Philosophische Probleme der Entwicklung [Reprint 2021 ed.] 9783112540282, 9783112540275


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Philosophische Probleme der Entwicklung [Reprint 2021 ed.]
 9783112540282, 9783112540275

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Philosophische Probleme der Entwicklung

Philosophische Probleme der Entwicklung Herausgegeben von GÖTZ REDLOW und GOTTFRIED STIEHLER

AKADEMIE-VERLAG 1977

BERLIN

Dieser Sammelband wurde von folgenden Mitarbeitern der Sektion Marxistisch-Leninistische Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin erarbeitet: GÖTZ REDLOW GOTTFRIED STIEHLER ALFRED LANGE/WERNER TSCHANNERL HANS-CHRISTOPH RAUH PETER RÜBEN

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger-Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/10/77 Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza Einbandgestaltung: Rolf Kunze Bestellnummer: 7529120 (6320) • LSV 0125 Printed in GDR DDR 15,— M

Inhalt

Götz Redlow Zur Einheit von Materialismus und Dialektik Gottfried Stiehler Zum Platz und zum Charakter der EntwicklungsaufTassung im Marxismus-Leninismus 1. 2. 3. 4. 5.

7 . . .

Zusammenhang — Bewegung — Entwicklung Einheit von Determinismus und Entwicklungsprinzip EntwicklungsaufTassung und historischer Materialismus Die reale Negativität Gerichtetheit der Entwicklung . . .

Gottfried Stiehler Grundlagen und Kriterien des historischen Fortschritts 1.

19 19 25 29 32 38 45

Die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung vom Niederen zum Höheren in der Geschichte Die Dialektik des Fortschritts Kriterien des historischen Fortschritts Der Fortschritt in der sozialistischen Gesellschaft

45 51 60 66

Alfred Lange /Werner Tschannerl Zu einigen philosophischen Grundproblemen der Triebkräfte in der sozialistischen Gesellschaft

73

2. 3. 4.

1. 2.

Zur Funktion der objektiven gesellschaftlichen Widersprüche als Quelle und Triebkraft sozialistischer Entwicklung Aspekte des Handels der Werktätigen bei der Entfaltung und Lösung der Widersprüche im Sozialismus

Peter Rüben Das Entwicklungskonzept in der Naturerkenntnis 1. 2. 3.

Philosophische und naturwissenschaftliche Sicht der Entwicklung Anorganische Natur und Entwicklung Die synthetische Theorie der biologischen Evolution

Hans Christoph Rauh Determinanten und Funktionen sozialer Erkenntnis

74 87 97 102 114 123 129

5

Zu einigen das Ideologieproblem betreffende theoretischen und methodologischen Überlegungen 129 1. Materialistische Geschichtsauffassung und Widerspiegelungscharakter der Ideologie . . 1.1. Das schulemachende und aktuelle Beispiel des Paul Barth von 1890 1.2. Materielle Determiniertheit und aktive verändernde Funktion und Rückwirkung der Ideologie 2. Zur Spezifik des sozialen bzw. sozialwissenschaftlichen Erkenntnisproblems 2.1. Revisionistische „Praxisphilosophie" oder materialistische Grundlegung der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie 3. Betrachtungen zur Einheit von Natur- und Gesellschaftserkenntnis auf Grundlage der materialistischen Dialektik 3.1. Naturgeschichtliche Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung und menschlichen Erkenntnistätigkeit 3.2. Alter bürgerlicher Materialismus und idealistische Gesellschafts- und Erkenntniskonzeption 4. Das Problem der sogenannten „Wertfreiheit" in den Sozialwissenschaften. Eine Auseinandersetzung mit Max Weber 4.1. Unterscheidung von „abstrakt-generalisierender" Naturwissenschaft und „historischindividualisierender" Kulturwissenschaft auf idealistischer Grundlage 4.2. „Werturteilsfreiheit", Objektivismus, Materialismus und Parteilichkeit 4.3. Einheit von Erkenntnis und Wertung im sozialen Erkenntnisprozeß oder idealtypische Konstruktion der sozialen Wirklichkeit Schlußbemerkung

6

132 133 135 138 148 157 160 168 174 178 186 191 200

Götz Redlow Zur Einheit von Materialismus und Dialektik

Ein theoretischer Grundpfeiler des revolutionären Charakters des dialektischen Materialismus ist die Tatsache, daß er als erste und einzige Philosophie philosophischen Materialismus und Dialektik organisch vereinte. Diese Vereinigung beruht nicht auf der naiven wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlage, auf der Heraklit Materialismus und Dialektik vereinte, sondern vielmehr auf der Grundlage der modernen Wissenschaft, der Errungenschaften der über zweitausendjährigen Geschichte des philosophischen Denkens und der Erfahrungen des Klassenkampfes des Proletariats. Eine Philosophie, die Materialismus und Dialektik auf diesem sozialen und wissenschaftlichen Fundament verknüpfte, gab es vor M A R X und ENGELS nicht. Der philosophische Materialismus existierte in der unvollendeten Gestalt der materialistischen Philosophie L . FEUERBACHS, die Dialektik in der mystischen Hülle des objektiv-idealistischen Systems HEGELS. Beide waren die direkten theoretischen Voraussetzungen der revolutionären Philosophie des Proletariats, des dialektischen Materialismus. ENGELS stellt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der klassischen deutschen Philosophie und der Entstehung des wissenschaftlichen Sozialismus her: „Ohne Voraussetzung der deutschen Philosophie, namentlich HEGELS wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus — der einzige wissenschaftliche Sozialismus, der je existiert hat — nie zustande gekommen." 1 An anderer Stelle schreibt er, die epochemachende Auffassung der Geschichte durch HEGEL „war die direkte theoretische Voraussetzung der neuen materialistischen Anschauung". 2 Über die Bedeutung der Philosophie L. FEUERBACHS für die geistige Entwicklung von M A R X schrieb LENIN : „Von 1 8 4 4 / 4 5 an, als sich seine Anschauungen geformt hatten, war M A R X Materialist, und zwar Anhänger L . FEUERBACHS, dessen schwache Seiten er auch später ausschließlich darin erblickte, daß sein 1

MARX/ENGELS; Werke (im folgenden zitiert MEW), Bd. 18, S. 516

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M E W , Bd. 13, S. 474

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Materialismus ungenügend folgerichtig und nicht allseitig war." „MARX sah die weltgeschichtliche, .epochemachende Bedeutung' FEUERBACHS gerade in dem entschiedenen Bruch mit dem HEGELschen Idealismus und in der Verkündung des Materialismus." 3 Nach LENIN verstand es M A R X , „über FEUERBACH direkt den materialistischen Weg gegen den Idealismus einzuschlagen". 4 Die von HEGEL auf idealistischer Grundlage ausgearbeitete Dialektik wurde von M A R X und ENGELS in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten", •der „Heiligen Familie" und der „Deutschen Ideologie" materialistisch interpretiert, vom Kopf auf die Füße gestellt und als revolutionäre philosophische Methode zur Herausarbeitung des historischen Materialismus genutzt sowie in diesem Prozeß weiterentwickelt. Da M A R X und ENGELS mit den Grundauffassungen des philosophischen Materialismus von L . FEUERBACH „unten" einig waren, hielten sie sich mit einer ausführlichen Darlegung der theoretischen Prinzipien des philosophischen Materialismus nicht auf. LENIN schreibt dazu: „ F E U E R B A C H war ,Materialist unten, Idealist oben' . . . M A R X und ENGELS, aus FEUERBACH emporgewachsen und im Kampfe mit den Pfuschern gereift, richteten naturgemäß die größte Aufmerksamkeit auf den Ausbau der Philosophie des Materialismus nach oben, d. h. nicht auf die materialistische Erkenntnistheorie, sondern auf die materialistische Geschichtsauffassung. Deshalb unterstrichen M A R X und ENGELS in ihren Werken mehr den dialektischen Materialismus als den dialektischen Materialismus, legten sie mehr Nachdruck auf den historischen Materialismus als auf den historischen Materialismus,"5 An anderer Stelle spricht LENIN von der ganzen Schule von FEUERBACH, und ENGELS, die von r e c h t s n a c h links gegangen ist, zur völligen Ablehnung jeglichen Idealismus und jeglichen Agnostizismus. 6 Zugleich aber gingen M A R X und ENGELS weiter, sie überwanden die Mängel des FEUERBACHschen Materialismus (vor allem seine Unfähigkeit, den philosophischen Materialismus auf die Gesellschaft auszudehnen) und schälten gleichzeitig die Dialektik HEGELS aus ihrer mystischen Hülle. In diesem einheitlichen Prozeß schufen sie den historischen Materialismus und die materialistische Dialektik. Damit vollendeten sie den philosophischen Materialismus und schufen den dialektischen und historischen Materialismus. Das war eine echte Revolution in der Geschichte der Philosophie. Philosophisches Fundament dieses einheitlichen Prozesses war stets der philosophische Materialismus, der dialektisch auf die Gesellschaft ausgedehnt wurde. Bereits in der Herausbildungsperiode des Marxismus setzen sich philosophischer Materialismus und materialistische Dialektik gegenseitig voraus und beMARX

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W. I. LENIN, Werke, Bd. 21, S. 39

4

W. I. LENIN, Werke, Bd. 14, S. 341

5

E b e n d a , S. 333

6

E b e n d a , S. 202

8

dingen einander notwendig. Deshalb sind auch gerade die Frühschriften von MARX und ENGELS reich an Erläuterungen und Darlegungen der materialistischen Dialektik und des philosophischen Materialismus als allgemeiner philosophischer Theorie und Methode. Eine Analyse der Werke der Herausbildungsperiode des Marxismus widerlagt die ignorante revisionistische These, erst ENGELS bzw. LENIN hätten sich bemüht, eine allgemeine Theorie und Methode der materialistischen Dialektik und des philosophischen Materialismus zu schaffen, MARX dagegen habe keinerlei Anstrengungen unternommen, eine allgemeine philosophische Theorie und Methode zu schaffen, ihn habe nur die Dialektik des gesellschaftlichen Prozesses, die sogenannte Dialektik von Subjekt und Objekt interessiert. Für die Ausarbeitung ihrer neuen revolutionären Weltanschauung war philosophische conditio sine qua non von Beginn an die Vereinigung von Materialismus und Dialektik. Die Begründung des Marxismus als der revolutionären Weltanschauung des Proletariats war nicht möglich ohne eine solche Vereinigung. Sie war ihre unersetzliche theoretische Voraussetzung und kein spätes Produkt des ENGELSschen Denkens bzw. der Ideen LENINS und etwa dem Marxismus nachträglich aufoktroyiert. Es ist deshalb nicht zufällig, daß sich die Angriffe der revisionistischen Philosophen besonders gegen die Einheit von philosophischem Materialismus und materialistischer Dialektik richten. Sie begreifen sehr gut, daß sie das G&sam/gebäude der marxistisch-leninistischen Weltanschauung nur dann zum Wanken brächten, wenn es ihnen gelänge, deren Fundament — den mit der revolutionären Dialektik zu einer unlöslichen Einheit verbundenen Materialismus — zu zerstören. Es charakterisiert den philosophischen Revisionismus seit seinem Entstehen, daß er die Kritik der philosophischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus mit dieser Stoßrichtung führt. Alle Revisionisten von Bernstein bis in die Gegenwart stellen den dialektischen Materialismus in Frage. Die Formulierung, die G. W. PLECHANOW bereits 1908 hierfür fand, gilt nach wie vor: „Die Philosophie von MARX und ENGELS ist nicht nur materialistische Philosophie. Sie ist dialektischer Materialismus. Gegen diese Lehre werden aber folgende Einwände erhoben: erstens, die Dialektik an und für sich halte der Kritik nicht stand; zweitens, gerade der Materialismus sei doch unvereinbar mit der Dialektik."'' Diese Grundrichtung der revisionistischen Kritik an der marxistischleninistischen Philosophie hat sich nicht geändert; sie wird vielmehr gerade gegenwärtig verpackt in ständig wechselnde idealistische Modeströmungen noch vehementer vorgetragen und vertreten. In seiner Arbeit „Über einige Besonderheiten der historischen Entwicklung des Marxismus" macht LENIN auf die Notwendigkeit aufmerksam, „die theoretischen Grundlagen des Marxismus und seine

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G . W. PLECHANOW, Grundprobleme des Marxismus, Wien—Berlin SW61, S. 121

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Fundamentalsätze"8 zu verteidigen, welche von ganz entgegengesetzten Seiten her, infolge der Ausbreitung des bürgerlichen Einflusses auf die verschiedensten „Mitläufer" des Marxismus, verzerrt werden. Der Revisionismus strebt die Revision „der abstraktesten und allgemeinsten philosophischen Grundlagen des Marxismus" 9 an. Zu diesen fundamentalen Sätzen des Marxismus zählt L E N I N gemeinsam mit M A R X und E N G E L S die Einheit von Materialismus und Dialektik. Die Begründung und Verteidigung dieser Einheit zieht sich durch sein ganzes philosophisches Werk. In den „Philosophischen Heften" formuliert er das Erfordernis, Materialismus und Dialektik miteinander zu verknüpfen, in programmatischer Weise. I. Prinzip der Außerdem muß das allgemeine Prinzip der Entwicklung E n t w i c k l u n g . . . vereinigt, verknüpft, zusammengebracht werden mit dem allgemeinen Prinzip der Einheit II. Prinzip der der Welt, der Natur, der Bewegung, der Materie etc . . . 1 0 Einheit Diese Forderung L E N I N S ist heute so aktuell wie vor fünfzig Jahren. Der keineswegs allein von der sogenannten Praxisphilosophie vorgetragene Angriff gegen den philosophischen Materialismus, der den philosophischen Materiebegriff durch einen im wesentlichen subjektiv-idealistisch verstandenen Praxisbegriff ersetzen sollte, ist eng gekoppelt mit dem Bemühen, die materialistische Dialektik systematisch zu v rketzern und die Einheit von Materialismus und Dialektik in Frage zu stellen. In diesem Zusammenhang stößt man auf eine Gesetzmäßigkeit des ideologischen Kampfes, die L E N I N bereits in „Was t u n " dargelegt hat. L E N I N weist darauf hin, daß BERNSTEIN Argumente gegen den Marxismus schon lange vor seinem offenen Angriff gegen ihn ausarbeitete und dieser auf diese Weise systematisch vorbereitet wurde. „Somit wurde die Forderung nach einer entschiedenen Schwenkung von der revolutionären Sozialdemokratie zum bürgerlichen Sozialreformismus von einer nicht minder entschiedenen Schwenkung zur bürgerlichen Kritik an allen Grundideen des Marxismus begleitet. Da aber diese Kritik am Marxismus schon seit langem sowohl von der politischen Tribüne wie vom Katheder der Universität, sowohl in einer Unmenge von Broschüren wie in einer Reihe gelehrter Abhandlungen betrieben wurde, da die ganze heranwachsende Jugend der gebildeten Klassen jahrzehntelang systematisch im Geiste dieser Kritik erzogen wurde, ist es nicht verwunderlich, daß die ,neue kritische' Richtung in der Sozialdemokratie mit einem Schlag als etwas völlig Fertiges hervortrat, so wie Minerva dem Haupte Jupiters entstieg. Ihrem Inhalt nach brauchte sich diese Richtung nicht zu entwickeln und herauszubilden. Sie wurde direkt aus der bürgerlichen Literatur in die sozialistische übertragen." 1 1 8

W . I. LENIN, W e r k e , Bd. 17, S. 28

9

Ebenda, S. 27

10 11

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W . I. LENIN, W e r k e , Bd. 38, S. 242 W . I. LENIN, W e r k e , Bd. 5, S. 362/3

Seit den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts — wenn man an K . KORSCH und G . LUKACZ denkt, bereits seit den zwanziger und dreißiger Jahren — wird systematisch die These von der Unvereinbarkeit von Dialektik und Materialismus ausgearbeitet und zielstrebig in allen Kommunikationsmitteln verbreitet. Extreme bürgerlich philosophische Richtungen wie der Neothomismus und Neopositivismus sind sich völlig einig, wenn es den Marxisten einzureden gilt, die materialistische Dialektik sei ein Unding. Die materialistische Dialektik ist in ihrem Wesen revolutionär, „weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist" 1 2 . Die Trennung der Dialektik vom Materialismus, die Verwandlung der marxistischen in eine idealistische Dialektik, beraubt die Dialektik gerade dieses ihres revolutionären Charakters, verwandelt sie letztlich in eine pseudodialektisch getarnte Metaphysik, in eine platte Evolutionslehre, die die Triebkräfte des Geschehens nicht in der Materie, sondern im Bewußtsein sucht. Die Verknüpfung von Dialektik und Idealismus stellt die Dialektik notwendig auf den Kopf und beraubt sie ihres revolutionären Charakters. N u r in Verbindung mit dem Materialismus kann die Dialektik in wissenschaftlicher F o r m existieren und wissenschaftliche Theorie und Methode der Erkenntnis und des revolutionären Handelns sein. Die HEGELsche Philosophie selbst hat das anschaulich demonstriert. Und niemand anders hat das schärfer kritisiert als MARX in den „Ökonomischphilosophischen M a n u s k r i p t e n " : „Dieser Prozeß m u ß einen Träger haben, ein Subjekt; aber das Subjekt wird erst als Resultat; dies Resultat, das sich als absolutes Selbstbewußtsein wissende Subjekt; ist daher der Gott, absoluter Geist, die sich wissende und betätigende Idee. Der wirkliche Mensch und die wirkliche Natur werden bloß zu Prädikaten, zu Symbolen dieses verborgenen unwirklichen Menschen und dieser unwirklichen Natur. Subjekt und Prädikat haben daher das Verhältnis einer absoluten Verbindung zueinander, mystisches Subjekt-Objekt oder über das Objekt übergreifende Subjektivität, das absolute Subjekt als ein Prozeß, als sich entäußerndes und aus der Entäußerung in sich zurückkehrendes, aber sie zugleich in sich zurücknehmendes Subjekt und das Subjekt als dieser Prozeß; das reine, rastlose Kreisen in sich." 1 3 In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" führt MARX den Nach-

12 M E W , Bd. 23. S. 28 13 M E W , Ergänzungsband Schriften bis 1844, 1. Teil, S. 584 — Siehe dazu auch A. CORNU, K. MARX, Die ökonomisch-philosophischen Manuskripte, Akademie-Verlag, 1959, S. 16

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weis, daß nicht die Einheit von Materialismus und Dialektik eine contradictio in adiecto ist, sondern vielmehr die von Idealismus und Dialektik. MARX weist in der Kritik der HEGELschen Philosophie nach, daß Idealismus und konsequente Dialektik letztlich unvereinbar sind. Bereits FEUERBACH hatte entdeckt, daß es im Wesen des Idealismus liegt, die Entwicklung zum Stehen zu bringen bzw. die Entwicklung auf eine platte evolutionäre Kreisbewegung, in der nichts qualitativ Neues entsteht, zu reduzieren. Eine Philosophie, für die das Denken primär gegenüber der Materie ist, die die Schranken des Bewußtseins nicht verläßt, „läßt im Widerspruch mit der Wirklichkeit," wie FEUERBACH schrieb, „die Welt sich im Kreise um ihren Mittelpunkt drehen. Der Kreis ist das Symbol, das Wappen der spekulativen Philosophie, des nur auf sich selbst sich stützenden Denkens — auch die HEGELsche Philosophie ist bekanntlich ein Kreis von Kreisen-. . . " I 4 Für HEGEL ist daher die Dialektik ein Monolog der Spekulation mit sich selbst 15 , er verbleibt in der absoluten Identität der absoluten Idee, die er selbst als bewegungslos und tot kennzeichnet. Die idealistische Dialektik hebt sich letztlich als Dialektik selbst auf, sie muß die ewige Entwicklung, die ewige Selbsterneuerung selbst abbrechen und zum Alten zurückkehren; sie hebt sich im Kreislauf der verselbständigten Idee auf. Das von der Materie losgelöste Denken kreist ständig in sich, findet nicht den Weg zur Realität, zum objektiv realen Erneuerungsprozeß der Materie. Nicht der Terminus „dialektischer Materialismus" stellt eine contradictio in adiecto 16 dar, sondern die Bezeichnung „dialektischer Idealismus". Tatsächlich ist der Materialismus nur dann vollendet, bis zum Ende konsequent, wenn er dialektisch ist. Umgekehrt kann nur eine materialistische Dialektik konsequent dialektisch sein, ohne Halbheiten und Inkonsequenzen, die letztlich ihr revolutionäres Wesen aufheben. Die Dialektik für eine bloße Eigenschaft der Idee oder des Bewußtseins zu erklären führt zur Deformation der Dialektik und zur Liquidierung ihres revolutionären Charakters. Der revolutionäre Übergang von MARX zum philosophischen Materialismus bildete deshalb die unerläßliche theoretische Voraussetzung dafür, aus dem ganzen dogmatischen Inhalt des HEGELschen Systems „die revolutionäre Seite", die „unter der überwuchernden konservativen Seite" erstickt war, freizulegen und nutzbar zu machen, auch für die Weiterentwicklung des Materialismus selbst. „Der Materialismus stellt die Dialektik ,auf die Füße' und entkleidet sie eben damit der mystischen Hülle, in der sie bei HEGEL gesteckt hatte, enthüllt damit aber zugleich den revolutionären Charakter der Dialektik." 1 7 Den Zusammenhang zwischen der Verneinung der materialistischen Dialektik 14 15 16

L. FEUERBACH, Gesammelte Werke, Bd. 9, Akademie-Verlag, Berlin 1970, S. 332 Ebenda, S. 37 N. A. BERDJAJEV, Wahrheit und Lüge des Kommunismus, 1973, S. 108

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G . W . P L E C H A N O W , a . a . O . , S. 1 2 9

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(als Theorie) und der Zerstörung ihres revolutionären Charakters, die zum Auseinanderreißen von Philosophie und Politik führt, deckte ROSA LUXEMBURG bereits 1899 in ihrer gegen BERNSTEIN gerichteten Broschüre „Sozialreform oder Revolution" auf. BERNSTEIN hatte bekanntlich vor den „Fallstricken der hegelianisch-dialektischen Methode" gewarnt. R. LUXEMBURG antwortet auf den revisionistischen Angriff BERNSTEINS gegen den philosophischen Materialismus und die materialistische Dialektik: „Und wenn er gegen die ,Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten Mächten der Entwicklung', gegen die .Verachtung des Ideals' in der Sozialdemokratie zu Felde zieht, wenn er dem Idealismus, der Moral das Wort redet, gleichzeitig aber gegen die einzige Quelle der moralischen Wiedergeburt des Proletariats, gegen den revolutionären Klassenkampf eifert — was tut er im Grunde genommen anderes, als der Arbeiterklasse die Quintessenz der Moral der Bourgeoisie: die Aussöhnung mit der bestehenden Ordnung und die Übertragung der Hoffnungen ins Jenseits der sittlichen Vorstellungswelt, predigen! Indem er endlich gegen die Dialektik seine schärfsten Pfeile richtet, was tut er anderes, als gegen die spezifische Denkweise des aufstrebenden klassenbewußten Proletariats ankämpfen? Gegen das Schwert ankämpfen, das dem Proletariat die Finsternis seiner historischen Zukunft hat durchhauen helfen, gegen die geistige Waffe, womit es, materiell noch im Joch, die Bourgeoisie besiegt, weil es sie ihrer Vergänglichkeit überführt, ihr die Unvermeidlichkeit seines Sieges nachgewiesen, die Revolution im Reiche des Geistes bereits vollzogen hat! Indem BERNSTEIN der Dialektik Valet sagt und die Gedanken des EinerseitsAndererseits, Zwar-Aber, Obgleich-Dennoch, Mehr-Weniger sich aneignet, verfallt er ganz folgerichtig in die historisch bedingte Denkweise der untergehenden Bourgeoisie, eine Denkweise, die das geistige Abbild ihres gesellschaftlichen Daseins und ihres politischen Tuns ist." 1 8 Diese Worte ROSA LUXEMBURGS treffen auch das Klassenwesen der neuesten „Vernichtungen" des philosophischen Materialismus und der materialistischen Dialektik. „In der bürgerlichen und revisionistischen Philosophie herrschen heute metaphysische, eklektische und pseudodialektische Lehren vor, die die realen Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebens auseinanderreißen und die Dialektik in der Natur oder gar die objektive Dialektik überhaupt leugnen." 1 9 Diese pseudodialektischen Lehren sind oft begleitet von dem Anspruch, die allein revolutionären Lehren unserer Zeit zu sein, den eigentlichen und wahren „Aktivismus" des Handelns zu verteidigen, den der angeblich beschauliche und inaktive dialektische Materialismus aufgegeben habe, seit ENGELS und L E N I N im Gegensatz zu M A R X den dialektischen Materialismus und die materialistische 18 ROSA LUXEMBURG, Werke Bd. 11, Berlin 1970, S. 439 19 KURT HAGER. Die Politik der Partei und die Aufgaben der marxistisch-leninistischen Philosophie, N D v o m 17. 4. 1974, S. 5

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Dialektik begründet hätten. Beschaulich und passiv sei der dialektische Materialismus, weil er die objektive, die materielle Dialektik in Natur und Gesellschaft und damit den objektiven Charakter der Natur- und Gesellschaftsgesetze ananerkannt, ihre Existenz außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein, vom gesellschaftlichen Bewußtsein. Objektive Dialektik gäbe es nicht, vielmehr beruhe „echte" Dialektik auf der „Wechselbeziehung von Bewußtwerden und Produzieren" als einem körperlich tätigen Handeln. Die „Dialektik der Materie", die nach ENGELS „an sich bestehen und nur im Bewußtsein nachgebildet werden soll, ist also keine Dialektik mehr". 2 0 Materie und Dialektik gibt es nach dieser Auffassung also nur dann, wenn der Mensch sich in der menschlichen Arbeit äußert, wenn Menschen produzieren bzw. handeln. In direkter Verfälschung der Grundgedanken von MARX in den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten" wird behauptet, es gäbe in der Gesellschaft nichts Materielles, sondern nur das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Diese sog. Subjekt-Objekt-Dialektik stellt sich, genau besehen, als eine Subjekt-Subjekt-Dialektik heraus, denn das Objekt in der Gesellschaft ist ja nichts anderes als die entfremdete Form der entäußerten menschlichen Wesenskräfte. Das Objektive in der Gesellschaft ist demnach nichts anderes als das entäußerte Subjekt, als das Bewußtsein vom Handeln, vom Aktivismus, ist also geistige Aktivität. Der Aktivismus, das Gerede von der einzig revolutionären Philosophie der Praxis, erweist sich wie bei den Junghegelianern als restaurative Ideologie, als bloße Revolution im Geiste, die, da sie nicht als geistiges Mittel der materiellen Revolution existiert, auf eine bloße Interpretation und Anschauung des Bestehenden hinausläuft. Genau besehen sind solche Auffassungen noch nicht einmal auf eine Veränderung des Bewußtseins gerichtet. MARX zeigt in der „Heiligen Familie" den Zusammenhang von Idealismus und Deformation der Dialektik: „In HEGELS Phänomenologie' werden die materiellen, sinnlichen, gegenständlichen Grundlagen der verschiedenen entfremdeten Gestalten des menschlichen Selbstbewußtseins s/eßengelassen, und das ganze destruktive Werk hat die konservative Philosophie zum Resultat, weil es die gegenständliche Weh, die sinnlich wirkliche Welt überwunden zu haben meint, sobald es sie in ein ,Gedankending', in eine bloße Bestimmtheit des Selbstbewußtseins verwandelt hat und den ätherisch gewordenen Gegner nun auch im Äther des reinen Gedankens auflösen kann." 2 1 MARX reduziert in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" die Dialektik nicht auf eine bloße Setzung bzw. Entfremdung menschlicher Wesenskräfte bzw. auf das Verhältnis von Objekt und Subjekt. Er stellt vielmehr ganz bewußt den philosophischen 20 L. LANDGREBE, Das Problem der Dialektik, in: Marxismusstudien, dritte Folge, Tübingen 1960, S. 59 21 M E W , Bd. 2, S. 203 14

Begriff der Materie in den Mittelpunkt seiner Analyse, bestimmt ihn in seiner allgemeinen Form, indem er ihn zugleich auch auf die Probleme der Gesellschaft anwendet. Die Analyse des philosophischen Materiebegriffs spielt eine zentrale Rolle gerade in der Auseinandersetzung mit dem HEGELschen Idealismus in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten". M A R X wiederholt ständig seine Bestimmung des philosophischen Begriffs der Materie, die im Wesen mit der Lenins identisch ist. Er versteht unter „gegenständlich" materiell, unter Gegenständlichkeit Materialität, er spricht von der Gegenständlichkeit als solcher und von nichtgegenständlich als spiritualistisch. 22 „Aber ein ungegenständliches Wesen ist ein unwirkliches, unsinnliches, nur gedachtes, d. h. nur eingebildetes Wesen, ein Wesen der Abstraktion. Sinnbild sein, d. h. wirklich sein, ist Gegenstand des Sinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Gegenstände außer sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben. Sinnlich sein ist leidend sein." 23 Für die bürgerliche und revisionistische MARXverfalschung existieren diese Gedanken von M A R X nicht. Nach LANDGREBE kannte M A R X nicht die .philosophische Kategorie der Materie.' „War auch bei M A R X das Prinzip des Wahrseins alles Wahren nicht mehr wie bei HEGEL die Idee, sondern der Arbeitsprozeß des Menschen, so war es doch keineswegs eine an sich bestehende Materie; denn alles Gegenständliche ist nur die Entäußerung der menschlichen Arbeit. ENGELS versteht diesen Gedanken der Entäußerung nicht mehr, der dazu zwingt, von dem erscheinenden Wahren, dem positiv-gegenständliche Gegebenen als dem Gegenstand der positiven Wissenschaft zurückzufragen nach der Substanz, dem Wesen, das eben nicht kompakte Gegenständlichkeit ist. Für ENGELS gibt es diesen Unterschied nicht mehr, für ihn ist das Wahre im Sinne der positiven Wissenschaft als das unmittelbar sinnlich Gegebene, das Gegenständliche, das Wahre schlechthin."24 Man sieht, LANDGREBE verfälscht M A R X direkt und unverfroren. M A R X , ENGELS und LENIN unterscheiden sich im Verständnis des marxistisch philosophischen Begriffs der Materie überhaupt nicht, lediglich in der Formulierung finden sich Nuancen, die sich aus der historisch bedingten Form der philosophischen Polemik erklären. Nach LANDGREBE dagegen gibt es für M A R X die Materie „nur als Entäußerung der menschlichen Arbeit" 2 5 . Aber gerade gegen eine solche subjektivistische, idealistische Interpretation polemisiert M A R X , gestützt auf FEUERBACH, bereits in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten", wenn er schreibt: „Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen

22 23

Siehe M E W , E r g ä n z u n g s b a n d , Schriften bis 1844, 1. Teil, S. 575 E b e n d a , S. 579

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LANDGREBE, a . a . O . , S . 3 8

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Ebenda, S. 59 15

Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß. Das gegenständliche Wesen wirkt gegenständlich, und es würde nicht gegenständlich wirken, wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge. Es schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist. In dem Akt des Setzens fällt es also nicht aus seiner ,reinen Tätigkeit' in ein Schaffen des Gegenstandes, sondern sein gegenständliches Produkt bestätigt nur seine gegenständliche Tätigkeit, seine Tätigkeit als die Tätigkeit eines gegenständlichen natürlichen Wesens." 26 Die Idealisierung der Dialektik und die Leugnung ihres objektiven Charakters, die in den letzten Jahren in den verschiedensten Varianten vorgetragen wurde, ist in der Regel von einer subjektiv-idealistischen Interpretation der menschlichen Praxis begleitet, die als .weltschaffend', ,weltkonstitutiv' hingestellt wird. Das mit dem Bewußtsein identifizierte Handeln des menschlichen Subjekts wird zum Schöpfer der Welt, die zudem nur als Gesellschaft verstanden wird. Die objektiv-reale Existenz der Materie in ihrer Totalität wird direkt geleugnet. 27 Demzufolge haben auch unser Wissen, unsere Erkenntnis, unser Bewußtsein seine Quelle und seinen Ursprung nicht in der außerhalb und unabhängig von ihm existierenden Materie, sondern stellen eine reine Selbstbespiegelung dar, das rastlose Kreisen des Bewußtseins in sich. „Eine Dialektik der Natur gibt es bloß in einem sekundären und abgeleiteten Sinne: Die von uns beobachtete Natur zeigt reziprok wirkende Tatsachen und qualitative Sprünge, aber diese Dialektik kommt, wie bei Zenon, nicht zur Reife; sie ist eine Zerstörung der Gegensätze. Diese werden nur in der Geschichte und im Menschen aufgehoben." 2 8 Die Anerkennung des philosophischen Begriffs der Materie kann von der Anerkennung der objektiven Dialektik, der materiellen Dialektik, der materiellen Bewegung der Welt und ihrer ideellen Widerspiegelung in der materialistischen Dialektik nicht getrennt werden. LANDGREBE stellt verwundert fest, daß nach ENGELS das „Gesetz der Dialektik . . . also seine Wurzel nicht in der Struktur des Denkens, der Reflexion, sondern aus . . . der Natur abstrahiert ist. Die dialektischen Gesetze können als die wirklichen Entwicklungsgesetze der Natur nachgewiesen werden." 2 9 Nach Landgrebe kann nun eine solche, wie er schreibt, „an sich bestehende Dialektik des Naturgeschehens" nicht widergespiegelt, abgebildet, erkannt werden. LANDGREBE weist den Begriff der Erkenntnis, der

26 MEW, Ergänzungsband, Schriften bis 1844, 1. Teil, S. 577 27 So z. B. TH. W. ADORNO in: Minima Moralis, Frankfurt a. M., S. 57, „Das Ganze ist das Unwahre". 28 M. MERLEAU — PONTY, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt a. M. 1968, S. 41 29

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LANDGREBE, a . a . O . , S . 5 8

Widerspiegelung unumwunden ab. „Es erhebt sich dann freilich die Frage, wie es möglich ist, diese an sich bestehende Dialektik des Naturgedankens zu erkennen. Sie wird von ENGELS in dem Sinne beantwortet, daß dieses Geschehen im Kopf, im Denken abgebildet wird. Die Gedanken sind dann tatsächlich nur mehr Überbau, nur Abbild des realen Geschehens . . . Mit dieser Parteinahme für den Empirismus und mit der Abbildtheorie hört der Marxismus auf, eine ernsthaft philosophische diskutable und begründbare Position zu sein. Ihre Widerlegung, die an vielen Stellen schon gegen Ende des Jahrhunderts einsetzt, sei hier geschenkt. Tatasächlich ist die Abbildtheorie bis zu LENIN und STALIN hin festgehalten worden. Aber es braucht kaum noch gesagt zu werden, daß damit jeder Möglichkeit einer echten Dialektik der Boden entzogen ist." 3 0 Dieser revisionistischen Einschränkung der Dialektik auf die sogenannte SubjektObjekt-Dialektik liegen die gleichen Sophismen zugrunde, die bereits in LENINS „Materialismus und Empiriokritizismus" ihre klassische Widerlegung gefunden haben. LENIN betonte, daß bei den Idealisten die Trennung der Bewegung von der Materie „gleichbedeutend ist mit der Trennung des Denkens von der objektiven Realität, mit der Trennung meiner Empfindungen von der Außenwelt, d. h. gleichbedeutend mit dem Übergang auf die Seite des Idealismus. Das Kunststück, das gewöhnlich mit der Verneinung der Materie, mit der Annahme von Bewegung ohne Materie vollführt wird, besteht darin, daß man sich über die Beziehung der Materie zum Gedanken ausschweigt. Man stellt die Sache so dar, als gäbe es diese Beziehung nicht, in Wirklichkeit aber wird sie heimlich eingeschmuggelt, bleibt am Anfang der Betrachtung unausgesprochen, taucht jedoch später mehr oder weniger unmerklich auf." 3 1 Da keine philosophische Reflexion dem Verhältnis von Materie und Bewußtsein entgeht, ist es auch nicht möglich, sich über dieses Verhältnis auszuschweigen und einer Beantwortung der Grundfrage der Philosophie auszuweichen.

„Die Materie ist verschwunden, sagt man uns in der Absicht, daraus erkenntnistheoretische Schlußfolgerungen zu ziehen. Und das Denken ist geblieben? — fragen wir. Wenn nicht, wenn mit dem Verschwinden der Materie auch der Gedanke verschwunden ist, wenn mit dem Verschwinden des Gehirns und des Nervensystems auch die Vorstellungen und Empfindungen verschwunden sind, dann ist also alles verschwunden, dann ist auch eure Betrachtung als Ausdruck irgendeines,Gedankens' (oder einer Gedankenlosigkeit!) verschwunden! Wenn aber ja, wenn beim Verschwinden der Materie der Gedanke (die Vorstellung, Empfindung usw.) als nicht verschwunden angenommen wird, dann bedeutet das, daß ihr heimlich auf den Standpunkt des philosophischen

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LANDGREBE, ebenda, S. 58/59 W. I. LENIN, Werke, Bd. 14, S. 267

2 Redlow Stiehlcr

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Idealismus übergegangen seid." 32 Mit anderen Worten, die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Bewußtsein, die Grundfrage der Philosophie, wird idealistisch beantwortet. Der Versuch, Bewegung ohne Materie zu denken, schmuggelt den von der Materie losgelösten Gedanken ein, „und das eben ist philosophischer Idealismus". Wie wir sehen, ist die „Vernichtung" der Materie ebenfalls notwendig mit der Absage an die dialektische Bewegung der Materie verbunden und damit mit der Leugnung der materialistischen Dialektik. Anerkannt wird nur die Dialektik des Bewußtseins, des handelnden Subjekts. Mit anderen Worten: Die Behauptung von der Unvereinbarkeit von Dialektik und Materialismus läuft darauf hinaus, daß „man Bewegung ohne Materie denken könne". 3 3 Die Zerstörung der Einheit von Dialektik und Materialismus beraubt die Arbeiterklasse ihrer wichtigsten geistigen Waffe zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, der revolutionären materialistischen Dialektik. Die Vereinigung der Dialektik mit wie auch immer gearteten pseudorevolutionären Modephilosophien beraubt die Dialektik ihres revolutionären Wesens.

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Ebenda, S. 268 Ebenda, S. 269

Gottfried Stiehler Zum Platz und zum Charakter der Entwicklungsauffassung im Marxismus-Leninismus

1. Zusammenhang — Bewegung — Entwicklung Die Ausarbeitung der Dialektik in der klassischen deutschen Philosophie und insbesondere in der marxistischen Philosophie bedeutete die Überwindung der dem mechanisch-metaphysischen Denken eigenen Hindernisse eines sachgerechten Verständnisses der Entwicklungsprozesse in Natur, Gesellschaft und im Denken. Die metaphysische Betrachtungsweise in der bürgerlichen Philosophie des 18. Jahrhunderts war aus sozialen und theoretischen Gründen auf eine Beschreibung von Strukturen festgelegt, die von der elementaren Kausal-Verknüpfung ausging. Daraus ergab sich die Vorstellung, die Welt bilde ein Netz von Bewegungsabläufen, in dem im Grunde eine ständige Wiederkehr des Gleichen, aber keine Entwicklung stattfinde. Die Bewegungsprozesse führen, dieser Denkweise zufolge, zu einem ständigen Aufbau, Zerfall und Neuaufbau materieller Erscheinungen, sie begründen das Gesetz steter Reproduktion des Vorhandenen. „ D a s ist der beständige Gang der Natur", lesen wir bei HOLBACH, „das ist der ewige Kreislauf, den alles Existierende beschreiben muß." 1 Die Welt bildet in dieser Betrachtungsweise eine Ansammlung einzelner Körper, die durch Aktion und Reaktion miteinander in Beziehung stehen. Es ist die Äußerlichkeit der Kommunikation, die Zusammenhänge in der Realität konstituiert. Dieser theoretische Ansatz verhindert den Übergang zu der Erkenntnis organischer Ganzheiten (Systeme), die sich durch innere Triebkräfte bewegen und einen Übergang von niederen zu höheren Qualitäten vermöge des Umschlags quantitativer in qualitative Veränderungen vollziehen. Die Vorstellung der Singularität des Existierenden ließ das theoretische Verständnis im Bereich quantitativer Erfassung verharren, was den Zugang zum Begreifen der Entwicklung erschwerte. Der marxistischen Philosophie ist ein Verständnis der Gesetzmäßigkeit eigen, das die dialektische Auffassung der wechselseitigen Bedingtheit der Erscheinungen mit der Idee der Bewegung und Entwicklung verbindet. Die

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PAUL THIRY D'HOLBACH, System der Natur, Berlin 1960, S. 38

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materialistische Dialektik bildet ein einheitliches G a n z e s ; sie begründet ein wissenschaftliches Verständnis der gesetzmäßigen Ordnung der Welt, die eine Ordnung der Bewegung und der Entwicklung ist. Dadurch ist die Dialektik den modernen bürgerlichen Auffassungen überlegen, die — wie z. B. bei T. PARSONS — den Begriff der gesellschaftlichen Entwicklung auf die Vorstellung bloßen sozialen Wandels reduzieren. Die theoretischen Voraussetzungen, aus denen in der marxistischen Philosophie die Entwicklung erklärt wird, sind zugleich die Mittel, den gesetzmäßigen Z u s a m m e n h a n g in der Welt aufzudecken, und umgekehrt führt das dialektische Verständnis des Zusammenhangs zum Begreifen der Entwicklung; es sind zwei Aspekte eines Ganzen. Die Entwicklung k o m m t also nicht zu einer schon geordneten Welt irgendwie hinzu, sondern sie ist ihr auf G r u n d ihrer gesetzmäßigen O r d n u n g wesenseigen und der Möglichkeit nach bereits in der Einheit von Materie und Bewegung enthalten. Der Erkenntnis der Einheit von Z u s a m m e n h a n g und Entwicklung näherte sich bereits das bürgerlich philosophische Denken im kritischen Anschluß an das mechanisch-metaphysische Denken des 17. und 18. Jahrhunderts. In der Dialektik des deutschen Idealismus, speziell HEGELS, lag das Bemühen um ein Begreifen der Wirklichkeit vor, das, der sozialbedingten metaphysischen Schranken ungeachtet, die Entwicklung der Welt aus den ihr eigenen dialektischen Strukturen zu erklären bemüht war. Das metaphysische Denken scheiterte an der Erfassung der Z u s a m m e n h ä n g e der Entwicklung, weil es die Zusammenhänge des Seins einseitig faßte. Indem versucht wurde, die gesetzmäßige O r d n u n g der Welt wesentlich von der quantitativen Seite her zu verstehen, konnte ein Bewegungsund Entwicklungsgeschehen, in dem aus quantitativen Veränderungen neue Qualitäten hervorgehen, nicht wissenschaftlich reflektiert werden. N o c h f ü r H. SPENCER war Entwicklung ein lediglich quantitatives Geschehen. Die Dialektik hingegen erklärt — in umfassender Weise geschah das bereits in HEGELS „Wissenschaft der Logik" —, d a ß die Bestimmtheit der Dinge und Erscheinungen sich als die Einheit quantitativer und qualitativer Merkmale zeigt, welche Einheit den N a m e n „ M a ß " erhielt. Dies ist eine eminent wichtige Aussage über die gesetzmäßigen Z u s a m m e n h ä n g e in der Welt. Indem die gegenseitige Bedingtheit von Qualität ausdrücklich als eine dialektische Beziehung gekennzeichnet wird, ist damit unmittelbar der Zugang zum Verständnis der Entwicklung als Entstehen von N e u e m eröffnet. Die den quantitativen Gesichtspunkt verabsolutierende metaphysische Denkweise kam nicht weiter als zur Vorstellung des G r ö ß e r - oder Kleinerwerdens des schon Vorhandenen, womit ein wissenschaftlicher Entwicklungsbegriff grundsätzlich nicht zu finden war. Alles Werden und Vergehen reduzierte sich auf quantitative Veränderungen des Gegebenen; es geschah „nichts Neues unter der Sonne". D a r a n zeigt sich, d a ß in der philosophischen Ideenentwicklung nicht einem kritiklos übernommenen Schema des realen Z u s a m m e n h a n g s die Idee der Entwicklung äußerlich aufgeprägt wurde, sondern das ü b e r k o m m e n e Verständnis des objektiven Z u s a m m e n h a n g s 20

eine prinzipielle Kritik erfuhr. Erst die dialektische Fassung des Zusammenhangs machte den Weg zum Begreifen der Entwicklung frei. Es ist daher — auch im Lichte dieser philosophiehistorischen Tatbestände — abwegig, die Widersprüche als Strukturbestimmtheit des Werdens den Merkmalen des objektiven Zusammenhangs und der Koexistenz gegenüberzustellen. Die Analyse des Zusammenhangs muß das Methodenpotential der drei Grundgesetze der Dialektik einschließen. Daß der dialektische Widerspruch nicht nur Kennzeichen des Werdens, sondern auch Kennzeichen des Seins ist, geht im übrigen bereits aus den Erkenntnissen der idealistischen Dialektiker hervor. In den Schriften KANTS, FICHTES, SCHELLINGS und HEGELS wird eine Untersuchung realer Gegensätze vorgenommen und gezeigt, daß die Struktur des Gegensatzes die Grundstruktur der Wirklichkeit überhaupt verkörpert. Das überkommene Kategoriensystem wurde gründlich revidiert und in sein Zentrum nicht mehr die einfache lineare Kausalität, sondern der dialektische Widerspruch als Identität Entgegengesetzter gestellt. Dadurch konnten ebenso überraschende wie bedeutsame Ansätze der Lösung von Problemen gewonnen werden, an denen das metaphysische Denken gescheitert war. In der Beziehung solcher Gegensätze wie Einzelnes — Allgemeines, Notwendiges — Zufälliges, Endliches — Unendliches, Notwendigkeit — Freiheit usw. hatte das nichtdialektische Denken stets nur eine Seite festgehalten und diese verabsolutiert, weil es die Einheit der Gegensätze als universelles Gesetz der Realität und des Denkens noch nicht erkannt hatte. Die Bedeutung dieses Gesetzes ist so groß, daß F. ENGELS sich veranlaßt sah, es unter der Form der „Durchdringung der Gegensätze" als eines der drei Grundgesetze der Dialektik anzuführen. 2 Bei diesem Gesetz handelt es sich um ein Gesetz der realen Ordnung, des objektiven Zusammenhangs der Erscheinungen der Wirklichkeit und zugleich um ein Gesetz der Bewegung und Entwicklung. Es verkörpert den grundlegenden gesetzmäßigen Zusammenhang alles Seins und Werdens und umschließt die Quelle und hauptsächliche Triebkraft jeglicher Entwicklung. Es lohnt, darüber nachzudenken, warum in der philosophischen Erkenntnisentwicklung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts an die Stelle der bisher dominanten Kategorie Kausalität die Kategorie des dialektischen Widerspruchs trat. Die Antwort darauf findet sich in einer tiefgründigen Bemerkung LENINS, die denen zum Nachdenken empfohlen sei, für die im Mittelpunkt des dialektischen Zusammenhangs die Kategorie Kausalität steht. Die Bemerkung LENINS hat folgenden Wortlaut: „Wenn man bei HEGEL über die Kausalität liest, so erscheint es auf den ersten Blick sonderbar, warum er dieses Lieblingsthema der Kantianer so verhältnismäßig kurz behandelte. Warum? Nun, eben weil für ihn die Kausalität nur eine der Bestimmungen des universellen Zusammenhangs ist, den er viel tiefer und allseitiger schon früher, in seiner ganzen Darlegung erfaßte, stets und 2

MEW, Bd. 20, S. 348

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von Anfang an diesen Zusammenhang, die wechselseitigen Übergänge etc. etc. betonend." 3 Die Orientierung auf die objektive Kausalität, ihre Allgemeingültigkeit und innere Notwendigkeit bildete im progressiven philosophischen Denken des 18. Jahrhunderts eine echte, bedeutsame Errungenschaft. Hierbei war das Bestreben leitend, die Erscheinungen der Wirklichkeit, ihre Bewegung und Veränderung, nach wissenschaftlichen Kriterien zu erklären und spekulative Deutungen abzuwehren. Aber wie Erkenntnis vom Abstrakten zum Konkreten, vom Einfachen zum Komplizierten fortschreitet, so war auch damit nur ein erster Ansatzpunkt einer objektiven Wirklichkeitserklärung gewonnen. Alle gesetzmäßigen Zusammenhänge wurden im Grunde auf die einfache UrsacheWirkung-Beziehung einzelner Erscheinungen zurückgeführt, und die nicht genügende philosophische Orientierung auf Entwicklungsprozesse ließ die Frage nach grundlegenden, konkreten Formen des Zusammenhangs, die Bewegung und Entwicklung bedingen, kaum aufkommen. Daher stellte die dialektische Fassung des Zusammenhangs im Denken des deutschen Idealismus einen Schritt nach vom dar, obwohl der Idealismus gleichzeitig einen Verlust an Realitätsgehalt des philosophischen Denkens mit sich brachte. Die Kausalität ist nur Moment eines universellen Zusammenhangs, dessen Grundbestimmtheit die Durchdringung und die Wechselwirkung der Gegensätze, der dialektische Widerspruch, sind. Eine Einheit von Gegensätzen verkörpert die Beziehung von Ursache und Wirkung, von Quantitativem und Qualitativem, Möglichem und Wirklichem usf. Ist diese Grundstruktur der Realität nicht entdeckt und methodisch verwertet, kommen alle Darlegungen über Kausalität, Möglichkeit, Notwendigkeit usw. aus dem Bannkreis einer metaphysischen Betrachtung nicht wirklich heraus. Der Zusammenhang dialektischer Gegensätze stellte sich bereits für H E G E L als bewegliches Verhältnis dar, und ihre Bewegung beschrieb er als Negation und Negation der Negation. Was hierbei in der philosophischen Reflexion als Bewegung der Begriffe auftrat, brachte zugleich ein reales Moment der Wirklichkeit zum Ausdruck. Die reflexiven Kategorien, mit denen es die Dialektik wesentlich zu tun hat, spiegeln grundlegende objektive Verhältnisse wider. Bei ihnen liegen sowohl Negation als auch Negation der Negation vor, was bereits K A N T als Charakteristikum der von ihm aufgestellten Tafel der Kategorien hervorhob. Die Reflexionsbegriffe (Mögliches — Wirkliches, Notwendiges — Zufalliges, Einzelnes — Allgemeines usf.) sind durch die Durchdringung der Gegensätze gekennzeichnet, weil Negation der Negation ihre Beziehung zueinander bestimmt. Jeder Gegensatz, jeder Pol eines dialektischen Widerspruchs, bezieht sich negativ auf den anderen, da er in wesentlichen Momenten das Gegenteil 3

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W. I. LENIN, W e r k e , Bd. 38, S. 153

von ihm ausdrückt. Diese Negation wird wieder negiert, weil der Gegensatz nur in bezug auf „sein Anderes" Sinn und Funktion gewinnt. Daß Gegensätze sich zugleich bedingen und ausschließen, macht den Inhalt jener Negation der Negation aus, die die Beziehung polarer Gegensätze kennzeichnet. Die Negation der Negation ist also nicht ausschließlich ein Gesetz der Entwicklung, sondern — wie alle Grundgesetze der Dialektik — zugleich ein Gesetz des objektiven Zusammenhangs. „Durchdringung der Gegensätze" charakterisiert in modifizierter Form die Negation der Negation als Entwicklungsgesetz. Die Negation verhält sich verneinend, ausschließend zu der niederen Stufe. Sie verhält sich zugleich positiv, bewahrend, bestätigend zu ihr, indem sie ihr Fruchtbares, Zukunftsträchtiges der höheren Phase einverleibt, es zum Moment weiterer Entwicklung macht. Die Negation der Negation schließlich ist, als Negation bereits stattgefundener Negation, die scheinbare Aufhebung der Negation, scheinbare Rückkehr zum Ausgangspunkt, Wiederherstellung des Anfangs auf höherer Stufenleiter, in neuer Qualität. So kehrt die Grundbeschaffenheit des dialektischen Widerspruchs, Einheit und Wechselwirkung der Gegensätze, in veränderter Form im Gesetz der Entwicklung durch Negation der Negation wieder, und es besteht keine Veranlassung, die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung aus wesentlich anderen Voraussetzungen als den objektiven Zusammenhängen der Bewegung erklären zu wollen, da beide durch die universelle Dialektik bestimmt sind. Es wurde schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß man nicht jeden einzelnen Bewegungsvorgang bereits als Entwicklungsgeschehen interpretieren darf. 4 Entwicklung ist der kumulative Prozeß vieler einzelner Bewegungsvorgänge, in dem qualitative Veränderungen durch das Wirken innerer und äußerer Widersprüche in eine neue, höhere Qualität umschlagen. Damit ist Entwicklung an die Fülle der einzelnen Bewegungsschritte geknüpft, und auch diese Überlegung verdeutlicht, daß ein Auseinanderreißen von Zusammenhang (der stets im Zustand der Bewegung ist) und Entwicklung zum Verständnis der objektiven Dialektik nicht beiträgt. Untersucht man dialektische Beziehungen (wie Notwendigkeit — Zufall, Einzelnes — Allgemeines usw.) innerhalb von Bewegungsprozessen, so hat man es mit Zusammenhängen zu tun, die mutatis mutandis auch die Entwicklung charakterisieren, nur daß jetzt mit Recht von der Entwicklung abstrahiert wird, weil erst das Ganze der vielen Bewegungsabläufe — und zwar u. U. nur in der Vermittlung mit anderen Wirklichkeitsbereichen — zur Entwicklung führt. Die Dialektik begründet ein adäquates Verständnis der Entwicklung, weil sie auf einem konkreten Verständnis der realen Zusammenhänge als gesetzmäßiger Beziehungen der Bewegung der Wirklichkeit fußt. Während das meta4 G . STIEHLER, Bemerkungen zu P r o b l e m e m der Dialektik und des Determinismus, D Z f P h 3/1973, S. 346

in:

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physische Denken die Realität als ein Netz von Kausalbeziehungen interpretiert, faßt die Dialektik die Wirklichkeit als geordnete Mannigfaltigkeit von Systemen auf. Das metaphysische Denken erklärt alle Bewegung aus äußeren Anstößen; die Dialektik versteht Bewegung als SW/wvbewegung und erklärt diese aus inneren Voraussetzungen des jeweiligen Ganzen. Um dies zu leisten, mußte die wissenschaftliche Dialektik den realen Zusammenhang selbst neu interpretieren ; er konnte nicht mehr in der Äußerlichkeit der Reaktion je einzelner Dinge aufgehen, sondern mußte eine kompliziertere Ordnung aufweisen, sich als Gefüge innerer Wechselwirkungen relativ abgeschlossener, dynamischer Ganzheiten darstellen, die zugleich in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung stehen. Der Gesichtspunkt einer dialektischen Systembetrachtung ist lange vor den modernen Methoden der Systemanalyse ausgearbeitet worden; er ist für ein allseitiges und bewußtes dialektisches Denken konstitutiv und tritt daher in der dialektischen Methode der Klassiker des Marxismus-Leninismus wie auch in Ansätzen bei FICHTE, SCHELLING und HEGEL auf. 5 Die Dialektik unterscheidet sich vom metaphysischen Denken durch ihre neue Auffassung des Zusammenhangs, und eben dadurch vermag sie die allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung zu erfassen. Bezüglich der Gesellschaft verdeutlichte W. I . LENIN dies mit folgenden Worten: „Als dialektische Methode bezeichneten M A R X und ENGELS — im Gegensatz zur metaphysischen — nichts anderes als die wissenschaftliche Methode in der Soziologie, die darin besteht, daß die Gesellschaft als ein lebendiger, in ständiger Entwicklung begriffener Organismus betrachtet wird (und nicht als etwas mechanisch Verkettetes, das infolgedessen eine beliebige willkürliche Kombination der einzelnen sozialen Elemente zuließe), dessen Untersuchung eine objektive Analyse der die gegebene Gesellschaftsformation bildenden Produktionsverhältnisse erfordert, die Erforschung der Gesetze, nach denen sie wirksam ist und sich entwickelt." 6 Den Gegensatz zwischen Metaphysik und Dialektik kennzeichnet LENIN, wie ersichtlich, mit der Feststellung, daß jene nur mechanische Zusammenhänge vorliegen sieht, wo diese sich entwickelnde Organismen, dialektische Ganzheiten (Systeme) erkennt. Zusammengefaßt läßt sich feststellen, daß bei der philosophischen Analyse der Entwicklung davon ausgegangen werden muß, daß die materialistische Dialektik ein Ganzes ist, das die allgemeinsten Zusammenhänge der Wirklichkeit mit einheitlichen theoretischen Voraussetzungen erklärt. Dies ist so wenig eine Frage bloßer Benennung, als erst die einheitliche Anwendung der dialektischen Methode es gestattet, die allgemeinsten Zusammenhänge sowohl des realen Seins als auch der realen Entwicklung richtig zu erfassen. Die Grundgesetze Vgl. Aktuelle Probleme und Aufgaben des historischen Materialismus, in: S W G B 2/1973, 5 S. 189 6

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der Dialektik bestimmen nicht nur die Entwicklung, sondern auch die Strukturund Bewegungszusammenhänge. Und ebenso charakterisieren allgemeinste Formen des realen Zusammenhangs zugleich die Entwicklung, sie sind nicht nur der Ruhe, der Konstanz, zugeordnet. Dabei versteht es sich von selbst, daß die Entwicklung spezifische Merkmale aufweist, durch die sie sich vom Zustand der Nichtentwicklung unterscheidet. Die Forderung nach Anwendung des gesamten Erkenntnispotentials der materialistischen Dialektik besagt nicht, daß man die verschiedenen Zustände und Prozesse der Wirklichkeit nicht jeweils auch in ihrer Spezifik philosophisch analysieren solle. Aber die allgemeinsten Wesensmerkmale der objektiven Dialektik sind überall wirksam; deshalb ist es nicht angängig, die Grundgesetze der Dialektik nur der Entwicklung und Kausalität, Notwendigkeit — Zufall usw. nur dem Zustand der Nichtentwicklung zuzuordnen.

2. Einheit von Determinismus- und Entwicklungsprinzip Der Determinismus als „philosophische Theorie des objektiven Zusammenhangs, d. h. der Bedingtheit und Bestimmtheit der Objekte und Prozesse im Gesamtzusammenhang" 7 läßt sich nicht widerspruchsfrei definieren, wenn seine Aussagen ausdrücklich nicht für die Entwicklung der jeweiligen Objekte gelten sollen. Dies um so mehr, wenn Kausalität und Gesetze den wesentlichen Inhalt des Determinismus bilden sollen. 8 Erstens liegen Bedingtheit und Bestimmtheit in einem Gesamtzusammenhang auch in Entwicklungsprozessen vor. Die Entwicklung bildet einen prozessierenden Zusammenhang, der durch wechselseitige Bedingtheit und Bestimmtheit seiner Momente (die Strukturen und die Triebkräfte der Entwicklung) charakterisiert wird. Zweitens treten Kausalität und Gesetze auch in Entwicklungszusammenhängen auf; das Erfassen der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung und ihrer treibenden Kräfte bildet eine wesentliche Seite der Überlegenheit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung über jede nichtmarxistische Ideologie. Drittens gründen die Bedingtheit und Bestimmtheit der Objekte nicht nur in solchen Beziehungen wie Kausalität, Notwendigkeit — Zufall, Möglichkeit — Wirklichkeit usw., sondern vor allem auch in den durch die Grundgesetze der Dialektik verkörperten Zusammenhängen. Es handelt sich um die innere und äußere Bestimmtheit der Objekte durch Widersprüche (innere und äußere Widersprüche), durch die Einheit des Quantitativen und des Qualitativen und 7 H . HÖRZ, Dialektischer Determinismus und Entwicklungstheorie in: D e u t s c h e Zeitschrift für Philosophie 3/1973, S. 357 8

Ebenda

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äußere Bestimmtheit der Objekte durch Widersprüche (innere und äußere Widersprüche), durch die Einheit des Quantitativen und des Qualitativen und durch den an das Gesetz der Negation der Negation geknüpften Bewegungszusammenhang. Daraus ergibt sich viertens, daß die Erklärung der Kausalität zur Grundform des Zusammenhangs abgelehnt werden muß. Die Beziehung von Ursache und Wirkung ist selbst Ausdruck eines grundlegenden Zusammenhangs — nämlich der beweglichen, widerspruchsvollen Einheit von Gegensätzen —, und da den Kern der Grundgesetze der Dialektik das Gesetz der Einheit und des „Kampfes" der Gegensätze bildet, so folgt schon daraus, daß der Widerspruch die allgemeinste gesetzmäßige Bestimmtheit aller Erscheinungen und Prozesse bildet. Das Gesetz der Einheit und des „Kampfes" der Gegensätze ist das allgemeinste und zugleich konkreteste Gesetz der Dialektik; Kausalität und Wechselwirkung sind durch dieses Gesetz bestimmt, und das Gesetz selbst ist eine Einheit widersprüchlicher Momente. Man kann H. HÖRZ zustimmen, wenn er feststellt, daß „eine gegenseitige Durchdringung des Entwicklungs- und Determinismusprinzips in der materialistischen Dialektik" vorliegt. 9 Der Determinismus läßt sich nicht als selbständiger, abgeschlossener Teilbereich der materialistischen Dialektik definieren, weil jede seiner tragenden Bestimmungen sowohl für die Bewegung als auch für die Entwicklung gilt und weil dasjenige, was per definitionem außerhalb des Determinismus liegen soll — die Grundgesetze der Dialektik, gefaßt lediglich als Entwicklungsgesetze — gerade das marxistische philosophische Verständnis von der Determiniertheit in der Welt wesentlich prägt. Der Determinismus ist also keine „Teil-Dialektik", sondern beinhaltet die allgemeine Art und Weise des Herangehens des dialektischen und historischen Materialismus an die Erfassung der Wirklichkeit: Anerkennung des Prinzips der durchgängigen Gesetzmäßigkeit in Natur, Gesellschaft und Denken. In diese Gesetzmäßigkeit wird die Entwicklung ausdrücklich eingeschlossen. Die Grundgesetze und Kategorien der Dialektik, die Anerkennung des Primats des Materiellen vor dem Ideellen sowie die Gesetze und Kategorien des historischen Materialismus schließen das ein, was in der marxistisch-leninistischen Weltanschauung unter der Gesetzmäßigkeit, der „Determiniertheit" der Vorgänge in der Welt verstanden wird. Dies bedeutet kein Negieren der Berechtigung von Spezialuntersuchungen über solche Formen gesetzmäßiger Zusammenhänge wie Kausalität, Notwendigkeit — Zufall usw. in der Natur, in der Gesellschaft und im Denken. Forschungen auf dem Gebiet des Determinismus in der Physik haben die marxistisch-leninistische Philosophie bedeutend gefördert, und es kann sich nicht 9 1974,

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H. HÖRZ: Objektive gesellschaftliche Gesetze und Subjekt-Objekt-Dialektik, DZfPh 10/11, S. 1 2 0 6

darum handeln, hiergegen Vorbehalte zu äußern, sondern lediglich darum, vor einer abstrakt-generalisierenden Ausdehnung der dabei erzielten Erkenntnisse etwa auf die Gesellschaft zu warnen. Ferner muß einer begrifflichen Einengung des marxistisch-leninistischen Determinismuskonzepts, die den deterministischen Charakter der Entwicklung problematisch werden läßt, entgegengetreten werden. Die materialistische Dialektik faßt Zusammenhang und Entwicklung in ihrer wechselseitigen Durchdringung; sie betrachtet den einfachen Bewegungszusammenhang als unter bestimmten Bedingungen zur Entwicklung führend und Bewegung und Entwicklung selbst als wesentliche Formen des gesetzmäßigen Zusammenhangs. In der philosophischen Literatur wird die Dialektik mitunter in verkürzter Redeweise als „Wissenschaft vom allgemeinen Zusammenhang und von der Entwicklung" bezeichnet.10 Auch nennt man sie die „Theorie des objektiven Zusammenhangs, der Veränderung und Entwicklung." 11 Diese Formulierungen können das Mißverständnis veranlassen, als sei der Zusammenhang das eine, die Entwicklung das andere und als würde die Dialektik nicht gerade die gesetzmäßigen Zusammenhänge der Bewegung und Entwicklung erforschen. Zur Verdeutlichung des Wesens der marxistisch-leninistischen Dialektik tragen drei Äußerungen von F. ENGELS und W. I. LENIN bei. ENGELS nennt die Dialektik die „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs" 12 sowie die „Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens" 1 \ und nach den Worten LENINS ist die Dialektik die „Lehre von der Entwicklung in ihrer vollständigsten, tiefstgehenden und von Einseitigkeit freiesten Gestalt". 14 Diese drei Kennzeichungen bilden eine Einheit, sie ergeben ein Ganzes und bedingen sich gegenseitig. Gehen wir vom Zusammenhang in der Welt aus, dann erkennen wir unschwer, daß seine wesentliche Bestimmtheit die drei Grundgesetze ausmachen. Die Dialektik ist „Wissenschaft von den Zusammenhängen" (F. ENGELS) im Gegensatz zur Metaphysik, die die Dinge in ihrer Isolierung betrachtet und sie daher auch in der Endkonsequenz von der Entwicklung trennt. Die Zusammenhänge erschöpfen sich weder in der wechselseitigen „Berührung" noch in der Wechselwirkung der Dinge (Systeme), sondern sie treten in einer gesetzmäßig bestimmten Vielfalt auf, deren Wesenskern die Grundgesetze der Dialektik bilden. Deshalb expliziert F. ENGELS den „Gesamt10

Siehe: Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie, Berlin 1971, S. 116

11 H. HÖRZ: Die Beziehungen der marxistisch-leninistischen Philosophie zu den anderen Wissenschaften, in: Marxistisch-leninistische Philosophie in der D D R , Berlin 1974, S. 193 12

MEW, Bd. 20, S. 307, a. a. O.

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MEW, Bd. 20, S. 132

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W. 1. LENIN, Werke, Bd. 19, S. 4/5

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Zusammenhang" mit dem Hinweis auf die „Hauptgesetze" der Dialektik, wie er sie nennt, wobei diese Gesetze als solche der Bewegung („Umschlagen von Quantität in Qualität — Gegenseitiges Durchdringen der polaren Gegensätze und IneinanderUmschlagen, wenn auf die Spitze getrieben") und Entwicklung („Entwicklung durch den Widerspruch oder Negation der Negation — Spirale Form der Entwicklung") charakterisiert werden. Wie man sieht, findet dabei keinerlei Trennung, Auseinanderreißen von Zusammenhang und Entwicklung statt, sondern der Zusammenhang erscheint wesentlich als ein solcher der Bewegung und Entwicklung, woraus sich zwanglos die Bestimmung der Dialektik als Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen ergibt. Der Zusammenhang besitzt also verschiedene Dimensionen, die die Bewegung und Entwicklung in der materiellen Welt und im Denken einschließen. Wenn mittels der allgemeinen Prinzipien der Dialektik ein Bereich der objektiven Wirklichkeit — z. B. eine konkrete Gesellschaft — untersucht wird, kann man folgende allgemeine Verfahrensmomente angeben, die zugleich das Wesen der Dialektik deutlich werden lassen. Es werden die inneren und äußeren Zusammenhänge des gegebenen Wirklichkeitsbereiches dargestellt. Dies sind Zusammenhänge struktureller und prozessualer Art. Strukturelle Zusammenhänge bilden die Beziehung von Einzelnem und Allgemeinem, Wesen und Erscheinung, Form und Inhalt u. a. Sie charakterisieren sowohl die inneren wie die äußeren Beziehungen des betreffenden Systems. Prozeßzusammenhänge werden verkörpert durch Kausalität, Wechselwirkung, Einheit und „Kampf* der Gegensätze usw. Die Strukturzusammenhänge unterliegen, wie alle Strukturen, der Bewegung, es findet ein wechselseitiges Einwirken der unterschiedlichen und gegensätzlichen Momente aufeinander statt. Prozeßzusammenhänge bilden Strukturen des Bewegungsgeschehens, relativ feste Bestimmtheiten der Prozesse. Daraus erhellt, daß die Unterscheidung von „Zusammenhang" und „Bewegung" nur relative Gültigkeit besitzt, daß man die Unterschiede nicht übertreiben darf. Vor allem muß ein Determinismuskonzept abgelehnt werden, das die Bedingtheit und Bestimmtheit der Dinge nur als deren äußere Beziehung faßt, nicht die ausschlaggebende Bedeutung der inneren Zusammenhänge mit ihrem Kern, dem Gesetz der Einheit und des „Kampfes" der Gegensätze, herausarbeitet. Es gibt keine äußeren Formen der Bedingtheit und Bestimmtheit, die nicht auch zugleich, mutatis mutantis, das Innere der Systeme charakterisieren und umgekehrt. So ist z. B. die Kausalität nicht nur äußere Einwirkung der Dinge aufeinander, sondern auch Form der Vermittlung der Erscheinungen mit sich selbst, was in der marxistischen Dialektik seinen Ausdruck in der Erkenntnis der inneren Quelle der Selbstbewegung findet. Ebenso ist der Widerspruch nicht nur eine innere, sondern auch eine äußere Bestimmtheit („äußerer Widerspruch"), und schon diese Überlegung zeigt die Unhaltbarkeit der Versuche, den Widerspruch aus dem dialektischmaterialistischen DeterminismusbegrifT zu eliminieren. 28

Untersucht die Dialektik somit die verschiedenen gesetzmäßigen Formen der Vermittlung, des Zusammenhangs der Systeme, so verbindet sie die Analyse äußerer Zusammenhänge mit der Untersuchung innerer Zusammenhänge, also der Vermittlung der Systeme mit sich selbst. Ohne die wesentliche Bedeutung äußerer Einwirkungen zu unterschätzen, wird das entscheidende Gewicht den inneren Zusammenhängen, den inneren Triebkräften der Bewegung und Entwicklung beigemessen. Die Fassung des Zusammenhangs eines Systems mit sich selbst stellt sich als die Erkenntnis der Formen und Gesetze von dessen Bewegung und Entwicklung dar. Bewegung und Entwicklung sind der Übergang des Möglichen in das Wirkliche, ein Fortschritt, der durch das Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderungen und durch Negation der Negation auf der Grundlage des Wirkens innerer Widersprüche bestimmt ist. Bewegung und Entwicklung sind Formen des Zusammenhangs, wie ihre gesetzmäßige Bestimmtheit selbst Ausdruck des Zusammenhangs ist. Demzufolge läßt sich die Dialektik sowohl als Lehre vom Zusammenhang als auch als Lehre von der Bewegung und Entwicklung charakterisieren, und es kommt wesentlich darauf an, die gegenseitige Durchdringung dieser Momente (und ihren spezifischen Stellenwert) zu beachten und die Vorstellung zu vermeiden, es handle sich dabei jeweils um absolut selbständige, mehr oder minder beziehungslose Teilbereiche. Der einheitliche, integrative Charakter der Dialektik dokumentiert sich darin, daß ihre grundlegenden Bestimmungen die inneren und die äußeren Zusammenhänge der Objekte sowie Struktur und Prozeß in ihrer Einheit kennzeichnen — wobei keine abstrakte, sondern eine konkrete Identität vorliegt, die den Unterschied einschließt.

