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German Pages 156 Year 1978
Anglistische Arbeitshefte
19
Herausgegeben von Wolf-Dietrich Bald, Herbert E. Brekle und Wolfgang Kühlwein
Hans-Jürgen Diller/Joachim
Kornelius
Linguistische Probleme der Übersetzung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1978
CIP-Kurztitelaufnahme dei Deutschen Bibliothek Diller, Hans-Jürgen: Linguistische Probleme der Übersetzung / Hans-Jürgen Diller ; Joachim Kornelius. Tübingen : Niemeyer, 1978. (Anglistische Arbeitshefte ; 19) ISBN 3-484-40078-1 NE: Kornelius, Joachim:
ISBN 3-484-40078-1 ISSN 0344-6689 Max Niemeyer Verlag Tübingen 1978 © Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS
0.
VORWORT
VII
1
EINLEITUNG
1.1
Was übersetzen
1.2
Wozu übersetzen
1.3
Was ist Ubersetzen?
1.4
Wie ist Ubersetzung
möglich?
16
1.41
Die übersetzerische
Kompetenz
16
1.42
Ubersetzungseinheiten
20
1.43
Kquivalenzbedingungen
21
1 wir?
1
wir?
3 6
1.5
Übungen
1.51
Übungen
und Literaturverzeichnis
23
1.52
Literaturverzeichnis
24
2
SEMANTISCHE PROBLEME DER ÜBERSETZUNG
26
2.0
Vorüberlegungen
26
2.1
Das Verhältnis
2.2
Paradigmatische
2.3
Syntagmatische
2.4
Übungen
von Sprache Semantik Semantik
zu Kap.
1
und Wirklichkeit
und Ubersetzung
27 30
und Ubersetzung
und Literaturverzeichnis
23
37
zu Kap.
2
41
2.41
Übungen
41
2.42
Literaturverzeichnis
42
3
SYNTAKTISCHE PROBLEME DER ÜBERSETZUNG
44
3.0
Vorbemerkung
44 45
3.1
Skopus
3.2
Funktionale
3.3
Kasus
Satzperspektive
(Thema und Rhema)
50 52
3.4
Grenzen
3.5
Hervorhebung
der Kasustheorie.
3.6
Übungen
des Rhemas
Lexikalische
Dekomposition
55
durch markierte
Satzordnung
57
und Literaturverzeichnis
zu Kap.
3
60
3.61
Übungen
60
3.62
Literaturverzeichnis
62
4
STILISTIK UND ÜBERSETZEN
4.0
Vorbemerkungen
4.1
Die
4.2
Spraahtypologische
Lehre
64
von
tendenzen
64
im
den
Sprachstilen: Ursachen
Deutschen
unterschiedlicher
und
Konsoziation
und
Dissoziation
4.22
Synthetische
und
analytische
4.23
Wortbildung
4.24
Idiomatische Zitate
4.3
Die
4.31
Typologie
4.32
Zur
4.321
Permanente
comparée
65
Stil-
66
Englischen
4.21
4.25
stylistique
67 Flexion
68 70
Redewendungen
72 74
Lehre
von
den
Sprachvarianten
der
Sprachvarianten
Ubersetzbarkeit
der
75 78
Sprachvarianten
81
Sprachvarianten
81
4.322
Tenor
82
4.323
Register
84
4.33
Sollen
4.4
Übungen
4.41
Übungen
90
4.42
Literaturverzeichnis
92
5
ÜBERSETZUNG UND FREMDSPRACHENUNTERRICHT
5.1
Zur
Sprachvarianten und
in
der
Ζ S wiedergegeben
Literaturverzeichnis
Neubewertung
von
zu
Kap.
Ubersetzungsübungen
werden?
4
84 90
95 im
Fremd-
95
im
96
Sprachenunterricht 5.2
Zur
Lernzielbestimmung
von
Fremdsprachenunterricht
Ubersetzungsübungen
und
5.3
Literaturverzeichnis
6
TEXTTYPOLOGIE UND ÜBERSETZUNG
103
6.0
Vorbemerkungen
103
6.1
Synchronisation
6.2
Die
6.3
Ubersetzung
und
6.4
Übungen
Literaturverzeichnis
6.41
Übungen
128
6.42
Literaturverzeichnis
123
und
literarische und
zu
Kap.
Fremdsprachenstudium 5
102
Ubersetzung
104
Ubersetzung
111
Werbung
ANHANG: LÖSUNGSVORSCHLÄGE ZU DEN ÜBUNGEN
121 zu Kap.
6
128
125
O.
Vorwort Im Titel dieses Heftes ist mit Absicht nur von linguistischen
Problemen der Übersetzung die Rede, nicht etwa von Ubersetzungswissensahaft
oder (Jbersetzungstheorie. Darin soll die Uberzeugung
der Verfasser zum Ausdruck kommen, daß das Geschäft des Ubersetzens zwar Probleme enthält, die mit Hilfe einer wissenschaftlichen Disziplin - nämlich der Linguistik und ihrer Teildisziplinen - angegangen werden können, daß es aber eine Ubersetzungswissenschaft als geschlossene empirische Disziplin jedenfalls noch nicht in der Weise gibt, daß sie studentischen Anfängern in einem Einführungsbuch dargestellt werden könnte. Es gibt zwar eine große Anzahl von Ubersetzungstheorien, doch die empirische Validierung dieser Theorien ist noch unzureichend, und zwar in einem doppelten Sinne: zum einen ist das Material, an dem vorgelegte Theoreme belegt bzw. überprüft werden, unzureichend und oft willkürlich ausgewählt; zum anderen besteht keinerlei Konsensus darüber, welchen Kriterien eine empirische Validierung zu genügen habe. Ein Ergebnis dieses Zustandes ist, daß die Ubersetzungstheorie bislang wenig Hilfen für den praktischen Ubersetzer zu bieten hat. Noch eine weitere Uberzeugung der Verfasser kommt in dem Titel zum Ausdruck: nicht alle Ubersetzungsprobleme sind linguistischer Art. Viele sind es höchstens im Sinne der sprachphilosophischen Einsicht, daß jede Sprache die Wirklichkeit immer nur partiell erfaßt. Aus dieser Erkenntnis folgt, daß zum Ubersetzen Sprachkenntnis nicht genügt, daß vielmehr die Kenntnis (oder Erschließung) der in der Ausgangssprache erfaßten Wirklichkeit dazugehört. Diese Auffassung wird im Anschluß an COSERIU im 1.Kapitel vertieft. Die Verfasser hielten es dennoch - um des Kontrasts willen - für geboten, auch solche Probleme darzustellen, die über den Bereich des rein Sprachlichen hinausgehen; dies geschieht vor allem in den Kapiteln 5 und 6. Es war mithin nicht unser Bestreben, eine geschlossene Theorie des Ubersetzens vorzulegen, sondern dem Benutzer linguistische Kategorien nahezubringen, mit denen er auftretende Probleme angehen kann. Hier sehen wir auch den Nutzen der Linguistik: Während die normale Ubersetzungspraxis kaum zu Erkenntnissen führt, die
