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German Pages 339 Year 2017
Philosophische Schriften Band 94
Martin Heidegger Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte Von Friedrich-Wilhelm von Herrmann und Francesco Alfieri
Duncker & Humblot · Berlin
F.-W. VON HERRMANN / F. ALFIERI
Martin Heidegger. Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte
Philosophische Schriften
Band 94
Martin Heidegger Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte
Von Friedrich-Wilhelm von Herrmann und Francesco Alfieri
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© [Martin Heidegger. La verità sui Quaderni neri (Filosofia, 72), Morcelliana, Brescia 2016] deutsche Übers. von Pascal David
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-15124-0 (Print) ISBN 978-3-428-55124-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-85124-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Zum vierzigsten Todesjahr von Martin Heidegger
Vorwort zur deutschen Ausgabe Das hier erscheinende Buch „Martin Heidegger. Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte“ ist die deutsche Übersetzung der italienischen Urfassung „Martin Heidegger. La verità sui Quaderni neri“, die im Mai 2016 im Verlag Morcelliana, Brescia, erschienen ist und inzwischen in zweiter Auflage vorliegt. Am 12. Mai 2016 wurde dieses Buch auf Einladung von Magnifizenz Rektor Fabio Rugge in der Aula Magna der Universität zu Pavia unter dem Vorsitz des Delegaten des Rektors, Prof. Dr. Giampaolo Azzoni vom Dipartimento di Giurisprudenza, öffentlich vorgestellt. Hierzu geladen waren Professoren und je 250 Studierende aus der Juristischen und aus der Philosophischen Fakultät. Außer den beiden Autoren des Buches haben ausgewiesene Heidegger-Kenner verschiedener italienischer Universitäten vorgetragen. In diesen Beiträgen wurde mit Blick auf den Titel des Buches die Wahrheit des Inhalts der „Schwarzen Hefte“ unter Zurückweisung der bewußt verfälschenden Verstellung und Instrumentalisierung, die den wahren Inhalt der Schwarzen Hefte von Anfang an dem Leser versperrt hatte, herausgestellt. Diese Buchvorstellung, auch von YouTube aufgezeichnet für das Internet, wurde ein großer Erfolg – nicht zuletzt auch durch die hervorragende Moderation von Prof. Azzoni, der wiederholt aus rechtsphilosophischer Sichtweise eigenständige Beiträge zur Notwendigkeit der Zurückweisung ideologischer Unterstellungen in einer Zeit der herrschenden political correctness einfließen ließ. Eine einzigartige Tagung – für das Internet via YouTube von internationalen und nationalen Fernsehsendern aufgezeichnet – unter dem Titel „Ritorno alle fonti di Martin Heidegger. Vie della Seinsfrage“ fand am 25. Januar 2017 in der Päpstlichen Lateranuniversität, Rom, auf Einladung von deren Magnifico Rettore Monsignore Enrico dal Covolo in der Aula Paolo VI statt. Die insgesamt 13 streng wissenschaftlichen Vorträge von höchstem Niveau der eingeladenen europäischen Heidegger-Elite handelten von den philosophischen Quellen für das Denken der Seinsfrage auf deren beiden Wegen und ließen dadurch die Unterstellung von ideologisch-politischen Quellen als absurd erscheinen. Die Tagung wurde durch ein Grußwort des Rektors eröffnet, in dem er die gemeinsame „Suche nach der Wahrheit“ als Ziel jeder Universität und dieser Tagung unterstrich. Magnifizenz dal Covolo schloß sein Grußwort mit den gewichtigen Worten: „Auf dem Wege des Dialogs merkt man sehr rasch, daß die selbstbezogene Verschlossenheit und die daraus folgenden Mißverständnisse nur dann aus dem Weg geräumt werden können, wenn man den Mut hat, als freie Menschen zu denken – frei von all den vorgefaßten Meinungen, die heute zum allgemeinen Konsens gehören, dem man sich einfach nur anschließt, statt nach der Wahrheit der Dinge zu fragen. Wenn
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Vorwort
wir gemeinsam weiterdenken, machen wir den einzig möglichen Neuanfang“. Daß in diesem Geiste die hier erscheinende deutsche Ausgabe unseres Buches gelesen werden möge, ist der Wunsch der Autoren dieses Buches. Herrn Prof. Dr. Pascal David (Universität Brest, Frankreich), dem Übersetzer der im berühmten Verlag Gallimard, Paris, erscheinenden französischen Fassung, verdanken wir die zügige Erstellung auch der deutschen Übersetzung, für die wir ihm großen Dank schulden. Einen nicht minder großen Dank möchte ich Herrn Prof. em. Dr. In-Suk Cha (National University of Seoul, Südkorea, und weiterhin Inhaber des UNESCOLehrstuhls für Philosophie, Seoul) aussprechen für seine großherzige mäzenatische Stiftung zur Finanzierung und Verlegung der deutschen und der französischen Fassung des vorliegenden Buches. Herr Prof. Cha hat in den 60er Jahren als phänomenologischer Doktorand Eugen Finks an der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg, seine Dissertation „Der Begriff des Gegenstandes in der Phänomenologie Edmund Husserls“ verfaßt und im Wintersemester 1966/67 auch an dem von Martin Heidegger und Eugen Fink gemeinsam geleiteten Heraklit-Seminar teilgenommen. Seine mäzenatische Schenkung versteht Herr Prof. Cha als seinen Dank für die Freiburger phänomenologischen Studienjahre, die ihm diese Stadt und Universität zur zweiten geistigen Heimat werden ließen. Als Ordinarius seiner Universität in Seoul schickte er seine besten Schüler zu mir nach Freiburg, damit diese ihr phänomenologisches Promotionsstudium unter meiner Betreuung durchlaufen könnten. Sie alle haben heute Lehrstühle in ihrer Heimat. Schließlich richtet sich unser großer Dank an unseren Berliner Verleger Dr. Florian Simon, der sich während unserer ersten Anfrage ohne Zögern freudig dazu bereit erklärte, das deutschsprachige Buch in das Veröffentlichungsprogramm von Duncker & Humblot aufzunehmen. In diesem traditionsreichen Verlag erschien von 1832 bis 1845 die erste Gesamtausgabe Hegels unter dem würdigen Titel ,Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten‘. Seit 1987 verdanken wir dem Verlag Duncker & Humblot das jährliche Erscheinen der internationalen dreisprachigen Zeitschrift Heidegger Studies, die in diesem Jahr den Band 33 erreicht. Frau Susanne Werner vom Verlag Duncker & Humblot hat für unser Buch nicht nur als Herstellerin, sondern auch als Setzerin wunderbar gewirkt, wofür wir ihr herzlich Dank sagen. Herrn Dr. Dr. Günther Neumann und Herrn Dr. Klaus Negebauer sind wir für ihre umsichtige und akribische Korrekturhilfe herzlich dankbar. Freiburg i.Br., im Februar 2017
Friedrich-Wilhelm v. Herrmann
Vorwort Zu Beginn des Jahres 2013 erhielt ich Kenntnis von Stellen in den „Schwarzen Heften“, die sich mit den Juden, dem Judentum bzw. dem Weltjudentum befassen. Mir war sofort klar, daß die Veröffentlichung dieser „Schwarzen Hefte“ eine große internationale Debatte hervorrufen wird. Schon im Frühjahr 2013 hatte ich Herrn Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, den letzten Privatassistenten und nach einer Widmung meines Großvaters „Hauptmitarbeiter der Gesamtausgabe“ gebeten, er möge aus seiner tiefen Kenntnis des Denkens Martin Heideggers seine Sicht auf die „Schwarzen Hefte“ insgesamt und auf die besonders in der Öffentlichkeit stehenden Juden-bezüglichen Stellen verfassen. Meine Bitte erging auch vor dem Hintergrund, daß mein Großvater Herrn Prof. von Herrmann die Lektüre vorenthielt und ihn ausdrücklich nicht für die Herausgabe der Bände „Schwarze Hefte“ vorgesehen hatte. Diese sind für einen tief im christlichen Glauben verwurzelten Protestanten eine schwere Kost. In Publikationen über die „Schwarzen Hefte“ verbreiteten sich rasch griffige Ausdrücke wie „seinsgeschichtlicher Antisemitismus“ oder „metaphysischer Antisemitismus“. Die naheliegende erste Frage dagegen lautet: Gibt es überhaupt einen Antisemitismus im Denken Heideggers? Prof. von Herrmann legt hier nun seine hermeneutische Interpretation vor. Er hat mit Prof. Francesco Alfieri von der Pontificia Università Lateranense einen Mitarbeiter gefunden, der eine umfangreiche philologische Analyse der Bände 94, 95, 96 und 97 der Gesamtausgabe erstellt hat. Beide gelangen, unterstützt durch die Beiträge von Prof. Leonardo Messinese und der Journalistin Claudia Gualdana zu überraschenden Ergebnissen, die eine neue Sichtweise auf die „Schwarzen Hefte“ ermöglichen. Über den aufgekommenen Vorwurf, ihr Vater sei Antisemit gewesen, konnten die beiden Söhne Martin Heideggers, Jörg und Hermann, nur den Kopf schütteln. Beide Söhne hatten aus nächster Nähe miterlebt, wie eng ihr Vater mit Jüdinnen und Juden befreundet war. Mein Vater hat seine Zeitzeugenschaft in wenigen Punkten nachfolgend zusammengefaßt. Die öffentlichen Auftritte meines Großvaters in der NS-Zeit zeigen ihn nicht als Antisemiten. Wenig Berücksichtigung hat der Umstand gefunden, daß Martin Heidegger den bislang veröffentlichten „Schwarzen Hefte“ die Überschriften „Überlegungen“ und „Anmerkungen“ gab. Sie sind von ihm bewußt an das Ende der Gesamtausgabe gesetzt worden, da sie ohne Kenntnis der Vorlesungen und vor allem der erst im Rahmen der Gesamtausgabe veröffentlichen seinsgeschichtlichen Abhandlungen nicht verständlich sind. Der Titel: „Martin Heidegger. Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte“ mag sehr selbstgewiß klingen, doch gibt es jemanden, der von sich behauptet, eine gründ-
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Vorwort
lichere Kenntnis des Denkens Heideggers zu besitzen als Prof. von Herrmann? Meinem Großvater ging es letztlich jedoch nie darum, eine Lehre zu verkünden, ein System der Philosophie aufzustellen oder gar Gefolgschaft zu sammeln. Die Bemühungen seines Denkens waren vielmehr darauf gerichtet, ein wesentliches Fragen hervorzurufen. Mögen die Beiträge dieses Bandes dabei helfen, dieses Fragen zu ermöglichen. Arnulf Heidegger
Danksagungen Wir danken herzlich Herrn Dr. Hermann Heidegger und (dem Nachlaßverwalter Martin Heideggers) Herrn Rechtsanwalt Arnulf Heidegger, unsere Arbeit unterstützt zu haben. Herr Arnulf Heidegger hat uns zudem den fotographischen Abdruck der hier ausgelegten Seiten aus den Schwarzen Heften zur Verfügung gestellt und die Genehmigung gegeben, sie im vorliegenden Buch zu reproduzieren. Frau Dr. Veronika von Herrmann verdanken wir ihre wertvollen Vorschläge. Ihr möchten wir auch dafür danken, die alltägliche Mühe einer strengen Konfrontation mit den Texten mit uns geteilt und so die Schwierigkeiten, auf die wir unterwegs stießen, mit getragen zu haben. Ihre Hilfe und Unterstützung hat es uns erlaubt, uns auf die unternommene Arbeit zu konzentrieren, ohne davon je abgelenkt zu werden. Zudem sind wir Herrn Prof. Leonardo Messinese dafür dankbar, daß er damit einverstanden war, einen Aufsatz zu schreiben, in dem seine Sachkenntnis sowie die Seriosität seiner eigenen Forschungen uns nochmals dazu Anlaß gab, unsere Ergebnisse zu überdenken, zu denen wir auf anderen Wegen gelangten. Der Journalistin Dr. Claudia Gualdana sind wir auch für ihre Arbeit dankbar; von Anfang an hat sie das Projekt dieses Buches verfolgt, und nicht zuletzt hat sie auch die Anstrengungen einer Zusammenarbeit geteilt: ihre Seriosität und Menschlichkeit waren für uns vorbildlich. Bei Frau Anastasia Urban vom Verlag Vittorio Klostermann in Frankfurt am Main und bei Herrn Dr. Ulrich von Bülow vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar bedanken wir uns. Zustande gebracht wurde das vorliegende Buch dank des uns geschenkten Vertrauens des Verlags Morcelliana, in der Person seines Präsidenten, des Prof. Enrico Minelli, sowie in derjenigen seines Herausgebers, des Dr. Ilario Bertoletti. Mit dem Verlag Morcelliana haben wir eine Teamarbeit geleistet; dafür ist vor allem Dr. Giovanni Menestrina zu danken, dem der gesamte hier vorliegende unveröffentlichte Briefwechsel sowie die Herstellung dieses Buches anvertraut wurden: Seine Aufgabe wurde dadurch nicht gerade erleichtert, daß wir unsere Arbeit häufig revidieren und an ihr viele Veränderungen mit notwendigen Hinzufügungen vornehmen mußten. Ihm möchten wir danken, und mit ihm all jenen des Verlagshauses, die unser Projekt unterstützt und begünstigt haben. Wir danken auch für die Unterstützung von Dr. Rosa Maria Marafioti und von Dr. Chiara Pasqualin und nicht zuletzt aller Sachkundigen, die sich schon an die Arbeit der Übersetzung dieses Buches in andere Sprachen gesetzt haben, und zwar: Juvenal Savian Filho und Clio Francesca Tricarico (portugiesisch), Pascal David (französisch und deutsch), Paul Sandu (rumänisch) und George Metcalf (englisch).