3. Entwicklungsauffassung und historischer Materialismus Die Dialektik — die allgemeinste Lehre von der Entwicklung — enthält unverzichtbare wissenschaftliche Voraussetzungen zum Verständnis der Entwicklung in Natur, Gesellschaft und Denken. Überall in der Wirklichkeit findet Entwicklung statt vermittels des Umschlagens quantitativer in qualitative Veränderungen, durch die Wechselwirkung, den „ K a m p f der Gegensätze sowie durch dialektische Negation und Negation der Negation. Die Berücksichtigung dieser von der Dialektik aufgedeckten Gesetze ist unerläßlich für die Analyse von Entwicklungsprozessen. Allerdings ist mit den Grundgesetzen und den anderen Erkenntnissen der Dialektik noch nicht die ganze Entwicklungsauffassung des dialektischen und historischen Materialismus gegeben; es sind nur ihre allgemeinsten Grundlagen bestimmt. Der Gesichtspunkt der Einheit der marxistisch-leninistischen Welt29

anschauung ist nicht allein hinsichtlich der Dialektik geltend zu machen, sondern muß auf den dialektischen und historischen Materialismus als Ganzes angewandt werden. Wesentlicher theoretischer Inhalt des Marxismus-Leninismus ist der wissenschaftliche Nachweis der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung von der antagonistischen Klassengesellschaft zum Kommunismus. Dieser Nachweis wird geführt, indem die Wirksamkeit der allgemeinen Gesetze der Dialektik in dem spezifischen Milieu der gesellschaftlichen Entwicklung aufgedeckt wird. Die Prinzipien des Materialismus und der Dialektik erhalten eine weltanschauliche und methodische Funktion, indem sie zu Voraussetzungen der Erklärung der Entwicklung der Gesellschaft werden. Dies geschieht nicht durch einfaches „Ausdehnen" der Dialektik auf die Analyse der Gesellschaft, sondern hauptsächlich dadurch, daß die Erkenntnisse der Dialektik mit den Prinzipien der materialistischen Geschichtserklärung eine feste Verbindung eingehen, wodurch die Dialektik selbst eine Konkretisierung erfährt. Da die Philosophie des Marxismus der dialektische und historische Materialismus ist und da auch der historische Materialismus wesentliche Aussagen über die Entwicklung formuliert, muß bei einer Darstellung der Entwicklungsaufiassung des Marxismus neben der Dialektik als allgemeiner Entwicklungslehre auch der historische Materialismus berücksichtigt werden. Die Erkenntnisse der materialistischen Dialektik zeigen in allgemeiner Form, worin der Mechanismus und die Triebkräfte der sozialen Bewegung und Entwicklung bestehen. Indessen reichen diese Gesichtspunkte — als abstrakt-allgemeine Aussagen genommen — zum Verständnis der sozialen Entwicklung nicht aus. Und zwar nicht deswegen, weil sie, wie alles Allgemeine, der Anwendung auf das Besondere und Einzelne bedürfen. Dies ist fraglos auch notwendig; es gilt für die philosophische Analyse sowohl der Natur, der Gesellschaft als auch des Denkens. Doch kommt noch ein Weiteres hinzu. Die Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung erfordert Erkenntnisse des historischen Materialismus, in denen sich allgemeine dialektische Grundvoraussetzungen konkretisieren, ohne daß jene in diesen virtuell enthalten sind. Man kommt nicht durch bloßes gedankliches Fortführen der Aussagen der Dialektik auf dem Wege bloßer Deduktion zum Begreifen der sozialen Entwicklung, sondern dadurch, daß man die spezifischen Erkenntnisse des historischen Materialismus über die materiellen Grundlagen und die objektiven und subjektiven Triebkräfte des historischen Fortschritts als ein System von zugleich dialektischen Aussagen begreift und handhabt. Allein auf der Grundlage der Dialektik ist weder die Erkenntnis zu erzielen, daß soziale Revolutionen die Form des Übergangs von der niederen zur höheren Gesellschaftsformation bilden, noch die Einsicht zu gewinnen, daß die Widersprüche in der Produktionsweise des materiellen Lebens die entscheidende Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung darstellen. In der Tat hat z. B. H E G E L die von ihm erstmals formulierten Grundgesetze der Dialektik angewandt, denen zufolge nicht die Revolution, sondern die Reform als wesentliche Form 30

des Übergangs zu höheren Gesellschaftszuständen erschien und die Widersprüche im geistigen Leben die Schubkraft geschichtlicher Veränderungen bildeten. In ähnlicher Weise kann eine theoretische Verselbständigung der „dialektischmaterialistischen Entwicklungstheorie" zu direkt falschen Aussagen führen. Die Dialektik erklärt z. B., daß die Quelle und hauptsächliche Triebkraft der Entwicklung jedes Bereiches der Wirklichkeit in den inneren Widersprüchen dieses Bereiches zu suchen sind. Dies ist eine allgemeine Aussage, die im historischen Materialismus konkretisiert und präzisiert wird. Dies geschieht durch Verknüpfung jener Aussage mit den Erkenntnissen über die materiellen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens. Wollte man bei der genannten allgemeinen Aussage der Dialektik stehenbleiben, müßte man z. B. die Widersprüche im politischen Kampf, in der Entwicklung der Kunst usw. als die letztlich bestimmende Triebkraft dieser Bereiche ansehen. Eine solche Behauptung wäre aber direkt falsch; denn die Wurzel der Entwicklung der genannten Bereiche liegt in den Widersprüchen der Produktionsweise des materiellen Lebens, die einen Zusammenhang abgeleiteter Widersprüche bedingen. Hier zeigt sich, daß man in der marxistisch-leninistischen Philosophie nicht bei abstrakt-allgemeinen Aussagen stehenbleiben darf. Denn einen erheblichen Vorzug der marxistischen gegenüber der nichtmarxistischen Philosophie bildet die Konkretheit der Analyse. Während die bürgerliche Philosophie abstrakt-allgemeine Aussagen trifft, die auf alle und jede gesellschaftliche Wirklichkeit zutreffen sollen und nur den eigenen Klassenhorizont unkritisch absolut setzen, verpflichtet das marxistisch-leninistische Herangehen zu einer sorgfaltigen Berücksichtigung der gegebenen realen Bedingungen und Verhältnisse. Bezüglich der Gesellschaftsanalyse schließt dies das Erfordernis ein, die Untersuchung bis zur Bestimmung der gegebenen Gesellschaftsformation, der wirkenden Klassenkräfte und der determinierenden Rolle der Bedingungen des materiellen Lebens fortzuführen. Die Formulierung allgemeiner Aussagen, die alle Gesellschaftsformationen, Klassenkräfte und gesellschaftlichen Bereiche umspannen, kann daher nur Durchgangsstufe auf dem Wege zu konkreten Erkenntnissen sein, wobei das Allgemeine methodische und weltanschauliche Funktion besitzt. Wird bei den allgemeinsten Aussagen stehengeblieben, dann wird damit das Wesen des marxistischen Philosophierens, das auf einem konkreten Denken beruht, verfehlt, und man gelangt zu falschen Aussagen. Es ließe sich gegen das Gesagte geltend machen, daß ja F. E N G E L S die Dialektik die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen und W. I. L E N I N sie die Lehre von der Entwicklung nennt, daß beide — wie übrigens auch M A R X — der Dialektik einen äußerst allgemeinen Charakter beilegen. Dies ist sicher richtig, hebt aber das Gesagte nicht auf. Zwar haben die Begründer des Marxismus-Leninismus den universellen Charakter der Dialektik betont, sind aber bei der Aufzählung allgemeinster Merkmale der Dialektik nicht stehengeblieben, sondern haben das dialektische Denken 31

für die konkrete Analyse der Wirklichkeit fruchtbar gemacht. Eindruckvolle Belege dafür sind etwa „Das Kapital", die „Dialektik der N a t u r " und „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus", genau besehen alle Schriften von M A R X , E N G E L S und L E N I N . Für das marxistisch-leninistische philosophische Denken ist, im Gegensatz zu H E G E L S idealistischer Dialektik, die objektive Realität nicht bloße Daseinsweise oder Entäußerung des Allgemeinen, sondern ein System konkreter Erscheinungen und Verhältnisse, in dem sich Allgemeines verschiedener Extension und unterschiedlicher Wertigkeit durchdringt. Indem in der Gesellschaft das Allgemeine der objektiven Dialektik vor allem in der determinierenden Rolle der materiellen Produktion konkret wirksam wird, kann auch eine Darlegung der Entwicklung der Gesellschaft nur in der nahtlosen Einheit des dialektischen und des historisch-materialistischen Herangehens wissenschaftlich gültige Aussagen treffen. Ein Versuch hingegen, die soziale Entwicklung als bloße Illustration der „dialektisch-materialistischen Entwicklungstheorie" zu interpretieren, wäre notwendig zum Scheitern verurteilt und würde einen Rückfall in schlechten Hegelianismus bedeuten.

4.

Die reale Negativität

Die Idee der Entwicklung durchdringt das gesamte marxistisch-leninistische Herangehen an die Wirklichkeit. Dies steht im Einklang mit der Aufgabe und dem Ziel der marxistischen Ideologie, der Arbeiterklasse den Weg zur revolutionären Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft zu weisen. Die marxistische Theorie erkennt nichts Bestehendes als ewig und absolut an; sie ist dem unausgesetzten Fortschritt der menschlichen Gesellschaft verpflichtet. Den hauptsächlichen Inhalt des Marxismus-Leninismus bildet der Nachweis, daß die Errichtung der kommunistischen Gesellschaft durch die Arbeiterklasse gesetzmäßig ist. Die drei Bestandteile des Marxismus, die Philosophie, die politische Ökonomie und der wissenschaftliche Kommunismus, sind auf diese grundlegende theoretische und praktisch-revolutionäre Aufgabe bezogen; in ihrer Einheit beweisen sie die historische Gesetzmäßigkeit der Ablösung der antagonistischen Klassengesellschaft durch die kommunistische Gesellschaft, womit die eigentliche Menschheitsgeschichte beginnt. Die Idee der Entwicklung war bereits der revolutionären Seite der HEGELschen Philosophie eigen; hier drückte sie sich in dem „großen Grundgedanken" aus, „daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder als ihre Gedankenabbilder in unserem Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit 32

schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt. . Dieser große Grundgedanke ist, nach F. ENGELS' Worten, in das „gewöhnliche Bewußtsein" übergegangen. Es kommt aber darauf an, ihn auf jedem Gebiet allseitig anzuwenden, alle Fragen vom Gesichtspunkt der Entwicklung aus zu untersuchen. F. ENGELS unterscheidet das metaphysische Herangehen, das die Dinge als unveränderliche Gegebenheiten betrachtet, von der dialektischen Untersuchungsmethode, die Prozesse erfassen will und als Ergebnis und Ausdruck der vielfaltigen Bewegungsvorgänge in der Wirklichkeit wie im Denken eine gesetzmäßige Entwicklung feststellt. Die marxistische Philosophie geht an die übergreifenden Gesamtzusammenhänge der Natur, der Gesellschaft und des Denkens vom Standpunkt der Entwicklung aus heran 1 6 , indem sie die objektiven Strukturen aufdeckt, die die Entwicklung notwendig hervorbringen. Den Wesenskern dieser Strukturen bildet die reale Negativität, die allgemeine Gesetzmäßigkeit, daß die Dinge und Erscheinungen ihre eigene Verneinung in sich schließen, daß sie Widersprüche. Einheiten Entgegengesetzter verkörpern. In diesem Sinne betonte G. W. F. H E G E L , daß das Verständnis der Entwicklung sich aus der Erkenntnis ergibt, „daß das Negative ebensosehr positiv ist, oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das Abstrakte auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts . . ," 1 7 Im Einklang damit hob K . M A R X hervor, daß die Dialektik „in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite a u f f a ß t . . ."•» Zum Unterschied von jeglichem teleologischen Vorgehen erklärt die Dialektik also die Entwicklung aus der objektiven Beschaffenheit dessen, was sich entwickelt. Die Einheit und Wechselwirkung der Gegensätze begründen die Beharrung wie auch die Veränderung, das Sein und das Werden der Erscheinungen. In den Erscheinungen der Wirklichkeit gehen die verschiedenen Wesensmerkmale nicht eine beliebige Verbindung ein, bilden nicht eine äußerliche, zufällige Verkettung, sondern eine gesetzmäßige Ordnung. Diese offenbart sich als Einheit von Gegensätzen. Alle Dinge sind durch das Innen und das Außen, das Wesen und die Erscheinung, das Allgemeine und das Besondere, das Notwendige und das Zufällige bestimmt; mit diesen allgemeinen Gegensätzen verbinden sich konkrete Gegensätze, die die Erscheinungen der Natur, der Gesellschaft und des Denkens 15

M E W , Bd. 21, S. 293

16

Vgl. W. I. LENIN; Werke, Bd. 29, S. 463

17

G. W. F. HEGEL, Wissenschaft der Logik, 1. Teil, Leipzig 1951, S. 351

18

M E W , Bd. 23, S. 28, vgl. auch W. I. LENIN, Werke, Bd. 9, S. 140f.

3 Redlow,'Stiehler

33

jeweils in ihrer Spezifik charakterisieren. So beruht jede konkrete Gesellschaft auf den entgegengesetzten Faktoren Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Basis und Überbau, materielle und ideologische Verhältnisse. Die antagonistischen Gesellschaften sind durch die Beziehungen feindlich entgegengesetzter Klassen bestimmt. Schließlich stellen alle Gesellschaften — wie überhaupt alle Systeme — Wechselbeziehungen zu ihrer Umgebung her. Die Einheit der genannten und anderer Gegensätze begründet die jeweilige Erscheinung als Systemganzes. Man könnte von einem „Weltgesetz des Dualismus" (F. W. J. SCHELLING) sprechen, das die Beziehungen zwischen den Erscheinungen ebenso wie in ihren bestimmt. Die wesentlichen Merkmale der Erscheinungen stehen im Verhältnis der „Durchdringung der Gegensätze" (F. ENGELS); die Systeme der Wirklichkeit sind durch ein Spannungsverhältnis gekennzeichnet, das sich aus den Wechselbeziehungen der Gegensätze ergibt. Die Gegensätze konstituieren die Ordnung des jeweiligen Ganzen, insofern sie durch die Eigenschaft der gegenseitigen Bedingtheit charakterisiert sind. Reale Gegensätze setzen einander wechselseitig voraus und begründen dadurch den Zusammenhang, die Ordnung, die Konsistenz der gegebenen Erscheinung. Die Einheit der Gegensätze ist eine universelle Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit und des Denkens; sie ist bedeutendes Moment der Wirklichkeit selbst. Es ist indes nicht möglich, hinter die Einheit der Gegensätze zurückzufragen und Antwort darauf zu finden, warum eine 'universelle Einheit und Wechselwirkung von Gegensätzen in der Welt existiert. Kann eine solche Frage sinnvollerweise nicht gestellt werden, so lassen sich allerdings die Wirkungen angeben, die mit der Durchdringung der Gegensätze verbunden sind. Sie ergeben sich daraus, daß die Gegensätze sich zwar ihrer Existenz nach wechselseitig bedingen, voraussetzen, daß aber ihre Beziehung nicht in ihrer Einheit aufgeht. Es ist ein allgemeines Merkmal der Gegensätze, daß sie sich gegenseitig bedingen, zugleich aber sich wechselseitig ausschließen. Sie sind Extreme, Pole innerhalb einer Einheit; dies ist eine strukturelle Bestimmtheit, die dem Sein der Gegensätze zugrunde liegt. Aber zugleich handelt es sich nicht um ein Sein der Ruhe, sondern der Bewegung, des Prozesses. Das Sich-Ausschließen der Gegensätze verwirklicht sich in der Wechselwirkung, die von gegenläufigen Aktivitäten getragen wird. Gegensätze sind also in der Regel nicht „feste Bestände" (F. ENGELS), sondern Prozesse mit gegenläufiger Wirkungstendenz. Das ist unmittelbar einleuchtend bei sozialen Gegensatzverhältnissen, wie Produktivkräfte — Produktionsverhältnisse, Basis — Überbau usf., bei denen es sich nicht um starre, unbewegliche Strukturen handelt, sondern um widerspruchsvolle soziale Aktivitäten, um objektive Formen der gesellschaftlichen Tätigkeit der Menschen. Aber auch solche universelle Gegensatzbestimmungen wie Wesen — Erscheinung, Allgemeines — Einzelnes usw. sind keine fixen Merkmale, keine Etiketten, die gleichsam den Dingen aufgeklebt sind. Es sind 34

vielmehr bewegliche und bewegte Eigenschaften, Verhaltensformen der Erscheinungen, die an dem universellen Gesetz der Bewegung — der Daseinsweise der Materie — teilhaben. Diese Überlegung führt an das Verständnis des Wesens und der Rolle des „Negativen" als der Voraussetzung allen Werdens, aller Entwicklung heran. Das Negative ist nicht eine besondere Substanz, kein deus ex machina, sondern Moment, konkrete Bestimmtheit der realen Gegensätze und ihrer Wechselwirkung, ihres „ K a m p f e s " . Der „ K a m p f der Gegensätze bedingt das innere Leben, die Selbstbewegung komplexer Erscheinungen. Es handelt sich bei den Gegensätzen um Träger realer Prozesse, um Subjekte, nicht schlechthin um Akzidenzen. Indem die Gegensätze wechselseitig aufeinander wirken, bedingen sie den konkreten Prozeß der Bewegung der Erscheinungen, der unter bestimmten Umständen zur Entwicklung führt. Der „ K a m p f der Gegensätze ist nicht „erster Beweger" im Sinne der Aristotelischen Auffassung dieses Begriffs, sondern alle Erscheinungen, und daher auch die ihnen innewohnenden Gegensätze, sind stets bewegt; Bewegung wird nicht durch einen besonderen Mechanismus erzeugt. Dennoch liegt in der Einheit und im „ K a m p f der Gegensätze die Quelle der Bewegung und Entwicklung vor. Dies scheint auf einen logischen Widerspruch hinauszulaufen. Indessen ist Bewegung zunächst eine sehr allgemeine Bestimmtheit; sie drückt das Prozeßhafte überhaupt, Veränderung schlechthin aus. Durch den „ K a m p f der Gegensätze wird die Bewegung und Veränderung einer bestimmten Ordnung und konkreten Regelhaftigkeit unterworfen; sie wird in einer spezifischen Weise gerichtet. Diese Gerichtetheit besteht darin, daß das System, welches die Gegensätze konstituieren, zugleich erhalten und verändern, durch Veränderung innerhalb bestimmter Grenzen erhalten wird. Da die Gegensätze sich in ihrem wechselseitigen Ausschließen zugleich bedingen, so kann ihre Bewegung nicht regellos vonstatten gehen, sondern unterliegt einer Ordnung, die durch die Beziehung der Gegensätze aufeinander bestimmt ist. Und insofern die Einheit der Gegensätze die Einheit des betreffenden Systems bedingt, führt die Wechselwirkung der Gegensätze innerhalb des gegebenen Maßverhältnisses zur Selbstreproduktion des Systems. Die Selbstreproduktion verwirklicht sich durch ständige partielle Aufhebung ihrer selbst, oder genauer: durch stete teilweise Vernichtung und (innerhalb bestimmter Grenzen) fortwährende Neuerzeugung des Systems. Denn nur so kann das Ganze erhalten werden, dadurch, daß seine Teile ständig ausgeschieden und, bei identischer Struktur, erneuert werden. Aufgrund dieser realen Tatsache kann die Dialektik, um das MARXsche Wort zu wiederholen, in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Unterganges einschließen. Die Negation ist, solange Selbstreproduktion vorliegt, eine relative, sie wird erst mit dem Untergang der betreffenden Erscheinung zu einer vollendeten. 35

Auch hier kann sinnvollerweise nicht weiter zurückgefragt werden; d. h., wir würden keine Antwort auf die falsch (weil finalistisch) gestellte Frage finden, warum alles Existierende zugrunde geht oder warum, wie HEGEL sagte, alles Endliche dies ist, sich selbst aufzuheben. Wohl aber kann durch ein komplexes Verständnis der Einheit und des „Kampfes" der Gegensätze Licht in den Mechanismus dieses Prozesses gebracht werden. Die Endlichkeit gilt für alle einzelnen Dinge und Erscheinungen. Bedeutung für das Verständnis der Entwicklung erlangt sie, wenn Gesamtheiten von Erscheinungen in dem Prozeß ihres Werdens untersucht werden. Von Einzeldingen kann man nur in begrenztem Sinne sagen, daß sie sich entwickeln. Entwicklung ist aufsteigende Bewegung geordneter Komplexe von Erscheinungen: der Natur, der menschlichen Gesellschaft, einzelner Gesellschaftsformationen, der wissenschaftlichen Erkenntnis, der Literatur und Kunst usw. Diese Komplexe unterliegen der Entwicklung kraft dessen, daß alles Einzelne, alles Endliche überhaupt, das Gesetz seines Untergangs in sich trägt. Jede spezifische Entwicklungsphase wird durch den in ihr sich vollziehenden „ K a m p f der Gegensätze negiert und muß einer höheren Phase Platz machen. Durch die Aufhebung der einzelnen Entwicklungsabschnitte erhält sich das Ganze nicht nur, sondern vollzieht sich auch eine Entwicklung, ein Fortschritt. Der „ K a m p f der Gegensätze ist das eigentlich Negative, Treibende der Entwicklung. Dies hängt damit zusammen, daß die Gegensätze erstens gegenläufige Prozesse darstellen und daß sie zweitens einander wechselseitig stimulieren, was im einzelnen Fall mannigfache Besonderheiten aufweist. Es handelt sich bei diesen Gegensätzen nicht um die den £7«ze/erscheinungen innewohnenden polaren Merkmale — diese liegen deren Bewegung zugrunde —, sondern um Gegensätze, die das komplexe System als Ganzes bestimmen. In der Gesellschaft sind dies etwa das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der Kampf der Klassen usf. Widersprüche dieser Art haben einen allgemeingesellschaftlichen, einen Systemcharakter; sie treten nur innerhalb großer Ensembles sozialer Erscheinungen auf. Und nur solche Widersprüche bedingen die Entwicklung, weil diese selbst ihrer Natur nach ein komplexes, ein Ensemblegeschehen ist. Zunächst bedingt der „ K a m p f grundlegender Gegensätze die einfache Bewegung, Veränderung des betreffenden Systems. Zum Hervortreten der Entwicklung bedarf es des Wirkens weiterer gesetzmäßiger Zusammenhänge. Hier kommt die Maßbestimmtheit der Erscheinungen ins Spiel, die Tatsache, daß alles Existierende eine Einheit qualitativer und quantitativer Momente bildet. Alle Veränderungen sind ihrem Wesen nach eine Aufhebung des Bestehenden. Diese ist an ein Maß geknüpft, d. h., auf einem bestimmten Punkt der Veränderungen geht die gegebene Qualität vermittels des Umschlagens quantitativer Veränderungen in qualitative Unterschiede in eine andere Qualität über. Da wir es hier mit großen Komplexen (Gesellschaft, Erkenntnis usw.) zu tun 36

haben, bedeutet das Erreichen einer neuen Qualität stets auch einen bestimmten Schritt nach vorn in der Entwicklung. Es tritt nicht schlechthin eine andere, sondern — im Regelfall — eine höhere Qualität ein. Dies ist durch den inneren Zusammenhang quantitativer und qualitativer Prozesse sowie dadurch bedingt, daß die dialektische Negation die positive Bedeutung besitzt, vom Gegebenen auszugehen, es fortzubilden, es verwandelt dem Höheren zu integrieren. Ohne dies gäbe es keine Entwicklung, sondern nur die Beziehungslosigkeit diffuser Zustände. Damit erweisen sich die drei Grundgesetze der Dialektik als bestimmende Faktoren jener Negation, mit deren Verständnis die Dialektik das Verständnis des Positiven, Gegebenen verbindet. Der „ K a m p f der Gegensätze treibt das Bestehende zur Bewegung und Veränderung; dies ist kein bloßes Anderswerden, sondern nimmt die Form eines fortschreitenden und aufsteigenden Prozesses an durch den Übergang des Quantitativen in das Qualitative und durch die dialektische Negation als Einheit von Vernichtung und Bewahrung. Es ist mithin objektiv in der realen dialektischen Struktur der Well begründet, daß nicht nur alle Einzeldinge, sondern auch alle Entwicklungsetappen komplexer Erscheinungen der Vergänglichkeit unterliegen, daß es nichts Endgültiges, Abgeschlossenes, dem Gesetz des Entstehens und Vergehens Enthobenes gibt. Daher ist der marxistischen Denkweise die Vorstellung einer „vollkommenen" Gesellschaft usw. fremd. Der Sozialismus wird von der Arbeiterklasse nicht angestrebt, weil er eine Art Idealwelt, eine von allen Gebrechen freie soziale Ordnung ist, sondern weil er sich aus den materiellen Widersprüchen des niedergehenden Kapitalismus, aus der sozialen Lage des Proletariats gesetzmäßig als einzige Alternative ergibt. Ist der Sozialismus erkämpft, so bedarf er steter weiterer Vervollkommnung und Entwicklung, er verkörpert keinen Ruhepunkt, mit dem die Menschheit an ihr Ziel gelangt wäre. Diese Betonung der Vergänglichkeit des Existierenden ist von dialektischem Charakter; sie hält nicht das bloße Werden, den steten Fluß der Veränderung fest, sondern erfaßt die widerspruchsvolle Einheit von Bestehen und Vergehen. Im positiven Verständnis des Bestehenden, sagte M A R X , faßt die Dialektik dieses zugleich nach der Seite seiner Vergänglichkeit, seiner Negation auf. Dieser Gesichtspunkt ist einer skeptizistischen Einstellung zum Seienden ebenso entgegengesetzt wie einer utopistischen. Während das skeptizistische Verneinen überhaupt nichts Bestehendes gelten läßt, vermag das utopistische Negieren in der Gegenwart nicht die Linien des Künftigen aufzudecken und errichtet daher Idealwelten, deren Existenz auf das subjektive Meinen beschränkt bleibt. K. M A R X , F . ENGELS und W. I . LENIN haben diese Dialektik des Vergehens theoretisch wie praktisch artikuliert, indem sie die historische Berechtigung und Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise für einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte anerkannten, zugleich aber die Unvermeidlichkeit des Untergangs des Kapitalismus aus der Bewegung seiner objek37

tiven Widersprüche herleiteten und im revolutionären Proletariat die subjektive Kraft erkannten, die der Vollstrecker dieser historischen Notwendigkeit ist.

5. Gerichtetheit der Entwicklung Aus den bisher erörterten Sachverhalten ergibt sich, daß der MarxismusLeninismus eine streng objektive Erklärung der Entwicklung vormimmt, daß er nicht transzendente Triebkräfte — darunter auch teleologischer Art — einführt, sondern die Notwendigkeit der Entwicklung aus der dialektisch-widerspruchsvollen Beschaffenheit dessen, was sich entwickelt, begründet. In diesem Sinne stellte W. I. LENIN fest, die Bedingung der Erkenntnis aller Vorgänge in der Welt in ihrer „Selbstbewegung", in ihrer spontanen (d. h. aus eigenen Triebkräften stattfindenden) Entwicklung sei die Erkenntnis dieser Vorgänge als Einheit von Gegensätzen. „Entwicklung ist ,Kampf der Gegensätze." 19 Auf das Verständnis der Entwicklung als Einheit und „ K a m p f der Gegensätze legt LENIN den größten Wert; in der Tat erlaubt nur eine solche Betrachtung ein konsequent dialektisches Verständnis der Entwicklung, das zugleich ein konsequent materialistisches ist. Es gibt in der marxistischen Philosophie Überlegungen, die daraufhinauslaufen, daß die Entwicklung weniger aus dem objektiven dialektischen Charakter dessen, was sich entwickelt, als vielmehr aus „Zielen" des Entwicklungsprozesses erklärt wird. H . H Ö R Z verwendet den Ausdruck „relative Ziele" der objektiven Entwicklung, die die „dialektisch-materialistische Entwicklungstheorie" anerkenne. 20 Indessen ist dieser Ausdruck unscharf, weil er offenläßt, worauf sich die „Relativität" beziehen soll. Gibt es relative Ziele, dann könnte es auch ein absolutes Ziel geben, analog der KANTschen Unterscheidung der relativen Zwecke und des absoluten Zwecks. Aber das ist wohl nicht gemeint; sondern es soll offenbar das Moment der Zielbestimmtheit selbst relativiert werden, woraus sich dann freilich die Frage ergibt, was der Zielbegriff überhaupt leistet. Nach HÖRZ ergibt sich die Finalität der Entwicklung aus der objektiven Entwicklung von Möglichkeiten. Dies schränkt berechtigterweise den Finalismus ein (daher wohl der Ausdruck „relative Ziele"); warum aber dennoch Ziele der Entwicklung anzuerkennen seien, bleibt unklar. Bei einer nicht genügend präzisen Verdeutlichung des materialistischen Ausgangspunktes kann man in eine fatale Nähe zu der Konzeption E. BLOCHS geraten, für den in Natur wie in Gesellschaft ein inneres Ziel wirkt, die verborgene Hoffnung auf etwas Unklares, im Werden Befindliches. 19

W . I . LENIN W e r k e , B d . 3 8 , S . 3 3 9

20 H. HÖRZ, Die materialistische Dialektik und ihre Bedeutung für die Naturerkenntnis, in: Einheit 5/1973, S. 598

38

Es wurden bereits an anderer Stelle die Auffassungen von G. KLAUS und H . kritisiert, die von der gesellschaftlichen Entwicklung behaupten, sie sei durch ein objektives Ziel bestimmt. 21 Diese Behauptung läßt die Warnungen der Begründer des Marxismus vor einer teleologischen Geschichtsauffassung unberücksichtigt. F. ENGELS erklärte: „Wir sind Evolutionisten, wir haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetze zu diktieren." 22 Dieser Standpunkt deckte sich mit der von K. MARX in der Schrift „Das Elend der Philosophie" bekundeten Überzeugung, daß die Zielvorstellung überhaupt nichts am Gang der Geschichte erklärt, sondern nur eine rhetorische Form ist, die Tatsachen zu umschreiben. 23 Für MARX, ENGELS und LENIN war es erstes Erfordernis einer materialistischen Erklärung der Entwicklung, die objektiven dialektischen Zusammenhänge aufzudecken und insbesondere den Kampf realer Gegensätze zu analysieren, der zur Entwicklung führt. Ein solches Herangehen schafft die Voraussetzung, um die Gerichtetheit sowohl der Entwicklung überhaupt als auch des Bewegungsprozesses der Widersprüche zu verstehen. In der Tat: Wenn auch von den Voraussetzungen des Materialismus eine teleologische Auffassung objektiver Entwicklungsprozesse inakzeptabel ist, so kann doch nicht übersehen werden, daß diese Prozesse nicht diffus, sondern in einer bestimmten Richtung verlaufen. Von den zahllosen denkmöglichen Zuständen gehen diese Prozesse der Gesamttendenz nach nur einem mit Notwendigkeit entgegen. Dieser Zustand, auf den hin der Prozeß gerichtet ist, wird von idealistischen Philosophen als Telos, als Ziel des Prozesses ausgegeben. Damit ist, wie schon K A N T in der „Kritik der Urteilskraft" darlegte, der Standpunkt der Vergeistigung des Seienden eingenommen. Denn wenn das Ziel den Prozeß objektiv determiniert, so ist die Bewegung des Realen dem Einfluß eines Nicht-Realen, eines Ideellen, unterworfen. Die Bewegung wird nicht aus ihren jeweiligen objektiven Voraussetzungen, sondern von dem erst noch zu verwirklichenden Resultat her erklärt. Diese Betrachtungsweise ist insbesondere für die bürgerliche Geschichtsphilosophie kennzeichnend. Nach der Ansicht L . LANDGREBES ist die Frage nach dem Ende, dem Sinn der Geschichte ihre Zentralfrage; ebenso meint K. LÖWITH, zum Verständnis der Geschichte bedürfe es eines teleologischen Prinzips. Dies deckt sich vollkommen mit der Ansicht E. HUSSERLS, der eine Geschichtserklärung ohne teleologische Voraussetzungen für unmöglich hielt. Auch innerhalb des Reformismus wurden solche Gedankengänge vertreten: M. ADLER erklärte jede Entwicklung als eine zielgerichtete Bewegung, und R. STAMMLER meinte, die materialistische Betrachtung der Geschichte müsse durch die teleologische ergänzt werden, weil Geschichte ein zielgerichteter Prozeß sei. SCHULZE

21

Vgl. G . STIEHLER, Der Idealismus von KANT bis HEGEL, Berlin 1970, S. 92ff.

22

M E W , Bd. 22, S. 542

23

M E W , Bd. 4, S. 138

39

Diese Behauptungen sind jedoch nicht stichhaltig. Auf der Grundlage einer dialektisch-materialistischen Auffassung der Geschichte läßt sich aus dem Bewegungsprozeß der Widersprüche und aus den weiteren grundlegenden objektiven und subjektiven Zusammenhängen die Gerichtetheit der Entwicklung erklären, ohne daß teleologische Voraussetzungen zu Hilfe genommen werden müssen. Was bei den Idealisten — und offensichtlich auch bei einigen Marxisten — als Ziel vorgestellt wird, ist jener (selbst vergängliche) Zustand, auf den ein bestimmtes Geschehen aus eigenen objektiven Voraussetzungen mit Notwendigkeit zugeht. Der Bewegungsprozeß der Widersprüche — die Grundlage jeder Entwicklung — weist einen gesetzmäßigen Verlauf, eine spezifische Dialektik auf. Die Gesetzmäßigkeit des Prozesses bedingt seine Gerichtetheit; der dialektische Charakter der Gesetzmäßigkeit begründet das Vorhandensein von Möglichkeiten, innerhalb deren sich die Richtung der Bewegung durchsetzt. Diese ergibt sich aus dem Wesen des dialektischen Widerspruchs, daraus, daß die Struktur des Widerspruchs die Notwendigkeit des Prozesses bedingt, der durch eine bestimmte Richtung gekennzeichnet ist. Es ist — worüber bereits HEGEL Überlegungen angestellt hat — das Wesen des Widerspruchs als Einheit wechselwirkender Gegensätze, auf die Phase der Übereinstimmung, der relativen Wirkungsgleichheit der Gegensätze die Phase der Inkongruenz, der Nichtübereinstimmung, des Konflikts folgen zu lassen. Diese Phase wiederum drängt mit Notwendigkeit auf den Zustand der Überwindung des Konflikts, der Lösung des Widerspruchs. H E G E L hat diesen gesetzmäßigen Rhythmus des Bewegungsverlaufs des Widerspruchs, der zugleich die Grundlage der Negation der Negation bildet, eingehend im Schlußkapitel der „Wissenschaft der Logik" untersucht. W. I. LENIN formulierte beim Konspektieren dieser Darlegungen eine Fülle tiefsinniger Bemerkungen über die Gesetzmäßigkeit der dialektischen Bewegung und verdeutlichte dabei, welches die Richtung dieser Bewegung ist. 24 Im Zusammenwirken mit den übrigen dialektischen Gesetzen begründet das Gesetz vom Widerspruch in der Notwendigkeit des Bewegungsverlaufs der Einheit und des „Kampfes" der Gegensätze die Richtung der Entwicklung als Prozeß des Fortschreitens vom Niederen zum Höheren, vom Einfachen zum Komplizierteren. Es bedarf nicht der Einführung teleologischer Vorstellungen, da die Richtung der Entwicklung sich mit Notwendigkeit aus dem Charakter und der Bewegung der objektiven dialektischen Zusammenhänge ergibt. Wenn Systeme in ihrer Bewegung gesetzmäßig bestimmten Zuständen entgegengehen, so wirkt nicht ein ideelles Ziel auf den Prozeß ein, sondern es sind der objektive Charakter, die reale Beschaffenheit des Systems selbst, aus denen die Gerichtetheit auf künftige Zustände des Systems hervorgeht. Der Ausdruck „Ziel" ist hier —

24

40

Vgl. W. I. LENIN, Werke, Bd. 38, S. 210ff.

wenn wir von bewußtem Idealismus absehen — nicht mehr, um das MARXsche Wort zu wiederholen, als eine rhetorische Form, die Tatsachen zu umschreiben. Es ist daher nicht angängig, die Gerichtetheit der Entwicklung in eine Ziel-Gerichtetheit u m z u d e u t e n , wie wir d a s bei G . KLAUS u n d H . SCHULZE

lesen können: „Die Entwicklung verläuft in einer bestimmten Richtung, d. h., sie ist zielgerichtet." 25 Der Begriff des Ziels findet eine sinnvolle Verwendung bezüglich des menschlichen Handelns; im übrigen kann er sich mit teleologischen Vorstellungen assoziieren, so daß er für eine materialistische Erklärung objektiver Prozesse der Entwicklung kaum geeignet ist. Es muß KLAUS und SCHULZE widersprochen werden, die die Sympathie mit einer finalistischen Betrachtung der Geschichte bis zu der Behauptung verführt, dem marxistischen Fortschrittsbegriff sei die Anerkennung einer objektiven Zielgerichtetheit inhärent. 2 6 Betrachten wir demgegenüber, wie die Begründer des Marxismus die soziale Entwicklung erklärten, so gibt sich ein anderes Bild: Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus wird nach den Auffassungen der Klassiker nicht deswegen vollzogen, weil der Entwicklung der Gesellschaft der Sozialismus/ Kommunismus als „Ziel" gesetzt ist, sondern weil im Kapitalverhältnis selbst, in der Reifung seiner Widersprüche die objektive historische Notwendigkeit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise begründet liegt. Das Kapital schafft „unbewußt die materiellen Bedingungen einer höheren Produktionsform" 2 7 . Was in den materiellen Widersprüchen des Kapitalverhältnisses geschichtlich als objektive Notwendigkeit sozialer Veränderung heranreift, wird zum subjektiven Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse, da diese ihrer objektiven Lage nach, von Einsicht geleitet, auf die Bahn des revolutionären Kampfes geführt wird. Die Entwicklung ist somit nicht bloßes Freisetzen von Möglichkeiten, wobei sich der Fortschritt gleichsam als statistisches Mittel unübersehbar vieler Einzelaktionen ergeben würde. Sondern dem Fortschritt liegt eine objektive Notwendigkeit zugrunde, deren allgemeinste Grundlage der Bewegungsprozeß der Widersprüche bildet. Die höhere Entwicklungsstufe ist in der niederen potentiell, der Möglichkeit nach, enthalten; gleichzeitig drückt sie die Notwendigkeit des weiteren Fortschreitens aus. Möglichkeiten haben ihren Platz in den Alternativen der sozialen Veränderung, welche sich nicht linear-determiniert, sondern „multi-determiniert", innerhalb realer Möglichkeiten vollzieht. Diese sind primär objektiv, zugleich aber auch subjektiv bedingt; es sind keine bloßen Denkmöglichkeiten. 25 G. KLAUS/H. SCHULZE, Sinn, Gesetz und Fortschritt in der Geschichte, Berlin 1967, S. 1 6 2 26

G . K L A U S / H . SCHULZE, a . a . O . , S . 1 6 6

27

MEW, Bd. 25, S. 288

41

Der Umstand, daß der Fortschritt sich nicht in der idealisierten Form strenger Linearität verwirklicht, sollte Pauschalurteile abwehren, die den Fortschritt in der gewöhnlichen Abstraktion fassen.28 Diese gewöhnliche Abstraktion stellt sich den Fortschritt als idealisierte Linie eines steten Aufstiegs vor und nimmt die Widersprüchlichkeit der Entwicklung nicht hinreichend zur Kenntnis. Für R. ARON, dem wie der Mehrzahl der heutigen bürgerlichen Theoretiker der Fortschrittsbegriff überhaupt verdächtig ist, liefert die Ungleichmäßigkeit der historischen Entwicklung sogar ein Argument gegen den Fortschritt überhaupt. Ob bei der Widerlegung solcher und ähnlicher Auffassungen die Unterscheidung von Fortschritt und Entwicklung weiterhilft 29 , bedarf noch der Klärung. Entwicklung ist Fortschritt von Niederem zu Höherem und schließt dessen Gegensatz — den Rückschritt — partiell in sich ein, so daß der Fortschritt sich nicht selten in Zickzackbewegungen verwirklicht. Diese Dialektik der Entwicklung tritt besonders anschaulich auf dem Gebiet des sozialen Fortschritts (einschließlich des geistigen Lebens) an den Tag. Namentlich wiesen die Begründer des Marxismus alle Versuche, den Fortschritt „in der gewöhnlichen Abstraktion" zu fassen, entschieden zurück. Schon in der „Heiligen Familie" zeigten MARX und ENGELS in der Polemik mit idealisierenden Vorstellungen über den Fortschritt, daß der gesellschaftliche Fortschritt Rückschritte und Kreisbewegungen einschließt.30 Mutatis mutandis gilt dies auch für die Natur, von der F. ENGELS darleg e, daß „jeder Fortschritt in der organischen Entwicklung zugleich ein Rückschritt, indem er einseitige Entwicklung fixiert, die Möglichkeit der Entwicklung in vielen anderen Richtungen ausschließt". 31 Besonders deutlich tritt die Dialektik des Fortschritts in der Periode des Imperialismus in Erscheinung, wo sie im Werk LENINS eine allseitige Darstellung erfuhr. LENIN zeigte an zahlreichen Sachverhalten, daß die Geschichte keinen geraden, glatten, einförmigen Weg geht, sondern sowohl Perioden besonders stürmischer Entwicklung (vor allem in den Revolutionen) als auch Perioden der Stagnation und des Rückschritts aufweist. Völker können eine rasche Entwicklung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens vollziehen, sie können aber auch jahrhundertelang in ihrer Entwicklung stagnieren. Es gibt „stationäre" Gesellschaften, wie MARX und ENGELS sie etwa in Asien nachwiesen. Andererseits existiert, wie LENIN bezüglich der Völker des Ostens zeigte, die Möglichkeit, daß einstmals zurückgebliebene Völker mit der Unterstützung des siegreichen Proletariats fortgeschrittener Länder bestimmte Entwicklungsetappen überspringen. In der Gegenwart erlangt diese Tatsache im nichtkapitalistischen Entwicklungsweg ehemals kolonial unterdrückter Völker Geltung. 28

Vgl. K. MARX, Grundrisse der Kritik der polit. Ökonomie, Berlin, 1953, S. 29

29

Vgl. Symposium zu Problemen der Dialektik, in: SWGB 2/1966, S. 157

30

MEW, Bd. 2, S. 88

31

MEW, Bd. 20, S. 564, a. a. O.

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Alles in allem bestätigen die Erfahrungen unserer Epoche die Richtigkeil der Feststellung W. I . L E N I N S , daß der Weg zur internationalen Revolution nicht gerade, sondern im Zickzack verläuft 32 , sowie die Berechtigung seines Warnens vor allen Vorstellungen, nach denen die Weltgeschichte glatt und gleichmäßig vorwärtsgeht, ohne mitunter Riesensprünge rückwärts zu machen. 33 Dies bedenkend, wird man Aussagen, die die Tendenz der Entwicklung mit der empirischen Realität der Einzelprozesse gleichsetzen, kaum zustimmen können. Eine solche Aussage liegt vor, wenn die Irreversibilität der Entwicklung als absolutes Gesetz formuliert wird. 34 Irreversibel ist die Entwicklung tatsächlich insofern, als ihr gesetzmäßig die Richtung des Fortschreitens von Niederem zu Höherem zugrunde liegt. Aber es handelt sich dabei um eine Tendenz, die sich durch mancherlei Abweichungen vom „idealen" Verlauf der Entwicklung verwirklicht und wobei auch Rückentwicklungen auftreten können. Die Entwicklung ist ein dialektisches Geschehen, und so, wie Einheit und „ K a m p f der Gegensätze den realen Boden bilden, der Entwicklung ermöglicht und bedingt, so tritt die Beziehung der Gegensätze auch als Formbestimmtheit jeder Entwicklung auf. Dies zeigt sich sowohl in der Dialektik des Quantitativen und des Qualitativen sowie in der Beziehung des Positiven und des Negativen als auch in der widerspruchsvollen Durchsetzung des Fortschritts selbst. In der Gesellschaft sind es die wechselnden objektiven Bedingungen wie der unterschiedliche Reifegrad des subjektiven Faktors, die diese Dialektik der Entwicklung prägen. Der Kampf der Klassen als Hebel des geschichtlichen Fortschritts trägt dazu bei, daß die geschichtliche Entwicklung ebenso Perioden rascher, stürmischer Veränderung wie Perioden gesellschaftlicher Stagnation kennt. Die Dialektik der sozialen Entwicklung ergibt sich aus der dialektischen Struktur, aus der Dialektik der inneren wie der äußeren Bedingungen der Gesellschaft selbst, und es zeigt sich erneut, daß die richtige und umfassende Anwendung der dialektischen Methode auf die Wirklichkeit in allen ihren Zustandsformen die Grundlage für das einzig angemessene — das dialektische und materialistische — Verständnis der Entwicklung bildet.

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W . I. LENIN, W e r k e , B d . 3 1 , S. 4 2 8

33

W . I. LENIN, W e r k e , B d . 2 2 , S. 3 1 5

34 Siehe: UWE KÖRNER, Zur Bestimmung des naturwissenschaftlichen Begriffs Leben und Fragen des Begreifens von Entwicklung in: D Z f P h 8/1970, S. 963

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Gottfried Stiehler Grundlagen und Kriterien des historischen Fortschritts

Die Arbeiterklasse ist ihrem objektiven Charakter nach eine revolutionäre Klasse, die am Sieg des Fortschritts über die Reaktion arbeitet. Die welthistorische Mission der Arbeiterklasse besteht in der Überwindung der Klassengegensätze, in der Schaffung der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft auf der ganzen Welt. Diese weltgeschichtliche Aufgabe ergibt sich aus der ökonomischen, politischen und ideologischen Rolle der Arbeiterklasse in der Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Gemäß ihrer objektiven Stellung in der modernen Gesellschaft vertritt die Arbeiterklasse in ihrer Ideologie das Prinzip des ständigen Fortschritts der Gesellschaft, ist sie ein Feind alles Rückschrittlichen und Konservativen. Im Gegensatz dazu trachtet die imperialistische Bourgeoisie danach, die historisch überlebten Verhältnisse der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung zu verewigen. Deshalb verhält sie sich ablehnend gegenüber der Idee des Fortschritts, sieht im Fortschritt ein Verhängnis und tut alles, um die Erkenntnisse der marxistisch-leninistischen Philosophie über die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung vom Niederen zum Höheren zu diffamieren und zu widerlegen. Aber diese Erkenntnisse gründen sich auf das feste Fundament der materialistischen und dialektischen Auffassung der Welt und sind dadurch allen bürgerlichen Vorstellungen überlegen.

1. Die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung vom Niederen zum Höheren in der Geschichte So wie in der Natur eine Entwicklung stattfand, die schließlich zur Entstehung des Menschen führte, so vollzieht sich auch in der Gesellschaft eine Entwicklung, die in unserer Epoche den weltweiten Übergang zum Sozialismus und Kommunismus einschließt. Aus primitivsten Verhältnissen, den Mächten der Natur weitgehend hilflos ausgeliefert, hat sich der Mensch in einem langen historischen Prozeß bis zu den Höhen der Beherrschung der Naturkräfte und der planvollen 45

Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse emporgearbeitet, wie sie der Sozialismus/Kommunismus verwirklicht. Das allgemeine Gesetz, das dieser Entwicklung zugrunde liegt, ist das Gesetz der Abfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen. Mit der wissenschaftlichen Formulierung dieses Gesetzes begründet der Marxismus-Leninismus, daß sich in der gesellschaftlichen Entwicklung ein Fortschritt vollzieht, was das Wesen dieses Fortschritts ist und was seine Kriterien sind, und er deckt mittels der Anwendung der Prinzipien der materialistischen Dialektik den dialektischen Charakter des Fortschritts auf, widerlegt alle abstrakten, metaphysischen Vorstellungen über den sozialen Fortschritt. Jede Gesellschaftsformation stellt einen Fortschritt über die ihr vorangegangenen hinaus dar; und zwar vor allem deshalb, weil sie auf entwickelteren Produktivkräften beruht. Im Einklang mit dem neuen, höheren Typ der Produktivkräfte verkörpert jede neue Gesellschaftsformation ein neues System gesellschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen, das die Voraussetzungen enthält, um die Produktivkräfte einer weiteren Entwicklung zuzuführen. Gesellschaftsformationen sind ihrer Grundlage nach materiell bestimmte Systeme gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen, die sich in ihrer sozialen Qualität von anderen unterscheiden. Die Einsicht in diesen Zusammenhang führt zu der Erkenntnis, daß in der Geschichte nicht bloß Modifikationen „der" Gesellschaft eintreten, sondern daß eine echte Entwicklung, ein Fortschritt stattfindet. Mit dieser Erkenntnis grenzt sich der dialektische und historische Materialismus von allen nichtmarxistischen Ideologien ab. Die Idee der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft wurde bereits in der progressiven bürgerlichen Philosophie der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus ausgearbeitet. Die Philosophen der Aufklärung gingen davon aus, daß durch die Erarbeitung und Verbreitung richtiger, „vernünftiger" Einsichten in das menschliche Zusammenleben eine allmähliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich sei, daß Leibeigenschaft, Absolutismus und klerikaler Gewissenszwang überwunden und bürgerlich-demokratische Verhältnisse eingeführt werden könnten. Die bürgerlichen Philosophen, die noch keine Vorstellung von den materiellen Grundlagen der gesellschaftlichen Entwicklung besaßen, glaubten durch Veränderung der Begriffe und Urteile, durch eine Neuinterpretation der Wirklichkeit einen gesellschaftlichen Umschwung herbeiführen zu können. Ihre Vorstellungen über den sozialen Fortschritt waren also durch den Idealismus begrenzt. Außerdem wohnte ihnen ein metaphysisches Element inne. Wenn die Philosophen der bürgerlichen Aufstiegszeit den Gedanken einer gesetzmäßigen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft formulierten, dann konnten sie sich eine Entwicklung nur als den Prozeß der allseitigen Verwirklichung bürgerlicher Verhältnisse vorstellen. Für die bürgerlichen Theoretiker bildeten die auf das Privateigentum an Produktionsmitteln gegründeten Verhältnisse der bürgerlichen Warenproduktion und -Zirkulation die einzige „vernünftige", der menschlichen 46

„Natur" angemessenen Verhältnisse. Alle geschichtliche Entwicklung war daher nichts anderes als das Freisetzen dieser schon von allem Anfang an im menschlichen „Wesen" angelegten Verhältnisse, und die bürgerliche Gesellschaft erschien als das Ziel, der eigentliche „Sinn" des Geschichtsprozesses. Diese teleologische, metaphysische Annahme war der theoretische Ausdruck der sozialen Daseinsbedingungen der Bourgeoisie. Als eine Klasse, deren Existenz an das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Ausbeutung und Unterdrückung der Werktätigen geknüpft ist, konnte die Bourgeoisie niemals bis zu Ende revolutionär sein, konnte sie auch in ihrer progressiven Periode den Gedanken der Entwicklung nur mit Vorbehalten und Einschränkungen vertreten. Denn sie trachtete und trachtet stets danach, ihre Klassenherrschaft zu verewigen, und akzeptiert allenfalls gewisse Wandlungen, Modifikationen der kapitalistischen Verhältnisse, nicht aber ihre Aufhebung, ihre Überwindung. Die Arbeiterklasse ist die einzige Klasse, die sich das Ziel stellt, alle Klassenunterschiede, jegliche Klassenherrschaft abzuschaffen, und daher ohne Einschränkung die Idee der sozialen Entwicklung vertritt. Die erwähnten idealistischen und metaphysischen Schranken waren namentlich den Vertretern der idealistischen Dialektik — KANT, FICHTE und HEGEL — eigen, die sich allerdings bedeutende Verdienste dadurch erwarben, daß sie die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung nach ihrer allgemeinsten Seite hin — der Dialektik — ausarbeiteten. Die Erkenntnis, daß Entwicklung sich durch das Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative Unterschiede, durch das Entstehen und Lösen von Widersprüchen und durch Negation der Negation vollzieht, findet sich bereits bei diesen Denkern, namentlich bei HEGEL. Dadurch wurden wertvolle Vorarbeiten für das wissenschaftliche, materialistisch-dialektische Verständnis der Entwicklung im Marxismus geleistet. Aber die Entwicklung wurde bei den großen bürgerlichen Dialektikern als Resultat des Wirkens geistiger Kräfte interpretiert, und sie wurde auf den bürgerlichen Zustand hin gedacht; bürgerlich-demokratische Verhältnisse wurden als das höchste Ziel alles geschichtlichen Werdens vorgestellt. Immerhin trugen die großen bürgerlichen Philosophen der Vergangenheit zu einem genaueren Verstehen der Entwicklungsprozesse in Natur, Gesellschaft und Denken bei. Die bürgerlichen Theoretiker der Gegenwart hingegen sind der Idee der sozialen Entwicklung gegenüber meist feindlich eingestellt und leisten wenig oder nichts für das philosophische Verständnis des historischen Fortschritts. Da die objektiven Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft in unserer Epoche auf den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus drängen, möchten die bürgerlichen Ideologen die Vorstellung der Entwicklung überhaupt diskreditieren und versehen sie häufig mit den Zeichen des Schmerzes und der Trauer. So erklärte der Philosoph M . HORKHEIMER, jeder Fortschritt der Menschheit werde durch Ströme von Blut erkauft. Keine wie immer geartete Verbesserung der Gesellschaft könnte den Berg von Schmerzen und Leiden 47

abtragen, den die Vergangenheit aufgehäuft hat. Die Schlußfolgerung, die sich hieraus scheinbar unausweichlich ergibt, besagt, daß man sich um den gesellschaftlichen Fortschritt nicht bemühen solle, da er nur zu neuen Leiden der Menschheit führt. HORKHEIMER und mit ihm viele andere bürgerliche Philosophen kennen nur einen Scheinausweg: die Religion. Es heißt bei HORKHEIMER: „Die Konfessionen sollen fortbestehen, aber nicht als Dogma, sondern als Ausdruck einer Sehnsucht. Denn wir alle müssen verbunden sein durch die Sehnsucht, daß das, was auf dieser Welt geschieht, das Unrecht und das Grauen, nicht das letzte ist, daß es ein anderes gibt, und das versichern wir uns in dem, was man Religion nennt." 1 Wenn man im Fortschritt ein Verhängnis sieht und ihn daher abzuwenden sucht, sind natürlich keine Aufschlüsse über die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zu erzielen. Soziale Entwicklung wird in der bürgerlichen Philosophie der Gegenwart auf sozialen Wandel reduziert, womit grundlegende gesellschaftliche Umgestaltungen ausgeklammert sind. So unterscheidet der amerikanische Theoretiker T. PARSONS zwischen den Abläufen innerhalb eines System und dem Wandel des ganzen Systems. Veränderungen innerhalb des sozialen Systems nennt er Systemprozesse, Veränderungen des Systems sozialen Wandel. Der Begriff des sozialen Wandels ist völlig wertneutral, er sagt nichts über die Richtung der Veränderung, nichts über einen Fortschritt von Niederem zu Höherem aus. Demzufolge schließt dieser Begriff revolutionäre Veränderungen in der gesellschaftlichen Entwicklung aus; er setzt dem Wesen der Sache nach das bürgerliche System absolut und berücksichtigt nur Modifikationen eines sozialen Organismus, den das Gesetz des Entstehens und Vergehens angeblich nicht berührt. Von diesem Standpunkt aus gelangt man zu Vorstellungen wie der, daß unter ökonomischer Entwicklung nichts anderes zu verstehen sei als die Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens bei möglichst gerechter Einkommensverteilung. 2 Wie man sieht, gibt es hier keinerlei Erkenntnisse über die materiellen Grundlagen des historischen Fortschritts, über den widerspruchsvollen Bewegungszusammenhang von Produktionskräften und Produktionsverhältnissen ; statt dessen findet eine Beschränkung der Analyse auf abgeleitete, sekundäre Erscheinungen und Merkmale statt. Die marxistisch-leninistische Philosophie hat das Prinzip des Historismus auf exakt wissenschaftlicher Grundlage ausgearbeitet. Wie W. I. LENIN betonte, verpflichtet der Marxismus dazu, „den grundlegenden historischen Zusammenhang nicht außer acht zu lassen, jede Frage von dem Standpunkt aus zu betrachten, wie eine bestimmte Erscheinung in der Geschichte entstanden ist,

1

Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit, in: Stuttgarter Zeitung vom 10. 7. 1973

2 GERD ZIMMERMANN, Sozialer Wandel und ökonomische Entwicklung, Stuttgart 1969, S. 69

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welche Hauptetappen diese Erscheinung in ihrer Entwicklung durchlaufen hat". 3 Die Gesetzmäßigkeit der sozialen Entwicklung hat als ihre tiefste objektive Grundlage die Dialektik der Produktionsweise des materiellen Lebens, die ihrerseits die gesetzmäßige Aufeinanderfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen bedingt. Indem die Menschen in der Produktion die äußere Natur verändern, verändern sie zugleich ihre eigene Natur, ihr eigenes Wesen. Die Arbeit ist der Prozeß der Vergegenständlichung der menschlichen Wesenskräfte in einem materiellen Produkt zum Zwecke der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Die Bedürfnisbefriedigung läßt gesetzmäßig neue Bedürfnisse hervorgehen, die die Produktion immer wieder antreiben. Die Entwicklung der Produktion, die dem Impuls der Bedürfnisse unterliegt, erzeugt mit den Möglichkeiten der Befriedigung qualitativ höhere Bedürfnisse, und die Menschen entwickeln sich geschichtlich mit der Erzeugung und Befriedigung qualitativ veränderter Bedürfnisse. Dieser Vorgang fand jedoch über einen langen historischen Zeitraum nicht in der direkten Form der Beziehung von Produktion und Bedürfnissen statt. In der antagonistischen Klassengesellschaft dient die Produktion unmittelbar den ökonomischen und anderen sozialen Bedürfnissen der Besitzer der Produktionsmittel und nur vermittelt gewährleistet sie die in der Regel sehr begrenzte Befriedigung der Bedürfnisse der materiellen Produzenten. Darum stellt sich die Geschichtlichkeit des Menschen in dieser Periode nicht in der Unmittelbarkeit der Beziehung von Produktion und Bedürfnis, sondern vermittelt durch Klasseninteressen her. Die Produktionsweise des materiellen Lebens ist die dialektisch-widerspruchsvolle Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Unter dem Antrieb der Produktionsverhältnisse, der inneren Faktoren der Produktivkräfte sowie materieller und ideeller Bedürfnisse der Menschen vollzieht sich die Entwicklung der Produktivkräfte. Die Produktionsverhältnisse bilden zunächst die Form, die diese Entwicklung ermöglicht und bedingt. Da die Produktionsverhältnisse in den Klassengesellschaften ökonomische Klassenverhältnisse darstellen, geraten die Erfordernisse der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte schließlich an die Schranken des Klasseninteresses der herrschenden Klassen, die ihre ökonomischen, politischen und ideologischen Machtpositionen mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten suchen. Die entwickelteren Produktivkräfte finden ihre Verkörperung in einer neuen, progressiven Klasse, die den Kampf gegen die reaktionären Klassen führt. Die Epoche der sozialen Revolution — die Phase des Übergangs einer Gesellschaftsformation in die nächsthöhere — ist somit eine Epoche heftiger Klassenauseinandersetzungen, durch die sich der Fortschritt der Gesellschaft zu höheren Formen vollzieht. 3

4

W . I. LENIN, W e r k e , B d . 29, S. 4 6 3

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49

Das allgemeine Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das in der Unvermeidlichkeit der Ablösung der niederen durch die höhere Gesellschaftsordnung beruht, verkörpert einen weltgeschichtlichen Gesamtzusammenhang, eine notwendige Tendenz der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Diese gesetzmäßige Tendenz unterliegt einem System von Bedingungen. Die Gesamtheit der Bedingungen bewirkt es, daß die Aufeinanderfolge der Gesellschaftsformationen in den einzelnen Völkern, Nationen, Territorien Besonderheiten aufweist, daß seine Durchsetzung beschleunigt oder auch verzögert werden kann. Der historische Fortschritt gründet darauf, daß jede Gesellschaftsformation in der progressiven Entwicklung der Menschheit einen bestimmten Platz einnimmt. Allgemein ist dieser Platz dadurch charakterisiert, daß die einzelnen Formationen die überlieferten Produktivkräfte durch das ihnen eigene System der Produktionsverhältnisse auf einen höheren Stand bringen. Die Weiterentwicklung der Produktivkräfte bildet das innere Band des Fortschritts der menschlichen Gesellschaft. Die einzelnen Gesellschaftsformationen verkörpern insofern eine höhere Stufe gegenüber den vorangegangenen gesellschaftlichen Verhältnissen, als sie über spezifische Entwicklungstriebkräfte verfügen, die — der allgemeinen historischen Tendenz nach — entwickeltere Produktivkräfte mit einer höheren Arbeitsproduktivität gewährleisten. Die Ablösung der urgesellschaftlichen Verhältnisse durch die Verhältnisse des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Spaltung der Gesellschaft in feindliche Klassen wurde mit der Entstehung des Mehrprodukts möglich. Damit reiften die Voraussetzungen für eine allmähliche Beschleunigung des gesellschaftlichen Entwicklungstempos, für eine bedeutende weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität. Ausbeutung und Unterdrückung der materiellen Produzenten stellten, obwohl sie mit viel Leid und Opfern für die werktätigen Massen verbunden waren, einen historischen Fortschritt dar, verkörperten die dem damaligen Entwicklungszustand der Produktivkräfte entsprechende Form der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen. Während in den vorkapitalistischen Formationen eine mehr oder minder stockende Entwicklung stattfand oder diese stagnierte, erwies sich der Kapitalismus als ungemein dynamisch und brachte gewaltigere Produktivkräfte als alle vorhergehenden Produktionsweisen hervor. K. M A R X bemerkte, daß die kapitalistische Produktionsweise, verglichen mit früheren Formen, die produktivste ist.4 Die weltgeschichtliche Rolle der kapitalistischen Gesellschaft besteht darin, durch Entwicklung der Produktivkräfte, Vertiefung der Arbeitsteilung, Herausbildung intensiver ökonomischer Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern die materielle Grundlage einer neuen Welt — der Welt des Sozialismus/Kommunismus — zu schaffen, in der die Produzenten des materiellen Reichtums auch seine Nutznießer sind, in der der Fortschritt sich nicht nur durch die werktätigen Massen, sondern auch für sie, in ihrem Interesse und zu ihrem Nutzen vollzieht. 4

50

MEW, Bd. 26. 1, S. 169

2.

Die Dialektik des Fortschritts

Die Geschichte der menschlichen Gesellschaft ist der auf der materiellen Produktionstätigkeit gründende Prozeß der qualitativen Veränderung der sozialen Verhältnisse, der durch die Aufeinanderfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen bestimmt ist und in einer konkreten Mannigfaltigkeit von Ereignissen und Prozessen von niederen zu höheren Entwicklungsstufen fortschreitet. Nach marxistisch-leninistischer Auffassung ist dieser Fortschritt nicht Resultat der zufalligen Verknüpfung objektiver und subjektiver Bedingungen, sondern Ergebnis des Wirkens objektiver Gesetze, er vollzieht sich — als historische Gesamttendenz — notwendig und gesetzmäßig. Der Historismus der marxistischen Weltanschauung unterscheidet sich durch das Betonen der strengen Gesetzmäßigkeit des sozialen Fortschritts von irrationalistischen Theorien des Historismus ( D I L T H E Y , JASPERS U. a.), wie sie die bürgerliche Philosophie hervorgebracht hat. Die bürgerlichen Geschichtsphilosophen bestreiten in ihrer Mehrzahl die Gesetzmäßigkeit der Geschichte und lösen diese in einen angeblich wissenschaftlich nicht erfaßbaren, sondern nur erlebbaren Fluß einzelner Ereignisse auf. Zum Unterschied vom bürgerlichen Historismus wird im dialektischen und historischen Materialismus die Geschichte als Werk des tätigen Menschen betrachtet, wobei die Grundform der menschlichen Tätigkeit die Produktion materieller Güter darstellt. In der Geschichte bringt der Mensch sich selbst vermittels der Arbeit, der materiellen Produktion hervor; die Geschichte ist nicht das Ergebnis des Wirkens transzendenter Mächte, sondern wird von den Menschen selbst, insbesondere von den werktätigen Massen, gemacht. Die bürgerliche Ideologie ist in ihrem Herangehen an die Geschichte wesentlich durch teleologische Voraussetzungen bestimmt. Sie erklärt die Geschichte nicht aus den der Gesellschaft auf der jeweiligen Entwicklungsstufe eigenen objektiven und subjektiven Triebkräften, sondern aus dem Wirken eines der Geschichte angeblich vorgeordneten „Zieles". Hinter den vielfaltigen Benennungen dieses Ziels verbirgt sich nichts anderes als die bürgerliche Gesellschaft. Der Marxismus anerkennt kein „Ziel", dem die Geschichte zustrebt. „Aber wir haben", erklärt F. ENGELS, „kein ,Endziel'. Wir sind Evolutionisten, . . ." 5 Der Übergang von niederen zu höheren Entwicklungsstufen vollzieht sich primär auf der Grundlage des Wirkens objektiver Widersprüche in der Produktionsweise des materiellen Lebens. Die gelegentlich von marxistisch-leninistischen Autoren unternommenen Versuche, der geschichtlichen Entwicklung eine objektive Zielstrebigkeit zu unterlegen, können daher nicht überzeugen. Die Richtung des sozialen Fortschritts auf die jeweils qualitativ höhere Entwicklungsstufe ergibt sich nicht aus einem dem 5

4*

M E W , Bd. 22, S. 542 51

Prozeß vorgeschalteten „Ziel", sondern aus der Dialektik von Wirklichkeit und Möglichkeit, die ihrerseits durch den Bewegungsprozeß der objektiven Widersprüche bestimmt ist und dem Wirken der sozialen Kräfte, namentlich der Klassen, unterliegt. Der Bewegungsverlauf der Widersprüche enthält den Antrieb zum gesellschaftlichen Fortschritt, insofern die Wirkungsgleichheit von Gegensätzen notwendig zum Hervortreten der Nichtübereinstimmung, des Widerstreits, führt, der seinerseits gesetzmäßig eine Lösung des Widerspruchs fordert. In der gesellschaftlichen Entwicklung tritt diese Gesetzmäßigkeit vor allem in der Entwicklung der Produktionsweise des materiellen Lebens in Erscheinung. Der Bewegungsverlauf des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen begründet seiner objektiven Tendenz nach die Gerichtetheit der Geschichte auf jeweils höhere Zustände, er bedingt, daß die soziale Bewegung den Charakter des sozialen Fortschritts erlangt. Der Fortschritt ergibt sich somit aus der objektiven dialektischen Struktur dessen, was sich entwickelt, nicht aber aus einer teleologischen Einwirkung dessen, zu dem die Entwicklung führt. Die reale Möglichkeit, deren Verwirklichung durch den historischen Fortschritt erfolgt, nimmt subjektiv, im Handeln der progressiven sozialen Kräfte, den Charakter des Ziels an. Die Kategorie des Ziels ist hinsichtlich der geschichtlichen Entwicklung auf das menschliche Handeln anwendbar; sie kann in der Anwendung auf den objektiven Prozeß zu Fehldeutungen führen. Die Frage nach dem „Ziel" der Geschichte steht in engem Zusammenhang mit dem Problem des „Sinns" der historischen Entwicklung. Gelegentlich begegnet man in der marxistisch-leninistischen Literatur der Behauptung, daß die Frage nach dem „Sinn" der Geschichte wissenschaftlich völlig legitim sei und der „Sinn" der Geschichte in der Zunahme der Ordnung bestehe. 6 Indessen ist die Kategorie „Sinn" so wenig wie die Kategorie „Ziel" auf die Geschichte als objektiven Prozeß anwendbar. Sinn und Ziel lassen sich allein dem menschlichen Handeln beilegen. Die Geschichte hat weder einen Sinn, noch hat sie keinen Sinn; sie entzieht sich einer Sinndeutung. Versuchte man ihr einen Sinn beizulegen, dann würde dies daraufhinauslaufen, die Funktion der gesellschaftlichen Entwicklung im Hinblick auf ein transzendentes Ziel, auf einen die jeweilige historische Existenz übersteigenden Zweck anzugeben. Dies ist aber eine letzlich religiöse, keine materialistische Betrachtungsweise. Mit der Existenz des Menschen und dem Fortschritt seiner sozialen Existenzformen wird nicht irgendein mehr oder minder verborgener Zweck verfolgt, aus dem sich der „Sinn" des Ganzen ergäbe. Sondern der Fortschritt resultiert aus objektiven, primär materiellen Erfordernissen und Bedingungen. In diesem Vorgang liegt so wenig ein „Sinn" wie in der Existenz der Materie und den ihr innewohnenden Gesetzen überhaupt. 6 GEORG KLAUS/HANS SCHULZE, Sinn, Gesetz und Fortschritt in der Geschichte, Berlin 1967, S. 94, 244. Siehe auch: WERNER MÜLLER, Gesellschaft und Fortschritt, Berlin 1966, S. 2 7 7 ff.