Vili über den gerade übersetzten Text hinausführen, kann die Linguistik den Ubersetzer befähigen, das Allgemeine, sich Wiederholende hinter den Einzelfällen zu erkennen. Hierzu bedarf es nicht nur der Kategorien, sondern auch der Beispiele. Diese sind deshalb reichlich vertreten. Auch die "Übungen" sollen die Fähigkeit trainieren, Einzelbeispiele auf allgemeine Kategorien zurückzuführen. Wo die Art der Aufgaben dies zuläßt, wurden in einem Anhang Lösungsvorschläge beigegeben. Diese sollte der Leser jedoch nicht als allein richtige ansehen, sondern vielmehr als Anregung, sie mit seinen eigenen Lösungsversuchen zu konfrontieren. Das gilt insbesondere für die Aufgabe 10 in Kapitel 4, deren "Lösung" unversehens einen schier unzumutbaren Umfang annahm. Sie blieb dennoch in der Endfassung stehen, weil es den Verfassern richtig schien, an einem - noch nicht einmal extremen - Beispiel die Komplexität des Ubersetzungsvorgangs und der ihn determinierenden Faktoren zu zeigen. Wenn, wie es der Intention der "Anglistischen Arbeitshefte" entspricht, dieses Heft in wissenschaftlichen Übungen verwendet wird, kann die Arbeit in der Gruppe jene Entmutigung abfangen, die im Selbststudium ohne Zweifel von solchen Lösungsvorschlägen ausgehen müßte. Die Kapitel 1, 3, 4 und 6.2 wurden von H.J.D., die Kapitel 2, 5, 6.1 und 6.3 von J.K. verfaßt. Für die Fertigstellung des Typoskripts sowie für Hilfe bei der Beschaffung der Literatur haben wir Brigitte Gierlich, Dieter Goeke, Karin Fischer-Löper und Edith Koretz zu danken. Den Herausgebern der Reihe, den Professoren W. Kühlwein und H.E. Brekle, danken wit für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts und für manche wertvolle Anregung . Bochum, im Dezember 1977
H.J.D.
J.K.
1.
EINLEITUNG
1.1 Was übersetzen
wir?
Es wird häufig gesagt, daß wir Texte und nicht etwa Sprachen übersetzen. Das ist zwar scheinbar selbstverständlich, doch es birgt eine folgenreiche Paradoxie, Denn was wir lernen, sind gerade nicht Texte, sondern eben Sprachen: sprachliche Einheiten mit ihren Bedeutungen und die Regeln ihrer Verknüpfung. Diese Sprachen freilich lernen wir wiederum anhand von Texten, und vermittels der gelernten Sprachen sind wir in der Lage, Texte zu produzieren und zu verstehen. Dies seinerseits ist die unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit des Übersetzens. Die hier angedeutete Paradoxie ist nichts weiter als das bekannte Verhältnis von Kompetenz und Performanz. Das Ubersetzen gehört natürlich, ebenso wie das einsprachige Sprechen oder Schreiben, in den Bereich der Performanz. Aber es ist nur möglich auf der Grundlage einer vom Performanten zuvor erworbenen Kompetenz. Die Tatsache, daß wir Texte übersetzen, hat eine wichtige Folge für das Ubersetzen selbst. Sie bewirkt, daß es keine rein sprachliche Tätigkeit ist. Denn Texte "enthalten gerade nicht nur Sprachliches" (COSERIU, Bedeutung S. 116). Vielmehr geht in die Produktion von Texten auch eine Kenntnis der außersprachlichen Welt ein, die beim Empfänger des Textes vorausgesetzt wird und ohne die Textverstehen infolgedessen nicht möglich ist. Die moderne Texttheorie definiert den Text deshalb nicht als rein sprachliche Einheit, sondern als "Äußerungsmenge-in-Funktion". Die "Äußerungsmenge" selbst, losgelöst von ihrer Funktion, heißt dann "Textformular"
(SCHMIDT
S. 150). Auch das Definiens "Äußerungsmenge-in-Funktion" ist noch nicht eindeutig. Wir müssen unterscheiden zwischen token und type. Das
token wird zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten
Ort vollzogen. Bei SCHMIDT heißt es "Textäußerung" (SCHMIDT S. 126). Auch "Textexemplar" wäre eine mögliche Bezeichnung. Der type kann in einer beliebigen Menge von Textäußerungen immer wieder manifestiert werden. Der Ausdruck "Text" soll künftig auf diesen type beschränkt sein. (Dies entspricht
nicht
der SCHMIDTschen Terminologie!)
Auch beim "Text" beziehen wir die Funktion und damit die Situation in die Definition mit ein; wir verstehen aber die Situation nicht
2
als konkrete, an einen bestimmten Ort und Zeitraum gebundene, sondern als Typus einer Situation. Der Ruf "Feuer!", den der Nachtwächter des Reichstags am 27.2.1933 ausstieß, ist also eine Textäußerung. Der Ruf "Feuer!", den man ausstößt, wenn es brennt, ist ein Text. Der Befehl "Feuer!", den der Leiter eines Erschießungspelotons erteilt, ist ein anderer Text. Das Wort Feuer ist in allen drei Beispielen das zugehörige Textformular. Was also übersetzen wir? Textäußerungen, Texte oder Textformulare? Im aktuellen Vollzug natürlich Textäußerungen. Doch diese sind nur Objekt der Performanz. Wollen wir den Gegenstand der Ubersetzungskompetenz ermitteln, so müssen wir uns um mindestens einen Schritt von der konkreten Situation entfernen. Ob wir noch einen weiteren Schritt zurückgehen dürfen, ob wir also vielleicht gar das Textformular zum Objekt der Ubersetzung machen können, ist festzustellen, wenn wir unser "Feuer!"-Beispiel ein wenig abwandeln. Wir stellen uns hierzu zwei Situationen vor: (1) Ich habe eine unangezündete Zigarette im Mund, fasse suchend an meine Taschen. Mein Tischnachbar greift daraufhin zum Feuerzeug und fragt mich: "Feuer?" (2) Eine Gesellschaft sitzt, nichts Böses ahnend, zusammen. Allmählich werden ein knisterndes Geräusch, ein brenzliger Geruch und der Widerschein von Flammen bemerkbar. Einer der aufmerksam Gewordenen fragt daraufhin: "Feuer?" Die englische Ubersetzung würde lauten: (V)
"(You)
(2')
"Fire?"
Want
a
light?"
Das Beispiel zeigt, daß identische ausgangssprachliche Text^ formulare bei unterschiedlicher Funktion zu unterschiedlichen Textformularen in der Zielsprache führen können. Damit ergibt sich, daß wir auch im Sinn unserer Definition Texte - und nicht etwa Textäußerungen oder Textformulare - übersetzen.