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Danksagungen
Schließlich danken wir all jenen, mit denen wir so oder so ein Stück des Weges zusammengingen, und zwar: François Fédier, Vat. Mícheál Mac Craith OFM, Jean Grondin, Jeremiah Hackett, Otniel Vereș und Raluca Lazarovici Vereș (vom Verlag Ratio et Revelatio), Giampaolo Azzoni, Franco Bertossa (von der Vereinigung Associazione Spazio Interiore Ambiente), Silvano Bertossa, Alberto G. Biuso, Maurizio Borghi (cf. Libro Bianco. Heidegger e il nazismo sulla Stampa italiana [Weißbuch. Heidegger und der Nazionalsozialismus in der italienischen Presse], http://eudia.org/libro-bianco), Francesca Brencio, Pietrangelo Buttafuoco, Tommy Cappellini, Paola Coriando, Federico Della Sala, István Fehér, Loredana Flore, Dieter Foerster, Luigi Iannone, Giuditta Loiola, Marilena Lomuscio, Giuseppe Marrone, Massimiliano Marzola, Eugenio Mazzarella, Lucia Menestrina, Murray Miles, Elena Poletti, Günther Pöltner, Hans-Jörg Reck, Manuela Ritte, Helmuth Vetter, Adalgisa Villani und Pater Augustinus Wucherer-Huldenfeld. Unter den Gesellschaften danken wir herzlich ganz besonders der Wiener Martin-Heidegger-Gesellschaft und der Österreichischen Daseinsanalytischen Gesellschaft, deren Sitz auch Wien ist. Friedrich-Wilhelm von Herrmann und Francesco Alfieri
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Einleitung 17 Erstes Kapitel
Notwendige Erläuterungen zu den Schwarzen Heften 26 Über die naive Instrumentalisierung hinaus, die aufgrund der Mutmaßungen bequemer Einsichten inszeniert wurde Friedrich-Wilhelm von Herrmann
1. Vorläufige Bemerkungen über die „Schwarzen Hefte“ oder „Notizbücher“ Martin Heideggers .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Der Ursprung der Verwirrung in der Auslegung der Schwarzen Hefte . . . . . . . . . . . . . 28 3. Die Stellung von Martin Heideggers „Notizbüchern“ oder „Schwarzen Wachstuchheften“in seinem Gesamtwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4. Die Juden-bezogenen Textstellen in den Schwarzen Heften sind philosophischsystematisch belanglos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5. Warum es in Martin Heideggers seinsgeschichtlichem Denken keinen Antisemitismus geben kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 6. Größe und Bedeutung von Martin Heideggers Denkweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 6.1. Heideggers denkerische Urerfahrung von einer ,Philosophie des lebendigen Lebens‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 6.2. Heideggers Dozentenvorlesungen von 1919 bis 1923 als Weg der Ausarbeitung der hermeneutischen Phänomenologie des faktischen Lebens . . . . . . . . . . 43 6.3. Die Marburger Vorlesungen von 1923/24 bis 1928 als Weg für die Ausarbeitung des ersten Hauptwerkes „Sein und Zeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 6.4. Die Erfahrung von der Geschichtlichkeit des Seins selbst und der Weg des seinsgeschichtlichen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Zweites Kapitel Die Schwarzen Hefte 49 Historisch-kritische Analyse ohne Meinungsäußerungen Francesco Alfieri 1. Vorrede »für die Wenigen – für die Seltenen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Überlegungen II – VI – Schwarze Hefte 1931 – 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.1. Heideggers feste Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber . . . . . . . . . . . . . . 52
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Inhaltsverzeichnis 2.2. Entwurzelung, Boden und verbundene zusammengesetzte Wörter: deren »Ursprung« und un-politischer Gebrauch .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
2.2.1. Entwurzelung – trotz aller Widerstände widerstandsfähig . . . . . . . . . . . 85 2.2.2. Boden und verbundene Ausdrücke und zusammengesetzte Wörter .. 93 3. Überlegungen VII – XI – Schwarze Hefte 1938/39 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.1. Die ausdrückliche »Distanzierung« vom Nationalsozialismus und der Grund seines aktiven Schweigens .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.2. Der »neuzeitliche Mensch« gegenüber dem »zukünftigen Menschen« . . . . . . . 121 4. Überlegungen XII – XIV – Schwarze Hefte 1939 – 1941 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.1. Die nationalsozialistische Weltanschauung: die Folgen von deren »„kultur“zerstörerischen Wirkung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.2. Die unsichtbare »Verwüstung« als verborgene Voraussetzung der sichtbaren »Zerstörung« .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5. Anmerkungen IV – Schwarze Hefte 1942 – 1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.1. Heidegger das Wort erteilen: »Ich nenne dies nicht zur Verteidigung, nur als Feststellung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.2. »Selbstvernichtung«: von den Überlegungen zu den Anmerkungen . . . . . . . . . . 212 6. Postskriptum .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Drittes Kapitel
Zu den unveröffentlichten Briefwechseln von Friedrich-Wilhelm von Herrmann 231 Francesco Alfieri
1. Vorwort – Edith Stein und Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 2. Kriterien der vorliegenden Herausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3. Die drei Briefe aus dem Briefwechsel Heidegger – von Herrmann . . . . . . . . . . . . . . . . 237 3.1. Martin Heidegger an von Herrmann: Brief Nr. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 3.2. Martin Heidegger an von Herrmann: Brief Nr. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 3.3. Heinrich Heidegger an von Herrmann: Brief Nr. 3 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4. Hans-Georg Gadamer und die 1987 entstandene Farías-affaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 4.1. Gadamer an von Herrmann: Brief Nr. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 4.2. Gadamer an von Herrmann: Brief Nr. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 4.3. Gadamer an von Herrmann: Brief Nr. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
Inhaltsverzeichnis
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Epilog
Betrachtungen über den »seinsgeschichtlichen« bzw. »metaphysischen« Antisemitismus 261 Die »Judenfrage« in den Schwarzen Heften im Lichte der »Kritik an der Metaphysik« Leonardo Messinese 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 2. Einige Interpretationen des Denkens Heideggers aufgrund eines angeblichen Antisemitismus vor der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte . . . . . . . . . . . . . . 263 3. Peter Trawnys These eines seinsgeschichtlichen Antisemitismus . . . . . . . . . . . . 268 4. Die von Donatella Di Cesare vorgebrachte These eines metaphysischen Anti semitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
Martin Heidegger war kein Antisemit 279 Die Berichterstattung über meinen Vater Martin Heidegger hat sich verirrt. Er war kein Antisemit. Hermann Heidegger
Anhang Zur medienwirksamen Instrumentalisierung der Schwarzen Hefte in Italien 281 Mit einigen Notizen aus einem unveröffentlichten Gespräch mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann versehen Claudia Gualdana
Schriften von Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
Einleitung Einleitung
»Was ein totalitärer Staat ist, hat man dort [= in Italien] noch nicht ganz vergessen, und daß ein Denker wie Heidegger in jedem Falle eine säkulare Erscheinung bleibt, ist dort den Leuten durchaus klar. […] Schließlich ist ein Mann wie Heidegger nicht auf den Beifall von Dummköpfen oder der sogenannten Massen angewiesen«. H.-G. Gadamer, Brief an F.-W. von Herrmann vom 27. Januar 1988 »Wie soll eine solche pharisäische Generation, die in Frankreich wie bei uns geradezu gestreichelt wird, die Lagen von Druck aushalten und bestehen können, die eines Tages auf sie zukommen werden?« H.-G. Gadamer, Brief an F.-W. von Herrmann vom 11. April 19881
Im Titel des hier vorgelegten Buches Martin Heidegger. Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte will das Wort »Wahrheit« nicht nur auf die Richtigkeit einer Aussage hinweisen, sondern meint vielmehr »Un-verborgenheit« und »Un-verstelltheit« des von Heidegger hinterlassenen Erbes. Das Vorhaben dieses Buches besteht darin, dafür zu sorgen, daß die Manuskriptensammlung der Schwarzen Wachstuchhefte, bzw. Notizbücher, wie Heidegger sie auch nannte, in deren Wahrheit verstanden würden. Seit ihrer Veröffentlichung im Rahmen der Gesamtausgabe und sogar vor ihrem Erscheinen waren die Schwarzen Hefte, als sie das Publikum erreicht haben, von vielen Verdeckungen und Verschleierungen umgeben. Kurz vor deren Veröffentlichung wurden sie auf nationaler sowie internationaler Ebene von ihrem Herausgeber und somit von den Massenmedien, besonders von der Presse mißverstanden und als Zeugnisse von Martin Heideggers vermeintlichem »Antisemitismus« in Mißkredit gebracht. Bevor noch die ersten Bände der Schwarzen Hefte hatten in Betracht gezogen und genau untersucht werden können, hat die öffentliche Meinung die angebliche Gewißheit für bare Münze genommen, diese sämtlichen Schriften hätten keinen anderen Inhalt als antisemitische Äußerungen. Vom Anfang an la stete auf dem Inhalt dieser wenn auch noch unververöffentlichten Hefte ein interpretativer Bannstrahl, der jede andere mögliche Lesart verstellt und verfälscht hat. Die Vorgenhensweise derjenigen, die dieser verstellenden und verfälschenden Interpretation Aufschwung gaben, macht sofort deutlich, daß damit eine Instrumen1 Siehe unten (im Dritten Kapitel) den vollständigen Abdruck der betreffenden Briefe von Hans-Georg Gadamer.