52

Von Sinn läßt sich berechtigterweise nur bezüglich des menschlichen Handelns sprechen. Der Kampf der Arbeiterklasse für den Sieg des Kommunismus auf der ganzen Welt hat ebenso einen tiefen Sinn, wie ihn der Kampf der Antifaschisten gegen die Hitlertyrannei besaß. Denn diese Anstrengungen waren bzw. sind auf objektiv Mögliches und Notwendiges gerichtet, dessen Realisierung den historischen Fortschritt gewährleistet. Sinnvoll ist das Handeln, das im Dienste des menschlichen Fortschritts steht. Reaktionäres Handeln verfehlt einen durch den geschichtlichen Prozeß legitimierten Sinn; ihm liegt ein begrenzter, bornierter Klassensinn zugrunde, der sich auf die Dauer gegen die Notwendigkeit des Fortschritts als machtlos erweist. Der historische Fortschritt ist seiner objektiven Notwendigkeit nach durch die materiellen Existenzbedingungen der Menschen, durch die der Gesellschaft innewohnende Dialektik bestimmt. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bildet eine Einheit von Gegensätzen: Die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse liegen in ihren widerspruchsvollen Zusammenhängen dem Fortschritt der Gesellschaft von niederen zu höheren Stufen zugrunde. Aus der Beziehung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen gehen soziale Interessen und Bedürfnisse hervor, die von den gesellschaftlichen Kräften in ihrer historischen Tätigkeit zur Geltung gebracht werden. In den antagonistischen Klassengesellschaften kommt es gesetzmäßig zur Zuspitzung des Kampfes der Klassen; der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen tritt in heftigen politischen und ideologischen Kollisionen an den Tag. Es tritt eine Epoche sozialer Revolution ein, in der sich die Ablösung der niederen durch die höhere Gesellschaftsformation vollzieht. In diesem Vorgang sind die Gesetze der Dialektik wirksam. Die Entfaltung der objektiven und subjektiven Voraussetzungen der höheren Produktionsweise muß einen Prozeß der Akkumulation quantitativer Veränderungen durchgemacht haben, bevor durch das Handeln der sozialen Kräfte der Umschlag in die neue Qualität, der Übergang zur nächsthöheren Gesellschaftsformation, erfolgen kann. Dieser Übergang ist, als „Abbrechen der Allmählichkeit" (LENIN), ein Sprung, eine grundlegende qualitative Umgestaltung aller gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen von den Produktionsverhältnissen bis zu den Verhältnissen und Institutionen des Überbaus. Der historische Fortschritt ist somit die Einheit quantitativer und qualitativer, evolutionärer und revolutionärer Veränderungen. Die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft wird durch die Vertiefung der objektiven und subjektiven Widersprüche der überlebten gesellschaftlichen Ordnung — insbesondere des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen — vorbereitet. Dieser Prozeß gipfelt in der politischen Revolution, durch die die Macht aus den Händen der alten in die der neuen Klasse übergeht. Dieser historische Vorgang schließt einen sozialen Fortschritt dadurch ein, daß er durch dialektische Negation charakterisiert ist. So wie der Entwicklungs53

prozeß der Produktivkräfte die Weitergabe der Errungenschaften der Naturbeherrschung von einer Generation an die folgende enthält, so liegt auch ein Moment der Kontinuität in der Aufeinanderfolge der Gesellschaftsformation. Denn wenn die Ablösung der einen Formation durch die nächsthöhere auch eine Revolution darstellt, also Diskontinuität verkörpert, so bedeutet doch die Entwicklung der einzelnen Gesellschaftsformationen nicht ein Ausgehen vom Punkt Null. Jede Gesellschaft baut auf den positiven, zukunftsträchtigen Errungenschaften ihrer historischen Vorgängerin auf, Errungenschaften, die von der materiell-praktischen Naturbeherrschung bis zu Inhalten und Formen des geistigen Lebens der Menschen reichen. D a jede höhere Gesellschaftsformation die Ausprägung ihrer eigenen qualitativen Wesenszüge mit der kritischen A u f nahme und Fortführung der Errungenschaften der gesamten vorangegangenen Entwicklung verbindet, verkörpert jede qualitativ höhere Gesellschaft einen Fortschritt; sie ist nicht schlechthin eine andere, sondern eine höhere Form der Organisierung der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen. Somit verbinden sich im historischen Fortschritt die Grundgesetze der Dialektik zu einer einheitlichen Wirkung, deren Ergebnis die soziale Entwicklung als Übergang von niederen zu höheren Stufen des sozialen Lebens ist. Die Gesetzmäßigkeit des Fortschritts von Niederem zu Höherem verwirklicht sich in der historischen Gesamfentwicklung der Menschheit. D a die Menschheit jedoch in der bisherigen Geschichte der Gesellschaft nicht als ein geschlossenes Ganzes auftrat, sondern in zahlreichen Völkern, Nationen, Staaten existierte, die eine große Mannigfaltigkeit widerspruchsvoller Beziehungen miteinander realisierten, wurde der Fortschritt der Menschheit durch diese Vielfalt der objektiven Bedingungen und Gegebenheiten beeinflußt. Das führte dazu, daß die Linie eines ständigen Übergangs des Niederen zum Höheren mannigfachen Modifikationen unterworfen war, daß sie sich in den einzelnen Völkern, Staaten usw. nur als widerspruchsvolle Gesamttendenz durchsetzte. Denn wenn auch die inneren Bedingungen eines Landes, vor allem der Reifegrad des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, letztlich entscheidend für den Übergang zu höheren gesellschaftlichen Zuständen sind, so reicht ihr Wirken allein dafür nicht aus. Äußere Bedingungen — von Naturgegebenheiten bis zu der Einwirkung anderer Staaten und Völker — haben Einfluß auf den konkreten Prozeß des Übergangs eines Landes von einer niederen in eine höhere Gesellschaftsformation. Eine revolutionäre Situation ist nur in vielfacher Vermittlung durch die Reife des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in dem gegebenen Land bestimmt. Neben weiteren objektiven Voraussetzungen in diesem Land wirken die internationalen Verhältnisse nachhaltig auf die revolutionäre Situation und ihre weitere Entwicklung ein. D a der Übergang zur höheren Gesellschaftsordnung in der einen oder anderen Weise an das Eintreten einer revolutionären Situation gebunden ist, ergibt sich die Mannigfaltigkeit der Bedingungen des historischen Fortschritts, der sich be54

schleunigt oder auch verzögert vollziehen kann, der rasche Vorwärtsbewegungen ebenso wie rückläufige Bewegungen einschließt. Im ganzen setzt sich der historische Fortschritt als Zickzacklinie durch, nicht als Bewegung unausgesetzten Voranschreitens. W. I . L E N I N hob hervor, daß der Weg zur internationalen Revolution nicht gerade, sondern im Zickzack verläuft 7 und wandte sich gegen undialektischvereinfachende Vorstellungen über den Fortschritt: „. . . denn zu glauben, die Weltgeschichte ginge glatt und gleichmäßig vorwärts, ohne manchmal Riesensprünge rückwärts zu machen, ist undialektisch, unwissenschaftlich, theoretisch unrichtig." 8 Der Zickzackverlauf des historischen Fortschritts ergibt sich auch daraus, daß der Fortschritt das Werk der in höherem oder geringerem Grade bewußt handelnden Massen ist. Die Organisation und Bewußtheit der Massen, die Qualität ihrer politischen Führung, bestimmte Eigenschaften des Massenverhaltens bis hin zu psychologischen Stimmungen sind von Einfluß darauf, ob dem Erfordernis des Fortschritts auf dem jeweils gebotenen historischen Niveau entsprochen wird oder ob eine Verzögerung des Fortschritts bzw. sogar ein zeitweiliger Rückschritt eintritt. Dies festzustellen bedeutet keineswegs, die Objektivität des historischen Fortschritts einseitig den allgemeinsten Gesetzen beizumessen und im subjektiven Faktor allein die Ursache für zeitweilige Abweichungen von der historischen Gesamttendenz zu sehen, wie C. ZAK den hier eingenommenen Standpunkt fehlinterpretiert. 9 Von den Gesetzen der geschichtlichen Entwicklung gilt, daß sie „nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen" 1 0 . Die gesellschaftlichen Gesetze sind objektiv in diesem von M A R X definierten Sinne; gleichzeitig ist ihre Existenz an menschliches Handeln gebunden, das sie ihrerseits determinieren. Diese Determinierung vollzieht sich nicht linear-eindeutig, sondern gebrochen und vermittelt durch das Spektrum objektiver und subjektiver Bedingungen. Deshalb kann keine Rede davon sein, daß das Verhalten nicht objektiv verursacht ist; vielmehr ist es nicht lineareindeutig durch die allgemeinsten Gesetze determiniert, es ist in einer Weise bestimmt, die das jeweilige Handeln als Verwirklichung einer von mehreren Möglichkeiten des konkreten Geschichtsverlaufs hervorgehen läßt. Daher wird in der Tat — entgegen der Behauptung Z A K S — die konkrete Wirkung der allgemeinen Gesetze, ihr bestimmender Einfluß auf den Geschichtsverlauf im 7

W . I. LENIN, W e r k e , Bd. 31, S. 4 2 8

8

W . I. LENIN, W e r k e , B d . 2 2 , S . 3 1 5

9 C. ZAK, Über die Objektivität der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten im Sozialismus, in: DZfPh 10/11/1974, S. 1222 10

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einzelnen und besonderen, durch die spezifischen objektiven und subjektiven Bedingungen des Klassenkampfes modifiziert. Ein Versuch, diese Frage nur mittels der Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem, ohne Berücksichtigung der spezifischen Wirkungsformen des subjektiven Faktors zu lösen, muß notwendig in die Irre gehen." In der gesellschaftlichen Entwicklung stellen Allgemeines und Besonderes eine enge Verbindung her. Das Allgemeine — das Wesen der gegebenen Gesellschaftsformation, die gesetzmäßige Bestimmtheit des Überbaus durch die Basis, der Zusammenhang objektiver und subjektiver Faktoren usw. — existiert stets in der Form historischer Besonderheit, die durch die Vielfalt der jeweiligen Bedingungen bestimmt ist. So tritt das Allgemeine — und das gilt vornehmlich auch von dem Gesetz des historischen Fortschritts — niemals in abstrakter Idealität auf, sondern nur als innerer Zusammenhang der Fülle historischer Erscheinungen und Prozesse, die von dem Allgemeinen mehr oder minder stark abweichen. K . M A R X stellte fest, daß „dieselbe ökonomische Basis — dieselbe den Hauptbedingungen nach — durch zahllos verschiedene empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebenen Umstände zu begreifen sind" 1 2 . Diese Vielfalt der Umstände modifiziert den historischen Fortschritt, der daher in den einzelnen Ländern — auf der Grundlage gleicher allgemeiner Gesetzmäßigkeiten — Eigentümlichkeiten und Besonderheiten aufweist. Diese Besonderheiten fallen natürlich nicht aus dem gesetzmäßigen Gang der geschichtlichen Entwicklung heraus, und es ist keineswegs so, wie die bürgerlichen Geschichtsphilosophen in der Regel behaupten, daß die Geschichte lediglich den äußerlichen Zusammenhang singulärer Ereignisse und Erscheinungen darstellt. Die Besonderheiten der einzelnen Völker und Länder sind durch die Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung bestimmt, wobei diese Gesetzmäßigkeiten sinnfälligen Ausdruck in dem Charakter der jeweiligen Epoche erhalten. Die Grundzüge einer Epoche bieten den Maßstab für die Beurteilung der Besonderheiten eines Landes; ihre Kenntnis ermöglicht es, diese Besonderheiten richtig in das Ganze des historischen Fortschritts einzuordnen. Das Gesamtsystem der inneren und äußeren Bedingungen, innerhalb dessen sich der Fortschritt in den einzelnen Staaten, Territorien usw. vollzieht, bewirkt es, daß der historische Fortschritt der Menschheit sich nicht in einer einheitlichen Linie verwirklicht. Er wird vor allem von den progressiven Klassen solcher Völker und Nationen vorangebracht, denen durch die sich wandelnden objektiven geschichtlichen Bedingungen eine führende Rolle zugefallen ist. Der historische Fortschritt setzt sich nicht „frontal", sondern „punktuell" durch; er besitzt Vgl. dazu a u c h : G . J. 1/1975, S. 73 f. 12 M E W , Bd. 25, S. 806 11

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GLESERMANN,

Probleme des sozialen Determinismus, in: DZfPh

jeweils Konzentrationspunkte, in denen sich das Spezifische der höheren Produktionsweise zum erstenmal entwickelt ausprägt. Von diesen Konzentrationspunkten gehen Einflüsse auf andere Länder, Völker usw. aus; sofern in diesen Ländern die entsprechenden inneren Bedingungen gegeben sind, wird ihre progressive Entwicklung durch die äußeren Einflüsse gefördert. Die „Punktualität" des historischen Fortschritts ist somit von der Dialektik des Inneren und des Äußeren in der Entwicklung der einzelnen Länder geprägt; diese Dialektik, die die Ungleichmäßigkeit und Ungleichzeitigkeit der Realisierung des Fortschritts in den verschiedenen Ländern bedingt, schließt damit zugleich die Gesetzmäßigkeit ein, daß der Fortschritt durch bestimmte Länder oder Ländergruppen besonders gefördert wird. In der Gegenwart fällt diese führende Rolle der sozialistischen Staatengemeinschaft mit ihrem Kraftzentrum, der UdSSR, zu. Innerhalb der führenden Länder oder Nationen sind es die die jeweilige Produktionsweise repräsentierenden progressiven Klassen, in deren Wirksamkeit sich der Fortschritt verkörpert ; die Auseinandersetzung zwischen den Klassen bestimmt die Durchsetzung des geschichtlichen Fortschritts. Es handelt sich darum, daß die progressive Klasse — selbst jeweils unterschiedlich entwickelt — in der Regel nicht in allen Ländern die gleichen Bedingungen vorfindet, um den Übergang zur nächsthöheren Gesellschaftsordnung zu vollziehen. Dort, wo die objektiven Bedingungen, und zwar besonders das Gesamtsystem der objektiven Widersprüche, besonders machtvoll in die Richtung des Fortschritts drängen und wo die erforderlichen subjektiven Voraussetzungen gegeben sind, wird der Übergang zur höheren Gesellschaft von jener Klasse, die die Zukunft repräsentiert, vollzogen. Die Schubkraft des gesellschaftlichen Fortschritts ist, solange es antagonistische Klassen gibt, der Kampf dieser Klassen. Aus dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen gehen jene ökonomischen und anderen Interessen hervor, die die Klassen auf die Bahn des Kampfes führen. Im Wirken der progressiven Klassen finden die Erfordernisse der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte ihren angemessenen Ausdruck. Die reaktionären Klassen, die überlebte Eigentums- und Machtverhältnisse verteidigen, können den Produktivkräften nur eine Bewegung ermöglichen, die unter jenem Niveau bleibt, das zu verwirklichen die Aufgabe der progressiven Klasse ist. Reaktionäre Klassen sperren sich gegen den Fortschritt, suchen ihn aufzuhalten, während progressive Klassen schon aus Gründen der Sicherung ihrer materiellen Interessen gezwungen sind, ihre Kräfte für den Sieg des Fortschritts über die Reaktion einzusetzen. In dem Widerspruch progressiver und reaktionärer Klassen kommt folglich die eigentliche Triebkraftwirkung auf den Fortschritt den progressiven Klassen zu. Im Sieg der fortschrittlichen Klassen über die reaktionären Klassen macht sich die treibende Wirkung des Widerspruchs im historischen Fortschritt geltend. Wenn der Fortschritt das Werk der bewußt handelnden Menschen ist, dann bedeutet dies allerdings nicht, daß jede progressive Klasse in der Geschichte in 57

ihrem Handeln bewußt von den Erfordernissen des sozialen Fortschritts ausgegangen ist. Dies gilt in vollem Maße erst von der revolutionären Arbeiterklasse, während alle anderen Klassen in ihrem Wirken für den Fortschritt überwiegend von den nächstliegenden materiellen Partikularinteressen bestimmt werden. Vor allem trifft dies auf solche Klassen zu, deren ökonomische Grundlage das Privateigentum an Produktionsmitteln ist. Das Privateigentum orientiert die Menschen in ihrem Handeln überwiegend auf bornierte Sonderinteressen, die nur zeitweilig mit dem Interesse anderer Klassen und Schichten zusammenfallen. Ausgehend vom Privateigentum an Produktionsmitteln kann der geschichtliche Fortschritt nur in eingeschränkter Form, niemals absolut zum Zielpunkt des Handelns gemacht werden. Denn während der Fortschritt sich seiner realen Tendenz nach unausgesetzt vollzieht, gehen die Intentionen ausbeutender Klassen nie über das Ziel der Stabilisierung der eigenen ökonomischen Existenzbedingungen hinaus. Die Dialektik des Fortschritts besteht daher in den antagonistischen Gesellschaften darin, daß der Fortschritt sich in einem Handeln verwirklicht, das — mit einziger Ausnahme des Kampfes der Arbeiterklasse — sich den Fortschritt nicht umfassend zum Ziel setzt. G. W. F. H E G E L machte diese Dialektik im Rahmen der ihm möglichen Erkenntnisse mit dem Terminus „List der Vernunft" kenntlich. Seiner Ansicht zufolge ist es die Vernunft der Weltgeschichte, die sich der „List" bedient, die Menschen partikularen Interessen nachstreben zu lassen und dabei mehr oder minder unbewußt das Werk des geschichtlichen Fortschritts zu fördern. Die Klassiker des Marxismus, die den Hegeischen Geschichtsidealismus überwanden, stellten diese Dialektik auf objektiver, materialistischer Grundlage dar: Sie zeigten, daß die Geschichte unter den Bedingungen des Privateigentums an Produktionsmitteln nicht nur und nicht primär vom Streben nach Verwirklichung humanistischer Ideale, sondern von solchen „niedrigen" Triebfedern wie Profitstreben, Ausbeutung anderer Menschen, List und Gewalt vorangebracht wird. Jede Gesellschaftsformation und Geschichtsepoche verfügt über spezifische Triebkräfte des Fortschritts, die sich aus den ökonomischen Verhältnissen ergeben und nicht an abstrakten Idealen gemessen werden dürfen. Daß kapitalistischer Eigennutz ungewollt den historischen Fortschritt fördern kann, zeigte K. M A R X mit folgendem historischen Beispiel: „Gewiß war schnödester Eigennutz die einzige Triebfeder Englands, als es eine soziale Revolution in Indien auslöste, und die Art, wie es seine Interessen durchsetzte, war stupid. Aber nicht das ist hier die Frage. Die Frage ist, ob die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne fundamentale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien. Wenn nicht, so war England, welche Verbrechen es auch begangen haben mag, doch das unbewußte Werkzeug der Geschichte, indem es diese Revolution zuwege brachte." 1 3 13

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MEW, Bd. 9, S. 133

Die Ausbreitung des Kapitalismus auf der Welt, seine gewaltsame Ausdehnung auf zurückgebliebene Länder und Territorien, die schreckliches Elend für die einheimische Bevölkerung mit sich brachte, waren eine unumgängliche Voraussetzung für bedeutende Fortschritte der Produktivkräfte und damit für die schließliche Befreiung der ehemals kolonial abhängigen und unterdrückten Völker von Rückständigkeit, Unwissenheit, Ohnmacht gegenüber der Natur usw. Die Geschichte ist keine Person, die nach Zielen handelt und sich einzelne Völker und Individuen gleichsam als „Werkzeuge" aussucht. Die Eigenschaft, „Werkzeug" des Fortschritts zu sein, ergibt sich gesetzmäßig aus der widerspruchsvollen Entwicklung der objektiven Verhältnisse und ist daher einer streng wissenschaftlichen Erklärung fähig. Einen wichtigen Platz in der historischen Entwicklung nehmen historische Ereignisse ein; sie bilden die unmittelbare Erscheinungsform des gesetzmäßigen Ablaufs der Geschichte. So wie sich der geschichtliche Fortschritt durch das Wirken der Klassen und letztlich der Individuen durchsetzt, so verwirklicht er sich in der Aufeinanderfolge einzelner historischer Ereignisse. Der Fortschritt ist gleichsam das innere Band, das die zahllosen Vorgänge und Ereignisse im gesellschaftlichen Leben miteinander verbindet und ihnen eine bestimmte Ordnung und Gerichtetheit verleiht. Diese Gerichtetheit verwirklicht sich als gesetzmäßige Tendenz, was nicht ausschließt, daß historische Ereignisse gegen das Gesetz des Fortschritts wirken und eine progressive Entwicklung zeitweilig blockieren können. Historische Ereignisse sind Vorfälle, Begebenheiten im Geschichtsprozeß mit einem signifikanten Einfluß auf den Gang der Geschichte. In ihnen kommt wie in einem Brennpunkt das Wirken, der Kampf der verschiedenen Klassen und Schichten einer Gesellschaft und einer Epoche zur Geltung. Im Ereignis individualisiert sich der historische Prozeß, und es bildet eine Seite der Diskontinuität innerhalb dessen widerspruchsvoller Einheit mit der Kontinuität geschichtlichen Werdens. Aber wenn auch im historischen Ereignis ein Moment der Individualisierung des geschichtlichen Werdens sichtbar wird, so besagt dies keineswegs, daß Ereignisse allein durch dieses Merkmal charakterisiert werden. Die bürgerliche Geschichtsphilosophie, die in der Regel die Existenz historischer Gesetze bestreitet, verabsolutiert metaphysisch die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit historischer Ereignisse. Der bürgerliche Historismus sieht, nach den Worten HANS MOMMSENS, in der Einmaligkeit und Besonderheit aller geschichtlichen Erscheinungen, in ihrer Individualität, die schlechthin bestimmende Kategorie des historischen Erkennens. 14 Damit wird die direkte Vergleichbarkeit historischer Vorgänge geleugnet. Natürlich können Ereignisse in exakt der gleichen Weise, d. h. bei Übereinstimmung in der Gesamtheit ihrer Erscheinungsvielfalt, nicht zweimal ablaufen (das gilt übrigens auch für die Natur). Und sicher ist ebenfalls, daß die Gesamtheit 14

Siehe: Das Fischer-Lexikon, Geschichte, Frankfurt a. M. 1965, S. 84

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der Bedingungen in jedem Ereignis spezifisch gelagert ist, so daß eine genaue Wiederholung nicht möglich ist. Aber hinsichtlich der allgemeinen sozialen Typik des Ereignisses, also hinsichtlich seines Wesens und der sich in ihm manifestierenden Gesetzmäßigkeit, ist eine Wiederholbarkeit und damit Vergleichbarkeit gegeben. Alle historischen Ereignisse finden ihre letzte Begründung in den allgemeinen Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung unter den jeweils gegebenen spezifischen geschichtlichen Bedingungen. Daß auf ihr Entstehen und ihren Verlauf subjektive Faktoren Einfluß ausüben, hebt das nicht auf; denn auch das Wirken der sozialen Kräfte ist seinem allgemeinen Inhalt nach durch objektiv-gesetzmäßige Zusammenhänge bestimmt. Besonders solche historischen Ereignisse, die unmittelbare Triebkräfte des geschichtlichen Fortschritts sind, wie soziale Revolutionen, besitzen den Charakter der Allgemeinheit, dem gegenüber das Moment der Individualität und Besonderheit an Bedeutung zurücktritt. Zur Dialektik des Fortschritts gehört schließlich, daß die Entwicklung vom Niederen zum Höheren sich nicht nur ungleichmäßig im Verhältnis der einzelnen Völker, Nationen, Regionen usw. vollzieht, sondern daß sie auch in den einzelnen Lebensbereichen einer gegebenen Gesellschaft Ungleichmäßigkeiten aufweisen kann. Zwar ist dem allgemeinen Charakter nach die geschichtliche Entwicklungshöhe dieser verschiedenen Bereiche durch das Entwicklungsniveau sowie den Charakter der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse bestimmt; aber die einzelnen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens — namentlich im Überbau der Gesellschaft — weisen in ihrer Entwicklung auch eine Eigengesetzlichkeit und relative Selbständigkeit gegenüber der Ökonomik auf. Daher kann es geschehen, daß z. B. auf den Gebieten der Wissenschaft und Kunst eine beachtliche Entwicklung stattfindet, obwohl die ökonomische Basis der Gesellschaft bereits durch Stagnation und reaktionäre Tendenzen gekennzeichnet ist. Auch kann die politische Organisation der Gesellschaft einen höheren Reifegrad als z. B. die materiell-technische Basis besitzen. Der allgemeinen Tendenz nach stimmen die verschiedenen Lebensbereiche der Gesellschaft in ihrer Entwicklung überein, was sich aus der letztlich determinierenden Wirkung der Produktionsweise des materiellen Lebens auf die Gesamtheit der gesellschaftlichen Beziehungen erklärt. Im einzelnen aber können — zumindest zeitweilig — Nichtübereinstimmungen hinsichtlich der einzelnen Entwicklungsniveaus eintreten, was durch die Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit der verschiedenen Zweige der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bedingt ist.

3.

Kriterien des historischen Fortschritts

Der historische Fortschritt ist, allgemein gesprochen, dadurch charakterisiert, daß niedere Entwicklungsstufen des gesellschaftlichen Lebens durch höhere abgelöst werden. Allgemeinstes Merkmal des Fortschritts ist folglich das Er-

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reichen einer höheren Stufe im sozialen Entwicklungsprozeß. Dabei ist die Kennzeichnung des „Höheren" in den einzelnen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, namentlich des Überbaus, an unterschiedliche Kriterien geknüpft. So wie die verschiedenen Zweige des gesellschaftlichen Lebens durch Merkmale relativer Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit gekennzeichnet sind, so weisen auch die Kriterien des Fortschritts auf den verschiedenen Gebieten Besonderheiten auf, indem sie diese Eigengesetzlichkeit reflektieren. Indessen sind diese Fragen von abgeleitetem Charakter gegenüber der grundlegenden Frage, durch welche Kriterien sich eine Gesellschaftsformation gegenüber jener, auf die sie folgt, als fortschrittlich erweist. Da der historische Materialismus feststellt, daß in der gesellschaftlichen Entwicklung sich der Fortschritt in der Aufeinanderfolge der Gesellschaftsformationen realisiert, müssen die Kriterien des Fortschritts aus der Analyse des historischen Gesamtprozesses gewonnen werden. Die Fortschrittskriterien bedürfen einer komplexen, d. h. dialektischen Anwendung. Zugleich muß ihre Handhabung auf materialistischer Grundlage erfolgen. Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich die Erkenntnis, daß die Überlegenheit der höheren über die niedere Gesellschaftsformation in der Entwicklung der Produktivkräfte ihre Grundlage besitzt. Der Fortschritt einer Gesellschaft drückt sich in der Zunahme der materiell-praktischen Naturbeherrschung, in der Steigerung der Arbeitsproduktivität, in höheren Ergebnissen von Wissenschaft und Technik, in der wachsenden Vergesellschaftung der Produktion aus. Nach den Worten L E N I N S sind die Produktivkräfte „höchstes Kriterium des gesellschaftlichen Fortschritts" 15 . In der historischen Gesamttendenz zeichnet sich jede höhere Gesellschaftsformation gegenüber der vorangegangenen durch eine höhere Arbeitsproduktivität aus. Da die Produktivkräfte, als das aktive, dynamische Element innerhalb der Produktionsweise, die materielle Grundlage der gesellschaftlichen Existenz verkörpern, gibt ihr Entwicklungsstand ein streng objektives Kriterium für den geschichtlichen Fortschritt ab. Und da von den Produktivkräften über die Produktionsverhältnisse Einflüsse auf alle anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens — vermittelt durch deren Eigengesetzlichkeit und relative Selbständigkeit — ausgehen, bildet dieses Kriterium zugleich einen Ansatzpunkt für die Erfassung der Entwicklungsniveaus auch der übrigen Bereiche der Gesellschaft. Die Produktionsverhältnisse sowie der politische und ideologische Überbau einer Gesellschaftsformation verkörpern einen historischen Typ, der durch den Charakter und das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte bestimmt ist. Darum ist auf sie in vermittelter Weise das Fortschrittskriterium anwendbar, das sich aus dem Charakter der Produktivkräfte ergibt. Allerdings gilt dies nur für eine Gesellschaftsformation als Ganzes, als Wesensbestimmtheit konkreter Gesell15

W . I. LENIN, W e r k e , Bd. 13, S. 240

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Schäften. Die einzelnen Gesellschaften sind in ihrer konkreten Entwicklung nicht allein durch das Niveau der Produktivkräfte, sondern auch dadurch bestimmt, welche Beziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen besteht. Sind die Produktionsverhältnisse aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte in deren Fesseln umgeschlagen, dann können zwar die Produktivkräfte noch eine gewisse, wenn auch gehemmte Entwicklung vollziehen, aber da die Produktionsverhältnisse bereits geschichtlich überholt sind, machen sich auch in den Erscheinungen des Überbaus mehr und mehr Rückständigkeit und Reaktion geltend. Gleichzeitig herrschen diese nicht unbestritten; denn der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen findet — in den antagonistischen Gesellschaften — seinen Ausdruck in dem Widerspruch sich bekämpfender Klassen, von denen die eine die Seite des Fortschritts, die andere die der Reaktion verkörpert. Demgemäß stehen sich auch auf dem Gebiet des politischen und ideologischen Überbaus der Gesellschaft Fortschritt und Rückschritt gegenüber. Im Maße der Zuspitzung des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen verliert also eine Gesellschaft als Ganzes mehr und mehr ihren fortschrittlichen Charakter. Das heißt aber nicht, daß in ihr der Fortschritt keinen Raum mehr fände. Er wird von den progressiven Klassen verkörpert, deren Wirken letzten Endes darauf abzielt, den Produktivkräften neue gesellschaftliche Bedingungen ihrer Entfaltung zu verschaffen, was nur auf dem Wege der Änderung der ökonomischen und politischen Machtverhältnisse geschehen kann. Auf diese Weise zeigt sich erneut die Bedeutung des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte als Kriterium des geschichtlichen Fortschritts. Die Produktivkräfte begründen ihrem Wesen nach die Grenzenlosigkeit des Fortschritts der Menschheit. In der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie und Ideologie ist viel von „Grenzen des Wachstums" die Rede, die aus der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und einem dadurch bedingten Aufhören der Entwicklung der Produktivkräfte resultieren sollen. Gewiß stellen die weitere Zunahme der Erdbevölkerung und die mit dem Wachstum der Technik verbundene Rohstoffirage sowie die Aufgaben des Umweltschutzes die Menschheit vor ernste Probleme. Aber eine auf der Grundlage sozialistischer Produktionsverhältnisse organisierte Gesellschaft, deren Entwicklung durch Bewußtheit und Planmäßigkeit bestimmt ist, verfügt über wichtige soziale Voraussetzungen dafür, die Entwicklung der Produktivkräfte und das Wachstum der Bevölkerung so zu planen und zu regulieren, daß eine gesicherte Existenz des Einzelnen und der Gesellschaft gegeben ist. Schon F. ENGELS sah die abstrakte Möglichkeit voraus, daß die Menschenzahl einmal so groß wird, daß ihrer Vermehrung Schranken gesetzt werden müssen. Er betonte zugleich: „Sollte aber einmal die kommunistische Gesellschaft sich genötigt sehen, die Produktion von Menschen ebenso zu regeln, 62

wie sie die Produktion von Dingen schon geregelt hat, so wird gerade sie und allein sie es sein, die dies ohne Schwierigkeiten ausführt." 16 Diese Worte machen zugleich deutlich, daß das letztlich entscheidende Fortschrittskriterium zwar von dem Stand der Produktivkräfte repräsentiert wird, daß aber neben ihm weitere Kriterien zu berücksichtigen sind, die erst in ihrer Einheit eine angemessene Beurteilung des historischen Charakters einer Gesellschaft ermöglichen. Die Grundlage der gesellschaftlichen Existenz bildet die Produktionsweise des materiellen Lebens mit ihren zwei Komponenten, den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Die Produktionsverhältnisse verändern und entwickeln sich in Abhängigkeit von den Produktivkräften; zugleich unterliegen sie dem Einfluß des politischen Überbaus der Gesellschaft und können den Entwicklungserfordernissen der Produktivkräfte zeitweilig widersprechen. Da in den Produktionsverhältnissen die grundlegenden sozialen Beziehungen der Menschen gegeben sind, kommt ihrem Charakter besondere Bedeutung für den Gesamtcharakter der Gesellschaft zu. Das Kriterium des Fortschritts — umfassend genommen — besteht nicht im Entwicklungsstand der Technik, sondern im historischen Typ der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen. In der geschichtlichen Entwicklung stimmen der Typ der Produktivkräfte und der Typ der Produktionsverhältnisse im großen und ganzen miteinander überein, doch kommt es im Entwicklungsprozeß der einzelnen Gesellschaften auch zu Unterschieden und Widersprüchen. Diese lassen erkennen, daß das Kriterium des Fortschritts nur als dialektische Einheit widersprüchlicher Momente begriffen werden kann. Die hochindustrialisierten Staaten des imperialistischen Weltsystems verfügen zweifellos über eine fortschrittliche Technik und Naturwissenschaft; hinsichtlich dieses Kriteriums repräsentieren sie eine höhere Entwicklungsstufe. Aber die Produktionsverhältnisse, die durch Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse und der anderen Werktätigen charakterisiert sind und für eine allseitige Entwicklung der Produktivkräfte mehr und mehr zu eng werden, sind bereits geschichtlich überholt und haben sich aus einst fortschrittlichen zu reaktionären Formen der gesellschaftlichen Produktion entwickelt. Da sich die Produktionsverhältnisse im gesamten geistigen und politischen Überbau der Gesellschaft ausprägen, ist die imperialistische Gesellschaft ihrem Gesamtcharakter nach bereits reaktionär, obwohl sie über eine hochentwickelte Technik verfügt. Umgekehrt können sozialistische Länder auf Grund bestimmter historischer Bedingungen eine Zeitlang in bezug auf den Stand der Arbeitsproduktivität hinter entwickelten kapitalistischen Industriestaaten zurückbleiben, obwohl sie ihnen im Charakter der Produktionsverhältnisse und der anderen gesellschaftlichen Beziehungen historisch überlegen sind. Hieran zeigt sich, daß die Kriterien des 16

MEW, Bd. 35, S. 153

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gesellschaftlichen Fortschritts komplex angewandt werden müssen, daß man nicht eine Seite des sozialen Lebensprozesses verabsolutieren darf. Zwar bilden die Produktivkräfte die letztlich bestimmende materielle Voraussetzung des gesellschaftlichen Fortschritts; doch drückt sich die Überlegenheit der höheren über die niedere Gesellschaftsformation im Wesen beider Gesellschaftsformationen aus, das die ökonomische Basis wie den geistigen und politischen Überbau der Gesellschaft umfaßt. Und diesem Wesen entsprechend, verkörpert sich der Fortschritt in der höheren Entwicklungsstufe sowohl der Produktivkräfte, der Produktionsverhältnisse wie auch des geistig-politischen Lebens der Gesellschaft. Ein Auseinandergehen der Niveaus der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse tritt in historischen Übergangsprozessen auf, in Perioden, wo sich der Übergang der alten in die neue Gesellschaft vollzieht und die alten Produktionsverhältnisse hinter den Entwicklungserfordernissen der Produktivkräfte zurückbleiben oder die Produktivkräfte nur in geringem Maße den Rahmen ausgefüllt haben, den ihnen die neuen, höheren Produktionsverhältnisse bieten. Es zeigt sich somit, daß man bei der Bestimmung der Fortschrittskriterien wesentlich auch die Beziehungen zwischen den Menschen im Auge haben muß. Die Entwicklung der Produktivkräfte, die Durchführung der gesellschaftlichen Produktion dienen der Gewährleistung der Existenz der Menschen. Diese aber geht nicht in der Befriedigung elemei tarer materieller Bedürfnisse auf, sondern schließt politische und geistige, darun er moralische Prozesse ein. Vom Standpunkt der marxistisch-leninistischen Weltanschauung aus ist die Lebenslage der breiten Massen der materiellen Produzenten, der werktätigen Klassen und Schichten, von besonderem Interesse für die Bestimmung des fortschrittlichen oder reaktionären Charakters einer Gesellschaft. Wenn eine GaBellschaft zwar hochentwickelte Wissenschaft und Technik besitzt, die Werktätigen jedoch von Wissen und Bildung ferngehalten, von der Wahrnehmung politischer Verantwortung ausgeschlossen werden und Existenzunsicherheit ihre Lebenslage kennzeichnet, dann verkörpert diese Gesellschaft nur in eingeschränkter Weise einen Fortschritt, und es gilt an der Herbeiführung solcher sozialer Zustände zu arbeiten, die vor allem die Lebenslage der breiten Massen entscheidend verbessern. In allen antagonistischen Gesellschaften ist der gesellschaftliche Fortschritt mit dem Widerspruch behaftet, zwar die Entwicklung der Produktivkräfte zu fördern, aber das Dasein der Werktätigen als Ausgebeutete und Unterdrückte nicht prinzipiell zu ändern. Hinsichtlich der Ausbeutung als soziales Verhältniss kam es in der Geschichte der antagonistischen Klassengesellschaft zu keinem Fortschritt, wenn auch die Werktätigen von der Sklavenhaltergesellschaft über den Feudalismus bis zum Kapitalismus persönliche Freiheit gewannen. Es gab bestimmte Fortschritte innerhalb der unverändert fortbestehenden Bedingungen der Ausbeutung und Unterdrückung der Produzenten. Ein wichtiges Kriterium des Fortschritts ist folglich die Stellung der Werktätigen im System der sozialen Beziehungen; sie macht einen geschichtlichen 64

Entwicklungsprozeß durch, dessen allgemeinen Inhalt K . M A R X folgendermaßen charakterisierte: „Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten Gesellschaftsformen, in denen sich die menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten Punkten entwickelt. Persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet ist die zweite große Form, worin sich erst ein System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse, und universeller Vermögen bildet. Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Produktivität, als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe." 1 7 Kriterium des Fortschritts ist — diesen Worten zufolge — die Stellung der Menschen zu den objektiven Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Existenz; diese Stellung läßt sich mit dem Begriff der Freiheit erfassen. In der Urgesellschaft waren die Menschen frei, insofern keine Unterdrückung einer sozialen Schicht durch eine andere bestand. Weitgehend unfrei aber waren die Menschen in ihrem Verhältnis zur Natur, da die Produktivkräfte äußerst gering entwickelt waren und eine Wissenschaft von den Gesetzen der Natur noch nicht existierte. Mit dem Übergang zur Klassengesellschaft gerieten die materiellen Produzenten in Unfreiheit; politische Freiheit besaßen die ökonomisch und politisch Herrschenden. Im Kapitalismus erlangten die Arbeiter und anderen Werktätigen persönliche Unabhängigkeit, aber es herrschte sachliche Abhängigkeit — die Menschen wurden von den gesellschaftlichen Mächten (Ware, Geld usw.) beherrscht, statt sie zu beherrschen. Erst im Sozialismus/Kommunismus k o m m t es mit der Überwindung der Herrschaft sachlicher Mächte zur freien Entwicklung der Individualität, gegründet in der ökonomischen und politischen Herrschaft der Arbeiterklasse. Somit ist die Freiheit als Kriterium des Fortschritts einer widerspruchsvollen Entwicklung unterworfen, und dieses Kriterium m u ß wie die anderen Fortschrittskriterien dialektisch, d. h. historisch konkret angewandt werden. Das gilt auch vom moralischen Fortschritt. Die naturwüchsige Sittlichkeit der Urgemeinschaft wurde mit dem A u f k o m m e n der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen von solchen moralischen Triebfedern wie Egoismus, Gewinnstreben, List usw. abgelöst, und wesentlich nur die Unterdrückten praktizierten moralische Verhaltensweisen wie Solidarität, Gemeinschaftsdenken usw. Man darf jedoch die in den Ausbeutergesellschaften herrschenden moralischen Prinzipien nicht nur als Rückschritt hinter die urkommunistische Sittlichkeit betrachten, da sie ein Handeln stimulierten, das — wenn auch in widerspruchsvoller Weise — zur Entwicklung der Produktivkräfte beitrug. In bestimmter Beziehung ein Rückschritt, stellte die Entwicklung der Moral zugleich einen Fortschritt dar, war sie eingebettet in den geschichtlichen Prozeß des Heranreifens 17

K, MARX, G r u n d r i s s e d e r Kritik d e r politischen Ö k o n o m i e , Berlin 1953, S. 75

5 Red low Stiehk'r

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der Voraussetzungen für den Übergang zur freien, humanistischen Gesellschaft des Sozialismus/Kommunismus. Die letztgenannten Tatsachen verdeutlichen, daß man einerseits die Kriterien des Fortschritts auf eine Gesellschaft als Ganzes anwenden muß, daß es aber andererseits zugleich erforderlich ist, spezielle Kriterien zu benutzen, die dem Verständnis der Entwicklung einzelner Bereiche des gesellschaftlichen Lebens dienen. So wie diese Bereiche durch eine relative Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit ihrer Entwicklung gekennzeichnet sind, unterliegen sie auch relativ eigenständigen Kriterien des Fortschritts. Die Entwicklung der einzelnen Wissenschaften, der Philosophie, der Kunst, der Politik, des Rechts usw. steht mit der Entwicklung der materiellen Basis der Gesellschaft in einem vielfältig vermittelten Zusammenhang. Gleichzeitig vollzieht sie sich nach inneren Erfordernissen des jeweiligen Bereichs, durch Ausgehen von dem vorgefundenen Stand und durch dessen Negation. Auf dem Gebiet der Wissenschaft besteht der Fortschritt in der immer tieferen und allseitigeren Erfassung der objektiven Realität; das Fortschrittskriterium ist durch das Maß der objektiven Wahrheit gegeben. In der Philosophie vollzieht sich die Entwicklung als Kampf zwischen Materialismus und Idealismus, Dialektik und Metaphysik. Fortschrittskriterium ist die Tiefe der philosophischen Erkenntnis von Natur, Gesellschaft und Denken als eine spezifische Form der Akkumulation von objektiver Wahrheit. In der Kunst liegt das Fortschrittskriterium in der künstlerischen Widerspiegelung der jeweiligen objektiven Wirklichkeit in ihrem spezifischen historischen Charakter, unter Berücksichtigung der Volkstümlichkeit und gesellschaftlich aktivierenden Wirkung der Kunst. In dieser Weise lassen sich weitere Kriterien des Fortschritts für die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens angeben. Sie besitzen einen komplexen Charakter und stehen, als Elemente einer größeren Komplexität, mit jenen Fortschrittskriterien in enger Verbindung, die den Entwicklungsstand der Gesamtgesellschaft kennzeichnen.

4. Der Fortschritt in der sozialistischen Gesellschaft In den antagonistischen Klassengesellschaften setzt sich der Fortschritt in widerspruchsvoller Weise durch. Auf der Grundlage der Antagonismen zwischen den Klassen und der dadurch bedingten feindlichen Stellung der Völker und Nationen zueinander verläuft der Fortschritt stockend, mit Rückschritten gepaart und wird oft mit Leiden für die Volksmassen erkauft. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln, die Ausbeutung der Werktätigen bringen es mit sich, daß die materiellen Produzenten nur in geringem Maße an den Ergebnissen des Fortschritts in der materiellen Produktion partizipieren. Die Anarchie der Produktion, die Spontaneität der Realisierung grundlegender sozialer Prozesse führen dazu, daß der Fortschritt in den einzelnen Ländern und in den verschiedenen Bereichen des 66

gesellschaftlichen Lebens ungleichmäßig verläuft und sich unter Vergeudung von sachlichen und menschlichen Produktivkräften vollzieht. Demgegenüber weist der Fortschritt in der sozialistischen Gesellschaft Merkmale auf, die, aus dem Wesen dieser Gesellschaft herrührend, die Überlegenheit der sozialen Entwicklung in der kommunistischen Gesellschaftsformation im Vergleich mit der in feindliche Klassen gespaltenen Gesellschaft dokumentieren. Diese Überlegenheit beruht auf der Überwindung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, auf den Beziehungen echter Gemeinsamkeit zwischen den sozialistischen Ländern, auf der Bewußtheit der gesellschaftlichen Entwicklung. Im Sozialismus zeichnet sich der Fortschritt in Produktion, Politik, in den sozialen Beziehungen, in der materiellen und geistigen Kultur usw. durch Planmäßigkeit aus, und er wird mittels der Bewußtheit der Massen verwirklicht. Die Gemeinsamkeit der grundlegenden Interessen der Klassen und Schichten der Gesellschaft ermöglicht es, daß alle Werktätigen ihre Energie, ihre schöpferischen Fähigkeiten in den Dienst der allseitigen Entwicklung des jeweiligen Tätigkeitsgebietes stellen können. Da die persönlichen und die gesellschaftlichen Interessen sich in Übereinstimmung befinden, wird der Einzelne dazu angeregt, seinen Beitrag zur Entwicklung des materiellen und geistigen Reichtums der Gesellschaft zu leisten. Das Bewußtsein der Übereinstimmung der Interessen wird zu einer bedeutenden Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Wegfall der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Verwirklichung der freien sozialistischen Arbeit bilden das Unterpfand der enormen wirtschaftlichen Entwicklung, deren Tempo dem im Kapitalismus weit überlegen ist. Zu dieser Überlegenheit trägt die Planmäßigkeit der Gestaltung der ökonomischen und der anderen sozialen Grundprozesse bei. Auf der Grundlage vergesellschafteter Produktion, bei Bestehen des sozialistischen Eigentums wird die Planmäßigkeit zu einem objektiven Erfordernis. Während sich im Kapitalismus die Planmäßigkeit im Rahmen der betrieblichen Tätigkeit und die Nicht-Planmäßigkeit im Rahmen der betrieblichen Tätigkeit und die Nicht-Planmäßigkeit, die Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion, gegenüberstehen, wird im Sozialismus auf allen Ebenen des wirtschaftlichen und des gesellschaftlichen Prozesses eine planmäßige Entwicklung vollzogen. Planmäßigkeit der Entwicklung schließt ein, daß Disproportionen, Vergeudung von Produktionsmitteln, Nichtauslastung von Produktionskapazitäten auf ein Minimum beschränkt bzw. ganz ausgeschaltet werden. Die Entwicklung der Produktion vollzieht sich gemäß Zielsetzungen, die unter Berücksichtigung der Relation von Erfordernissen und Möglichkeiten, bei echter Mitplanung der Werktätigen, unter Führung der Partei der Arbeiterklasse beraten und festgelegt werden. Im Sozialismus ist die Entfremdung zwischen den Produzierenden und den Zielen der Produktion, wie sie die antagonistischen Gesellschaften kennzeichnet, überwunden. Daraus gehen bedeutende Entwicklungstriebkräfte hervor. Die 5'

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Produktion wird nicht mehr zwecks Gewährleistung der Partikularinteressen ausbeutender Minoritäten betrieben, sondern dient der Sicherung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Werktätigen. Der Fortschritt verliert damit die Eigenschaft, denen entfremdet zu sein, die seine materiellen Grundlagen schaffen; er fallt unmittelbar mit den Interessen und Bedürfnissen der werktätigen Massen zusammen. Dies ist eine bedeutende Errungenschaft des Sozialismus; erst jetzt gilt, daß „der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleicht, der den Nektar nur aus den- Schädeln Erschlagener trinken wollte" 18 ! Durch die Machtergreifung der Arbeiterklasse wurde jene verhängnisvolle Seite des Fortschritts außer Kraft gesetzt, die in der Opferung von Generationen werktätiger Produzenten für eine Entwicklung bestand, deren Ergebnisse nur Minoritäten zugute kamen. Im Sozialismus wird das Individuum nicht mehr einem verselbständigten, entfremdeten Gang des historischen Prozesses sklavisch untergeordnet; die Gattung entwickelt sich nicht durch Preisgabe der Individualität, sondern alle Anstrengungen für den sozialen Fortschritt zielen letzten Endes auf die Sicherung der Belange des Einzelmenschen, haben die allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit zum Bezugspunkt. Damit ist der Antagonismus zwischen Individuum und Gattung, der im Klassenantagonismus seine Grundlage besitzt, überwunden und durch ein Verhältnis produktiver Wechselwirkung ersetzt worden. K. M A R X stellte fest, daß die „Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und gar Menschenklassen macht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfallt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums" 1 9 . Der historische Fortschritt in der sozialistischen Gesellschaft zeichnet sich mithin durch die neue Stellung des Individuums im sozialen Gesamtprozeß aus. Das Individuum ist nicht mehr Mittel für ihm fremde Zwecke, sondern seine allseitige Entwicklung wird selbst der höchste Zweck. Da die persönlichen und die gesellschaftlichen Interessen ihrem Wesen nach übereinstimmen, so kommen alle Anstrengungen der Klassen in der sozialistischen Gesellschaft zur Stärkung und Entwicklung des Sozialismus jedem einzelnen zugute. In diesem Prozeß erfolgen ständig die Entstehung und Lösung nichtantagonistischer Widersprüche. Wie überall in der Realität ist auch im Sozialismus die Entwicklung an den Bewegungsprozeß von Widersprüchen geknüpft. D a ß dies nichtantagonistische Widersprüche sind, ist eine der Voraussetzungen der neuen, höheren Qualität der Entwicklung im Sozialismus gegenüber der antagonistischen Klassengesellschaft. Der Antagonismus ist in den in feindliche Klassen gespaltenen Gesellschaften Bewegungs- und Entwicklungstriebkraft. Die Funktion, Stachel der Entwicklung zu sein, ist das Dominierende; doch treten in der Bewegung 18

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MEW, Bd. 26. 2, S. 111

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der Widersprüche auch retardierende Momente auf. Dies ergibt sich daraus, daß der zur Entwicklung drängenden Seite stets eine die Entwicklung hemmende Seite gegenübersteht. Daraus geht eine Verzögerung des Entwicklungstempos hervor. Im Sozialismus haben die Widersprüche auf Grund der Übereinstimmung der wesentlichen Interessen der Klassen und Schichten nichtantagonistischen Charakter. Alle Klassen und Individuen sind im Prinzip in der gleichen Weise am Fortschritt der sozialistischen Gesellschaft interessiert; es gibt keine sozialen Kräfte, die ein objektives Interesse an einem Aufhalten der Entwicklung oder gar an einer Rückkehr zu den Verhältnissen der Ausbeutergesellschaft haben. Deswegen sind die Widersprüche auf dem Boden der bestehenden Gesellschaft lösbar und spitzen sich in der Regel nicht zu einem die Gesellschaft erschütternden Konflikt zu. Die Widersprüche in der sozialistischen Gesellschaft sind, sofern sie als Triebkraft der Entwicklung wirken, ihrem allgemeinen Charakter und durch das Verhältnis von Neuem und Altem charakterisiert. Dieses Verhältnis, so heftig es mitunter ausgetragen wird, verkörpert keinen Antagonismus; ihm liegt die soziale Interessenübereinstimmung zugrunde. Daß sich ein Spannungsverhältnis zwischen Neuem und Altem entwickelt, daß das Neue sich nicht ad hoc durchsetzt, hängt mit den spezifischen objektiven und subjektiven Bedingungen zusammen, unter denen Neues und Altes jeweils auftreten. Die Überlegenheit der Entwicklung im Sozialismus gegenüber antagonistischen Gesellschaften beruht im prinzipiellen Interesse aller Klassen und Schichten an dem ständigen Entstehen und Verallgemeinern von Neuem in Produktion, Wissenschaft, Kunst usw. Die Offenheit der Gesellschaft für alles die Entwicklung fördernde Neue führt zu einem maximalen Entwicklungstempo. Gewiß gibt es mitunter Hemmnisse objektiver und subjektiver Art für das Entstehen und Verallgemeinern von Neuem, und das Neue verlangt oft harten persönlichen Einsatz des Einzelnen und der Kollektive. Aber dem Wesen der Sache nach fördern die sozialistischen Verhältnisse das breite Entstehen neuer Ideen, Verfahren, Methoden, Erkenntnisse usw., und die Partei der Arbeiterklasse richtet ihre Tätigkeit darauf, günstige Voraussetzungen für das Neue, Höhere, Bessere zu schaffen und den Widerstand von Konservatismus, Trägheit, Routine zu überwinden. Die Beseitigung des antagonistischen Charakters der gesellschaftlichen Entwicklung, die Verwirklichung von Planmäßigkeit im sozialen Geschehen bedingen das Verschwinden jener Ungleichmäßigkeiten, die den historischen Fortschritt in der antagonistischen Klassengesellschaft kennzeichnen. Dies gilt insbesondere für die Etappe des entwickelten, reifen Sozialismus. Hier verwirklichen die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens — von der ökonomischen Basis bis zum politisch-ideologischen Überbau — einen solchen Zusammenhang untereinander, daß eine Entwicklung auf wesentlich gleichem Niveau erfolgt, wodurch ein Höchstmaß produktiver Wechselbeziehungen gewährleistet ist. 69

Während in den vorangegangenen Entwicklungsabschnitten der sozialistischen Gesellschaft noch bestimmte Widersprüche zwischen den verschiedenen Zweigen der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit auftraten, die aus ungleichen Entwicklungsniveaus resultierten, zeichnet sich der entwickelte Sozialismus dadurch aus, daß der ganzheitliche Charakter der sozialistischen Gesellschaft zu immer besserer Wirkung gelangt. Indem die verschiedenen Bereiche dem Wesen nach gleiche Entwicklungsniveaus repräsentieren, vollzieht sich die Gesamtentwicklung der Gesellschaft effektiver und die Vorzüge des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus kommen in der Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus allseitig zur Wirkung. Das trägt zu einer Beschleunigung des Entwicklungstempos der Gesellschaft im Interesse der immer besseren Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Werktätigen bei. Die Herbeiführung einer echten Gleichmäßigkeit im Gesamtprozeß des historischen Fortschritts macht sich mehr und mehr auch im Verhältnis der sozialistischen Staaten untereinander bemerkbar. In der antagonistischen Klassengesellschaft bedingt die Ausbeutung der einen durch die andere Klasse auch Beziehungen der Ausbeutung und Unterdrückung zwischen den Völkern. Dadurch wird die Entwicklung der unterdrückten Völker in hohem Maße erschwert, und die Gesamtentwicklung der Menschheit verzögert sich auf Grund der hemmenden Momente des Antagonismus. Im Sozialismus schwindet mit der Überwindung feindlicher Beziehungen zwischen den Klassen innerhalb der Gesellschaft auch der Antagonismus zwischen den Nationen. Die Völker der sozialistischen Staatengemeinschaft gehen dazu über, ihre ökonomischen, politischen und geistigen Aktivitäten zu koordinieren und sie gemeinsamen Zielstellungen unterzuordnen. Nationaler Hader, Zwietracht, Mißgunst werden überwunden, und die Beziehungen zwischen den Angehörigen der einzelnen Völker sind von den Prinzipien des sozialistischen Humanismus bestimmt. Zwar ist der Weg zu einer tatsächlichen Übereinstimmung der Entwicklungsniveaus der sozialistischen Staaten, zur Beseitigung wesentlicher Unterschiede in den nationalen Existenzbedingungen kompliziert und langwierig, da die Ausgangspositionen der verschiedenen Nationen z. T. erheblich voneinander abweicheh. Aber das Beispiel der UdSSR zeigt, daß solche Unterschiede erfolgreich abgebaut und schließlich überwunden werden können, und es entwickeln und vertiefen sich die Beziehungen zwischen den souveränen Staaten innerhalb der sozialistischen Gemeinschaft. Das Entscheidende ist die aus den gleichen klassenmäßigen, sozialen Bedingungen hervorgehende, immer enger werdende Zusammenarbeit der sozialistischen Länder, die gewaltige Kraftreserven für die Entwicklung jedes einzelnen Landes und der sozialistischen Staatengemeinschaft als Ganzes freisetzt. Somit zeigen die Tatsachen, daß sich der historische Fortschritt in der sozialistischen Gesellschaft durch Planmäßigkeit, Proportionalität, Stetigkeit auszeichnet und daß er jenen zugute kommt — den werktätigen Klassen und 70

Schichten der sozialistischen Gesellschaft —, die ihn vollziehen. Durch die Überwindung der Antagonismen kann der Fortschritt von retardierenden Faktoren befreit werden und ein Tempo erlangen, das dem in der antagonistischen Klassengesellschaft überlegen ist. Ein hohes Entwicklungstempo kennzeichnet den Prozeß des weiteren Wachstums der Produktivkräfte, der Vervollkommnung aller gesellschaftlichen Verhältnisse und damit des Schaffens der Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus. Mit ihm erst beginnt die eigentliche Geschichte der Menschheit, weil allseitig menschliche Verhältnisse herrschen, weil die Individuen nicht Opfer, sondern Nutznießer des historischen Fortschritts sind und weil die Völker, brüderlich verbunden, der gemeinsamen Wohlfahrt nachstreben. Mit der Verwirklichung der historischen Mission der Arbeiterklasse im Weltmaßstab — der Schaffung der kommunistischen Gesellschaft — schließt eine ganze Epoche der Menschheitsgeschichte ab, und es beginnt eine neue, in der der Fortschritt neue Züge annehmen wird. Während bislang die Menschheit noch im Prozeß der Schaffung solcher Existenzbedingungen begriffen war, die eine wahrhaft allseitige Entwicklung des Menschen gewährleisten, fußt der Kommunismus gerade auf dem Vorhandensein dieser Existenzbedingungen. Damit setzt die eigentliche Geschichte der menschlichen Persönlichkeit ein, die nunmehr, befreit von allen Antagonismen und Restriktionen, allen Reichtum des menschlichen Wesens auf der Grundlage allseitig entwickelter gesellschaftlicher Beziehungen entfalten kann.

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Alfred Lange/Werner Tschannerl Zu einigen philosophischen Grundproblemen der Triebkräfte in der sozialistischen Gesellschaft

Die wissenschaftliche Bestimmung der Triebkräfte des sozialistischen Aufbaus durch den dialektischen und historischen Materialismus ist eine Aufgabe, die ständig einen Hauptinhalt philosophischer Arbeit bildete und in der gegenwärtigen Etappe des Aufbaus der entwickelten sozialistischen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt, dient sie doch der immer besseren Gestaltung der sozialistischen Ordnung durch die Werktätigen unter Führung der Partei der Arbeiterklasse. So forderte K . HAGER, „in der philosophischen Forschung stärker als bisher von den realen Prozessen des gesellschaftlichen Lebens, von den konkreten Arbeitsund Lebensbedingungen, von den Widersprüchen bei der Gestaltung der entwikkelten sozialistischen Gesellschaft und von den Erfordernissen des Klassenkampfes" 1 auszugehen. Mit der „Analyse des Wirkens der Widersprüche als Triebkraft und Quelle der sozialistischen Gesellschaftsentwicklung" leistet die marxistisch-leninistische Philosophie einen Beitrag für die Vertiefung des Verständnisses der Werktätigen „für die Richtigkeit der Politik der Partei". 2 Ausgangspunkt für eine wissenschaftliche Bestimmung der gesellschaftlichen Triebkräfte im allgemeinen und der sozialistischen Gesellschaft im besonderen sind die materialistische Dialektik und die materialistische Geschichtsauffassung. In der Gesellschaft kommt Entwicklung nur durch die Tätigkeit der Menschen zustande, d. h., Existenz und Entfaltung dialektischer Widersprüche sind direkt mit den gesellschaftlich handelnden Menschen verbunden. Materialistisch-dialektisches Verständnis des Handelns der Menschen heißt einmal, die materielle Produktionstätigkeit — ihrem Charakter nach stets widersprüchlich — als seine Grundlage zu bestimmen; zum anderen: historisch relevantes Handeln in der Aktion der Volksmassen, in der Wirksamkeit sozialer Klassen zu suchen heißt — in Verbindung hiermit — seine Bestimmtheit durch objektive Gesetz1 K. HAGER, Die entwickelte sozialistische Gesellschaft, Aufgaben der Gesellschaftswissenschaftler nach dem VIII. Parteitag der S E D , Referat auf der Tagung der Gesellschaftswissenschaftler am 14. Oktober 1971 in Berlin, Berlin 1971, S. 13 2 K. HAGER, Die Politik der Partei und die Aufgaben der Philosophie, in: Neues Deutschland vom 17. 4. 1974, S. 5

marxistisch-leninistischen

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mäßigkeiten zu erkennen und verlangt schließlich, die die Tätigkeit der Menschen leitenden Beweggründe, ihre Interessen und Bedürfnisse, aus objektiven gesellschaftlichen Bedingungen abzuleiten. Hiervon ausgehend, sollen zwei grundsätzliche Probleme der philosophischen Erfassung von Entwicklungsprozessen in der sozialistischen Gesellschaft analysiert werden: einmal die Funktion der objektiven Widersprüche als Quelle und Triebkraft sozialistischer Entwicklung und zum anderen Aspekte des gesellschaftlichen Handelns der Werktätigen als sozialer Kraft der Entfaltung und Lösung der objektiven Widersprüche im Sozialismus.

1. Zur Funktion der objektiven gesellschaftlichen Widersprüche als Quelle und Triebkraft sozialistischer Entwicklung In der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft bilden die objektiven dialektischen Widersprüche — wie in jeder Gesellschaftsformation — die Quelle und grundlegende Triebkraft ihrer Entwicklung. Sie besitzen jedoch gegenüber den Widersprüchen der auf Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruhenden Klassengesellschaft einen grundsätzlich anderen sozialen Inhalt, der sämtliche Triebkräfte des Sozialismus prägt. Es handelt sich bei den Entwicklungswidersprüchen des Sozialismus um nichtantagonistische Widersprüche. Diese erwachsen auf dem Boden grundsätzlicher objektiver Gemeinsamkeit des Handelns der den Sozialismus tragenden sozialen Kräfte, vor allem der Arbeiterklasse, der Genossenschaftsbauern und der sozialistischen Intelligenz, basierend auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln. Ihr Klasseninhalt unterscheidet sich völlig von dem der für den Kapitalismus typischen antagonistischen Widersprüche. Antagonistische Widersprüche sind der unmittelbare oder mittelbare Ausdruck der Stellung unversöhnlich entgegengesetzter Klassen in der Gesellschaft. Nichtantagonistische Widersprüche bringen Gegensätze zwischen Klassen und sozialen Schichten zum Ausdruck, die durch wesentliche gemeinsame Interessen gekennzeichnet sind. Sie entstehen somit im Sozialismus im gemeinsamen Kampf der Werktätigen um die Entwicklung und Vervollkommnung der sozialistischen Gesellschaft. Antagonismus und Widerspruch dürfen dementsprechend nicht identifiziert werden. Der Klassenkampf als grundlegende Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung in der Klassengesellschaft ergab sich aus deren Antagonismus. Im Verlauf der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus wird er von anderen Triebkräften verdrängt, die sich aus den sozialistischen Produktionsverhältnissen ergeben und daher dem Kapitalismus wesensfremd sind. Mit dem Übergang zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft sind die diesen Prozeß bestimmenden Widersprüche nichtantagonistischen Charakters, da mit dem Sieg 74

der sozialistischen Produktionsverhältnisse die grundlegenden Antagonismen der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus gelöst wurden. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, daß in unserer Epoche die nichtantagonistischen Widersprüche keineswegs getrennt von den antagonistischen wirken, sondern daß beide in einer komplizierten dialektischen Wechselbeziehung stehen. Im Weltmaßstab bleiben die antagonistischen Widersprüche die bestimmenden, und damit ist der Klassenkampf der internationalen Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie die Triebkraft des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab. Seine Triebkraftfunktion verliert also der Klassenkampf nur für die Entwicklung innerhalb der sozialistischen Staaten und zwischen ihnen. Hier wurden die nichtantagonistischen Widersprüche zu den herrschenden. Da der sozialistische Aufbau jedoch nicht losgelöst vom Weltprozeß verläuft, wirkt der internationale Klassenkampf auch modifizierend auf die nichtantagonistischen Widersprüche in der Entwicklung der sozialistischen Staaten ein, wobei der ideologische Klassenkampf zunehmend an Bedeutung gewinnt. Damit erhöht sich auch die Rolle des sozialistischen Bewußtseins im Kampf gegen die bürgerliche Ideologie. Zur Klarstellung des Verhältnisses von antagonistischen und nichtantagonistischen Widersprüchen trug wesentlich eine im internationalen Rahmen in der Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus" 1972/73 geführte Diskussion bei, zu deren Abschluß eine internationale Forschungsgruppe festhielt : „Die Formen der Äußerung und die Methoden zur Lösung der Widersprüche können sich je nach den objektiven Bedingungen wie auch nach dem Grad der Übereinstimmung des subjektiven Faktors mit ihnen verändern. Aber die Natur der Widersprüche, ihr (antagonistischer oder nichtantagonistischer) Charakter können durch nichts anderes bestimmt werden als durch die Natur der Gesellschaft selbst, durch die der Gesellschaft eigenen Klassenverhältnisse." 3 Man kann daher z. B. J. KUCZYNSKI nicht zustimmen, der, indem er antagonistische und nichtantagonistische Widersprüche nicht nach ihrem sozialen Charakter unterscheidet, sondern sie nach Besonderheiten ihrer Lösung charakterisiert, in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft antagonistische Widersprüche postulierte, wobei die in der marxistisch-leninistischen Philosophie allgemein anerkannte Begriffsbestimmung des antagonistischen Widerspruchs verwischt wurde. 4 Die fehlerhafte Identifizierung von Widerspruch und Antagonismus nehmen revisionistische und bürgerliche Philosophen oftmals zum Ausgangspunkt, um so letztlich die spezifischen Triebkräfte der sozialistischen Gesellschaft leugnen zu können. Diese falsche Auffassung — Ignorierung der Bedeutung der Übereinstimmung der Völker der sozialistischen Staatengemeinschaft und der revolutionären Kräfte in der Welt für die gesellschaftliche Entwicklung und die damit 3

Probleme des Friedens und des Sozialismus, Heft 4, 1973, S. 457

4

Vgl. J. KUCZYNSKI, Gesellschaftliche Widersprüche, in: D Z f P h , Heft 10, 1972

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verbundene verabsolutierende Einschätzung der Widersprüche in der internationalen Arbeiterbewegung — liegt z. B. der Politik der chinesischen Führer zugrunde. Die chinesische Führung diskreditiert die Einheit und Geschlossenheit der kommunistischen Weltbewegung als Stagnation. Nach ihrer Ansicht ist allein der Kampf Moment des Fortschritts. So erklärte M A O TSE-TUNG schon in den fünfziger Jahren: „Die von uns im Alltagsleben zu beobachtende Einheit, Geschlossenheit, Verbundenheit, Harmonie, . . ., die Stagnation, . . . usw. — all das sind Erscheinungen der Dinge, die sich im Zustand quantitativer Veränderungen befinden, während die Spaltung des Einheitlichen und die Störung des Zustandes der Geschlossenheit, Verbundenheit, Stabilität, . . . , der Stagnation, . . . und ihr Übergang in den entgegengesetzten Zustand Erscheinungen der Dinge darstellen, die sich im Zustand qualitativer Veränderungen befinden, . . ." 5 Aus dieser unmarxistischen Identifizierung von Einheit und Stagnation zogen die Maoisten die politische Konsequenz, es sei notwendig, die kommunistische und Arbeiterbewegung ständig zu spalten. Auch der Jesuitenpater G. A. WETTER ging von der Reduzierung des Widerspruchs auf seine Wirkungsweise in der bürgerlichen Gesellschaft aus, um die Unhaltbarkeit der Entwicklungstheorie des dialektischen Materialismus und damit der marxistischen Auffassung von den Triebkräften der sozialistischen Gesellschaft nachzuweisen. Dieses Unverständnis der sozialistischen Entwicklung kam z. B. darin zum Ausdruck, daß er schrieb: „Und wenn Dialektik Bewegung bedeutet, die durch den inneren Widerspruch ausgelöst wird, müßte es auch in der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft innere Widersprüche, also Klassenkampf geben." 6 Ebenfalls wurde dies in seiner Fragestellung deutlich: „Wie aber kann es im Sozialismus und Kommunismus noch eine dialektische Weiterentwicklung geben, wenn es keinen Klassenkampf mehr gibt?" 7 In die gleiche Richtung gingen auch Bemühungen E . FISCHERS in einem Interview mit dem Fernsehen der BRD, in dem er erklärte: „Die moderne Gesellschaft ist unter allen Umständen widerspruchsvoll. Der Widerspruch ist ein vorwärtstreibendes Prinzip, und diesen Widerspruch braucht auch die sozialistische Gesellschaft, sie muß ihn zur Geltung kommen lassen." 8 Letztlich führt diese Gleichsetzung der Widersprüche des Kapitalismus mit denen des Sozialismus zur Konvergenztheorie, wie dies K. HAGER bereits 1968 auf dem PhilosophenKongreß der DDR nachwies.9 5

MAO TSE-TUNG, Über den Widerspruch, Berlin 1956, S. 53

6 G . A. WETTER, Die Umkehrung HEGELS — Grundzüge und Ursprünge der Sowjetphilosophie, Beiträge zur Sowjetologie, Bd. 1, Köln 1964, S. 81 7 G . A. WETTER, Sowjetideologie heute, Bd. I, Dialektischer und historischer Materialismus, F r a n k f u r t a. M . / H a m b u r g 1962, S. 234 8 Zitiert in: K. HAGER, Die philosophische Lehre von KARL MARX und ihre aktuelle Bedeutung, Philosophischer Kongreß der D D R 1968, Berlin 1968, S. 22 9

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Vgl. ebenda, S. 23

Für die sozialistische Phase der kommunistischen Gesellschaftsformation sind nicht Antagonismen kennzeichnend, sondern die Tatsache, daß der Klassenantagonismus und mit ihm der Klassenkampf im Innern durch die grundlegende Übereinstimmung aller Klassen und Schichten abgelöst wird. Indem ihre Interessengemeinsamkeit notwendig aus den materiellen sozialistischen Produktionsverhältnissen erwächst — denn die ökonomischen Verhältnisse stellen sich zunächst dar als Interessen (ENGELS) —, kennzeichnet sie objektiv den nichtantagonistischen Charakter der sozialistischen Widersprüche. Die Übereinstimmung der Grundinteressen der Werktätigen ermöglicht, indem sie die Spezifik der Entfaltung und Lösung der nichtantagonistischen Widersprüche zum Ausdruck bringt, die bewußte und planmäßige Lösung dieser Widersprüche. Die Widersprüche im Sozialismus können und müssen von den Werktätigen, unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei, zunehmend bewußt und planmäßig aufgedeckt und gelöst werden, was jedoch ihren objektiven Charakter nicht aufhebt und die Tatsache einschließt, daß dieser Prozeß keineswegs glatt und automatisch verläuft, sondern Schwierigkeiten und Komplikationen aufweist. Prinzipiell werden die Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft innerhalb dieser Ordnung gelöst. Sie führen letztlich dazu, daß sich diese Ordnung festigt und höher entwickelt. Auf der Grundlage sozialistischer Produktionsverhältnisse und der aus ihnen resultierenden objektiven Übereinstimmung der Grundinteressen der Klassen und Schichten sowie der individuellen und gesellschaftlichen Interessen erwächst die Vielfalt der Triebkräfte schöpferischer Initiative der Werktätigen. Diese neue, höhere Qualität der gesellschaftlichen Beziehungen und damit der Prozesse der Entstehung, Entfaltung und Lösung von Widersprüchen ist bei einer Postulierung von Antagonismen in der Etappe der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft nicht mehr zu erfassen. Dementsprechend betonte K. HAGER, daß die Anschauung zurückzuweisen sei, „die behauptet, es gäbe in der sozialistischen Gesellschaft antagonistische Widersprüche. Sie beruht auf einer völligen Verkennung der neuen Qualität der gesellschaftlichen Beziehungen, die der Sozialismus hervorgebracht hat, und der Wege und Methoden, mit denen unter den neuen historischen Bedingungen der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe Widersprüche gelöst und Schwierigkeiten überwunden werden." 1 0 W. I. LENIN betonte, daß Antagonismus und Widerspruch durchaus nicht identisch sind. Während ersterer verschwinde, bleibe letzterer im Sozialismus bestehen. Quelle und Triebkraft der sozialistischen Entwicklung sind also die objektiven nichtantagonistischen Widersprüche der sozialistischen Produktionsweise, indem ihr Bewegungsprozeß allen gesellschaftlichen Triebkräften des 10 K. HAGER, Die Politik der Partei Philosophie, S. 5

und die Aufgaben der

marxistisch-leninistischen

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Sozialismus zugrunde liegt und diesen die Richtung gibt. Diese Triebkraftfunktion besitzen die objektiven Widersprüche des Sozialismus in allen ihren Entwicklungsetappen — in ihrer Entstehung, Entfaltung und Lösung bzw. Überwindung. In der marxistischen philosophischen Literatur ist einerseits zuweilen der Standpunkt anzutreffen, nur die Lösung der Widersprüche, ihre Überwindung, sei Triebkraft; und zum anderen vertreten einige marxistische Philosophen die Ansicht, daß die Widersprüche nur bis zu dem Zeitpunkt vorwärtstreiben, wo sie das Stadium der Reife erlangt haben; ein reifer Widerspruch werde zum Hemmnis für den Fortschritt. Die Reduzierung der Triebkraftfunktion auf die Lösung des Widerspruchs wird so begründet: Aus der Ansicht, der Widerspruch selbst sei bereits Quelle und Triebkraft der Entwicklung, folge notwendigerweise, daß man nicht für seine Lösung zu kämpfen brauche. Diese Schlußfolgerung ergibt sich aber keineswegs zwingend. Zu ihr gelangt man nur, wenn fälschlicherweise angenommen wird, der Widerspruch sei im Stadium seiner Entstehung vom Handeln der Menschen losgelöst. Jedoch sowohl Entstehung als auch Entwicklung und Lösung des Widerspruchs liegen im Handeln der Menschen selbst und treiben die Entwicklung vorwärts. Der Standpunkt, daß nur die Überwindung der Widersprüche Triebkraftfunktion besitze, impliziert eine Gleichsetzung von Entwicklungswidersprüchen mit Hemmnissen usw. Die Vertreter einer Negierung der treibenden Kraft reifer, zu ihrer Lösung drängender Widersprüche argumentieren wie folgt: Daraus, daß der reife Widerspruch zum Hemmnis werde, ergebe sich gerade die Notwendigkeit seiner Lösung. Die Widersprüche sind aber auch dann Impuls für die Entwicklung, wenn sie sich verschärfen und damit eine Lösung erfordern. Der Standpunkt, der die Triebkraftfunktion des reifen Widerspruchs leugnet, läßt eine Kluft zwischen der Lösung des Widerspruchs und dem Widerspruch selbst entstehen. Bei der Annahme, nur die Lösung der Widersprüche sei Triebkraft, entsteht notwendig die Frage, was denn bis zum Zeitpunkt der Überwindung der Widersprüche die Quelle der Entwicklung darstellt. Auf der Grundlage der genannten Konzeption ist diese Frage nicht materialistisch-dialektisch zu beantworten, denn es müßte sich um eine äußere Kraft handeln. Aber auch die Leugnung der treibenden Rolle des reifen Widerspruchs führt letztlich zu der Annahme, daß man einen gegebenen Widerspruch nur durch eine im Verhältnis zu ihm äußerliche Kraft lösen könne. Damit wird jedoch in der Konsequenz die Bewegung als Selbstbewegung geleugnet.11 Bei beiden Konzeptionen — Reduzierung der Triebkraftfunktion des Widerspruchs auf die Phase seiner Überwindung und Negierung der treibenden Kraft des zu seiner Lösung drängenden Widerspruchs — muß also letztlich eine äußere, vom Widerspruch losgelöste Triebkraft angenommen werden. 11 Vgl. G. M. SCHTRAKS, Zur Frage der Erforschung der objektiven Dialektik des Sozialismus, in: Filosofskie nauki, Moskau, Heft 4, 1966, S. 99 (russ.)

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Der dialektische Widerspruch ist Triebkraft über den gesamten Zeitraum seiner Existenz. Entstehung, Entfaltung und Überwindung des Widerspruchs sind seine Entwicklungsetappen. Falsch wäre es, eine dieser Etappen zu verabsolutieren und allein als Triebkraft anzusehen. Durch den Prozeß der Lösung der Widersprüche werden neue Widersprüche und damit neue Triebkräfte erzeugt. Die untrennbare Einheit von Bewegung, Verwirklichung der Widersprüche und ihrer Lösung geht auch aus den Darlegungen von KARL MARX im „Kapital" über die Bewegungsform der Widersprüche hervor: „Man sah, daß der Austauschprozeß der Waren widersprechende und einander ausschließende Beziehungen einschließt. Die Entwicklung der Ware hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können. Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen. Es ist z. B. ein Widerspruch, daß ein Körper beständig in einen andren fallt und ebenso beständig von ihm wegflieht. Die Ellipse ist eine der Bewegungsformen, worin dieser Widerspruch sich ebensosehr verwirklicht als löst."12 Mit der Betonung des untrennbaren Zusammenhangs der Etappen der Entstehung, Entfaltung und Lösung der Widersprüche wenden wir uns selbstverständlich keineswegs gegen die Bedeutung der rechtzeitigen Lösung von Widersprüchen. Unter rechtzeitiger Lösung verstehen wir dabei, die Widersprüche im Stadium ihrer Reife zu lösen. Eine zu früh erfolgende Lösung z. B. würde die Entwicklungspotenzen des Widerspruchsverhältnisses abschneiden. Bei einer verspäteten Lösung kann die konservative Seite verstärkt werden. In beiden Fällen kommt die Triebkraftfunktion des Widerspruchs nicht optimal zur Wirkung. Die rechtzeitige Lösung der Widersprüche kann nur bewußt und planmäßig erfolgen. Bei einer spontan einsetzenden Lösung kommt ihre Entwicklungspotenz nicht voll zur Geltung. Wenn auch eine nicht rechtzeitige, spontan erfolgende Lösung die Triebkraftfunktion des Widerspruchs beeinträchtigt, wird sie damit nicht eliminiert. Zum Beispiel besitzt u. E. selbst ein nicht rechtzeitig verallgemeinerter und realisierter Neuerervorschlag (Form der Austragung und Lösung von Widersprüchen zwischen Neuem und Altem) noch treibende, stimulierende Bedeutung; er wird nicht zum Hemmnis der sozialistischen Entwicklung. Jedoch kann er nicht in solchem Maße als Triebkraft wirken, als wenn er rechtzeitig in die Praxis umgesetzt worden wäre. Bei aller Notwendigkeit der Zurückweisung der Identifizierung von Entwicklungswidersprüchen mit Widersprüchen, die aus Fehlern und Mängeln resultieren, ist jedoch zu beachten, daß es auch im Sozialismus Widersprüche gibt, die in der Tat als etwas Hemmendes, zu Vermeidendes angesehen werden müssen. Insbesondere für das praktische Handeln der Werktätigen ist es von großer Bedeutung, zwischen Widersprüchen, die unsere Entwicklung fördern, und solchen, 12

M E W , Bd. 25, S. I18f. -

Hervorhebung -

d. Vf.