3
1.2 Wozu übersetzen wir? Unsere zweite Frage lautet: Wozu übersetzen wir? Auf diese Frage gibt es prinzipiell zwei Antworten: (1) um eine Kommunikation zwischen einem AS-Sender und einem ZS-Empfänger^ herzustellen; (2) um einem ZS-Empfänger eine Kommunikation zwischen o AS-Sender und AS-Empfänger mitzuteilen . Im ersten Fall tritt der ZS-Empfänger als primärer, im zweiten als sekundärer Empfänger auf. Wir können deshalb auch von primärer und sekundärer Obersetzung sprechen. Beide Arten stellen höchst unterschiedliche Anforderungen an die Ubersetzung. Primäre Ubersetzung liegt z.B. vor, wenn Sprecher verschiedener Sprachen über einen Dolmetscher miteinander verkehren, wenn ein ausländischer Staatsgast zum Abschluß eines Besuchs eine Fernsehansprache an die Bevölkerung des gastgebenden Landes richtet, oder wenn eine Fremdsprachensekretärin einen Geschäftsbrief übersetzt. Ebenso sind die mehrsprachigen Gebrauchsanweisungen, welche man bei Waren mit internationaler Verbreitung findet, als primäre Ubersetzungen anzusehen; denn zweifellos soll auch hier eine Kommunikation zwischen einem AS-Sender (dem Hersteller) und einem ZS-Empfänger (dem ausländischen Käufer) hergestellt werden. Auch das "stille Ubersetzen" gehört hierher: Wer in einem fremden Land der Landessprache noch nicht ganz sicher ist, wird das, was er sagen will, zunächst innerlich in seiner Muttersprache formulierën, ehe er es in die fremde Sprache übersetzt und artikuliert. Dieser Fall unterscheidet sich von den vorigen lediglich dadurch, daß ASSender und Ubersetzer in einer Person zusammenfallen. Mit sekundärer Ubersetzung dagegen haben wir es zu tun, wenn z.B. die Rede eines Politikers, die dieser vor seinen eigenen Wählern oder Abgeordneten gehalten hat, von einer ausländischen Zeitung zur Information ihrer Leser übersetzt und abgedruckt wird, ebenso bei der Ubersetzung von schöner oder wissenschaftlicher Literatur. Eine ähnliche Einteilung hat schon A. NEUBERT vorgenommen. Er unterscheidet Texte mit (1) nichtspezifisch AS-gerichteter Pragma1) AS = Ausgangssprache, ZS = Zielsprache 2) Diese Unterscheidung ist in ähnlicher Weise schon oft gemacht worden. Am bekanntesten ist die von SCHLEIERMACHER, der sie aber nicht auf den Z w e c k der Ubersetzung zurückführt.
4 tik, (2) spezifisch AS-gerichteter Pragmatik, (3) sowohl spezifisch wie nichtspezifisch AS-gerichteter Pragmatik, (4) spezifisch ZS-gerichteter Pragmatik. Als Beispiele für (1) nennt NEUBERT Bedienungsanweisungen bei Maschinen, für (2) Gesetze und Lokalnachrichten, für (3) Texte der schönen Literatur, für (4) Auslandspropaganda. NEUBERTs Typen (1) und (4) entsprechen im wesentlichen unserer primären Übersetzung, (2) und (3) der sekundären Ubersetzung. Der Unterschied zwischen NEUBERT und uns liegt im Kriterium: Bei ihm ist es die Textsorte des AS-Textes, bei uns der Zweck der Ubersetzung. Damit tragen wir der Tatsache Rechnung, daß zwischen Textsorte und Ubersetzungszweck zwar eine hohe Korrelation besteht, daß dieser aber nicht völlig durch jene determiniert ist. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen und zugleich unsere obige Behauptung illustrieren, daß beide Arten der Übersetzung unterschiedliche Anforderungen stellen: Wer einen Trauerfall im deutschen und im englischen Sprachbereich anzeigen will, wird sich vermutlich an die mit der Textsorte "Todesanzeige" verbundenen Konventionen halten. Er wird also in deutschen Zeitungen einen längeren Text veröffentlichen, der seinen persönlichen Gefühlen Ausdruck verleihen soll (der freilich in den meisten Fällen bei den Beerdigungsinstituten aus einer begrenzten Zahl von Mustern ausgewählt wird), während er in britischen Zeitungen einen viel knapperen Text erscheinen läßt, der beschränkt ist auf Todesdatum, letzten Wohnsitz und Bezeichnung des nächsten Angehörigen (z.B. in der Formel "beloved wife of..."). Beide Texte wären unter einer bestimmten Definition als Äquivalente voneinander und damit als Ubersetzungen anzusehen. Dies wäre ein Fall der primären Übersetzung. Wenn dagegen ein Engländer seinen Landsleuten einen Eindruck von deutschen Traueranzeigen vermitteln will, so wird er eine deutsche Anzeige mit all ihrem Wortreichtum möglichst getreu übersetzen. Auch ein und derselbe Text kann zum Objekt einmal der primären, ein andermal der sekundären Ubersetzung werden. Wer die Bibel als Gottes Wort ansieht, das an alle Menschen gleichermaßen gerichtet ist, der wird eine primäre Übersetzung wählen und den ZS-Text
5 möglichst den Konventionen der ZS-Empfänger anpassen. Dies ist z.B. das Vorgehen E.A. NIDAs und seiner Gruppe. Wer in der Bibel dagegen einen kulturellen Text des Volkes Israel sieht, wird sich für die sekundäre Ubersetzung entscheiden und die soziokulturellen Besonderheiten möglichst zu bewahren suchen (so auch REISS, Texttyp S.90). Die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Ubersetzung nimmt eine Unterscheidung wieder auf, die seit SCHLEIERMACHER zu den ständigen Streitfragen der Ubersetzungstheorie gehört, sie bietet aber gleichzeitig eine Lösung dieser Streitfrage. SCHLEIERMACHER sah bekanntlich zwei prinzipiell verschiedene Arten des Ubersetzens: Entweder
der
in R u h e ,
und b e w e g t
den
Leser
ihm
entgegen.