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Einleitung
talisierung dieser Manuskripte geplant und inszeniert wurde, um rein subjektive Ziele zu erreichen. Anstatt einer bedächtigen Analyse der vielfachen Inhalte der Schwarzen Hefte und ihrer Stellung im Ganzen der von Heidegger hinterlassenen Manuskripte wurde der Inhalt dieser 34 Hefte mit einem einzigen abwertenden und effektvollen Stichwort gebrandmarkt, um Interesse und Aufsehen in der nationalen sowie internationalen Öffentlichkeit zu erregen und Staub aufzuwirbeln. Plötzlich wurden Heideggers Notizbücher weltweit zur Debatte und der strittige Punkt war der angebliche »seinsgeschichtliche Antisemitismus« und seine italienische Variante, der sogenannte »metaphysische Antisemitismus«. So hat man eine intrigante Debatte geführt, in die zuerst Nichtfachleute, »Nicht-Philosophen« eingriffen, die – mit der verkündeten Absicht, die Frage aufzuklären – ein dichtes Netz von Mißverständnissen aufgrund der vermeintlich unleugbaren Gewißheit eines in den Schwarzen Heften vorliegenden Antisemitismus inszeniert haben, und zwar derart, daß ein ganzes Kapitel der Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts neu zu schreiben wäre. Selbstverständlich wurde dieses Verfahren um so spürbarer, als die Öffentlichkeit es bestärkte und sich dafür einsetzte mit Unterstützung von Tageszeitungen, deren Funktion darin bestand, daß diese bequemen Deutungen breite Zustimmung finden. Kaum jemand war bereit einzuräumen, daß der »Fall Heidegger« gerade nicht im geeigneten Rahmen angegangen worden ist, sondern zum Opfer einer Beschlagnahme zugunsten anderer Gebiete geworden war. In der Tat wurde es jedermann gestattet, in den Zeitungen seine eigenen Eindrücke mitzuteilen, als wäre er indessen »Beteiligter« an der Gestaltung einer auf einem »gemeinsamen Bewußtsein« gegründeten Geschichte; nicht nur hält dieses »gemeinsame Bewußtsein« den Antisemitismus der Schwarzen Hefte für sicher, sondern darüber hinaus vermutet es, Heidegger hätte eine strategische Rolle gespielt, indem er ein mit dem Nationalsozialismus eng verwandtes Denksystem so entworfen hätte, daß er schließlich zu dessen Anstifter geworden sei. Nunmehr wird ganz offensichtlich, daß eine solche Verwirrung nur deswegen entstehen konnte, weil die Schwarzen Hefte von »Nichtfachleuten« gelesen und gedeutet wurden, die eine Debatte zu eröffnen wähnten – und statt dessen eine schwierige Lage schufen, die jedem, der bis jetzt darauf verzichtet hatte, an dieser Kontroverse teilzunehmen, klargemacht hat, wie unmöglich und sogar vergeblich es wäre, in einem so unfreundlichen Klima in die Debatte einzugreifen; in der Tat sind und bleiben die Denkschemata eines solchen instrumentalisierenden Verfahrens ohne jeglichen Bezug zu einer gründlichen philosophischen Forschung. Es war keine leichte Sache, das vorliegende Buch zustande zu bringen, und kaum hatten wir uns entschlossen, dieses Unternehmen in Angriff zu nehmen, wurden wir auch schon mancher Schwierigkeiten gewahr. Diese dem Leser hier mitzuteilen, fühlen wir uns verpflichtet. Zunächst sei Folgendes erwähnt: als wir uns im Januar 2015 einem systematischen Studium der Bände 94 bis 96 der Gesamtausgabe widmeten, wurden wir von der internationalen Presse ständig belä stigt; Presseveröffentlichungen zufolge stand es fest, daß der angebliche Antisemi-
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tismus Heideggers, sei er »seinsgeschichtlich«, sei er »metaphysisch«, der einzige Schlüssel für den Zugang jeglicher Herangehensweise an die Schwarzen Hefte sei. Das Hauptproblem bestand nicht darin, daß diese – von der Presse geförderte – Sichtweise sich soweit durchgesetzt hatte, daß sie zu einem absolut verbindlichen Gemeingut geworden war; vor einer noch größeren Schwierigkeit standen wir, die darin lag, daß diese Deutungen Heideggers Denken in seinem Kern unterminierten. So wurde jede öffentliche Rede über den »Fall Heidegger«, auf die die »Verfechter des Dialogs« sich beriefen, eine bloße Täuschung, welche nur darauf zielte, die Fachleute zu mobilisieren: damit sollte eine Aussprache geführt werden, aber tatsächlich nur um eine schon geplante medienwirksame Instrumentalisierung aufrechtzuerhalten. Die Schwierigkeit, die uns plötzlich bewußt wurde, war darauf zurückzuführen, daß, wer die These eines »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« aufstellte, den Verdacht entstehen lassen wollte, Heideggers Denkweg wäre ab 1936 in seinem gesamten philosophischen Werk von einem Antisemitismus geprägt: damit werden ernsthafte Bedenken nicht nur gegen Heidegger selbst geweckt, sondern auch mittelbar gegen jeden, der viele Jahre lang keine Mühe gescheut hat, dessen spekulativen Denkweg zu verstehen. Dieser Schatten, nämlich derjenige des »seinsgeschichtlichen Antisemitimus«, verstieß Heidegger in die Finsternis und machte ihn dafür verantwortlich, ein den politischen Denkschemata des Nationalsozialismus angepaßtes Denksystem errichtet zu haben. Der Diskurs über den »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« zielte zugleich darauf ab, die These zu bestätigen, das seinsgeschichtliche Denken sei an und für sich und bis in seine Wurzeln antisemitisch. Mit dieser grundlosen Behauptung wurde ein seltsames Mißverständnis verbreitet, und Heideggers Lage wurde noch dadurch verschlimmert, daß der sogenannte und so verstandene »seinsgeschichtliche Antisemitismus« von einigen Gelehrten denunziert und zu einem neuen Forschungsfeld für Philosophie erklärt wurde. Als gegen diese sinnlose Behauptung eingewandt wurde, daß die Juden-bezogenen Textstellen weder einen wesentlichen Bestandteil noch eine spekulative systematische Behandlung im Zusammenhang des seinsgeschichtlichen Denkens darstellen, hat der deutsche Herausgeber der Schwarzen Hefte ganz im Gegenteil behauptet, Heideggers seinsgeschichtliches Denken sei »systematisch« antisemitisch. An einer Universität der Vereinigten Staaten hat er zudem die These einer Dualität des Esoterischen und des Exoterischen vorgebracht und ist sogar so weit gegangen, daß er die These aufstellte, man bräuchte nur unter die exoterische Schicht der Texte von Heidegger zu schauen, um einen esoterischen Kern zu entdecken, der nichts anderes als Antisemitismus sei. Leider hat keiner der bei dieser Gelegenheit anwesenden amerikanischen Professoren den Vortragenden gebeten, auch nur ein Beispiel aus den betreffenden seinsgeschichtlichen Texten als Beweis für Heideggers sogenannten esoterischen Antisemitismus anzuführen: ganz typisch ist in diesen klischeehaften Behauptungen, daß keine konkreten Beweise durch den Verweis auf präzise Textstellen vorgelegt werden. Ein Vorwurf ähnlich dem des »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« Heideggers ist die in Italien vorgebrachte ähnliche Anschuldigung der Idee eines »metaphysischen Antisemitismus«, der auf die deutsche Philosophie und insbesondere
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auf die Reihe der Denker von Kant bis Nietzsche zurückzuführen sei, um mit Heidegger seinen Gipfelpunkt zu erreichen. Die sieben zwischen 1936 und 1944 verfaßten großen seinsgeschichtlichen Abhandlungen, beginnend mit den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) und abschließend mit Die Stege des Anfangs, beweisen dagegen, daß weder das fundamentalontologische Denken in Sein und Zeit noch das daraus hervorgegangene seinsgeschichtliche Denken in ihrem jeweiligen Aufbau und ihren inneren Gliederungen so etwas wie eine antijudaistische oder antisemitische Stellungnahme beherbergen. In den im Rahmen der Gesamtausgabe noch unveröffentlichten Bänden (deren Inhalt uns bekannt ist, sofern F.