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die sie hemmen, die es also zu verhindern gilt, zu unterscheiden, zumal da die objektiven Entwicklungswidersprüche z. T. mit solchen Widersprüchen, die durch Fehler und Mängel entstehen, verbunden sind. Solche hemmenden Widersprüche im Entwicklungsprozeß der sozialistischen Gesellschaft entstehen durch subjektive Fehlhandlungen oder durch ungünstiges Zusammentreffen objektiver Bedingungen. Das Auftreten dieser Widersprüche bringt unsere Entwicklung nicht vorwärts; sie sind also keine unmittelbaren Triebkräfte des Fortschritts und müssen von den Widersprüchen, die Entwicklungstriebkräfte darstellen, strikt unterschieden werden. Jene Widersprüche wirken primär als Hemmnisse unserer sozialistischen Entwicklung, dennoch bringt ihre Lösung die Entwicklung voran. Die Triebkraftfunktion dieser Widersprüche ist in der Tat auf die Etappe ihrer Überwindung beschränkt. Bei der These von der Reduzierung der Triebkraftwirkung der Entwicklungswidersprüche auf deren Überwindung liegt gerade eine Verwechslung mit diesen hemmenden Widersprüchen vor. Wenn wir aber von Widersprüchen als Entwicklungstriebkräften sprechen, so handelt es sich um notwendige, durch Voranschreiten entstehende und zu lösende Widersprüche. Wie ist diese vorwärtstreibende Kraft des dialektischen Widerspruchs näher zu bestimmen? K A R L M A R X und FRIEDRICH ENGELS entwickelten bereits in den Schriften „Die heilige Familie" und „Das Elend der Philosophie" einen wichtigen methodischen Grundsatz zur konkreteren Bestimmung der Triebkraftfunktion gesellschaftlicher Widersprüche, indem sie auf die Bedeutung der bestimmten Stellung der Gegensatzpole im Widerspruch hinwiesen: „Proletariat und Reichtum sind Gegensätze. Sie bilden als solche ein Ganzes. . . . Es handelt sich um die bestimmte Stellung, die beide in dem Gegensatz einnehmen. Es reicht nicht aus, sie für zwei Seiten eines Ganzen zu erklären." 1 3 Diese „bestimmte Stellung" der Gegensatzseiten wird nun, bezogen auf den antagonistischen Klassenwiderspruch, als hemmende und treibende Kraft qualifiziert: „Innerhalb des Gegensatzes ist der Privateigentümer also die konservative, der Proletarier die destruktive Partei. Von jenem geht die Aktion des Erhaltens des Gegensatzes, von diesem die Aktion seiner Vernichtung aus." 1 4 Zu beachten ist dabei, daß die Widerspruchspole nicht schlechthin als hemmend oder fördernd bestimmt werden, sondern nur in bezug auf das jeweilige konkrete Widerspruchsverhältnis. K A R L M A R X und FRIEDRICH ENGELS wiesen im „Manifest der Kommunistischen Partei" nach, daß die Bourgeoisie „in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt" hat. 1 5 Innerhalb des Klassenwiderspruchs aber zwischen Bourgeoisie und Proletariat — und der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie „beginnt mit seiner Existenz" 16 — bildet die Bourgeoisie die konservative Seite. In „Das Elend der 13

M E W , Bd. 2. S. 37

14

Ebenda

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M E W , Bd. 4, S. 464

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E b e n d a , S. 470

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Philosophie" führt K A R L M A R X dann weiter aus: „Die schlechte Seite ist es, welche die Bewegung ins Leben ruft, welche die Geschichte macht, dadurch, daß sie den Kampf zeitigt." 17 Also nicht der Klassenkampf schlechthin ist Triebkraft des Geschichtsprozesses in der antagonistischen Klassengesellschaft, sondern der Kampf der jeweils fortschrittlichen Klasse, der negativen Seite des im Klassenkampf zutage tretenden Widerspruchsverhältnisses. Dabei darf man selbstredend die Gegensatzpole nicht einander metaphysisch gegenüberstellen. Im Widerspruch zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie ist die Arbeiterklasse treibende Kraft, jedoch nur im Kampf mit der Bourgeoisie. Die Hervorhebung der Seite, welche „die Bewegung ins Leben ruft", indem sie „den Kampf zeitigt", bedeutet also keine Negierung der grundlegenden marxistischen Erkenntnis, daß der Widerspruch als Ganzes Quelle und Triebkraft der Entwicklung ist. W. I. L E N I N betonte: „Entwicklung ist ,Kampf der Gegensätze . . . Einheit der Gegensätze (Spaltung des Einheitlichen in einander ausschließende Gegensätze und das Wechselverhältnis zwischen ihnen)." 18 Dementsprechend ist stets der Widerspruch als Ganzes Triebkraft. Er kann es aber nur sein, weil jeweils eine der Gegensatzseiten das gesamte Verhältnis aktiviert und vorwärtstreibt. Dabei bleibt der Widerspruch insgesamt Quelle der Entwicklung, denn die Wechselwirkung seiner Seiten führt zur Entwicklung der progressiven Seite. So betonten K A R L M A R X und F R I E D R I C H E N G E L S auch im Zusammenhang mit der Bestimmung des Proletariats als der den Widerspruch mit der Bourgeoisie zur Auflösung treibenden Kraft, daß das Privateigentum „sich selbst" zu „seiner eigenen Auflösung" forttreibt, aber „nur durch eine von ihm unabhängige, bewußtlose, wider seinen Willen stattfindende, durch die Natur der Sache bedingte Entwicklung, nur indem es das Proletariat als Proletariat erzeugt." 19 Hier tritt nun für die Bestimmung der Rolle der Widerspruchspole nichtantagonistischer Widersprüche in der sozialistischen Gesellschaft eine grundlegende Änderung ein. Während im antagonistischen Widerspruch stets der eine Pol zur Auflösung des Widerspruchsverhältnisses drängt und der andere ständig dieses zu konservieren sucht, die Entwicklung also, hemmt, nur „wider seinen Willen" zur eigenen Auflösung „sich selbst" forttreibt, können auf der Grundlage der Übereinstimmung der wesentlichen Interessen der Werktätigen in zunehmendem Maße beide Seiten der nichtantagonistischen Widersprüche bewußt im Sinne des Fortschritts der sozialistischen Gesellschaftsordnung entwickelt werden. Dies hebt nicht die von K A R L M A R X und F R I E D R I C H E N G E L S ausgesprochene unterschiedliche Wertigkeit der Widerspruchspole auf. Betrachtet man die Wider17 18 19 6

MEW, Bd. 4, S. 140 W. I. L E N I N , Werke, Bd. 38, S. 339 MEW, Bd. 2, S. 37 R o l l o w Stichler

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Sprüche in ihrer Dynamik, in ihren Entwicklungsphasen, so zeigt sich auch in der sozialistischen Gesellschaft der Sachverhalt, daß eine Seite des Widerspruchsverhältnisses jeweils die aktivere, führende Seite darstellt, als notwendiges Merkmal eines Entwicklungswiderspruchs. Die Seite, welche die Entwicklungspotenz besonders ausgeprägt verkörpert, gerät mit dem Entwicklungsniveau des Gegenpols in Widerspruch; bei völlig gleicher Wertigkeit beider Seiten könnte keine Entwicklung zustande kommen. Beide Pole sozialistischer Widersprüche treiben zwar in ihrem Aufeinanderwirken die Entwicklung voran, sie stimulieren jedoch die sozialistische Entwicklung in unterschiedlichem Grade. Zum Beispiel wird im Widerspruch zwischen Neuem und Altem im sozialistischen Neuererwesen der Pol „Neues" (der Neuerervorschlag) als der Pol, welcher am ausgeprägtesten die Entwicklungspotenz verkörpert, die Entwicklung stärker vorantreiben als der Pol „Altes" (das bisher bewährte Produktionsverfahren o. ä.). Eine absolute Entgegensetzung der Widerspruchsseiten im nichtantagonistischen Widerspruch als fördernd und hemmend wäre falsch. Auch bei antagonistischen Widersprüchen ist dies relativ, weil die hemmende Seite gegen ihren Willen die Entwicklung voranbringt. Aber erstens muß man die Notwendigkeit beachten, das Neue, die zukunftsträchtige Seite, in den Widersprüchen des Sozialismus (die stets ein Verhältnis Neues — Altes beinhalten) zu erkennen und zu unterstützen, und zweitens wirken diese Widersprüche nicht isoliert von den im weltweiten Klassenkampf ausgetragenen Antagonismen, so daß es von grundlegender Bedeutung ist, die revolutionären Kräfte in der gesellschaftlichen Entwicklung zu bestimmen. Die progressive Widerspruchsseite zu ermitteln und mit aller Kraft zu entfalten, ist eine grundlegende Aufgabe der Partei der Arbeiterklasse und überhaupt jeder Leitungstätigkeit in der sozialistischen Gesellschaft. Um Entwicklungsprozesse beherrschen zu können, ist es unbedingt erforderlich, in der historisch-konkreten Situation exakt zu bestimmen, welche Seite die revolutionierende und welche die konservative ist bzw. — bei Widersprüchen innerhalb des Sozialismus — welche Seite die aktivere, das Neue beinhaltende, die Entwicklung des Sozialismus am stärksten vorantreibende Seite ist. Ohne Verwirklichung dieses Prinzips wären der Kampf der Arbeiterklasse unter dem Kapitalismus und der planmäßige sozialistische Aufbau kaum erfolgreich zu führen. Die Triebkräfte der sozialistischen Gesellschaft sind, wie dargelegt wurde, untrennbar mit dialektischen Widersprüchen verbunden. Es hieße, die Gültigkeit des Grundgesetzes der Dialektik von der Einheit und dem „ K a m p f der Gegensätze für den Sozialismus zu leugnen, wollte man hier Triebkräfte annehmen, die nicht mit objektiven Widersprüchen identisch sind bzw. die nicht eine Seite, ein Moment solcher nichtantagonistischen Widersprüche verkörpern. Nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse wurden zunehmend neue, bedeutende Triebkräfte der sozialistischen Entwicklung wirksam, wie die Völkerfreundschaft, die politisch-moralische Einheit des Volkes, die Übereinstimmung der persönlichen und kollektiven Interessen der Werktätigen mit 82

den gesellschaftlichen Erfordernissen usw. So betonte E. HONECKER auf der 13. Tagung des ZK der SED im Dezember 1974: „Die Übereinstimmung der gesellschaftlichen mit den persönlichen Interessen ist in der Tat zur entscheidenden Triebkraft in unserem sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern geworden." 20 Auch in der sozialistischen Gesellschaft sind Widersprüche die Quelle der Entwicklung, aber als wichtige Triebkräfte fungieren in untrennbarem Zusammenhang mit diesen die angeführten neuen Faktoren. Es ist also die Ursache (Quelle) der Entwicklung von ihren treibenden Kräften durchaus zu unterscheiden. Diese Differenzierung der Begriffe hatte bereits 1956 W. P. TSCHERTKOW gefordert, als er darlegte, die Frage nach den Triebkräften der sozialistischen Gesellschaft müsse mit der Frage nach den Quellen ihrer Entwicklung in Einklang gebracht werden, soll das Verhältnis „ K a m p f ' der Gegensätze und moralisch-politischer Einheit geklärt werden. 21 Es gilt also, den relativen Unterschied und den untrennbaren Zusammenhang zwischen der „Quelle der Entwicklung" und den „Triebkräften sozialistischen Fortschritts" zu analysieren. Die treibende Kraft der Interessenübereinstimmung usw. ist nicht mehr erklärbar, betrachtet man sie losgelöst vom Widerspruch als Quelle jeglicher Entwicklung. So wichtig und richtig auf der einen Seite die Zurückweisung einer Identifizierung von Widerspruch und Antagonismus, seiner Reduzierung auf eine antagonistische Erscheinungsweise ist, so muß andererseits betont werden, daß die Übereinstimmung der Grundinteressen in der sozialistischen Gesellschaft an die Stelle des Interessenantagonismus tritt und dabei nicht den Widerspruch ablöst, daß also die Triebkräfte der sozialistischen Entwicklung keine widerspruchslose Harmonie darstellen. 22 Die Annahme einer solchen widerspruchslosen Triebkraft würde eine metaphysische Entstellung der materialistischen Dialektik bedeuten. Einerseits dürfen Widersprüche in der sozialistischen Gesellschaft nicht losgelöst von der Übereinstimmung der Interessen betrachtet werden — sonst besteht die Gefahr einer Gleichsetzung mit antagonistischen Widersprüchen —, andererseits ist es falsch, diese Interessenübereinstimmung unabhängig von den Widersprüchen zu erforschen, denn sie wirkt nicht getrennt von und nicht neben den Widersprüchen stimulierend, sondern in unlösbarem Zusammenhang mit ihnen. KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS wandten sich gegen eine abstrakte Auffassung der Einheit der Gegensätze. In den „Theorien über den Mehrwert"

20 Aus dem Bereicht des Politbüros an die 13. Tagung des ZK der SED, Bereichterstatter: E. HONECKER, Berlin 1974, S. 7 21 Vgl. W. P. TSCHERTKOW, Die Einheit der Sowjetgesellschaft und der Kampf zwischen Neuem und Altem, in: SU-Wissenschaft, Gewi-Beitrag, Heft 8, 1956, S. 1063 22 Vgl. K. HAGER, Die philosophische Lehre von KARL MARX und ihre aktuelle Bedeutung, S. 21 f



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bemerkte MARX, daß die Einheit der Gegensätze nicht deren unmittelbare Identität bedeuten könne 23 , und in den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie" betonte er, daß die Gleichsetzung stets die mögliche Ungleichheit, die Entgegensetzung einschließe.24 Auch ENGELS stellte in der „Dialektik der Natur" fest, daß die wahre konkrete Identität den Unterschied, die Veränderung in sich einschließe.25 Die Verabsolutierung der Übereinstimmung ist also eine undialektische Auffassung. Durch sie wird der Zugang zum Verständnis der Spezifik der Triebkräfte des Sozialismus versperrt. Die Negierung der Triebkraftfunktion der Widersprüche im Sozialismus — sowohl durch die Annahme einer verabsolutierten Interessenübereinstimmung als auch durch Reduktion der objektiven Entwicklungswidersprüche auf Widersprüche, die sich aus Fehlern und Mängeln in der Leitungstätigkeit usw. ergeben — verhindert das richtige Verständnis der Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Sie desorientiert bei der Leitung der gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse (denn die objektiv im Leben vorhandenen Widersprüche werden übersehen) und hemmt somit deren rechtzeitige Lösung. Wenn Triebkräfte jene Faktoren sind, die Entwicklungsprozesse voranbringen, fördern, so nehmen die dialektischen Widersprüche unter den Triebkräften der historischen Entwicklung zweifellos einen besonderen Rang ein. Sie stellen die Quelle der Entwicklung als Selbstentwicklung dar. So kann eben eine Interessenübereinstimmung in der Gegenüberstellung zum Widerspruch, als abstrakte Identität aufgefaßt, keine Triebkraft sein; denn dies würde zur Leugnung der inneren Quelle der Selbstbewegung und damit zur Annahme einer äußeren, geistigen Kraft führen. In spezifischer Weise wirkt also der Widerspruch in der Übereinstimmung der Interessen als Quelle und Triebkraft der sozialistischen Entwicklung. Mit dem Begriff „Quelle der Entwicklung" kennzeichnen wir somit die Wurzel des gesellschaftlichen Fortschritts, das dialektisch-widersprüchliche Wesen des sozialen Lebensprozesses in der sozialistischen Gesellschaft. Die Begriffe „Widerspruch" und „Triebkraft" stehen in einem inneren Zusammenhang, sind jedoch nicht aufeinander reduzierbar. Der Begriff „Triebkraft" ist umfangmäßig weiter als der Begriff „Widerspruch". Dabei ist allerdings unbedingt zu beachten, daß die objektiven dialektischen Entwicklungswidersprüche selbstverständlich sowohl Quelle als auch Triebkraft des Fortschritts sind. Mit der Bestimmung „gesellschaftliche Triebkräfte der sozialistischen Entwicklung" erfassen wir die Gesamtheit der im praktischen gesellschaftlichen Lebensprozeß des Sozialismus wurzelnden Faktoren, die das Handeln der Klassen, 23

MEW, Bd. 26. 3, S. 84

24

Vgl. K. MARX, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 53

25

Vgl. MEW, Bd. 20, S. 485

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Schichten, Gruppen und Individuen auslösen und in eine bestimmte, den objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus entsprechende Richtung lenken. Ihre Wirksamkeit ist durch die objektiven nichtantagonistischen Widersprüche der sozialistischen Produktionsweise bedingt, und sie spielen im Prozeß der Entfaltung und Lösung dieser Widersprüche und damit in der Verwirklichung der sozialistischen Entwicklung eine aktive, diese fördernde Rolle. Triebkräfte sind alle diejenigen Faktoren, die in den Bewegungs- und Lösungsprozeß der nichtantagonistischen Widersprüche eingehen und ihre Lösung voranbringen. Diese Faktoren sind den Widersprüchen nicht äußerlich, sondern werden von ihnen selbst als Momente ihrer Bewegungsform erzeugt. Die Bewegungsformen der Widersprüche beinhalten die Triebkräfte, die Mittel zu ihrer Lösung. Dies läßt u. E. auch die bereits angeführte Bestimmung der Bewegungsformen der Widersprüche bei K A R L M A R X im „Kapital" erkennen, daß nämlich die Widersprüche sich ihre Bewegungsformen schaffen, in denen sie sich verwirklichen wie lösen. Dies bedeutet dann, daß gerade das Wirken der spezifisch sozialistischen Triebkräfte auf der Grundlage nichtantagonistischer Widersprüche die Form ist, in der diese Widersprüche die ihnen adäquate Bewegungsform und die Form ihrer Überwindung finden. Aus der vorgenommenen Analyse des Verhältnisses von Quelle und Triebkraft der Entwicklung wird u. E. deutlich, daß die Grunderkenntnis der materialistischen Dialektik, die Widersprüche als Quelle und Triebkraft der Entwicklung anzusehen, zwar bedingt, daß es keine von den Widersprüchen getrennten Triebkräfte der Entwicklung geben kann, daß sie aber nicht besagt, daß die Triebkräfte der Gesellschaft abstrakt auf Widersprüche zu reduzieren sind. Mit dem Begriff „gesellschaftliche Triebkräfte" bezeichnen wir also die objektiven dialektischen Widersprüche des gesellschaftlichen Lebens, die die Quelle der Entwicklung der Gesellschaft sind, den gesellschaftlichen Fortschritt „verursachen", „auslösen", einschließlich der aus dem Bewegungsprozeß der Widersprüche erwachsenden und deren Lösung forcierenden vielfaltigen sozialen materiellen und ideellen, objektiven und subjektiven Faktoren, die gesellschaftliche Entwicklungsprozesse voranbringen, fördern. Besondere Bedeutung haben hierbei solche Triebkräfte, die als spezifisch sozialistische Wirkungsbedingungen der Entfaltung und Lösung von objektiven nichtantagonistischen Widersprüchen der sozialistischen Entwicklung die Grundlage und Bedingung für ihre bewußte, organisierte sowie planmäßige Lösung bilden. Dabei handelt es sich z. B. um solche spezifische sozialistischen gesellschaftlichen Beziehungen und Klassenverhältnisse wie die Übereinstimmung der persönlichen und kollektiven Interessen der Werktätigen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen, die politisch-moralische Einheit des Volkes und solche ausschlaggebenden subjektiven Faktoren wie die Tätigkeit der Partei der Arbeiterklasse, die sozialistische Ideologie usw. Dies läßt sich an der Partei der 85

Arbeiterklasse veranschaulichen. Die marxistisch-leninistische Partei, bedeutende Triebkraft des sozialistischen Aufbaus, wirkt durch ihre Stabilität, Geschlossenheit und ihr einheitliches Handeln vorwärtstreibend. Nur damit kann sie die Aktivität der Werktätigen bewußt in die den objektiven Erfordernissen entsprechende Richtung lenken. Dabei sind Stabilität, Einheit und Geschlossenheit der Partei keine starren Zustände, sondern sich stetig entwickelnde Wesensmerkmale, die auf der Grundlage in ihr wirkender Widersprüche zustande kommen. Solche inneren Widersprüche, die das geeinte Auftreten der Partei überhaupt erst ermöglichen, sind vielfaltige Erscheinungsformen des Kampfes zwischen Neuem und Altem, wie die ständige Weiterführung und Vertiefung der marxistischleninistischen Kenntnisse der Mitglieder der Partei, die ständige Anwendung des LENiNschen Prinzips der Kritik und Selbstkritik u. a. m. In diesem Sinne sind Einheit und „ K a m p f ' der Gegensätze die innere Quelle der Entwicklung auch der Partei (dadurch ist sie ein lebendiger Organismus), und damit sind die inneren Widersprüche die Grundlage für ihr Wirken als Triebkraft. Als treibende Kraft der sozialistischen Entwicklung wirkt sie, indem sie die Werktätigen zur bewußten, organisierten und planmäßigen Entfaltung und Lösung der Widersprüche befähigt. Ihre Triebkraftfunktion übt sie also als grundlegende spezifische Wirkungsbedingung der sozialistischen Widersprüche aus. Durch die relative Unterscheidung von Quelle und Triebkraft der Entwicklung ist auch die Triebkraftfunktion der Übereinstimmung von persönlichen und kollektiven Interessen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen umfassender zu bestimmen: 1. 2.

3. 4.

Sie stellt keine abstrakte Identität dar, sondern ist in sich widersprüchlich. Sie ist als spezifischer Ausdruck der sozialistischen Produktionsverhältnisse die gesellschaftliche Grundlage der Entstehung, Entfaltung und Lösung der Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft. Sie beinhaltet die spezifisch sozialistische Bedingung für die bewußte, planmäßige sowie organisierte Lösung der sozialistischen Widersprüche. Sie ist Ziel und Resultat der Überwindung nichtantagonistischer Widersprüche, realisiert sich also nur auf dem Wege der Überwindung von Widersprüchen.

Quelle und Triebkraft der Entwicklung darf man nicht einander abstrakt gegenüberstellen, sonst erscheint die Quelle der Bewegung und Entwicklung als „erster Anstoß". L E N I N verwandte diese Begriffe deshalb in relativer Identität. 26 Ihre differenzierte Bestimmung liefert einen Ausgangspunkt zum tieferen Verständnis des Wirkens spezifisch sozialistischer Triebkräfte. 26

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V g l . W . I. L E N I N , W e r k e , B d . 3 8 , S . 3 3 9

2. Aspekte des Handelns der Werktätigen bei der Entfaltung und Lösung der Widersprüche im Sozialismus Indem objektive Widersprüche des materiellen und geistigen gesellschaftlichen Lebensprozesses im Handeln der Werktätigen zur Entfaltung und Lösung kommen, ist die ökonomische, politische und ideologische Tätigkeit der Werktätigen (ihrer Klassen, Schichten, Gruppen und Individuen) Triebkraft des historischen Fortschritts. K A R L M A R X , F R I E D R I C H ENGELS und W. I. L E N I N haben dargelegt, daß durch das massenhafte Handeln der Menschen der Fortschritt der Gesellschaft gewährleistet wird, daß die Tätigkeit der Individuen erst im Handeln großer Gruppen von Menschen, von materiellen Produzenten, historische Relevanz erhält. Das Individuelle muß also auf das Soziale, Objektive, Klassenmäßige zurückgeführt werden (LENIN). Die Frage der gesellschaftlichen Triebkräfte, der sozialen Kräfte des Austragens und Lösens objektiver Widersprüche konkretisiert sich demnach in der Frage nach den Klassen und ihrem ökonomischen und politischen Verhalten in der Geschichte, also darin, „welche Klasse im Mittelpunkt dieser oder jener Epoche steht und ihren wesentlichen Inhalt, die Hauptrichtung ihrer Entwicklung, die wichtigsten Besonderheiten der geschichtlichen Situation in der jeweiligen Epoche usw. bestimmt" 27 . Von allen Klassen und sozialen Kräften der modernen Epoche ist die Arbeiterklasse die fortgeschrittenste und bedeutendste Kraft. Ihre Klasseninteressen sind Ausdruck des objektiven Erfordernisses der fortschreitenden Entwicklung der Menschheit zur klassenlosen Gesellschaft, zum Kommunismus. W. I. L E N I N wies auf die hervorragende Rolle der Arbeiterklasse für den historischen Fortschritt hin, weshalb ihr in der Lehre des Marxismus-Leninismus der gebührende Platz eingeräumt wird: „Das Wichtigste in der MARXschen Lehre ist die Klarstellung der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats als des Schöpfers der sozialistischen Gesellschaft." 28 Damit ist die bedeutendste gesellschaftliche Triebkraft der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus/Kommunismus bestimmt, die Hauptkraft sowohl der materiellen Vorbereitung und Durchführung des revolutionären Sturzes der Herrschaft der Bourgeoisie als auch der Errichtung und Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft. Die Arbeiterklasse ist Hauptkraft des gesellschaftlichen Fortschritts und die führende Klasse in der sozialistischen Gesellschaft, weil sie als die am engsten mit dem Volkseigentum verbundene, vorwiegend im materiellen Reproduktionsprozeß tätige und machtausübende Klasse zugleich den größten Beitrag zur Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums leistet. Dem hohen Vergesell27

W . I. LENIN, W e r k e , Bd. 21, S. 134

28

W . I. LENIN, W e r k e , Bd. 18, S. 576 87

schaftungsgrad der Produktion und dem Charakter ihrer Arbeit entsprechend, ist sie die am meisten organisierte und disziplinierte Klasse. Die Arbeiterklasse, als Kern des sozialistischen werktätigen Volkes, verkörpert die Hauptproduktivkraft der sozialistischen Gesellschaft. Gemeinsam mit den übrigen Werktätigen schafft sie die materiellen Grundlagen und die auf ihnen erwachsenden politischen und ideologischen Bedingungen für den Fortschritt aller Bereiche der sozialistischen Gesellschaft und ist hauptsächlicher Träger und Initiator dieser Entwicklung. Die bestimmende gesellschaftliche Kraft ist die Arbeiterklasse vor allem deswegen, weil sie eine von der marxistisch-leninistischen Partei geführte, geeinte und erzogene Klasse ist, weil sie als sozialer Träger des MarxismusLeninismus über die einzig wissenschaftliche Weltanschauung verfügt, weil ihre Interessen mit den Grundinteressen aller Werktätigen übereinstimmen. Das Handeln der Arbeiterklasse und aller Werktätigen in der sozialistischen Gesellschaft ist wesentlich durch zwei Aspekte gekennzeichnet, die damit zu wichtigen Fragen der Triebkräfte im Sozialismus werden und von uns betrachtet werden sollen: durch Gesetzmäßigkeit und durch Bewußtheit. Insofern die Klasseninteressen der Arbeiterklasse am ausgeprägtesten und konsequentesten den Erfordernissen, d. h. der objektiven Notwendigkeit, der Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung entsprechen, ist ihre Verwirklichung durch das Handeln der Werktätigen die Durchsetzung gesellschaftlicher Gesetze. Gesetzmäßigkeit des Handelns der Werktätigen gründet auf objektiven ökonomischen Bedingungen, ökonomischen Notwendigkeiten und Zwängen. Gerade hieraus leitet sich die Objektivität der Widersprüche des gesellschaftlichen Lebensprozesses ab. Die Triebkräfte sozialistischen Fortschritts zu analysieren heißt vor allem, den inneren Zusammenhang zwischen objektiver Gesetzmäßigkeit und den Interessen und Bedürfnissen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen zu beleuchten und die Rolle des sozialistischen Bewußtseins, besonders der marxistischleninistischen Ideologie, für das organisierte und planmäßige Handeln der Werktätigen zu untersuchen. Um die Triebkräfte des historischen Fortschritts im allgemeinen und der sozialistischen Entwicklung im besonderen exakt zu bestimmen, gilt es, die in den objektiven Bedingungen des Handelns von Klassen (vor allem der Arbeiterklasse) wurzelnden Beweggründe zu erkennen, die diese Klassen zum Handeln für den gesellschaftlichen Fortschritt anspornen. F R I E D R I C H ENGELS betonte diesbezüglich die Notwendigkeit des Ergründens der „treibenden Mächte", die ganze Klassen zu „dauernder, in einer großen geschichtlichen Veränderung auslaufender Aktion" veranlassen. 29 Gefordert ist also stets die Untersuchung der ökonomischen Daseinsbedingungen der Klassen, aus denen die Interessen und Bedürfnisse der Angehörigen dieser Klassen erwachsen, die die Ziele und Inhalte ihres ge-

29

88

MEW, Bd. 21, S. 298

seilschaftlichen Handelns bestimmen, denn die „ökonomischen Verhältnisse einer gegebenen Gesellschaft stellen sich zunächst dar als Interessen"30. Die Interessen haben also ihren Ursprung in den ökonomischen Verhältnissen. „Nicht darin liegt die Inkonsequenz (des alten Materialismus — A. L./W. T.), daß ideelle Triebkräfte anerkannt werden, sondern darin, daß von diesen nicht weiter zurückgegangen wird auf ihre bewegenden Ursachen." 3 1 Diese bewegenden Ursachen (oder Bewegursachen) sind nichts anderes als die objektiv notwendigen, vor allem ökonomischen Erfordernisse des gesellschaftlichen Fortschritts, die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die in den materiellen Interessen und Bedürfnissen der Werktätigen (den Beweggründen des Handelns) zum Ausdruck kommen. Die Feststellung, daß das Handeln von Klassen in Richtung des gesellschaftlichen Fortschritts Triebkraft der Geschichte ist, verweist also auf die Tatsache, daß dem Handeln der Menschen objektive Gesetze zugrunde liegen und sich in ihm durchsetzen. F R I E D R I C H ENGELS betonte, daß der „Lauf der Geschichte durch innere allgemeine Gesetze beherrscht" werde.-12 Es geht mithin nicht um ein Handeln an sich, sondern um das gesetzmäßige massenhafte Handeln der Menschen als Angehörige sozialer Klassen im Sinne historischen Fortschritts. Die ökonomischen Gesetze, als wesentliche gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten, beinhalten allgemeine, notwendige, wesentliche und stabile ökonomische Beziehungen, die sich den Werktätigen als Interessen darstellen. Die Tatsache, daß objektive Gesetze sowohl Voraussetzung als auch zugleich Resultat menschlicher Tätigkeit sind und daß das Handeln der Menschen stets von bestimmten Interessen geleitet ist, verweist bereits auf den untrennbaren Zusammenhang von gesellschaftlichem Gesetz und Interesse. Gesetz und Interesse können als zwei Seiten der durch die sozialistischen Produktionsverhältnisse determinierten Tätigkeit der Werktätigen bestimmt werden: Das Gesetz bringt die historische Notwendigkeil zum Ausdruck, und das Interesse beinhaltet Motiv und Zielstrebigkeit des Handelns zur Verwirklichung der historischen Notwendigkeit. 33 Sofern die Interessen der Werktätigen also objektive gesellschaftliche Gesetze des Sozialismus zum Ausdruck bringen und auf deren Realisierung abzielen, bedeutet die praktische Verfolgung dieser (wesentlichen) Interessen zugleich die Verwirklichung der objektiven Gesetze. Wie ist dabei die Kategorie „Interesse" näher zu bestimmen? Das Interesse ist u. E. als objektiv determiniertes subjektives Moment der gesellschaftlichen Praxis aufzufassen, als direkter, notwendiger, immanenter Bestandteil des Pro30

M E W , Bd. 18, S. 274

31

M E W , Bd. 21, S. 298

32

Ebenda, S. 296

33 Vgl. W. MALTUSCH, Die materielle Interessiertheit als Vermittlung von gesellschaftlichen und individuellen Interessen im Sozialismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 6/1964, S. 671

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zesses der Realisierung gesellschaftlicher Gesetze. Objektive Grundlage der Interessen sind die praktischen Erfordernisse des gesellschaftlichen Lebens, sind die sich aus den jeweiligen Strukturgesetzen und Entwicklungstendenzen an das individuelle und kollektive Handeln der Menschen ergebenden Anforderungen, deren Realisierung wesentlicher Inhalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses ist.34

Für die theoretische Klärung des Prozesses der ständigen Herstellung der Übereinstimmung von persönlichen und kollektiven Interessen der Werktätigen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen sozialistischer Entwicklung ist die Analyse der Rolle der Bedürfnisse als Vermittler des Verhältnisses von Interesse und Erfordernis von Bedeutung. Die besondere Stellung der Bedürfnisse unter den Triebkräften des Handelns der Menschen wurde bereits von KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS betont. So schrieb ENGELS Z. B., die Menschen hätten sich daran gewöhnt, „ihr Tun aus ihrem Denken zu erklären statt aus ihren Bedürfnissen (die dabei allerdings im Kopf sich widerspiegeln, zum Bewußtsein kommen)" 3 5 . Die Bedürfnisse können als Umschlag der objektiven Erfordernisse in das subjektive Verlangen der Menschen und damit in subjektive Triebkräfte des Handelns charakterisiert werden. Objektivität der Bedürfnisse heißt vor allem, daß sie durch objektive Erfordernisse determiniert werden. Da im Bedürfnis nicht nur die Abhängigkeit des Menschen von seiner Umwelt zum Ausdruck kommt, sondern auch sein Streben nach Aneignung dieser Umwelt und damit nach Bestätigung seines Wesens als gesellschaftliches Individuum, enthält das Bedürfnis immer auch ein Moment des Subjektiven. Wenn auch in der philosophischen Literatur zuweilen eine einfache Gleichsetzung von Interesse und Bedürfnis anzutreffen ist, vertreten wir die begriffliche Abgrenzung von Interessen und Bedürfnissen. Dies ist um so wichtiger, als die Triebkraftfunktion der Interessen anders nicht zu bestimmen ist. Die Interessen werden gerade deshalb zur stimulierenden Kraft, weil ihnen Bedürfnisse zugrunde liegen. 36 Bedürfnisse werden als Triebfeder nicht unvermittelt, sondern stets über Interessen wirksam. Die objektiven Erfordernisse und Bedürfnisse sind bestimmende Elemente für die Interessen. In letzteren äußern sich die zum Motiv des Handelns gewordenen und dessen Richtung bestimmenden objektiven Erfordernisse und Bedürfnisse. In dieser Dialektik von Interesse, Bedürfnis und Gesetz kommt u. E. vor allem die Triebkraftfunktion des ökonomischen Grundgesetzes des Sozialismus zum Ausdruck. Bevor dies näher gezeigt werden soll, ist es 34 Vgl. E. SCHMIDT, Die objektiven Grundlagen der Dialektik von gesellschaftlichen, kollektiven und individuellen Interessen im Sozialismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 2/1968, S. 153 35

M E W , Bd. 20, S. 451

36 Vgl. D. A. KIKNADSE, Die Bedürfnisse als Faktor des menschlichen Verhaltens, in: Sowjetwissenschaft — Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, Heft 4/1966, S. 362

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erforderlich, sich über den grundlegenden materiellen Zusammenhang jeder Gesellschaftsformation Klarheit zu verschaffen. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus hatten, in Auseinandersetzung mit idealistischen Konstruktionen des Geschichtsverlaufs, nachgewiesen, daß die letztlich entscheidenden, jeder Form sozialer Entwicklung zugrunde liegenden und diese bestimmenden Faktoren in der ökonomischen Tätigkeit der Menschen, in der stets dialektisch-widersprüchlichen Produktion und Reproduktion des materiellen Lebens der Gesellschaft zu finden sind. Der grundlegende Zusammenhang, der das Handeln der Menschen bestimmt, ist also die materielle Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Im „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie" erklärt K A R L M A R X : „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt." 3 7 Die Produktionstätigkeit ist ihrem Charakter nach ein dialektischer Prozeß: In ihr entstehen, entfalten und lösen sich Widersprüche in ununterbrochener Folge. Die materiellen Grundlagen der Gesellschaft, die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, sind widerspruchsvolle Erscheinungen, verkörpern eine Einheit von Gegensätzen — dadurch wohnt ihnen der Impuls der Entwicklung inne. Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sind also sich bedingende und sich ausschließende Erscheinungen, die eine Wechselwirkung vollziehen und, entsprechend den gegebenen historischen Bedingungen, als Triebkräfte der Entwicklung auftreten. Produktion und Reproduktion des materiellen Lebens der Gesellschaft enthalten stets „innere Entwicklungsantriebe, ausgelöst durch den Widerspruch, durch den Zusammenprall der verschiedenen Kräfte und Tendenzen" 3 8 . Wichtigste gesellschaftliche Produktivkräfte sind dabei die Werktätigen selbst; als Produzenten des materiellen Lebens der Gesellschaft und als Träger revolutionär-politischer Umwälzung sind sie auch die Triebkräfte jeglichen geschichtlichen Fortschritts. Der allgemeine Zusammenhang der Produktionsverhältnisse mit den Produktivkräften erhält in jeder ökonomischen Gesellschaftsformation eine konkrethistorische Qualität, die im ökonomischen Grundgesetz der Formation erfaßt wird. Bei der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise wiesen K A R L M A R X und FRIEDRICH ENGELS auf den dynamischen Aspekt des ökonomischen Grundge37

M E W , Bd. 13, S. 8

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W. I. LENIN, Werke, Bd. 21, S. 43 91

setzes hin, indem sie es als „Bewegungsgesetz" der Gesellschaftsordnung kennzeichneten. Dies ist u. E. zugleich als eine allgemein-dialektische Bestimmung zu fassen, welche das dialektische Grundverhältnis einer jeden Gesellschaftsformation unter dem Triebkraftaspekt begreifbar macht. Um eine bewußte Verwirklichung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus zu erreichen, ist es notwendig, die Interessen der Werktätigen und damit ihre Tätigkeit so zu orientieren, daß sie den Erfordernissen der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft entsprechen. Seit dem VI. Parteitag der SED 1963 hat sich die Erkenntnis durchgesetzt (und auf der 14. ZK-Tagung zur Einberufung des IX. Parteitages der SED für 1976 wurde dargelegt, daß wir dafür im real existierenden Sozialismus den Beweis erbracht haben), daß die grundlegende Übereinstimmung zwischen gesellschaftlichen Erfordernissen und den wesentlichen Interessen der Werktätigen eine bedeutende Triebkraft unserer gesellschaftlichen Entwicklung darstellt. Nicht zuletzt findet diese im ökonomischen Grundgesetz des Sozialismus ihren Ausdruck. Das ökonomische Grundgesetz des Sozialismus formuliert als grundlegendes Entwicklungsverhältnis der sozialistischen Ökonomik einen objektiven dialektischen Widerspruch in allgemeiner, wesentlicher und notwendiger Form — den Widerspruch zwischen den ständig wachsenden materiellen und geistigen Bedürfnissen (bzw. Interessen) der Arbeiterklasse und aller Werktätigen und dem jeweils vorhandenen Entwicklungsniveau der gesellschaftlichen Produktion (den entsprechenden historisch notwendigen Erfordernissen der sozialistischen Gesellschaft). Dieser Widerspruch wird in der ökonomischen Tätigkeit der Werktätigen stets auf einem bestimmten Entwicklungsniveau gelöst und auf jeweils höherer Stufe erneut produziert. Das heißt, durch die Vervollkommnung der Produktion wird der Widerspruch zwischen gewachsenen Bedürfnissen der Werktätigen der sozialistischen Gesellschaft und dem jeweils erreichten Produktionsniveau zunächst gelöst. Da sich aber die Bedürfnisse ununterbrochen entwickeln, das Entwicklungstempo der Produktion notwendig überflügeln, entsteht der vorerst gelöste Widerspruch zwischen Bedürfnissen und Produktion aufs neue, in neuen Dimensionen und erfordert wiederum seine Lösung. Dieser Prozeß setzt sich ständig fort. Es erfolgen ein ununterbrochenes Wachstum und die Vervollkommnung der Produktion; die Bedürfnisse erlauben der Produktion keine Stagnation oder gar Stillstand. In dieser objektiven Dialektik entwickeln sich die materiellen Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft und auf und mit ihnen der gesamte soziale Organismus. Auf den dialektisch-widersprüchlichen und dadurch die Entwicklung vorantreibenden Charakter des Verhältnisses von Produktion und Bedürfnissen hat KARL MARX bereits in den „Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie" prinzipiell aufmerksam gemacht, und zwar anhand der Dialektik von Produktion und Konsumtion. 3 9 Die Bedürfnisse entwickeln sich, auf die ganze Gesellschaft 39

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Vgl. K. MARX, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, S. 11 ff.

bezogen, auf der Grundlage der umfassend verstandenen Konsumtion; das heißt, Konsumtion und Bedürfnis sind eng miteinander verknüpft und befinden sich in einem dialektischen Spannungsverhältnis zur Produktion. Einmal ist die Produktion Voraussetzung der Konsumtion, macht diese erst möglich. So bestimmt also die Produktion die Konsumtion, das Bedürfnis. Umgekehrt aber übt die Konsumtion einen aktiven Einfluß auf die Produktion aus, und dies in zweifacher Weise: Die Konsumtion ist das Ziel der Produktion, und sie erzeugt selbst das Bedürfnis neuer Produktion. M A R X sprach davon, daß die „Konsumtion das Bedürfnis neuer Produktion schafft, also den idealen, innerlich treibenden Grund der Produktion, der ihre Voraussetzung ist", den „Trieb der Produktion" hervorbringt. 40 Die Vermittlung zwischen den beiden Gegensätzen „Produktion" und „Konsumtion" zeigt sich darin, daß jede Seite die andere hervorbringt, die andere durchdringt, daß beide Pole ineinander umschlagen. In diesem Wechselverhältnis von Produktion und Konsumtion erscheint das Bedürfnis als das entscheidende Mittelglied, als der treibende Grund der Produktion. Da die Bedürfnisse als Triebkräfte stets das Wachstum der Produktion überflügeln, führt die Dialektik des Verhältnisses von Bedürfnis (Konsumtion) und Produktion zu einer fortschreitenden Höherentwicklung der materiellen Grundlagen der Gesellschaft und damit der Gesellschaft insgesamt. K A R L M A R X untersuchte diese Dialektik zwar an der kapitalistischen Produktionsweise, sie existiert jedoch auch und gerade unter neuen, höheren gesellschaftlichen Verhältnissen, nach der Überwindung des Kapitalismus. Zweifellos war die Konsumtion, waren die Bedürfnisse schon immer Ziel und Zweck der Produktion, aber in den antagonistischen Gesellschaftsordnungen niemals unmittelbar und direkt, sondern stets gebrochen bzw. deformiert durch die Ausbeutungsverhältnisse. Im Kapitalismus ist niemals die tatsächliche Bedürfnisbefriedigung der Werktätigen Ausgangspunkt und Zweck der Produktion, sondern die Bedürfnisse der herrschenden Minderheit der Gesellschaft, das Profitstreben der Bourgeoisie erscheinen als treibendes Motiv der Produktion und führen zur Weiterentwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft. Erst mit der Beseitigung der kapitalistischen Herrschaft und der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, mit der in den sozialistischen Produktionsverhältnissen wurzelnden grundlegenden Interessengemeinsamkeit aller Klassen und Schichten des Volkes kann der Widerspruch zwischen Produktion und Bedürfnissen, bar jeder auf dem Klassenantagonismus beruhenden Deformierung und Beschneidung, in umfassender Weise als primäres Entwicklungsverhältnis und grundlegende Triebkraft in Erscheinung treten. Im Sozialismus veranlassen die Bedürfnisse und Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen die Höherentwicklung der Produktion. (So konnte E. HONECKER anläßlich der Einberufung 40

E b e n d a , S. 13

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des IX. Parteitages der SED feststellen, daß wir in der Periode zwischen dem VIII. und IX. Parteitag „bei der Realisierung der grundlegenden Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen . . . neue große Errungenschaften" erzielt haben. 4 1 Diese für jeden Bürger spürbaren Erfolge hat der IX. Parteitag in ihrer ganzen Dimension und historischen Bedeutung für die weitere Entwicklung in der D D R aufgezeigt). Der Widerspruch zwischen Produktion und Bedürfnissen bringt mithin, in seiner Fassung als ökonomisches Grundgesetz des Sozialismus, Charakter, Weg und Ziel der sozialistischen Produktionsweise sinnfällig zum Ausdruck. Die Wirksamkeit gesellschaftlicher Triebkräfte wird wesentlich von der Art und Weise der Durchsetzung der objektiven Gesetze im Handeln der Menschen beeinflußt, davon, ob sie sich spontan durchsetzen oder bewußt realisiert werden. Diese geschichtliche Zäsur erfolgt mit der proletarischen Revolution und durch die mit ihr entstehenden gesellschaftlichen Verhältnisse neuer, höherer Qualität. In der antagonistischen Klassengesellschaft kommen die Triebkräfte des Geschichtsverlaufs „hinter dem Rücken der Menschen" zum Tragen, so daß das historische Ergebnis aus vielen sich durchkreuzenden und zweitweilig auch rückläufigen Bewegungen nach Art eines Naturprozesses hervorgeht und als das „Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht" angesehen werden muß. 4 2 Demgegenüber können im Sozialismus/Kommunismus die Menschen ihre gesellschaftlichen Potenzen dadurch freisetzen, daß sie die objektiven Gesetze mit zunehmender Sachkenntnis anwenden und damit immer mehr beherrschen, ihre Geschichte also selbst zu machen in der Lage sind. „Erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maß auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben." 4 3 Die Übereinstimmung der Grundinteressen der Werktätigen mit den Erfordernissen der Entwicklung der Gesellschaft ermöglicht also eine mit Bewußtheit erfolgende Verwirklichung der ökonomischen Notwendigkeiten, was eine immer erfolgreichere Gesamtentwicklung der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung zum Resultat hat. Die führende Rolle der Arbeiterklasse, die sie zur entscheidenden Kraft der bewußten Beherrschung sozialistischer Widersprüche und der objektiven gesellschaftlichen Gesetze werden läßt, erfordert die Führung durch eine marxistischleninistische Partei, deren wichtigste Aufgabe die Erziehung aller Werktätigen zur sozialistischen Bewußtheit, die Verbreitung sozialistischer Ideologie ist. Indem also die revolutionäre Partei, das sozialistische Bewußtsein und die marxistisch-leninistische Ideologie von der Arbeiterklasse untrennbare, ihre

41

E. HONECKER, Zur Einberufung des IX. Parteitages der SED, Berlin 1975, S. 10

42

MEW, Bd. 37, S. 464

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MEW, Bd. 19, S. 226

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Schöpferkraft befördernde Faktoren sind, bilden sie selbst wesentliche Triebkräfte sozialistischer Entwicklung. Sozialistisches Bewußtsein ist ein durch die Weltanschauung der Arbeiterklasse wissenschaftlich fundiertes Bewußtsein, das eine Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse zusammenfaßt und die Erfahrung des Klassenkampfes und des sozialistischen Aufbaus beinhaltet. Der objektiven, konkreten Dialektik der materiellen Verhältnisse und Lebensbedingungen im Sozialismus entspricht die Dialektik der Bewußtseinsentwicklung; sozialistisches Bewußtsein ist zutiefst dialektisches Denken.

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Peter Ruben Das Entwicklungskonzept in der Naturerkenntnis

Es ist als ein bemerkenswertes Faktum anzusehen, daß in der Naturwissenschaft zur selben Zeit, in der M A R X und ENGELS die kapitalistische Produktionsweise als ein sich in Richtung auf seine Auflösung entwickelndes besonderes Gesellschaftssystem erfaßten, die Fragen nach der Eigentümlichkeit von Entwicklungsvorgängen auch in der äußeren Natur in den Problembestand der fachwissenschaftlichen Erkenntnis aufgenommen wurden. Zwar hatte bereits K A N T mit seiner „Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" auf der Basis der von N E W T O N formulierten Prinzipien der klassischen Mechanik 1755 den großartigen Entwurf einer entwicklungsgeschichtlichen Auffassung „des ganzen Weltgebäudes" vorgelegt, der später durch LAPLACE seine Weiterbildung erfuhr. Doch handelte es sich bei diesem Entwurf durchaus um eine wesentlich philosophische Arbeit, keineswegs um eine einzelwissenschaftliche Darstellung der Evolutionsgesetze spezieller Natursysteme. Der fachwissenschaftliche Übergang zur Erfassung solcher Gesetze geschah vielmehr erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 1859 veröffentlichte CHARLES D A R W I N sein berühmt gewordenes Werk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl", worin das Selektionsprinzip als ein entscheidendes Charakteristikum von biologischen Entwicklungsvorgängen ausgesprochen wurde. Bekanntlich hat M A R X diese Arbeit sofort studiert und über sie das Urteil gefallt: „Sehr bedeutend ist D A R W I N S Schrift und paßt mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes. Die grob englische Manier der Entwicklung muß man natürlich in den Kauf nehmen. Trotz allem Mangelhaften ist hier zuerst der ,Teleologie' in der Naturwissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, sondern der rationelle Sinn derselben empirisch auseinandergelegt." 1 Über den Mangel im Ansatz D A R W I N S äußert sich M A R X rückhaltlos: „Mit dem DARWIN, den ich wieder angesehn, amüsiert mich, daß er sagt, er wende die ,MALTHUssche' Theorie auch auf Pflanzen und Tiere an, als ob 1 7

MEW, Bd 30, S. 578 R e d l o w Siiehlcr

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bei Herrn MALTHUS der Witz nicht darin bestände, daß sie nicht auf Pflanzen und Tiere, sondern nur auf Menschen — mit der geometrischen Progression — angewandt wird im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren. Es ist merkwürdig, wie DARWIN unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, Erfindungen' und MALTHUSschem ,Kampf ums Dasein' wiedererkennt. Es ist HOBBES' bellum omnium contra omnes, und es erinnert an HEGEL in der .Phänomenologie', wo die bürgerliche Gesellschaft als ,geistiges Tierreich', während bei DARWIN das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert."2 ENGELS urteilt: „Ich akzeptiere von der DARWiNschen Lehre die Entwicklungstheorie, nehme aber DARWINS Beweismethode (struggle for life, natural selection) nur als ersten, provisorischen, unvollkommenen Ausdruck einer neuentdeckten Tatsache an. Bis auf DARWIN betonten gerade die Leute, die jetzt überall nur Kampf ums Dasein sehn (VOGT, BÜCHNER, MOLESCHOTT U. a.), gerade das Zusammenwirken der organischen Natur, wie das Pflanzenreich dem Tierreich Sauerstoff und Nahrung liefert, und umgekehrt das Tierreich den Pflanzen Kohlensäure und Dünger, wie dies namentlich von LIEBIG hervorgehoben worden war. Beide Auffassungen haben ihre gewisse Berechtigung innerhalb gewisser Grenzen, aber die eine ist so einseitig und borniert wie die andre. Die Wechselwirkung der Naturkörper — toter wie lebender — schließt sowohl Harmonie wie Kollision, Kampf wie Zusammenwirken ein." 3 Die Beurteilung der DARWiNschen Selektionslehre durch die Klassiker des Marxismus-Leninismus als einer ebensowohl bedeutenden wie einseitig fixierten Neuentdeckung ist durch die Ausbildung der modernen sogenannten synthetischen Evolutionstheorie, die eine Vereinigung des klassischen Selektionskonzepts mit den Prinzipien der MENDELschen Genetik darstellt, klar bestätigt worden. Die synthetische Theorie der biologischen Evolution hat den klassischen Darwinismus im Sinne der HEGELschen Begriffsbestimmung aufgehoben, indem sie Mutation und Selektion als einander wesentlich bedingende Faktoren der Artenentwicklung feststellt. Unabhängig von dieser Relativierung des Selektionskonzepts auf die Voraussetzung der Mutabilität in der genetischen Reproduktion biologischer Arten bleibt jedoch festzuhalten: Mit der Formulierung des Selektionskonzepts hat DARWIN in der Biologie den entscheidenden Schritt zur Konstituierung einzelwissenschaftlicher Entwicklungserkenntnis vollzogen. 1865 v e r ö f f e n t l i c h t e RUDOLF CLAUSIUS in POGGENDORFFS A n n a l e n

einen

Beitrag über die mechanische Theorie der Wärme, in dem er eine mathematisch präzise Bestimmung des Begriffs der Entropie eines thermodynamischen Systems gab und über diese Größenart zugleich den Satz erklärte, daß in jedem abgeschlossenen System die Entropie nie geringer, sondern stets größer werden oder 2

M E W , Bd. 30, S. 249

3

M E W , Bd. 34, S. 169

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höchstens gleichbleiben könnte. Bereits 1850 hatte CLAUSIUS klar ausgesprochen, daß diejenige Bewegung, die wir „Wärme" nennen, in einem definierten System niemals ohne Aufwand fremder Arbeit zur Erzeugung von Temperaturdifferenzen führen könne; „von selbst" strömt eine Wärmemenge stets von Stellen höherer Temperatur zu solchen geringerer Temperatur. Im Wärmegleichgewicht hat ein System sein Entropiemaximum. Für die naturwissenschaftliche Entwicklungsauffassung ist die Erkenntnis CLAUSIUS' von wesentlicher Bedeutung, daß durch sie Umwandlungsvorgänge in natürlichen (oder technischen) Systemen als gerichtet festgestellt werden, und zwar in dem Sinne, daß unter der Voraussetzung von EnergiedifTerenzen in solchen Systemen die innere Energieumwandlung über die Wärmebewegung zur Herstellung des thermodynamischen Gleichgewichts führt. Demgemäß erscheint der Gleichgewichtszustand — gekennzeichnet durch das Entropiemaximum — als das „Ziel" der inneren Systemänderungen. Dabei besteht das Gleichgewicht unter der Bedingung von Fluktuationen, bedeutet also keineswegs das „Ende aller Bewegung", sondern vielmehr denjenigen Systemzustand, in dem das System stabil ist. CLAUSIUS hat seine Erkenntnis des thermodynamischen Entropieprinzips mit vollem Recht dem Energieprinzip der Physik an die Seite gestellt, jedoch mit philosophischer Unbekümmertheit von der Welt als einem System im Sinne der Thermodynamik gesprochen, indem er die bekannten Sätze formulierte: „Die Energie der Welt ist constant. Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu." 4 Diese physikalisch scheinende Aussage, die zum Schlagwort vom „Wärmetod des Weltalls" führte, hat nicht wenig dazu beigetragen, den entscheidenden Sinn des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik für die Entwicklungsauffassung der Naturwissenschaft zu verdunkeln. Wir begnügen uns hier mit der Feststellung, daß die mit einer solchen Behauptung zugleich grundlos angenommene Unterstellung darin besteht, das Weltall als Ganzes für ein Modell der klassischen thermodynamischen Theorie zu nehmen. Demgegenüber ist mit W . W E I Z E L ausdrücklich festzustellen: „Das thermodynamische System ist nichts Wirkliches, sondern ein Modell, welches zum Zweck thermodynamischer Untersuchungen konstruiert wird. Auf den gleichen wirklichen Gegenstand angewandt kann es einmal sehr zweckmäßig, das andere Mal völlig abwegig sein." 5

Ein thermodynamisches System ist das abstrahierte Wesen wirklicher Systeme, die unter dem Gesichtspunkt des Arbeits- und Wärmeaustausches qualifiziert werden. Indem CLAUSIUS den sogenannten Wärmetod des Weltalls suggeriert, faßt er notwendig das Weltall selbst als den sinnlich-gegenständlichen Repräsen4 Pogg. Ann. Bd. C X X V (1865). S. 400 (auch R. CLAUSIUS, Abhandlungen über die mechanische Wärmetheorie, 2. Aufl., Bd. 1 Braunschweig 1876. S. 44) 5 W. WEIZEL, Lehrbuch der Theoretischen Physik, 1. Band 1949, S. 675

7'

Berlin/Göttingen/Heidelberg

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tanten eines Abstraktums auf. Er tut das, obwohl bereits KANT in seinen ersten beiden, den „mathematischen" Antinomien gezeigt hat, daß eine solche Vorstellung kontradiktorisch ist! CLAUSIUS' Suggestion des kommenden „toten Weltalls" zeigt damit u. a. auch den völligen Verlust des Zusammenhangs der das Entwicklungsproblem stellenden Naturwissenschaften mit derjenigen Philosophie, die es philosophisch erstmals systematisch gestellt hat, mit der klassischen deutschen. Sie zeigt nichts als den gewöhnlichen Schritt in die Metaphysik, der philosophisch zustande kommt, wenn man die materialistische Dialektik nicht kennt oder nicht anerkennt. Es ist jener Schritt, welcher uns im Alltag verführt zu wähnen, das vorgelegte halbe Pfund Butter sei „wirklich" nichts weiter als ein Exempel des Preises von 2,50 M, der zu seiner Aneignung im Austausch zu zahlen ist. Dieser Schritt verführt uns z. B. in der Methodologie der Erkenntnis zu meinen, die von der formalen Logik fixierte Bedeutung des operativen Terminus „ u n d " sei die „wahre" Bedeutung der grammatischen Satzkonjunktion „und", oder das grammatische „ u n d " sei nicht weiter als das „ u n d " der formalen Logik. Tapfere Kämpferinnen für die Emanzipation der Frau glauben infolge desselben Schritts, daß Männer und Frauen „in Wirklichkeit nur Menschen" seien und die Unterschiedenheit beider gegeneinander nichts als ein „sinnlicher Schein" wäre. Der Mechanismus der Geburt der Metaphysik ist nichts weiter als Abstraktion unter der Voraussetzung einer erkannten Gleichheit gewisser Art mit dem zusätzlichen weltanschaulichen Unternehmen, die abstrahierte Art nach dieser Gleichheit für die „wahrhaft wirkliche Art" zu halten und die konkrete Art, die die genetische Voraussetzung der Abstraktion ist, für jenen „sinnlichen Schein", vor dem man sich in der Erkenntnis hüten müsse. Es versteht sich, daß vom Standpunkt des dialektischen Materialismus die metaphysische Deutung der Abstraktion bekämpft werden muß, ohne die Abstraktion aufzugeben. Denn die Metaphysik ist, indem sie Abstrakta für „an sich existierende Wirklichkeit" und konkrete Wirklichkeiten für „sinnlichen Schein" ausgibt, die vollständige Negation der Dialektik. Daher hat auch ENGELS erklärt, daß CLAUSIUS nicht ein philosophisches Problem der Naturwissenschaft gelöst, sondern es umgekehrt vielmehr erst gestellt habe. 6 In der metaphysischen Deutung des II. Hauptsatzes der Thermodynamik jedenfalls wird die Vorstellung suggeriert: „Die Weltuhr muß aufgezogen werden, dann läuft sie ab, bis sie ins Gleichgewicht gerät, aus dem nur ein Wunder sie wieder in Gang bringen kann. Die zum Aufziehn verwendete Energie ist verschwunden, wenigstens qualitativ, und kann nur durch einen Anstoß von außen hergestellt werden. Also war der Anstoß von außen auch im Anfang nötig." 7 Es ist notwendig zu betonen, daß die durch CLAUSIUS' Entdeckung gestellte philosophische Problemlage der naturwissenschaftlichen Erkenntnis völlig neuartig gewesen ist — und zwar in einem 6

MEW, Bd. 20, S. 535

7

Ebenda, S. 545

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solchen Maße, daß sie bis in die aktuelle Gegenwart nichts von ihrer theoretischen Brisanz verloren hat. Man übertreibt wohl nicht, wenn man feststellt: Erst heute wird das von CLAUSIUS gestellte philosophische Problem in seiner generellen Natur sichtbar, weil erst heute die Thermodynamik als ein allgemeines Fundament aller Naturwissenschaft überhaupt definitive Konturen annimmt. Von der klassischen Thermodynamik zur modernen „Physik strukturbildender Systeme" oder Thermodynamik offener Systeme ist die Entwicklung der Naturwissenschaft geschritten und hat darin den II. Hauptsatz als ein unverzichtbares Fundamentalprinzip in einem solchen Maße bestätigt, daß nunmehr mit einigermaßen Aussicht auf Erfolg das Problem der Klärung des Zusammenhangs der Thermodynamik mit der materialistischen Naturdialektik als bestimmte Forschungsaufgabe gestellt werden muß. Und daß hierin der philosophische Sinn des II. Hauptsatzes aufgeklärt werden muß, versteht sich von selbst. Neben der überragenden Stellung der Thermodynamik und des Darwinismus für die Ausbildung des naturwissenschaftlichen Entwicklungskonzepts ist schließlich auf die Kosmologie zu verweisen. Sie hat im 19. Jahrhundert zwar weniger spektakulär, doch nicht weniger nachdrücklich ebenfalls die naturwissenschaftliche Notwendigkeit des Übergangs zur entwicklungsgeschichtlichen Auffassung ihres Gegenstandes dargetan. Bereits 1826 machte der Arzt und Astronom W. OLBERS auf das Paradoxon aufmerksam, das sich ergibt, wenn man die Annahme von der räumlichen und zeitlichen Unendlichkeit des Kosmos mit der wahrnehmbaren Tatsache des dunklen Nachthimmels bei Voraussetzung des LAMBERTschen Strahlungsgesetzes ( 1 7 6 0 ) in ein und derselben theoretischen Auffassung aussprechen will. Wäre nämlich die räumliche und zeitliche Unendlichkeit mit einer gleichförmigen Erfüllung des Kosmos mit Sternen gegeben, so müßte der ganze Himmel mit einer mittleren Helligkeit strahlen, die man sich etwa durch die Sonne repräsentiert denken kann. Der dunkle Nachthimmel aber widerlegt diese Konsequenz. Infolgedessen kann in deren Voraussetzungen etwas nicht stimmen. 1861 hat dann J. H. v. MÄDLER, bekannt durch seine „Geschichte der Himmelskunde" ( 1 8 7 2 / 1 8 7 3 ) , das OLBERSsche Paradoxon durch die Auffassung von der Evolution des Kosmos zu lösen versucht. Auch das sogenannte Gravitationsparadoxon, 1890 durch H. v. SEELIGER diskutiert, führte auf den theoretischen Ausschluß der Vorstellung eines statischen Universums, also hin zur Annahme, daß der reale Kosmos ein Evolutionskosmos sei.8 Im Rahmen der kosmologischen Studien unter den Annahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie A. EINSTEINS ist diese Konsequenz heute zu allgemein akzeptierten Grundvorstellungen in der Kosmologie und Kosmogonie geworden. 8 Eine zusammenfassende, kleine Darstellung der kosmologischen Paradoxa gibt H.-J. TREDER, Kosmologie und kosmologische Paradoxa, Vorträge und Schriften der ArchenholdSternwarte Nr. 43. Berlin-Treptow 1972

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Wir können also zusammenfassend feststellen: In sehr unterschiedlichen Kenntnisbereichen der empirischen Forschung und mit sehr unterschiedlichen Untersuchungsmitteln gelangte die Naturwissenschaft im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zu der Auffassung, daß die Natur insgesamt (als Kosmos) wie in definierbaren Systemen als Träger von Entwicklungsprozessen aufgefaßt werden müsse, daß also die wirkliche Natur eine Geschichte habe, eine sich entwickelnde Natur sei. Dieses vom Standpunkt der materialistischen Naturdialektik wesentliche Erbe der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts ist in der Gegenwart auf vielfaltigste Weisen weitergebildet worden und kulminiert aktuell in dem Versuch, die biologische mit der physikalischen Sicht der Evolution zu einem einheitlichen, mathematisch fundierten theoretischen System zu verbinden. Von wesentlicher Bedeutung ist in diesem großartigen Versuch der Entwicklungsstand der Thermodynamik offener Systeme (einschließlich der Thermodynamik irreversibler Prozesse).9 Noch keineswegs ist es bereits so, daß jene Synthese sozusagen nur noch eine Frage der Zeit sei. Eine enorme Fülle von Problemen ist noch ungelöst; darunter befinden sich auch entscheidende philosophische Probleme der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Es ist jedoch nützlich, sich die historische Grundtendenz der gegenwärtigen Entwicklung der Naturwissenschaft deutlich vor Augen zu halten. Sie geht in die Richtung der Ausbildung einer generellen fachwissenschaftlichen Theorie der Evolution, worin die Thermodynamik von entscheidender Bedeutung ist. Auf diese Weise können wir eine innere Gemeinsamkeit des gesellschaftswissenschaftlichen mit dem naturwissenschaftlichen Interesse der Aufklärung der Gesetze von Entwicklungen feststellen, das bewußt zu machen sicher die Entfaltung der erforderlichen Forschung zu stimulieren vermag.

1. Philosophische und naturwissenschaftliche Sicht der Entwicklung Um die in der empirischen Naturwissenschaft realisierte Erkenntnis von Entwicklungsvorgängen zu verstehen, muß man beachten, daß die Naturwissenschaft wesentlich vermittels der analytischen Methode operiert, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert in der Weiterbildung des Ansatzes von K E P L E R , GALILEI und N E W T O N definitiv ausgebildet worden ist. Es scheint, daß bis in die Gegenwart hinein diese methodologisch neuartige Situation nur ungenügend philosophisch-erkenntnistheoretisch verstanden worden ist. Die in der Gegenwart dominierende Rolle der sogenannten Wissenschaftslogik, die von der Voraussetzung ausgeht, die 9 Die B. G. TEUBNER Verlagsgesellschaft Leipzig hat die Publikation der Arbeit „Physik strukturbildender Prozesse" von W. EBELING angekündigt, die in der D D R den neuesten Stand der entsprechenden Forschungen für ein breites Publikum vorstellen wird.

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formale Logik als das alleinige Fundamentalinstrument der wissenschaftlichen Erkenntnis zu betrachten, hat wahrscheinlich nicht wenig dazu beigetragen, die eigentliche Bedeutung der analytischen Methode, die wir auch kurz „Analytik" nennen werden, im ungewissen zu lassen. Die Analytik basiert auf dem Zählen und Messen und stellt sich sprachlich in Gleichungen und Ungleichungen dar, die zunächst als grammatisch einfache Sätze zu betrachten sind. Als solche aber sind sie unabhängig von jeglicher logischen Theorie! Auf die Ersetzung der logischen Methode zu Begründung und Erkenntnissen durch die mit der Mathematik operierende analytische Methode macht instruktiv P. LORENZEN aufmerksam: „ . . . es wurde nämlich dieser Idealtyp der axiomatischen Theorie durch einen anderen Typ, den Typ der sogenannten analytischen Theorie ersetzt. Musterbeispiele waren die analytische Geometrie und die analytische Mechanik, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert entstanden. Der Name ,analytische' Theorie ist etwas zufallig. Man hat die damals entstehende höhere Mathematik kurz ,Analysis' genannt, und daher stammt dieser Name." 1 0 In der Philosophiegeschichte ist dieser Übergang gut bekannt, insofern er sich im neuen methodologischen Konzept F. BACONS und R. DESCARTES' zeigt. Statt der ermüdenden logischen Deduktion von Sätzen aus scholastischen (meist theologischen) Voraussetzungen wollte die neue Bourgeoisie „sicheres Wissen". Und ebendieses Wissen wurde durch Messungen konstatiert, welche auf dem Hintergrund analytisch definierter Begriffssysteme zu gewinnen waren, d. h. im Rahmen eines Systems von Größengleichungen. Hatte man ein passendes System, so konnte man unter Beachtung der algebraischen Regeln entsprechende Ereignisse durch Rechnung vorhersagen (heute sagt man zu einem solchen System, das evtl. auch nur eine Gleichung zu enthalten braucht, häufig auch „mathematisches M o d e l l " — und bringt damit den begrifflichen Unterschied von „Theorie" und „ M o d e l l " durcheinander). In diesem Sinne erklärte BACON: „ D i e in Gebrauch befindliche Logik dient mehr dazu, die Irrtümer (welche auf den alltäglichen Begriffen fußen) zu verankern und zu festigen, als die Wahrheit zu erforschen; so wirkt sie mehr schädlich als nützlich." 11 Und in demselben wissenschaftstheoretischen Sinn proklamierte DESCARTES, „daß sich unter den Wissenszweigen, . . ., allein Arithmetik und Geometrie von jedem Makel der Falschheit und Ungewißheit frei zeigen" 12 . LORENZEN charakterisiert treffend die mit dem Übergang zur analytischen Methode eingetretene Situation: „ N u r die mathematischen Operationen, insbesondere die analytischen, erschienen als Operationen einer der Natur ange-

10 P. LORENZEN, Collegium Logicum, in: P. LORENZEN, Methodisches Denken, Frankfurt a. M . 1968, S. 17 11

F. BACON, Das neue Organon, hrsg. v. M. BUHR, Berlin 1962, S. 43

12 R. DESCARTES, Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, hrsg. v. L. GÄBE, Berlin 1972, S. 7

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paßten übermenschlichen Sprache. Das System der Grundgleichungen muß von einem Genius in glücklicher Stunde gefunden sein. Kein Weg der Vernunft führt dahin. . . Daß der Typ analytischer Theorien, die mit reiner Mathematik allein alle Begründungszusammenhänge lieferten, den Typ der axiomatischen Theorien ablöste, das ist der Grund dafür, daß die Neuzeit die formale Logik verdrängte; sie brauchte sie nicht." 1 3 Diese Lage besteht auch gegenwärtig — und zwar hauptsächlich dort, wo in den empirischen Wissenschaften der Versuch unternommen wird, ein definiertes Problem durch die Aufstellung eines heute sogenannten mathematischen Modells zu lösen. Ein solches „Modell" ist natürlich nichts anderes als ein Gleichungssystem (evtl. unter Einschluß von Ungleichungen), in dem die interessierenden Eigenschaften in Gestalt von Größenarten begrifflich fixiert auftreten, also eine mathematisch formulierte Theorie über empirische, nichtmathematische Objekte und ihre Zusammenhänge. (Man beachte, daß die Redeweise von „mathematischen Modellen" nicht zu Mißverständnissen in bezug auf den Gebrauch des Modellbegriflfs im Sinne von Strukturrealisierungen führt.) Will man also das naturwissenschaftliche Evolutionskonzept philosophisch verstehen, so muß man erfassen, was die analytische Methode leistet und an welche Bedingungen ihrer Verwendung sie gebunden ist. In diesem Zusammenhang hat M A R X , der ja in der klassischen bürgerlichen Nationalökonomie zugleich auch methodisch mit dem Konzept der analytischen Methode konfrontiert wurde, einen sehr wichtigen Hinweis über das Verhältnis der analytischen Methode zur dialektischen gegeben: „Die klassische Ökonomie sucht die verschiedenen fixen und einander fremden Formen des Reichtums durch Analyse auf ihre innere Einheit zurückzuführen und ihnen die Gestalt, worin sie gleichgültig nebeneinander stehn, abzuschälen; (sie) will den innren Zusammenhang im Unterschied von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen begreifen. . . . Die klassische Ökonomie widerspricht sich gelegentlich in dieser Analyse; sie versucht oft unmittelbar, ohne die Mittelglieder, die Reduktion zu unternehmen . . . Dies geht aber aus ihrer analytischen Methode, womit die Kritik und das Begreifen anfangen muß, notwendig hervor. Sie hat nicht das Interesse, die verschiedenen Formen genetisch zu entwickeln, sondern sie durch Analyse auf ihre Einheit zurückzuführen, weil sie von ihnen als gegebnen Voraussetzungen ausgeht." 1 4 Die „genetische Entwicklung", von der M A R X hier spricht, ist natürlich die Realisierung der dialektischen Methode bei der Darstellung des kapitalistischen Systems als einer historisch bestimmten Produktionsweise, also als eines realen Systems, das unter geschichtlich fixierbaren Umständen entstanden ist und auf Grund seiner eigenen Bewegungsgesetze ebenso auch vergehen wird. Dieses Ent13

P . LORENZEN, a . a . O . , S . 1 8

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stehen und Vergehen in seinem Zusammenhang zu verstehen erfordert die Anwendung der dialektischen Methode, für welche, wie M A R X erklärt, der Gebrauch der analytischen Methode selbst eine genetische Voraussetzung ist. Schlicht gesagt: Man muß ein System erst analytisch fixieren, ehe man etwas über seine historische Genesis und Perspektive ausmachen kann. Die Frage nach der Entwicklung eines Systems kann erst beantwortet werden, wenn bekannt ist, von welchem System der Existenz wie dem Wesen nach die Rede ist. Ebendiese Kenntnis wird von der Analytik konstituiert. Man bedenke in diesem Zusammenhang z. B., daß unser Sonnensystem als solches erst festgestellt werden mußte (nämlich durch COPERNICUS), ehe K A N T über seine Genesis Überlegungen anstellen konnte. Worüber PTOLEMÄUS Feststellungen traf, war kein „Sonnensystem", sondern ein „Erdsystem"! Es versteht sich, daß man die Entwicklung eines solchen geozentrischen Systems anders beurteilen wird als die des heliozentrischen, obwohl die wahrnehmbaren Phänomene in beiden Fällen dieselben sind. Natürlich gilt dies auch für die Untersuchung der gesellschaftlichen Verhältnisse: Was dem bürgerlichen Ideologen als das System des sozialen Zusammenhangs erscheint, ist etwas ganz anderes als das, was mit dem Standpunkt der Arbeiterklasse als kapitalistische Produktionsweise bestimmt wird. Wo der bürgerliche Ideologe eine „Tauschgesellschaft", ein System der „Sozialpartnerschaft", ein System der „freien Marktwirtschaft" etc. erblickt — und auf dem Standpunkt der Kapitalistenklasse auch unvermeidlich erblicken muß —, stellt der sozialistische Theoretiker eine auf der Kapitaleigenschaft der Produktion (begründet durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln) basierende Ausbeutergesellschaft fest, in der das an sich für die Reproduktion der Gesellschaft erzeugte Mehrprodukt in der Gestalt des Mehrwerts durch die Kapitalistenklasse angeeignet wird, womit das Faktum der Ausbeutung besteht. Es ist sehr wichtig zu erkennen, daß die Fixierung eines realen Systems in der Natur wie in der Gesellschaft im Wege der Analyse weit davon entfernt ist, ein „trivialer" Akt zu sein. Durch Öffnen der Augen und Beschauen der Umwelt wird keineswegs klar, welche Phänomene eigentlich die wesentlichen Erscheinungen eines objektiv-realen Systems sind. Daß die tägliche scheinbare Bewegung der Sonne am Himmel vielmehr der Ausdruck der Bewegung der Erde um die eigene Achse ist, bedarf analytischen Scharfsinns, um als bestehendes Faktum erkannt und anerkannt zu werden. Die alltäglich wahrnehmbaren Phänomene sagen uns dies nicht „von selbst". Wir können hier keine eingehendere Untersuchung des Konzepts der analytischen Methode vornehmen, sondern müssen uns auf eine rein exemplarische Behandlung beschränken. Zunächst sei kurz der Unterschied der Logik zur Analytik verdeutlicht. Wenngleich das Wort „Logik" praktisch in unterschiedlichster Weise in der Umgangssprache verwendet wird, so darf man wohl über seinen Gebrauch in der 105

Wissenschaft auf Grund des gegenwärtigen Forschungsstandes folgende Feststellung treffen: Wenn man sagt, daß man „Logik" betreibe, so meint man damit, daß man sich in dieser Arbeit (1) auf die Sprache einer gegebenen Theorie beziehe, in der (2) gewisse Sätze als Urteile (gültige Sätze) feststellbar sind, die (3) mittels logisch zu bestimmender Verknüpfungshandlungen (logischen Operationen) zu Urteilsverbindungen zusammengesetzt werden. Indem wir nun dieses Faktum zum Gegenstand der logischen Wissenschaft machen, interessiert uns, wie die Urteile eine logische Ordnung darstellen können, wie also erklärbar ist, daß wir unter der Voraussetzung gewisser Urteile andere „mit Notwendigkeit" ebenfalls akzeptieren müssen. Der Leser kann in diesem Zusammenhang das Verhältnis der Sätze einer Sprache zu den Urteilen der in dieser Sprache ausgedrückten Theorie in sehr guter Analogie zum Verhältnis der Gebrauchswerte zu den Tauschwerten in der Ökonomie auffassen: Sätze sind Produkte der sprachlichen Sinnbildung auf Grund der Konkretisierung von Wörtern zu Subjekten und Prädikaten, also zu den Satzgliedern der darin erzeugten Sätze. Urteile sind bewertete Sätze, die als Objekte der wissenschaftlichen Kommunikation fungieren, d. h. des InformationsaMJtaMsc/ies. Es ist klar, daß wir von der Wissenschaft nicht einfach nur die Produktion von Sätzen, sondern die Angabe von Urteilen wollen, also von Sätzen, deren Geltung durch die Feststellung ausgedr ackt ist, daß sie wahr seien. Den Übergang vom Satz zum Urteil kann man sich sehr schön dadurch klarmachen, daß man die sprachliche Satzproduktion im Reden und Schreiben wahrnimmt, die Urteilsbildung aber darin, daß der Satzproduzent bereit ist, die Probe auf die Gültigkeit seines Redens und Schreibens durch die Aussetzung eines Preises anzutreten, den er bei der Widerlegung zu verlieren bereit ist. 15 Wer nicht bereit ist, dieses Risiko einzugehen, redet nur, betreibt allein Saizbildung; wer dagegen das Risiko des Verlustes an Einkommen einzugehen bereit ist, wenn man seinen Satz als falsch nachweist, der urteilt. Ein Urteil unterscheidet sich also von einem Satz dadurch, daß es einen Wert hat, daß ihm eine Bedeutung zukommt. Das Wort „logos" haben die antiken Griechen unter anderem angesichts ihrer Entdeckung verwendet, daß gewisse Urteile andere Urteile implizieren. Zum Beispiel impliziert das Urteil, daß die Länge der Seite eines Quadrats zur Länge der Diagonale kommensurabel sei, kraft der akzeptierten Voraussetzungen auch das Urteil, daß 1 = 2 sei. Dieses Urteil aber stellt, wie wohl jedermann sofort zugeben wird, der irgendwann einmal gerechnet hat, einen unmöglich realisierbaren Sachverhalt dar, bedeutet also nichts oder das Nichts. Urteile solcher Bedeutung heißen „Kontradiktionen"; sie behaupten über voraussetzungsgemäß verschiedene Werte, daß sie gleichwertig seien, bzw. über vor15 R. GILES, Lukasiewicz logic and fuzzy set theory, Queens's Mathematical Preprint No. 1974 - 2 9 , Queens's University Kingston Ontario, Canada

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aussetzungsgemäß gleiche Werte, daß sie verschieden seien. Sind a und a Zeichen für verschiedene Werte, so ist also der Satz a = a eine Kontradiktionsbasis, und das negative Urteil — (a = ä) — mit — als urteilbildendem Operator der logischen Negation — eine geltende Feststellung der Analytik. Führt nun ein Urteil IS/P (! steht für „es ist wahr, daß . . ."; S ist Zeichen des Satzsubjekts und P Zeichen des Prädikats; der Strich / dient der technischen Funktion, die Wahrnehmung der Unterschiedenheit des Subjekts vom Prädikat im Satz zu erleichtern) zu einer Kontradiktion (Kl), so werden wir akzeptieren zu urteilen, daß nicht IS/P, sondern vielmehr — S/P Geltung haben müsse. Auf diese Weise haben wir ein Verhältnis, einen „logos" 1 6 zwischen den beiden Urteilen \S/P und — S/P erfaßt, das wir etwa durch die Definition: — S/P = df \S/P Kt, angeben können, worin -* eine logische Verknüpfung bezeichnet, die „Subjunktion" heißt und nun in der Wissenschaft der Logik genau zu charakterisieren ist. Wir können uns auch vom Gebrauch der Urteile in der logischen Analyse trennen, indem wir annehmen, daß wir uns nur für die Urteils»! wte interessieren, um deren Verhältnisse (Relationen) untereinander aufzuklären. In diesem Augenblick nehmen wir den Standpunkt ein, den P. S. NOVIKOV klar formuliert: „Wenn wir die Aussagen als Größen betrachten, die die Werte ir oder / annehmen können, ist es möglich, zwischen ihnen Operationen zu definieren, die es gestatten, aus gegebenen Aussagen neue zu gewinnen." 17 Dies ist etwa derjenige Standpunkt, den eine Kassiererin in einem Selbstbedienungsladen gegenüber den Waren im Warenkorb einer Kundin einnimmt: Sie betrachtet die Waren als Größen, die gewisse Einzelhandelspreise annehmen, um sodann aus den einzelnen Werten der Waren durch die analytische Operation der Wertvereinigung (Addition) den Gesamtwert des Inhalts des Warenkorbs der Kundin zu berechnen (zu kalkulieren)! Unser Hinweis auf dieses alltägliche Erlebnis hat den praktischen Sinn, die Berechtigung jenes Vorgehens zu erfassen, das NOVIKOV als Ausgangspunkt der sogenannten klassischen Logik angibt. In dieser logischen Theorie können wir den „logos": — S/Po \S/P - » / , feststellen, worin die Relation der logischen Äquivalenz zwischen Urteilen bezeichnet, und — und -» wieder logische Operationen notieren (Negation und Subjunktion), die in der entsprechenden logischen Theorie selbstverständlich genau zu charakterisieren sind. 18 16 Zur Begriffsgeschichte der Verwendung des Wortes „logos" vergleiche: Anfange der griechischen Mathematik, Budapest 1969, S. 222 f 17

A. SZABÖ,

P. S. NOVIKOV, Grundzüge der mathematischen Logik, dtsch. Übersetzung von K. ROSEN-

BAUM, Berlin 1973, S. 19

18 Unsere beiden genannten logischen Verhältnisse stellen die konstruktive Auffassung der Negation der Negation einerseits und die „klassische" (besser: deskriptive) Auffassung der Negation der Negation dar. Beider Unterschied basiert darauf, daß in der konstruktiven Version die logischen Junktoren Beweisverfahren verknüpfen, in der deskriptiven Version aber Wahrheitswerte.