Uebersezer
möglichst
den in
läßt
den
Leser Ruhe
Schriftsteller
ihm
entgegen;
und b e w e g t
(SCHLEIERMACHER
S.
den
oder
möglichst er
läßt
Schriftsteller
47)
SCHLEIERMACHER läßt letzten Endes nur das erste Verfahren gelten. Bei unserer Einteilung dagegen wird die Wahl des Verfahrens vom Zweck der Ubersetzung abhängig gemacht. Neben der primären und der sekundären Ubersetzung ist noch eine dritte Form zu erwähnen: die Ubersetzung im Unterricht. Dies ist eine künstliche Form, die keinem der beiden Ubersetzungszwecke dient. Der Adressat, der Lehrer oder Korrektor, bedarf der Ubersetzung nicht, da er die ZS besser beherrscht als der Ubersetzer. Der Kommunikationszweck dieser Ubersetzung liegt ausschließlich in der Vermittlung bzw. Uberprüfung der sprachlichen Fertigkeiten des Übersetzers. Hier geraten wir nun in eine höchst paradoxe Situation: (1) Die Art der Ubersetzung richtet sich nach ihrem Zweck. Folglich kann (2) die Qualität einer Ubersetzung nur in Kenntnis ihres Zwecks beurteilt werden. Da aber (3) die Ubersetzung im Unterricht keinen eigentlichen, aus der Lebenssituation erwachsenden Zweck hat und sie (4) gerade angefertigt wird, um nach ihrer Qualität beurteilt zu werden, ist sie (5) eine aontvadiotio
in adieoto. Wie bei den meisten logisch
unlösbaren Dilemmata gibt es einen praktisch sehr einfachen Ausweg: Man f i n g i e r t
einen Ubersetzungszweck. Wir sagten schon
6 früher, daß der Ubersetzungszweck zwar durch die Textsorte nicht streng determiniert ist, daß aber die meisten Textsorten den einen oder anderen Ubersetzungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit nach sich ziehen. Es ist bemerkenswert, daß in den Ubersetzungsübungen unserer Schulen und Hochschulen so gut wie ausschließlich die sekundäre Ubersetzung praktiziert wird. (Die einzige Ausnahme ist die Ubersetzung von Geschäftsbriefen.) Dabei wäre es im Prinzip ebenso möglich, etwa Dolmetsch-Dialoge, Gebrauchsanweisungen und ähnliche Texte zu wählen, die eher für die primäre Ubersetzung geeignet sind. (Anregungen hierzu bieten A. BEILE-BOWES und J. WAHL; vgl. ausführlich Kap. 5.2.) 1.3 Was ist Übersetzen? Ehe wir uns den "Linguistischen Problemen der Ubersetzung" zuwenden, müssen wir klären, was Ubersetzen denn eigentlich sei. Wir fragen dabei mit Bedacht nach dem Ubersetzen, nicht nach der Übersetzung. Mit dieser Unterscheidung sind wir in der Lage, den Prozeß und sein Ergebnis auseinanderzuhalten
(vgl. JÄGERS Begriffs-
paar Translation/Translat). Das Ubersetzen begegnet uns, wie andere Formen der Sprachverwendung auch, unter zweierlei Gestalt: zum einen ist es eine konkrete, an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt vollzogene Handlung, zum anderen ist es die Kompetenz, die der Ubersetzer besitzt und durch die er überhaupt erst in die Lage versetzt wird, Ubersetzungen durchzuführen. Wenn wir das Ubersetzen so als Kompetenz betrachten, haben wir die Hoffnung, es etwa so beschreiben zu können, wie wir heute schon die einzelsprachliche Kompetenz zu beschreiben vermögen. Dabei ist freilich vorauszusehen, daß die Beschreibung einer zwei-(oder auch mehr-)sprachigen Kompetenz erheblich komplexer ausfallen wird als diejenige der einsprachigen. Das ändert jedoch nichts daran, daß eine solche Beschreibung im Prinzip möglich ist. Unter den zahlreichen Definitionen des Ubersetzens gibt es eine, die wir näher untersuchen wollen (vgl. ALBRECHT S. 16). Sie lautet: Ubersetzen ist die Wiedergabe eines Textes der Ausgangssprache (AS) in der Zielsprache Bedeutung bleibt.
(ZS) und zwar so, daß die
des Originals auch in der Ubersetzung erhalten
7
Eine solche Definition löst eine neue Frage aus: Was ist Bedeutung? Der Leser wird schon jetzt merken, daß man so in eine endlose Kette von Definitionen hineingerät, deren jede einen neuen Begriff voraussetzt, der seinerseits wieder definiert werden muß. Wir werden uns deshalb nicht um eine Definition von Bedeutung bemühen, sondern nur noch fragen: Wann haben zwei Texte die gleiche Bedeutung? Um die Problematik dieses Begriffs deutlich zu machen, geben wir zunächst eine Antwort, die wir alsbald wieder verwerfen müssen: Zwei Sätze, so wollen wir sagen, haben die gleiche Bedeutung genau dann, wenn der eine Satz immer dann und nur dann wahr ist, wenn auch der andere wahr ist, bzw. - was auf dasselbe hinausläuft - immer dann und nur dann falsch ist, wenn auch der andere falsch ist. Die Logiker sagen in einem solchen Fall: Beide Sätze haben den gleichen Wahrheitswert. Die hier zitierte Definition von Bedeutungsgleichheit mag auf den ersten Blick sehr einleuchtend wirken. Sie führt nur zu einer Reihe unerwünschter Konsequenzen: Zunächst läßt sich mit ihr nur die Bedeutung von Sätzen bestimmen, nicht die von Wörtern oder Wortkombinationen unterhalb der Satzebene. Zum andern aber sind aufgrund dieser Definition alle diejenigen Sätze gleichbedeutend, die entweder immer wahr oder immer falsch sind: (1-1) Die Welt ist groß. (1-2) Die Winkelsumme im Dreieck beträgt zwei rechte. (1-3) Das Einhorn sucht im Nebel seinen Weg. (1-4) Der Mond ist ein Gefreitenknopf.
Die Sätze (1-1) und (1-2) sind immer wahr, die Sätze (1-3) und (1-4) immer falsch. Wollte man daraufhin (1-1) und (1-2), bzw. (1-3) und (1-4) als bedeutungsgleich bezeichnen, so wäre jedenfalls- dem Ubersetzer wenig geholfen. Denn eine Ubersetzung etwa von (1-2) mit (1-1')The world is large,
die nach unserer augenblicklichen Definition korrekt wäre, ist eindeutig inakzeptabel. Wir müssen unseren ersten Definitionsversuch daher verwerfen.
8
Machen wir also einen zweiten Versuch und sagen: Wir kennen die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, wenn wir die Bedingungen kennen, unter denen wir ihn verwenden können. Diese Definition hat gegenüber der ersten mehrere Vorteile. Zum einen sind wir jetzt nicht mehr auf Sätze eingeschränkt, zum anderen ist sie nicht so leicht zu falsifizieren. Außerdem kommen wir nicht in die Verlegenheit, nunmehr den Begriff "Bedingung" definieren zu müssen. Denn die Bedingungen für die Verwendung eines Ausdrucks sind ja genau das, was einer lernt, der eine Sprache lernt. Das Kind, das den Briefträger und den Milchmann jubelnd mit "Papi!" begrüßt oder zu jedem Vierbeiner "Wauwau" sagt, hat die Verwendungsbedingungen dieser beiden Wörter noch nicht voll erlernt und kennt mithin nicht ihre Bedeutung in der Erwachsenensprache . Aus dieser Definition geht auch deutlich hervor, daß übersetzen nur derjenige kann, der zwei Sprachen erlernt hat. Allerdings erfolgt das Erlernen der zweiten Sprache nur in den seltensten Fällen genauso wie dasjenige der ersten. In der ersten Sprache nämlich lernen wir einen großen Teil der Verwendungsbedingungen implizit, in der zweiten Sprache und in allen weiteren dagegen lernen wir vorwiegend explizit. Schon das Vokabellernen ist ja im Grunde eine explizite Information über solche Verwendungsbedingungen. Wenn etwa ein Anfängerlehrbuch des Englischen in seinem Wörterverzeichnis dem englischen boy ein deutsches Junge, Knabe gegenüberstellt, so besagt das: Du kannst im Englischen boy immer dann benutzen, wenn du im Deutschen Junge oder Knabe
benutzen
würdest. Daß diese Information nicht ganz exakt
ist, daß boy z.B. auch "(eingeborener) Diener" heißen kann, während Junge auch eine Spielkarte ist usw., steht auf einem anderen Blatt. Es belegt nur, daß die expliziten Informationen des Fremdsprachenerwerbs ebenso wie die impliziten des Muttersprachenerwerbs den tatsächlichen Sprachgebrauch nur näherungsweise treffen und diese Näherung ständig verbessert werden muß. Insofern ist der Erwerb sprachlicher Bedeutungen (auch in der Muttersprache!) eine lebenslange Aufgabe.