-W. von Herrmann Hauptmitarbeiter dieser Gesamtausgabe ist) ist auch keine Textstelle zu finden, die sich auf die Juden bezöge. Die sich auf den »metaphysischen Antisemitismus« berufenden Stellungnahmen stützen sich auf gelegentliche antijudaistische Aussagen, die wohl hie und da in Texten dieser Philosophen – aber niemals in ihren jeweiligen großen systematischen Abhandlungen – zu finden sind. Die Hervorhebung derartiger aus einem konfessionellen Motiv hervorgegangenen Äußerungen, um die Philosophien von Kant, Fichte, Schelling und Hegel als »metaphysisch antisemitische« Philosophien zu verleumden, ist kein echtes philosophisches Vorgehen, sondern nur ein von einer strengen Auffassung der spekulativen Philosophie weit entferntes ideologisches Vor-urteil. Eine solche Philosophie stellt keineswegs eine Weltanschauung dar, sondern ein geschlossenes begriffliches Gefüge, das von seinem Wesen her so etwas wie einem Antisemitismus keinen Zutritt zuläßt, welcher Gattung er auch immer zugehören möge. Das gilt auch für das hermeneutisch-phänomenologische seinsgeschichtliche Denken, das nicht aus verschiedenartigen vermischten Gedanken bestehen kann. Mit Rücksicht auf die in Deutschland aufgetretene verfälschende Auslegung ergibt sich, daß die eben erwähnte Stellungnahme in ihrem Aufbau noch viel radikaler ist: in Heidegger selbst als dem Kritiker der Metaphysik will sie einen Denker sehen, der im Juden den Inbegriff einer gleichfalls zu bekämpfenden und von Grund auf zu widerlegenden Metaphysik sieht. So wird unberechtigterweise dem Juden ein metaphysisches Wesen zugeschrieben, das ihn in eben diese Metaphysik einreihen soll, die Heidegger mit aller Kraft abgelehnt hat. Für seine Befürworter sind sowohl der »seinsgeschichtliche« wie auch der »metaphysische Antisemitismus« für sicher gehaltene Ansichten, die keines Beweises mehr bedürfen. Diesen Gewißheiten gegenüber wollten wir auf Heidegger zurückgehen, und dann waren wir uns darüber im klaren, daß beide Stellungnahmen keine nachweisbare Belegstelle in Heideggers Texten beanspruchen können. Unser Buch legt ganz bewußt philologische Zeugnisse vor, und damit wird dessen Zugänglichkeit dem Leser nicht erleichtert. Auch machen wir keinen Hehl aus der Schwierigkeit der Texte Martin Heideggers. Wie dem auch sei, dürfen die Schwarzen Hefte nicht mit bloßen Veranschaulichungen und sensationsgierigen Brandmarkungen angegangen werden. Wir beabsichtigen nicht, jemanden zu überzeugen oder einen »Konsens« zu finden: dies ist nicht die Richtung, die Heidegger
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in seinem spekulativen Denkweg einschlug – und eben deswegen sind wir um so weniger dazu geneigt, in diese Richtung zu gehen. Jede »Zustimmungslogik« ist uns fremd, und Werturteile über Personen und deren Arbeit scheinen uns vollkommen unangebracht zu sein. Beleidigende Anspielungen, die den Nachlaßverwaltern von Martin Heidegger und dessen letztem Mitarbeiter im Laufe der letzten Jahre nicht erspart blieben, haben auch Raum in den Blättern der sie verbreitenden Tageszeitungen gefunden, wo abscheuliche – und völlig unbegründete – Urteile, wie auch in manchen Büchern, zu lesen waren. Auf derartige Provokationen können wir und wollen wir gerade nicht antworten: zu einer Zeit, da gewisse »kulturelle« Kreise ihre Leserschaft mit solchen Äußerungen speisen, deutet dies daraufhin, daß die beanspruchte philosophische Tiefe der von einigen geförderten bequemen Auslegungen kein überzeugendes Argument ist. Als wir zur Kenntnis nahmen, daß der ersehnte Weg des Dialogs gerade von denjenigen versperrt war, die ihn fördern wollten, wurde uns klar, daß deren Auslegungen und Stellungnahmen nur dann aufrechterhalten werden könnten, solange sie in sich selbst zurückgezogen blieben. Durch eine echte Debatte würde ihr mühsam errichtetes Kartenhaus sofort in sich zusammenstürzen – einer solchen Gefahr sollte man sich vorzugsweise nicht aussetzen, zumal wenn man mit seinen autoreferentiellen Grundüberzeugungen überleben will. In unserem Buch soll der Leser eine Möglichkeit finden, zur Vielschichtigkeit der Schwarzen Hefte zu gelangen. Hier verfügt der Leser über die Möglichkeit, Heideggers wirkliche Beteiligung am Nationalsozialismus zu begreifen, und zu verstehen, warum er es vermied, sich dem damaligen Regime öffentlich entgegenzustellen. Hier soll ihm auch klar werden, wie dessen Täuschung über die »Bewegung« in ihren Anfängen einer zweiten Täuschung zuzuschreiben ist, und zwar derjenigen, nach der eine »Selbstbehauptung der deutschen Universität« dann möglich gewesen wäre. Fragen über Fragen – und es wären noch einige mehr zu stellen, die jedesmal in ihre jeweiligen Kontexte einzuordnen sind und uns eine in gewisser Hinsicht noch wenig bekannte Seite von Heidegger wiedergeben. Eben deswegen fällt diese Seite des öfteren ungefähren Auslegungen zum Opfer, und zwar deshalb, weil letztere so jeglichen Bezugs auf Textstellen ermangeln. Aufgrund der von uns allmählich erreichten Ergebnisse und vor allem nach der Veröffentlichung im Jahre 2015 des Bandes 97 der Gesamtausgabe haben wir darüber hinaus unsere Forschungen in Bezug auf den Begriff der Selbstvernichtung intensivieren müssen. Es mußte der Tatsache Rechnung getragen werden, daß verschiedene und vielfältige Deutungen dieses Terminus die öffentliche Meinung inzwischen gelenkt und zu katastrophalen und oft frei erfundenen Lesarten Anlaß gegeben hatten. Der übrigens schon im Band 96 bezeugte Begriff der Selbstvernichtung wurde zu einem zu lösenden Knoten, und dem Leser muß klar werden, daß ohne ständige Hinweise auf die Beiträge zur Philosophie Heideggers Sprachgebrauch in den Schwarzen Heften unverständlich bleibt. Heidegger macht Gebrauch von der sprachlichen Begrifflichkeit des seinsgeschichtlichen Denkens, die einem unbegreiflich bleibt, solange man sich in dieser Fragestellung nicht zurechtfinden kann
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und mit den Grundbegriffen der Beiträge nicht vertraut geworden ist. In gewissen Punkten begreift man nämlich, wie Heideggers Kritik am Nationalsozialismus durch subtile Andeutungen zum Ausdruck kommt, und zwar im Gebrauch einiger Wörter, die je nach Kontext manchmal sehr vieldeutig sind. So wird zum Beispiel vernehmbar, daß manche Begriffe einem Bedeutungswandel unterliegen, wobei deren jeweilige Bedeutungen sich umkehren: diese Umkehrung spiegelt Heideggers Vorgehensweise wider, die immer auf etwas anderes verweist, wobei der volle Wortsinn über die wörtliche Bedeutung hinausgeht. Heideggers Geschicklichkeit in diesem sprachlichen Umgang kann oft den unkundigen Leser irreführen, und die Schwierigkeit beim Verständnis liegt darin, daß man immer wieder auf dessen Werke zurückgreifen muß, um den Sinn der in den Schwarzen Heften enthaltenen Äußerungen verstehen zu können. Demzufolge ist es wichtig, auf die Stellungnahmen zurückzukommen, die einen »Medienrummel« auslösten, um feststellen zu können, wie schwer es seinen Anstiftern fällt – geschweige denn seinen Befürwortern –, diese ausgeheckte Instrumentalisierung noch aufrechtzuerhalten. Die insgesamt vierzehn Textstellen, die sich in den Bänden 95, 96 und 97 der Gesamtausgabe auf die Juden oder auf das Weltjudentum beziehen, machen kaum drei Seiten im Format DIN A 4 aus im Vergleich zu den 1245 Seiten dieser Bände. Alle Stichwörter, mit denen Heidegger sich auf die Juden und auf das Weltjudentum bezieht, stammen aus der Begrifflichkeit, die die neueste Neuzeit kennzeichnet, und gehen auf seine Kritik an der Neuzeit zurück. Daher stellt es sich klar heraus, daß die Kennzeichnung des neuzeitlichen Judentums sich nicht spezifisch auf die Juden bezieht, sondern für alle Menschen und Völker gilt, die im Geiste der Neuzeit leben. Die Weise, in der in diesen wenigen, von Hermann Heidegger zu Recht als »Rand«bemerkungen bezeichneten Textstellen von Juden und Weltjudentum die Rede ist, fällt unter Heideggers Auseinandersetzung mit der Neuzeit im Rahmen der Seinsgeschichte. Demzufolge ist das Einordnen der Juden-bezogenen Textstellen in die Rubrik Antisemitismus oder geradeheraus »seinsgeschichtlicher Antisemitismus«, wenn nicht, schlimmer noch, »metaphysischer Antisemitismus«, einer völligen Verwirrung zuzuschreiben. Die in den drei erwähnten Bänden zu findenden Juden-bezogenen Textstellen legen weder einen »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« noch irgendeine Form von Antisemitismus offen. Es sei nochmals betont: der kritische Ton der betreffenden Textstellen kommt in erster Linie aus der Heideggerschen seinsgeschichtlichen Kritik an der Neuzeit. Heideggers seinsgeschichtliches Denken bzw. Ereignis-Denken hat mit einem ideologisch-politischen Denken nichts zu tun, vom Standpunkt seiner begrifflichen Herkunft aus ist es ein spekulativ-phänomenologisches Denken. Wer es anders verstehen will, verrät eben damit, daß er vom spekulativen Standpunkt aus nicht imstande ist, das seinsgeschichtliche Denken aufzuzeigen, wie es aus einer Wandlung des hermeneutisch-phänomenologischen Denkens der Fundamentalontologie von Sein und Zeit hervorgeht, und auch nicht imstande ist, ihm zu folgen.