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Wie wir sehen, handelt die Logik ausschließlich von den Verhältnissen zwischen Urteilen. Sie setzt demzufolge Urteile voraus, kann ohne deren Existenz selbst nicht bestehen. Ein einzelnes Urteil kann kein logisches Faktum modellieren; ein logisches Urteil unterstellt mindestens zwei unabhängig von der Logik gewonnene Urteile. Das Urteil — (a = ä) ist z. B. von der Logik unabhängig gewonnen, — und zwar auf Grund des Umgangs mit Wertbestimmungen in der Realität (z. B. mit Längen, Dauern, Gewichten, Preisen). Ebenso ist auch das Urteil! (a ^ ä) ganz unabhängig von der Logik zu bilden. Aber ein „logos", ein logisches Verhältnis, ist nun eben durch diese beiden, wie wir sagen wollen, analytischen Urteile konstituiert: Ha # ä) => — (a = ä). Das Zeichen => notiert hierbei die Relation der logischen Implikation (die nicht mit der logischen Operation des Subjungierens verwechselt werden darf). Sie heißt auch „logische Folgebeziehung" und ist gerade jene logische Ordnung, deren Gesetze zu erkennen Anliegen der Logik ist. Sehen wir in der Verfolgung dieses Anliegens davon ab, daß die Urteile auch ^(««ausdrücke sind (d. h. konkrete Verbindungen von Subjekten und Prädikaten — interessieren uns also nur die Gesetze des Zusammenhangs der durch die Urteile gegebenen Bedeutungen —, so betreiben wir formale Logik. Man beachte in diesem Zusammenhang, daß die formale Logik der Sache nach nicht immer das ist, was die Theoretiker der formalen Logik als ein „Urteil der formalen Logik" bezeichnen. Beispielsweise gibt es Auffassungen, die in Lehrbüchern der formalen Logik auftreten, wonach ein Satz als eine „logische Verknüpfung" vorgegebener Subjekte und Prädikate zu betrachten sei. Das Wort „Prädikat" wird dabei für das verwendet, was man in der Grammatik vielmehr die „Prädikatergänzung" oder das „Prädikativum" nennt. Und was die Grammatik in einem Satze von der Form „S ist p" das Prädikat heißt, nämlich die gebeugte Verbform „ist" des Verbums „sein", das gilt in ebendiesen Lehrbüchern der formalen Logik als Zeichen eines logischen Operators oder als Zeichen der Mitteilung, daß eigentlich nicht nur ein Satz, sondern ein Urteil gemeint sei (wobei nicht zwischen Satz und Urteil unterschieden wird). Man wird wohl zugeben, daß die Annahme der Existenz von Satzgliedern (und das sind Subjekte und Prädikate!) als genetische Voraussetzungen für die Safzbildung (Prädikation) eine Kontradiktion impliziert, nämlich die, daß ein Nichtsatzglied dasselbe wie ein Satzglied ist (wobei ein Nichtsatzglied ein Sprachprodukt ist, das man „Wort" oder „Terminus" nennt). Denn ein unabhängig von Sätzen vorgegebenes Subjekt oder Prädikat ist ein als McAisatzglied vorgestelltes Satzglied! Man muß also in bezug auf die Feststellung dessen, was das Wort „Logik" eigentlich in der Wissenschaft meint, sorgsam den eigenen Verstand einsetzen und autoritative Äußerungen mit dem gehörigen Respekt wie der gehörigen kritischen Prüfung aufnehmen. Während sich nun die Logik auf sprachlich realisierte Werte bezieht (Urteile oder von ihnen abstrahierte Urteilswerte, auch „Wahrheitswerte" genannt), ist 108

die Analytik vielmehr eine Wissenschaftsart, die auf der Grundlage der in der sinnlich-gegenständlichen Realität definierten Werte (Zähl- und Maßeinheiten) entwickelt wird. Es ist nicht falsch zu sagen: Die Logik studiert die Verhältnisse der Werte des Bewußtseins (d. h. der Urteile); die Analytik studiert die Verhältnisse der Werte der Realität, die die Wertenden auswählen, um über Vergleichsleistungen zu den Maßeinheiten gleichartige oder gleichwertige Sachverhalte erkennen zu können. Diese Werte heißen allgemein „Größen". Abstrahieren wir von den Größen die reinen Werte, so erhalten wir die Objekte der Mathematik, zunächst die natürlichen Zahlen. Die Mathematik ist damit das generelle Fundament der Analytik. Genauso wichtig wie die Unterscheidung zwischen Sätzen, Urteilen und Urteilswerten ist die Unterscheidung zwischen Sachverhalten, Größen und Zahlen (den Größenwerten). Daß z. B. Fritz groß ist, ist ein Sachverhalt; daß Fritzens Größe dem Maße von 1,80 m gleichwertig ist, besagt, daß Fritzens Größe als eine Größe im analytischen Sinne festgestellt ist; daß man schließlich die Maßeinheit 1 m gerade l,80mal anlegen muß, um den Wert der Größe von Fritz als Faktum zu kennen, liefert die Existenz des Zahlenwerts. Die allgemeine Weise, eine analytische Feststellung auszudrücken, besteht bekanntlich darin, für eine Größe die Gleichung durch Messung zu bestimmen: g-, = y • g0. Hierbei bezeichnet g 0 den unterstellten Größenstand der Art g (der Buchstabe o im Index ist als Abkürzung für „Original" zu lesen), der analytische Term y • g0 bringt die Operation zum Ausdruck, den Standard (Etalon, Maßeinheit) g0 gerade y-mal mit sich zu verknüpfen, um eine Standardzusammensetzung y ga (oder: ga + g0 + . .. -I- ga) zu erhalten, die den objektiv vorgegebenen y-mal Sachverhalt g, gleichwertig ersetzt. Wir machen in diesem Zusammenhang auf die für die Klärung des Zusammenhangs der Dialektik mit der Analytik äußerst bemerkenswerte und zugleich erstaunlich einfache Tatsache aufmerksam, daß die allgemeine Form jeder analytischen Meßaussage, ^ = y • g 0 , das Phänomen des Widerspruchs im Sinne der Dialektik einschließt: Es sind nämlich das Sdtzsubjekt y • g0 Zeichen für verschiedene Sachverhalte, von denen im Prädikat = ausgesagt wird, daß sie gleich seien! Klarerweise ist das Meßobjekt gi nicht das Meßmittel y • g0. Die analytische Aussage gi = y • g0 läßt sich nicht als eine A/qßaussage verstehen, wenn man versichert, daß das Zeichen g{ darin nur ein anderer „ N a m e " für dasjenige Objekt sei, das durch das Zeichen y • g 0 bezeichnet werde. Solche Meinung anzunehmen würde auch bedeuten zu behaupten, daß der 2 m lange Zollstock „dasselbe Ding" wie der mit ihm gemessene und also ebenfalls 2 m lange Holzstab sei. Das Meßmittel ist aber niemals dasselbe Ding wie das Meßobjekt. Infolgedessen müssen wir akzeptieren, daß das Subjekt einer analytischen Behauptung einen anderen Sachverhalt bezeichnet als das Satzobjekt.

109

Und weil das Prädikat dieser Behauptung das der Gleichwertigkeit ist, so besagt eben jede analytische Feststellung die Gleichheit des Verschiedenen, d. h. einen Widerspruch im Sinne der Dialektik! Angesichts dieses Widerspruchs vollzieht die Analytik nun eine Leistung, die unter dem Namen „Abstraktion" bekannt ist und wie folgt realisiert wird: Wir betrachten unsere Standardzusammensetzung (d. h. ein technisches Produkt des handgreiflichen analytischen Operierens, z. B. des effektiven Hintereinanderlegens von Kopien unserer Längeneinheit) als den unbezweifelbaren, d. h. geltenden Wert seiner Art und sagen nun: der Sachverhalt gj, weil er in der Messung als gleichwertig mit dem als Wert gesetzten Sachverhalt y • g 0 gezeigt worden ist, stellt daher „denselben Wert" wie dieser normativ gültige Wert dar. Wir sagen also: Weil die beiden verschiedenen Sachverhalte gleichwertig sind, so sind die Vertreter Repräsentanten desselben Werts. Um anzuzeigen, daß wir nicht die konkrete Größe y • g 0 , sondern ihr Dasein als Vertreter aller zu ihr gleichwertigen Sachverhalte meinen, versehen wir das Zeichen „y • g 0 " mit eckigen Klammern ,,[y • g 0 ]". Damit geben wir den Übergang von der Feststellung der Gleichwertigkeit zur Wertidentität wie folgt an: (1) g-, = y g0->

=

Diesen durch die Verwendung der logischen Subjunktionsoperation sprachlich ausgedrückten Übergang von der Gleichwertigkeit zur Wertidentität meint man, wenn man von der „Abstraktion" spricht. Wir betonen zunächst, daß das Hinterglied der angegebenen Subjunktion in der Tat so zu lesen ist, daß mit dem Subjekt [ g j jetzt wirklich „nur ein anderer Name" für eben dasselbe Objekt vorliegt, das auch durch das Dativobjekt [}'" go] bezeichnet wird. Dieses Objekt ist aber nichts Konkretes mehr, sondern ein Abstraktum, eben derjenige Wert, den die verschiedenen konkreten Objekte gj und y • g 0 unter der Bedingung ihrer Gleichwertigkeit miteinander darstellen, repräsentieren, vertreten. Zweitens stellen wir fest, daß die genannte Subjunktion offensichtlich kein logisches Urteil ist, sondern schlicht eine logisch erzeugte Satzverknüpfung, d. h. ein logischer Term. Von diesem Term sagen wir, daß er aus analytischen Gründen Wahrheit darstelle. Wir können ebensogut behaupten, daß gerade dieser Term aus dialektischen Gründen als ein Zeichen der Wahrheit zu betrachten ist: Wenn nämlich ein dialektischer Widerspruch gegeben ist, so wird man, weil solche Widersprüche die beiden Momente der Gleichheit und Verschiedenheit als ihre Glieder enthalten, auch zugeben können, daß man von den beiden Momenten das eine der Gleichheit abziehen, abschleppen, lat.: abstrahieren kann. Die so abgezogene Gleichheit heißt auch „analytische Identität" oder „abstrakte Identität" oder einfach „Identität". Damit aber besagt unsere Abstraktionsfeststellung: Aus der Voraussetzung eines dialektischen Widerspruchs kann man zur Behauptung der entsprechenden analytischen Identität übergehen! Oder: die analytische Identität ist der auf das Moment der Einheit reduzierte 110

dialektische Widerspruch. Der dialektische Widerspruch ist die analytisch hinreichende Bedingung für die Behauptung der abstrakten Identität; die abstrakte Identität ist die notwendige Bedingung für die Existenz des dialektischen Widerspruchs. Mit der methodologischen Anerkennung dieses Abstraktionsprinzips ist sofort verbunden, daß wir sagen, urteilen können: Wer von einer konkreten Gleichwertigkeit dazu übergeht, die abstrakte Verschiedenheit (Diversität) der repräsentierten Werte anzunehmen, erzeugt einen logischen Term, der die analytische Falschheit vertritt. Wir stellen also insgesamt fest:

(2)

v

= dr s-,= y g0 -I>i] =b "Sol;

(3) F =

df

g; = y • g0 -

fcj

= [y • g 0 ].

Das Zeichen = notiert die analytische Relation der Identität, das Zeichen notiert die analytische Relation der Diversität. Die Behauptung der Diversität der Werte gleichwertiger Größen heißt „Kontradiktion". Wer also einen dialektischen Widerspruch (in seiner analytischen Erscheinungsweise der Gleichwertigkeit unterschiedener Sachverhalte) einer Kontradiktion subjungiert, der bildet einen Term, den wir als Maßeinheit der analytischen Falschheit betrachten. Die Abstraktion ist immer das /I¿sehen vom Verschiedenen, das Ansehen des Gleichen für sich (d. h. in Unterscheidung von seinem konkreten Gegensatze!). Wir können an dieser Stelle die methodologischen Erörterungen des Zusammenhangs der Dialektik mit der Analytik nicht weitertreiben, sondern wollen nur noch bemerken: Die vorgestellte Auffassung der Abstraktion, die sich sowohl von der konstruktiven wie von der „klassischen" Sicht der Abstraktion unterscheidet (d. h. von der mengentheoretischen Fassung), ist eine Rekonstruktion des von MARX im „Kapital" dargestellten Übergangs vom singulären Wertvergleich zweier Waren zur Einführung eines „allgemeinen Äquivalents", das in der praktischen Wirklichkeit eine individuelle Ware in der Bedeutung eines Repräsentanten aller mit ihr gleichwertigen Waren ist. Wir brauchen eine solche methodologische Rekonstruktion unbedingt, weil wir sonst nicht den theoretischen Zusammenhang der Dialektik mit der Analytik verstehen können. Alle Analytik basiert auf dem Vergleich; alle Analytik zielt also auf die Abstraktion. Und eben wie das Konkrete mit dem Abstrakten verbunden sei, genau das ist die Gretchenfrage des Zusammenhangs der Analytik mit der Dialektik. Unsere dargestellte Auffassung der Abstraktion, zu der natürlich noch sehr viel mehr zu sagen wäre, hat hier gerade die Funktion anzudeuten, wie auf entwickelte Weise methodologisch die konkrete Einheit der Dialektik mit der Analytik gefaßt und unter Beachtung der logischen Normen des Sprachgebrauchs zum Ausdruck gebracht werden kann. Und man muß genau diese Einheit in den theoretischen Griff bekommen, um zu demonstrieren, daß die materialistische Naturdialektik die philosophische Basis der analytischen Naturwissenschaft ist. Was hat die Theorie der Abstraktion mit dem Entwicklungsproblem zu tun? 111

Nun, etwas außerordentlich Entscheidendes: In der Praxis nämlich ist die Abstraktion mit dem Ausschluß von Entwicklungen gleichbedeutend! Dies ist auf einfache Weise zu erklären: Die Auswahl eines handgreiflichen Wertstandards (eines Etalons) schließt den Umstand ein, daß wir den fraglichen Sachverhalt genau gegen jede Änderung derjenigen Eigenschaften absichern, die er als Standard modelliert bzw. repräsentiert. Dies gelingt uns gewöhnlich auf zwei Wegen: (1) Wir isolieren den Standard so gegen seine Umgebung, daß seine Wechselwirkung mit dieser nach besten Kräften unterbunden wird. (2) Wir führen gegen eine eventuelle Zustandsänderung unseres Standards eine solche Gegen- oder Antibewegung ein, daß der Standard wieder in den Ausgangszustand übergeführt wird. In der Sprache des Alltags heißt solche Gegenbewegung auch „Reparatur". Wie also schließen wir die Entwicklung von Standards (praktisch näherungsweise) aus? Offenkundig dadurch, daß wir selbst den Widerstreit mit jener Umgebung austragen, die auf den Standard einwirkt und damit die Tendenz seiner Änderung induziert. Das besagt aber, daß wir den ^(/.vschluß des Widerstreits unseres gewählten Standards mit seiner Umwelt dadurch betreiben, daß wir den Widerstreit genau dieser Umwelt mit uns c/«schließen. Die sozusagen raffinierte Dialektik der Analytik besteht darin, daß sie uns im analytischen Produkt (im fixierten Standard oder Maß) als das Gegenteil dessen erscheint, was sie unmittelbar ist: Statt den Widerspruch im analytischen Produkt zu affirmieren, negieren wir ihn vielmehr. Aber diese Negation ist nur das Resultat der Affirmation des Widerspruchs in uns, der Widerspruchseinschluß in den Wertenden. Die Reversibilität im Verhalten des Standards wird durch die Irreversibilität im Verhalten der Standardisierenden hervorgebracht. Es versteht sich wohl, daß man diese Sicht des Zusammenhangs der Analytik mit der Dialektik unter keinen Umständen gewinnen kann, wenn man die Produkte der Analytik, die abstrakt identischen Werte, nur jür sich betrachtet, also ihr Gesetztsein durch die Aktion der Wertenden ignoriert. Ganz merkwürdig ist solche Betrachtung, wenn sie glaubt feststellen zu müssen, daß die Aktion der Wertenden die Tatsache zweifelhaft machen soll, daß die Werte selbst Abbilder ihrer Wertarten seien. Wieso soll denn die Handlung des Abbildens — und das ist die analytische Wertauswahl! — die Tatsache der Existenz von Abbildern nicht erklären können ? Der Autor gesteht, daß ihm diese Meinung total unverständlich ist. Ein analytischer Standard wird als materielles Abbild seiner Wertart definiert und dient dann im weiteren als Korbild aller neu in den Vergleich eingeführten Sachverhalte. Sind diese dem Standard gleich, so sind sie dessen Afac/ibilder und folglich ebenfalls Vertreter der Art des Standards. Der weitere Schritt der Analytik ist der: Haben wir mit ai = a- a0 und b. = ß - ba zwei verschiedene konkrete Gleichheiten, so können wir auf Grund des 112

Wertcharakters der zugrunde liegenden Objekte die Proportion ai\bi = a- aD; ß • bB formell bilden (für die Werte soll die Operation der Division erklärt sein durch x:y = z = df x — y - z). Wegen desselben Wertcharakters besagt diese Proportion auch aK = (a- a0:x- b0) • by Und das ist ersichtlich die typische Gestalt einer einfachen Größengleichung. Damit sie einen empirischen Sinn erhalten kann, muß die Frage entschieden werden, ob der „abgeleitete" Standard a0 • b~1 in der Tat eine gewisse Natureigenschaft darstellt. Dies ist die Gretchenfrage der analytischen Methode in bezug auf ihre Fähigkeit, die Bewegung widerzuspiegeln. Zunächst sind nämlich die durch ai und bi exemplarisch angegebenen Größenarten — wie man sagt — extensiv und als solche extensiven Größen Dinge, aber nicht Bewegungen! Ist nun a0 • b~1 ein adäquater Ausdruck für eine Eigenschaft der Natur, so ist er als Standard einer „abgeleiteten" Größenart zugleich — wie man sagt — eine intensive Größe. Intensive Größen sind die charakteristischen analytischen Repräsentanten von Bewegungen. Man muß bemerken, daß die formell-analytische (d. h. mathematische) Bildungsmöglichkeit des Ausdrucks a0• b~1 eine mathematische Form liefert, die ebensosehr von empirischem Sinn erfüllt sein kann wie sie als Ausdruck von empirischem Unsinn zu fungieren imstande ist. Die in der Kinematik formulierte konstante Relativgeschwindigkeit ist Beispiel eines empirisch sinnvollen Ausdrucks. Die Behauptung, daß die wissenschaftliche Produktivität in der Anzahl der publizierten beschriebenen Seite pro Zeiteinheit besteht, dürfte allgemein als empirischer Unsinn angesehen werden (wenngleich natürlich fehlende Publikation nicht gerade von wissenschaftlicher Produktivität zeugt). Damit kommen wir zu dem entscheidenden Schluß: Die analytische Erfassung von Bewegungen (und damit von Entwicklungen) erfolgt mittels der Abbildung, die im mathematischen Funktionsbzgriff ihr formelles Fundament besitzt. Der Ausdruck ai = (a- a0:ß- b0) • b- besagt ja nichts anderes als dies, daß ai der Wert der Funktion F ^ {an} x {Am} für das Argument Aj ist (ai = F(Aj)), wobei {an} und {6m} die fraglichen Größen arten sind. Es versteht sich, daß ein Satz von der Form y — F(x) als solcher keine explizite Widerspruchsdarstellung mehr ist. Demnach ist, da die mathematisierte Naturwissenschaft genau solche Satzformen verwendet, das entscheidende Problem der materialistischen Dialektik in methodologischer Sicht folgendes, in den Gleichungen und Ungleichungen der analytischen Naturwissenschaft Darstellungen von dialektischen Widersprüchen wiederzuerkennen. Es ist klar, daß diese Aufgabe unlösbar ist, solange das philosophische Fundament der Mathematik vom Standpunkt des dialektischen Materialismus nicht erfaßt und präzis bestimmt ist. Bloße Versicherungen, daß diese oder jene Gleichung oder Ungleichung einen Widerspruch im Sinne der Dialektik darstelle, helfen nicht weiter, eben weil sie keine Begründungsbasis besitzen. Diese aber muß erst geschaffen werden. Gleichzeitig ist deutlich, daß die Formulierung einer solchen Begründungsbasis nicht ohne die Beachtung des gegenwärtigen Standes in der logischen Forschung gelingen 8

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kann. Sie ist daher eine ziemlich umfangreiche Forschungsaufgabe, die hier nur angedeutet werden sollte. Wir bemerken noch, daß Entwicklungen bei funktionaler Erfassung von Bewegungen zwar in den Eigenschaften der entsprechenden Funktionen erscheinen können, aber nicht notwendig erscheinen müssen. Verwendet man z. B. eine analytisch wie immer fixierte Arbeitsproduktivität als Kennzeichen des Ausdrucks von gesellschaftlichen Bewegungen, so wird man zweifellos bei Feststellung der Zunahme des Werts der Arbeitsproduktivität von „Wachstumsvorgängen" sprechen können. Jedoch ist bekanntermaßen eine Steigerung der Arbeitsproduktivität unter qualitativ gleichen Bedingungen möglich und reflektiert dann natürlich keine Entwicklung, sondern eine Zunahme der Arbeitsintensität. (Ein Auto entwickelt sich nicht, indem es eine höhere Geschwindigkeit realisiert, wenngleich schnellere Kraftwagen gegenüber älteren Modellen eine Entwicklungsifw/e darstellen!) Die Frage nach der Entwicklung ist also — als Grundfrage der materialistischen Dialektik — nicht allein durch Untersuchung der Eigenschaften einer Funktion zu beantworten. Sie muß durch die Beachtung der Konsequenzen gelöst werden, die sich ergeben, wenn man ein funktional dargestelltes analytisches Gesetz (oder Gesetzessystem) in einem objektiv-realen System in bezug auf seine Existenzbedingungen untersucht. Genau darin sind diese Existenzbedingungen selbst als historische Fakten zu bestimmen, die sich auf Grund des Verhaltens der Systemmitglieder, welches im Gesetz seinen allgemeinen Ausdruck hat, selbst verändern. Es versteht sich dabei, daß für Systeme, welche als abgeschlossen vorausgesetzt werden, von vornherein das Entwicklungsproblem gegenstandslos ist. Hier kann Bewegung nie etwas anderes als Austausch sein, gilt also nicht als Produktion, sondern als Zirkulation. Die dialektische Sicht der Entwicklung wird demgemäß als Resultat der Zusammenfassung von empirischer Naturgeschichte und analytischer Naturwissenschaft verwirklicht, wobei die bekannten Grundgesetze der Dialektik (Widerspruch, Qualitätsumschlag und Negation der Negation) den Leitfaden der systematischen Darstellung liefern.

2. Anorganische Natur und Entwicklung In der klassischen, analytischen Physik ist unmittelbar von Entwicklung keine Rede. Hier geht es um die Erfassung der inneren Dynamik von als abgeschlossen gedachten Systemen, d. h. um die inneren Bewegungen als Vorgänge des Austauschs von Impuls und Energie. Die Grundvoraussetzung der physikalischen Dynamik ist die Abstraktion der Zeit von der Bewegung, d. h. die Fixierung einer Elementardauer als des extensiven Grundwerts der Bewegung. Bezüglich dieser Abstraktion bedeuten die Naturgegenstände fixierbare Lagenwerte (die res extensa des DESCARTES ist 114

der Inbegriff der räumlichen Wertung der Materie in Unterscheidung von ihrer Bewegung). Damit wird die Bewegung von Gegenständen als Funktion der Zeit rekonstruiert: Jedem Lagenwert ist eindeutig ein Zeitwert zugeordnet (dies ist die kinematische Fassung der Bewegung). Ihre eigentlich dynamische Bestimmung gewinnen die Gegenstände dadurch, daß ihnen weiter ein Massenwert zugesprochen wird, der analytisch ihre Widerstandsfähigkeit gegen Einwirkungen ausdrückt, die auf die Änderung ihres Bewegurigszustandes gerichtet sind (welcher durch einen Geschwindigkeitswert analytisch zum Ausdruck kommt bzw. durch einen Impulswert). Darin wird, was naturdialektisch sehr wichtig ist, die Erhaltung des Bewegungszustandes als Resultat der Fähigkeit des Gegenstandes, die Veränderung desselben dagegen als Produkt der Fähigkeit der Umwelt angesetzt. So also verteilt die Analytik die Gegensätze, um die gedachten Objekte (Gegenstand und Umwelt) widerspruchsfrei zu halten — obgleich ganz klar ist, daß ein wirkliches Objekt mit konstanter Relativgeschwindigkeit nicht besteht und die Annahme seiner aktuellen Realisiertheit eine Kontradiktion einschließt. Es handelt sich damit in der physikalischen Dynamik in keinem Fall um die Beschreibung von Entwicklungsprozessen (was umgangssprachlich gern mit dem Worte „dynamisch" assoziiert wird). Vielmehr fungieren in ihr die Naturgegenstände als Träger von BewegungsFähigkeit; und der Austausch der verschiedenen Arten der Bewegungsfähigkeit (in der physikalischen Erscheinungsweise der Energieformen) ist das eigentliche wissenschaftliche Objekt der physikalischen Dynamik. Dabei erklärt die Physik mit dem bekannten Erhaltungssatz für die Energie, daß in der Natur Bewegungsfähigkeit weder erzeugt noch vernichtet, sondern jederzeit in aktuellen Bewegungen nur ausgetauscht wird. Auf diese Weise erscheinen der Physik die Naturgegenstände als „Besitzer" von Anteilen an einer allgemeinen „Substanz" (eben der Energie), die sie untereinander abgeben können. Damit ist dynamisch die Naturbewegung als Aufnahme oder Abgabe von Bewegungspotenz verstanden, also insgesamt stets als Reproduktion ihrer selbst. Bezieht man sich überdies auf ein abgeschlossenes System, so können Bewegungen als Umverteilungen von Energiebeträgen im System dargestellt werden. Eine Entwicklung mit dem Resultat einer Wertänderung des Systems selbst steht außerhalb der Betrachtung. In diesem Sinne hat die Dynamik einen durchaus „konservativen" Charakter: Sie sucht eben jene Determinanten zu bestimmen, die Ausdruck für die Erhaltung des Systems in der Wechselwirkung seiner Elemente untereinander sind. Diese Eigentümlichkeit der klassischen Dynamik bedeutet keineswegs, daß sie das dialektische Denken ausschließe (wie im Anschluß an die von der deutschen Klassik mit Bezug auf die Physik NEWTONS ausgesprochene Meinung immer wieder versichert wird). Es bedeutet vielmehr, daß natürliche Entwicklungen mit Reproduktionsprozessen verbunden sind, die man ihrerseits isolieren kann (durch Systemabschluß), um sie im „reinen" Fall zu studieren; und kein materialistischer Dialektiker wird bezweifeln, daß Reproduktionen (Erhaltungsvorgänge) reale 115

Momente natürlicher Bewegungen sind. Sind Systeme Träger von Entwicklungen, so können sie das nur sein, wenn sie nach einem Entwicklungsschritt noch immer als dieselben Systeme identifizierbar sind. Dies aber ist nur möglich, "wenn wenigstens eine Systemgemeinschaft in der Entwicklung unverändert erhalten bleibt. Indem man sich in speziellen Analysen gerade für die Bedingungen solcher Invarianten interessiert, macht man die Dialektik nicht zu einer Theorie mit ungültigen Sätzen, sondern nimmt eine Abstraktion vor, in der die Dialektik der Sache zwar zugrunde liegt, aber nicht mehr unmittelbar wahrnehmbar ist (sowenig wie man am widerspruchs/re/e« Standard den Widerspruch der Standardisierenden sehen kann!). Unter Beachtung des gegenwärtigen Standes der naturwissenschaftlichen Erkenntnis auf der Basis der analytischen Methode wird man wohl akzeptieren können, daß in ihr das Entwicklungsphänomen begrifflich im einfachsten Fall als irreversible Zustandsänderung eines Systems auftritt. Indem wir in der Sprache der Thermodynamik Vorgänge als Zustandsänderungen fassen, können wir auch sagen: Die Naturwissenschaft begreift Entwicklungen im elementaren Fall als irreversible Vorgänge. Die Irreversibilität ist darin eine Eigenschaft, die erscheint, indem der erreichte Endzustand eines Vorgangs (Prozesses) nicht wieder in den Anfangszustand desselben zurückgeführt werden kann. Vorgänge, für die diese Rückführung realisierbar ist, heißen dagegen reversibel. Wir können damit in vereinfachender Ausdrucksweise sagen: Reversible Vorgänge sind Kreisläufe; irreversible Vorgänge sind Entwicklungen. Indem nun reversible Vorgänge nur auf der Basis von irreversiblen Vorgängen bestehen können, sind also Kreisläufe (Reproduktionsprozesse) niemals etwas anderes als abstrahierbare Momente von Entwicklungen. Dies ist m. E. der fundamentale Inhalt des II. Hauptsatzes der Thermodynamik, wie er für die materialistische Dialektik wesentlich ist. Bereits vor längerer Zeit hat C. F. v. WEIZSÄCKER gegen die überkommene Vorstellung von der Ungeschichtlichkeit der Natur polemisiert: „Aber diese Geschichtslosigkeit der Natur ist eine optische Täuschung . . . Es gibt einen Satz der Physik, den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, nach dem das Naturgeschehen prinzipiell unumkehrbar und unwiederholbar ist. Diesen Satz möchte ich als den Satz von der Geschichtlichkeit der Natur bezeichnen." 19 In neuerer Zeit hat v. WEIZSÄCKER diese naturwissenschaftliche Konzeption präzisiert und zum Ausdruck gebracht, daß wir mit Bezug auf die Bestimmung von „Entwicklung" im Sinne von „irreversiblem Vorgang" genau zwei wissenschaftliche Theorien in der Naturerkenntnis besitzen: „Die statistische Thermodynamik und die Selektionstheorie." 20 v. WEIZSÄCKER stellt in diesem Zusammenhang gegenüber der traditionellen Vorstellung von der Entropi^Verminderung 19

C. F. v. WEIZSÄCKER, Die Geschichte der Natur, 6. Aufl., Göttingen 1964, S. 10

20 C. F. v. WEIZSÄCKER, Die philosophische Interpretation der modernen Physik, 2. Aufl., Nova Acta Leopoldina, N. F. Nr. 207, Bd. 37/2, Halle/Saale 1973, S. 8

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infolge der Entstehung von Organismen über die biologische Evolution die These auf, daß dieser „Satz einfach falsch ist", und bemerkt schließlich: „Entwicklung ist . . . eine unmittelbare Folge des zweiten Hauptsatzes, . . . es bleibt kein Paradoxon zu beheben." 21 Natürlich ist es auf dem Standpunkt des Materialismus vernünftiger, den II. Hauptsatz als den wissenschaftlichen Ausdruck der Existenz von Entwicklungen zu erklären, als umgekehrt die wirklichen Entwicklungen zur „Folge des zweiten Hauptsatzes" zu machen! Unabhängig von dieser und mancher anderen Problematik im Konzept v. WEIZSÄCKERS wird man dem Physiker aber sicher zustimmen dürfen, daß seine Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sinns des II. Hauptsatzes der Thermodynamik als des Ausdrucks der Historizität der Natur im wesentlichen, im Grundsatz richtig sind. Dieser Satz erklärt nicht, warum Entwicklungen wirklich, sondern warum sie möglich sind. Er stellt nämlich fest : Wenn wir ein thermodynamisches System gegen seine Umgebung so abschließen, daß ihm der Arbeits- und Wärmeaustausch mit dieser unmöglich wird, dann wird das System irreversibel in den Zustand des thermodynamischen Gleichgewichts übergehen, der seinerseits analytisch durch das Maximum der Entropie gekennzeichnet ist. Man bemerkt, daß in dieser Ausdrucksweise die metaphysische Interpretation des II. Hauptsatzes verschwunden ist, ohne daß der physikalische Sinn auch nur im mindesten angetastet wird. Die wirkliche Aussage vom Einstellen des Entropiemaximums ist einfach die: Vorausgesetzt, wir hätten ein System, dessen Teilsysteme untereinander Energieverteilungsi/ijQferewzeM aufweisen, wie wird sich das System als Ganzes verhalten? Die Prognose des II. Hauptsatzes ist dann festzustellen: Unter der hinreichenden Bedingung des Abschlusses dieses Systems gegen die Umwelt wird es zu einem Ausgleich der WexieiXwngsdifferenzen kommen! Der ökonomisch gebildete Leser wird nicht so große Mühe haben, zu erkennen, daß hier in der Physik die Erkenntnis von der Reduktion auf den Durchschnittsgewinn in einem Austauschsys/ew in anderer Weise formuliert ist. Der II. Hauptsatz fixiert das Sjifemverhalten in Abstraktion von der Verschiedenheit der individuellen Verhaltensweisen seiner Teilsysteme und stellt fest: Dieses Systemverhalten ist stets auf die Einstellung des Gleichgewichtszustandes gerichtet, d. h. auf die Stabilisierung des Ganzen! Die durch v. WEIZSÄCKER erkannte Bedeutung dieser generellen Tendenzeigenschaft, nämlich die Geschichtlichkeit des Systems zu ermöglichen, steht in voller Übereinstimmung mit der Konzeption der Entwicklung, wie sie von der materialistischen Dialektik ausgebildet worden ist. Die Schwierigkeiten, den vernünftigen Sinn des II. Hauptsatzes der Thermodynamik zu verstehen, werden vornehmlich durch den Umstand bedingt, daß der Entropiebegriff als eine mathematische Konstruktion zuerst eingeführt worden ist, deren physikalischer Sinn dunkel geblieben ist. R. GILES hat hier einen bemerkenswerten Ausweg beschritten, nämlich Vorgänge als Träger von Irrever21

Ebenda, S. 9. 117

sibilität vorauszusetzen, um sodann die Entropie — ohne Umweg über Energie und Temperatur — als Maß der Irreversibilität einzuführen. 22 Wir verweisen hier nur auf seine Arbeiten, ohne sie näher zu betrachten. Es muß noch bemerkt werden, daß ein Gleichgewichtszustand eines Systems selbstverständlich immer mit Bezug auf die äußeren Bedingungen bestimmt ist. Es gibt keine „Gleichgewichte an sich"! Ebenso ist klar, daß die Einstellung eines Gleichgewichtszustandes in keiner Weise das „Ende der Bewegung" bedeutet, sondern lediglich, daß sich die bezüglich der Umgebung fixierten Zustandseigenschaften des Systems bis auf Fluktuationen nicht ändern und die inneren Systembewegungen als inverse Gegensätze auftreten: Zu jeder Erzeugungsoperation gibt es eine Vernichtungsoperation, die der Erzeugung das Gleichgewicht hält, welches seinerseits durch den Abschluß gegen die Umgebung erhalten wird. Gleichgewichtszustände sind thermodynamisch durch Temperaturen gekennzeichnet. Generell sind Gleichgewichtszustände nicht „an sich existierende Fakten", sondern — mit R. G I L E S zu sprechen — Zustände „maximaler Bestimmtheit" 2 3 , d. h. Zustände, die durch den Ausschluß der Unbestimmtheit realisiert und erhalten werden, also nur in der Aktion dieses Ausschließens Wirklichkeit erlangen. In dieser Sicht ist klar, daß reale Gleichgewichtszustände die Dialektik ebensowenig desavouieren wie die Existenz analytisch identischer Standards! Der II. Hauptsatz macht Gebrauch von der Voraussetzung von Energieverteilungsi/ij^e/wize/i und gibt keine Auskunft darüber, woher sie stammen. Diese Auskunft ist nur historisch-konkret zu erlangen und zeigt, daß die Systembildung mit diesen Differenzen als Gegenstand des Ausgleichs gemäß dem II. Hauptsatz natürlich zugleich eine unbestimmte Differenz zur Umwelt einschließt, die ihrerseits vom II. Hauptsatz nicht betrachtet ist, ungeachtet dessen aber wirklich zugleich mit der Systembildung erzeugt wird. Damit unterstellt dieser Satz implizit stets ein Verhältnis System — Umwelt, welches seinerseits nicht dem Ausgleich unterworfen ist, aber eben diesen im Systeminnern bedingt. Man bemerkt übrigens daran gut, wie wenig geeignet eine abstrakte Gegenüberstellung von „innerer Selbstbewegung" und „äußerer Beeinflussung" geeignet ist, die reale Naturdialektik zu verstehen: Das „Innere" ist immer durch das „Äußere" bedingt und umgekehrt; und das wirkliche Innere, von dem in der Dialektik gesprochen wird, ist — hegelisch gesagt — die Einheit seiner selbst und seines Gegensatzes (des Äußeren). Für die Materie überhaupt gibt es kein „Äußeres". Daher ist jedes besondere System in der Natur „selbstbewegt" auf Grund seiner Struktur wie der ihm gegebenen Umwelt (ohne die es gar nicht definiert ist!). Eine „Selbstbewegung" im Vakuum ist eine Absurdität.

22 Vgl.: R. GILES, Mathematica! foundations of thermodynamics, Oxford/London/New York/ Paris 1964, Ders., An elementary introduction to entropy via irreversibility, in Pure and Applied Chemistry 22 (1970) 3/4, S. 5 0 3 - 5 0 9 23 118

R. GILES, An elementary introduction . . ., a. a. O., S. 508

Gemäß diesen Feststellungen liefert der Entropiesatz die Orientierung im Systemverhalten von Systemen, die von vornherein gegen eine Umwelt bestimmt sind. Geht man daher zur Betrachtung von Individuen über oder — entgegengesetzt — zur Betrachtung des Kosmos, so hebt man die Bedingungen seiner Gültigkeit auf. Dieses Schicksal teilt er mit allen anderen analytisch fixierten Naturgesetzen. Im Rahmen seiner Geltungsbedingungen aber liefert er sehr wohl eine physikalische Basis der Historizität in der Natur. LÖTHERS Einwand gegen WEIZSÄCKERS Deutung 2 4 ist daher kaum akzeptabel; der Hinweis auf die statistische Deutung besagt gegen diese Deutung nichts. 25 Ungeachtet der Schranken des Konzepts von der Bedeutung des Entropiesatzes als des Satzes „von der Geschichtlichkeit der N a t u r " wird man doch sagen können, daß mit ihm eben eine physikalisch notwendige Bedingung der Historizität formuliert ist. Man hat dazu stets zu beachten, daß jeder Satz für abgeschlossene Systeme erklärt ist und eben dadurch eine Sysiemeigenschaft (nicht eine individuelle!) zum Ausdruck bringt. Zweifellos erklärt also der II. Hauptsatz etwas Wesentliches über geschichtliche Entwicklungen: Indem er nämlich über von der Umwelt isoliert unterstellte Systeme deren Gleichgewichtseinstellung als den £«¿/zustand feststellt, besagt er implizit, daß von der Umwelt nicht isolierte Systeme ihre Erhaltung (Reproduktion) eben dadurch realisieren, daß sie das innere Gleichgewicht reproduzieren, und zwar unter jeweils auch durch den Einfluß des Systems selbst geänderten Umweltbedingungen. Auf diese Weise erscheint analytisch die Geschichte eines Systems als eine Folge verschiedener Gleichgewichtslagen bei systemverträglichen Umweltänderungen. Man muß also in der Tat nicht behaupten, daß die Entwicklung (die Geschichte) eines Systems dadurch verwirklicht werde, daß sich das System „dem II. Hauptsatz entzieht". Tatsächlich formuliert dieser Satz die Entwicklung vom Standpunkt des Systems, ohne dabei die Entwicklung vom Standpunkt der Individuen als nichtig zu erklären (dieser Standpunkt ist nur ßr die Analytik irrelevant). Und die wirkliche Entwicklung ist natürlich die konkrete Einheit des Systemverhaltens und des Verhaltens der Individuen des Systems. Die Thermodynamik der irreversiblen Vorgänge, speziell der offenen Systeme, befindet sich gegenwärtig in einem raschen Wachstumsprozeß. Es ist daher zu erwarten, daß schon in der nächsten Zeit bedeutsame neue theoretische Erkenntnisse der Naturwissenschaft über die physikalischen Grundlagen der Entwicklung gewonnen werden. 26 Eine sichere Grundlage für die dabei möglichen Fortschritte ist gewiß das Verständnis des Entropiesatzes als eines Grund24

Vgl. Anm. 19

25 R. LÖTHER, Entropie und Evolution, in: Wiss. Z. d. HU Berlin, Math.-Nat. R. X X I I (1973) 1, S. 25 - 2 7 26 Vgl. M. EIGEN, Selforganization of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules, in: Die Naturwissenschaften 58 (1971) 10, S. 465 - 5 2 3

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gesetzes des Inhalts, daß alle „sich selbst überlassenen" Systeme innere Änderungen nur in Richtung auf den Ausgleich in der Verteilung der Energiewerte auf die Teilsysteme realisieren. In diesem Sinne sind Entwicklungen — vom Standpunkt ihrer Träger, der Systeme — Ausdruck ihrer Selbststabilisierung. Die Stabilität ist vollkommen, wenn die Gleichheit der Teilsysteme bezüglich des „Besitzes" von Energie erreicht ist. Ungleichheiten in der Wertverteilung sind weniger stabilisierend und verschwinden in endlicher Dauer unter Voraussetzung der Konstanz der Umwelt. Wie man die Physik als Theorie des ünerg/eaustausches unter verschiedenen Bedingungen betrachten kann, so läßt sich die Chemie als eine Wissenschaft des Stoff- oder 7ei'/c/iewaustausches verstehen. Während daher „Kräfte" als Ausdruck von Wechselwirkungen für die Physik typisch sind, handelt die Chemie von natürlichen Bewegungen als Stoffproduktionen und -konsumtionen. Das reaktive Verhalten der Gegenstände ist somit der wesentliche wissenschaftliche Gegenstand der Chemie. Wenn auf Grund der Quantenphysik dies reaktive Verhalten aus den Eigenschaften der Elektronenhülle der Atome erklärt werden kann, so ist damit natürlich keineswegs die Chemie sozusagen in Physik „aufgelöst". Mit der Existenz von Atomen sind vielmehr chemische Elementarobjekte gegeben, deren Bindungsverhalten eben die Gegenstände der Chemie hervorbringt. Der definitive Anschluß einer Wissenschaft an die andere ist nie die Liquidation der einen im Namen der anderen. (Das reaktive Verhalten der Elementarteilchen legitimiert die chemische Sicht der Natur!) Bekanntlich verlaufen chemische Reaktionen — unter Nichtbeachtung des dabei auftretenden Energieaustauschs — nach dem Schema: Synthese Element + Element

Verbindung Analyse

In dieser Darstellung bedeutet natürlich das Zeichen + keine algebraisch charakterisierbare Operation, sondern liefert einfach eine sprachliche Darstellung der chemischen Vereinigung unterschiedener Elemente als Voraussetzung der Synthese oder Resultat der Analyse. Elemente sind Grundobjekte des chemischen Verhaltens (also der reaktiven Tätigkeit). Zwei verschiedene Naturgegenstände vertreten dasselbe Element, wenn sie gleiche Kernladungszahlen besitzen, also in der Anzahl ihrer Elektronen pro Atom übereinstimmen. Stoffe nennt man die Elemente und ihre Verbindungen. Verbindungen sind die Produkte des reaktiven Verhaltens der Elemente. In der Darstellungsform A B findet die Reaktion ihren einfachsten sprachlichen Ausdruck; A ist dabei Ausgangs-, B Endstoff der Reaktion. Die Produktion 120

A B wird Hinreaktion, die Produktion A *- B wird Rückreaktion genannt. Beide Reaktionen sind dual bzw. invers zueinander. Im Falle des Abschlusses einer Reaktion gegen die Umwelt stellt sich im allgemeinen im Reaktionssystem ein Gleichgewicht ein, das dem Inhalt der Feststellung des Entropiesatzes entspricht. Makroskopisch zeigen sich dann am Reaktionssystem keine Veränderungen, während mikroskopisch der Umsatz von Teilchen der Art A wie der Art B erfolgt. Erzeugung und Vernichtung von Teilchen der an einem Reaktionssystem beteiligten Arten sind somit füreinander duale Gegensätze mit dem Gleichgewichtszustand als dem identischen Bezugspunkt des reaktiven Verhaltens im abgeschlossenen System. Diese Darstellungsweise natürlicher Bewegungen ist von erheblicher Allgemeinheit; sie betrifft alle Teilchenumwandlungen im Wege von Dekomposition und Rekombination. Solche Vorgänge sind nicht allein für die Chemie, sondern auch für die Physik und Biologie relevant. Die Chemie hat als erste Wissenschaft das methodische Instrumentarium zur Erkenntnis solcher Vorgänge geliefert. Wenn wir in der Physik z. B. die Bildung von Plasmen untersuchen, bestimmen wir die Trägerdichte in einem Plasma als Resultat der Gleichgewichtseinstellung zwischen der Ionisation (Erzeugung von Plasma bestimmenden Trägern) und der Rekombination (Vernichtung von Plasma bestimmenden Trägern). In der Biologie ist der Genpool einer (biologischen) Art dasjenige System, in dem die Träger der Erbanlagen durch identische Reproduktion und Mutation erzeugt und durch Selektion vernichtet werden. Die Selektion ist hier also der duale Gegensatz zur genetischen Reproduktion (einschließlich der Mutation). In der gegenwärtigen Literatur zu den Problemen der materialistischen Dialektik wird die Tatsache des Auftretens von dual entgegengesetzten Prozessen in einem makroskopischen System nicht selten bereits als Beweis für die Realität des dialektischen Widerspruchs in der Natur genommen. Man muß dabei zugeben, daß das Bedürfnis nach sinnlicher Anschauung der allgemeinen Feststellungen der Dialektik gerade in der Existenz dualer mikroskopischer Prozesse in einem Makrosystem ein gut geeignetes Beispiel für seine Befriedigung findet. Daß auf diese Weise nun an die Stelle des dialektischen Denkens vielmehr der Dualismus tritt, ist unter der Bedingung, eine Befriedigung für die Anschauung zu haben, zunächst ein scheinbar „kleines Übel". Denn immerhin besitzt man so die Gewißheit der realen Existenz von Gegensätzen in einer definierten Einheit, eben im makroskopischen Reaktionssystem. Für das theoretische Denken wird die Sache jedoch sofort höchst problematisch, wenn das Entwicklungsprob\em gestellt wird. Denn der duale Gegensatz der mikroskopischen Prozesse in einem System ist durch das thermodynamische Gleichgewicht bedingt. Im großen ist daher mit der Ersetzung der Dialektik durch den Dualismus die berüchtigte „Wärmetod"Konsequenz des Entropiesatzes unvermeidlich. Demzufolge ist es erforderlich, genau zwischen dualen und dialektischen Gegensätzen zu unterscheiden, also unter allen Umständen eine Identifikation beider auszuschließen. (Dies macht man 121

z. B. nicht, wenn man bezüglich der biologischen Evolution Mutation und Selektion als „dialektische Gegensätze" erklärt!) Wir halten hier fest, daß die Charakterisierung von gegenläufigen Prozessen als „dualer Gegensätze" auf der Voraussetzung der Isolierung eines Makrosystems von Seiner Umwelt basiert. Erst mit der Angabe einer Identität kann ein spezieller Dualismus gekennzeichnet werden. Die scharfe Bestimmtheit dual entgegengesetzter Vorgänge besteht also relativ zur Voraussetzung, daß ein untersuchtes System von seiner Umwelt getrennt wird. In diesem Sinne ist der Dualismus die Widerspiegelung der dialektischen Gegensätzlichkeit unter der Bedingung ihrer abstraktiven Aufhebung. Wenn in diesem Zusammenhang in der Dialektik von der „Selbstbewegung" die Rede ist, bezieht sich das immer auf Systeme in ihrem Zusammenhang mit der Umwelt. Von der Umwelt getrennte Systeme entwickeln sich nicht, und ihre Selbstbewegung reduziert sich in diesem Fall auf die mikroskopischen Prozesse, deren Dualismus im Gleichgewichtsfall zur wechselseitigen Aufhebung ihrer Resultate führt. Die von der Dialektik gemeinte Selbstbewegung von Systemen ist daher immer eine Einheit von innerer und äußerer Bewegung. Erst in der Abtrennung der äußeren Verhältnisse von den inneren Änderungen wird der dialektische Gegensatz auf den dualen reduziert. In dieser Reduktion verschwindet die Natur des Widerspruchs, „ein energisches, zur Auflösung treibendes Verhältnis" zu sein, und es erscheint der duale Gegensatz, der den „ewigen Kreislauf des mikroskopischen Geschehens in einem System suggeriert. Natürlich kann man dieser Deutung nicht entgehen, wenn man — unter anderen Voraussetzungen — die äußeren Bewegungsbedingungen eines Systems für „rein äußerlich" ausgibt, sie so für unwesentlich erklärt und allein das „Innere" für das Wesen der Sache nimmt. Für das naturwissenschaftliche Evolutionskonzept hat die Untersuchung des reaktiven Verhaltens das wichtige Resultat, die Entstehung von Trägern neuer Eigenschaften zu erklären. Von den Atomen, den (klassisch) chemisch einfachsten Gegenständen führt die chemische Evolution unter geeigneten thermodynamischen Bedingungen zum Aufbau immer komplizierterer Molekülverbände. In den subatomaren Bereichen (die man zum Gegenstand der Physik zählt) erscheint in den Umwandlungsvorgängen der Elementarteilchen ein analoges reaktives Verhalten, das in der Sprache der Reaktionsgleichungen zum Ausdruck gebracht wird. Kernumwandlungen (etwa der Aufbau von Helium aus Wasserstoff im Sterninnern) sind wie Molekülbildungen wesentliche Bedingungen für natürliche Evolutionsprozesse. Sie ändern die Art der Zusammensetzung eines Systems und bedingen so die Änderung in den Werten der makroskopischen Zustandsgrößenarten, in der die Entwicklung eines Systems analytisch erscheint. Unter dem Terminus „chemische Evolution" werden gegenwärtig speziell Vorgänge untersucht, die die abiotische Bildung organischer Stoffe zum Inhalt haben und in der Erdgeschichte vor ca. 3 Mrd. Jahren faktisch erfolgten. Es 122

ist bekannt, daß die Erdatmosphäre zu dieser Zeit keinen SauerstofTanteil enthielt, sondern im wesentlichen aus Wasserstoff, Ammoniak, Wasserdampf, Methan, Cyanwasserstoff und Azetylen bestand. Unter solchen Bedingungen die biochemisch wichtigen Stoffe (Aminosäuren und Mononukleotide) zu synthetisieren, ist experimentell als ein bemerkenswert einfacher Vorgang gezeigt worden. Ebenso hat sich die Polymerisation der biochemischen Verbindungen zu den für die Entstehung des Lebens erforderlichen Makromolekülen als relativ leicht zu bewerkstelligender Prozeß zeigen lassen. Damit ist bestätigt, daß die abiotische Synthese organischer Stoffe unter den entsprechenden physikalischen und chemischen Voraussetzungen ein durchweg normaler natürlicher Vorgang ist. Wie bekannt, sind Nukleinsäuren und Proteine die entscheidenden biochemischen Voraussetzungen des Lebens. Nukleinsäuren haben die wichtige Fähigkeit, sich selbst zu vermehren, und sind überdies imstande, die Synthese von katalytisch wirksamen Eiweißen unter bestimmten Bedingungen zu kontrollieren. Auf diese Weise schafft die chemische Evolution die historischen Voraussetzungen für die Möglichkeit der biologischen Evolution. Das biologische Verhalten ist jedoch nicht einfach eine kompliziertere Form der Stoffproduktion, sondern wesentlich die aus der Wechselbeziehung zwischen Nukleinsäuren und Proteinen sich ergebende Organisation von Makromolekülen zu Organismen, die Verhaltensarten gegen die Umwelt konstruktiv erproben können, indem sie sich reproduzieren und Populationen bilden, welche die realen Vertreter einer biologischen Art sind. Organisation und Information sind damit die wichtigen Eigenschaften, die auf dieser Stufe der natürlichen Entwicklung neu auftreten. Die von Populationen getragene Entwicklung ist der Gegenstand der biologischen Evolutionstheorie.

3. Die synthetische Theorie der biologischen Evolution Man unterscheidet in der Biologie die „klassische" (DARWiNsche) von der gegenwärtigen „synthetischen" Entwicklungslehre aus folgenden Gründen: Nach DARWINS ursprünglicher Ansicht gilt die Evolution biologischer Arten als Selektionsprodukt, wobei die Selektion selbst infolge der Konkurrenz unter den Individuen einer Population bezüglich der „Tauglichkeit" vor allem im Frühstadium auftritt. Diejenigen neuen Individuen einer Art haben die größeren Überlebens- und vor allen Fortpflanzungschancen, die im Vergleich zu ihren Artgenossen „tauglicher" sind. Die größere Wahrscheinlichkeit der Fortpflanzungsmöglichkeit erscheint dabei in der Selektion, wodurch sich der biologische Evolutionsprozeß als Stabilisierung einer Artnorm durchsetzt. Die Entscheidung über das Maß der Tauglichkeit eines Individuums für die Reproduktion der Art fallt dabei in seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt so wie in der Wechselwirkung mit den Artgenossen. 123

D A R W I N ging bei der Formulierung des Selektionsprinzips, des Grundprinzips der klassischen biologischen Entwicklungstheorie, von der Vorstellung aus, daß in allen biologischen Arten in jeder Generation mehr Nachkommen erzeugt werden, als Eltern vorhanden sind, so daß bei endlicher Anzahl der in einer gegebenen Umwelt lebensfähigen Individuen eine Konkurrenz entsteht, die eben zur „Auslese" der für die Arterhaltung am besten geeigneten Individuen führt. Danach erscheint die Natur insgesamt als ein Züchter, der aus der Menge der Individuen einer Population diejenigen zur Produktion des Nachwuchses herausgreift, die den Umweltbedingungen bezüglich der Arterhaltung am besten angepaßt sind.

Die theoretische entscheidende Schwäche des klassischen Darwinismus besteht darin, daß er keine Annahmen über die Natur der erblichen Arteigenschaften enthält. Dadurch hängt das Selektionsprinzip sozusagen „in der L u f t " : Es ist einsichtig, daß bei Voraussetzung konstanter Erbeigenschaften die Selektion nach hinreichender Dauer zum Erliegen kommen muß, d. h. zu „reinen Linien" führt, an denen nichts mehr zu selektieren ist. Demzufolge kann die Selektion nur wirklich als Erklärungsprinzip für die Evolution fungieren, wenn sie durch eine Konzeption über die Entstehung erblicher Unterschiede komplettiert wird. D A R W I N nimmt die Existenz von erblichen Unterschieden in einer Art als Voraussetzung an, aber er erklärt nicht ihr Entstehen. Gibt es keine Erzeugung von erblichen Verschiedenheiten, ist Evolution auf Dauer unrealisierbar. Die Selektion kann keine Reaktionsnorm herausbilden, wenn nicht eine genügende Varietät (Normabweichung) in den Erbanlagen besteht und fortwährend reproduziert wird. Vom Standpunkt der materialistischen Dialektik ist es evident, daß das Problem des klassischen Darwinismus in der biologischen Fassung des Widerspruchs von Erhaltung und Veränderung des Artverhaltens besteht. Die Reproduktion der Art muß nicht nur Kopien der Artträger erzeugen, sondern auch Individuen, die Träger neuer Möglichkeiten des Artverhaltens sind. Andernfalls wird die Art so hochnormiert, daß sie unter geänderten Umweltbedingungen keine Verhaltensweisen mehr zu aktivieren imstande ist, die nun die weitere Existenz der Art realisieren. Eben in diesem Zusammenhang setzt die klassische Vererbungslehre MENDELS ein, deren weitere Ausbildung mit dem Begriff der Mutation (eingeführt von DE VRIES) die Entstehung sprunghafter Änderungen in den Erbanlagen bestimmt. Es ist in diesem Sinne die Mutabilität, die in einer biologischen Art die Reproduktion der genetischen Verschiedenheit unter den Individuen derselben Art garantiert. Mit der Mutabilität existiert für die Selektion stets ein Reservoir von genetischer Varietät als Voraussetzung ihrer eigenen Existenz. Die in der biologischen Vererbung den Nachkommen mitgeteilten Eigenschaften (Verhaltensmöglichkeiten) werden auf Grund der Reproduktion ihrer materiellen Träger mitgeteilt oder gar nicht. Eben — diese Träger hat die Gene-

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tik eindrucksvoll durch die Analyse der Wechselbeziehungen zwischen den Nukleinsäuren und den Eiweißen aufgedeckt. Sie, die berühmten Gene, sind Teilabschnitte der Doppelspiralen der Desoxyribonukleinsäure ( D N S ) , die durch ihre Organisation den Bau und das Verhalten der Organismen bestimmen. Das atomistische Konzept der Genetik MENDELS ist damit klar bestätigt und komplettiert den Ansatz der Evolutionstheorie DARWINS. Die Synthese des klassischen Darwinismus und der Genetik wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts über den A u f b a u der Populationsgenetik vollzogen und hat zum gegenwärtigen Konzept der „synthetischen Evolutionstheorie" geführt. Einige Biologen vertreten heute die Ansicht, daß wir bereits die wesentlichen Faktoren der biologischen Entwicklung kennen. STEBBINS Z. B. schreibt: „ I c h glaube, daß wir in ein neues Zeitalter der Evolutionsforschung eingetreten sind. Das Gerüst ist solide gebaut und wird kaum durch zukünftige Forschung zerstört oder grundlegend verändert werden." 2 7 Andere Biologen sind etwas vorsichtiger in ihren Wertungen der synthetischen Evolutionstheorie. Im allgemeinen herrscht jedoch Einigkeit darüber, daß diese Theorie eine erhebliche Fülle von Erscheinungen der biologischen Evolution zu erklären vermag. Z u m Verständnis der Erklärungsprinzipien der synthetischen Evolutionstheorie ist zu beachten, daß als Träger von Entwicklungsvorgängen stets (biologische) Arten, also Gattungen gelten, die real durch eine oder mehrere Populationen bestehen. Individuen realisieren in (vorgestellter) Trennung voneinander keinen Evolutionsprozeß. Das Subjekt einer Entwicklung ist somit — im Rahmen der synthetischen Evolutionstheorie — immer ein Kollektiv von Individuen. Die einzelnen Angehörigen einer Population prägen unter gegebenen Umweltbedingungen ihre Verhaltensmöglichkeiten aus, wobei die Selektion die Erscheinungsweise der Bewertung des individuellen Verhaltens nach der Norm der Arterhaltung ist. Die Entwicklung realisiert sich dann als Änderung der Artnorm in einer endlichen Folge von Generationen unter der Bedingung der Änderung der Umweltbedingungen. Bleiben letztere in einer bestimmten Dauer konstant, so reduziert sich die Entwicklung auf die einfache Reproduktion der Art. Demgemäß ist die Entwicklung global als Entstehung neuer Arten und lokal als Optimierung bestehender Arten in bezug auf ihre Umgebungen zu verstehen. Die „Substanz" der (biologischen) Art, des Entwicklungssubjekts, ist der Genpool, also die Gesamtheit aller in einer Art realisierten Genkombinationen, die durch die einzelnen Individuen unterschiedlich getragen werden. A u f ihn bezieht sich der Selektionsprozeß, der die Anzahl der realisierten Genkombinationen einschränkt. Umgekehrt führt vor allem die Mutabilität zur Erhöhung dieser 27 G . L. STEBBINS, Evolutionsprozesse, dtsch. Übersetzung von J. QUERNER, Jena S. 14

1968,

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Anzahl, so daß Selektion und Mutation mit Bezug auf den Genpool dual entgegengesetzte Vorgänge sind, die einen Gleichgewichtszustand bestimmen, wenn die Artnorm unverändert bestehen bleibt. In der modernen synthetischen Evolutionstheorie werden im wesentlichen fünf verschiedene Faktoren oder Triebkräfte der biologischen Entwicklung angegeben: 1. 2.

3. 4.

5.

Die Mutabilität, also die Fähigkeit zur Erzeugung neuer Genkombinationen innerhalb der genetischen Reproduktion einer Art. Die Selektion, d. h. die auf Grund der Wechselbeziehungen der Organismen untereinander und der Population mit der Umwelt erfolgende wertende Auslese an individuellen Trägern von Genkombinationen nach ihrer Bedeutung für die Artreproduktion. Die reproduktive Isolation, d. h. die Abschließung einer Population gegen andere bezüglich der Fortpflanzung. Die Annidation, d. h. die Einnischung von Populationen in spezielle Umweltbedingungen (ökologische Nischen), die besonders günstige Überlebens-, chancen bieten. Die Populationsgröße mit ihren Schwankungen, die vor allem die Evolutionsgeschwindigkeit determiniert.

Unter diesen Faktoren sind zweifellos Mutation und Selektion die wichtigsten Evolutionsfaktoren, wobei die Mutation den Zuwachs an realisierten Genkombinationen, die Selektion die Abnahme derselben bezüglich eines gegebenen Genpools bestimmt. Wie bereits bemerkt, kann man daraus jedoch nicht den Schluß ziehen, daß das Verhältnis zwischen Mutabilität und Selektion den dialektischen Widerspruch in der biologischen Evolution darstellt. Tatsächlich handelt es sich darum, daß die genetische Reproduktion in ihrer Einheit von identischer Reduplikation und Mutation, also «/c/iridentischer Reproduktion die Erscheinungsweise des dialektischen Widerspruchs in der biologischen Evolution darstellt. Diese Erkenntnis ist zuerst von J . B . S. H A L D A N E ausgesprochen worden. Er schreibt: „Mutation ist in der Tat die Negation der Vererbung. Die neuen Typen, die durch Mutation hervorgebracht werden, erweisen sich sehr selten als tauglicher als der ursprüngliche Typus. Die natürliche Auslese merzt sie daher im allgemeinen aus, . . . Die Negation wird gewöhnlich negiert. Aber dies ergibt keineswegs eine gleichförmige Gattung, denn viele nachteilige Mutanten werden ganz langsam eliminiert. Sondern es führt im G e g e n t e i l , . . . , zu einem Zustand, wo die Gattung von kleinen Variationen durchdrungen ist, von denen die einzelne zeitweilig mehr oder weniger schädlich ist, die aber manchmal in entsprechenden Kombinationen vorteilhaft sind oder möglicherweise nützlich werden können, wenn die äußeren Bedingungen sich ändern." 2 8 28 J. B. S. HALDANE, Der dialektische Materialismus und die moderne Naturwissenschaft, Berlin 1948, S. 32

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Indem die Existenz von identischen Reduplikaten und Mutanten Resultat ein und desselben Vorgangs der genetischen Reproduktion ist, stellt dieser Vorgang selbst das reale Dasein des dialektischen Widerspruchs im biologischen Verhalten dar. Er basiert natürlich auf den biophysikalischen Eigenschaften der DNS-Replikation. Sie implizieren, daß in jedem Reproduktionsvorgang von Kollektiven notwendig in statistischer Bestimmtheit Normabweichungen auftreten. Auf diese Weise realisiert die kollektive Normreproduktion selbst stets die Existenz von Normabweichungen, die bezüglich ihres Wertes für die biologische Reproduktion einer Art zunächst unbestimmt sind. Genau mit der Norm und ihren Abweichungen aber ist die Gattung selbst wirklich vorhanden. In diesem Sinne liefert die widersprüchliche Reproduktion des Artverhaltens in den Nachkommen die reale Möglichkeit der Arterhaltung unter sich ändernden Umgebungsverhältnissen. Die Selektion erfüllt in diesem Zusammenhang die Funktion, die Normabweichungen nicht so groß werden zu lassen, daß die genetische Identität der Art verschwindet. So liefert die synthetische Evolutionstheorie eine empirische Basis für das Erfassen der dialektischen Grundgesetze in der Natur: Indem die biologische Evolution überhaupt auf der Artreproduktion basiert, die statistisch im Verhältnis der Mutanten zu den identischen Reduplikaten erscheint, zeigt sie den Widerspruch als das Wesen aller Bewegung. Darin sind die Mutanten einfache Negationen einer vorgegebenen Artnorm. Mit der Selektion erfolgt die Negation der Negation als Reproduktion der Einheit der Art in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen. Indem in der biologischen Evolution mit der Sozialität in der Tierwelt, mit der Kommunikation und — vor allem bei den höheren Primaten — mit der Geräteverwendung neue Verhaltensmöglichkeiten in der Natur entstehen, bereitet jene selbst die historische Voraussetzung für die Entstehung der menschlichen Entwicklung vor. Diese wird entscheidend eingeleitet durch den Übergang von der Geräteverwendung zur Werkzeugherstellung mit sozialer Verwendung. Damit entsteht die Arbeit als speziell menschliche Verhaltensweise. In ihr wird die natürliche Umwelt in unbearbeitete und bearbeitete Umwelt aufgeteilt, wodurch die Emanzipation der Menschen von ihrer Abhängigkeit bezüglich spezieller Naturbedingungen erfolgt. Die mit der fortschreitenden Ausbildung der Arbeit einsetzende Klassenspaltung realisiert eine Art der Entwicklung, die jenseits des theoretischen Zugriffs der synthetischen Evolutionstheorie liegt. Ungeachtet dessen, daß diese Theorie allein die Entwicklung von Arten betrachtet, welche ihre natürliche Umwelt nicht in Gegenstand und (bearbeitetes) Mittel aufspalten, dürfte indessen klar sein, daß ihr begriffliches Konzept von erheblicher Erklärungspotenz ist. Mit der weiteren Ausbildung der Thermodynamik irreversibler Prozesse wird gewiß die Fruchtbarkeit dieses Konzepts zunehmen. Es ist zu erwarten, daß die Naturwissenschaft damit eine einheitliche und in ihren analyti127

sehen Grundzügen mathematisch formulierte Evolutionstheorie in der Zukunft hervorbringen wird. Sie darf gewiß ein Hauptinteresse der philosophischen Arbeit im Bereich der philosophischen Probleme der Naturwissenschaften in Anspruch nehmen.

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Hans-Christoph Rauh Determinanten und Funktionen sozialer Erkenntnis Zu einigen das Ideologieproblem betreffende theoretischen und methodologischen Überlegungen Es ist das erklärte Ziel der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsentwicklung, eine solche Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses zu verwirklichen, in der die materiellen Arbeits- und Lebensbedingungen „als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle stehn" 1 . Für eine solche historisch qualitativ neuartige Bewegungs- und Entwicklungsweise der Gesellschaft schafft heute einzig und allein der reale Sozialismus durch die revolutionäre Errichtung der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse sowie vermittels einer konsequenten Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums an den wichtigsten gesellschaftlichen Produktionsmitteln die grundlegenden politischen und sozialökonomischen Voraussetzungen. Allein auf dieser Basis ist jene allseitige, von vornherein gesamtgesellschaftlich ausgerichtete planmäßig-bewußte Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung realisierbar, für die in den letzten Jahren vor allem von der KPdSU auf dem XXIV. Parteitag, vom VIII. Parteitag der SED und von den Parteitagen der anderen Bruderparteien der sozialistischen Staatsgemeinschaft so bedeutsame und weitreichende Beschlüsse und Aufgaben festgelegt wurden. Deren kontinuierliche und zielstrebige Verwirklichung ist zugleich Bedingung und Ausdruck der bisher so erfolgreichen Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft unserer Länder sowie der bereits erreichten neuen historischen Qualität der gesellschaftlichen Entwicklung, die von der überwiegenden Mehrheit der Werktätigen unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei der Arbeiterklasse immer bewußter getragen und gestaltet wird. „Im Gegensatz zu allen früheren Gesellschaftsformationen wird der Sozialismus durch das bewußte und planmäßige Handeln des Volkes geschaffen und entwickelt. Hier liegt bekanntlich auch der Kern der wirklichen Freiheit. Bewußt handeln für den Sozialismus kann aber nur der, der sozialistisches Bewußtsein besitzt, d. h. mit der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus ausgerüstet ist. Und das betrifft alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Nur so ist zu gewährleisten, daß die 1

9

K.

MARX, M E W ,

R e d l o w , Stiehler

Bd. 23, S.

94

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Tätigkeit auf allen Fachgebieten vom Ziel des Sozialismus durchdrungen ist und zu sozialistischen Ergebnissen führt." 2 Es soll im folgenden danach gefragt werden, welche Rolle in dieser Hinsicht speziell soziale Erkenntnis bzw. Ideologiebildungsprozesse bei der Herausbildung und Entwicklung einer neuen Gesellschaftsordnung spielen, durch welche objektiven materiellen gesellschaftlichen Bedingungen derartige Prozesse determiniert werden, welches ihre konkreten Inhalte sind und durch welche Funktionen und Wirkungsweisen im gesellschaftlichen Lebensprozeß schließlich ein solches Erkennen gekennzeichnet ist. Grundsätzlich gilt, daß die planmäßig-bewußte Gestaltung des Sozialismus als entwickelte sozialistische Gesellschaft, also die Reife und Vielfalt ihrer materiellen wie ideologischen gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen, ohne ein solches massenhaft herauszubildendes und in umfassender Weise zur Wirkung gelangendes soziales Erkennen bzw. ideologisches Bewußtsein nicht realisierbar wäre. Hauptträger und Organisator dieser ebenfalls qualitativ neuartigen gesamtgesellschaftlich getragenen und ausgerichteten sozialen Erkenntnisprozesse im Sozialismus sind die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei, während sich die Ideologie und Weltanschauung des Marxismus-Leninismus als der tragende und bestimmende wissenschaftliche Inhalt, als das theoretische Kernstück aller sozialen Erkenntnisprozesse im Sozialismus erweist. Ehe jedoch auf einige allgemeine Bestimmungen der besonderen Spezifik dieser Erkenntnisprozesse weiter eingegangen werden kann, ist es notwendig, zunächst zu einigen theoretischen und methodologischen Überlegungen überzugehen, um die hier zugrunde gelegten und verwendeten Begriffsbildungen „sozialer Erkenntnisprozeß" bzw. „soziales Erkennen" etwas genauer zu explizieren. Was der Sache nach damit gemeint ist, könnte nach den bisherigen einführenden Bemerkungen eigentlich auch mit „Herausbildung, Durchsetzung oder Wirkungsweise der sozialistischen Ideologie" oder kurz mit „sozialistischer Bewußtseinsbildung" charakterisiert und bezeichnet werden. Ausgehend vom MARXschen Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie" von 1859, könnte des weiteren auch von einer formationsspezifischen Herausbildung und Entwicklung des gesellschaftlichen Bewußtseins bzw. wörtlich mit MARX — „bestimmter gesellschaftlicher Bewußtseinsformen", welche ihrerseits, wie es weiter heißt, einem bestimmten „juristischen und politischen Überbau" entsprechen und der sich seinerseits auf der „realen Basis" als einer Gesamtheit der Produktionsverhältnisse bzw. „ökonomischen Struktur der Gesellschaft" erhebt, gesprochen werden. 3 Wie sich nun weiter zeigt, werden in diesen bekannten Bestimmungen von M A R X nicht nur in einer konsequent materialistischen Weise bereits die 2

Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der SED, Berlin 1971, S. 95

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M E W , Bd. 13, S. 8

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entscheidenden gesellschaftlichen Determinanten des sozialen, also wesentlich auf die Gesellschaftswirklichkeit einer bestimmten Epoche bzw. Gesellschaftsformation bezogenen Erkenntnisprozesses genannt, sondern gleichzeitig auch jene gesellschaftlichen Bewußtseinsformen — oder kurz „ideologischen Formen" — im einzelnen aufgeführt, die in der charakterisierten Weise durch ein ihnen entsprechendes und zugrunde liegendes stets konkret-historisch bestimmtes „gesellschaftliches Sein" determiniert werden. Es sind dies, wie bekannt, die juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen und philosophischen Bewußtseinsformen, die von MARX in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervorgehoben werden und für uns, heute allgemeinbegrifflich bestimmt, die wichtigsten ideellen Bestandteile einer jeden (von einer jeweiligen sozialen Gruppe, Klasse oder Gesamtgesellschaft produzierten und getragenen) Ideologie bilden. Einmal davon abgesehen, daß es um die Bestimmung des Bewußtseinsbegriffes seit Jahren verschiedenartigste einzelwissenschaftliche wie philosophischerkenntnistheoretische und soziologische Diskussionen gibt 4 und auch der marxistisch-leninistische Ideologiebegriff im Verlauf der Entwicklung des Marxismus-Leninismus selbst (besonders durch LENIN — aber unmittelbar ausgehend von MARX!) einen nicht geringen Bedeutungswandel erfahren hat 5 , besteht vor allem bei der Bestimmung und dem Gebrauch des Begriffs „gesellschaftliches Bewußtsein" unter marxistischen Philosophen keine vollständige Übereinstimmung, werden oftmals verschiedenste Aspekte bzw. jeweils engere oder weitere Bedeutungen mit dieser Begriffsbildung verbunden. Im Hintergrund all dieser Diskussionen — und das betrifft auch die vom Neopositivismus, von der Wissenssoziologie oder spätbürgerlichen „Ideologiekritik" konstruierte Gegenüberstellung von Wissenschaft und Ideologie bzw. Erkenntnis und Wertung, mit der man sich in diesem Zusammenhang auseinandersetzen muß — steht u. E. die keineswegs nur erkenntnistheoretisch-methodologisch (oder gar nur wissenschaftslogisch!) relevante Fragestellung nach der besonderen Spezifik des sozialwissenschaftlichen bzw. ideologisch vermittelten Erkennens im Unterschied (nicht Gegensatz!) z. B. zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkennen. Bei aller notwendigen und richtigen Betonung der Einheit von Naturund Gesellschaftswissenschaften bzw. von Natur- und Gesellschaftserkenntnis — die marxistisch-leninistische Philosophie hat hier tatsächlich einen in dieser Frage bis heute bestehenden Antagonismus des bürgerlichen Denkens grundsätzlich überwunden — liegt hier u. E. trotzdem ein durchaus diskussionswürdiges Problem

4 Vgl. hierzu z. B. die Materialien eines Symposiums „Probleme des Bewußtseins", das 1966 in Moskau stattfand sowie die Arbeiten von A. K. ULEDOW, Die Struktur des gesellschaftlichen Bewußtseins, Berlin 1972 und W. F. TUGARINOW, Philosophie des Bewußtseins, Berlin 1974 5 Vgl. hierzu das Stichwort „Ideologie" in der sowjetischen „Philosophischen Enzyklopädie", Bd. 2, Moskau 1962, S. 229 ff.