9 Da die meisten Menschen die Bedeutungen fremder Sprachen nur explizit erlernen, werden nur wenige in solchen Sprachen die gleiche instinktive Sicherheit gewinnen wie in der Muttersprache. Auch Ubersetzer sind deshalb auf möglichst detaillierte, explizite Sprachbeschreibungen angewiesen. Vor allem brauchen sie eine oheok-list,
anhand welcher sie feststellen können, ob sie bei
ihrer Ubersetzung alle relevanten Verwendungsbedingungen berücksichtigt haben. Eine solche oheok-list wird nie abgeschlossen sein, deshalb wird es auch für viele Texte nie e i n e
"richtige"
Ubersetzung geben, sondern immer nur Annäherungen. Diese Tatsache ändert aber nichts daran, daß es immer bessere und weniger gute Ubersetzungen geben wird und daß die Kriterien für die Qualität einer Ubersetzung weitgehend objektivierbar sind. Dem Ziel der Objektivierung soll das dienen, was wir vorläufig eine oheok-list genannt haben. Diese Liste müßte zunächst einmal verschiedene Arten von Verwendungsbedingungen enthalten. Um dies zu ermöglichen, müssen wir jene Tätigkeit, die wir sehr global "Verwendung sprachlicher Ausdrücke" genannt haben, etwas differenzieren. Hierzu hat die moderne Sprachphilosophie in Gestalt der Sprechakttheorie ein geeignetes Instrumentarium entwickelt, das wir kurz vorstellen wollen. Nach J.R. SEARLE (dtsch. Ausg. S. 39ff.) tun wir mindestens drei Dinge gleichzeitig, wenn wir eine vollständige sprachliche Äußerung produzieren: (1) Wir äußern Wörter (Morpheme, Sätze usw.). SEARLE spricht hier von Ä u ß e r u n g s a k t e n
.
(2) Wir beziehen uns auf Gegenstände und schreiben diesen etwas zu. SEARLE nennt diese Akte R e f e r e n z
und P r ä d i k a t i o n .
Beide zusammen bilden einen p r o p o s i t i o n a l e n
Akt.
(3) Indem wir (1) und (2) vollziehen, vollbringen wir eine
Hand-
l u n g : Wir behaupten etwas, fragen, befehlen, versprechen etwas usw. Diese sprachlichen Handlungen nennt SEARLE in Anlehnung an J.L. AUSTIN i l l o k u t i o n ä r e
Akte.
Ehe wir diese Einteilung auf den Ubersetzungsvorgang anwenden, sind einige Bemerkungen nötig, um Mißverständnisse auszuschließen. Wichtig ist vor allem, daß wir sage
P r ä d i k a t i o n
nicht mit
verwechseln. Um SEARLEs eigenes Beispiel zu nehmen:
Aus-
10
Wenn ich sage (1-5) D o e s oder
(1-6) Sam
Sam
smoke
smokes
habitually?
habitually,
so habe ich mich in beiden Sätzen auf den gleichen Gegenstand bezogen, nämlich auf Sam. Ich habe auch die gleiche Prädikation vorgenommen, nämlich smoke habitually. Wir würden aber nur im Fall von (1-6) sagen können, daß ich eine Aussage gemacht habe. Da das deutsche Wort Aussage einerseits synonym mit Behauptung verwendet wird (z.B. in Aussagesatz)3 Bedeutung von engl, proposition
andererseits aber auch die
haben kann, wollen wir es in Zu-
kunft vermeiden. Wenn zwei Sätze die gleiche Referenz und die gleiche Prädikation aufweisen, so haben sie nach SEARLE den gleichen nalen
Gehalt.
p r o p o s i t i o -
Wir können auch sagen: Es wird in ihnen der
gleiche p r o p o s i t i o n a l e
Akt
vollzogen. Damit ist aber
keineswegs vermacht, daß in ihnen auch der gleiche
illokutio-
n ä r e Akt vollzogen wird. Die Sätze (1-5) und (1-6) zeigen dies ganz deutlich. Bei gleichem propositionalem Gehalt stellt (1-5) den illokutionären Akt einer Frage, (1-6) dagegen den einer Bedeutung dar. Eine weitere Bemerkung sei dem Verhältnis der verschiedenen Akte untereinander gewidmet. Die drei Akte geschehen nicht etwa gleichzeitig, "so wie man gleichzeitig rauchen, lesen und sich am Kopf kratzen kann" (SEARLE S. 40). Äußerungsakte sind vielmehr die wahrnehmbare Form, in der sich propositionale und illokutionäre Akte manifestieren. Jene verhalten sich zu diesen "wie z.B. das 'X' auf einen Stimmzettel machen zum Wählen"
(SEARLE S. 41).
Auf das Problem der Ubersetzung angewendet, bedeutet dies: Eine Ubersetzung gilt dann als adäquat, wenn in ihr die gleiche Referenz, die gleiche Prädikation und der gleiche illokutionäre Akt vorgenommen werden wie im Original. Um feststellen zu können, ob der gleiche illokutionäre Akt vorliegt, bedürfen wir einer Typologie solcher Akte. Da die Sprechakttheorie sich noch in einer stürmischen Entwicklung befindet, gibt es noch keine allge-
11
mein akzeptierte Typologie. Ein brauchbarer Ansatz findet sich bei WUNDERLICH
(S. 77ff.), der acht Akttypen unterscheidet.
Wichtig für die Identifikation von Sprachakten sind nach WUNDERLICH (S. 57ff.) nicht die Intentionen des Sprechers, sondern die Verpflichtungen, die er nach gesellschaftlicher Ubereinkunft für sich oder seine Kommunikationspartner durch Vollzug des Sprechakts schafft. Statt "den gleichen illokutionären Akt vornehmen" kann man auch sagen "die gleiche illokutionäre Kraft haben" illoeutionary
force).