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Seit seinen ersten Anfängen (1916) ist das Denken Martin Heideggers von jedem biologistisch-rassistischen Denken so weit wie möglich entfernt. Sein Forschungsfeld blieb jahrzehntelang unverändert, nämlich: zu fragen, worin das lebendige Leben besteht, das er als faktisches Leben interpretiert, als faktisches Dasein in seinem transzendentalen Bezug zur Erschlossenheit als Wahrheit des Seins und als Da-sein in seinem ereigneten Bezug zu der sich ihm er-eignenden Wahrheit des Seins. Aufgrund seiner aus der Daseinsanalytik von Sein und Zeit hervorgehenden seinsgeschichtlichen Überlegungen übt Heidegger in den dreißiger und vierziger Jahren eine heftige Kritik am Nationalsozialismus, den er als »barbarisches Prinzip« bestimmt, und macht keinen Hehl aus seiner Gegnerschaft gegen Hitler und gegen dessen »Wahnsinn«. Im Band 97 notiert er beispielsweise »das unverantwortliche Unwesen, mit dem Hitler in Europa umhertobte«, da erwähnt er »den verbrecherischen Wahnsinn Hitlers« und stellt auch fest, »daß um 1933 manche ›Intellektuelle‹ nicht sogleich das verbrecherische Wesen Hitlers erkannten«. Hinsichtlich der Juden schrieb er in einem Brief vom 9. Februar 1928 an seine Gattin Elfride: »Freilich: die Besten sind – die Juden«. Das galt seinen Studenten der Universität Marburg. Diese Textstellen, und die zahlreichen weiteren kritischen Bemerkungen, in denen eine scharfe und heftige Kritik am Nationalsozialismus zum Durchbruch kommt, werden weder von den Sprachführern der Heidegger vorgeworfenen Anschuldigung des Antisemitismus noch von den Interpreten selbst berücksichtigt, die in letzter Zeit die öffentliche Meinung beherrscht – und gelenkt haben, und zwar so weit, daß sie Heidegger ersetzen wollten und den Fehler begingen, die Schwarzen Hefte willkürlich umzuschreiben. All diese Stellen wurden absichtlich außer acht gelassen und totgeschwiegen zugunsten der schon geplanten Instrumentalisierung der Schwarzen Hefte. Die wissentlich provozierte und gezielte Debatte über Heidegger und die Schwarzen Hefte bot infolgedessen – und bietet noch – den Anblick von unwürdigen Angriffen: es handelt sich tatsächlich um unverschämte Anschuldigungen, die nicht nur in den Medien erschienen, sondern sogar in Veröffentlichungen einiger Universitätsprofessoren, die als solche dazu berufen sind, mit Verantwortungsbewußtsein im Dienste der Wahrheit zu stehen, und statt dessen mit all ihrem »Betrieb« nur zeigen, daß ihnen Anstand und akademisches Ethos durchaus fehlen. Martin Heidegger ist und bleibt für alle Zukunft ein großer Denker, mit dem keine politisch-ideologische, sondern nur eine philosophische Auseinandersetzung möglich ist, so wie man sich auch mit den Denkern der Vergangenheit rein sachlich und wissenschaftlich auseinandersetzt. Vorliegende Erwägungen wollen eine Warnung sein, um die Intellektuellen daran zu erinnern, daß sie ihre Ergebnisse dem Sieb der Kritik unterwerfen sollten, so daß mit Verantwortungsbewußtsein auf Heidegger zurückgegangen werden kann, ohne bequeme Interpretationen vorzubringen, die tatsächlich das jüdische Volk unberechtigterweise instrumentalisieren. Ein derartiges Vorgehen ist unannehmbar und verletzt die Würde eines Volkes, das den grauenhaften Wahnsinn Hitlers so
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ungerechterweise erlitten hat: mit diesem Volk erklären wir uns heute solidarisch, nicht aber mit dieser oder jener Instrumentalisierung auf dessen Kosten. Wir halten es für ratsam, nochmals die Aufmerksamkeit des Lesers darauf zu lenken, daß der von Hitler entfesselte Wahnsinn und dessen grausame Politik von Heidegger in den Überlegungen und Winken der Schwarzen Hefte herb und heftig verurteilt werden. Damit wird bestätigt, wie weit er vom Nationalsozialismus entfernt war. Unannehmbar sind demzufolge sowohl das bewußte Totschweigen dieser Textstellen aus den Schwarzen Heften – und insbesondere derjenigen, die im Band 97 der Gesamtausgabe zu finden sind – wie auch jene Interpretation der Intellektuellen, die heutzutage die Schlagzeilen der Zeitungen bestimmen und Heideggers Philosophie verfälschend benutzen, ohne ihre Theorien rechtfertigen zu können: deren organisierte Instrumentalisierung kann zukünftig nicht fortbestehen und ist auch dazu bestimmt, bald auszusterben. Die Dürftigkeit dieser Instrumentalisierung wird im vorliegenden Buch in der Untersuchung von Leonardo Messinese nachgewiesen. In dieser Untersuchung wird ans Licht gebracht, wie die These des »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« sowie diejenige seiner Variante, des »metaphysischen Antisemitismus« unbegründet sind, sogar in der Argumentationsweise ihrer jeweiligen Verfechter selbst, die dessen ungeachtet die unleugbare Gewißheit eines in diesen Manuskripten angeblich vorhandenen Antisemitismus immer noch vorbringen. Unter einem anderen Gesichtspunkt wird im Beitrag der Journalistin Claudia Gualdana schwarz auf weiß gezeigt, wie der Fall Heidegger mit aufeinanderfolgenden Ungenauigkeiten von einer Tageszeitung zur anderen zog, und wie eben dadurch eine ganze Reihe von Deutungen entstand, die unterwegs den Denker Heidegger und den wirklichen Inhalt seiner Äußerungen aus den Augen verlor. Es erwies sich als notwendig, auch einige Briefe aus dem – noch nicht veröffentlichten – privaten Briefwechsel mit Heidegger und Hans-Georg Gadamer in dieses Buch einzufügen, denen zu entnehmen ist, daß die Instrumentalisierung eines Denkers nicht erst seit gestern auftrat. Gadamer selbst gehört zu den Kronzeugen einer derartigen Instrumentalisierung, wie sie 1987 vom Chilenen Victor Farías geführt wurde. Die Betrachtungen, die dieser Briefwechsel enthält, mahnen nachdrücklich, wie riskant es ist, auf Abwege zu geraten, die die Interpreten vom wahrhaften Sinn der wirklichen Absichten Heideggers weit entfernen. Will man die Denker der Vergangenheit um jeden Preis ersetzen, dann wiederholt sich die Geschichte; im vorliegenden Fall werden wir letztlich zu »naiven Repetitoren« – bestenfalls mit einer Variation über dasselbe Thema – der zu seiner Zeit von Farías ausgelösten Kontroverse. Als der Lärm des leeren Geredes vergebens wähnte, die Kraft zu haben, die Ruhe der Forschung zu übertönen, schien es uns, daß unsere Arbeit denjenigen hilfreich sein könnte, die ein wesentliches Fragen für erforderlich halten: so werden wir in unserem vorliegenden Buch die Ergebnisse unserer Forschung dem Leser und der wissenschaftlichen Gemeinschaft vorlegen, in der Hoffnung, dadurch ein echtes Fragen hervorrufen zu können.
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Beim Korrekturlesen dieses Buches fühlten wir uns verpflichtet, die Ergebnisse unserer Forschung der Familie Heidegger mitzuteilen. Das geschah in Freiburg i. Br. am 4. Januar 2016, als wir im Rahmen eines privaten Treffens dem Rechtsanwalt Arnulf Heidegger den Inhalt unserer Arbeit vortrugen und ihm dann mitteilten, mit welcher Leichtfertigkeit die Schwarzen Hefte von denjenigen instrumentalisiert wurden, die Heideggers seinsgeschichtliches Denken überhaupt nicht kennen oder gar nicht beachten. Um den Sinn vieler Äußerungen der Schwarzen Hefte zu begreifen und ohne hermeneutische Gewalt deren Inhalt in ihren jeweiligen Zusammenhang einzuordnen, blieb uns einzig und allein als Weg übrig, auf Heidegger selbst zurückzugehen. Damit wird unseres Erachtens den noch umlaufenden, aber ungültigen und unbegründeten Instrumentalisierungen ein Ende gesetzt. So schwimmen wir ganz bewußt gegen den Strom. Schon gelten wir als im Andenken an den Philosophen übereifrige Hüter. Dessenungeachtet wäre es unverantwortlich gewesen, einfach zu schweigen – wie es Heidegger selbst mit Entschlossenheit zu seiner Zeit notierte. Dem Leser möge klar werden, wie auf dem hier verfolgten Gedankenweg es keinem anderen als Heidegger zukommt, mit seinen Überlegungen seinen eigenen Weg zu bahnen. Ob es uns gelungen ist, einen erheblichen Teil des Vielen noch unbekannten Schicksals der Schwarzen Hefte festzuschreiben – darüber machen wir uns keine zu großen Sorgen. Den 27. Januar 2016, am Tag des Gedenkens Friedrich-Wilhelm von Herrmann und Francesco Alfieri
Erstes Kapitel
Notwendige Erläuterungen zu den Schwarzen Heften Über die naive Instrumentalisierung hinaus, die aufgrund der Mutmaßungen bequemer Einsichten inszeniert wurde Friedrich-Wilhelm von Herrmann
1. Vorläufige Bemerkungen über die „Schwarzen Hefte“ oder „Notizbücher“Martin Heideggers Die „Schwarzen Hefte“, die so nur nach ihrem Einband bezeichnet sind und die von Heidegger in seinem 1937/38 verfaßten „Rückblick auf den Weg“ „Notizbücher“ genannt werden, bilden keine „eigene Gattung“ im strengen Sinne, sondern sind eben „Philosophische Notizbücher“, die seit 1931 sein seinsgeschichtliches Denken begleiten. In diese wurden von ihm eingetragen: 1. die von Zeit zu Zeit ihm zufallenden, sich bei ihm einstellenden Gedanken-Splitter oder Gedankenzüge, die nicht in die gleichzeitig entstehenden Vorlesungs-, Vortrags- und Abhandlungs-Manuskripte gehören und die deshalb in die „Notizbücher“ aufgenommen, in diesen festgehalten wurden. Auf dem Nachttisch neben seinem Bett lagen Papier und Stift, um die während der schlaflosen Zeiten sich einstellenden philosophischen Gedanken schnell zu notieren, die dann am nächsten Tag in das Notizbuch mit sorgfältiger Schrift eingetragen wurden. Was ich jetzt unter 1. genannt und kurz beschrieben habe, ist der eigentliche, der Hauptzweck der angelegten Notizbücher. 2. trug Heidegger nun auch solche Gedanken in die Notizbücher ein, die zu seinen persönlichen Ansichten, Auffassungen oder Überzeugungen gehören; ,persönlichen‘, weil sie unterschieden sind von jenen unter 1. genannten Gedanken splittern oder kleineren Gedankenzügen. Zu diesen persönlichen oder privaten Ansichten gehören u.a. seine auf den Nationalsozialismus und auf die Juden bzw. das Weltjudentum bezogenen Äußerungen. Dadurch, daß Heidegger den zunächst rein seinsgeschichtlich gedachten Begriff des „rechnenden Denkens“ in einer betonten Weise auf das Jüdische bezieht, kommt es zu der fatalen ,Vermischung‘, die den Eindruck erweckt, daß das seinsgeschichtliche Denken als solches eine Affinität zum ,Antisemitismus‘ habe. Und von hier aus wird zumindest das ganze spätere