9'

131

vor, das jedoch oftmals, wenn überhaupt, nur ganz pauschal genannt, inhaltlichtheoretisch aber bisher wenig bearbeitet wurde. 6

1. Materialistische Geschichtsauffassung und Widerspiegelungscharakter der Ideologie Wie M A R X in seinem schon angeführten Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie" von 1859 erklärt, sind es vor allem die „ideologischen Formen", also jene als juristisch, politisch, religiös, künstlerisch oder philosophisch charakterisier- und benennbaren gesellschaftlichen Bewußtseinsformen, worin sich die Menschen ihrer gesellschaftlichen Konflikte, d. h. der durch den objektiven Widerstreit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bestimmten historisch-fortschreitenden Entwicklung und Umwälzung der ökonomischen Grundlage, Sozial- und Klassenstruktur ihrer jeweiligen Gesellschaftsordnung, bewußt werden und sie ausfechten. 7 Von M A R X wird nun des weiteren in den verschiedensten Formulierungen auf die hinter diesen wichtigen Bestimmungen der materialistischen Geschichtsauffassung unveräußerlich stehende und in dieser Form erstmalig konsequent durchgeführte philosophisch-materialistische Grundposition verwiesen: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." Selbst jener in spezifischer Weise „persönlichkeitstheoretisch" relevante Satz und Vergleich, daß man so wenig, „was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt", wird gezielt dazu benutzt, um nochmals unmißverständlich festzustellen, daß man „niemals eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen (kann), sondern vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären ( m u ß ) . . . In der Betrachtung solcher Umwälzungen — heißt es schließlich — muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen" und jenen „ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten". 8 Nicht zufallig knüpft

LENIN 1 8 9 4

in seiner grundsätzlichen Verteidigung der

6 In jüngster Zeit hat hierzu vor allem gesprochen, J. K U C Z Y N S K I , Wissenschaftliche Methodologie und Weltanschauung, in: Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.-Sprachwiss. R . XXIII (1974) 1, S. III ff.; vgl. auch F. FIEDLER, Von der Einheit der Wissenschaft, Berlin 1964, besonders die Abschnitte I-III 7

M E W , Bd. 13, S. 9

8

Alles ebenda (Hervorhebungen d. Autors)

132

materialistischen Geschichtsauffassung gegen die kleinbürgerlichen und revisionistischen Angriffe und Verfälschungen des Marxismus durch die russische Volkstümlerrichtung jener Jahre gerade an dieses MARXsche Vorwort von 1859, als den konzentriertesten Ausdruck des philosophischen Materialismus zur erstmalig wissenschaftlichen Erklärung der gesellschaftlichen Bewegungs- und Entwicklungsweise in ihrer Gesamtheit, an. Eine der beliebtesten, zur damaligen Zeit auch in anderen europäischen Ländern vorherrschenden Vereinseitigungen und Vulgarisierungen der materialistischen Geschichtsauffassung im allgemeinen und des Ideologieproblems im besonderen bestand darin, gewissermaßen in einer ganz und gar äußerlichen und völlig unangebrachten Analogie zum tatsächlich einseitigen und wesentlich naturwissenschaftlich ausgerichteten Vulgärmaterialismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den historischen Materialismus seinerseits als einen sogenannten bloß ökonomischen Materialismus zu deklarieren und abzuwerten. Ehe jedoch diese typisch bürgerlich rezipierte und vereinseitigte Auffassung des MARXschen „Geschichtsmaterialismus" (MAX WEBER) — weniger aber z. B. das MARXsche „Kapital" selbst, das zunächst in seiner fundamentalen Bedeutung für die Grundlegung des dialektischen und historischen Materialismus einschließlich seiner Erkennungstheorie und Ideologieauffassung gar nicht begriffen wurde — überhaupt zum entscheidenden Ausgangspunkt und Hauptgegenstand der bürgerlichen und revisionistischen Marxismusverfalschung werden sollte, waren LENIN und selbst noch ENGELS bis 1895 in seinen bekannten „Altersbriefen" zum historischen Materialismus diesen allerersten Angriffen bürgerlicher Ideologen bereits grundsätzlich entgegengetreten. So fragt z. B. LENIN in seiner ersten bedeutenden theoretischen Auseinandersetzung mit dem „Volkstümler", wo MARX oder ENGELS jemals vom „ökonomischen Materialismus" sprechen, und antwortet u. a. dem Volkstümlerideologen MICHAILOWSKI : „Bei der Charakterisierung ihrer Weltanschauung haben sie diese einfach als Materialismus bezeichnet. Ihre Grundidee . . . bestand darin, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse in materielle und ideologische zerfallen. Die letzteren bilden lediglich einen Überbau über die ersteren, die sich unabhängig vom Willen und Bewußtsein des Menschen gestalten, als die Form (das Ergebnis) der auf den Lebensunterhalt gerichteten Tätigkeit des Menschen. Die Erklärung der politischen und juristischen Formen, sagt MARX an der angeführten Stelle (gemeint ist das Vorwort von 1890, Rh.), sei in den ,materiellen Lebensverhältnissen' zu suchen." 9

LI. Das schulemachende und aktuelle Beispiel des Paul Barth von 1890 Wie sich deutlich zeigte, stimmt diese für die philosophisch-materialistische und wissenschaftliche Erklärung des Wesens der sozialen bzw. ideologischen Erkennt9

W . I. LENIN, B d . 1, S . 1 4 2 / 4 3

133

nis der gesellschaftlichen Wirklichkeit so grundlegende LENiNsche Unterscheidung zwischen den ideologischen und materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht nur begrifflich-terminologisch vollkommen mit dem MARXschen Vorwort und „Leitfaden" von 1859 überein, sondern zielt vor allem auf die Hervorhebung der dem Marxismus und seiner Geschichtsauffassung zugrunde liegenden materialistischen Beantwortung der Grundfrage der Philosophie. Diesen klaren Tatbestand begriff sogar sehr genau M A X W E B E R in seiner teilweise durchaus zutreffenden Kritik an R. S T A M M L E R S äußerst primitiver Vulgarisierung und vermeintlicher „Überwindung" der materialistischen Geschichtsauffassung, die ebenfalls in jenen Jahren (1896 und bis 1924 sogar noch in fünf weiteren Auflagen!) erschien. Da S T A M M L E R M A R X ' bedeutsame Hinweise und Bestimmungen der ideologischen Bewußtseins-Zorwew als Ausdruck und Widerspiegelung objektiver Konflikte und Widersprüche des materiellen gesellschaftlichen Lebensprozesses dahingehend völlig mißverstand, daß er ausgehend von einer hier ganz und gar nicht zutreffenden und anwendbaren Aristotelischen Begriffstradition schließlich nur noch vom „Materiellen" im Gegensatz zum „Formaten" des sozialen Lebens sprach und sich dann tatsächlich einbildete, mit einer solchen bloßen Begriffsmanipulation bereits eine „Widerlegung" des MARXschen „Geschichtsmaterialismus" erbracht zu haben, antwortete ihm W E B E R völlig zu Recht, daß doch M A R X in Wahrheit „mit einem gänzlich anderen Begriff des ,Materiellen' (als dem Gegensatz in erster Linie zum ,Ideologischen') operiere" 1 0 . Dieser richtige Hinweis hindert jedoch W E B E R in keiner Weise daran, an gleicher Stelle S T A M M L E R S offensichtlich totales Unverständnis der dialektischmaterialistischen Geschichtsauffassung und speziell deren These, daß im gesellschaftlichen Leben „die Materie" und ihre Veränderungen das allein Reale, Wirkliche und Wirksame, alles andere nur „ideologischer Überbau" und „Widerspiegelung" seien", unmittelbar dazu zu benutzen, seinerseits ebenso unmißverständlich gegen den philosophisch-materialistischen Charakter der MARXschen Geschichtsauffassung zu kontern, da jene Widerspiegelungs- bzw. Überbaukonzeption seiner Meinung nach als eine völlig „grundschiefe und wissenschaftlich ganz wertlose Analogie tatsächlich noch immer die Köpfe so mancher ,Geschichtsmaterialisten* beherrsche" 12 . In ähnlicher Weise wie S T A M M L E R und W E B E R (auf dessen äußerst widersprüchliches Verhältnis zu M A R X und eigene Auffassungen zur Spezifik des sozialwissenschaftlichen Erkennens weiter unten noch einzugehen sein wird) hatte es auch bereits P A U L B A R T H 1 8 9 0 - dabei ebenfalls unmittelbar vom MARXschen Vorwort von 1859 ausgehend, dieses aber nicht nur gänzlich fehl10

M.

WEBER, R . STAMMLERS „ Ü b e r w i n d u n g "

der materialistischen

Geschichtsauffassung,

in: M. WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1951, S. 319 11

Hier zitiert nach M. WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 316

12

Ebenda, S. 316/17

134

interpretiert, sondern auch noch falsch zitiert1-^ - besonders auf die philosophischmaterialistische Grundlegung der neuen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung durch M A R X und E N G E L S abgesehen. Wörtlich heißt es bei B A R T H - und man vergleiche die hierbei unmittelbar sichtbar werdende charakteristische Übereinstimmung mit S T A M M L E R , W E B E R und die sich von diesen über B E R N S T E I N , M A X ADLER,

KARL

MANNHEIM, ADORNO bis z u A . SCHMIDT, O .

NEGT, G .

PETROVIC,

M. M A R K O V I C u. a. hinziehende revisionistische Linie der Kritik an den Grundpositionen des philosophischen Materialismus in bezug gerade auf die Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung: „Das Bild von ,Basis' und ,Überbau' schließt die Forderung in sich, daß die ökonomischen Verhältnisse die Urform, das Erdgeschoß sind, die übrigen, wie darauf ruhende Stockwerke, diese Formen nur wiederholen, also Recht, Politik und Religion nur den Grundriß der wirtschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln." 14 B A R T H spricht im übrigen in bezug auf das hier angesprochene materialistische Widerspiegelungsprinzip und das Determinationsverhältnis von Ökonomie und Ideologie (Politik, Recht, Kunst, Religion und Philosophie) überhaupt nur mechanistisch und abwertend von einer „statischen Formel", weil M A R X zwar die Ideologienbildung (z. B. der Religion) wohl als geschichtlichen Prozeß begriffen, gleichzeitig aber diese selbst als „ganz unselbständig", „nur dessen Funktion" und lediglich „neben den ökonomischen Prozeß" gestellt aufgefaßt habe. 15 1.2. Materielle Determiniertheit der Ideologie

und aktive verändernde Funktion und

Rückwirkung

Es ist so nur allzu „verständlich", daß B A R T H - und bis heute viele andere nach ihm - angesichts einer solch verdrehten und als „metaphysisch", „ökonomistisch", „mechanistisch" usw. fehlgedeuteten Geschichtsauffassung ernsthaft meint, er müßte nun seinerseits M A R X „richtigstellen", während er ihn tatsächlich aber immer wieder nur, wie sich zeigte, in seiner materialistischen Grundposition angreift und revidiert. Aus diesem Grunde wird sozusagen ausgleichend von einer bloßen „Wechselwirkung zwischen beiden Lebenssphären", also zwischen der Ideologie und dem materiellen gesellschaftlichen Lebensprozeß gesprochen, gleichzeitig aber erklärt er, daß jeder das „Gleichnis von Basis und Überbau nicht 13 Statt, wie Lebens bedingt BARTH: „dieses politischen und HEGELS u n d

es bei MARX ausdrücklich heißt: „ D i e Produktionsweise des materiellen den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß ü b e r h a u p t " , steht bei gesellschaftliche Bewußtsein (!) bestimmt wieder das ganze Sein, den sozialen, geistigen Lebensprozeß ü b e r h a u p t " . (P. BARTH, Die Geschichtsphilosophie

d e r H e g e l i a n e r b i s a u f MARX u n d

HARTMANN, L e i p z i g

1925, S. 4 1 / 4 2 . )

Auch

ENGELS spricht angesichts derartiger Fehlinterpretationen und Fälschungen der materialistischen Geschichtsauffassung durch BARTH von einer „bewußten Verdrehung". (Brief vom 24. 1. 1895 a n F . TÖNIES), M E W , B d . 3 9 , S . 3 9 4 14

P . BARTH, D i e G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e . . ., S . 4 2

15

Ebenda, S. 45

135

entspricht". 1 6 Doch das kann angesichts der ganz offenkundigen theoretischkonzeptionellen Funktion gerade dieses sicher nicht zufallig, sondern sehr bewußt gewählten „Gleichnisses" bei MARX und ENGELS nur bedeuten, daß das tatsächlich bestehende dialektische Wechselverhältnis von ökonomischer Basis und ideologischem Überbau völlig idealistisch verdreht und neutralisiert aufgefaßt werden soll, nicht aber mehr als ein im oben charakterisierten Sinne dialektisch-materialistisch zu fassendes objektives Wechselwirkungsverhältnis, das neben der Einheit/Identität auch den Unterschied/Gegensatz enthält. Natürlich ist klar, daß bei aller richtiger Betonung der relativ selbständigen Funktion und aktiven Rückwirkung des ideologisch-politischen Überbaus gegenüber der sozialökonomischen Basis niemals jene eindeutige und letztlich entscheidende materielle Determiniertheit und Bestimmtheit des politisch-juristischen und staatlichen Überbaus wie der verschiedenen ideologischen Bewußtseinsformen durch den sozialökonomischen Lebensprozeß der Gesellschaft aus dem Auge verloren werden darf. In diesem Sinne schrieb daher ENGELS in einem Brief an W. BORGIUS vom 25. 1. 1894: „Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit." 17 Ohne Frage veranlaßten nicht nur diese aus bürgerlicher Sicht allzu verständlichen und offensichtlichen Mißverständnisse und Entstellungen der MARXschen materialistischen Geschichtsauffassung durch BARTH, sondern vor allem dessen ständig wiederkehrende Behauptung, daß „MARX und seine Anhänger die Kraft der Ideologien zu gering angeschlagen hätten" 1 8 , ENGELS dazu, wörtlich von einer „ganz und gar blödsinnigen Vorstellung der Ideologen" zu sprechen, die tatsächlich meinten, „weil wir den verschiedenen ideologischen Sphären, die in der Geschichte eine Rolle spielen, eine selbständige historische Entwicklung absprechen, sprächen wir ihnen auch jede historische Wirksamkeit ab. Es liegt hier — so heißt es in diesem Brief an MEHRING vom 14. 7. 1893 weiter — die ordinäre undialektische Vorstellung von Ursache und Wirkung als starr einander entgegengesetzten Polen zugrunde, die absolute Vergessung der Wechselwirkung. Daß ein historisches Moment, sobald es einmal durch andre, schließlich ökonomische Ursachen, in die Welt gesetzt, nun auch reagiert, auf seine Umgebung und selbst seine eignen Ursachen zurückwirken kann, vergessen die Herren oft fast absichtlich.-'y

16

Ebenda, S. 52

17

MEW, Bd. 39, S. 206

18

P. BARTH, Die Geschichtsphilosophie . . ., S. 58

19 M E W , Bd. 39, S. 98 MEHRING hatte, worauf ENGELS in seinem hier zitierten Brief vom 14. Juli 1893 eingeht, ebenfalls in einem Anhang zur ersten Auflage seiner „LESSING-Legende" von 1893 unter dem Titel „Über den historischen Materialismus" ausführlich zu den BARTHschen

136

Bereits im Jahre 1890, also unmittelbar nach Erscheinen der BARTHschen Arbeit, hatte E N G E L S in zwei Briefen vom 5 . 8 . und 2 7 . 1 0 . an C . SC HMIDT ebenfalls betont, daß, wenn dieser ernsthaft meint, „wir leugneten alle und jede Rückwirkung der politischen usw. Reflexe der ökonomischen Bewegung auf diese Bewegung selbst", er einfach gegen Windmühlen kämpfe! 2 0 Gleichzeitig verweist ENGELS in diesem Zusammenhang auf zahlreiche Werke und historische Belege, in denen M A R X und er die materialistische Geschichtsauffassung zugleich theoretisch dargestellt und methodisch angewandt hätten 2 1 und in denen von irgendeiner Ignorierung der vielfaltigen Funktionen und aktiven Rückwirkungen von Politik, Recht, Staat und Ideologie auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung, „natürlich innerhalb ihrer allgemeinen Abhängigkeit von ökonomischen Bedingungen" 2 2 absolut keine Rede sein könne. „Oder — so fragt E N G E L S schließlich — warum kämpfen wir denn um die politische Diktatur des Proletariats, wenn die politische Macht ökonomisch ohnmächtig ist? Die Gewalt (d. h. die Staatsmacht) ist auch eine ökonomische Potenz!" 2 3 Hier wird deutlich sichtbar, worin eigentlich die große theoretische wie praktische Relevanz gerade der dialektischmaterialistischen Geschichtsauffassung im Klassenkampf sowie im Hinblick auf das Begreifen der realen Dialektik von objektiver gesellschaftlicher Bedingtheit und Wirksamkeit sozialer Erkenntnisprozesse speziell in Gestalt der von M A R X angeführten gesellschaftlichen (ideologischen) Bewußtseinsformen besteht. Noch einmal nahm ENGELS am 25. 1. 1894 in dem schon zitierten Brief an W. BORGIUS wie folgt zu dem hier behandelten Problemkreis gewissermaßen zusammenfassend Stellung, wenn er schreibt: „Es ist also nicht, wie man sich hier und da bequemerweise vorstellen will, eine automatische Wirkung der ökonomischen Lage, sondern, die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen, sie bedingenden Milieu, auf Grundlage vorgefundener tatsächlicher Verhältnisse, unter denen die ökonomischen, sosehr sie auch von den übrigen politischen und ideologischen beeinflußt werden mögen, doch in letzter Instanz die entscheidenden sind und den durchgehenden, allein zum Verständnis führenden roten Faden bilden." 2 4 Angriffen und Entstellungen der MARXschen materialistischen Geschichtsauffassung Stellung genommen. ENGELS wichtige Aussagen speziell zum Ideologieproblem sind nachweislich durch diese Arbeit von MEHRING, die als in der Hauptsache „vortrefflich" von ENGELS bewertet wird, unmittelbar veranlaßt und z. T. mitbestimmt worden. So stammen z. B. die dann von ENGELS in seinem Antwortbrief benutzten Begriffsbildungen „ideologischer Prozeß", „historischer Ideolog" bzw. „ideologischer Historiker" usw. aus der MEHRiNGschen Arbeit. (Siehe F. MEHRING, Zur Geschichte der Philosophie, Berlin 1931, S. 278 und 303) 20

MEW, Bd. 37, S. 493 sowie 436

21

Ebenda, S. 464 und 493. Genannt werden u. a. „Das Kapital" und „Der 18. Brumaire"

v o n MARX u n d d e r „ A n t i - D ü h r i n g " u n d d e r „ L U D W I G FEUERBACH" v o n ENGELS.

22

Ebenda, S. 493

23

Ebenda

24

MEW, Bd. 39, S. 206, Hervorhebung, d. Autors

137

2. Zur Spezifik des sozialen bzw. sozialwissenschaftlichen Erkenntnisproblems Bei näherer Betrachtung dieser vielfältigen Belege wie auch der durchgehenden Übereinstimmung von MARX, ENGELS und LENIN in der Frage der materialistischen Geschichtsauffassung fallt nun auf, daß diese fast durchgehend an den sogenannten ideologischen Bewußtseinsformen, also unmittelbar gesellschaftlich und klassenmäßig determinierten und bezogenen Bestandteilen des gesellschaftlichen Bewußtseins in seiner Gesamtheit, erläutert wird. Daß es sich hierbei keineswegs etwa nur um eine zufallige Vorgehensweise und Übereinstimmung der Klassiker handelt, sollen nochmals einzelne Briefstellen von ENGELS aus den 90er Jahren zeigen, in denen dieser verschiedenen seiner an der marxistischen Theorie interessierten bzw. bereits bewußt mit ihr arbeitenden (wie z. B. MEHRING) Briefpartner die Grundzüge der materialistischen Geschichtsauffassung und Forschungsmethode darlegt. So wird in einem Brief an C . SCHMIDT vom 5. 8. 1890 z. B. ganz im Sinne dieser Theorie und Methode davon gesprochen, daß zunächst die realen „Daseinsbedingungen der verschiedenen Gesellschaftsformationen im einzelnen untersucht werden müssen, ehe man versucht, die politischen, privatrechtlichen, ästhetischen, philosophischen, religiösen etc. Anschauungsweisen, die ihnen entsprechen, aus ihnen abzuleiten" 25 . Diese Aufzählung der verschiedenen ideologischen Anschauungsweisen, aus denen sich jedesmal die Ideologie einer Klasse zusammensetzt, entspricht, wie man sieht, fast wörtlich den von MARX im Vorwort von 1859 angeführten ideologischen Bewußtseinsformen. Ebenso ist in einem Brief an J. BLOCH vom September 1890 von politischen, juristischen, philosophischen und religiösen Theorien und Anschauungen die Rede, die im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung als Reflexe einer gegebenen ökonomischen Lage und der daraus resultierenden Klassenkämpfe charakterisiert werden. Des weiteren verwendet ENGELS, auch hier unmittelbar mit MARX übereinstimmend, die Ausdrücke „Basis" und „Überbau", um die bereits geschilderte Dialektik von gesellschaftlicher Determiniertheit und Funktion der ideologischen Bewußtseinsformen zu verdeutlichen.26 In einem Brief vom 27. 10. des gleichen Jahres, wiederum an C . SCHMIDT gerichtet, wird dann nochmals von der allerdings „ideologisch-verkehrten Widerspiegelung" der ökonomischen Verhältnisse in den Rechts- und politischen Prinzipien sowie in den „noch höher in der Luft

25

M E W , Bd. 37, S. 437, Hervorhebung, d. Autors

26 Ebenda, S. 463. Ebenso werden in dem schon zitierten Brief vom 25. I. 1894 von ENGELS an W. BORGIUS als auf der „ökonomischen Entwicklung" beruhend aufgezählt: „ D i e politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung", in: M E W , Bd. 39, S. 206.

138

schwebenden ideologischen Gebieten", wie der Religion und Philosophie, gesprochen. 27 Als besonders wichtig erweist sich in diesem Zusammenhang schließlich eine Stelle aus dem für die Klärung des Ideologieproblems allgemein, speziell aber für die Geschichte des marxistischen Ideologiebegriffs wichtigen Briefes an F. MEHRING vom 14. 7. 1893, weil ENGELS hier direkt von „historischer Ideologie" bzw. „historischem Ideologen" spricht und dabei u. a. folgende interessanten Bestimmungen dieser Begriffsbildungen gibt: „. . . historisch soll hier einfach zusammenfassend stehn für politisch, juristisch, philosophisch, theologisch, kurz für alle Gebiete, die der Gesellschaft angehören und nicht bloß der Natur." 2 8 Ebenso unterscheidet ENGELS im „Anti-Dühring" (in Widerlegung der Dühringschen endgültigen Wahrheiten letzter Instanz) ausdrücklich die historischen Wissenschaften (als in dieser Frage) von allen anderen Wissenschaften der belebten und unbelebten Natur und charakterisiert sie als eine „Gruppe von Wissenschaften . . ., die die Lebensbedingungen der Menschen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Rechts- und Staatsformen mit ihrem idealen Überbau 29 von Philosophie, Religion, Kunst usw. in ihrer geschichtlichen Folge und ihrem gegenwärtigen Ergebnis untersucht". 30 Diesen ENGELSschen Bestimmungen folgend, soll daher im vorliegenden Beitrag unter „sozialer Erkenntnis" (bzw. auch ideologischer Erkenntnis) die wesentlich auf die Erkenntnis der Gesellschaft bezogene spezifische Erkenntnisweise der Wirklichkeit verstanden werden. Diese nicht ganz unwesentliche Unterscheidung zwischen dem Natur- und Gesellschaftserkennen wird übrigens auch von LENIN, wiederum unmittelbar ausgehend vom MARXschen Vorwort von 1859, vorgenommen, wobei allerdings diese Unterscheidung sofort durch den übergreifenden materialistischen Gesichtspunkt der Widerspiegelung, durch den jegliches Erkennen wesentlich bestimmt ist, umklammert wird. LENIN schreibt: „Genauso wie die Erkenntnis des Menschen die von ihm unabhängig existierende Natur, d. h. die sich entwickelnde Materie widerspiegelt, so spiegelt die gesellschaftliche Erkenntnis des Menschen (d. h. die verschiedenen philosophischen, 27

M E W , Bd. 37, S. 490/91 und 492

28 M E W , Bd. 39, S. 97 29 ENGELS spricht hier offensichtlich deshalb vom „idealen Ü b e r b a u " (statt „ideologischen Überbau") um der ansonsten im „Anti-Dühring" durchgehend negativen Gebrauchs- und Bestimmungsweise des Ideologiebegriffs (bzw. der Termini Ideologie, Ideologe und ideologisch) aus dem Wege zu gehen; allerdings wird auch der Ausdruck „Ideal" von den Klassikern wenig positiv verwendet. 30

M E W , Bd. 20, S. 82. E b e n s o c h a r a k t e r i s i e r t ENGELS a u c h in s e i n e m „LUDWIG FEUERBACH"

die „Wissenschaft von der Gesellschaft" als „Inbegriff der sogenannten historischen und philosophischen Wissenschaften", die es über FEUERBACH und den „bloß naturwissenschaftlichen Materialismus" hinausgehend galt, „mit der materialistischen Grundlage in Einklang zu bringen und auf ihr zu realisieren", M E W , Bd. 21, S. 280/81

139

religiösen, politischen usw. Anschauungen und Lehren) die ökonomische Struktur der Gesellschaft wider."31

Natürlich läßt auch ENGELS, wofür wiederum zahlreiche Beispiele insbesondere aus der „Dialektik der Natur" und dem „Anti-Dühring" angeführt werden könnten 32 keinen Zweifel darüber aufkommen, daß jene durch die materialistische Geschichtsauffassung erstmalig ausgesprochene und letztlich entscheidende sozialökonomische Determiniertheit grundsätzlich alle Bereiche der gesellschaftlichen Entwicklung wie menschlichen Tätigkeit und Erkenntnis betrifft, also in „letzter Instanz" auch das naturwissenschaftliche, wesentlich auf die Erfassung der objektiven Gesetzmäßigkeiten von Naturprozessen ausgerichtete Erkennen allein auf diese und keine andere Weise materiell-gesellschaftlich erklärbar ist. Das Naturerkennen ist also in diesem grundsätzlichen Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung in keiner Weise etwa weniger oder gänzlich anders historisch, sozial und gesellschaftlich determiniert und vermittelt als das unmittelbar gesellschaftsbezogene bzw. sozialwissenschaftliche (oder auch ideologische) Erkennen. Das heißt, ebenso wie es keine wirkliche Existenz des Menschen, keine gesellschaftliche Arbeits- und Erkenntnistätigkeit außerhalb und unabhängig von der Natur gibt, ebensowenig vollzieht sich natürlich auch das Naturerkennen nicht außerhalb der Gesellschaft oder unabhängig von den grundlegenden materiellen Interessen und Bedürfnissen dieser Gesellschaft, ihren Klassenkämpfen usw. In diesem allgemeinen und grundsätzlichen Sinne trägt offensichtlich jegliche menschliche Erkenntnistätigkeit sozialen bzw. gesellschaftlichen und historischen Charakter, wird also auch die Erkenntnis der Naturgegebenheiten stets durch ganz bestimmte (also ganz klar auch klassenmäßig bestimmte) gesellschaftliche Bestrebungen, Interessen und Bedürfnisse konkret-historisch getragen und selbst ideologisch mitbestimmt. In dem schon mehrfach zitierten Brief an BORGIUS vom 25. Januar 1894, der offensichtlich eine gerade in diese Richtung zielende Frage an ENGELS gerichtet hatte, schreibt dieser: „Unter den ökonomischen Verhältnissen, die wir als bestimmende Basis der Geschichte der Gesellschaft ansehen, verstehen wir die Art und Weise, worin die Menschen einer bestimmten Gesellschaft ihren Lebensunterhalb produzieren und die Produkte untereinander austauschen." Uns kommt es in diesem Zusammenhang besonders auf den Gesichtspunkt der materiellen Tätigkeit und Entwicklung der Produktivkräfte an, der schließlich jenen bekannten, an gleicher Stelle geäußerten ENGELSschen Ausspruch verständlich macht, daß, wenn die Gesellschaft erst ein technisches Bedürfnis hat, dieses der Entwicklung der Wissenschaft mehr voranhilft als zehn Universitäten. 33 Ganz offensichtlich 31

W. I. LENIN, Werke, Bd. 19, S. 5

32 Vgl. z. B. in der „Dialektik der Natur" das Fragment „Aus der Geschichte der Wissenschaft", in: MEW, Bd. 20, S. 456ff. sowie im „Anti-Dühring" den Abschnitt „Philosophie (III. Apriorismus), in: ebenda, besonders S. 36 33

140

MEW, Bd. 39, S. 205

wollte ENGELS mit diesem sehr anschaulichen und für manchen vielleicht etwas zu drastischen Beispiel und Vergleich lediglich die letztlich entscheidende soziale und gesellschaftliche Determiniertheit, Ausrichtung und Mobilisierung des wissenschaftlichen Erkennens unmißverständlich verdeutlichen, damit es nicht länger so erscheine, als wären die Wissenschaften „vom Himmel gefallen". Nebenbei sei vermerkt, daß so, wie der reale Erkenntnisprozeß auf diese Weise wesentlich gesellschaftlich vermittelt ist, natürlich auch die Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus in keiner Phase von dieser gesellschaftlichen Vermittlung abstrahieren kann, also ebenso wie viele andere Bestandteile und Fragestellungen unserer Philosophie nur in der Einheit mit dem historischen Materialismus (der materialistischen Geschichtsauffassung) sowie der ökonomischen Theorie des MARxismus hinreichend erklärt und dargestellt werden kann. Das sozialwissenschaftliche Erkennen oder verschiedene Ideologiebildungsprozesse wären ohne eine solche Vorgehensweise nur ungenügend in die erkenntnistheoretische Fragestellung einbezogen und erklärbar, weshalb u. E. eine Erkenntnistheorie, die z. B. das Ideologieproblem nicht in irgendeiner Form mit einbezieht, nicht nur die oftmals nur verbal deklarierte Ideologierelevanz dieser philosophischen Spezialdisziplin verkennt, sondern vor allem direkt an einem wichtigen Bereich realer Erkenntnis- und Bewußtseinsprozesse vorbeiläuft, bei denen es bekanntlich um Grundfragen unserer Zeit, also um die Verwirklichung des Sozialismus—Kommunismus geht. Wie also sichtbar wird, kann es sich hier nicht darum handeln, die Spezifik der sozialen bzw. sozialwissenschaftlichen und ideologischen, also primär und unmittelbar auf die Gesellschaft und den Klassenkampf bezogenen Erkenntnis einzig und allein etwa in einer metaphysischen Gegenüberstellung und Abgrenzung von einer ansonsten in positivistischer Manier aufgefaßten absolut „wertfreien" oder „klassenneutralen" mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu bestimmen. Der Gesichtspunkt einer sogenannten Wert- bzw. auch Ideologiefreiheit dieses in erster Linie auf die Natur bezogenen Erkennens wird nicht ohne Grund, worauf noch einzugehen sein wird, gegenwärtig wieder verstärkt von der gesamten bürgerlichen Wissenschaftstheorie völlig verabsolutiert und überzogen, um schließlich einen in dieser Form ganz und gar nicht bestehenden allgemeinen Antagonismus und Dualismus zwischen Ideologie und Wissenschaft zu konstruieren. Doch genausowenig wie das wesentlich und unmittelbar durch ein jeweiliges Klasseninteresse determinierte, getragene und ausgerichtete sozialwissenschaftliche sowie ideologische Erkennen durch diesen immanenten Klassencharakter seiner Aussagen und Theorien als weniger wissenschaftlich oder gar überhaupt nicht als wissenschaftlich charakterisiert werden kann, weil dies — was die Herausbildung insbesondere der marxistisch-leninistischen Theorie als einer erstmalig wissenschaftlich begründeten Ideologie und Weltanschauung klar unter Beweis stellt — stets von der jeweils konkret-historisch gegebenen objektiven Klassenposition abhängt und nicht von irgendwelchen subjektiven 141

Eindrücken und Meinungen der spätbürgerlichen Ideologiekritik, genausowenig vollzog und vollzieht sich auch das mathematisch-naturwissenschaftliche Erkennen angesichts seiner angedeuteten gesellschaftlichen Determinanten und Funktionen zu irgendeiner Zeit und in irgendeiner Weise absolut wertungsoder ideologiefrei. Es kommt allerdings bei der Behandlung dieser fraglos sehr vielschichtigen Problematik vor allem darauf an, wie diese Ideologievermittlung des wissenschaftlichen Erkennens in seiner Gesamtheit sowie des naturwissenschaftlichen Erkennens im besonderen in differenzierter Weise z. B. jeweils auf die einzelnen Disziplinen und sogar einzelnen Fragestellungen dieses Erkennens bezogen wird. In diesem Sinne erklärte einmal LENIN: „Parteilosigkeit ist eine bürgerliche Idee. Parteilichkeit eine sozialistische Idee. Dieser Grundsatz ist im großen und ganzen auf die gesamte bürgerliche Gesellschaft anwendbar. Natürlich muß man diese allgemeine Wahrheit auf einzelne Teilfragen und Teilfälle anzuwenden verstehen." 34 Eigenartigerweise findet man in unseren wissenschaftsgeschichtlichen Analysen gerade über diesen gegenwärtig praktisch-ideologisch höchst aktuellen Gesichtspunkt der Parteilichkeit, Klassenbezogenheit und Ideologievermittlung wenig Belege und Hinweise. Es liegt aber nach dem bisher Gesagten auf der Hand, daß diese ideologische Vermittlung vor allem die Art und Weise der gesellschaftlichen Zielstellung, Produktion und Anwendung auch des naturwissenschaftlichen Erkennens in einer gegebenen Gesellschaftsformation betrifft, weniger bzw. zum größten Teil überhaupt nicht demgegenüber z. B. seine einzelnen konkreten Erkenntnisinhalte, die sich in der Regel eindeutig auf die Widerspiegelung der objektiven Naturgesetzmäßigkeiten beziehen, diese also in möglichst adäquater wissenschaftlicher Form abbilden und dann zumindest in logisch-erkenntnistheoretischer Hinsicht tatsächlich nicht anders als mit „wahr" oder „falsch" bewertet werden können. Hinweise darauf, daß diese Erkenntnisse sich desweiteren für die gesellschaftliche Entwicklung als sehr nützlich und wertvoll erweisen bzw. auch für reaktionäre und antihumane Ziele einer Klasse mißbraucht werden können usw., betreffen in diesem Zusammenhang bereits eine andere Fragestellung und Ebene der Betrachtung dieses Erkennens und seiner Resultate. Zusammenfassend heißt es daher in der „Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus" u. E. völlig zu Recht zu diesem hier behandelten Fragenkomplex: „Die einzelnen Naturwissenschaften haben jeweils spezifische Seiten, Eigenschaften, Gesetze der Natur zu ihrem Gegenstand. Ihrem Gegenstand nach haben die Naturwissenschaften keinen Klassencharakter, sind sie klassenneutral. Es gibt z. B. keine bürgerliche oder proletarische Mathematik, Physik oder Chemie. Andererseits ist jedoch zu beachten, daß die Naturwissenschaften stets auf der Basis bestimmter philosophisch-weltanschaulicher Theorien 34

142

W. I.

LENIN,

Werke Bd. 10, S. 66

und Methoden operieren, die Klassencharakter tragen; außerdem werden aus ihren Erkenntnissen philosophische Schlußfolgerungen gezogen, die ebenfalls klassenbestimmt sind. Schließlich entwickelt sich die Naturwissenschaft genauso wie die Gesellschaftswissenschaft und die Philosophie im Rahmen bestimmter Gesellschaftsformationen, was zur Folge hat, daß ihre Erkenntnisse von den entsprechenden Klassen zur Erreichung bestimmter Klassenziele genutzt werden. Insofern ist auch die Naturwissenschaft in jeder Klassengesellschaft von bestimmten Ideologien und Weltanschauungen durchdrungen." 35 Bezogen auf die Herausbildung des wissenschaftlichen Sozialismus—Kommunismus, bedeutete nun die konsequente Durchführung und Ausdehnung des philosophischen Materialismus auf die Erklärung auch der gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse, daß erst im Rahmen des Marxismus-Leninismus überhaupt eine wirkliche Gesellschaftswissenschaft entstehen konnte; des weiteren allein auf dieser Grundlage von einer ganz wesentlichen Annäherung und sich mehr und mehr vollziehenden Synthese von Natur- und Gesellschaftswissenschaften gesprochen werden kann und nicht zuletzt nun auch in den Naturwissenschaften selbst, ausgehend und in Gestalt der Philosophie des dialektischen und historischen Materialismus, erstmalig mit einer wissenschaftlich begründeten Ideologie und Weltanschauung ernsthaft wissenschaftlich gearbeitet werden kann. Trotzdem bleibt die bisher angedeutete Spezifik der gesellschaftswissenschaftlichen wie natürlich auch naturwissenschaftlichen Forschung eine objektive, d. h. wesentlich durch die jeweilige materielle (natürliche oder gesellschaftliche) Bewegungsform der Materie bestimmte Tatsache. Ebenso ist es, vor allem solange eine in Klassen gespaltene gesellschaftliche Entwicklung gegeben ist, unausweichlich, daß beliebige gesellschaftliche Tatbestände wie übrigens auch die vielfaltigsten Naturgegebenheiten bzw. einzelne naturwissenschaftliche Resultate, sofern sie nur unmittelbar bestimmte antagonistische Klasseninteressen betreffen, eine ebenso unterschiedliche und gegensätzliche ideologische bzw. weltanschauliche Analyse, Interpretation und Bewertung erfahren werden. Dabei kommt es darauf an, daß trotz dieses stets historisch-konkret gegebenen und erklärbaren Zusammenhanges von Wissenschaft und Ideologie letztere nicht einfach mit der den jeweiligen natürlichen oder gesellschaftlichen Gegenstand betreffenden und ihn in einer mehr oder weniger wissenschaftlich adäquater Form widerspiegelnden Erkenntnis und Sachaussage identifiziert und verwechselt 35 Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus, Berlin 1971, S. 447. Ebenso heißt es in dem sowjetischen Lehrbuch „Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie", daß es sinnlos wäre, „den Klassenstandpunkt auf Fragen zu beziehen, die Klasseninteressen gegenüber neutral sind". Trotzdem vollziehe sich die Entwicklung der Naturwissenschaften nicht neutral gegenüber der Philosophie. „In ihnen spielt sich ein weltanschaulicher Kampf ab, in dessen Verlauf Ideologen antagonistischer Klassen, Ergebnisse der Naturwissenschaft häufig zum Ausgangspunkt für einander entgegengesetzte erkenntnistheoretische Schlußfolgerungen machen." (Berlin 1971, S. 441/42)

143

wird. Bei aller durchgehenden Klassendeterminiertheit speziell der gesellschaftswissenschaftlichen (sozialen) Erkenntnis gibt es jedoch trotzdem, bezogen auf die eigentlichen Erkenntnisresultate und inhaltlichen Aussagen, keine irgendwie gearteten „gleichberechtigten", klassenbezogenen Wahrheiten über ein und denselben Tatbestand, weil erstere wohl die Spezifik des sozialen Erkennens wesentlich mitbestimmt, aber letztlich gerade nicht im materialistischen Sinne (es geht ja um die erkenntnismäßige Objektivität auch des gesellschaftlichen Erkenntnisgegenstandes!) auf diese spezifische gesellschaftliche Determination oder gar nur Funktion reduziert werden kann. Sonst wäre eine allgemeingültige wissenschaftliche Gesellschaftstheorie, wie sie zum ersten Male der MarxismusLeninismus darstellt, weder praktisch erfolgreich, noch philosophisch-erkenntnistheoretisch und methodologisch überhaupt begründbar. Zur Erläuterung dieses Sachverhaltes (und dieser unserer Position) könnte hier vielleicht das folgende von M A R X im „Kapital" angeführte Beispiel herangezogen werden, das sich zwar nicht unmittelbar auf die wissenschaftliche Erkenntnistätigkeit oder ein besonderes wissenschaftliches Erkenntnisresultat bezieht, sondern vielmehr auf das in Gestalt der Technik und Maschinerie verwirklichte und angewandte Wissen36 sowie auf die Möglichkeit einer sich damit ebenfalls ergebenden unterschiedlichen gesellschaftswissenschaftlichen (konkret: politökonomischen) bzw. ideologischen Analyse und Bewertung dieser realen gesellschaftlichen Erscheinung. M A R X geht zunächst aus von folgenden zwei, nur z. T. bürgerlich-ideologisierten Bestimmungen der automatischen Fabrik, die A. URE in seiner „Philosophy of Manufactures" (London 1835) gegeben hatte. Letzteren erscheint — was M A R X besonders klar herausstellt — die „automatische Fabrik" zum einen als eine „Kooperation verschiedener Klassen von Arbeitern, erwachsenen und nicht erwachsenen, die mit Gewandtheit und Fleiß ein System produktiver Maschinerie überwachen, das ununterbrochen durch eine Zentralkraft (den ersten Motor) in Tätigkeit gesetzt wird", zum anderen aber als „ein ungeheurer Automat, zusammengesetzt aus zahllosen mechanischen und selbstbewußten Organen, die im Einverständnis und ohne Unterbrechung wirken, um einen und denselben Gegenstand zu produzieren, so daß alle diese Organe einer Bewegungskraft untergeordnet sind, die sich von selbst bewegt" 37 . M A R X vermerkt nun dazu, daß diese beiden Bestimmungen (bzw. Ausdrücke) keineswegs als identisch aufzufassen seien. „In dem einen erscheint der kombi-

36 In den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" macht MARX wie folgt auf dieses „vergegenständlichte Wissen" aufmerksam: „Die Natur baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffene Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenschaft." (Berlin 1953, S. 594) 37

144

Zitiert nach MARX; Das Kapital, in: M E W , S. 441

nierte Gesamtarbeiter oder gesellschaftliche Arbeitskörper als übergreifendes Subjekt und der mechanische Automat als Objekt; in dem anderen ist der Automat selbst das Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewußte Organe seinen bewußtlosen Organen beigeordnet und mit denselben der zentralen Bewegungskraft untergeordnet. Der erstere Ausdruck gilt von jeder möglichen Anwendung der Maschinerie im großen, der andre charakterisiert ihre kapitalistische Anwendung und daher das moderne Fabriksystem." 38 M A R X macht mit diesem Beispiel deutlich, daß gesellschaftliche Tatbestände (hier die als Technik und Produktivkraft vergegenständlichte und materialisierte wissenschaftliche Erkenntnis) nicht nur einfach subjektiv und zufallig unterschiedlich analysiert und bewertet werden können, sondern daß sich diese unterschiedlichen Widerspiegelungsweisen ein und derselben gesellschaftlichen Erscheinung objektiv und notwendig aus der unterschiedlichen gesellschaftlichen Anwendung der Technik sowie sozial unterschiedlichen Stellung der Klassen zu derselben Technik in den verschiedenen Gesellschaftsformationen ergeben. Des weiteren zeigt sich, daß offensichtlich die sozialwissenschaftliche Erkenntnis auch im bürgerlichen Denken, besonders natürlich während seiner frühbürgerlichen und revolutionären Entwicklungsphase, keineswegs nur auf eine andersartige bzw. einseitige ideologisch-klassenbedingte Bewertung einer gesellschaftlichen Erscheinung reduziert werden kann und wie notwendig sich daher eine stets konkrethistorisch vorgehende Analyse gerade der vielfaltigen gesellschaftlichen und ideologischen Determinanten wie Funktionen des sozialen Erkennens erweist. Die in dem angeführten Beispiel unbefangene und uneigennützige Forschungsweise der bürgerlichen klassischen Nationalökonomie wurde jedoch bekanntlich sehr schnell immer in dem Moment wieder aufgegeben, wenn mit der weiteren Entfaltung und Zuspitzung der tatsächlichen Klassenantagonismen der bürgerlichen Gesellschaft diese schließlich mehr und mehr durch die „bezahlte Klopffechterei" ersetzt wurde. 39 Aus diesem Grunde ist es für L E N I N auch nicht weiter verwunderlich, daß — wie er 1913 schreibt — die Lehre von M A R X in der ganzen 38

Ebenda, S. 442

39 Im Vorwort zur 1. sowie im Nachwort zur 2. Auflage des „ K a p i t a l s " macht M A R X dazu folgende Aussagen: 1. (1867): „Auf dem Gebiete der politischen Ökonomie begegnet die frei wissenschaftliche Forschung nicht nur demselben Feinde, wie auf allen anderen Gebieten. Die eigentümliche Natur, des Stoffes, den sie behandelt, ruft wider sie die heftigsten, kleinlichsten und gehässigsten Leidenschaften der menschlichen Brust, die Furien des Privatinteresses, auf den K a m p f p l a t z " (ebenda S. 16) und 2. (1873): „Die Bourgeoisie hatte in Frankreich und England politische Macht erobert. Von da an gewann der Klassenkampf, praktisch und theoretisch, mehr und mehr ausgesprochne und drohende Formen. Er läutete die Totenglocke der wissenschaftlichen bürgerlichen Ökonomie. Es handelt sich jetzt nicht mehr d a r u m o b diese oder jene Theorem wahr sei, sondern o b es dem Kapital nützlich oder schädlich, bequem oder unbequem, o b polizeiwidrig oder nicht. An die Stelle uneigennütziger Forschung trat bezahlte Klopffechterei, an die Stelle unbefangner wissenschaftlicher Untersuchung das böse Gewissen und die schlechte Absicht der Apologetik." (S. 13 ebenda) 10

Redlow, Slichlcr

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zivilisierten Welt auf die erbittertste Feindschaft und den größten Haß der gesamten bürgerlichen Wissenschaft stößt. „Ein anderes Verhalten kann man — so fahrt L E N I N fort — auch gar nicht erwarten, denn eine ,unparteiische' Sozialwissenschaft kann es in einer auf Klassenkampf aufgebauten Gesellschaft nicht geben. Jedenfalls ist es eine Tatsache, daß die gesamte offizielle und liberale Wissenschaft die Lohnsklaverei verteidigt, während der Marxismus dieser Sklaverei den schonungslosen Kampf angesagt hat." 4 0 Kehren wir jedoch nochmals zu einigen weiteren Aspekten der Spezifik der sozialen bzw. sozialwissenschaftlichen (oder auch ideologischen), also unmittelbar auf die Gesellschaft bezogenen bzw. diese unmittelbar zum Gegenstand habenden Erkenntnis zurück. Ohne Frage handelt es sich bei dieser um Erkenntnis- und Bewußtseinsinhalte, die nicht nur ihrer historisch-bestimmten Form und Erscheinungsweise (z. B. als Politik, Recht, Philosophie, Religion oder Kunst), sondern vor allem ihrem eigentlichen Gegenstand und Inhalt nach unmittelbar gesellschaftlich bestimmt sind. Und zwar — dies sei sofort hinzugefügt — insofern „unmittelbar gesellschaftlich bestimmt", als ihre jeweilige objektiv gesellschaftlich vermittelte Formbestimmtheit in keiner Weise von ihrem eigentlichen (gesellschaftlichen) Erkenntnisgegenstand getrennt werden kann, ja oftmals mit diesem unmittelbar zusammenfallt. Anders ausgedrückt: Die von M A R X und ENGELS mehrfach angeführten gesellschaftlichen (ideologischen) Bewußtseinsformen widerspiegeln stets (und es ist in diesem Zusammenhang noch ganz gleichgültig, ob dies nun in einer wissenschaftlich-adäquaten oder ideologisch-verkehrten, mystifizierenden und letztlich unwissenschaftlichen Form geschieht) bestimmte gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und Verhältnisse sowie damit zusammenhängende menschliche Bedürfnisse, Interessen, Verhaltensweisen und Motive, werden dabei aber gleichzeitig in entscheidendem Maße durch ebendiese gesellschaftlichen Prozesse, Verhältnisse usw. letztlich auch in ihrer wissenschaftlichen Qualität und ihrem Wahrheitsgehalt nach ganz wesentlich mitbestimmt. Bezogen auf die „fertige Geldform" z. B., die unter den Bedingungen der privatkapitalistischen Warenproduktion „den gesellschaftlichen Charakter der Privatarbeiten und daher die gesellschaftlichen Verhältnisse der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie zu offenbaren", vermerkt M A R X daher im „Kapital", daß geradewegs derartige objektiv-verkehrte gesellschaftliche Formen eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie bilden und ausmachen. „Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion. Aller Mystizismus der Warenwelt, all der Zauber und Spuk, welcher 40 W. I. LENIN, Werke, Bd. 19, S. 3. In seiner Arbeit „Marxismus und Revisionismus" zitiert L E N I N den bekannten Ausspruch:: „ W ü r d e n geometrische Axiome an menschliche Interessen rühren, so würde man sicherlich versuchen, sie zu widerlegen." Ebenso würden „naturgeschichtliche Theorien, die an alte theologische Vorurteile rührten . . . bis zum heutigen Tage aufs schärfste bekämpft". (Werke, Bd. 15, S. 19)

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Arbeitsprodukte auf Grundlage der Warenproduktion umnebelt, verschwindet daher sofort, sobald wir zu andren Produktionsformen flüchten." 4 1 Letzteres heißt also im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung nichts anderes, als daß selbst der unwissenschaftliche, spekulative und idealistischverkehrte Charakter dieser oder jener ideologischen Bewußtseinsform bzw. einzelner ihrer inhaltlichen Bestimmungen und Aussagen ebenso wie natürlich die Möglichkeit ihrer Objektivität und Wissenschaftlichkeit stets in objektiver Weise durch jene materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere sozialökonomische Basis und Klassenstruktur, determiniert wird und sich daher nicht etwa, wie z. B. noch die frühbürgerliche Aufklärung meinte, allein auf bloßen subjektiven Irrtum oder böswilligen Priesterbetrug zurückführen läßt. Nochmals sei aber betont, daß diese gesellschaftliche Determiniertheit, Vermittlung und Funktion in ihrer umfassendsten und allgemeinsten Weise aufgefaßt, allein noch keineswegs die besondere Eigenschaft und Spezifik des sozialwissenschaftlichen bzw. ideologischen Erkennens verursacht, ausmacht und erklärt. Ganz im Gegenteil erbrachte ja, wie bereits mehrfach hervorgehoben wurde, gerade die MARXsche materialistische Geschichtsauffassung den Beweis, daß jegliche menschliche Erkenntnistätigkeit als Widerspiegelung objektiver natürlicher wie gesellschaftlicher Gegebenheiten zugleich auch durch ganz bestimmte gesellschaftliche Bedingungen sowie Interessen und Bedürfnisse der Menschen (als die gleichzeitigen Erkenntnisträger) in ihrer Zielsetzung, Realisierung und Nutzbarmachung determiniert und vermittelt wird. Diese generelle gesellschaftliche Determiniertheit und Vermittlung des menschlichen Erkennens bedeutet zunächst also nichts anderes, als daß kein menschlicher Erkenntnisprozeß außerhalb der materiellen Produktion und Arbeitstätigkeit (einschließlich des Klassenkampfes in der bisherigen Geschichte) der Menschen sich entwickeln und ablaufen kann und daher zwangsläufig auch nicht anders wissenschaftlich erklärt, d. h. allein auf dieser materiellen Grundlage überhaupt als ein von vornherein sich historisch entwickelnder gesellschaftlicher und sozialer Prozeß voll begriffen werden kann. In der „Deutschen Ideologie", im „Anti-Dühring", in der „Dialektik der N a t u r " sowie im „Kapital" haben M A R X und ENGELS daher an den verschiedensten Stellen immer wieder diese dialektisch- und historisch-materialistische Erklärung des menschlichen Bewußtseins und Erkennens sowohl auf seine naturgeschichtliche Herausbildung und Entstehung, als auch weitere relativ selbständige (oftmals auch verselbständigte, ideologisch-verkehrte), wesentlich arbeitsteilig bedingte Entwicklung bezogen. „Gerade die Veränderung der Natur durch den Menschen, nicht die Natur als solche allein, ist die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Verhältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem Verhältnis wuchs seine Intelligenz." 42 Ebenso heißt es in der „Deutschen 41

M E W , Bd. 23, S. 28 (Hervorhebungen z. T. d. Autor)

42 M E W , Bd. 20, S. 498, vgl. hierzu desweiteren insbesondere ENGELS Schrift „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen", in: ebenda, S. 444ff. 10*

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Ideologie": „Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen." 43 „Hiermit war — wie ENGELS schließlich im ,Anti-Dühring' schreibt — der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären." 4 4 Nochmals wird an diesen Belegen deutlich, daß auf Grundlage dieser materialistischen Anschauungsweise der Geschichte keine metaphysische Trennung und Gegenüberstellung der Entwicklung und des Wesens von natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis mehr vertretbar sind. Der gemeinsame übergreifende weltanschauliche, philosophisch-materialistische und erkenntnistheoretische Gesichtspunkt ist die Charakterisierung des menschlichen Bewußtseins wie jeglicher Erkenntnis als Widerspiegelung der Wirklichkeit, die jedoch wesentlich getragen und vermittelt wird durch die gesellschaftliche Praxis, die nach LENIN als ein grundlegender Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie ebenfalls „unvermeidlich zum Materialismus führt." 4 5 2.1. Revisionistische „Praxisphilosophie" oder materialistische marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie

Grundlegung der

In diesem Zusammenhang erweist es sich als notwendig, jeglichen subjektivistisch überdrehten und vereinseitigten Auffassungen der Praxis, wie sie z. B. in den letzten Jahren verstärkt durch zahlreiche Vertreter der sogenannten Frankfurter Schule und den internationalen philosophischen Revisionismus propagiert wurden, entschieden entgegenzutreten. Hierbei wird philosophiegeschichtlich insbesondere das Verhältnis von MARX ZU FEUERBACH direkt auf den Kopf gestellt, indem speziell die MARXschen „Thesen über FEUERBACH", deren große Bedeutung für die dialektisch und historisch-materialistische Grundlegung der marxistischleninistischen Erkenntnistheorie auf der Hand liegt und von niemandem bestritten wird, im stärkten Maße fehlinterpretiert werden. An die Stelle einer materialistisch aufgefaßten Beziehung von objektiver Realität-Praxis-Erkenntnis/ 43

MEW, Bd. 3, S. 26 (Hervorhebung v. Autor)

44

MEW, Bd. 20, S. 25

45

W. I. LENIN, Werke, Bd. 14, S. 137

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Widerspiegelung tritt eine abstrakte, angeblich lediglich durch „die Praxis" konstituierte Subjekt-Objekt-Dialektik, innerhalb der die „erkenntnistheoretische Grundfrage" (LENIN) nach dem Primat von Materie oder Bewußtsein sowie insbesondere der materialistische Gesichtspunkt der Widerspiegelung völlig nivelliert und gegenstandslos erscheinen.4® Dazu seien hier wiederum einige charakteristische Beispiele aus den letzten Jahren angeführt, die alle übereinstimmend die philosophisch-materialistische Grundlegung der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie durch die Widerspiegelungstheorie angreifen, grundsätzlich in Frage stellen sowie gleichzeitig damit in Gestalt einer metaphysischen Gegenüberstellung von Widerspiegelung und Praxis letztlich auf vormarxistische (metaphysisch-materialistische bzw. subjektiv-idealistische) Positionen von Widerspiegelung und Praxis zurückfallen. Das heißt, die Vereinigung gerade dieser beiden grundlegenden Gesichtspunkte der Erkenntnistheorie des dialektischen und historischen Materialismus durch M A R X , ENGELS und LENIN wird nicht begriffen und letztlich wieder rückgängig gemacht. Seit Jahren reitet und streitet in dieser Richtung schon z. B. A. SCHMIDT, hierin strikt seinem ideologischen Lehrmeister A D O R N O folgend, in verschiedensten Vor- und Nachworten zu Arbeiten führender Revisionisten und Gegner der marxistisch-leninistischen Philosophie gegen den „dogmatischen Abbild-Realismus, wie er z. B. in Lenins (mehr parteigeschichtlich als philosophisch relevanten) Buch ,Materialismus und Empiriokritizismus' kodifiziert" worden sei.47 Dabei werden von SCHMIDT in gänzlich unhistorischer und ideologisch zurechtgestutzter Weise beliebige Aussagen und Positionen von HEGEL und FEUERBACH, von FEUERBACH und M A R X sowie vor allem von MARX und LENIN willkürlich herausgegriffen, einander gegenübergestellt und fehlinterpretiert. Die Folge ist jene für alle Vertreter der „Frankfurter Schule" charakteristische, nachträgliche idealistische Hegelianisierung speziell der MARxschen Praxisauffassung bei gleichzeitiger Reduzierung der LENiNschen (wie auch ENGELSschen) philosophischen Position auf „vormarxistische Formen des alten metaphysischen Materialismus". Auf diese Weise „entfallt dann die (immer schon von SCHMIDT apodiktisch vorausgesetzte und für ihn grundsätzlich) primitive Vorstellung von der Erkenntnis als Abbild, bei der Bewußtsein und Gegenstand einander schroff entgegengesetzt werden und die für letztere konstitutive Rolle der Praxis außer Betracht bleibt. Die gegenständliche Welt ist kein bloß abzubildendes An-sich, sondern in hohem Maße ein gesellschaftliches Produkt." 48 46 Siehe hierzu: H.-C. RAUH, Widerspiegelung und Praxis, in: Der dialektische Materialismus und seine Kritiker, Berlin 1975, S. 195ff. 47

In: Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/M. 1969, Einleitung, S. 8

48 In: Existentialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen SARTRE, GARAUDY, HYPPOLITE. VIGIER und ORCEL, Frankfurt/Main 1965, S. 154. Bereits in seiner Dissertationsschrift „Der Begriff der Natur in der Lehre von MARX" (. . .) vermerkte SCHMIDT, daß die Objekte

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Die in diesen Aussagen unverkennbar zum Ausdruck kommende subjektivistische, antimaterialistische und undialektische Auffassung des sich im wirklichen Erkenntnisprozeß tatsächlich realisierenden Abhängigkeitsverhältnisses von objektiver Realität, Praxis und Widerspiegelung wird auch von M. MARKOVIC, einem der führenden Repräsentanten der revisionistischen Praxisphilosophie in Jugoslawien, vertreten. Auch für ihn „ist die Widerspiegelungstheorie überhaupt nicht typisch für marxistische Philosophie: Angefangen mit DEMOKRIT wurde sie beinahe von allen verschiedenen Spielarten des naiven Realismus und des mechanistischen Materialismus vertreten. Diese Theorie ist keinesfalls geeignet, das Neue zu formulieren, das MARX in die Philosophie gebracht hat." 4 9 Worin dieses „ N e u e " im MARxismus nun aber besteht, das macht seinerseits G . PETROVIC in seinem Widerstreit gegen den „autoritären Marxismus" bzw. mittels seiner „Wiederbelebung des wahren MARX" deutlich. Bei ihm dreht sich alles um die letztlich aber theoretisch-philosophisch nichtssagende mystische Zauberformel: „Der Mensch ist Praxis" 5 0 , wobei von jener in den MARXschen Feuerbachthesen gegebenen klaren materialistischen Bestimmung der Praxis als „gegenständlicher Tätigkeit", d. h. stets auf den Gegenstand/die objektive Realität bezogene praktisch-kritische Tätigkeit, ebensowenig mehr die Rede ist wie vom Proletariat bzw. von der Arbeiterklasse (ihrer historischen und weltverändernden Mission!) als dem entscheidenden gesellschaftlichen Träger ebendieser „revolutionären", „praktisch-kritischen Tätigkeit" und Praxis. In der Frage nach dem Verhältnis von Materie-Praxis-Bewußtsein (Widerspiegelung) werden in der nun schon traditionellen revisionistischen Manier MARX, ENGELS und LENIN einander theoretisch, politisch und sogar „charakterlich" gegenübergestellt und z. B. folgende „beträchtlichen Unterschiede" zwischen ihnen konstruiert : „Im Zentrum der MARXschen Philosophie steht eine bestimmte Konzeption des Menschen; ENGELS' philosophische Bemühungen richteten sich demgegenüber mehr auf die Herausarbeitung einer Dialektik der Natur. Es erhebt sich natürlich die Frage — so fährt PETROVIC fort —, ob M A R X ' (und ENGELS') Theorie des Menschen und ENGELS' Konzeption von der Dialektik der Natur einander ergänzen oder . . . ob sie sich (nicht) im Gegenteil gegenseitig ausschließen." 5 1 Bei dieser Argumentationsweise zur „Begründung" eines in dieser F o r m auch nicht einmal arbeitsteilig, geschweige denn theoretisch-philosophisch zwischen MARX und ENGELS jemals bestandenen Gegensatzes tritt wiederum das f ü r das gesamte bürgerliche und ihm folgende revisionistische philosophische Denken

oder Welt immer „schon gesellschaftlich", eine „durchs Subjekt vermittelte" sei (S. 28 und 20). „Nicht das Abstraktum der Materie, sondern das Konkretum der gesellschaftlichen Praxis (sei) der wahre Gegenstand und Ausgangspunkt materialistischer Theorie", (ebenda S. 33) 49 50 51

150

M. MARKOVIC, Dialektik der Praxis, Frankfurt/Main, 1968. S. 25 G. PETROVID, Wider den autoritären Marxismus, Frankfurt/Main, 1969, S. 19 Ebenda

charakteristische Unverständnis der inneren Einheit und Geschlossenheit von dialektisch-materialistischer Natur- und Gesellschaftsbetrachtung des Marxismus klar zutage. Ganz nebenbei wird mit der hinlänglich bekannten und einfach von G. LUKÄCS (Geschichte und Klassenbewußtsein, 1923), K . KORSCH, M. ADLER, ADORNO, SARTRE usw. unkritisch übernommenen Gegenüberstellung einer angeblich im MARXschen Sinne einzig und allein anerkennbaren „GeschichtsDialektik" und einer von ENGELS konzipierten, natürlich ganz und gar metaphysischen und daher theoretisch gar nicht durchführbaren „Naturdialektik" auch die Einheit von dialektischem und historischem Materialismus aufgehoben sowie die Geschlossenheit des Gegenstandes der materialistischen Dialektik (Natur, Geschichte, Denken) gesprengt. Im bezug auf die schon mehrfach betonte Bedeutung des materialistischen Widerspiegelungsprinzips für die marxistischleninistische Philosophie und Erkenntnistheorie erläutert PETROVIC diesen Gegensatz, den er dabei nochmals auch personell als einen unüberwindlichen Gegensatz zu ENGELS und MARX einerseits sowie zu LENIN andererseits hinzustellen versucht, wie folgt: „Die Widerspiegelungstheorie gehört nicht nur deshalb zum dialektischen Materialismus, weil sie von ENGELS und LENIN bekräftigt wurde, sondern weil sie auch die angemessene Ergänzung zu der materialistischen These vom Primat der Materie über das Bewußtsein zu sein scheint (!). Aber während sie gut in die Theorie vom Primat der Materie über den Geist hineinpaßt, läßt sie sich nicht mit der MARXschen Ansicht vom Menschen als eines Wesens der Praxis in Einklang bringen. Wenn der Mensch wirklich ein freies und schöpferisches Wesen ist — so erklärt PETROVI6 weiter —, wie kann seine Erkenntnistätigkeit eine reine Widerspiegelung der Realität sein? Die Widerspiegelungstheorie widerspricht offensichtlich dem MARXschen Begriff vom Menschen. Wichtiger noch, sie kann die Phänomene des Bewußtseins, des Wissens und der Wahrheit nicht befriedigend erklären." 52 Es liegt auf der Hand, daß vermittels solcher völlig unbegründeter und unbeweisbarer revisionistischer Behauptungen eine philosophisch-materialistische und wissenschaftlich begründete marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie tatsächlich nicht mehr realisierbar ist bzw. zumindest als nicht mehr möglich erscheinen soll. Denn weder läßt sich, was MARX gerade gegen den alten (bürgerlichen) Materialismus und speziell auch gegen FEUERBACH einwenden mußte, mit einer solch abstrakten und unhistorischen Auffassung „des Menschen" überhaupt die tatsächliche Geschichtlichkeit und Sozialität (und bei den ideologischen Bewußtseinsformen auch noch unmittelbare Klassenbezogenheit und Parteilichkeit) der menschlichen Erkenntnistätigkeit adäquat erfassen, noch ist ohne das Widerspiegelungsprinzip — und gerade dieses haben M A R X , ENGELS und LENIN mit FEUERBACH und jedem Materialismus unbedingt gemeinsam — überhaupt eine konsequent-materialistische, also auch nicht dialektisch- und 52

Ebenda, S. 59, ebenso S. 186, 190 und 192. 151

historisch-materialistisch begründete Erkenntnistheorie durchführbar. Selbst das von PETROVIC noch in einer weiteren Arbeit 5 3 angeschnittene Wahrheitsproblem ist — was sich u. a. auch als wichtig in der Auseinandersetzung z. B. mit der logischpositivistischen Wahrheitskonzeption erweist — im Rahmen der marxistischleninistischen Erkenntnistheorie grundsätzlich nicht ohne die Widerspiegelungstheorie konsequent materialistisch erklärbar. Das betrifft sowohl die bereits bis auf ARISTOTELES zurückgehende materialistische Wahrheitsdefinition wie das von LENIN in der Auseinandersetzung mit dem Empiriokritizismus hervorgehobene Prinzip der „Objektivität der Wahrheit". PETROVIC versteigert sich schließlich zu folgender apodiktischer thesenhafter Deklaration: „. . . eine Theorie der Reflexion (d. h. Widerspiegelung), wie sie z. B. LENIN vertrat, ist überhaupt keine Theorie der Wahrheit oder der Erkenntnis" (!); sie sei prinzipiell „unvereinbar mit der MARXschen Vorstellung vom Menschen als einem schöpferischen Wesen der Praxis" 5 4 . Unverhohlener und weitergehender kann man ohne Frage die materialistische Grundlegung der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie nicht mehr demontieren und als theoretisch nicht tragfähig hinstellen. Wie aus einer solch subjektivistisch, idealistisch und unhistorisch angelegten Auffassung „der Praxis" nicht nur eine undialektische Gegenüberstellung und Trennung von Natur und Geschichtsprozeß zustande kommt, sondern gleichzeitig damit die materialistische Dialektik als eine in sich geschlossene philosophische Theorie gänzlich in Frage gestellt wird, dafür liefert P. VRANICKI in einem Artikel „Über Dialektik" 5 5 ein weiteres sehr anschauliches Beispiel. Wie alle „Praxisphilosophen", so erblickt auch VRANICKI allein im „Prinzip der Praxis" das „Fundament des Marxismus" überhaupt, das „damit zugleich auch alle übrigen Prinzipien begründet", wie z. B. selbst das „Postulat der Einheit der Welt". Natürlich kann bei einer derartigen Überdrehung des Gesichtspunktes der Praxis sowie seiner völligen Verselbständigung und Lostrennung vom philosophischen Materialismus im allgemeinen und in erkenntnistheoretischer Hinsicht vom Gesichtspunkt der Widerspiegelung im besonderen nicht mehr konsequent nach der wirklich bestehenden Einheit der Welt in ihrer Materialität (ENGELS) gefragt und auch keine sowohl die Natur als auch die Geschichte und das menschliche Denken gleichermaßen umfassende einheitliche Theorie der materialistischen Dialektik begründet werden. Folgerichtig entspricht so der Enthistorisierung der Natur und Leugnung einer objektiven Naturdialektik in der revisionistischen Praxisphilosophie eine totale Mystifizierung und Entmaterialisierung des Geschichtsprozesses, wodurch das Problem wie die Realität

53

G. PETROVIT, Wahrheit und Reflexion, in: ebenda, S. 185ff.

54

Ebenda, S. 186

55 P. VRANICKI, Mensch und Geschichte, Frankfurt/Main 1969, S. 77 ff. Alle im folgenden Textabschnitt angeführten Zitate und Belege befinden sich auf den Seiten 85 und 86 dieser Veröffentlichung.

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der Dialektik schließlich auf den menschlichen Geschichts- oder sogar bloßen Denkprozeß verkürzt wird. Entsprechend heißt es bei VRANICKI: „Das Problem der Dialektik ist seinem Wesen nach also das Problem des Charakters der menschlichen Existenz", während die „allgemeinsten Prinzipien" der Dialektik (um welche es sich hier konkret handeln soll, bleibt allerdings unerklärt) angeblich weder die Entwicklung bestimmen noch deren Entwicklungsrichtung anzugeben vermögen — und VRANICKI fügt ausdrücklich hinzu: „das gilt auch für die menschliche historische Entwicklung (!)". Allerdings erweist sich eine solch „abstrakt-allgemeine Dialektik (jedoch von einer solchen ist gerade bei M A R X , ENGELS und LENIN absolut keine Rede!) völlig unzureichend für das Verständnis der menschlichen Existenz", was auch bedeutet, daß auf einer solchen theoretischen, nur an „schlechteste Hegelei" erinnernden Basis keine dialektisch- und historisch-materialistische Entwicklungslehre konzipiert werden kann. Doch nicht darum geht es VRANICKI, wenn er im völligen Einklang mit PETROVIC und MARKOVIC „den Menschen als Wesen der Praxis" fetischisiert und feiert, sondern darum, daß angeblich „diese allgemeinen Prinzipien des Materialismus und der Dialektik nicht den Menschen als Menschen, (d. h.) als historisches Wesen erklären". Offensichtlich soll damit erneut unmißverständlich zum Ausdruck gebracht werden, wie der dialektische Materialismus als die entscheidende philosophisch-theoretische Grundlage für die Klärung nicht nur der Natur, sondern gerade auch der besonderen Spezifik der menschlichen Existenzweise, Geschichte und Erkenntnistätigkeit vollständig liquidiert und aufgegeben wird. Es braucht auf diese hinlänglich bekannten revisionistischen Positionen und Behauptungen hier sicher nicht weiter eingegangen zu werden, da von marxistischer Seite in den letzten Jahren dazu bereits mehrfach Stellung genommen wurde. Dennoch sollte ihre besondere Wirksamkeit im Hinblick auf die Infragestellung der dialektisch-materialistischen Grundlegung und Klärung des Erkenntnisproblems, besonders natürlich des sozialhistorischen Erkennens, nochmals klar vor Augen geführt werden. Auch K. LENK, selbst „aus dem Kreis der f r a n k f u r t e r Schule' hervorgegangen", erliegt trotz seiner teilweise richtigen Argumentation z. B. gegen die Wissenssoziologie von M A X SCHELER oder die positivistische Ideologienlehre von GEIGER letztlich jener revisionistischen Illusion einer angeblich unumgänglichen „Wiederentdeckung des originären Marxismus", und zwar konkret im Hinblick auf die seiner Auffassung nach für den Marxismus wesensbestimmende „zentrale Ideologiekritik".- s6 Ganz abgesehen davon, daß es sich bei aller offenkundigen theoretischen wie praktischen Relevanz der marxistisch-leninistischen Ideologieauffassung, Ideologiebegründung und Ideologiekritik (denn das alles liegt tatsächlich in einer Einheit vor!) bei der „MARXschen Ideologiekritik" niemals um das „Kernstück der MARXschen Theorie" überhaupt handelt und 56 K. LENK, MARX in der Wissenssoziologie, Studien zur Rezeption der MARXschen Ideologiekritik, Neuwied/Westberlin 1972, S. 7

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diese u. E. auch nicht erst aus einer angeblichen Deformation durch einen allerdings nicht näher räumlich-zeitlich und theoretisch bezeichneten „Vulgärmarxismus rekonstruiert" zu werden braucht, verkennt LENK vollständig die eigentlichen philosophisch-erkenntnistheoretischen Voraussetzungen (und diese reduzieren sich keineswegs nur auf die MARxsche Warenanalyse!) der MARXschen Ideologiekonzeption, vor allem im Hinblick auf ihre Grundlegung durch die Basis-Überbau-Lehre und die materialistische Widerspiegelungstheorie. Die auffallende Übereinstimmung seiner Argumente mit denen von SCHMIDT, MARKOVIC und PETROVIC ist dabei keineswegs zufallig und erstreckt sich ebenfalls bes o n d e r s a u f d i e G e g e n ü b e r s t e l l u n g v o n M A R X u n d ENGELS (LENIN s p i e l t b e i LENKS

vielfaltigen Betrachtungen zur Ideologieproblematik bezeichnenderweise seit Anbeginn praktisch überhaupt keine Rolle!) in der Frage der Ideologie- und Erkenntnistheorie. LENK verdeutlicht uns das in seiner „Rezeption der MARXschen Ideologiekritik" z. B. folgendermaßen: „ENGELS zeigt im Vergleich zu MARX eine Vorliebe für Begriffe, die ein Kausal- oder Wechselverhältnis zwischen Basis und Ideologie bezeichnen, Ausdrücke wie ,Spiegelbild', .Abspiegelung', ,Widerspiegelung', ökonomische Reflexe', ,Widerschein' u. a., die z. T. auch bereits von MARX verwandt wurden, aber dort nicht jenen dominierenden Charakter besitzen wie bei ENGELS. ES ist offensichtlich, daß MARX bewußt vermied — das behauptet LENK allen Ernstes —, eine .exakte' Bestimmung des Verhältnisses zwischen gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein zu geben, während ENGELS . . . (Altersbriefe) . . . sich der Erklärung des Problems der Umsetzung von sozialem Sein in Ideologie des öfteren widmete." 57 Wie bereits im einzelnen oben gezeigt werden konnte, kann wiederum — geht man nur vom MARXschen Vorwort von 1859 oder von der von MARX und ENGELS bekanntlich gemeinsam verfaßten „Deutschen Ideologie" aus — von einer solchen „Unterscheidung" zwischen MARX und ENGELS absolut keine Rede sein; im Gegenteil stammen die eindeutigen und unmißverständlichen Bestimmungen des Abhängigkeitsverhältnisses von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein im Sinne der Grundfrage der Philosophie und ihrer materialistischen Beantwortung auch in bezug auf das gesellschaftliche Leben eindeutig von MARX. Das betrifft im übrigen auch die erwähnten Ausdrücke „Spiegelbild", „Widerspiegelung", „Reflexion" usw., die sich bekanntlich bis in die ökonomischen Schriften des „Kapital" und der „Grundrisse" bei MARX nachweisen lassen. 58 57 Ebenda, S. 199/200. Ebenso erklärt LENK in einer Textausgabe zum Ideologieproblem wörtlich: „Die Berufung auf die erkenntnistheoretisch-fragwürdige Abbildtheorie unterstreicht nur den unkritisch-positivistischen Charakter" des MARxismus, sofern dieser die „MARxsche Ideologiekritik" preisgäbe. ( I n : Ideologie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Neuwied, und Berlin-West 1967, S. 51 (Anmerkung)) 58 Es ist regelrecht belustigend aber bezeichnend, wenn A. SCHMIDT gelegentlich die ungemein klare und sich gegenüber dem Idealismus HEGELS abgrenzende Aussage, daß für MARX „umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle ist", als eine „nicht sehr glückliche Formulierung" bezeichnet.