(engl.
Diese Ausdrucksweise ist gelegentlich
eleganter. Die Gleichheit der Äußerungsakte ist für die Ubersetzung natürlich kein Kriterium. Mit diesen Kriterien ergibt sich leicht, daß (1-1') nicht die Ubersetzung von (1-2), sondern allenfalls die von (1-1) sein kann. Beim Vergleich der Ubersetzung mit dem Original stellen wir nämlich sofort fest, daß (1-1') und (1-2) sich auf gänzlich verschiedene Gegenstände beziehen. Das Kriterium der Referenzidentität hilft uns aber nicht nur bei solch groben Fällen, die richtige Ubersetzung zu finden. Auch Sätze, von denen wir gern sagen, sie seien "völlig gleichbedeutend", fordern aufgrund dieses Kriteriums unterschiedliche Ubersetzungen: (1-7) Herr M. hat seine Frau jeden Tag verprügelt. (1-7') Mr. M. beat his wife every day. (1-8) Frau M. wurde von ihrem Mann jeden Tag verprügelt. (1-8') Mrs. M. was beaten by her husband every day. Diese Sätze haben zwar den gleichen Wahrheitswert, sie können aber nicht unter den gleichen Bedingungen verwendet werden. Denn der erste sagt uns etwas über Herrn Μ., der zweite über seine Frau. Es kann zwar vorkommen, daß in einem bestimmten Text beide Sätze für einander eingesetzt werden können
(wenn etwa von beiden Per-
sonen bereits die Rede gewesen ist). Aber damit ist natürlich nicht gesagt, daß die Sätze in jedem Falle austauschbar wären. Folgende Situation wäre denkbar: In einer Fernsehreportage über ein "Frauenhaus" werden nacheinander mehrere Frauen gezeigt, die dort vor ihren Männern Zuflucht gefunden haben. Dabei wird jeweils 3) Das Beispielpaar ist, ebenso wie einige der aus ihm gezogenen Folgerungen, angeregt durch KAMLAH/LORENZEN S. 133.
12
kurz das Schicksal der Gezeigten berichtet. Als Frau M. an die Reihe kommt, äußert die Sprecherin den Satz (1-8). (1-7) wäre an dieser Stelle völlig inakzeptabel. Das gleiche gilt natürlich für die englischen Äquivalente: Nur (1-8') käme in Frage, nicht etwa (1-7'). Dieses Problem wird in Kap. 3 eingehender behandelt werden. Die Einhaltung des illokutionären Aktes in der Übersetzung dürfte bei dem Erkenntnisstand, den wir im Augenblick erreicht haben, keine Schwierigkeiten bereiten. Wir gehen deshalb an dieser Stelle nicht weiter darauf ein. Alles bislang Gesagte freilich wird aufs neue problematisch, wenn wir einen bisher vernachlässigten Aspekt einbeziehen: die Stilistik. Wir müssen nämlich beim Ubersetzen nicht nur berücksichtigen,
was
gesagt wird, sondern auch
wie
es gesagt
wird. Wenn es z.B. in Shaws Pygmalion heißt: (1-9) T h e y
did
the
ol' woman
in,
so wird man diesen Satz nicht mit (1-9a), sondern nur mit (1—9b) übersetzen dürfen: (1-9a) Man hat die alte Dame getötet. (1-9b) Sie ha'm die Olle abjemurkst.
In (1-9a) und(1-9b) wird auf den gleichen Gegenstand Bezug genommen (eine bereits in die Rede eingeführte ältere Person weiblichen Geschlechts), und es wird auch das Gleiche von ihr prädiziert (ihr durch Dritte bewerkstelligtes Ableben). Auch die illokutionäre Kraft beider Sätze ist die gleiche (Behauptung). Dennoch sind beide Sätze offensichtlich nicht gleichbedeutend: Wählte der Ubersetzer (1-9a), so würde er sich um die komische Wirkung bringen, die Shaw mit (1-9) erzielt. Auch der Unterschied zwischen (1-9a) und (1-9) bzw. (1—9b) ist übrigens nach unserer Definition durchaus als Bedeutungsunterschied zu fassen. Eliza Doolittle, die Sprecherin von (1-9), kennt in einem weiteren Sinne die Bedeutung des Satzes nicht, da sie nicht weiß, daß sie ihn in der gesellschaftlichen Umgebung,
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in der sie sich befindet, nicht aussprechen darf. Ein Ubersetzer, der (1-9) mit (1-9a) wiedergäbe, hätte ebenfalls die Bedeutung von (1-9) verkannt, da er die unterschiedlichen Verwendungsbedingungen beider Sätze ignorieren würde. Die Forderung, die Ubersetzung müsse die Bedeutung des Originals wiedergeben, schließt also das Wie der einzelnen Sprechakte ein. Es kann nämlich jeder Sprechakt auf verschiedene Weise vollzogen werden. Die damit gegebenen Wahlmöglichkeiten erstrecken sich über alle Aspekte des Sprechaktes vom Äußerungsakt bis zum illokutionären Akt. Unser Beispiel (1-9) machte solche Wahlmöglichkeiten im Äußerungsakt wie auch in den propositionalen Akten sichtbar. Besonderheiten, die sich auf den Äußerungsakt beschränken, betreffen z.B. die Aussprache oder, bei schriftlich aufgezeichneten Texten, die Arten der graphischen Wiedergabe. Jeder Sprechakt kann auf verschiedene Weise vollzogen werden. Wie weit solche Unterschiede in der Ubersetzung zu berücksichtigen sind, wird im Kapitel über Stilistik erörtert werden. Das nächste Beispiel soll illustrieren, daß es auch Wahlmöglichkeiten gibt, die sich auf Referenz und Prädikation beschränken: (1-10) Der G e n e r a l s e k r e t ä r
der KPdSU erhielt
seines Besuchs in der Bundesrepublik ein Auto zum
anläßlich Deutschland
Geschenk.
(1-10') Dem Generalsekretär
der KPdSU wurde anläßlich
Besuchs in der Bundesrepublik
Deutschland
ein
seines Auto
geschenkt.
Beide Male wird auf den gleichen Gegenstand Bezug genommen, wenn dies auch einmal im Nominativ und einmal im Dativ geschieht. In diesem Falle wird es schwer halten, unterschiedliche Verwendungsbedingungen anzugeben. Dementsprechend wird man auch beide Sätze als Ubersetzung von (1-11) zulassen: (1-11) The Secretary-General
of the CPSU was
with a car on his visit to the Federal of
Germany.
presented Republic
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Nun gibt es aber auch verschiedene Möglichkeiten, einen und denselben illokutionären Akt zu vollziehen. Dies ist ohne weiteres einsichtig beim Befehl. (1-12), (1-13) und (1-14) stellen den gleichen Befehl dar, obwohl ihre sprachliche Form höchst unterschiedlich ist: (1-12) Komm her! (1-13) Du sollst
herkommen!
(1-14) Ich befehle dir,
herzukommen!