1. Vorläufige Bemerkungen über die „Schwarzen Hefte“ oder „Notizbücher“
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Denken Heideggers verdächtigt und verworfen; zu diesem Thema ersuche ich den Leser, die eingehende Untersuchung von Francesco Alfieri nachzuvollziehen, in der er feststellen kann, daß ein derartiger „Verdacht“ durch keine Textstellen bewiesen ist. In der Rückkehr zu den Schriften Heideggers liegt das einzige hermeneutische Entschlüsselungsschema, mit dem jede „naive Interpretation“ leicht zu widerlegen ist – wobei „naiv“ das erzielte Resultat eines oberflächlichen Zusammenziehens mancher Anmerkungen von Heidegger bezeichnet, was unvermeidbar zu grundlosen und unberechtigten Ergebnissen führt. Heideggers Bemerkungen zur „Moderne-Diagnose“ gehören in die Grundzüge des seinsgeschichtlichen Denkens, das in sich streng, systematisch gefügt ist. Das, was ich das reine Denken Heideggers nenne, ist das Gedanken- und Begriffsgefüge so, wie es in den „Beiträgen zur Philosophie“1 und im Anschluß an diese in den folgenden Abhandlungen dargestellt ist. Dieses ist allerdings streng zu scheiden von dem, was ich Heideggers ,private‘ Ansichten und Überzeugungen nenne, seine private politische Anschauung in den 30er Jahren, die in keinem sachlich-systematischen Zusammenhang mit dem reinen Gedankengefüge des ereignisgeschichtlichen Denkens steht. Dadurch daß ein Begriff des ereignisgeschichtlichen Denkens wie der des ,rechnenden Denkens‘ auf das Jüdische bezogen wird, wird der reine seinsgeschichtliche Begriff ,nicht antisemitisch‘. Das seinsgeschichtliche Denken hat seine Herkunft aus dem fundamentalontologischen Denken, und die Art dieser Herkunft läßt sich denkerisch sehr genau nachzeichnen, was ich in meinen Veröffentlichungen wiederholt getan habe. Solange Heideggers Bemerkungen zu seinen „Moderne-Diagnosen“, also zum „rechnenden Denken“ ohne Bezugnahme auf die ,Juden‘ in den „Notizbüchern“ auftauchen, gehören sie zum ,reinen‘ Denken Heideggers. Politisch-privat werden sie erst dann, wenn er sie und wie er diese auf die ,Juden‘ bezieht. Die Grenze, die ich zwischen dem reinen Denken Heideggers und seinen privaten persönlichen Äußerungen ziehe, verläuft auch für mich nicht zwischen den Schwarzen Heften einerseits und den anderen Texten Martin Heideggers andererseits, sondern diese Grenze verläuft durch die „Notizbücher“, weil diese Notizbücher auch sehr vieles enthalten, was ich unter 1. genannt habe und was zum reinen, seinsgeschichtlichen Denken gehört, während das unter 2. Erwähnte die persönlich-privaten Anschauungen sind, die auch nicht rein quantitativ das Übergewicht gegenüber den zu 1. gehörenden Eintragungen haben. Alles, was zu 2. gehört, ist für mich völlig verzichtbar!
1 Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: Gesamtausgabe, Bd. 65, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klostermann, Frankfurt a. M. 1989.
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1. Kap.: Notwendige Erläuterungen zu den Schwarzen Heften
2. Der Ursprung der Verwirrung in der Auslegung der Schwarzen Hefte Im Jahre 2014 wurde noch die Diskussion darüber fortgesetzt, ob das Denken Martin Heideggers mit der national-sozialistischen Propaganda verbunden sei; aber diesmal erreichte die Verwirrung insofern ihren Höhenpunkt, als Peter Trawny, der Herausgeber der „Schwarzen Hefte“, „Beweise“ vorbrachte, die eine Verwicklung Heideggers bestätigen sollen; aufgrund ausgewählter Texte solle nachgewiesen werden, daß dem Denken Heideggers nicht nur ein ganz bestimmter national-sozialistischer Anklang zuzuschreiben sei, sondern daß sein Denken als Urheber des Antisemitismus zu betrachten sei, oder besser gesagt: daß dessen Denken sich gegen die Juden stellte, die sich einer Rückkehr zur Geschichte des Seins in den Weg stellten; so wäre dessen Zurückweisung der Juden einem „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ zuzuschreiben. Um wissenschaftliche Ansprüche zu erheben, bedarf freilich eine derartige Interpretation eine von den Texten Heideggers ausgehende hermeneutisch-philosophische Arbeit; ansonsten läuft sie Gefahr, zu Deutungen zu gelangen, die von den Absichten des Philosophen erheblich abweichen. Ein weiterer Beweggrund, um die Schriften Heideggers in einer systematischen Weise eingehender zu studieren, und dabei dem Leser einen Gedankenweg vorzuschlagen, der nur von dem ausgeht, was Heidegger uns tatsächlich hinterlassen hat, wobei die in Frage stehenden „judenbezogenen Textstellen“ immer in den jeweiligen historischen Kontext einzufügen sind. Damit soll vor allem eine eingehende Untersuchung der Überlegungen Heideggers durchgeführt werden: alle diese Bestandteile sind unentbehrlich, um eine wissenschaftliche Arbeit anzugehen, die mit der politischen Instrumentalisierung und den „naiven“ Einsichten von Peter Trawny nichts zu tun hat. Wohl ist dieser unbedingt erforderliche zu vollziehende hermeneutische Gedankenweg für beide Autoren des vorliegenden Buches besonders anstrengend gewesen. Wir haben uns eine mühsame Arbeit zugemutet, indem wir uns immer wieder auf die Quellen Heideggers zurückbezogen haben, besonders wenn Auslassungen, die für die Auslegungen von Trawny charakteristisch sind, auf den ersten Blick zu sehen waren, und damit wurde uns klar, daß wir mitten in einer politischen „Instrumentalisierung“ des Denkens von Heidegger steckten. In der Tat zielten dessen Auslegungen darauf ab, wie ein Resonanzkörper für „andere Fragmente“ zu wirken, die wiederum nur im Zusammenhang mit den Auslassungen der willentlich totgeschwiegenen Texte verständlich waren. Deswegen mußten wir unsere Forschung intensivieren, weil Heideggers durchsichtige Argumentation uns dazu zwang, in der Auslegung der Texte einen hermeneutischen Gedankengang zu verfolgen, sofern uns daran lag, zu den Quellen zurückzukommen, und zwar dabei die phänomenologische Epoché in die Praxis umzusetzen. Unsere Absicht ist demzufolge, ein Forschungsmaterial zustandezubringen, das dem Leser hilfreich sein möge; allerdings geht es nicht darum, Heidegger „konservativ“ zu „verteidigen“ oder dessen Gedenken zu ehren. Derartige Fragen bzw. Einordnungen sind nicht dazu geeignet, einer ausgewogenen Auseinandersetzung stattzugeben. Damit werden nur Hindernisse in den Weg der heutigen Forschung gestellt,
2. Der Ursprung der Verwirrung in der Auslegung der Schwarzen Hefte
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die, sobald sie aufhört, „Ergebnisse“ in Frage zu stellen, unbewußt zur Kehrseite des totalitären und instrumentalisierenden Denkens wird. Jetzt möchte ich aber den Leser beim Durchschauen des Herausgebers der Schwarzen Hefte und dessen eigener Geschichte begleiten, denn auch aus einer persönichen Geschichte sind manche Elemente zu entnehmen, die uns mithelfen, die Herkunft der getroffenen „Entscheidungen“ besser zu verstehen. Peter Trawny habe ich bald nach seiner Wuppertaler Promotion (1995) und dem Erscheinen seiner Dissertation „Martin Heideggers Phänomenologie der Welt“2 kennengelernt. Da er der Schüler des hochgeschätzten Kollegen Klaus Held war, bin ich ihm mit einem Vertrauensvorschuß entgegengetreten. Im Lauf der Jahre – auch auf Bitten von Klaus Held – habe ich Peter Trawny zu fördern versucht, z.B. durch ein Gutachten für seine Ernennung zum (unbezahlten) Außerplanmäßigen Professor 6 Jahre nach seiner Habilitation (2000) mit der Habilitationsschrift „Die Zeit der Dreieinigkeit, Untersuchungen zur Trinität bei Hegel und Schelling“3. Der „hermeneutische Irrtum“, den Peter Trawny in seiner „persönlichen“ Deutung einiger Textstellen begangen hat, wobei er zu einem fatalen Mißverständnis der Schwarzen Hefte geführt wurde, hat mich zuerst verwundert. Ich habe mich dann entschlossen, das Schweigen zu brechen, als mir klar wurde – und zwar im Laufe der Zusammenarbeit mit Alfieri –, daß Trawny eine ganze Reihe von in strumentalisierenden Deutungen ausgelöst hatte, die in der rücksichtslosen Suche nach einem Konsens nur darauf abzielten, einen machenschaftlichen Gedankenbau gewissermaßen zu errichten, dem keine Texte von Heidegger zugrundeliegen. Dar über war ich mir ganz im klaren, als ich dessen gewahr wurde, daß er verzweifelt versuchte, den Konsens weiterer „Kollegen“ zu finden. Freilich ist es nicht die Vorgehensweise von jemand, der verantwortungsvoll den Nachweis dessen erbringt, was er vorbringen will. Nach der Verwunderung habe ich dann die Entscheidung getroffen, verantwortungsvoll und entschieden zu reagieren, um dem Leser mitzuhelfen, sich aus dieser Verwirrung zu befreien. Dazu war die Rückkehr zu den Texten Heideggers und zum systematischen Studium der Quellen erforderlich. Auf Verwunderung kam Enttäuschung, da ich seit längerer Zeit davon überzeugt gewesen war, Trawny sei die richtige Person, um sich mit der kritischen Herausgabe der Schwarzen Hefte zu befassen. Peter Trawny hatte ich geholfen, da er bis zum heutigen Tage im Alter von 51 Jahren mit keiner bezahlten aktiven Professur ausgestattet ist, zugleich aber Ehefrau und Kind zu versorgen hat. So habe ich der familiären Nachlaßverwaltung Martin Heideggers, Herrn Dr. Hermann Heidegger und seinem Sohn, Rechtsanwalt Arnulf Heidegger, nachdem sie gegen Martin Heideggers und meinen Willen den Zeitpunkt des Erscheinens der Schwarzen Hefte vorgezogen haben, Peter Trawny als Herausgeber der insgesamt 9 Bände der Schwarzen Wachstuchhefte empfohlen, um seine finanzielle Notlage zu mildern. Aufgrund seiner bis 2012 vorgelegten Editionen innerhalb der Gesamtausgabe und 2
Alber-Verlag, Freiburg/München 1997. & Neumann Verlag, Würzburg 2002.