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LENK nivelliert also direkt die von M A R X (aber darin besteht gerade das Wesen der von M A R X vollzogenen erstmalig wissenschaftlich erfolgreichen Ausdehnung des philosophischen Materialismus auf die Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung, einschließlich der in ihr ablaufenden Erkenntnis- und Ideologiebildungsprozesse!) gegebene grundlegende Unterscheidung „zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden", wenn er wörtlich schreibt, daß für diesen angeblich „das konkrete geschichtliche Dasein stets materiell und geistig zugleich" gewesen sei. 59 Auf diese Weise soll M A R X ganz offensichtlich noch nachträglich wieder idealistisch hegelianisiert und von seiner konsequent materialistischen Position und Beantwortung der Grundfrage der Philosophie in bezug auf die Erklärung des Geschichts- und Erkenntnisprozesses abgehoben werden, während, und hier argumentiert LENK unversehens in der von ENGELS bereits 1890/95 kritisierten bürgerlich-revisionistischen Tradition von P A U L BARTH, die Basis-Überbau-Konzeption als ein „Schematismus" abgetan wird, durch den angeblich ein sonst nicht weiter erklärbares Abhängigkeitsverhältnis des Überbaus vom Unterbau lediglich „pauschal dekretiert" werde. 60

Daß es sich bei diesen durchgehenden und der Sache nach übereinstimmenden Angriffen der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie und des philosophischen Revisionismus speziell auf die marxistisch-leninistische Widerspiegelungs- und Erkenntnistheorie sowie Ideologie- und Praxisauffassung keineswegs nur um eine zufallige abstrakt-akademische oder ideologieneutrale Argumentation handelt, brachten in der letzten Zeit zwei weitere Vertreter der „Frankfurter Schule", P. L U D Z und O. N E G T , in unmißverständlichster Weise zum Ausdruck. Ihre revisionistische Rezeption der marxistisch-leninistischen Philosophie, Erkenntnisund Ideologiekonzeption mündet direkt und unverhohlen in „ideologiekritisch" verpackten antileninistischen und antikommunistischen konterrevolutionären Schlußfolgerungen in bezug auf den realen Sozialismus in der Sowjetunion, der D D R und den anderen sozialistischen Ländern ein. Aus diesem Grunde genügt z. B. NEGT, für den sich der Marxismus-Leninismus überhaupt nur noch als eine bloße ideologische „Legitimationswissenschaft" darstellt, auch keine bloß „erkenntnistheoretische Argumentation gegen die seit LENIN kaum veränderte Abbild- oder Widerspiegelungstheorie" mehr, denn „eine dialektisch-materialistische Untersuchung ihres Wahrheitsgehalts kann sich, wenn sie an der geschichtlichen Kernsubstanz aller Kategorien und Begriffe festhält, auf die Prüfung ihres Geltungsanspruchs nicht beschränken, sondern hat gleichzeitig eine ideologische Erklärung dafür zu geben, warum eine mittlerweile als falsch (!) erkannte Theorie zentraler Bestandteil des institutionellen Marxismus werden" 59

Ebenda, S. 200

60

Ebenda, S. 204

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konnte. Im übrigen sei, so vernimmt man programmatisch weiter, eine solche „ideologische Analyse" auch für alle „übrigen Theorien des Sowjetmarxismus notwendig"! 6 1 LUDZ, der seine konterrevolutionären Hoffnungen offensichtlich auf eine „Parteielite im Wandel" setzt, entwickelt schließlich, ausgehend von dieser der gesamten spätbürgerlichen Ideologiekritik von BERNSTEIN über M A N N HEIM bis LIEBER gemeinsamen, antisozialistischen Grundposition, sogar einen ganzen Katalog 6 2 von „ideologiekritischen" Strategien und Argumentationen zum Kampf gegen die siegreiche und sich weiter erfolgreich entwickelnde sozialistische Gesellschaftsordnung, speziell aber gegen die in den letzten Jahren immer umfassender wirksamer gewordene und heute bereits alle gesellschaftlichen Lebensbereiche durchdringende sozialistisch-kommunistische Ideologie. 63 Diese wenigen Beispiele machen bereits deutlich, in welcher Vielfalt und Breite sich gegenwärtig die Angriffe der gesamten spätbürgerlichen Philosophie und des Revisionismus verstärkt auf die marxistisch-leninistische Gesellschaftstheorie sowie Erkenntnistheorie und Ideologieproblematik konzentrieren. Die zunehmende Bedeutung des Phänomens der sozialen Erkenntnis (bzw. Ideologie) wie der Gesellschaftswissenschaften überhaupt in der sich verschärfenden ideologischen Klassenauseinandersetzung zwingt dabei die ideologischen Gegner immer mehr dazu, bestimmte Teil- und Grundkenntnisse des Marxismus-Leninismus, speziell in Gestalt seiner Geschichts- und Ideologieauffassung, aufzugreifen, um sie jedoch vor allem, sei es nun in einer „wissenssoziologischen" oder „ideologiekritischen" Verkleidung, unmittelbar gegen den Sozialismus/Kommunismus in Theorie und Praxis selbst auszurichten. Bei dem totalen Unverständnis fast aller Vertreter der „Frankfurter Schule" für die tatsächliche Spezifik wie für gesellschaftliche Determiniertheit auch des naturwissenschaftlichen Erkennens 64 , darf allerdings nicht übersehen werden, daß sich auf der anderen Seite im Gesamtfeld der spätbürgerlichen Ideologie auch der 61 O. NEGT, Einleitung zu einer Textausgabe: A. DELORIN und N . BUCHARIN, Kontroversen über dialektischen und mechanischen Materialismus, Frankfurt/Main 1969, S. 13; s. hierzu insbesondere J. SCHLEIFSTEIN, Z u NEGTS Kritik der LENiNschen Widerspiegelungstheorie, in: D i e „Frankfurter Schule" im Lichte des Marxismus, Berlin 1971, S. 115ff. 62

P. C. LUDZ, Parteielite im Wandel, K ö l n und Opladen 1968, S. 45 ff.

63 In dieser Forderung nach massenhafter Durchsetzung der sozialistischen Ideologie und der Feststellung, d a ß die „wissenschaftliche Ideologie der Arbeiterklasse alle Lebensbereiche durchdringt", manifestiert sich tatsächlich eine durchgehende Linie der ideologischen Arbeit der S E D v o n ihrem V. Parteitag 1958 bis z u m VIII. Parteitag. Vgl. hierzu insbesondere den Beschluß des Politbüros des ZK der S E D v o m 7. N o v . 1972 über „ D i e A u f g a b e n der Agitation und Propaganda bei der weiteren Verwirklichung der Beschlüsse des VIII. Parteitages der S E D " , Berlin 1972, S. 6 5 f f . 64 A l s eine „ A u s n a h m e " besonderer Art ist hier vielleicht ALFRED SOHN-RETHEL zu nennen, der in jüngster Zeit versucht hat, bei aller Berechtigung der erkenntnistheoretischen Nutzbarm a c h u n g der marxistisch politischen Ö k o n o m i e , speziell der MARXschen Warenanalyse, in einer allerdings stark überzogenen Weise auch d a s Naturerkennen unmittelbar und allein aus

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logische Positivismus seit Jahren ebenfalls „ideologiekritisch" (z. B. GEIGER, POPPER, TOPITSCH und ALBERT) verhält, um vor allem jegliche philosophischweltanschauliche, besonders natürlich jede philosophisch-materialistische und dialektische Grundlegung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung von vornherein in Frage zu stellen bzw. als ein nutzloses „metaphysisches Blendwerk" (GEIGER), „gefährliche Prophetik" (POPPER) oder „bloße Scheinproblematik" (CARNAP) zu deklarieren und abzuwerten. Gleichzeitig wird aber gerade von dieser Seite her einerseits den sogenannten Kultur- oder Geisteswissenschaften ein solcher subjektiver, psychologischer, weltanschaulicher oder ideologischer „Zusatz" aus funktional-pragmatischen Gründen durchaus zugestanden, aber andererseits sofort innerhalb eines konstruierten und „ideologiekritisch" in Aktion gesetzten Antagonismus von Ideologie und Wissenschaften ein ebenso unüberwindlicher Gegensatz zwischen ideologisch-wertender sozialwissenschaftlicher Erkenntnis sowie angeblich „reiner", philosophisch-ideologisch voraussetzungsloser mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis wieder reproduziert und bestätigt. Auf den damit z. T. zusammenhängenden sogenannten Werturteilsstreit in den bürgerlichen Sozialwissenschaften wird weiter unten noch einzugehen sein.

3. Betrachtungen zur Einheit von Natur- und Gesellschaftserkenntnis auf Grundlage der materialistischen Dialektik Nach dem bisher Gesagten ist klar, daß eine marxistisch-leninistische Bestimmung der Spezifik der sozialen bzw. auch gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis zu keiner irgendwie gearteten metaphysischen Trennung oder Gegenüberstellung dieser Erkenntnisweise zum naturwissenschaftlichen Erkennen führen kann und darf, weil dies insbesondere der inneren Einheit und Geschlossenheit der auf Natur, Gesellschaft und Denken bezogenen materialistischen Dialektik als Theorie wie Methode (Seins- und Erkenntnislehre) völlig widersprechen würde. Andererseits erweist es sich trotzdem als theoretisch vertretbar wie auch methodologisch durchführbar, den spezifischen Charakter des sozialwissenschaftlichen Erkennens gerade innerhalb einer relativen Verschiedenheit, also einer nicht überzogenen Unterscheidung zum Naturerkennen genauer zu fixieren.65 gesellschaftlichen Strukturen (Warenproduktion, Arbeitsteilung, Klassenspaltung) zu erklären. Vgl. hierzu insbesondere: Geistige und körperliche Arbeit, Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frankfurt/Main 1970, z. B. S. 13/14 sowie: Materialistische Erkenntniskritik und Vergesellschaftung der Arbeit, Berlin-West 1971, z. B. S. 25 65 Inbezug auf die Gesetzesproblematik geschieht dies z. B. bereits lange durchgehend. Vgl. hierzu: Der Gesetzesbegriff in der Philosophie und den Einzelwissenschaften, Berlin 1968, S. 269 ff.

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Letztlich kommt es darauf an, worin die entscheidenden Kriterien für eine solche Unterscheidung gesehen werden. Entsprechend unserer philosophisch-materialistischen Grundposition, kann diese Frage weder in der Ebene des jeweiligen Erkenntnissubjekts bzw. Trägers der sozial- oder naturwissenschaftlichen Erkenntnis noch in der gewissermaßen noch weiter abgeleiteten logisch-methodologischen Ebene in irgendeiner Weise hinreichend entschieden werden. Um die hier tatsächlich bestehende Relativität der Unterscheidung bzw. anders ausgedrückt: die übergreifende Gemeinsamkeit von Natur- und Gesellschaftserkenntnis nochmals genauer zu fassen, sei festgestellt, daß es sich 1. in beiden Fällen um die Erkenntnis objektiv realer Gegebenheiten und Prozesse sowie der ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten handelt und 2. das jeweilige gesellschaftliche Erkenntnissubjekt bei der Erkenntnis sowohl der natürlichen als auch gesellschaftlichen Objekte und Gesetzmäßigkeiten ein und dasselbe ist, es sich also stets um einen geschlossenen Natur wie Gesellschaft gleichermaßen umfassenden gesamtgesellschaftlichen Erkenntnisprozeß handelt. Dabei kann natürlich nicht übersehen werden, daß es sowohl im Umfang wie in der wissenschaftlichen Qualität, allein schon wissenschaftsgeschichtlich gesehen, zwischen dem natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Erkennen nicht geringe Unterschiede gibt. Wesentlich sozialhistorisch bedingt entwickelten sich mit der neuzeitlichen bürgerlichen Entwicklung der Produktivkräfte vor allem die Mathematik und Naturwissenschaften, während die zunehmenden sozialen Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe zwischen Lohnarbeit und Kapital mit Beginn der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Revolutionierung auch des philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Denkens in Gestalt des Marxismus-Leninismus herbeiführten. Allerdings scheint es etwas verfehlt und spekulativ, aus diesen leicht z. B. soziologisch und ideologietheoretisch erklärbaren Gründen nunmehr pauschal von einem „naturwissenschaftlichen 17. und 18. Jahrhundert" bzw. „gesellschaftswissenschaftlichen 19. und 20. Jahrhundert" zu sprechen. Kurz gesagt: Der Prozeß der wissenschaftlich-technischen Revolution, das Werden der Wissenschaften zu einer „unmittelbaren Produktivkraft" (MARX), die umfassende Entwicklung und Nutzung der Wissenschaften umgreifen zumindest beim Aufbau der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung Natur- wie Gesellschaftswissenschaften stets im gleichen Maße. Es war gerade MARX, der auf dem Klassenstandpunkt des Proletariats, als des historisch nachweislich eigentlichen gesellschaftlichen Trägers des materiellen Arbeitsprozesses und Stoffwechsels mit der Natur, erstmalig diese Einheit von Natur und Gesellschaft konsequent materialistisch faßte und — worauf auch LENIN von Anbeginn in seiner Auseinandersetzung mit dem Subjektivismus und Revisionismus in der Soziologie und Geschichtsphilosophie immer wieder aufmerksam machte — vermittels der vollzogenen Ausdehnung des Materialismus auf die Erklärung der Gesellschaftsentwicklung diese schließlich selbst als einen ebenfalls „naturgeschichtlichen Entwicklungsprozeß'' aufzufassen und zu erklären 158

vermochte. Darauf machte auch E N G E L S 1883 in einem Fazit des wissenschaftlichen Lebenswerkes von K A R L M A R X ausdrücklich aufmerksam, wenn er anläßlich des Todes seines Freundes und Kampfgefährten schrieb: „Wie D A R W I N das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte M A R X das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnittes die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen — nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt." 6 6 Die MARxsche Begriffsbildung des „naturgeschichtlichen Prozesses", die übrigens nicht zufällig durchgehend zur unmittelbaren Charakterisierung der materialistischen Geschichtsauffassung heranzieht, steht ebenso wie die der „ökonomischen Gesellschaftsformation" seit Anbeginn im Zentrum der Kritik und Vulgarisierung durch die bürgerliche Ideologie, Soziologie und Geschichtsphilosophie. Wie jedoch die angeführte ENGELSSche Einschätzung und Bestimmung des Wesens der materialistischen Geschichtsauffassung (einschließlich des sehr zutreffenden und von E N G E L S sicher bewußt gewählten Vergleichs mit D A R W I N ) deutlich zeigt, kann jedoch von einer angeblichen „naturalistischen Geschichtsmetaphysik" im Sinne einer einfachen, also undialektischen und mechanizistischen Übertragung von Naturgesetzlichkeiten auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und dergleichen mehr, weder bei M A R X noch bei E N G E L S und L E N I N irgendeine Rede sein. LENIN

Neben verschiedenen anderen Gesichtspunkten bringt gerade diese marxistisch-leninistische Begriffsbildung des „naturgeschichtlichen Prozesses" genau jene Einheit von Natur und Gesellschaft aus der Sicht des konsequent zu Ende geführten philosophischen Materialismus bzw. der materialistischen Dialektik zum Ausdruck. Wie ENGELS in seiner Arbeit zur „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" erklärte, war im Hinblick auf die Geschichte der Dialektik diese einheitliche und geschlossene entwicklungsgeschichtliche Auffassung der „ganzen natürlichen, geschichtlichen und geistigen Welt als ein Prozeß. d. h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen" 6 7 , bereits im wesentlichen durch H E G E L begründet und dargestellt worden. Allerdings geschah dies, wie bekannt, auf der Grundlage und im Rahmen 66 67

MEW, Bd. 19, S. 335/36, ebenso S. 333, Hervorhebung v. Autor Ebenda, S. 206, Hervorhebung v. Autor

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eines spekulativen, d. h. die wirkliche Welt total auf den Kopf stellenden, also „ideologisch-verkehrt widerspiegelnden" idealistischen Systems. 68 Es trotzdem geleistet zu haben, d. h. „ein allgemeines Gesetz der Natur-, Gesellschafts- und Denkentwicklung zum erstenmal in seiner allgemein geltenden Form ausgesprochen zu haben, das bleibt aber immer eine weltgeschichtliche Tat", erklärte daher 69 ENGELS in seinen Fragmenten zur „Dialektik der Natur" . Demgegenüber läßt sich, wie noch zu zeigen sein wird, im spätbürgerlichen philosophischen und soziologischen Denken zunehmend ein totales Unverständnis jeglicher Gemeinsamkeit und Einheitlichkeit in der Betrachtung von Natur- und Geschichtsprozeß bzw. von Natur- und Gesellschaftswissenschaften nachweisen. 3.1. Naturgeschichtliche Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung und menschlichen Erkenntnistätigkeil Wie schon beim Vorwurf einer angeblichen Nivellierung der aktiven Rolle der gesellschaftlichen Ideen bzw. ideologischen Bewußtseinsformen, so wurde der dialektische und historische Materialismus auch in der Frage einer einheitlichen „naturgeschichtlichen" Auffassung der Natur- und Gesellschaftsentwicklung von Anbeginn durch die bürgerliche Ideologie gezielt fehlinterpretiert und verfälscht. Eins der gebräuchlichsten und bis heute immer wieder in der ideologischen Auseinandersetzung ins Feld geführten Argumente speziell gegen die materialistische Geschichtsauffassung stammt' wiederum von MAX WEBER, was diesen aber gleichzeitig in keiner Weise daran hin ierte, selbst zumindest in methodologischer Hinsicht zur Grundlegung der spätbürgerlichen Soziologie (was dann in Richtung der sogenannten ,Kultursoziologie' von seinem Bruder ALFRED WEBER und in Richtung der sogenannten ,Wissenssoziologie' von K A R L M A N N H E I M fortgesetzt wurde) gerade bei M A R X die größten theoretischen Anleihen zu machen. In einem Vortrag, den WEBER übrigens 1918 in Wien ausgerechnet „zur allgemeinen (sprich: konterrevolutionären, Rh.) Orientierung von österreichischen Offizieren über den Sozialismus" (!) hielt, spricht er in unmittelbarer Auswertung des „Kommunistischen Manifests" von einem dort angeblich behaupteten „naturgesetzlich unvermeidlichen Untergang der gegenwärtigen Gesellschaft", ohne auch nur irgendwelche von M A R X und ENGELS an gleicher Stelle tatsächlich angegebenen objektiven und subjektiven Bedingungen für eine derartige revolutionäre Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung anzugeben. Bei dieser Auffassung handle es sich — was WEBER genauestens verspürt — um einen 68 D a ß sich hierbei HEGELS spekulativ-idealistisches System und die dialektische Erfassung und Darstellung der Wirklichkeit im einzelnen oft widersprachen und daher „sehr oft innerhalb der spekulativen Darstellung eine wirkliche, die Sache selbst ergreifende Darstellung" gibt ( M E W , Bd. 2, S. 64), veranlaßte ENGELS auch zu der Bemerkung, „daß HEGEL an Hunderten von Stellen aus Natur und Geschichte die schlagendsten Einzelbelege für die dialektischen Gesetze zu geben versteht", ( M E W , Bd. 20, S. 349) 69

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MEW, Bd. 20, S. 353, Hervorhebung v. Autor

„Kernsatz" einer sonst aber „pathetischen Prophetie, (was) ihr den jubelnden Glauben der Massen zuführte". Und ENGELS wird in diesem Zusammenhang das völlig widersinnige „Bild" unterschoben, wonach „ebenso, wie seinerseits der Planet Erde in die Sonne stürzen werde, ebenso die kapitalistische Gesellschaft zum Untergang verurteilt sei" 70 . An dieser Argumentation fallt nun zunächst auf, daß WEBER stillschweigend den marxistisch-leninistischen Ausdruck „naturgeschichtlich" durch „naturgesetzlich" ersetzt, um auf diese Weise die angeführte Fehlinterpretation und Naturalisierung der MARXschen materialistischen Geschichtsauffassung um so besser bewerkstelligen zu können. Des weiteren vermag WEBER einfach nicht die eigentliche Dialektik von Objektivem und Subjektivem der gesellschaftlichen Entwicklung im allgemeinen wie der erstmalig planmäßig-bewußten Revolutionierung und Umgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft durch die Arbeiterklasse im besonderen zu begreifen. Für ihn handelt es sich bei der der marxistischen Gesellschaftsauffassung unabdingbar zugrunde liegenden dialektisch-materialistischen Entwicklungslehre daher auch lediglich um ein „evolutionistisches Grunddogma", wonach „sich die Gesellschaft und ihre Wirtschaftsordnung streng naturgesetzlich, in Altersstadien sozusagen", zu entwickeln habe. 7 1 Diese Abwertung hindert WEBER jedoch keineswegs daran, die Sozialisten (natürlich vor allem die „Sozialisten" der 1914 zusammengebrochenen II. Internationale) in einer fast beschwörenden Form zu befragen, ob denn „eine Revolution, vollends während des Krieges" (!) auf einem solchen „evolutionistischen Boden" überhaupt zu leisten wäre? „Sie brächte doch vor allem eine ungeheure Kapitalzerstörung (!) und Desorganisation, also ein Zurückschrauben der vom Marxismus selbst geforderten gesellschaftlichen Entwicklung (!), die ja eine immer weitere Sättigung der Wirtschaft mit Kapital voraussetzt", usw. 72 Mit dieser ideologisch unverkennbar bürgerlich motivierten Befürchtung unterliegt WEBER allerdings lediglich seiner eigenen undialektischen und naturalisierten Entwicklungsauffassung, innerhalb der jede andersartige, vor allem natürlich sozialistische gesellschaftliche Entwicklung — im Gegensatz zur eigentlich „naturgegebenen" und somit historisch unvergänglichen „Kapitalsentwicklung" — als von vornherein nur zerstörend, desorganisierend und widernatürlich (eben so gar nicht „naturgesetzlich"!) erscheinen muß. 7 3 Eine konkret-historische Betrachtungsweise der 70 M . WEBER, Der Sozialismus, in: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924, S. 505. Dies wurde übrigens 1918, ein Jahr nach der Oktoberrevolution in Rußland und kurz vor den revolutionären Ereignissen in Österreich. Ungarn und Deutschland von 1918/|'9 geschrieben. Der „Prophetie"-Vorwurf sollte wörtlich nach 1945 besonders von KARL POPPER im Kampf gegen den Marxismus und die materialistische Dialektik wieder aufgegriffen und systematisch weiter verwendet werden. 71

Ebenda, S. 515

72

Ebenda

73 In diesem Zusammenhang ist interessant, daß MARX im „Kapital" tatsächlich vom „Naturgesetz" der gesellschaftlichen Entwicklung spricht, dies aber mit ENGELS eindeutig auf die II

Rcdkm Sliehlei

161

gesellschaftlichen Entwicklung, die, mit ENGELS gesprochen, vor allem „die jedesmalig ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder Zeitabschnittes" zum theoretischen Ausgangspunkt der Analyse, insbesondere auch der ideologischen gesellschaftlichen Erscheinungen, wählt, ist damit natürlich nicht mehr durchführbar. In dem oben angeführten ENGELSschen Zitat wird demgegenüber nochmals die besondere Bedeutung der materialistischen Geschichtsauffassung für die Klärung der erkenntnistheoretisch relevanten Frage nach der gesellschaftlichen Determiniertheit jeglicher menschlicher Bewußtseins- und Erkenntnisinhalte unmißverständlich ausgesprochen. Bei einer weitergehenden Analyse dieses Zitats ist es nun interessant, daß zumindest im ersten Teil nicht sonderlich zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaft oder Ideologie und Wissenschaft unterschieden wird, obwohl andererseits ausdrücklich von einem durch D A R W I N entdeckten „Gesetz der Entwicklung der organischen Natur" und einem von M A R X entdeckten „Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte" die Rede ist. Vielmehr werden die vom materiellen Lebens- und Arbeitsprozeß stets abgeleiteten ideologisch-geistigen Tätigkeitsformen in einer geschlossenen Reihe von E N G E L S aufgezählt: „Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw." Das heißt, allen diesen Erkenntnis- und Bewußtseinsformen ist letzlich jene grundlegende materielle gesellschaftliche und soziale (von denen hier allein die Rede ist) Voraussetzung für ihre Entwicklung zunächst einmal grundsätzlich gemeinsam. Aber bereits im zweiten Teil des ENGELSschen Zitates geht es darüber hinaus um die Fixierung des spezifisch Neuen, das die MARXsche materialistische Geschichtsauffassung nun speziell in bezug auf die Entdeckung des „Entwicklungsgesetzes der menschlichen Geschichte" erbrachte. Diese Feststellungen stimmen der Sache nach wiederum völlig mit dem schon mehrfach angeführten MARxschen Vorwort von 1859 überein, in dem wie gesagt die „jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe" zu der Grundlage erklärt wird, „aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben" 74 . Hier handelt es sich nun nicht mehr nur um in irgendeiner Weise oder letztlich gesellschaftlich bestimmte, beliebige geistige Erscheinungen, sondern vor allem um wesentlich und unmittelbar auf die gesellschaftliche Entwicklung bezogene und diese konzentriert widerspiegelnde ideologische, gesellschaftliche Verhältnisse und Bewußtseinsformen, wobei natürlich sowohl in der Kunst als auch z. B. in religiösen Vorstellungen stets auch bestimmte, jeweils weltanschaulich bzw. ideologisch relevante Naturgegebenheiten mit erfaßt und abgebildet werden „von den handelnden Personen unkontrollierbaren, gesellschaftlichen Naturzusammenhänge", der privatkapitalistischen Warenproduktion, bezieht, also auf eine gesellschaftliche Entwicklung in der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, die letztlich auf „der Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht." (ENGELS, 1844), s. MEW, Bd. 23, S. 89 und 126 74 MEW, Bd. 19, S. 335

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können. Diese betreffen dann aber in der Regel gerade nicht deren adäquate (natur)wissenschaftliche Widerspiegelung, sondern vielmehr eine spezifisch ideologisch (historisch gesehen zumeist spekulativ-phantastische, gelegentlich auch als „vorwissenschaftlich") bezeichnete, künstlerische oder religiöse Aneignung und Widerspiegelung, ebenso wie auch die sozialhistorisch bestimmten Rechtsanschauungen, wie z. B. beim sogenannten klerikalen Naturrecht der Fall, lediglich ideologische, d. h. klassenbezogene Begründungen von historisch gegebenen antagonistischen privatkapitalistischen Eigentumsansprüchen als „natürlich" bzw. „naturgegeben" enthalten und ausdrücken. Allein diesen „ideologischen Formen" (MARX) obliegt also im entscheidenden Maße die Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die, solange Klassen existieren, natürlich stets vom jeweils auch materiell-gesellschaftlich vorherrschenden Klassenund Interessenstandpunkt aus vollzogen wird. 75 Wie jedoch schon mehrfach festgestellt wurde, reduziert sich damit die Bedeutung der MARxschen materialistischen Geschichtsauffassung für die Grundlegung der dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie keineswegs nur auf die Erklärung der Entwicklung und des Wesens dieser spezifischen, unmittelbar gesellschaftlich bezogenen ideologischen Bewußtseins- und Erkenntnisinhalte, sondern betrifft die geistig erkennende Tätigkeit und Widerspiegelung der Wirklichkeit durch die Menschen in ihrer Gesamtheit und allen ihren Erscheinungsformen. Es geht hier nun nicht darum, anhand wichtiger Zitate der Klassiker krampfhaft irgendwelche apodiktisch vorausgesetzten Gesichtspunkte heraus oder hinein zu interpretieren, die möglicherweise in dieser Form gar nicht oder nur zum Teil angedeutet in diesen enthalten sind. Dennoch scheint uns der hier herausgestellte Unterschied zwischen beiden Teilen der ENGELSschen Feststellung nicht zufallig und auch keine verdoppelte oder gleichwertige Aufzählung zu sein, weil sich tatsächlich zwei — speziell für die hier zu klärende Frage nach der Spezifik der sozialen Erkenntnis — verschiedene Ebenen der Betrachtung nachweisen lassen. Zum einen geht es um die gesellschaftliche Determiniertheit und Vermittlung wie natürlich auch um Funktion und Wirkung jeglicher menschlicher Erkenntnistätigkeit, gleichgültig ob es sich bei dieser um Erkenntnis über die Natur, die Gesellschaft oder auch den menschlichen Denkprozeß selbst handelt. Zum anderen wird auf die Entwicklungsbedingungen speziell der ideologischen gesellschaftlichen Verhältnisse und Bewußtseinsformen verwiesen. Nicht zufallig bildet im Rahmen der marxistisch-leninistischen Philosophie die objektive Wirklichkeit in ihrer Totalität sowie im Hinblick auf die ihr gemeinsam grundlegenden und allgemeinsten Bewegungs- und Entwicklungsgesetze den

75 In der „Deutschen Ideologie" heißt es in diesem Sinne wörtlich: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht", MEW, Bd. 3, S. 46

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Gegenstand der materialistischen Dialektik. „Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Sie sind eben nichts anderes als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst." 76 In diesem Sinne erweist sich also die materialistische Dialektik als die allgemein, wissenschaftlich einzig tragfahige philosophische Bewegungs- und Entwicklungslehre für die Klärung der hier zur Diskussion stehenden Frage nach der Spezifik der sozialen bzw. sozialwissenschaftlichen Erkenntnis als der entscheidende theoretische Ausgangspunkt. Ihre bewußte und konsequente Anwendung verhindert, daß jener objektiv gegebene und theoretisch nachweisbare relative Unterschied zwischen natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnis, Wissenschaft und Ideologie usw. in irgendeiner Weise überzogen und insbesondere dadurch das soziale und ideologische Erkennen nach B0GDAN0\vschem Vorbild subjektivistisch und funktionalistisch vereinseitigt aufgefaßt wird. Genau in diese Richtung zielten aber bereits die Argumentationen z. B. des russischen Volkstümlerideologen N. MICHAILOWSKI. mit denen sich LENIN 1894 in seiner ersten größeren Arbeit zur Verteidigung und Nutzbarmachung der MARxschen materialistischen Geschichtsauffassung auseinandersetzen mußte. MICHAILOWSKI hatte, ähnlich wie bereits zahlreiche andere bürgerliche Denker und Revisionisten jener Jahre (z. B . STAMMLER, K. VORLÄNDER, E. BERNSTEIN und M . A D L E R sowie später M . WEBER, M . SCHELER und K. M A N N H E I M ) , in einer Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus versucht, diesem lediglich eine gewisse methodologische Bedeutung zuzugestehen sowie ihn schließlich teilweise in eine sonst aber klar subjektivistische und idealistische Geschichtsauffassung zu integrieren. Ideologisch-theoretisch gespeist und ausgerichtet wurden diese ersten modifizierten Angriffe auf den Marxismus und die Verfälschungen besonders seiner materialistischen Gesellschaftslehre im wesentlichen durch die Vertreter des Neukantianismus, wie z. B. W . WINDELBAND und H . RICKERT sowie teilweise auch durch W . DILTHEY und E. H U S S E R L . 7 7 LENIN führt z. B. folgende immer wieder gegen die materialistische Geschichtsauffassung hervorgebrachte Argumentation an, wonach „das Gebiet der sozialen Erscheinungen sich besonders aus dem Gebiet der naturgeschichtlichen Erscheinungen heraushebe und daß man sich daher zur Erforschung der erstgenannten eben einer ganz besonderen, der .subjektiven Methode in der Soziologie' bedienen müsse" 78 . In dieser von LENIN angeführten Argumentation wird deutlich, wie gerade die metaphysische Trennung und Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft, von natürlichen und sozialen Erscheinungen usw. direkt dazu

76

MEW, Bd. 20, S. 348

77 Vgl. hierzu: I. S. KON, Die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts. Berlin 1964, Bd. I 78

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Zitiert nach W. I. LENIN, Werke, Bd. 1, S. 126

benutzt wird, um jene für das bürgerliche Denken überhaupt charakteristische subjektivistische und letztlich idealistische Geschichtsauffassung zu begründen bzw. zumindest als eine unausweichliche philosophische Konsequenz erscheinen zu lassen. Die hierbei stets angezogene vermeintliche Abgrenzung vom sogenannten naturwissenschaftlichem Materialismus, auf den zumeist kurzerhand auch der dialektische und historische Materialismus als ein angeblich nur „ökonomischer Materialismus" der Sache nach zurückgeführt wird, erweist sich auch in diesem Zusammenhang als eine reine Scheinargumentation. Denn 1. wird im Gegensatz zum frühbürgerlichen philosophischen Denken (englischer und französischer Materialismus sowie FEUERBACH) durch die spätbürgerliche Ideologie fast durchgehend jeglicher Materialismus aufgegeben und nicht einmal mehr eine materialistische Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung bzw. der mit ihr unmittelbar verbundenen sozial wissenschaftlichen Erkenntnis für möglich gehalten, geschweige denn in irgendeiner Form angestrebt oder versucht. Und 2. bedeutete der von M A R X im „Kapital" bewußt bezogene materialistische Standpunkt, „die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß" aufzufassen 7 9 , wie gesagt keineswegs irgendeine absolute bzw. undifferenzierte Identifizierung von Naturund Gesellschaftsentwicklung. Hier eben liegt ein weiteres Unverständnis der materialistischen Dialektik vor, speziell der Dialektik von Identität und Unterschied, auf die bereits H E G E L in seiner Systematik der Dialektik aufmerksam machte. Vielmehr handelte es sich, wie L E N I N mehrfach betont, lediglich darum, jenes wissenschaftlich relevante „objektive Kriterium" für die Soziologie (d. h. Gesellschaftswissenschaften) zu finden, das es ermöglicht, „in dem komplizierten Netz der sozialen Erscheinungen wichtige Erscheinungen von unwichtigen zu unterscheiden" 80 . Im Sinne der materialistischen Dialektik wie des wissenschaftlichen Vorgehens überhaupt bedeutete das nichts anderes, als über eine klare dialektische Unterscheidung von Wesen und Erscheinung in der gesellschaftlichen Entwicklung schließlich zu gültigen Gesetzesaussagen über diese zu gelangen. Dabei ging und geht es dem Marxismus-Leninismus nicht um die Analyse der Menschheitsgeschichte schlechthin oder um eine Erklärung der Gesellschaftsentwicklung im allgemeinen usw., sondern M A R X beabsichtigte bekanntlich mit seinem „Kapital" lediglich, das „ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen" 8 1 , und auch L E N I N betont durchgehend in seinen Arbeiten, daß „das innerste Wesen, die lebendige Seele des Marxismus" darin besteht, stets „die konkrete Analyse einer konkreten Situation" zu geben! 82 79

M E W , Bd. 23, S. 16

80

W . I. LENIN, W e r k e , B d . 1, S. 130

81

M E W , B d . 23, S. 15/16

82

W . I. LENIN, W e r k e , B d . 31, S. 154

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Diese konkret-historische Vorgehensweise in der Analyse sozialer Gegebenheiten ist also charakteristisch für die materialistische Geschichtsauffassung. In einer Vorlesung „über den Staat" an der „Swerdlow-Universität" vom 11. Juli 1919 hatte LENIN die sich mit dieser dialektischen Vorgehensweise zwangsläufig verbindende entwicklungsgeschichtliche Erkenntnismethode in folgender Weise inhaltlich zusammengefaßt: „Das Allerwichtigste in der Gesellschaftswissenschaft, das Allernotwendigste, um wirklich die Fertigkeit zu erwerben, an diese Frage (d. h. hier konkret des Staates, Rh.) richtig heranzugehen, um sich nicht in einer Menge von Kleinkram oder in der ungeheuren Mannigfaltigkeit der einander bekämpfenden Meinungen zu verlieren, das Allerwichtigste, um an die Frage vom wissenschaftlichen Standpunkt heranzugehen, besteht darin, den grundlegenden historischen Zusammenhang nicht außer acht zu lassen, jede Frage von dem Standpunkt aus zu betrachten, wie eine bestimmte Erscheinung in der Geschichte entstanden ist, welche Hauptetappen diese Erscheinung in ihrer Entwicklung durchlaufen hat, und vom Standpunkt dieser ihrer Entwicklung aus zu untersuchen, was aus der betreffenden Sache jetzt geworden ist." 8 3 Demgegenüber versuchte z. B. MAX SCHELER, einer der Mitgründer der sogenannten Soziologie des Wissens, innerhalb der es um nichts anderes als um eine idealistisch vereinseitigte Rezeption und Revision der MARXschen materialistischen Geschichts- und Ideologieauffassung geht, die MARXsche dialektische Methode und Erkenntnisleistung in bezug auf die erstmalig wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus abzuschwächen und im oben bereits angedeuteten Sinne als eine zwar allgemeine, aber dennoch einseitige „Ökonomie-materialistische Geschichtsmetaphysik" abzuwerten. M. SCHELER schreibt: „Erst im Zeitalter des Hochkapitalismus (der Kohle) setzt langsam die Epoche ein, die als relativ vorwiegend .ökonomisch' bezeichnet werden kann und deren besondere Bewegungsgesetze MARX nicht nur naturalistisch (!) zum ,Geschichtsmaterialismus' übersteigerte, sondern auch falschlich auf die ganze Universalgeschichte verallgemeinerte." 84 SCHELER signalisierte hier zwar eine tatsächlich bestehende übergreifende Gemeinsamkeit des philosophischen Materialismus überhaupt sowie in der Erklärung des Geschichtsprozesses. Er begreift dabei aber nicht die neue Qualität des dialektisch-historischen Materialismus, den er ganz ähnlich wie MAX WEBER in bezug auf die Geschichtsauffassung als „naturalistisch" im Sinne einer rein mechanizistischen Übertragung von Naturgesetzmäßigkeiten auf den geschichtlichen Prozeß fehlzudeuten versucht. Heraus kommt, was SCHELER natürlich in keiner Weise beweisen kann, sondern vielmehr in seiner Kritik und Polemik immer schon als bürgerlich-idealistischer Geschichtsphilosoph ein83

W. I. LENIN, Werke, Bd. 29, S. 463

84 S.

M. SCHELER, Versuche zu einer Soziologie des Wissens, München und Leipzig 1924, 34

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fach als gegeben und nicht anders denkbar voraussetzen muß, daß die materialistische Geschichtsauffassung eigentlich theoretisch-methodologisch unmöglich sei. Diese äußerst aufschlußreiche „Argumentationsweise" wird wie folgt vorgeführt: „Es ist der grundsätzliche Fehler aller naturalistischen Geschichtserklärungen, daß sie den Realfaktoren, die sie als die sogenannten ausschlaggebenden ansetzen — sei es Rasse, geopolitische Struktur, politische Machtverhältnisse oder Verhältnisse der ökonomischen Produktion —, die Rolle zuschreiben, diese ideale Sinnwelt, wie wir sie in den Werken des Geistes verkörpert finden und an ihnen uns zum Verständnis bringen, eindeutig zu determinieren, mit einem Wort, daß sie diese ideale Welt aus der realen Geschichtswelt sogar ,erklären' (!) zu können meinen." 8 5 Diese „geschichtsmaterialistische Erklärung" hält SCHELER also für einen grundsätzlichen Irrtum und daher für wissenschaftlich nicht realisierbar, wobei durch ihn zwischen der sogenannten Realgeschichte und den „Werken des Geistes" überhaupt kein innerer und notwendiger Determinationszusammenhang mehr gesehen wird. Insbesondere letztere, die „Werke des Geistes" und sonstigen ideologischen Gegebenheiten führen auf diese Weise nur noch ein verselbständigtes spekulatives Eigenleben, bzw. sie werden in üblicher subjektivistischer, hier anthropologisch-psychologischer Manier höchstens noch auf nicht weiter definierbare natürliche Instinkte, Triebe und Leidenschaften der handelnden Menschen zurückgeführt. Entsprechend heißt es bei SCHELER: „Abfolge der Realgeschichte ist insofern vollendet gleichgültig gegen die sinnlogischen Forderungen der geistigen Produktion! Aber ebensowenig bestimmen die realgeschichtlichen Abfolgen den Sinn- und Wertgehalt der geistigen Kultur in eindeutiger Weise, wie z. B. die ökonomische Gesellschaftsauffassung annimmt. Sie enthemmen, beschränken oder hemmen nur die Auswirkung der geistigen Potenzen." 8 6 Das heißt, eine wesentlich gesellschaftliche Vermittlung sozial-ökonomischer Strukturierung bzw. historisch-konkrete Determination ideologisch-geistiger Gegebenheiten wird nicht zugestanden, ihre eigentliche historisch-gesellschaftliche Genesis bleibt gänzlich unbegriffen, während lediglich pragmatisch ihre sozialen Funktionen und Wirkungen in einer allerdings verselbständigten Weise äußerlich registriert werden. Es ist allzu verständlich, daß auf einer solchen geschichtsphilosophischen Voraussetzung weder eine wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung, als wichtigste theoretische Grundlage einer Theorie des sozialen bzw. ideologischen Erkennens, geschweige denn eine wissenschaftlich begründbare „Soziologie des Wissens" realisiert werden kann. Mit seinem eklatanten Unverständnis der tatsächlichen gesellschaftlichen Grundlage der menschlichen Existenzweise wie Wissensproduktion fallt SCHELER im übrigen weit hinter den durch M A R X , ENGELS und LENIN — ja eigentlich sogar hinter den sogar schon von HELVETIUS, HEGEL und FEUERBACH — erreichten 85

Ebenda, S. 27

86

Ebenda

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geschichtsphilosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisstand zurück. Denn gerade „die Analyse der materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse bot sofort die Möglichkeit, die Wiederholung und Regelmäßigkeit festzustellen und . . . von der Beschreibung der gesellschaftlichen Erscheinungen (und ihrer Beurteilung vom Standpunkt des Ideals) zu ihrer streng wissenschaftlichen Analyse überzugehen" 8 7 . Damit ergab sich, wie LENIN weiter schreibt, „zum erstenmal die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Soziologie, weil allein die Zurückführung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Produktionsverhältnisse und dieser wiederum auf den jeweiligen Stand der Produktivkräfte eine feste Grundlage dafür bot, die Entwicklung der Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß darzustellen. Ohne eine solche Anschauung aber kann es selbstverständlich auch keine Gesellschaftswissenschaft geben." 8 8 3.2. Alter bürgerlicher Materialismus und idealistische Gesellschafts- und Erkenntniskonzeption Demgegenüber waren die frühbürgerlichen soziologischen Denker ebenso wie das gegenwärtige bürgerliche soziologische und gesellschaftswissenschaftliche Denken außerstande, die gesellschaftliche Entwicklung als einen objektiven naturgeschichtlichen und damit ebenso objektiv-wissenschaftlich erfaßbaren Prozeß aufzufassen, „— und zwar gerade darum, weil sie bei den gesellschaftlichen Ideen und Zielen der Menschen haltmachten und es nicht verstanden, diese Ideen und Ziele auf die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen" 8 9 . Auf den aus einer solchen Inkonsequenz notwendigerweise entspringenden Subjektivismus und Idealismus in der Geschichtsbetrachtung, dem letztlich auch der frühbürgerliche philosophische Materialismus in seinen vielfaltigen Erklärungsversuchen der gesellschaftlichen Entwicklung wie des menschlichen Erkennens erlag, macht auch ENGELS in seinem „ L U D W I G F E U E R B A C H " aufmerksam, wenn er schreibt, „daß auf dem geschichtlichen Gebiet der alte Materialismus sich selbst untreu wird, weil er die dort wirksam ideellen Triebkräfte als die letzten Ursachen hinnimmt, statt zu untersuchen, was denn hinter ihnen steht, was die Triebkräfte dieser Triebkräfte sind." 9 0 Die Ursachen für diese Inkonsequenz und das Nichtbegreifen der tatsächlichen materiellen Grundlage des Geschichtsprozesses durch den vormarxistischen Materialismus wie das bürgerliche Denken überhaupt können nun natürlich nicht wiederum allein ideengeschichtlich, gewissermaßen rein „ideologisch" aus sich selbst erklärt werden. Auch der allgemein übliche Hinweis auf den „metaphysischen" — hier im Sinne von abstrakt, undialektisch, ahistorisch usw. — 87 88 89 90

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W. I. L E N I N . Werke, Bd. 1, S. 131 Ebenda Ebenda MEW, Bd. 21, S. 297/8

Charakter des alten Materialismus sagt, so gesehen und für sich genommen, eigentlich noch recht wenig aus, müßte also seinerseits selbst erst erklärt werden; ganz abgesehen davon, daß er sich z. B . , bezogen auf HELVETIUS und FEUERBACH, als viel zu pauschal und stellenweise als überhaupt nicht zutreffend, also ungerechtfertigt erweist. Ausgehend von der materialistischen Geschichtsauffassung, sind jene in ihren Grundlagen und Konsequenzen letztlich idealistisch angelegten bzw. ausgehenden Gesellschafts- und Erkenntniskonzeptionen (und hier wiederum insbesondere die Theorien des sozialen, also unmittelbar auf die Gesellschaft bezogenen Erkennens) letztlich immer nur aus dem dazugehörenden gesellschaftlichem Lebensprozeß der bürgerlichen Klasse selbst abgeleitet und erklärbar, der im frühbürgerlichen Materialismus zwar durchaus seine unvoreingenommene adäquate ideologisch-theoretische, zumeist aber eben nur „ideologischverkehrte", d. h. historisch-idealistische Widerspiegelung erfährt. 9 1 Wie ENGELS an jener oben bereits zitierten Stelle seines „ L U D W I G F E U E R B A C H " vermerkt, sei die Geschichtsauffassung des alten Materialismus wesentlich pragmatisch gewesen und habe alles nach den Motiven der Handlung der Menschen beurteilt. 92 Dieser spezifische Wesenszug der vormarxistischen materialistischen Gesellschaftstheorie bestimmte natürlich auch wesentlich den Charakter der erkenntnistheoretischen Konzeptionen des alten Materialismus. Das heißt, die letztlich fehlende bzw. auf der bürgerlichen Klassenposition objektiv einfach nicht realisierbare, konsequent materialistische Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung führte zwangsläufig auch zu einer unhistorischen, zumeist nur psychologischanthropologisch fundierten Auffassung des menschlichen Erkenntnisprozesses. Dies wiederum mußte sich natürlich besonders negativ auf entsprechende Theorien des sozialen Handelns und Erkennens der Menschen auswirken. Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine — wie ebenfalls oftmals etwas vereinfacht erklärt und dargestellt wird — einfache mechanizistische Übertragung bestimmter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, Methoden und Modelle der damaligen Zeit auf die Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung, einschließlich der in ihr ablaufenden sozialen Erkenntnisprozesse. Vielmehr muß die teilweise unhistorisch und in gesellschaftlich-sozialer Hinsicht völlig unzureichend begründete Konzeption des Menschen, seines Handelns und Erkennens in erster Linie aus der objektiven sozial-ökonomischen Struktur sowie aus dem bürgerlichen Klassen-

91 In theoretischer wie methodischer Hinsicht heißt es daher bei MARX in der 10. Feuerbachthese: „Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft" ( M E W , Bd. 3, S 7 bzw. 535), während im „Kapital", speziell in den Abschnitten „ D e r Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis" (Bd. I) sowie „ D i e trinitarische Formel" (Bd. III) von MARX die entscheidende Ökonomie-theoretische Erklärung für dieses Phänomen der „ideologisch-verkehrten Widerspiegelung" der Wirklichkeit gegeben wird 92

MEW, Bd. 21, S. 297

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Charakter dieses alten Materialismus, dem philosophischen Kernstück der frühbürgerlichen Ideologie jener Zeit, abgeleitet und erklärt werden. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisweise, die Gewinnung sowie vor allem aber der inhaltliche Charakter ihrer Resultate, erwies sich demgegenüber, wie bereits mehrfach hervorgehoben wurde, von Anbeginn als eine wesentlich klassenindifferente Angelegenheit, wenn sie auch niemals ohne die bekannten materiellen wie ideologischen gesellschaftlichen Voraussetzungen, auf deren tatsächliches Zusammenwirken die materialistische Geschichtsauffassung ja ebenfalls erstmalig ausdrücklich aufmerksam machte, ablaufen kann. Wie sich weiter zeigte, unterliegt das naturwissenschaftliche Erkennen offensichtlich spezifischen Kriterien, die nicht so ohne weiteres mit denen des gesellschaftswissenschaftlichen bzw. sozialen Erkennens identifiziert werden können. Dies ist jedoch primär eine Frage des unterschiedlichen Erkenntnisgegenstandes und erst in zweiter Linie eine Frage des jeweiligen Erkenntnisträgers, seiner objektiven sozialen Stellung, seines Klasseninteresses, seiner ideologischen Einstellung, Weltanschauung usw., auf keinen Fall aber eine Frage des „Ideologen" selbst (d. h. seiner individuellen Motivation, Einstellung oder Willenserklärung usw.), wie das die bürgerliche Wissenssoziologie und Ideologiekritik seit ihren frühesten Anfängen bis heute immer wieder behaupten. So gesehen wird verständlich, v is ENGELS mit der Charakterisierung der Geschichtsauffassung des alten Matt rialismus als „pragmatisch" und „nach den Motiven der Handlung der Menschen ausgerichtet" aussagen wollte. Die eigentlichen Triebkräfte und Determinanten der gesellschaftlichen Entwicklung im allgemeinen wie der menschlichen Erkenntnisentwicklung im besonderen bleiben unreflektiert und außerhalb der Betrachtung. Dies läßt sich, wie das Beispiel M A X SCHELERS deutlich zeigte, bis in die gegenwärtige bürgerliche Soziologie und Gesellschaftstheorie nachweisen, wo durchaus noch genauestens z. B. die vielfaltigen sozialen und sozialpsychologischen Faktoren, Wirkungen und Funktionen „von Ideologien" angeführt und analysiert werden und wo auch noch nach möglichen individualpsychologischen Motiven für das soziale und ideologische Erkennen und Verhalten der Menschen gefragt wird. Solche Analysen und Resultate betreffen natürlich oftmals nicht ganz unwesentliche Seiten des sozialen Denkens und Verhaltens der Menschen. Sie verbleiben aber eben zumeist in der bloßen empirischen Beschreibung von Erscheinungsformen bzw. sogar nur in den sie lediglich widerspiegelnden Bewußtseinsformen hängen, weil die eigentlich bestimmenden und grundlegenden sozialökonomischen und Klassenverhältnisse nicht zum entscheidenden Ausgangspunkt der Analyse sozialer Phänomene gewählt werden. Von Anbeginn wurden und werden daher bis heute im bürgerlichen sozialwissenschaftlichen Denken als letztlich bestimmend für das soziale Handeln und Erkennen der Menschen primär einerseits „natürliche". zumeist biologische und psychologische, sowie andererseits immer wieder „moralische", d. h. wesentlich abgeleitete geistig-ideologische Bedingungen angeführt. 170

Selbst der zumindest einzelwissenschaftlich sehr exakt und scheinbar ideologisch ganz unvoreingenommen vorgehende Verhaltensforscher K A R L L O R E N Z überspringt letztlich nicht diese „ideologische Barriere" und „moralisiert" in seinen weltanschaulich-philosophischen Schlußfolgerungen eigentlich nur über das sogenannte Böse bzw. Instinkthafte und „Tierische" im Menschen 93 , ohne dabei überhaupt jemals die eigentlich von ihm gemeinten bzw. anvisierten sozialen Phänomene der spätbürgerlichen Gesellschaftsordnung (wie z. B. die der gesellschaftlichen Entfremdung der Menschen oder auch das gesellschaftliche Phänomen des Krieges) in irgendeiner Weise konkret-historisch (eben „naturgeschichtlich") erklären zu können. Generell fällt auf, daß, wenn überhaupt irgendwelche gesellschaftlichen Verhältnisse und Determinanten in ihrer unmittelbaren Relevanz für das menschliche Denken und Verhalten durch das bürgerliche Denken in Betracht gezogen werden, diese zumeist immer nur in ihrer bloßen „Negativität", d. h. die Erkenntnis, das Handeln der Menschen behindernden und deformierenden Funktion aufgefaßt und analysiert werden. So bereits beim englischen und französischen Materialismus, z. B . in BACONS Lehre von Idolen oder auch bei HELVETIUS* und HOLBACHS Priesterbetrugshypothese. Das heißt, die zahlreichen richtigen Hinweise zur Rolle der menschlichen Interessen, des natürlichen und sozialen Milieus, der Erziehung, der Herrschaftsstrukturen und überkommener religiöser Ideologien, auf die in den vielfaltigen frühbürgerlichen ideologiekritischen Analysen verwiesen wird 94 , werden überlagert durch eine letztlich doch abstrakt-naturalistisch bleibende Konzeption des Menschen, über die die Erklärung insbesondere des unmittelbar auf die Gesellschaft bezogenen „praktischgeistigen" (sozialen) Denkens und Verhaltens der Menschen nicht hinauskommt. Ähnliches gilt von FEUERBACH ; auch er geht zwar „vom Menschen aus, aber von der Welt, worin dieser Mensch lebt, ist absolut nicht die Rede, und so bleibt dieser Mensch stets derselbe abstrakte Mensch, der in der Religionsphilosophie das Wort führte. Dieser Mensch . . . lebt daher auch nicht in einer wirklichen,

93 Vgl. hierzu: W. HOLLITSCHER, Tierisches und Menschliches, Wien 1971 sowie Ders.: Aggression im Menschenbild, MARX, FREUD, LORENZ, Frankfurt/Main 1972, ENGELS nennt es einfach eine Naivität, zu glauben, man habe die Übertragung von „Leben aus der Naturgeschichte wieder (wie z. B. beim „Sozialdarwinismus" der Fall, v. Autor) in die Geschichte der Gesellschaft (etwa) ewige Naturgesetze der Gesellschaft nachgewiesen" ( M E W . Bd. 20, S. 565). Ebenso fragt auch LENIN angesichts der von F. A . LANGE realisierten völlig abstrakten und unhistorischen (ebenfalls,sozialdarwinistischen') Behandlung der „Arbeiterfrage" : „Erfahren wir auch nur das geringste über die Ursache der ,Not', über ihren politischökonomischen Inhalt und ihre Entwicklung, wenn man uns sagt, sie sei eine Metamorphose des Kampfes um das Dasein?" (Werke, Bd. 1, S. 475) 94 Über ihre gewaltige aufklärerische ideologische Funktion in der frühbürgerlichen Emanzipationsbewegung braucht hier sicher kein Wort verloren zu werden. MARX nennt 1843 z. B. die Kritik der Religion „die Voraussetzung aller Kritik" ( M E W , Bd. 1, S. 378) 171

geschichtlich entstandenen und geschichtlich bestimmten Welt; er verkehrt zwar mit andern Menschen, aber jeder andere ist ebenso abstrakt wie er selbst." 95 Diese Sachlage findet nun, worauf M A R X bekanntlich besonders in den „Feuerbachthesen", bezogen auf allen bisherigen Materialismus, aufmerksam machte, ihre Erklärung darin (eine Erklärung, die natürlich für den spekulativen Idealismus als den anderen Bestandteil und das Gegenstück der frühbürgerlichen Ideologie in gleichem Maße gilt), daß „die menschliche Tätigkeit nicht als gegenständliche Tätigkeit", nicht als „praktisch-kritische Tätigkeit" gefaßt und begriffen wird. Denn auch FEUERBACH betrachtet wiederum „nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wird" 9 6 . Im „Kapital" und in den „Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie" hat M A R X an den verschiedensten Stellen die sozialökonomischen und klassenmäßigen Wurzeln für diese praktisch die bürgerliche Ideologie in ihrer Gesamtheit beherrschende idealistisch-verkehrte Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung gegeben. Insbesondere erwiesen sich dabei die bekannten historisch-sozialen Phänomene der kapitalistischen Warenproduktion, wie die Entfremdung, Verdinglichung und Versachlichung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Basis der Klassenspaltung der Gesellschaft, des Privateigentums an den Produktionsmitteln, also der Trennung der objektiven von den subjektiven Arbeitsbedingungen 97 , sowie der unmittelbar aus all diesen Bedingungen resultierenden besonderen Stellung der bürgerlichen Klasse im tatsächlichen materiellen Produktions- und Arbeitsprozeß (nämlich letztlich doch nur als bloßer Lenker und Leiter — weil alleiniger Besitzer und Eigentümer des gesamten Arbeitsprozesses — zu fungieren) als die wichtigsten objektiven sozialen Ursachen für den auch subjektiv durch die bürgerliche Klasse und ihre Ideologen nicht zu überspringenden

95 M E W , Bd. 21, S. 286, Natürlich reduziert sich für ENGELS auf diese Feststellung nicht die Einschätzung FEUERBACHS, auch nicht seiner Gesellschaftskonzeption. ENGELS führt z. B. noch folgende Sätze von FEUERBACH an: „ D e r Mensch ist ein Produkt des Menschen, der Kultur, der Geschichte" oder: „In einem Palast denkt man anders als in einer Hütte", vermerkt aber sogleich, daß diese Aussprüche gänzlich unfruchtbar bleiben und nicht ausgeführt werden. Hier fallt FEUERBACH theoretisch offensichtlich weit hinter HEGEL zurück „Dessen Ethik oder Lehre von der Sittlichkeit ist die Rechtsphilosophie und umfaßt: 1. das abstrakte Recht, 2. die Moralität, 3. die Sittlichkeit, unter welcher wieder zusammengefaßt sind: die Familie, die bürgerliche Gesellschaft, der Staat. So idealistisch die Form, so realistisch ist hier der Inhalt. D a s ganze Gebiet des Rechts, der Ökonomie, der Politik ist neben der Moral hier mit einbegriffen. Bei FEUERBACH gerade umgekehrt." (ebenda) 96

M E W , Bd. 3, S. 5 bzw. 533

97 Dieser sich vor allem klassenmäßig niederschlagende Antagonismus der bürgerlichen Ordnung und nicht die historisch gegebene Arbeitsteilung bzw. auch die Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit als solche, wie neuerdings ALFRED Sohn-RETHEL meint (Geistige und körperliche Arbeit, Frankfurt/Main 1970), unterliegt daher in erster Linie der sozialistischen Revolution und Umgestaltung.

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historisch beschränkten Erfahrungshorizont und Erkenntnisstand ihrer eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit und Entwicklung gegenüber. Einzig und allein auf dieser von M A R X gewiesenen theoretischen Grundlage ist es nun möglich, jenem schon mehrfach angedeuteten und scheinbar unlösbaren Widerstreit zwischen Natur- und Gesellschaftsbetrachtung, zwischen Wissenschaft und Ideologie im bürgerlichen philosophischen und methodologischen Denken auf die Spur zu kommen und einer rationellen Lösung zuzuführen. Dabei ist es in diesem Zusammenhang gleichgültig, ob — wie sich zeigte — dem frühbürgerlichen philosophischen Denken letztlich keine einheitliche und geschlossene materialistische Auffassung von Natur und Gesellschaft gelang (obwohl dies natürlich weitgehend versucht und angestrebt wurde!) oder ob die spätbürgerliche Ideologie in neukantianistischer, neopositivistischer, kultursoziologischer oder ideologiekritischer Manier schließlich jene angeblich unüberbrückbaren Gegensätze zwischen naturwissenschaftlicher und sogenannter geisteswissenschaftlicher Vorgehensweise bzw. zwischen Wissenschaft und Ideologie. Erkenntnis und Wertung usw. zunehmend bewußter in den Kampf gegen den Marxismus-Leninismus hineinträgt. Dieser Sachverhalt bedarf einer gesonderten Erklärung, ohne daß dabei jene tatsächlich bestehenden und genauestens zu differenzierenden objektiven Unterschiede zwischen dem Natur- und Gesellschaftserkennen in irgendeiner Weise nicht mehr wahrgenommen oder nivelliert werden. Diese betreffen die jeweils objektiv verschiedenartig existierenden natürlichen oder gesellschaftlichen Erkenntnisgegenstände selbst und dürfen daher nicht mit den dazu in Vergangenheit und Gegenwart geführten philosophisch-erkenntnistheoretischen und methodologischen Diskussionen hinsichtlich ihrer objektiv unterschiedlichen Seinsund Erkenntnisweise identifiziert und verwechselt werden. Ob es sich hierbei möglicherweise überhaupt nur um eine historisch vorübergehende und sich mit der weiteren endgültigen Überwindung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und weltweiten Errichtung der klassenlosen sozialistischkommunistischen Gesellschaft von selbst erledigende Fragestellung handelt, kann hier nicht weiter diskutiert bzw. einfach pauschal entschieden werden. Immerhin verweist M A R X bereits in seinen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844" darauf, daß „die Geschichte selbst ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen" ist und daß dies, bezogen auf ihre erkenntnismäßige wissenschaftliche Widerspiegelung, dazu führen werde, daß „die Naturwissenschaft später (!) ebensowohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren (wird): es wird eine Wissenschaft sein" 9 8 . Auf die generelle Bedeutung dieses MARXschen Gedankens, vor allem im Hinblick auf eine einheitliche und geschlossene philosophisch-materialistische Auffassung der Erkenntnis von Natur und Gesellschaft, wurde der Sache nach, ausgehend von 98

MEW, Ergänzungsband, 1. Teil, Berlin 1968, S. 544

173

der materialistischen Dialektik und Geschichtsauffassung, mehrfach hingewiesen. Nochmals wird aber deutlich, daß es sich hier keineswegs nur um eine willkürlich konstruierte, sondern auch von MARX von Anfang an klar gesehene Fragestellung handelt. Wie sich weiterhin zeigte, liefert einzig und allein die materialistische Dialektik und Geschichtsauffassung die entscheidende philosophisch-theoretische und allgemeine methodologische Grundlage für die Klärung der Spezifik der sozialen bzw. sozialwissenschaftlichen Erkenntnisweise, die u. a. auch die Klärung ihrer relativen Verschiedenheit vom mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkennen mit enthalten müßte. In dieser Richtung würde sich u. E. durchaus auch ein gangbarer Weg zur weiteren und umfassenderen Diskussion und Klärung des Ideologieproblems im allgemeinen sowie vor allem des sehr differenziert und vielschichtig zu fassenden Verhältnisses von Ideologie und Wissenschaft, Ideologie und Wahrheit, Erkenntnis und Wertung usw. auftun und ergeben.

4.

Das Problem der sogenannten „Wertfreiheit" in den Sozialwissenschaften Eine Auseinandersetzung mit MAX WEBER

In den vielfaltigen philosophisch-erkenntnistheoretischen und methodologischen Diskussionen der letzten Jahre um die Ideologie-Problematik sowie die Spezifik des sozialen bzw. gesellschaftswissenschaftlichen Erkennens spielten und spielen bis heute das Problem der Wertungen und ihr besonderer Stellenwert im Erkenntnisprozeß speziell sozialer Gegebenheiten und Prozesse eine ganz zentrale Rolle. Die gegenwärtige neopositivistische Soziologie und Ideologiekritik (GEIGER, TOPITSCH, ALBERT usw.) behaupten sogar einen prinzipiellen, bis in die logischgrammatikalische Struktur der Sprache hinein nachweisbaren unüberbrückbaren Unterschied und Gegensatz zwischen Erkenntnis und Wertung, Wissenschaft und Ideologie." Einer der führenden bürgerlichen Soziologen, der in besonders potenzierter Form das Problem der sogenannten Wertfreiheit oder auch „Objektivität" der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis erstmalig systematisch zur Diskussion stellte, 99 Bezogen auf die erkenntnistheoretisch-methodologische Charakterisierung der Ideologie erklärt HANS ALBERT dies beispielsweise so: „Die Funktion der Ideologie besteht nicht in der Erklärung bestimmter Vorgänge, sondern in ihrer Rechtfertigung, nicht in der Vorhersage bestimmter Handlungskonsequenzen, sondern in der Vorentscheidung von Handlungen, nicht in der Beschreibung von Ereignissen, sondern in ihrer Bewertung." Die durch eine Ideologie verwendete Sprache sei deshalb, so erklärt ALBERT an anderer Stelle, nicht deskriptiv„beschreibend", sondern praeskriptiv-,, Vorschreibender" Natur. (In: Logik der Sozialwissenschaften. hrsg. von E. TOPITSCH, Köln und Berlin/West, 1965, S. 127 und 183 ff.)

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war MAX WEBER. Anläßlich seines 100. Geburtstages wurden 1964 in der BRD sogar die Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages ganz unter dem Generalthema: „ M A X WEBER und die Soziologie heute" durchgeführt. Eines der zentralen Hauptreferate, an das sich eine der lebhaftesten Diskussionen dieses Soziologentages überhaupt anschloß, wurde von T. PERSONS (USA) zum Thema „Wertfreiheit und Objektivität" gehalten. 100 Bis heute liefern die durch WEBER angeregten Diskussionen und der sogenannte Werturteilsstreit die entscheidende erkenntnistheoretisch-methodologische Grundlage und Orientierung für die gesamte spätbürgerliche Spezialisierung auf das Ideologieproblem. Wie bereits eingang kurz erwähnt wurde, war WEBER einer der ersten bürgerlichen Ideologen, der sich bereits vor der Jahrhundertwende ernsthaft um eine Rezeption speziell der MARXschen materialistischen Geschichtsauffassung bemühte, um diese allerdings unmittelbar zu einer differenzierteren soziologischen Analyse der sozialen Wirklichkeit des Kapitalismus und realistischeren Sozialpolitik im Interesse der immer mehr in die allgemeine Krise ihres Gesellschaftssystem hineingeratenen imperialistischen bürgerlichen Klasse einzusetzen. Keineswegs zufallig trug WEBER daher wiederum ausgerechnet 1 9 1 8 , angesichts des ersten großen Höhepunktes der allgemeinen Krise des deutschen Imperialismus wie des imperialistischen Weltsystems überhaupt (Oktoberrevolution in Rußland und deutsche Weltkriegsniederlage), seine religionssoziologischen Untersuchungen und Vorlesungen unter dem bezeichnenden Titel: „Positive Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung" vor. 101 KARL LÖWITH, der 1 9 3 2 eine längere vergleichende Analyse der soziologischen Auffassungen von . . M A X WEBER und KARL M A R X " vornahm, meint allerdings (dies sicher nicht zufallig im Zusammenhang mit der damals gerade erfolgten erstmaligen Veröffentlichung der MARXschen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1 8 4 4 " ) , daß WEBERS Kritik der „materialistischen Geschichtsauffassung" eigentlich als „ein Produkt des durch F . ENGELS und den späten MARX in die Wege geleiteten ökonomischen Vulgärmarxismus" aufzufassen sei und den gewissermaßen eigentlichen, „frühen MARX von 1 8 4 4 " gar nicht treffe usw. 102 Aus diesem Sachverhalt ergebe sich nun, wie LÖWITH weiter erklärt, daß WEBER als Erfahrungswissenschaftler und empirischer Soziologe sowohl die

100

Vgl. hierzu: Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, S. 41 ff.

101 Es handelt sich hier wesentlich um die dann 1950 herausgegebenen „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie", die als bekanntesten Teil der Arbeit: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" enthalten. 102 In. K. LÖWITH, Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart 1960, S. 62. Mit dem „späten MARX" bzw. „ökonomischen Vulgärmarxismus" sind offensichtlich sowohl das MARXsche Vorwort von 1859, das „ K a p i t a l " (Grundrisse) als auch ENGELS' wichtige Arbeiten zur materialistischen Geschichtsauffassung gemeint, deren grundlegende Bedeutung f ü r die hier zu behandelnde Problematik bereits hinlänglich sichtbar wurde.

175

spiritualistische These, daß „in letzter Linie" die Menschengeschichte einschließlich des politischen und wirtschaftlichen Geschehens nichts anderes als religiöse Kämpfe widerspiegele, als auch die materialistische These, daß das „in letzter Instanz" maßgebende Agens der Menschengeschichte wirtschaftliche Kämpfe seien, stets als einseitige „geschichtsmetaphysische" und letztlich theoretisch nicht tragfahige Konzeption zur Erklärung sozialer Gegebenheiten und Prozesse abgelehnt habe. „Demgemäß wird der sogenannte Geist des Kapitalismus von WEBER weder vulgärmarxistisch als bloß ideologischer Geist der kapitalistischen Produktionsverhältnisse verstanden noch als ein davon abhängig für sich bestehender und ursprünglich religiöser Geist, sondern: einen Geist des Kapitalismus gibt es für WEBER nur insofern, als eine durch die bürgerliche Schicht der Gesellschaft getragene allgemeine Tendenz zu rationaler Lebensführung die innere Wahlverwandtschaft begründet zwischen kapitalistischer Wirtschaft einerseits und protestantischem Ethos andererseits." 103 Fast klarer als oftmals bei WEBER selbst kommt in dieser Einschätzung die übliche Relativierung der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung von M A R X zum Ausdruck, innerhalb der die eindeutige und letztlich ausschlaggebende Determiniertheit des ideologischen Seins bzw. Bewußtseins durch ein dazugehöriges materielles gesellschaftliches Sein ersetzt wird, durch eine mehr oder weniger zufallige und äußerliche „Wahlverwandtschaft" zwischen Sein und Bewußtsein. WEBER bezeichnet zwar, dabei ohne Frage unmittelbar angeregt durch verschiedene Bemerkungen und Hinweise von M A R X im „Kapital", in seinen religionssoziologischen Analysen „die protestantische Ethik" als „Geist des Kapitalismus"; er erfaßt und erklärt aber diesen gerade nicht als einen gesellschaftlich notwendigen ideologischen Ausdruck der sich vor allem praktisch aus den ökonomischsozialen Fesseln der feudalen Produktionsweise (ebenso wie natürlich auch ideologisch vermittels des Protestantismus aus der geistigen Vorherrschaft des Katholizismus) emanzipierenden frühbürgerlichen Klasse hinsichtlich ihrer veränderten materiellen Produktions- und Lebensweise. Kurz gesagt, die MARXsche materialistische Geschichtsauffassung wird unter Abstrich ihrer eigentlich philosophisch-relevanten, d. h. dialektischen und materialistischen Grundlegung und Voraussetzung zu einer philosophisch-ideologisch völlig indifferenten und beliebig einsetzbaren Forschungsmethode neutralisiert und umfunktionalisiert. Dieser theoretischen Isolierung und Lostrennung von der philosophisch-materialistischen Grundlage entspricht ihre unverhohlene Herauslösung als notwendiger Bestandteil der Ideologie und Weltanschauung der revolutionären Arbeiterbewegung und schließlich mit WEBER systematisch einsetzend ihre gezielte Ausrichtung gegen den Sozialismus als wissenschaftlicher Theorie und realer Bewegung. WEBERS in diesem Zusammenhang von der spätbürgerlichen Ideologie und Marxismusrezeption

103

176

E b e n d a , S. 63 und 64

immer wieder zitierte Losung 1 0 4 , die er ebenfalls 1919 in einem Vortrag — „Politik als B e r u f — aufstellte, lautet daher wörtlich: „ D a r ü b e r lassen wir uns nichts vorreden, denn die materialistische Geschichtsauffassung ist auch kein beliebig zu besteigender Fiaker und macht vor den Trägern von Revolutionen nicht halt!" 1 0 5 Die Widersprüchlichkeit des Verhältnisses von M A X WEBER zum Marxismus besteht in einer gleichzeitig gegebenen geistigen Gegnerschaft und Abhängigkeit gegenüber MARX. AUS all diesen Gründen erscheint uns die von WEBER seit 1904 in mehreren wichtigen Aufsätzen 1 0 6 angeführte Diskussion zum sogenannten Wertfreiheitsproblem bzw. zur Objektivität des sozialwissenschaftlichen Erkennens keineswegs zufallig und vor allem selbst ganz und gar nicht wert- und ideologiefrei. Diese Diskussionen richteten sich von Anfang an in ideologisch-weltanschaulicher Hinsicht direkt gegen die im Marxismus-Leninismus erstmalig realisierte Einheit von Erkenntnis und Wertung bzw. Ideologie und Wissenschaft. Angesichts der sich zuspitzenden allgemeinen Krise des imperialistischen Gesellschaftssystem zum Ende des ersten Weltkrieges entwickelte die herrschende bürgerliche Klasse in einem immer stärkeren M a ß e ein Krisenbewußtsein ihrer eigenen gesellschaftlichen Existenz und historischen Perspektive gegenüber, aus dem heraus aber WEBER theoretisch-methodologisch wie praktisch-politisch wie kein anderer spätbürgerlicher Ideologe bis heute systemstabilisierend wirksam werden sollte. WEBERS Argumentation zur Wertfreiheit der sozial- bzw. gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis wird bis heute vom Neopositivismus und von seiner Ideologiekritik dazu benutzt, einen absoluten Gegensatz zwischen Wissenschaft und Ideologie bzw. zwischen Weltanschauung, Philosophie, „ M e t a p h y s i k " einerseits und empirischer Sozial- oder Einzel Wissenschaft andererseits zu konstruieren. Dabei werden zum Teil auch von WEBER nur scheinbar überwundene, in Wahrheit lediglich nur modifizierte neukantianische Positionen, insbesondere die von WINDELBAND, SIMMEL und RICKERT, die die charakteristische spätbürgerliche Entgegensetzung von naturwissenschaftlicher und sogenannter geistes- oder kulturwissenschaftlicher Forschung erstmalig auch methodologisch umfassend begründet hatten, im wesentlichen beibehalten und weitergeführt. D o c h u m welche Argumente und Positionen zur Klärung der Spezifik des sozialwissenschaftlichen Erkennens handelt es sich nun bei M A X WEBER im einzelnen?