Auch hier kann es Übersetzungsprobleme geben, da nicht jede Form eine genaue Entsprechung in der Zielsprache hat. Bei (1-13) wird der Deutsche zunächst versucht sein zu übersetzen: (1-13a)
?
Y o u shall come here!
Dieser Satz ist aber kaum in den gleichen Situationen verwendbar wie (1-13). Man wird etwa folgende Überlegungen anzustellen haben: (1-13) wird im Deutschen meist als wiederholter Befehl geäußert, wenn der erste Befehl, der gewöhnlich die Form von (1-12) hat, nicht befolgt worden ist. Im Englischen würde man unter solchen Bedingungen etwa sagen: (1—13b) I said, come here!
Solcher Beispiele gibt es mehr als allgemein vermutet wird. Wenn z.B. ein englischer Satz mit "Why don't you ..." beginnt, so wird er als Aufforderung zu künftigem Tun interpretiert. Ein deutscher Satz dagegen, der mit "Warum [Verb] du nicht..." anfängt, wird als Vorwurf für gegenwärtiges Nichthandeln gedeutet. In beiden Fällen ist er also nur formal eine Frage. Dieser Umstand muß den Übersetzer zur Vorsicht mahnen. Es wäre voreilig, aufgrund der genannten Beispiele die Regel festzulegen: Achte bei der Übersetzung illokutionärer Akte auf die Funktion, nicht auf die Form. Dies wäre deshalb voreilig, weil die illokutionäre Kraft vieler Sätze keineswegs eindeutig ist. Der deutsche Satz (1-15) Warum läßt du mich nicht in Ruhe?
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kann zwar als Vorwurf gemeint sein, der Angesprochene verhält sich aber nicht sprachwidrig, wenn er ihn als Frage versteht und mit einer Antwort versieht, z.B. (1-16) Weil ich glaube, daß du Gesellschaft brauchst. Aus diesem Grunde wird es sich stets empfehlen, die Form des ASSatzes - im Fall von (1-15) also die Frageform - beizubehalten, es sei denn, der dabei entstehende ZS-Satz würde sinnwidrig verstanden oder widerspräche der ZS-Norm. Letzten Endes kann die Entscheidung aber nur in Kenntnis der AS-Situation getroffen werden. Stilistische Entscheidungen sind, wie Satz (1-9) vor allem gezeigt hat, in hohem Maße von der Sprechsituation abhängig: Eliza Doolittle hätte (1-9) in der Situation, in der sie sich befand, nicht äußern dürfen. Ein weiterer Faktor, der bei stilistischen Entscheidungen eine große Rolle spielt, ist die Textsorte. Es ist z.B. bekannt, daß der Imperativ englischer Gebrauchsanweisungen im Deutschen durch den Infinitiv wiedergegeben wird. Ähnliches findet sich in anderen Ge- und Verboten, die von einer amtlichen Stelle aus ergehen, z.B.: (1-17) Do not lean out of the window. (1-17') Nicht hinauslehnen. Anders dagegen: (1-18) Parken verboten. (1—181 ) No parking . Entsprechungen dieser letzten Art müssen vokabelmäßig gelernt werden. Allgemeine Regeln werden sich hier kaum aufstellen lassen. Textsortenspezifische Bedingungen eigener Art treten in Texten der schönen Literatur auf, die nicht nur eine sachlich mitteilende, sondern auch eine ästhetische Funktion haben. Mit Hilfe der vier Sprechakte Äußerung, Referenz, Prädikation und Illokution sowie der Unterscheidung zwischen dem Was und dem Wie des Ausdrucks können wir also unsere check-list
aufstellen:
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(1a) Auf welchen Gegenstand bezieht sich das vorliegende Textstück? (1b) Wie bezieht es sich auf diesen Gegenstand? (2a) Was schreibt es diesem Gegenstand zu? (2b) Wie wird diese Zuschreibung vorgenommen? (3a) Welches ist die illokutionäre Kraft des vorliegenden Textstücks? (3b) Wie kommt diese illokutionäre Kraft zum Ausdruck? (4 ) Welche b e a b s i c h t i g t e n
Besonderheiten weist
der Äußerungsakt auf? AS-Text und ZS-Text sind dann bedeutungsgleich, wenn jede Frage jeweils für beide Texte die gleiche Anwort erhält.
Die
Fragen (1a) und (2a) fallen in den Bereich der Semantik, die Frage (3a) in den Bereich der Pragmatik, die Fragen (1b), (2b), (3b) und (4) in den der Stilistik. Das, was in unserer Terminologie - und aufgrund unserer Definition von Bedeutung - "bedeutungsgleich" genannt wird, heißt in der Ubersetzungswissenschaft häufig "Äquivalenz". Dieser Ausdruck wird in der Übersetzungswissenschaft gern gebraucht, wenn angedeutet werden soll, daß es in der Ubersetzung auf mehr als "bloße Bedeutung" (oder bloß semantische Identität) ankommt (vgl. WILSS). Bei dieser Redeweise wird Bedeutung wesentlich enger gefaßt als wir das getan haben, insbesondere werden stilistische Faktoren dann ausgeklammert. Wir also bedürfen strenggenommen des Begriffs der Äquivalenz nicht. Dagegen können wir Äquivalenz als handliches Synonym für "Bedeutungsgleichheit" verwenden. Mit diesem Fragenkatalog haben wir noch keine Kriterien für die Entscheidung, ob zwei vorliegende Texte unter den aufgelisteten Aspekten als "gleich" anzusehen seien. Diese Kriterien können erst in den Spezialkapiteln über Semantik, Syntax und Stilistik entwickelt werden. 1.4
Wie ist Übersetzung
1.41 Die übersetzerisehe
möglich? Kompetenz
Wir sind nun in der Lage, den Ubersetzungsprozeß nicht nur in einem Modell darzustellen, sondern die Elemente dieses Modells
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auch bereits als interpretiert anzusehen: Fig. 1:
Em}
«a
Hierbei bedeuten: AS = Ausgangssprache ZS = Zielsprache S
= Sender
E
= Empfänger
Τ
= Text
Fig. 1 ist lediglich eine Verdoppelung des gebräuchlichen Modells für einsprachige Kommunikation: Fig. 2:
Fig. 1 stellt korrekt die Tatsache dar, daß wir es beim Ubersetzen immer mit dem Ubersetzen bereits vorhandener Texte zu tun haben. Uber den eigentlichen Ubersetzungsvorgang, der sich im (hier mit E ^s = s zs bezeichneten) Ubersetzer vollzieht, sagt sie jedoch nichts, außer daß die Bedeutung des AS-Textes mit der des ZS-Textes identisch zu sein habe. Es sagt auch nichts über die übersetzerische Kompetenz, die diesen Prozeß ermöglicht. Ein Modell, daß diese Kompetenz darstellen würde, erscheint im Ansatz
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bei ALBRECHT (S. 18), wird jedoch leider nicht konsequent entwickelt. Es müßte das Modell eines Senders sein, der die gleiche Bedeutung in verschiedenen Sprachen ausdrückt. Fig. 3s Mehrsprachige Kommunikation bei einem Sender Bedeutung