3 Königshausen
1. Kap.: Notwendige Erläuterungen zu den Schwarzen Heften
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Publikationen meinte ich, ihm, der ein »Heideggeranhänger« war, auch charakterlich uneingeschränkt vertrauen zu können. In der bisherigen 40-jährigen Veröffentlichungsgeschichte der Martin Heidegger – Gesamtausgabe hatte es noch keinen Fall gegeben – Martin Heidegger hat begleitende Interpretationen seitens eines Editors untersagt –, daß einer der Herausgeber parallel zum Erscheinen des von ihm herauszugebenden Bandes ein mit dem Anspruch einer Interpretation auftretendes Buch veröffentlicht hat. Trawny setzt sich darüber hinweg und schreibt ein Buch dazu, das Martin Heideggers gesamten späteren seinsgeschichtlichen Denkweg von 46 Jahren falsch versteht und desavouiert. Mit diesem völlig unphilosophischen Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“4 verbindet der Verlag Klostermann die Absicht, sich öffentlich von Martin Heideggers Äußerungen über die Juden und das Weltjudentum in drei Bänden der Schwarzen Wachstuchhefte zu distanzieren. Auch ich distanziere mich davon, aber nicht um den Preis der Desavouierung des hochbedeutsamen Werkes eines großen Denkers, in dem sich diese Äußerungen nicht finden und die keine Bausteine des seinsgeschichtlichen Gefüges sind. Hier irren noch mehr Professoren als nur Trawny, wenn sie das seinsgeschichtliche Denken von den politischen Notizen Heideggers her zu verstehen suchen. Darüber möchte ich den Auszug eines Briefes zitieren, den Alfieri mir im August 2015 aus Brasilien zusandte, in dem er sich auf manche Ergebnisse seiner hermeneutischen Arbeit bezieht: »Das Grundproblem liegt gerade darin: hätte sich Trawny von demjenigen beraten lassen, der sich seit Jahren um die Gesamtausgabe der Schriften von Heidegger kümmert, dann hätte er vermieden, in Fehlinterpretationen zu verfallen, die nun bezeugen, daß er nicht imstande ist, eine Ausgabe, die ihm anvertraut worden war, aufgrund wissenschaftlicher Kriterien zustande zu bringen. Schlimmer noch – und dafür soll der Beweis in der hermeneutischen Arbeit erbracht werden, die ich jetzt durchführe – ist die Tatsache, daß Trawny eine ganze Reihe von geschichtlich-hermeneutischen Elementen entgehen, so daß die Gefahr besteht, er könnte das ganze Denken Heideggers und jede mögliche Interpretation manipulieren. Vorwegnehmend möchte ich behaupten, daß, über Heideggers Kritik an der „national-sozialistischen Scheinphilosophie“ und Distanz zu ihr hinaus, manche Beleidigungen bei Heidegger, die nach Trawny sich auf die Juden bezögen, sich gar nicht auf die Juden beziehen. Trawnys instrumentalisierende Leistung ist nicht nur unbegründet, sie könnte auch als Verleumdung gelten gegenüber der jüdischen Gemeinschaft, sofern er den ungerechten und unmenschlichen Schmerz instrumentalisiert, den diese Gemeinschaft durch die nationalsozialistische Politik erlitten hat. Es ist unannehmbar, daß irgendjemand, welcher religiösen Konfession er angehöre, den Schmerz, dem das jüdische Volk ausgesetzt worden ist, inszeniert und instrumentalisiert – und zwar durch Deutungen, die vom Gesichtspunkt der Heidegger-Texte aus unehrlich und unglaubwürdig sind. Verantwortungsvollen Intellektuellen fällt die Aufgabe zu, dieses Schweigen zu brechen, ihnen fällt es zu, die Geschichte des philosophischen Gedankenweges von Heidegger umzuschreiben, damit der Schmerz der Juden nicht instrumentalisiert werde: so wird ein Schritt vorwärts gemacht, um aus dem Labyrinth der von uns mehrmals benannten „instrumentalisierenden Machenschaft des allzu persönlichen 4
Klostermann, Frankfurt a. M. 20152.
2. Der Ursprung der Verwirrung in der Auslegung der Schwarzen Hefte
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Denkens“ herauszufinden, das aus dem Geiste eines Einzigen hervorgeht, und dann im Konsens zu überleben sucht. Wer so verfährt, fällt freilich in diese falsche Kultur, die auf das reine Denken verzichtet, um den Lockungen der zeitgemäßen philosophischen Moden nachzugeben. Dieses Thema »Heidegger« ist aber einer tiefergehenden und sy stematischen Analyse wert, weil es in gewisser Weise so ist, als ob Heidegger selbst vorausgesehen hätte, was mit denjenigen passieren sollte, die auf echte Philosophie verzichten und es auf Eroberungen abgesehen haben, wo nur Unwissenheit und geschichtslose Herkunft der persönlichen Einsichten herrschen«.
Dr. Hermann Heidegger hatte ohne meine Hilfe in dem Manuskript von Trawnys Buch die ganz unhaltbaren Passagen streichen lassen. Aber auch das übrige Buch wurde von ihm und seinem Sohn als verfehlt und ungehörig beurteilt. Ich selber, der ich in meiner Eigenschaft als Hauptmitarbeiter der Gesamtausgabe der Nachlaßverwaltung Peter Trawny als Herausgeber empfohlen hatte, bin über seine Ausführungen, die den Anspruch, eine Interpretation zu sein, nicht im mindesten erfüllen, sondern einer gefährlichen Irreführung gleichkommen, und über den Ton nicht nur dieses Buches, sondern auch seiner öffentlichen nationalen und internationalen Auftritte entsetzt. Ich mußte erkennen, daß ich mich über die Integrität des Charakters von Peter Trawny zutiefst getäuscht habe. In einem Brief habe ich ihm mitgeteilt, daß ich sofort alle meine Beziehungen zu ihm abbreche. Als Alfieri das Geschehene erfuhr, antwortete er mir in einem Brief vom 17. Mai 2015, in dem er mir versichert, daß er mir bei der Durchführung des vorliegenden Buches beistehen wolle: »Leider ist keine Auseinandersetzung mehr denkbar – seitdem Trawny die Kontroverse über die Schwarzen Hefte den italienischen Tageszeitungen auslieferte – sofern der Ort der Debatte sich endgültig vom Arbeitstisch der strengen wissenschaftlichen Arbeit entfernte. […] An eine auf strenger wissenschaftlicher Arbeit begründete Debatte ist nicht mehr zu denken, sofern die Vorbedingungen dafür nicht erfüllt sind; über die Schwarzen Hefte wird überhaupt nicht mehr nachgedacht – oder nur gelegentlich. In der Tat befaßt sich die ganze Diskussion mit dem scheinbaren Bekanntheitsgrad von Peter Trawny und dessen persönlicher Interpretation, wobei Heidegger selbst als Beilage zu einer politischen Diskussion wird. Von Heidegger war schon eine derartige Interpretation zurückgewiesen worden, als er im Band 95 schrieb, Philosophie speise sich von Schlagworten und Zeitungen als Diskussions-»Tisch«. Derartige Fragen wies er zurück und darauf sollen wir auch verzichten, sonst wird Gefahr gelaufen, falsche Mythen wie den sog. „Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ zu speisen. […] Ein systematisches Studium der Schwarzen Hefte soll unternommen werden, weil dieses Projekt noch von keinem angegangen wurde: was Trawny nicht imstande war zu tun, uns fällt es zu. Es gibt doch keinen besseren Weg, den wir gemeinsam einschlagen dürfen«.
Trawnys neueste Publikationen nach seiner Kehrtwende stoßen mich ab. Diese zeigen mir in erschreckender Weise einen empfindlichen Mangel an Begriffsschärfe und philosophischem Urteilsvermögen. Statt hermeneutischer Bemühung in Wahrhaftigkeit, statt ernster Begriffsarbeit tritt einem ein essayistischer Text entgegen, der nicht mehr aus einem philosophischen Geist, sondern aus dem Streben nach äußerlicher Wirkung hervorgeht. Das die Edition der ersten vier Bände der Notizbücher begleitende Buch von Peter Trawny ist ein ganz und gar unphilo-
1. Kap.: Notwendige Erläuterungen zu den Schwarzen Heften
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sophisches Buch. Dies klar zu erkennen, darin scheiden sich die Philosophen mit scharfem Urteilsvermögen von solchen mit schwachem Urteilsvermögen. Es ist ganz offenbar, daß Peter Trawny seine Edition der Schwarzen Wachstuchhefte instrumentalisiert. Nachdem er auf seinem bisherigen philosophischen Weg mit seinen Publikationen keinen nachhaltigen akademischen Erfolg gehabt und keine bezahlte akademische Lehrstelle erhalten hat, hat er sich offenbar entschlossen, den entgegengesetzten Weg einzuschlagen, von den Notizbüchern her Heidegger öffentlich und international als Antisemiten anzuprangern und sogar den sogenannten Antisemitismus Heideggers als den esoterischen Hintergrund seines gesamten seinsgeschichtlichen Denkens zu verkünden. Somit hat er den Beweis angetreten, daß er das Denken eines der größten Denker unserer Zeit in den „Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)“5 nicht verstanden hat, mißachtet und wagt, es zu desavouieren. Peter Trawny setzt alles auf eine Karte, um endlich doch noch in eine bezahlte Position versetzt zu werden. Peter Trawnys frühere Bücher waren als ernsthafte Publikationen intendiert. Jetzt aber benützt er die „Judenfrage“ gezielt zu eigenen persönlichen Karrierezwecken. Auf der großen denkwürdigen Tagung zu den Schwarzen Wachstuchheften in der Pariser Nationalbibliothek im März 2015 äußerte sich der Philosophieprofessor Alain Finkelkraut so: „Mir graut vor einem solchen Philosemitismus, ich erschrecke vor einem derartigen Antiheideggerianismus“6. Damit hat er die Instrumentalisierung der Judenfrage der Notizbücher durch Trawny in nicht zu überbietender Klarheit gebrandmarkt. Zwar gibt es in den Schwarzen Wachstuchheften 14 Textpassagen, die sich mit der Judenfrage befassen und von denen auch ich mich distanziere. Aber gleichzeitig muß die philosophische Erkenntnis obsiegen, daß alles das, was Martin Heidegger zur Judenfrage einzig und allein in den Notizbüchern ausführt, auch wenn er diese Ausführungen in der Sprache des seinsgeschichtlichen Denkens formuliert, nicht der geistige Hintergrund der Grundbestimmungen seines seinsgeschichtlichen Denkens sind. Der größte Fehler ist es, die politischen Aussagen in den Notizbüchern als Basis für die Interpretation des seinsgeschichtlichen denkerischen Werkes Martin Heideggers zu nehmen, in dem sich derlei politische Aussagen nicht finden. Heideggers Abstandnehmen von den politischen nationalsozialistischen Fragen ist von nun an aufgrund der Texte Heideggers nachweisbar – wie in dessen erstaunlicher Kritik an Hitler im Band 97 der Gesamtausgabe7. Als wir mit Alfieri die Entscheidung trafen, diese Texte auszulegen, waren wir nicht in der M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, S. 163. [Die Quelle dieses Zitats wurde nicht ausfindig gemacht.] 7 M. Heidegger, Anmerkungen I – V (Schwarze Hefte 1942 – 1948), in: Gesamtausgabe, Bd. 97, Abt. 4: Hinweise und Aufzeichnungen, hrsg. v. P. Trawny, Klostermann, Frankfurt a. M. 2015; zur diesbezüglich eingehenden Analyse sei auf die hermeneutische Studie von Alfieri im nachfolgenden II. Kapitel hingewiesen. 5 6
3. Die „Notizbücher“ oder „Schwarzen Wachstuchhefte“in seinem Gesamtwerk
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Geisteshaltung, Textstellen herauszufinden, die Heidegger von dem entlasten, was ihm vorgeworfen worden ist. Wir wollten damit nur Heideggers Rede ohne Vorverständnisse und Vorurteile verstehen. Dabei wurde auch eine Neubetrachtung von dessen Figur als Antikatholiken gewonnen, und zwar durch ein Schritt für Schritt durchgeführtes Studium seines Gedankengangs. Unsere Zusammenarbeit hat uns zu unerwarteten Schlußfolgerungen geführt; zum selben Schluß darf der Leser gelangen, dem viel daran liegt, zu erfahren, inwiefern künstlich auf Heidegger übertragene Schlußfolgerungen von der Wahrheit erheblich abweichen. So kommt es Heidegger zu – durch seine Schriften – des Lesers Schritte zu lenken, wie er uns den Weg wies.
