht dem vermeintlichen Opferethos; er schafft eine Einbindung aller Aktanten in eine dialogische Umkehrung von Geben und Nehmen, die am Ende des Märchens bis ins Kosmische ausgeweitet wird. Die Rhythmusanalyse des Sterntalermärchens kann auch einen Beitrag zur Klärung der Frage nach dem Verfasser der Erstfassung fur die Ausgabe von 1812 leisten. Der Rhythmus des Textes setzt sich, wie nachgewiesen werden konnte, in den allein von Wilhelm Grimm bearbeiteten Märchen fort, so daß aller Wahrscheinlichkeit nach nur Wilhelm, und nicht Jacob Grimm oder Achim von Arnim, wie in der Grimm-Forschung bislang angenommen, als Autor anzusehen ist. Nicht nur bei Wilhelm Grimm manifestiert sich im Rhythmus die Subjektivierung der Sprache. In jeder Sprachäußerung, im Geschriebenen wie im Gesprochenen, vollzieht sich, genau wie in Gestik, Mimik, Intonation oder Handschrift, bewußt und unbewußt die unaufhörliche Subjektivierung der Sprache durch den Rhythmus. Im Gegensatz dazu stellt das Metrum ein Prinzip der Objektivierung des Rhythmus und des Subjekts dar. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Gottfried Benn. Bei Benn korreliert die Metrisierung des Rhythmus mit einer poetischen Konzeption der Entsubjektivierung, der Auslöschung des Subjekts durch den Rausch und das Gedicht (Kapitel 6). Die metrische Faszination und die Sehnsucht nach der Ich-Auslöschung bei Benn sind zwei Aspekte desselben Paradigmas, das zugleich ein Scharnier zwischen Poetik und Ethik bildet. Die poetische Entsubjektivierung impliziert eine ethische Haltung, die sowohl in die „innere Emigration" wie in die Apologie einer „militanten Transzendenz" führen konnte. Bei Benn zeigt sich, daß es bei der Frage nach dem Rhythmus - sowohl in der Linguistik wie in der Literaturwissenschaft - immer um das Subjekt geht, um den Status des Subjekts in der Sprache. Da dieses Subjekt unvorhersehbar, indi-

238 viduell, geschichtlich oder - um das Humboldtsche Attribut zu verwenden Jedesmalig" ist, kann es sich nur in dem Maße sprachlich manifestieren, wie die Sprache selbst an der Jedesmaligkeit des Subjekts teilhat. Wo die Rhythmusanalyse etwas von dieser Jedesmaligkeit sichtbar machen kann, vermag sie deshalb auch einen Beitrag zur Erforschung der Subjektivität in der Sprache zu leisten.

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