104 So z. B. von M A N N H E I M 1929 im Zusammenhang mit seiner umfassenden Rezeption der marxistischen Ideologieauffassung, wobei er konkret bezogen auf das Ideologieproblem noch deutlicher und gezielter hinzusetzt, daß dieses „ein viel zu allgemeines und viel zu prinzipielles Problem (sei), als daß es auf die Dauer das Privileg einer Partei (!) bleiben könnte, und niemand konnte es daher dem Gegner verbieten, auch den Marxismus auf seine Ideologiehaftigkeit hin zu analysieren." (Ideologie und Utopie, Frankfurt/Main 1969, S. 69) 105

MAX WEBER, Gesammelte politische Schriften, München 1921. S. 446

106 Diese sind zusammengefaßt in der Ausgabe; MAX WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (künftig zitiert: Wissenschaftslehre), Tübingen 1951 12

Redlow/Stiehler

177

4.1. Unterscheidung von „abstrakt-generalisierender" Naturwissenschaft und ,,historisch-individualisierender" Kulturwissenschaft auf idealistischer Grundlage M i t d e m V u l g ä r ö k o n o m e n ROSCHER, d e s s e n h i s t o r i s c h e M e t h o d e v o n WEBER i n

mehrfacher Hinsicht wegen ihrer metaphysischen und religiösen Voraussetzungen richtig kritisiert wird, unterscheidet WEBER folgende zwei Arten der wissenschaftlichen Verarbeitung der Wirklichkeit: „Begriffliche Erfassung im Wege der generalisierenden Abstraktion unter Eliminierung der .Zufälligkeiten' der Wirklichkeit in ihrer vollen Realität." Hierbei handle es sich offensichtlich, wie WEBER weiter schreibt, um jene bekannte prinzipielle „Scheidung von Gesetzes- und Wirklichkeitswissenschaft", „wie sie am schärfsten in dem methodischen Gegensatz zwischen den exakten Naturwissenschaften auf der einen und der politischen Geschichte auf der anderen Seite zutage trete" 1 0 7 . In wissenschaftstheoretischer und methodologischer Hinsicht führt Weber diesen seinen Ausgangspunkt schließlich zur Unterscheidung auf der einen Seite von „Wissenschaften mit dem Bestreben, durch ein System möglichst unbedingt allgemeingültiger Begriffe und Gesetze die extensiv und intensiv unendliche Mannigfaltigkeit zu ordnen. Ihr logisches Ideal — wie es am vollkommensten die reine Mechanik erreicht — zwingt sie, um ihren Begriffen die notwendig erstrebte Bestimmtheit des Inhalts geben zu können, die vorstellungsmäßig uns gegebenen ,Dinge' und Vorgänge in stets fortschreitendem Maße der individuellen Zufälligkeiten' des Anschaulichen zu entkleiden." Auf der anderen Seite existieren demgegenüber „Wissenschaften, welche sich diejenige Aufgabe stellen, die nach der logischen Natur jener gesetzeswissenschaftlichen Betrachtungsweise durch sie notwendig ungelöst bleiben muß: Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer ausnahmslos und überall vorhandenen qualitativ-charakteristischen Besonderung und Einmaligkeit: d. h. aber . . . Erkenntnis derjenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die für uns in ihrer individuellen Eigenart und um derenwillen die wesentlichen sind." 1 0 8 In diesen prinzipiell entgegengesetzten Unterscheidungen wissenschaftlicher Vorgehensweisen kommen unverkennbar WEBERS direkte Abhängigkeit von WINDELBAND

und

RICKERT

und

deren

ebenfalls

überzogene

metaphysische

Unterscheidung und Gegenüberstellung zwischen den mathematischen bzw. allein „generalisierenden" abstrakt-allgemeinen Naturwissenschaften und den angeblich einzig und allein historisch-individualisierend vorgehenden „verstehenden" Geistes- oder Kulturwissenschaften zum Ausdruck. Vermittels eines solchen Antagonismus zwischen einem Zugang zum Allgemeinen, Notwendigen und Gesetzmäßigen allein in der Naturbetrachtung und einer bloßen Beschreibungsmöglichkeit von individuellen, zufalligen bzw. einmaligen Ereignissen in der Geschichts107

M. WEBER, Wissenschaftslehre, S. 3

108

Ebenda, S. 4/5

178

betrachtung wird zwangsläufig nicht nur letzterer jeder Zugang zur wirklichen wissenschaftlichen Gesetzeserkenntnis versperrt, sondern gleichzeitig auch erstere völlig enthistorisiert und als scheinbar absolut wertfrei bzw. ideologie-indifferent aufgefaßt und interpretiert. 109 Die andererseits klar zutage tretende subjektivistisch überzogene Wertbeziehung der sogenannten Kulturwissenschaften, die es dem Historiker und Sozialwissenschaftler gestatten soll, zur Auswahl und Bestimmung des Bedeutsamen und Wesentlichen zu gelangen, bedeutet jedoch in Wahrheit nichts anderes als die unverhohlene Leugnung jeder objektiven Gesetzmäßigkeit der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt. 110 Wie WEBERS Ausführungen zur Kennzeichnung dieser Position weiter zeigen, teilt er mit WINDELBAND und RICKERT in methodologischer Hinsicht keineswegs nur die äußerliche Gegenüberstellung und Trennung von allgemeingültiger Naturwissenschaft und individualisierender Gesellschaftswissenschaft, sondern auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht eine, letztlich nur als subjektiv-idealistisch charakterisierbare philosophische Grundposition. Diese zeigt sich nicht zufallig in beiden oben angeführten WEBERschen Bestimmungen der zwei verschiedenen und ganz entgegengesetzt angelegten wissenschaftlichen Vorgehensweisen, in denen weder von einer sowohl Natur als auch Gesellschaft umfassenden objektiven Wirklichkeit noch von deren prinzipiell gleichartiger Erkennbarkeit die Rede ist. Wie sich zeigte, ist jedoch einzig und allein auf einer konsequent-materialistischen, Natur wie Gesellschaft im gleichen Maße erfassenden philosophischerkenntnistheoretischen Grundposition, die natürlich eine Anerkennung objektiver und erkennbarer Gesetze nicht nur in der Natur, sondern ebensosehr in der gesellschaftlichen Entwicklung unbedingt mit einschließt, überhaupt eine relative Unterscheidung von natur- und sozialwissenschaftlichem Erkennen möglich, gerechtfertigt und sinnvoll durchführbar. Weber spricht demgegenüber in den angeführten Bestimmungen lediglich von „vorstellungsmäßig uns gegebenen Dingen" und Vorgängen sowie von der „Erkenntnis derjenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die für uns in ihrer individuellen Eigenart" wesentlich sind. Es ist nur allzu verständlich, daß sich auf dieser subjektivistischen Voraussetzung weder die Objektivität der naturwissenschaftlichen noch der gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis (denn was ist eigentlich das sogenannte Bedeutsame und Eigenartige des Geschichtsprozesses?!) in irgendeiner Weise begründen läßt. In bezug auf die letztere ist sich WEBER allerdings darüber im klaren, daß es zumindest das vormalige Streben insbesondere der klassischen englischen Nationalökonomie war, „das gesetzlich gleichmäßig Walten einfacher Kräfte in der Mannigfaltigkeit des Geschehens aufzudecken", weshalb selbst dem Vulgär109

Die deutsche Philosophie von 1895—1917, Berlin 1962, S. 27

110 Für W E B E R ist daher der KulturbegrifF ein reiner „Wertbegriff" und er bestimmt die „Kultur" selbst wörtlich als einen „vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens" (Wissenschaftslehre, S. 175 und 180)

12«

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okonomen ROSCHER, der hier offensichtlich etwa in einer nachhegelschen „logischen" Tradition steht, noch von WEBER vorgeworfen wird, daß er „geradezu die Erkenntnis des Gesetzmäßigen in der Masse der Erscheinungen als die Erkenntnis des Wesentlichen bezeichnet und als einzig denkbare Aufgabe aller Wissenschaft vorausgesetzt" habe. 111 WEBER stellt die in diesem Zusammenhang tatsächlich entscheidende Frage, wie das „prinzipielle Verhältnis zwischen Gesetz und Wirklichkeit im Ablauf der Geschichte" zu denken sei? und fragt weiter: „Ist es sicher, daß derjenige Teil der Wirklichkeit, den ROSCHER in sein Netz von Gesetzen einfangen will, derart in das zu bildende Begriffssystem eingehen kann, daß das letztere wirklich das für unsere Erkenntnis wesentliche der Erscheinungen enthält?" 112 Nochmals wird allein schon an der Art und Weise dieser Fragestellung sichtbar — und ROSCHER wird wiederum vorgeworfen, daß er überhaupt von „Naturgesetzen" des wirtschaftlichen Geschehens spricht —, wie WEBER letztlich die Frage nach der .Existenz objektiver Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung einschließlich ihrer adäquaten Erkenntnis und Widerspiegelung theoretisch einfach nicht begreift und selbst nicht einmal mehr als eine methodologisch relevante Fragestellung zuläßt, statt dessen aber in der bereits charakterisierten subjektividealistischen Weise nur noch von „Gesetzen" als Ausdruck des „für unsere Erkenntnis (!) Wesentlichen der Erscheinung" spricht. Wenn man weiter bedenkt, daß WEBER mit RICKERT meint, aus der Art, wie uns „psychische" bzw. geistige Tatbestände und Objekte „gegeben" sind, ließe sich „kein spezifischer, für die Art der Begriffsbildung wesentlicher Unterschied gegenüber den Naturwissenschaften begründen" 113 , so wird klar, wie gewissermaßen rückläufig letztlich auch noch die Naturwissenschaften in subjektivistischer Weise erkenntnistheoretisch-methodologisch aufgefaßt und interpretiert werden. Der Vorwurf, den WEBER in diesem Zusammenhang gegen ROSCHER erhebt, weil dieser vor allem einen „Gegensatz in der Begriffsbildung zwischen der exakten Naturwissenschaft einerseits und der Geschichte andererseits" nicht kenne und überhaupt die hier bestehenden Unterschiede „aus dem Stoffe, den sie bearbeiten, nicht (aber!) aus dem logischen Wesen der Erkenntnis, die sie erstreben", herleite 114 , besteht daher völlig zu

111 M. WEBER, Wissenschaftslehre, S. 7/8. Von ROSCHER (1817—1894), einem repräsentativen Vulgärökonomen in Deutschland, der uns in diesem Zusammenhang nicht weiter interessiert, sagt MARX, daß bei ihm die Vulgärökonomie die „Professoralform (annimmt), die historisch zu Werke geht und mit weiser Mäßigung überall das Beste zusammensucht, wobei es auf Widersprüche nicht ankommt, sondern auf Vollständigkeit... Da derartige Arbeiten zugleich erst auftreten, sobald der Kreis der politischen Ökonomie als Wissenschaft sein Ende erreicht hat, sind sie zugleich die Grabstätte dieser Wissenschaft" (zitiert nach K. MARX, Das Kapital, Bd. I, Berlin 1953, S. 1004, Register) 112

M . WEBER, Wissenschaftslehre, S.'9

113

Ebenda, S. 12, Anmerkung 1

114

Ebenda, S. 17 und 18

180

Unrecht und zeigt nochmals klar W E B E R S antimaterialistische, subjektiv-idealistische Grundposition. Ebenso ist es nicht verwunderlich, daß W E B E R R O S C H E R schließlich noch vorwirft, daß dieser alle Begriffe als „vorstellungsmäßige Abbilder der Wirklichkeit auffasse usw." 115 Es gibt bei W E B E R nirgends so klare Darlegungen dieser seiner philosophisch-erkenntnistheoretischen Grundposition wie gerade an den Stellen, wo er R O S C H E R S offensichtlich naive und vulgärmaterialistische Tendenzen kritisiert; hierbei gewinnt aber nicht der Materialismus, sondern W E B E R S Idealismus tritt nur um so klarer und konsequenter hervor. Insgesamt kann nach Analyse dieser WEBERschen Position gesagt werden, daß diese bei seinen unmittelbaren und mittelbaren Schülern (wie z. B. den Vertretern der sogenannten Frankfurter Schule) bis heute lebendigste philosophischideologische Wirklichkeit geblieben ist: Leugnung jeder objektiven Dialektik und historischen Gesetzmäßigkeit, an deren Stelle die „Konstituierung" der geschichtlichen wie natürlichen Wirklichkeit durch eine mystifizierte, subjektividealistisch aufgefaßte „Subjektivität" und „Praxis" gesetzt wird. Die eigentliche, auch für die idealistische Position von W E B E R charakteristische spekulative Verkehrung der Wirklichkeit kommt u. a. darin zum Ausdruck, daß er ernsthaft meint, daß, wenn man „exakte Erkenntnis im naturwissenschaftlichem Sinne" auch im sozialwissenschaftlichen und historischen Bereich ernsthaft praktizieren würde, dies lediglich auf eine „zunehmende Eliminierung des noch verbliebenen Individuellen und . . . damit zunehmende Entleerung der zu bildenden Allgemeinbegriffe und zunehmende Entfernung von der empirischverständlichen Wirklichkeit" usw. hinauslaufen würde. Das ergebe nach W E B E R lediglich ein „System absolut allgemeingültiger Formeln", welche in sich zwar „das Gemeinsame alles historischen Geschehens abstrakt darstellen" würde, aber die „historische Wirklichkeit . . . würde selbstverständlich aus diesen Formeln 115 Ebenda, S. 19. Wie gesagt interessiert uns hier nicht weiter ROSCHERS philosophischerkenntnistheoretische Position, inwieweit sie kritikwürdig ist, sondern die in WEBERS Kritik an ROSCHER mehr als sonstwo deutlich hervortretende idealistische Grundposition WEBERS selbst. „ M A R X und ENGELS haben stets den schlechten (und hauptsächlich den undialektischen) Materialismus verurteilt, aber sie verurteilen ihn vom Standpunkt des höheren, entwickelten, dialektischen Materialismus und nicht vom Standpunkt des Humeismus oder Bereleyanismus." (W. I. LENIN, Werke, Bd. 14, Berlin 1962, S. 237.) Genau letzteres ist jedoch bei WEBER der Fall. ROSCHER hat hinsichtlich seiner philosophie-erkenntnistheoretischen Grundposition sicher vieles mit seinem vulgäntiaterialistischen Zeitgenossen EUGEN DÜHRING gemeinsam. Letzterer wurde aber von ENGELS nach LENIN nicht etwa deshalb kritisiert, weil er teilweise mit dem „ABC des Materialismus", d. h. mit dem „Materialismus überhaupt" übereinstimmte; ganz im Gegenteil! ENGELS „verspottete jede Schwülstigkeit, aber in der Anerkennung der objektiven Gesetzmäßigkeit der Natur, die sich im Bewußtsein widerspiegelt, stimmt ENGELS mit DÜHRING wie mit jedem Materialisten vollständig überein" (ebenda, S. 240). LENIN spricht daher ausdrücklich von „zweierlei Kritik an D Ü H R I N G " und eben dieser Sachverhalt scheint uns auch bei M A X WEBERS angedeuteter Kritik an ROSCHER, als einer Kritik von rechts und am philosophischen Materialismus überhaupt, vorzuliegen, in deren Verlauf, wie sich zeigte, WEBERS eigene subjektiv-idealistische philosophische Grundposition stets besonders klar hervortritt.

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niemals reduziert werden können" 116 . Hierbei setzt WEBER aber erstens in logischerkenntnistheoretischer Hinsicht einfach voraus, daß die Gesetzeserkenntnis, von ihm aufgefaßt als Bildung von Relationsbegriffen genereller Geltung, grundsätzlich identisch sei „mit Entleerung des Begriffsinhalts durch Abstraktion" — eine Auffassung, die besonders von JOHN LOCKE in seiner „Untersuchung über den menschlichen Verstand" vertreten wurde; und daß es umgekehrt zweitens bei einer adäquaten wissenschaftlichen Erforschung und Widerspiegelung von objektiven Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit (und es ist in diesem Zusammenhang gleichgültig, ob der Natur- oder Gesellschaftswirklichkeit) überhaupt so etwas gäbe wie eine „.Deduktion' des Inhalts der Wirklichkeit aus Allgemeinbegriffen" (als den Repräsentanten von Gesetzesaussagen), deren eigentlicher Gegenstand, Sinn und Zweck dann aber trotzdem ganz und gar unerfindlich bleiben. Denn erfolgt erst einmal eine Abbildung der Wirklichkeit in entsprechenden Gesetzesaussagen, Theorien, Modellen usw. und dadurch vermittelt natürlich auch in dazu gebildeten und benutzten allgemeinen Begriffen (deren Abstrakthöhe oder Allgemeinheitsgrad hier wiederum noch ganz gleichgültig ist), dann kann es sich bei dem einmal erarbeiteten gedanklichen Aussagen- und Begriffssystem über die Wirklichkeit zumindest in logisch-methodologischer Hinsicht doch nur noch um eine entsprechende theoretische bzw. auch sprachliche Aufbereitung und Darstellung, vor allem natürlich dann aber praktische Überprüfung derselben handeln. MARX unterscheidet aus diesem Grunde im „Kapital" im Zusammenhang mit seiner kurzen Erklärung der von ihm in der Politischen Ökonomie zur Analyse der bürgerlichen Gesellschaftsordnung generell angewandten dialektischen Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten, die WEBER offensichtlich weder bei HEGEL noch in ihrer materialistischen Umstülpung bei MARX als durchgehendes philosophisch-methodologisches Prinzip der Erkenntnis und Darstellung speziell der gesellschaftlichen Wirklichkeit begriffen hat 117 , ausdrücklich und „formell" zwischen sogenannter Darstellungsweise und Forschungsweise: „Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun." 11 »

In seiner Einleitung zu den „Grundrissen der Kritik der politischen ökono116 M. WEBER: Wissenschaftslehre, S. 13 117 WEBERS Vorwurf :• „Eine eingehende Auseinandersetzung mit derjenigen Form der Hegelschen Dialektik, welche das „Kapital" von M A R X repräsentiert, hat ROSCHER nie unternommen", (ebenda, S. 17, Anmerkung 6) hätte WEBER daher vor allem zunächst einmal auf sich selbst beziehen müssen! 118 MEW, Bd. 23, S. 27.

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mie" von 1857/^8 gibt MARX, weitere wichtige Hinweise zur „Methode der politischen Ökonomie". So verweist er u. a. darauf, wie das Denken einerseits, ausgehend von der konkreten Wirklichkeit und noch ganz „chaotischen Vorstellung des Ganzen . . . immer mehr auf einfachere Begriffe kommt; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta", und andererseits (also im Verlauf der weiteren theoretischen Verarbeitung, Zusammenfassung und Darstellung des Stoffes über die konkrete Wirklichkeit selbst) schließlich zu „einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen" gelangt, wodurch „die konkrete Totalität als Gedankentotalität, als ein Gedankenkonkretum" erscheint, wie M A R X wörtlich schreibt, das aber in Wirklichkeit lediglich „ein Produkt des Denkens, des Begreifens ist; keineswegs aber des außer oder über der Anschauung und Vorstellung denkenden und sich selbst gebärenden Begriffs, sondern der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe" 119 . Zusammenfassend erläutert M A R X schließlich seine wissenschaftliche Methode wie folgt: „Das Konkrete, ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen, Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist. Im ersten Weg wurde die volle Vorstellung zu abstrakter Bestimmung verflüchtigt; im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens. HEGEL geriet daher auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden, und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu'fassen, während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst." 120 Sowohl die MARXsche Bemerkung zu HEGEL als die oben zitierte zum Apriorismus erscheinen so unmittelbar anwendbar auf WEBER, erläuterte speku119 K. MARX, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 21 und 22 120 Ebenda, S. 21 /22. MARX spricht in Zusammenhang mit dieser Darstellung seiner dialektischen Methode übrigens noch von einer besonderen Spezifik der Aneignungsweise der Wirklichkeit (also hier eindeutig der sozialen/gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die politische Ökonomie) durch den denkenden menschlichen Kopf, „der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von der künstlerischen, religiösen, praktischgeistigen Aneignung dieser Welt" (ebenda, S. 22). Hier wird offensichtlich von MARX auf eine weitere Spezifik der sozialen Erkenntnis bzw. auch ideologischen Widerspiegelung der Wirklichkeit aufmerksam gemacht, worauf aber in diesem Zusammenhang nicht weiter eingegangen werden kann. Diese betrifft u. a. die Tatsache, daß die soziale Wirklichkeit (wie natürlich wiederum auch die Natur) auch in einer nichtwissenschaftlichen, außerwissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen Form (hier ist keine Rede von unwissenschaftlich!) widergespiegelt oder kurz „praktisch-geistig" angeeignet werden kann. Hierzu gehört auch der bisher wenig untersuchte Problemkreis der „Alltagserfahrung".

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lativ-idealistische Auffassung zur Gesetzeserkenntnis der sozial-historischen Wirklichkeit. Dieser Sachverhalt kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß M A R X seine wichtigen Hinweise zur Methodologie der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung unmittelbar aus dem besonderen Erkenntnisgegenstand „Kritik der politischen Ökonomie", herleitet und selbst die Spezifik der „Analyse ökonomischer Formen" mittels der menschlichen Abstraktionskraft, die hierbei das absolut nicht anwendbare Mikroskop oder chemische Reagentia ersetzen muß 121 , nicht unerwähnt läßt, während W E B E R zum größten Teil letztlich an völlig abstrakten methodologischen Erwägungen ohne jeglichen Wirklichkeitsbezug hängenbleibt. Natürlich wäre dagegen zunächst nichts einzuwenden, wenn bei derartigen abstrakten Überlegungen, insbesondere wenn sie die tatsächliche Spezifik des sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses betreffen sollen, nun aber auch von einem wirklich existierenden konkreten Erkenntnisgegenstand, der in diesem Fall wesentlich mit dem sozialen Lebensprozeß und der gesellschaftlichen Entwicklung selbst zusammenfällt, ausgegangen und nicht nur in einer idealistisch-verselbständigten Weise vom „logischen Wesen der Erkenntnis" oder einem bloßen „Gegensatz in der Begriffsbildung" gesprochen werden würde. Insgesamt zeigt sich aber, daß auch abstrakteste methodologische Überlegungen stets auf der Basis einer bestimmten philosophisch-erkenntnistheoretischen Grundposition diskutiert und erarbeitet werden. Auch wenn sie sich selbst z. B. als logische Methoden scheinbar nicht unmittelbar als philosophisch (im Sinne der Grundfrage der Philosophie) begründet und ideologisch relevant (d. h. -auf konkrete Klasseninteressen bezogen) erweisen, so „schützt" sie das andererseits, wie das WEBERsche Beispiel deutlich zeigt, zumindest nicht vor einer entsprechenden philosophisch-ideologischen Inanspruchnahme und Interpretation im Rahmen des Gesamtsystems der bürgerlichen Ideologie. Ebensowenig ging es, worauf anfangs bereits verwiesen wurde, beim gesamten konzeptionell wesentlich von W E B E R ausgetragenen Streit um die Wertfreiheit bzw. Objektivität sozialwissenschaftlicher (speziell nationalökonomischer) Aussagen natürlich keineswegs nur um bloß abstrakte logische oder methodologische Prinzipien. 122 In bezug auf das soziale und gesellschaftswissenschaftliche Erkennen erbrachten, wie in mehreren Schritten gezeigt werden konnte, vor allem die MARXsche materialistische Geschichtsauffassung und die dialektische Methode eine wahre Revolutionierung der philosophisch-erkenntnistheoretischen wie auch methodologischen Grundlagen dieses Erkennens. Es ist daher keineswegs verwunderlich — wovon in diesem Abschnitt ausgegangen wurde —, daß W E B E R 121 MEW, Bd. 23, S. 12 122 Allerdings kann man hierin nun wohl doch nicht einfach einen „Trick" sehen, „wie mit scheinbar fernab von jeder politischen Überlegung stehenden höchst differenzierten erkenntnistheoretischen und logischen Argumenten politische Differenzen ausgetragen wurden" (Wissenschaftstheorie und gesellschaftliche Praxis, Theorie und'Kritik 3. Giessen 1972, S. 19)

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im Verlauf seiner umfassenden und für die bürgerliche Ideologie bis heute richtungsweisenden Rezeption der MARXschen Geschichtsauffassung diese sowohl von ihren eigentlichen philosophisch-meterialistischen Voraussetzungen lostrennt als auch natürlich von weittragenden politisch-ideologischen Zielstellungen (die aber im entscheidenden Maße von M A R X gerade erstmalig allein unter diesen Voraussetzungen wissenschaftlich erklärt und begründet werden konnten) und sie statt dessen nur noch als eine mehr oder weniger methodologisch interessante Fragestellung auffaßt und anzuwenden versucht. Wie damit natürlich nicht nur diese Geschichtsauffassung selbst theoretisch verkürzt und überwunden werden soll, sondern vor allem in sogenannter ideologiekritischer Manier gegen die sozialistische Ideologie und Gesellschaftswirklichkeit als Ganzes ausgerichtet werden soll, dafür wurden oben bereits verschiedene Beispiele angeführt, für die W E B E R gleichfalls bis heute orientierend wirkt. Aus allen diesen Gründen ist es nun hinreichend erklärlich, warum W E B E R in einem solch starken Maße das Problem der absoluten Wert- oder Ideologiefreiheit speziell der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis zu diskutieren sucht. W E B E R zielt als bürgerlicher Ideologe damit genau auf denjenigen Erkenntnisbereich, auf dem der Marxismus nachweislich jene wirkliche Revolutionierung des philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Denkens herbeizuführen vermochte. Seine Fragestellungen betreffen daher auch immer wiederkehrend sowohl die philosophisch-erkenntnistheoretischen Voraussetzungen (d. h. in bezug auf den philosophischen Materialismus speziell das Widerspiegelungsprinzip) als auch die ideologisch-politischen Implikationen (also in bezug auf den wissenschaftlichen Sozialismus vor allem den Sturz der bürgerlichen Ordnung) der Marxschen Lehre. Alles dies läuft nun, wesentlich von W E B E R konzeptionell ausgehend und ausgerichtet und bis in die gegenwärtige bürgerliche Soziologie nachwirkend, unter dem Gesichtspunkt der sogenannten Wert- oder Ideologiefreiheit der Wissenschaften zusammen, wobei es natürlich — und dies auch in der WEBERschen Tradition — vor allem um das soziale bzw. sozialwissenschaftliche Erkennen geht. Bei diesem ist nun aber gerade, wie in den vorangegangenen Abschnitten mehrfach betont wurde, die unmittelbare Ideologiehaftigkeit und Klassenbezogenheit des Erkennens eine handfeste und historische Tatsache, von der nicht einfach akademisch oder logisch-abstrakt abgesehen werden kann. Auch W E B E R vermag natürlich über diese Tatsache nicht wirklich hinwegzukommen; die versuchte „Entideologisierung" des sozialwissenschaftlichen Erkennens ist also nur der Ausdruck der tatsächlich bestehenden und praktisch erfahrenen Ideologiegebundenheit dieses Erkennens. Zur Erhellung des tatsächlichen ideologischen Hintergrundes dieser besonderen spätbürgerlichen Spezialisierung auf die sozialwissenschaftliche Problematik sei zunächst nochmals ein charakteristisches Beispiel aus W E B E R S Auseinandersetzung1 mit R O S C H E R angeführt. Letzterer hatte — und es geht hier nicht um die vulgarisierte HEGELsche Scholastik seiner spekulativen Geschichtskonstruktion 185

— je nachdem, ob einer der für ihn relevanten und vorausgesetzten „Faktoren" jedes Wirtschaftslebens vorherrscht: „Natur", „Kapital" oder „Arbeit", drei entsprechende Wirtschaftsstufen und Geschichtsperioden angenommen und unterschieden. W E B E R argumentiert hier nun aber seinerseits weitergehend und scheinbar ganz unvermittelt plötzlich ebensosehr gegen den Marxismus, wenn er schreibt: „Unserer heutigen am Marxismus orientierten Betrachtungsweise würde es nun ganz selbstverständlich sein, die Lebensentwicklung des Volkes als durch diese typischen Wirtschaftsstufen bedingt anzusehen und die Tödlichkeit der Kulturentwicklung für die Völker etwa als Folge gewisser mit der Herrschaft des .Kapitals' unvermeidlich verknüpfter Folgen für das staatliche und persönliche Leben aufzuzeigen." 123 Ohne Frage trifft W E B E R hier einen Kern der Sache, denn die marxistische Entwicklungsauffassung begründet nicht nur theoretisch, sondern fordert ebenso ideologisch und politisch-praktisch unmißverständlich den notwendigen Untergang der bürgerlichen Ordnung durch den revolutionären Sturz der Herrschaft des Kapitals. Doch was bei R O S C H E R in einer vulgären, biologisch-naturalistischen Entwicklungskonstruktion in Erscheinung tritt, ist, was Weber entweder als bürgerlicher Ideologe objektiv nicht sehen kann oder als bewußter Antisozialist subjektiv nicht sehen will, in keiner Weise mit der dialektisch-materialistisch fundierten und konkret-historisch vorgehenden marxistischen Gesellschaftstheorie und Entwicklungslehre gleichsetzbar. Für W E B E R geht es aber bereits bei jeder entwicklungsgeschichtlichen Deutung (hier fallen der frühbürgerliche H E G E L und das marxistische Denken ähnlich wie heute bei P O P P E R zwangsläufig unter den gleichen „ideologischen Hammer") um „metaphysische Deutungen", die grundsätzlich keiner „exakten kausalen Erklärung zugänglich" sind, kurz — mit Du B O I S - R E Y M O N D gesprochen — um „Welträtsel", wie W E B E R wörtlich erklärt. 124 Die logisch-methodologische Analyse der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis habe sich aber nach W E B E R derartigen voraussetzenden „Bewertungen" bzw. „Ideologisierungen" grundsätzlich zu enthalten, und es ist daher ganz folgerichtig, daß W E B E R seine Analysen zur Spezifik des sozialwissenschaftlichen Erkennens — ganz krampfhaft bemüht — zumindest scheinbar auf einer „wertfreien", rein logisch-methodologische Ebene zu halten versucht. Wie sich aber zeigte, ist das weder bei W E B E R wirklich der Fall, noch läßt sich das aus den schon mehrfach betonten Gründen der besonderen Spezifik gerade des sozialwissenschaftlichen Erkennens überhaupt konsequent durchführen. 4.2. „ Werturteilsfreiheit",

Objektivismus, Materialismus und Parteilichkeit

In ausdrücklicher Weise nimmt W E B E R nun zum Problem der „Objektivität" bzw. „Wertfreiheit" der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis in zwei engsten 123

M . WEBER, W i s s e n s c h a f t s l e h r e . . . S . ' 2 5

124 Ebenda, S. 26

186

miteinander zusammenhängenden Aufsätzen aus den Jahren 1904 und 1917/18 Stellung. Der erste zum Problem der „Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" erschien gewissermaßen als Grundsatzartikel der neuen Herausgeber (E. JAFFE, W. SOMBERT und M. WEBER) des bekannten „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik". WEBER nennt als wichtigste methodologische Ergebnisse der „modernen Logik" wiederum die Arbeiten von WINDELBAND, SIMMEL und vor allem RICKERT, an die er unmittelbar anknüpft. Im übrigen stimmten nach WEBER die neuen Herausgeber des Archivs insbesondere hinsichtlich der Forderung nach einer „strengen Scheidung von Erfahrungswissen und Werturteil" überein. 125 Die zentrale Frage, die WEBER — das muß man ihm zugestehen — wie kein anderer bürgerlicher Soziologe vielleicht seit KANT jemals so unmißverständlich und direkt gestellt hat, lautet: „In welchem Sinne gibt es überhaupt ,objektiv gültige Wahrheiten' auf dem Boden der Wissenschaften vom Kulturleben?" — eine Frage, wie WEBER weiter schreibt, „die angesichts des steten Wandels und erbitterten Kampfes um die scheinbar elementarsten Probleme unserer Disziplin (gemeint sind die Sozialwissenschaften), die Methode ihrer Arbeit, die Art der Bildung ihrer Begriffe und deren Geltung, nicht umgegangen werden kann" 126 . WEBER meint nun, und auch dem ist sicher noch ganz uneingeschränkt zuzustimmen, daß „jede Wissenschaft, deren Objekt menschliche Kulturinstitutionen und Kulturvorgänge sind, geschichtlich zuerst von praktischen Gesichtspunkten ausging. Werturteile über bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen des Staates zu produzieren war ihr nächster und zunächst einziger Zweck." Gerade darin kommt bis heute tatsächlich der unveräußerliche Klassen- und Ideologiecharakter dieser Wissenschaften klar zum Ausdruck. Diese Stellung und Funktion der „Kulturwissenschaften" bzw. Soziologie habe sich jedoch nach WEBER allmählich verändert, „ohne daß eine prinzipielle Scheidung von Erkenntnis des ,Seienden' und des ,Seinsollenden' vollzogen wurde" 127 . WEBER erklärt diese Sachlage einer zunächst ganz natürlich gegebenen Einheit von Erkenntnis und Wertung in den Sozialwissenschaften und einer dann plötzlich unumgänglichen prinzipiellen Scheidung zwischen, ihnen natürlich wiederum nicht konkrethistorisch. Ihm würde dann gewiß auffallen, daß z. B. die gesamte frühbürgerliche Aufklärung (!), ähnlich wie bis heute der Marxismus-Leninismus als Ideologie der Arbeiterklasse, diese Einheit von Erkenntnis und Wertung vollständig repräsentierte bzw. repräsentiert und von diesen niemals (auch nicht methodologisch!) irgendwie in Frage gestellt wurde; diese Einheit aber nicht zufallig mit der beginnenden objektiven Perspektivlosigkeit der bürgerlich-imperialistischen Epoche (dieses Krisenbewußtsein setzt massiv in Deutschland vor allem mit 125

Ebenda, S. 146

126 Ebenda, S. 147/48 127

Ebenda, S. 148

187

NIETZSCHE unmittelbar nach den Ereignissen der Pariser Kommune von 1871 ein) plötzlich in Gestalt einer „Krise der Werte" bzw. „Umwertung aller Werte" zunächst ideologisch-praktisch gesprengt wurde und schließlich als ein scheinbar rein theoretisch-methodologisches Problem bei WEBER selbst wieder in Erscheinung tritt. WEBER polemisiert daher mit größter Deutlichkeit und Schärfe gegen die nach seiner Auffassnne immer noch nicht geschwundene „unklare Ansicht", „daß die Nationalökonomie aas einer spezifisch wirtschaftlichen Weltanschauung' heraus produziere und zu produzieren habe". Diese Ansicht müsse er als Vertreter einer empirischen Fachdisziplin (also der Nationalökonomie bzw. Soziologie) grundsätzlich ablehnen, da es „niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können" 128 . Daß WEBER damit sehr augenscheinlich der gesamten wissenschaftlichen Praxis — einschließlich und besonders natürlich der naturwissenschaftlichen empirischen Forschung, die mit ihren Theorien und Gesetzesaussagen sehr wohl verbindliche Normen für das praktisch-erfolgreiche Verändern von Naturgegebenheiten erarbeitet — total widerspricht, sei hier nur nebenbei vermerkt. In bezug auf das sozialwissenschaftliche Erkennen verfolgt WEBER jedoch mit einer solch widersinnigen Behauptung, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird, ganz andere als rein methodologische, d. h. vor allem wiederum unverkennbare ideologierelevante und höchst parteiliche Zielstellungen.

Unbestreitbar ist, und dazu haben sich MARX, ENGELS und LENIN stets sehr klar und deutlich geäußert, daß auch die marxistisch-leninistische Theorie auf keinen unbegründbaren abstrakten Idealen oder absoluten Werten beruht. Die von ihnen vollzogene „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" beruht ja bekanntlich ganz wesentlich gerade auf der Überwindung derartiger spekulativer Voraussetzungen sowie illusionärer utopischer Vorstellungen über die gesellschaftliche Entwicklung und geschichtliche Zukunft. Aus diesem Grunde schrieben MARX und ENGELS bereits 1 8 4 5 in ihrer umfassenden Auseinandersetzung mit der „deutschen Ideologie" jener Jahre, wozu sie auch die spezifische deutsche Ausgabe und Variante des utopischen Sozialismus, den sogenannten wahren Sozialismus, rechneten: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung." 129 Ebenso zitiert LENIN 1 8 9 4 / 9 5 , 128 Ebenda, S. 149. M a n bedenke angesichts dieser Position, daß ausgerechnet von „Sozialwiäsenschaft und Sozialpolitik"(!) die Rede ist, die WEBER damit theoretisch-methodologisch (und natürlich ganz „wertfrei"!) orientieren will! 129 M E W , Bd. 3, S. 35. Entsprechend heißt es auch im „Manifest der Kommunistischen Partei", d a ß „die theoretischen Sätze der Kommunisten keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien beruhen, die von diesem oder jenen Weltverbesserer erfunden oder entdeckt" worden sind,

188

gleichfalls in Auseinandersetzung mit der verspäteten russischen Variante des utopischen Sozialismus, der Volkstümlerideologie, zustimmend einen Ausspruch von SOMBERT, wonach es „,im ganzen Marxismus von vorn bis hinten auch nicht ein Gran Ethik' gäbe". In theoretischer Beziehung ordne dieser — so charakterisiert L E N I N den Marxismus weiter — den „.ethischen Standpunkt' dem ,Prinzip der Kausalität' unter; in praktischer Beziehung laufe es bei ihm auf den Klassenkampfhinaus". 130 Es wird also deutlich, daß der wissenschaftliche Sozialismus/Kommunismus unvereinbar ist mit jeglicher Grundlegung durch irgendwelche absoluten/abstrakten ethisch-moralischen Prinzipien und Werten wie z. B. die der allgemeinen Gerechtigkeit oder Willensfreiheit.131 Es ist daher keineswegs verwunderlich, daß L E N I N schon 1 0 Jahre früher als M A X W E B E R betonte: „Natürlich konnten diese Ideen (konkret hier die der Willensfreiheit, Rh), auf die Soziologie angewandt, nichts weiter als eine Utopie oder eine leere Moral ergeben, die den Kampf der Klassen in der Gesellschaft ignoriert." 132 Nebenbei sei allerdings vermerkt, daß dies alles zusammengenommen keineswegs, wie gelegentlich aus diesen LENiNschen Bemerkungen geschlußfolgert wird, bedeutet, daß der Marxismus/Leninismus als wissenschaftliche Ideologie und Weltanschauung der Arbeiterklasse, also als ein theoretisches Aussagensystem, angeblich keine Moral bzw. genauer gesagt keine moralischen Werturteile und Normgebungen mehr enthalte. Ohne Frage wären sein Weltanschauungscharakter, seine Parteilichkeit wie umfassende ideologische Funktion und Wirksamkeit in der Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus wie beim sozialistischen Aufbau ohne derartige allerdings stets konkret-historisch bestimmte Werturteile und Normgebungen absolut unerklärlich. Aber dieser „ethische Standpunkt" ist eben nach L E N I N theoretisch dem „Prinzip der Kausalität" untergeordnet, d. h. die moralischen Prinzipien, Normen- und Werturteile werden nicht nur konkrethistorisch aus dem sie determinierenden sozialem Sein der Menschen, den Klassenkampfverhältnissen usw. erklärt, sondern sie finden im Gesamtsystem des Marxismus-Leninismus als unmittelbarem Ausdruck des proletarischen Klasseninteresses ihre adäquate wissenschaftliche Begründung, um denn in Gestalt konkreter ideologisch-politischer Entscheidungsvorgaben und sozialpolitischer Handlungsanweisungen im Klassenkampf zu wirken. Und in diesem und sie stellen auch „keine besondern (sektiererischen) Prinzipien auf, wonach sie die politische Bewegung modeln wollen." Ihre theoretischen Sätze „sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung". ( M E W , Bd. 4, S. 475 und 474) 130

W . I. LENIN. W e r k e , B d . 1, S. 4 3 6

131 Und diese Unvereinbarkeit und Abgrenzung erstreckt sich ebenso auf den überwundenen oft nur „moralisierenden" utopischen Sozialismus als auch auf den vom Neukantianismus und Revisionismus kreierten sogenannten „ethischen Sozialismus". 132

W. I. LENIN, Werke, Bd. 1, ebenda

Ii Redlow Stiehler

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Kampf, dies wurde von der revolutionären Arbeiterbewegung nie verschwiegen und geleugnet, geht es angesichts der Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Klassen und der sich unversöhnlich gegenüberstehenden Ideologien dieser Klassen tatsächlich um nichts anderes als um die Durchsetzung ganz realer gesellschaftlicher Klasseninteressen. Denn „nur ein Romantiker kann glauben, gegen Interessen könne man mit Syllogismen kämpfen" 133 . Hinsichtlich des zweimaligen Hinweises von LENIN auf den Klassenkampf gibt es noch eine weitere überraschende „Übereinstimmung" mit MAX WEBER. WEBERS gründliche Kritik am Sozialismus, von der schon die Rede war, wie seine strikte Ablehnung jeglicher Werturteile in den Sozialwissenschaften zielen, wie sich zeigte, auf eine ganz offensichtliche Entideologisierung dieses Wissenschaftsbereiches ab, d. h. eigentlich damit auf seine Isolierung vom bestimmenden Bezug zur sozialen Wirklichkeit und die sie beherrschenden antagonistischen Klasseninteressen. Doch während der klassische vormarxistische utopische Sozialismus die soziale Realität des Klassenkampfes angesichts der noch unterentwickelten bürgerlichen Produktionsweise noch nicht einmal ahnen konnte und statt dessen noch ganz in der illusionären Tradition der frühbürgerlichen Aufklärung ideologisch verhaftet blieb, also lediglich auf die Einsicht oder das Mitleid der herrschenden bürgerlichen Klasse für die leidende arbeitende proletarische Klasse hoffte, begreift WEBER angesichts der bereits jahrzehntelangen Realität des ökonomischen und schließlich immer stärker politischen und weltanschaulichen Charakter annehmenden Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat sehr genau, daß es für die bürgerliche Ideologie selbst immer unumgänglicher wird, die „Objektivität" und „Wertfreiheit" (also Ideologiefreiheit) der Sozialwissenschaften zu betonen und darüber hinaus gezielt die Abhebung dieser Wissenschaften von den konkreten Klasseninteressen wenigstens abstrakt-theoretisch bzw. logisch-methodologisch umfassend zu proklamieren. Gegen diesen besonders sozialwissenschaftlich ausgerichteten Objektivismus war LENIN ebenfalls bereits 1 8 9 4 in seiner Kritik des „ökonomischen Inhalts der Volkstümlerrichtung" grundsätzlich aufgetreten, wobei er speziell STRUVE einen Objektivismus nachweist, „der den Prozeß lediglich allgemein charakterisiert, nicht aber die antagonistischen Klassen im einzelnen, aus deren Kampf sich der Prozeß zusammensetzt", konkret untersucht. 134 Demgegenüber „schließt — nach LENIN — der Materialismus sozusagen die Parteilichkeit in sich ein, da er dazu verpflichtet ist, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe einzunehmen" 135 . Zusammenfassend 133

Ebenda, S. 361

134

Ebenda, S. 520

135 Ebenda, S. 414. Und LENIN meint damit, wie es in einer kleinen Anmerkung an gleicher Stelle weiter heißt, d a ß die vollständige Durchführung des Materialismus wie das konsequente Vertreten der Theorie des Klassenkampfes eine für den dialektisch-historischen Materialismus unveräußerliche Einheit bilden.

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vermerkt L E N I N schließlich an gleicher Stelle zu dieser natürlich besonders für das sozialwissenschaftliche und ideologische Erkennen relevanten Unterscheidung zwischen „bürgerlichem Objektivismus" und „Materialismus": „Der Objektivist spricht von der Notwendigkeit des gegebenen historischen Prozesses; der Materialist trifft genaue Feststellungen über die gegebene sozialökonomische Formation und die von ihr erzeugten antagonistischen Verhältnisse. Wenn der Objektivist die Notwendigkeit einer gegebenen Reihe von Tatsachen nachweist, so läuft er stets Gefahr, auf den Standpunkt eines Apologeten dieser Tatsachen zu geraten: der Materialist enthüllt die Klassengegensätze und legt damit seinen Standpunkt fest. Der Objektivist spricht von .unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen'; der Materialist spricht von der Klasse, die die gegebene Wirtschaftsordnung .dirigiert' und dabei in diesen oder jenen Formen Gegenwirkungen der anderen Klassen hervorruft. Auf diese Weise ist der Materialist einerseits folgerichtiger als der Objektivist und führt seinen Objektivismus gründlicher, vollständiger durch. Er begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Prozesses, sondern klärt, welche sozialökonomische Formation diesem Prozeß seinen Inhalt gibt, welche Klasse diese Notwendigkeit festlegt." 1 3 6 Es erwies sich als notwendig, diese wichtigen LENiNschen Ausführungen in ihrer ganzen Länge zu zitieren, um deutlich werden zu lassen, wie die objektive und erstmalig wissenschaftliche Analyse „des ökonomischen Bewegungsgesetzes der modernen Gesellschaft" (MARX), des Grundwiderspruchs unserer gegenwärtigen Epoche, durch den Marxismus/Leninismus keineswegs die Parteilichkeit und den proletarischen Klassenstandpunkt ausschließt, sondern vielmehr gerade umgekehrt diese unabdingbar einschließt und direkt voraussetzt. 4.3. Einheit von Erkenntnis und Wertung im sozialen Erkenntnisprozeß oder idealtypische Konstruktion der sozialen Wirklichkeit Die Genesis der marxistisch-leninistischen Theorie selbst erbrachte und erbringt als wissenschaftliche Ideologie und Weltanschauung der Arbeiterklasse ständig den unwiderlegbaren Beweis für die damit durchaus nicht wissenschaftswidrige oder logisch-methodologisch nicht begründbare Einheit von Erkenntnis und Wertung. Für die heute besonders vom Positivismus ausgehenden Richtungen der 136 Ebenda, S. 414. In einer weiteren Anmerkung (ebenda, S. 441) betont LENIN, daß auch MARX auf dieses Verhältnis zwischen Objektivismus und Materialismus im Vorwort zu seinem „18. Brumaire" hingewiesen habe. MARX verdeutlicht seinen Standpunkt im Gegensatz zu dem PROUDHONS, der zum gleichen historischen Ereignis geschrieben hatte, wie folgt: „PROUDHON seinerseits sucht den Staatsstreich (vom 2. Dezember) als Resultat einer vorhergegangenen geschichtlichen Entwicklung darzustellen. Unter der Hand verwandelt sich ihm jedoch die geschichtliche Konstruktion des Staatsstreichs in eine geschichtliche Apologie des Staatsstreichhelden. Er verfällt so in den Fehler unserer sogenannten objektiven Geschichtsschreiber. Ich weise dagegen nach, wie der Klassenkampf in Frankreich Umstände und Verhältnisse schuf, welche einer mittelmäßigen und grotesken Personage das Spiel der Heldenrolle ermöglichten" (s. MARX/ENGELS-Werke, Bd. 8)

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spätbürgerlichen Soziologie (Wissenssoziologie und Ideologiekritik) wurde der WEBERsche Gesichtspunkt der absoluten Werturteilsfreiheit des sozialwissenschaftlichen Erkennens bzw. ideologischen Bewußtseins gewissermaßen zum methodologischen Grundprinzip aller Angriffe gegen den Marxismus/Leninismus überhaupt. Dennoch habe sich, so muß HANS ALBERT 60 Jahre nach MAX WEBER öffentlich zugestehen, „das Wertfreiheitsprinzip in den Sozialwissenschaften faktisch bisher noch nicht durchgesetzt. Besonders im deutschen Sprachgebiet werden immer wieder Argumente dagegen vorgebracht, die zeigen sollen, d a ß eine wertfreie Sozialwissenschaft unmöglich, nicht notwendig oder zumindest nicht wünschenswert ist, vor allem, d a ß sie Einschränkungen unterworfen ist, die man nicht ohne weiteres hinnehmen kann, so daß eine Ergänzung durch Werturteile dringend erforderlich zu sein scheint." 1 3 7 Für ALBERT als den neben POPPER (seinem geistigen Vater) führenden Repräsentanten des sogenannten kritischen Rationalismus beruht die „Leistungsfähigkeit des wissenschaftlichen Denkens gerade auf dieser kritischen Distanz" von jeglichen Werturteilen, der auf diese Weise besonders durch das Prinzip der Werturteilsfreiheit entsprochen werden sollte. ALBERT wird noch deutlicher, wenn er schließlich wörtlich erklärt, daß sich, ideologiekritisch gesehen, gerade „das Werturteil in den Sozialwissenschaften als ein Einfallstor des dogmatischen Denkens erwiesen (habe), vornehmlich da, wo man sich seiner Bedeutung in seiner Funktion am wenigsten bewußt war, nämlich im Falle der impliziten, versteckten und erschlichenen Wertung" 1 3 8 . Vom Marxismus/Leninismus, auf den diese absolut unbewiesene Behauptung bei allen PoppER-Anhängern stets in allererster Linie bezogen wird, kann aber gerade dies nicht behauptet werden, weil für ihn die adäquate wissenschaftliche Erkenntnis eines gegebenen gesellschaftlichen Tatbestandes stets auch seine offen erklärte Bewertung durch das proletarische Klasseninteresse, also im Hinblick auf die Veränderung bzw. Erhaltung dieses Tatbestandes, mit einschließt. Ganz im Gegenteil erhöhte gerade diese unveräußerliche Einheit von Erkenntnis und Wertung, Materialismus und Parteilichkeit, Theorie und Praxis usw. die allerdings stets sehr klare und arrangierte kritisch-revolutionäre „Distanz" der proletarischen Ideologie und Klasse der bürgerlichen Gesellschaftsordnung g e g e n ü b e r . F ü r POPPER, ALBERT u n d TOPITSCH ist e b e n s o w i e b e r e i t s f ü r M A X

WEBER und übrigens auch für den gesamten Neothomismus (eben das charakterisiert die spätbürgerliche Ideologie in ihrer Gesamtheit sowie gemeinsamen ideologischen Gegnerschaft zum Marxismus!) demgegenüber diese „praktischgeistige", die Massen ergreifende Wirksamkeit der sozialistisch-kommunistischen Ideologie, des Marxismus-Leninismus wie dessen Ideengehalts, lediglich ein Aus137 H. ALBERT, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, in: Logik der Sozialforschung, Köln und Berlin/West, 1966, S. 181 138 192

Ebenda, S. 182

druck von Dogmatismus, ideologischer Systemmacherei, Glaubenswahn, Prophetie, falschem Bewußtsein usw. Andererseits kann W E B E R natürlich die gesellschaftlichen Ideen, Weltanschauungen und Ideologien in ihrer tiefgreifenden sozialen Funktion zur Orientierung und Steuerung des menschlichen Denkens und Verhaltens nicht in Frage stellen.139 Doch für ihn handelt es sich hierbei weder um die Wirkungsweise einer wissenschaftlichen Weltanschauung oder Ideologie noch um einen überhaupt in irgendeiner Weise wissenschaftlich erklärbaren sozialen Erkenntnisprozeß. Das Problem der sozialen Erkenntnis bzw. des ideologischen Bewußtseins reduziert sich für W E B E R vielmehr auf eine rein individuelle und persönliche Entscheidung des einzelnen „wollenden" Menschen, denn „er wägt und wählt nach seinem eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die es sich handelt" 140 . Scheinbar ganz in der bekannten Tradition der frühbürgerlichen ideologiekritischen Tradition stehend, befürchtet W E B E R lediglich, „daß die persönlichen Weltanschauungen auf dem Gebiet unserer Wissenschaften (also der Sozialwissenschaften) unausgesetzt hineinzuspielen pflegen auch in die wissenschaftliche Argumentation, sie immer wieder trüben, das Gewicht wissenschaftlicher Argumente auch auf dem Gebiet der Ermittlung einfacher kausaler Zusammenhänge von Tatsachen verschieden einschätzen lassen, je nachdem das Resultat die Chancen der persönlichen Ideale: die Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu wollen, mindert oder steigert" 141 . Angesichts dieser Sachlage leugnet WEBER nun keineswegs etwa rundweg jede „wissenschaftliche Behandlung der Werturteile"; aber diese stellt sich für ihn immer nur dar als eine stets „negativ" bleibende kritische Beurteilung und Eliminierung jeglicher Wertungen im Erkenntnisprozeß, und zwar vermittels einer einzig und allein „formal-logischen Beurteilung des in den geschichtlich gegebenen Werturteilen und Ideen vorliegenden Materials, einer Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit des Gewollten" usw. Aber, so erklärt WEBER andererseits wieder: „Die Geltung solcher Werte zu beurteilen ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer 139 So gesteht WEBER ZU: „Allein die historische Macht der Ideen ist für die Entwicklung des Soziallebens eine so gewaltige gewesen und ist es n o c h " ; sie in dieser Funktion und Wirkung zu unterstreichen, sei aber Aufgabe der „Sozialpsychologie" (Wissenschaftslehre, S. 151) 140 M. WEBER, Wissenschaftslehre . . . S. 150. Nochmals wiederholt WEBER: „ O b sich das urteilende Subjekt zu diesen letzten Wertmaßstäben (und Idealen) bekennen soll, ist eine persönliche Angelegenheit und eine Frage seines Wollens und Gewissens, nicht des Erfahrungswissens". „Diese letzten Maßstäbe, welche sich in den konkreten Werturteilen manifestieren, zum Bewußtsein zu bringen, ist nun allerdings das letzte, was sie (also das sozialwissenschaftliche Erkennen, Autor), ohne den Boden der Spekulation zu betreten, leisten k a n n " usw. (ebenda, S. 151) 141

Ebenda, S. 151

193

Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber nicht Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft." 142 Ganz offensichtlich nimmt WEBER hier wiederum konzeptionell-orientierend das gesamte Programm der gegenwärtigen spätbürgerlichen Ideologiekritik vorweg. Auch für diese reduziert sich, hierin ganz in der Tradition der bürgerlichen idealistischen Geschichtsauffassung stehend, die ja auch in Gestalt des französischen Materialismus immer nur zum Zugeständnis „persönlicher Interessen" und menschlicher Leidenschaften gelangt war, das gewichtige Problem der sozialen Erkenntnis bzw. des ideologischen Bewußtseins (einschließlich der in ihr bzw. in ihm enthaltenen Wertungen) auf eine rein persönliche und subjektive Glaubensfrage und Gewissensentscheidung. Ihre eigentlich historisch-gesellschaftliche Herausbildung und Wirkungsweise im sozialen Lebensprozeß, im Klassenkampf, in den gesellschaftlichen Organisationen und politischen Parteien usw. spielen für derartige psychologisierte „ideologiekritische" Analysen entweder gar keine oder nur eine untergeordnete und unwesentliche Rolle. Dieses weitgehende bürgerliche Unverständnis der gesellschaftlichen Determiniertheit der sozialen Erkenntnis bzw. Ideologie (wobei deren soziale Funktion in einer allerdings stets pragmatisch und voluntaristisch überzogenen Weise andererseits natürlich nicht übersehen wird) bringt auch WEBER in einer fast „klassischen" Art und Weise zum Ausdruck, wenn er ernsthaft meint, feststellen zu müssen: „Es wird gestritten nicht nur, wie wir heute so gern glauben (!), zwischen ,Klasseninteressen' sondern auch zwischen Weltanschauungen." 1 4 3 Das heißt, der eigentlich wesentliche und determinierende Zusammenhang von Ideologie/Weltanschauung/Philosophie und sozialem Sein und Klasseninteresse wird gar nicht begriffen. Im Gegenteil, speziell der Begriff des „Klasseninteresses", einer der ohne Frage wichtigsten Gesichtspunkte und Begriffsbildungen der marxistisch-leninistischen Geschichts- und Ideologieauffassung, erweist sich für WEBER in diesem Zusammenhang lediglich als ein „nur scheinbar eindeutiger Begriff", was dazu führt, daß schließlich nur noch eine gewisse äußere und zufallige „Wahlverwandtschaft" zwischen Klasseninteresse und Weltanschauung zugestanden wird. Es klingt fast paradox, aber WEBER erklärt dennoch: „. . . je allgemeiner' das Problem ist (also das einer gegebenen Ideologie oder Weltanschauung, Rh) um das es sich handelt, d. h. aber hier: je weittragender seine Kulturbedeutung, desto weniger ist es einer eindeutigen Beantwortung aus dem Material des Erfahrungswissens heraus zugänglich, desto mehr spielen die letzten höchst persönlichen Axiome des Glaubens und der Wertideen hinein." 1 4 4 Damit wird von

WEBER

142

E b e n d a , S. 151 u n d 152

143

E b e n d a , S. 153

144

Ebenda

194

zumindest zweierlei von vornherein bestritten:

1.

2.

was sich speziell gegen die MARXSche materialistische Geschichtsauffassung richtet, die wissenschaftliche Auffassung und Erläuterung einer Ideologie und Weltanschauung als eines stets konkret-historisch und gesellschaftlich determinierten sozialem Phänomens und was angesichts des tatsächlich immer „allgemeiner", d. h. massenwirksamer und für die bürgerliche Klasse immer bedrohlicher werdenden ideologischen Einflusses des Marxismus-Leninismus auf die Arbeiterbewegung nur allzu verständlich ist, die Möglichkeit und Wirklichkeit einer wissenschaftlich begründeten Ideologie und Wentanschauung. „Weltanschauungen 1 können niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein", deklariert WEBER wörtlich. 145

Besonders auf das letztere zielt also ganz offensichtlich die ganze, nur scheinbar rein logisch-methodologisch angelegte, in Wahrheit aber ungemein ideologierelevante Argumentation WEBERS in bezug auf die Herkunft, Stellung und Funktion der Werturteile im sozialen Erkenntnisprozeß. Die auf diese Weise anvisierte Degradierung der marxistisch-leninistischen Ideologie und Weltanschauung zu einer gewissermaßen „außerlogischen" oder gar unwissenschaftlichen Angelegenheit geht natürlich ganz und gar an der Wirklichkeit vorbei, weshalb auch WEBER immer wieder in äußerst scharfer Polemik dazu übergeht, an Stelle weiterer sachlicher Erwägungen, von „dogmatisch gebundenen Sekten" oder von einem „naiven Glauben der Parteien an die wissenschaftliche .Beweisbarkeit' ihrer Dogmen" zu sprechen: 146 Die ideologisch-politisch ungemein arrangierte Haltung WEBERS, wie sie durch sein ganzes politisches Auftreten zwischen 1916 und 1920 praktisch sichtbar wurde, hat ihre entscheidende theoretisch-methodologische Grundlage in seiner strengen Unterscheidung zwischen „Erkennen" und „Beurteilen" bzw. Erkenntnis 145

Ebenda, S. 154

146 Ebenda, S. 154 und 155. Angesichts der in der Weltkriegszeit zunehmenden „Politisierung" und „Ideologisierung" des gesamten öffentlichen Lebens der in eine tiefe politische, ideologische und weltanschauliche Krise geratenden bürgerlichen Gesellschaft steigert sich WEBER 1917 sogar noch in seiner Polemik (Artikel: Der Sinn der „Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften) und wendet sich mit besonders scharfen Worten gegen praktischpolitische Wertungen konkreter sozialer und politischer Prozesse an den Universitäten („Kathederwertungen"). Wörtlich heißt es in dieser Richtung bei WEBER, „daß von allen Arten der Prophetie die in diesem Sinne .persönlich' gefärbte Professoren-Prophetie die einzige ganz und gar unerträgliche ist. Es ist doch ein beispielloser Zustand, wenn zahlreiche staatlich beglaubigte Propheten, welche nicht auf den Gassen oder in den Kirchen oder sonst in der Öffentlichkeit, oder, wenn privatim, dann in persönlich ausgelesenen Glaubenskonventikeln, die sich als solche bekennen, predigen, sondern in der angeblich objektiven, unkontrollierbaren, diskussionslosen und also vor allem Widerspruch sorgsam geschützten Stille des v o m Staat privilegierten Hörsaals ,im N a m e n der Wissenschaft' maßgebende Kathederentscheidungen über Weltanschauungsfragen zum besten zu geben sich herausnehmen" (ebenda, S. 478)

195

und Wertung. Gegen diese Unterscheidung wäre an sich nichts einzuwenden, weil sie auf einen tatsächlich bestehenden Sachverhalt aufmerksam macht, der sich ohne Frage auch sprachlich als ein solcher Unterschied nachweisen läßt. Einen beliebigen objektiven Tatbestand erkennen, wie er wirklich ist, oder darüber urteilen, wie er sein sollte, und das heißt auch, wie er z. B. im Interesse der Menschen zu verändern wäre usw. — alles das betrifft tatsächlich unterschiedliche Ebenen des Herangehens und der Betrachtung eines Gegenstandes in allen Wissenschaften. Doch wie schon mehrfach betont, werden alle diese relativen und berechtigten Unterscheidungen von WEBER ganz in der Tradition der neukantianischen Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften nicht nur logisch-methodologisch gewaltig überzogen, sondern auch noch erkenntnistheoretisch mit der für das bürgerliche philosophische Denken überhaupt charakteristischen dualistischen Gegenüberstellung von Gefühl und Verstand, Sinnesund Verstandeserkenntnis oder auch Theorie und Praxis „begründet". So erklärt W E B E R : „ E S ist und bleibt für alle Zeit ein unüberbrückbarer (!) Unterschied, ob eine Argumentation sich an unser Gefühl und unsere Fähigkeit, für konkrete praktische Ziele oder für Kulturformen und Kulturinhalte uns zu begeistern, wendet, oder, wo einmal die Geltung ethischer Normen in Frage steht, an unser Gewissen, oder endlich an unser Vermögen und Bedürfnis, die empirische Wirklichkeit in einer Weise denkend zu ordnen, welche den Anspruch auf Geltung als Erfahrungswahrheit erhebt." 147 Die einzige Beziehung, die WEBER trotzdem zwischen diesen sich abgrundtief auftuenden „unüberbrückbaren" Seiten noch zugesteht, sind „jene höchsten ,Werte' des praktischen Interesses für die Richtung, welche die ordnende Tätigkeit des Denkens auf dem Gebiete der Kulturwissenschaft jeweils einschlägt." 148 Auf diese Weise will WEBER ganz offensichtlich das sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Erkennen (oder die „methodisch-korrekte wissenschaftliche Beweisführung auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften") von seiner eigentlichen sozialen Grundlage, Determination und Zielstellung ablösen, ebenso wie er bereits die bestehende Einheit des menschlichen Erkenntnisprozesses metaphysisch aufspaltete. Alles dies hat natürlich seinen Grund darin — und WEBER begreift das wie kein anderer Ideologe seiner Zeit sehr genau —, daß sich infolge der zugespitzten Klassenauseinandersetzung zwischen Bourgeoisie und Proletariat auch im ideologischen Bereich eine „wertneutrale" Sozialwissenschaft eigentlich schon überhaupt nicht mehr konsequent realisieren läßt. Sein Ansinnen in bezug auf das 1904 neu zu orientierende „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" kommt daher keineswegs zufallig in einer fast beschwörenden 147 Ebenda, S. 155. In ähnlicher Weise fordert WEBER, stets „deutlich zu machen, daß und w o der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfangt zu sprechen, w o die Argumente sich an den Verstand und w o sie sich an das Gefühl wenden". (Ebenda, S. 157) 148

196

Ebenda, S. 155

Feststellung zum Ausdruck, wonach dieses Organ bisher kein „sozialistisches" gewesen sei (!) und künftig auch kein „bürgerliches" sein werde! 1 4 9 Auf den hier allzu deutlich zutage tretenden eigentlichen ideologischen Hintergrund bzw. auch demagogischen Anspruch einer „rein" methodologischen Diskussion zur „Objektivität" bzw. „Wertfreiheit" des sozialwissenschaftlichen Erkennens braucht angesichts dieses zugleich illusionären und demagogischen Anliegens sicher nicht weiter eingegangen zu werden. Doch die strenge Unterscheidung zwischen „Erfahrungswissen" und „Werturteil" im sozialwissenschaftlichen Erkennen führt bei WEBER zwangsläufig zu einigen den Charakter seiner ganzen Gesellschaftstheorie bestimmenden Folgeerscheinungen, die wenigstens noch kurz genannt werden sollen. Dabei geht es nicht darum, daß WEBER streng genommen nur jene von WINDELBAND und RICKERT übernommene Unterscheidung zwischen den allein erkennenden exakten Naturwissenschaften und den allein verstehenden und wertenden Geschichtswissenschaften in modifizierter Form lediglich auf den Bereich der Sozialwissenschaften selbst anzuwenden versucht. Vielmehr geht es darum, daß statt der angestrebten Begründung der „Objektivität" des sozialwissenschaftlichen Erkennens eigentlich nur herauskommt: eine Fixierung jenes Dualismus zwischen „reiner Erkenntnis" bzw. Tatsachenforschung einerseits und einer angeblich nur äußerlichen Bewertung bzw. interessenmäßigen Zielstellung der Erkenntnis andererseits, deren immanenter Zusammenhang aber gerade die Spezifik übrigens keineswegs nur des sozialwissenschaftlichen Erkennens ausmacht! Die entscheidende Konsequenz der WEBERschen Vorgehensweise scheint uns aber darin zu bestehen, daß er in seiner GesellschaftsaufTassung auf der einen Seite zwangsläufig zu jener spekulativ-aprioristischen idealtypischen Konstruktion der sozialen Wirklichkeit gelangen muß, durch die alle seine „soziologischen Grundbegriffe" charakterisiert sind 150 , während auf der anderen Seite jene die Gesellschaftserkenntnis grundlegend orientierenden Interessen, Klasseninteressen sowie die aus diesen resultierenden Wertideen der Menschen und Erkenntnissubjekte als rein „subjektive und persönliche", nicht weiter verifizierbare und empirisch erforschbare Tatbestände abgetan werden. Hierbei handelt es sich 149

Lhcnda.S. 158

150 Auf diesen Zusammenhang seiner erkenntnistheoretischen Grundposition mit der KANTS macht WEBER selbst verschiedentlich aufmerksam, so wenn er beispielsweise erklärt: „Wer den Grundgedanken der auf KANT zurückgehenden modernen Erkenntnislehre: daß die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können, zu Ende denkt, dem wird der Umstand, daß scharfe genetische Begriffe notwendig Idealtypen sind, nicht gegen die Bildung von solchen sprechen können." (Wissenschaftslehre, S. 208.) Wie dieser idealistisch-aprioristische erkenntnistheoretische Standpunkt KANTS dem WEBERschen Wissenschaftsbegriff zugrunde liegt, zeigt ein kurzer Hinweis darauf, was die Wissenschaft nach WEBER „allein leisten kann: Begriffe und Urteile, die nicht die empirische Wirklichkeit sind, auch nicht sie abbilden (!) aber sie in gültiger Weise (?) denkend ordnen lassen" (ebenda, S. 213)

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um eine Tradition, in der die positivistische Ideologienlehre (wie z. B. G E I G E R ) bis heute steht. Der totalen Subjektivierung und Mystifizierung des Problems der Wertung — „das Leben in seiner irrationalen Wirklichkeit und sein Gehalt an möglichen Bedeutungen sind unausschöpfbar, die konkrete Gestaltung der Wertbeziehung bleibt daher fließend, dem Wandel unterworfen in die dunkle Zukunft der menschlichen Kultur hinein" 1 5 1 usw. — entspricht so notwendig jene abstrakte spekulativ-idealistische Konstruktion der sozialen Wirklichkeit vermittels der sogenannten WEBERschen Idealtypen. Über diese „gedankliche Konstruktion" des Idealtypus macht WEBER selbst übrigens sehr aufschlußreiche Aussagen. Für ihn trägt diese Konstruktion zunächst einmal den Charakter einer Utopie, weshalb es sich beim „idealtypischen Begriff' fast folgerichtig um überhaupt „keine Darstellung des Wirklichen" handeln soll. 152 Auf diese Weise vollendet sich gewissermaßen WEBERS spekulatividealistische Verkehrung der Wirklichkeit, also des grundfragenmäßigen Verhältnisses von Materiellem und Ideellem, von Begriff und Wirklichkeit, wie dies M A R X , ENGELS und LENIN in so vielfaltiger Weise für den gesamten philosophischen Idealismus als kennzeichnend nachgewiesen und soziologisch erklärt haben. Ganz entsprechend erklärt WEBER selbst: „In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild (also der „Idealtypus" bzw. die „idealtypischen Begriffe", wie z. B. „Markt", „Kapital", „Arbeit", „Handwerk", „Staat" usw.) nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht." 1 5 3 Damit tritt aber an die Stelle der tatsächlichen konkret-historischen Analyse der sozialen Wirklichkeit ihre spekulative „idealtypische" Konstruktion, die neben dem eindeutig idealistischen Charakter dieser sozialwissenschaftlichen Konzeption nur unschwer die klare bürgerlich-ideologische Zielstellung einer unbedingten Erhaltung dieser Wirklichkeit zu verbergen vermag. Dieser „Idealtypus" beinhaltet tatsächlich die totale Abstraktion von jeder wirklichen gesellschaftlichen Entwicklung und Veränderlichkeit der sozialen Wirklichkeit, um deren Ewigkeit wenigstens in Gedanken genauestens fixieren zu können. Wenn sich das genannte „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" in seiner Anfangsperiode z. B. besonders mit der „Arbeiterfrage" beschäftigt habe, so seien das nach WEBER im allgemeinen Autoren gewesen (und im folgenden kommt die eigentliche ideologische Zielstellung der WEBERschen Lehre wie der bürgerlichen Soziologie überhaupt in besonders klarer Weise zum Ausdruck), „denen bei aller sonstigen Verschiedenheit der Ansichten der Schutz der physischen Gesundheit der Arbeitermassen und die Ermöglichung steigender Anteil151

M . WEBER, Wissenschaftslehre, . . . S. 123

152

E b e n d a , S. 190

153

E b e n d a , S. 191

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nähme an den materiellen und geistigen Gütern unserer Kultur für sie, als Ziel, als Mittel aber die Verbindung staatlichen Eingreifens in die materielle Interessensphäre mit freiheitlicher Fortentwicklung der bestehenden Staats- und Rechtsordnung vorschwebten und die — welches immer ihre Ansicht über die Gestaltung der Gesellschaftsordnung in der fernen Zukunft sein möchte — für die Gegenwart die kapitalistische Entwicklung bejahten, nicht weil sie ihnen, gegenüber den älteren Formen gesellschaftlicher Gliederung, als die bessere, sondern weil sie ihnen als praktisch unvermeidlich und der Versuch grundsätzlichen Kampfes gegen sie, nicht als Förderung, sondern als Hemmung des Emporsteigens der Arbeiterklasse an das Licht der Kultur erschien." 154 Dieser ideologischen Zielstellung einer unbedingten Erhaltung und Stabilisierung des gegebenen bürgerlichen Gesellschaftssystems dienen also auch jene WEBERschen abstrakten „idealtypischen" Begriffskonstruktionen der sozialen Wirklichkeit. Werden jedoch andersartige Bestrebungen in bezug auf diese Wirklichkeit, z. B. in Gestalt einer durch das proletarische Klasseninteresse bestimmten Theorie und Bewertung, oder gar praktisch-revolutionäre Veränderungen dieser Wirklichkeit sichtbar, dann handelt es sich für WEBER aus methodologischer Sicht „nicht mehr um allgemeine Begriffe idealtypischen Charakters, an welchen die Wirklichkeit (!) vergleichend gemessen" werde, sondern eben nur um (zuvor schon theoretisch abqualifizierte) „praktische Ideale" ideologischen Charakters, „aus denen die Wirklichkeit (lediglich) wertend beurteilt" wird. Dann werde im übrigen der Boden der „Erfahrungswissenschaft" verlassen und „es liegt ein persönliches Bekenntnis vor, nicht (aber) eine idealtypische Begriffsbildung ¡"155 Damit schließt sich wieder der Bogen der WEBERschen Argumentation: Die eigentliche gesellschaftliche, klassen- und interessenmäßige Determination (und Funktion) des sozialen Erkennens bleibt theoretisch gänzlich unbegriffen bzw. es wird direkt gefordert, sie gewissermaßen als eine rein subjektiv-persönliche Beigabe und Trübung der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis möglichst auszuklammern. Damit steht tatsächlich alles auf dem Kopf, denn das, was nach der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung einzig und allein die Objektivität und Wissenschaftlichkeit der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis zu garantieren vermag: das bewußte Ausgehen von den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen, von der gesellschaftlichen Praxis, dem materiellen gesellschaftlichen Lebensprozeß der Menschen und den ihn tragenden Klassenkräften erweist sich bei W E B E R gerade als ein Hemmschuh und Hindernis dieser „Objektivität". Wie sich jedoch mehrfach zeigte, zielen seine konstruierte idealistische Gesellschaftslehre und seine methodologischen Betrachtungen zur Spezifik des sozialwissenschaftlichen Erkennens (also speziell seine These von der angeblich 154 Ebenda, S. 159 155 Ebenda, S. 199

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absoluten „Werturteilsfreiheit" der sozialen Erkenntnis) lediglich darauf ab, der bürgerlichen Ideologie und Wirklichkeit angesichts des zunehmenden theoretischen und ideologischen Einflusses des Marxismus-Leninismus nochmals eine gewisse Überlebenschance zu sichern. In diesem Sinne würdigte nicht zufallig HANS ALBERT 1 9 6 4 MAX WEBER dahingehend, daß er durch seine Diskussion der sozialwissenschaftlichen Wertproblematik vor allem „zur Überwindung des ideologischen Denkens entscheidend beigetragen" habe. 156 Dem widerspricht andererseits keineswegs die an gleicher Stelle von JÜRGEN HABERMASS geäußerte Meinung, daß WEBERS Soziologie im Gegenteil „den Bann der Ideologie nicht gebrochen, sondern verstärkt" habe.15"? Dies zeigt das offenkundige Dilemma und „Elend" der gesamten spätbürgerlichen „Ideologiekritik" und Ideologiebeschäftigung, das nicht zuletzt auch darin seinen Ausdruck findet, daß die bürgerlichen Ideologen in der Selbstverständigung ihrer eigenen historisch-gesellschaftlichen Existenz und Perspektive gegenüber ständig darin hin und her schwanken, einerseits das baldige „Ende der Ideologie" zu beschwören bzw. andererseits gleichzeitig das Fehlen einer eigenen „erfolgreichen westlichen Ideologie" zu beklagen. Anders ausgedrückt: Die proklamierte „Entideologisierung" erweist sich eigentlich als eine verkappte antisozialistische „Reideologisierung" der bürgerlichen Welt.

Schlußbemerkung Im ganzen gesehen handelt es sich hierbei ohne Frage um die Reflexion eines objektiven, immer klarer hervortretenden Wesenszugs unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungsphase, d. h. des Kampfes der beiden antagonistischen Gesellschaftssysteme von Kapitalismus und Sozialismus, einer Auseinandersetzung, die in einem immer stärkeren und umfassenderen Maße auf ideologischem und sozialem Gebiet ausgetragen wird. Dennoch erweist sich aber gerade dieser Kampf entgegengesetzter sozialer Ideen, Ideologien und Weltanschauungen in keiner Weise als eine bloße „Sache der Denkungsart. In Wirklichkeit drücken sich in den unterschiedlichen Ideen unterschiedliche sozialökonomische Interessen aus. Die Unvereinbarkeit von sozialistischer und bürgerlicher Ideologie ergibt sich objektiv aus der Unvereinbarkeit der sozialistischen und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung." 158 Zu dieser einzig adäquaten Auffassung des 156

Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, S. 70

157

Ebenda, S. 81

158 E. HONECKER, AUS dem Schlußwort auf der 8. Tagung des ZK der SED, Berlin 1972, S. 58

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absoluten „Werturteilsfreiheit" der sozialen Erkenntnis) lediglich darauf ab, der bürgerlichen Ideologie und Wirklichkeit angesichts des zunehmenden theoretischen und ideologischen Einflusses des Marxismus-Leninismus nochmals eine gewisse Überlebenschance zu sichern. In diesem Sinne würdigte nicht zufallig HANS ALBERT 1 9 6 4 MAX WEBER dahingehend, daß er durch seine Diskussion der sozialwissenschaftlichen Wertproblematik vor allem „zur Überwindung des ideologischen Denkens entscheidend beigetragen" habe. 156 Dem widerspricht andererseits keineswegs die an gleicher Stelle von JÜRGEN HABERMASS geäußerte Meinung, daß WEBERS Soziologie im Gegenteil „den Bann der Ideologie nicht gebrochen, sondern verstärkt" habe.15"? Dies zeigt das offenkundige Dilemma und „Elend" der gesamten spätbürgerlichen „Ideologiekritik" und Ideologiebeschäftigung, das nicht zuletzt auch darin seinen Ausdruck findet, daß die bürgerlichen Ideologen in der Selbstverständigung ihrer eigenen historisch-gesellschaftlichen Existenz und Perspektive gegenüber ständig darin hin und her schwanken, einerseits das baldige „Ende der Ideologie" zu beschwören bzw. andererseits gleichzeitig das Fehlen einer eigenen „erfolgreichen westlichen Ideologie" zu beklagen. Anders ausgedrückt: Die proklamierte „Entideologisierung" erweist sich eigentlich als eine verkappte antisozialistische „Reideologisierung" der bürgerlichen Welt.

Schlußbemerkung Im ganzen gesehen handelt es sich hierbei ohne Frage um die Reflexion eines objektiven, immer klarer hervortretenden Wesenszugs unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungsphase, d. h. des Kampfes der beiden antagonistischen Gesellschaftssysteme von Kapitalismus und Sozialismus, einer Auseinandersetzung, die in einem immer stärkeren und umfassenderen Maße auf ideologischem und sozialem Gebiet ausgetragen wird. Dennoch erweist sich aber gerade dieser Kampf entgegengesetzter sozialer Ideen, Ideologien und Weltanschauungen in keiner Weise als eine bloße „Sache der Denkungsart. In Wirklichkeit drücken sich in den unterschiedlichen Ideen unterschiedliche sozialökonomische Interessen aus. Die Unvereinbarkeit von sozialistischer und bürgerlicher Ideologie ergibt sich objektiv aus der Unvereinbarkeit der sozialistischen und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung." 158 Zu dieser einzig adäquaten Auffassung des 156

Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, S. 70

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Ebenda, S. 81

158 E. HONECKER, AUS dem Schlußwort auf der 8. Tagung des ZK der SED, Berlin 1972, S. 58

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Ideologieproblems zwingt uns, wie gezeigt werden sollte, der philosophische Materialismus, die materialistische Dialektik und Geschichtsauffassung. Andererseits verlangt die weitere planmäßig-bewußte Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft eine noch tiefer greifende Bewußtheit und Organisiertheit aller Werktätigen, die unter Führung der Partei der Arbeiterklasse vor allem durch die marxistisch-leninistische Ideologie in Einklang mit den vielfältigen eignen alltäglichen praktischen Erfahrungen 159 der Menschen wie entsprechenden Ergebnissen der verschiedenen Natur- wie Gesellschaftswissenschaften erzeugt und vermittelt wird. 160 Dem wesentlich und unmittelbar auf die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse gerichteten sozialen bzw. ideologischen Erkennen kommt dabei offenkundig eine immer stärkere Bedeutung zu. Auf einige der damit zusammenhängenden erkenntnistheoretischen, ideologietheoretischen und methodologischen Fragestellungen zur Spezifik dieses Erkennens sollte, ausgehend von M A R X , ENGELS und LENIN sowie in einer durchgehenden Auseinandersetzung mit entsprechenden spätbürgerlichen und revisionistischen Konzeptionen, im vorliegenden Beitrag aufmerksam gemacht werden. Ohne Zweifel handelt es sich bei diesem ganzen Problemkreis des sozialen (ideologischen) Erkennens um ein äußerst komplexes Gebiet, das in konkreto sicher nur in einer umfassenden theoretischen Verständigung und wirklichen Gemeinschaftsarbeit mit den verschiedenen, jene „ideologischen Bewußtseinsformen" wesentlich ausmachenden Gesellschaftswissenschaften erfolgreich theoretisch und praktisch angegangen werden kann.

159 Auf dieses Problem macht LENIN immer wieder in seinen Schriften, Artikeln und Reden zwischen 1917 und 1923 aufmerksam. 160 Siehe hierzu insbesondere W. LAMBERZ, Die wachsende Rolle der sozialistischen Ideologie bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft; Aktuelle Probleme des ideologischen Kampfes der SED, Berlin 1972, sowie K. HAGER, Wissenschaft und Technologie im Sozialismus, Berlin 1974 und derselbe: Der IX. Parteitag und die Gesellschaftswissenschaften. Berlin 1976

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