Wir könnten diesen Fall als "Selbstübersetzung" bezeichnen und ihn der in Fig. 1 gezeigten "Fremdübersetzung" gegenüberstellen. Die Selbstübersetzung ist eine Unterart der primären Ubersetzung. Die Fremdübersetzung kann sowohl primäre wie sekundäre Übersetzung umfassen. Reale Beispiele für die Selbstübersetzung sind leicht vorstellbar: etwa ein Museumsführer, der die gleiche "Botschaft" einmal für amerikanische Touristen auf Englisch, ein andermal für deutsche Touristen auf Deutsch vorträgt; oder der belgische König, der eine offizielle Ansprache sowohl auf Französisch wie auf Niederländisch halten muß. Doch es kommt uns nicht so sehr auf das reale Vorkommen dieser Form mehrsprachiger Kommunikation an, als vielmehr auf das Licht, das dieser Sonderfall auf den Ubersetzungsprozeß im allgemeinen und vor allem auf die übersetzerische Kompetenz zu werfen vermag. Die übersetzerische Kompetenz besteht nämlich aus mindestens zwei einzelsprachlichen Kompetenzen sowie der Fähigkeit, zwischen diesen Kompetenzen Verbindungen herzustellen. Der recht häufig vorkommende Typ des bilingualen Minderheitsangehörigen, der zu Hause seine Muttersprache, im Beruf und im Verkehr mit Fremden die Amtssprache spricht, erfüllt diese Forderungen nicht von vorn herein. Denn er wird sich wahrscheinlich schwer tun, wenn er über Dinge des häuslichen Lebens in der Amtssprache reden soll, und er wird es vielleicht ganz unmöglich finden, berufliche Fragen
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in seiner Muttersprache zu formulieren. In der Terminologie der Soziolinguistik heißt das: in der Muttersprache ist nur das Register der Alltagssprache, in der Amtssprache nur das Register der Fachsprache vorhanden. Wir sollten aus diesem Grunde den Bilingualen vom Interlingualen unterscheiden. Dieser zeichnet sich vor dem Bilingualen dadurch aus, daß seine einzelsprachlichen Kompetenzen die gleichen Register umfassen. Der interlingual Kompetente ist nicht nur die praktisch notwendige "Schaltstelle" eines jeden Ubersetzungsvorgangs, er ist auch aufgrund des in Fig. 3 gezeigten Vorgangs der Garant für die Äquivalenz zweier Texte in verschiedenen Sprachen. Er kann durch Introspektion feststellen, daß er in zwei Sprachen "dasselbe" sagen kann, und er weiß, ob er mit zwei Äußerungen "denselben" Sprechakt vollzieht, d.h. für sich oder seine Kommunikationspartner die gleichen Verpflichtungen schafft. Damit ist gewährleistet, daß zwei Texte im Hinblick auf das, was sie "sagen" oder "meinen", invariant sind, daß sie mithin die gleiche Bedeutung haben. Wie jede Kompetenz setzt auch die interlinguale zweierlei voraus: eine begrenzte Menge von Elementen und eine begrenzte Menge von Regeln, mit deren Hilfe die Elemente zu einer unendlichen Menge von Sequenzen verknüpft werden können. Dabei liegt die generative Komponente dieser Kompetenz, die die Unendlichkeit der Menge erzeugter Sequenzen zu gewährleisten hat, in der AS. Sie ist identisch mit der einzelsprachlichen Verstehenskompetenz. Der Ubersetzer identifiziert den vorliegenden Text mit Elementen und Strukturen, die sich in seinem Sprachbesitz befinden. Diese Elemente und Strukturen wollen wir unter der Bezeichnung "Ubersetzungseinheiten" zusammenfassen. Die eigentliche Ubersetzung könnte dann theoretisch in einem rein interpretativen Verfahren erfolgen, in dem die Elemente und Strukturen der AS durch solche der ZS ersetzt werden. Dies trifft jedoch nur theoretisch zu. In der Praxis gibt es für fast jede Ubersetzungseinheit mehrere ZS-Äquivalente, zwischen denen der Ubersetzer aufgrund seiner ZS-Kompetenz zu wählen hat. (In dieser Auswahl sieht z.B. LJUDSKANOV (S. 154) das schöpferische Moment des Ubersetzungsvorgangs.)
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In schematischer Vereinfachung läßt sich der Ubersetzungsprozeß als eine Folge von drei Schritten darstellen: 1) Zerlegen des AS-Textes in Ubersetzungseinheiten; 2) Ersetzen dieser Einheiten durch Familien von ZS-Äquivalenten; 3) Auswahl des geeigneten
1.42
(adäquaten) ZS-Äquivalents.
Übersetzungseinheiten
Ubersetzungseinheiten können nicht nach ausschließlich innersprachlichen Gesichtspunkten identifiziert werden. Vielmehr sind hierbei immer schon die Einteilungen der ZS zu berücksichtigen. Wenn ich z.B. engl, white
horse ins Deutsche übersetze, so muß
ich die beiden Wörter als Einheit betrachten, da das ZS-Äquivalent Schimmel
nur aus einem einzigen Wort besteht. Ubersetze ich da-
gegen den gleichen englischen Ausdruck ins Französische, so bildet jedes Wort eine eigene Ubersetzungseinheit, da frz.
cheval
blanc ebenfalls aus zwei Wörtern besteht. Diesem Sachverhalt tragen gute Wörterbücher Rechnung, indem sie nicht nur Äquivalente für white und horse, sondern auch für white
horse
angeben.
Das gewählte Beispiel könnte die Meinung nahelegen, eine Ubersetzungseinheit bestehe stets aus einem oder mehreren Wörtern. Daß dies falsch ist, mag ein weiteres Beispiel zeigen: In der dtsch. Wortfügung eines jungen Endungen -es . . . -en ... -s e i n e
Sahimmeis
bilden die
Ubersetzungseinheit, deren ZS-
Äquivalent die engl. Präposition of darstellt. Auch Strukturen können, unter Absehung von den Morphemfolgen, in denen sie sich manifestieren, als Ubersetzungseinheiten auftreten. In dem Fragesatz Nehmen
Sie Kaffee?
bildet die Struktur Verb+NP
nom eine Ubersetzungseinheit, die ihr ZS-Äquivalent in do+NP +Verb ^ nom oder in ¿>e+NP n o m +Verb + -£nc? finden. Ubersetzungseinheiten können sogar von noch abstrakterer Beschaffenheit sein. Wir illustrieren dies mit einem Beispiel aus FRIEDERICH (1-19a) Ein Wald von prächtigen
(Technik S. 65):
Buchen nahm ihn auf.
(1-19b) He entered a forest of magnificent
beeches.
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Die deutsche Konstruktion ist ΝΡηοπι[-animate] + VerbR + NPak(