3. Die Stellung von Martin Heideggers „Notizbüchern“ oder „Schwarzen Wachstuchheften“ in seinem Gesamtwerk 3. Die „Notizbücher“ oder „Schwarzen Wachstuchhefte“ in seinem Gesamtwerk
Im ANHANG „Ein Rückblick auf den Weg“ zu Band 66 „Besinnung“ der Gesamtausgabe ist ein Text abgedruckt, der überschrieben ist „Beilage zu Wunsch und Wille (Über die Bewahrung des Versuchten)“8 (GA 66 S. 419 – 428). Das „Versuchte“ sind die bis 1937/38 unveröffentlichten Manuskripte Martin Heideggers. Unter „I. Was vorliegt“ (S. 419) werden sieben Manuskriptarten aufgezählt: „1. die Vorlesungen 2. die Vorträge 3. die Aufzeichnungen zu den Übungen 4. Vorarbeiten zum Werk 5. Überlegungen und Winke Heft II – IV – V 9 6. die Hölderlinvorlesung und Vorarbeiten zum ,Empedokles‘ 7. Vom Ereignis (Beiträge zur Philosophie) dazu Nr. 4“10.
Unter „II. Zum Einzelnen“ gibt Heidegger hochbedeutsame Erläuterungen zu den aufgezählten sieben Manuskriptarten. Für unser Vorhaben sind von besonderer Bedeutung die erläuternden Angaben zu 5. Überlegungen und Winke in Verbindung mit den Erläuterungen zu 4. Die Vorarbeiten zum Werk und den Erläuterungen zu 7. „Vom Ereignis“. Zu „5. Überlegungen und Winke“ heißt es: „Was in diesen Notizbüchern vor allem II, IV und V festgehalten ist, gibt z.T. auch immer die Grundstimmungen des Fragens und die Weisungen in die äußersten Gesichtskreise der denkerischen Versuche. Scheinbar je nach Augenblicken entstanden, enthalten sie den Zug der unausgesetzten Bemühung um die einzige Frage.“11
Der Text „Über die Bewahrung des Versuchten“ ist nach Abschluß des Manuskriptes „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ 1938 verfaßt. Daher nennt er von den ,Notizbüchern‘ nur die Hefte II – V der „Überlegungen“, die jetzt im 8 M. Heidegger, Besinnung, in: Gesamtausgabe, Bd. 66, Abt. 3: Unveröffentlichte Abhandlungen. Vorträge – Gedachtes, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, S. 419 – 428. 9 Kursiv von mir, F.-W. v. H. 10 Ebd., S. 419 f. 11 Ebd., S. 426.
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1. Kap.: Notwendige Erläuterungen zu den Schwarzen Heften
Band 94 der Gesamtausgabe veröffentlicht sind12. Das Heft I liegt nicht vor und wird auch von Heidegger nirgends erwähnt. Die Vermutung liegt nahe, daß er es selbst ausgesondert hat. Weshalb, läßt sich auch nur vermuten; vielleicht enthielt es Aufzeichnungen zur geplanten Umarbeitung von „Sein und Zeit“ für die 3. Auflage 1931 auf der Grundlage der Freiburger Vorlesung Sommersemester 1930 „Vom Wesen der menschlichen Freiheit“13, in der der sachliche Zusammenhang von ,Sein und Zeit‘ in denjenigen von ,Sein und Freiheit‘ zurückverwurzelt wird. Das Heft II der „Überlegungen“ beginnt im Oktober 1931. Es ist die Zeit, in der das Seinsgeschichtliche Denken einsetzt. Die ,Schwarzen Wachstuchhefte‘, also die ,Notizbücher‘, gehören insgesamt zu dem langen Weg des Seinsgeschichtlichen Denkens, der sich von 1930/31 bis in die erste Hälfte der siebziger Jahre erstreckt. Die „Überlegungen“ von 1931 – 1941 (jetzt veröffentlicht in den Bänden 94 – 96 der Gesamtausgabe) begleiten den Weg des Seinsgeschichtlichen Denkens, das sich vor allem in den „Vorarbeiten zum Werk“14 und in den großen Abhandlungen von den „Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)“ (1937/38) bis „Das Ereignis“ (1941/42) entfaltet. In der erläuternden Angabe zu „5. Überlegungen und Winke“ ist dreierlei zu beachten: 1. die Grundstimmungen des Fragens; 2. die Weisungen in die äußer sten Gesichtskreise der denkerischen Versuche; 3. der Zug der unausgesetzten Bemühung um die einzige Frage. Die „Grundstimmungen des Fragens“ sind das Erschrecken, die Verhaltenheit, die Scheu, die das seinsgeschichtliche Denken jeweils stimmen. Die „äußersten Gesichtskreise der denkerischen Versuche“ werden in „4. Die Vorarbeiten zum Werk“15 genannt: „Die Unterscheidung von Seiendem und Sein, Das Da-sein – die Wahrheit, Der Zeit-Raum, Die Modalitäten, Die Stimmung, Die Sprache, Das Vorgehen und das Wesen der Frage“. Die „einzige Frage“ der denkerischen Versuche des Seinsgeschichtlichen Denkens ist „die Frage nach der Wahrheit des Seyns“16, die sich in den genannten „Gesichtskreisen“ hält. Die „Vorarbeiten zum Werk“ werden „Anläufe“ genannt, die die ganze Fragestellung von „Sein und Zeit“ ursprünglicher festhalten und in die genannten Gesichtskreise rücken. Innerhalb dieser Gesichtskreise halten sich auch die „Überlegungen“, sofern auch sie wie die „Vorarbeiten zum Werk“ im Dienste der einzigen Frage nach der Wahrheit des Seyns stehen. Im selben Abschnitt 4. über die „Vorarbeiten zum Werk“ wird auch Wichtiges über die „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ gesagt: „Seit dem Frühjahr 12 Vgl. ders., Überlegungen II – VI (Schwarze Hefte 1931 – 1938), in: Gesamtausgabe, Bd. 94, Abt. 4: Hinweise und Aufzeichnungen, hrsg. v. P. Trawny, Klostermann, Frankfurt a. M. 2014. 13 Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1930. Gesamtausgabe Band 31. Hrsg. v. H. Tietjen. V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1982. 14 Martin Heidegger, Überlegungen II – VI (Schwarze Hefte 1931 – 1938). Gesamtausgabe Band 94. Hrsg. v. P. Trawny. V. Klostermann, Frankfurt a. M. 2014. 15 Vgl. Besinnung, S. 424 – 426. 16 Ebd., S. 424.
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1932 steht in den Grundzügen der Plan fest, der in dem Entwurf ,Vom Ereignis‘ seine erste Gestalt gewinnt“17. Die auf die „Beiträge zur Philosophie“ folgenden Abhandlungen „Besinnung“ (1938/39), „Die Überwindung der Metaphysik“ (1938/39)18, „Die Geschichte des Seyns“ (1938/40)19, „Über den Anfang“ (1941)20, „Das Ereignis“ (1941/42)21 und „Die Stege des Anfangs“ (1944)22 sind immer wieder neue Gestalten dessen, was erstmals als Plan für das Gefüge des Seinsgeschichtlichen Denkens seit Frühjahr 1932 feststand. Während die seinsgeschichtlichen Abhandlungen den entscheidenden Hauptweg des Seinsgeschichtlichen Denkens bahnen, sofern sie die Gedankenzüge für das Gefüge dieses Denkens zusammenstellen und bedenken, begleiten die „Überlegungen“ diesen Hauptweg und ergänzen ihn. Sie sind den großen wegbahnenden Arbeiten neben- und nachgeordnet und somit nicht vorgeordnet oder gar übergeordnet. Die kürzeren oder längeren Aufzeichnungen der ,Schwarzen Wachstuchhefte‘ sind daher nur von den großen Abhandlungen her zugänglich und verständlich. Dieser Tatbestand ist der alleinige Grund dafür, daß die ,Schwarzen Hefte‘ nach Martin Heideggers Willen den Abschluß der Gesamtausgabe bilden und auch erst nach der Veröffentlichung aller anderen Bände der Gesamtausgabe erscheinen sollten. Die ,Notizbücher‘ „Überlegungen“ sind vielfach seinsgeschichtlich-kritische Deutungen des jeweiligen Zeitgeschehens. Darüber hinaus sind sie die Ergänzungen zu früher Gedachtem, indem sie erneut Stellung nehmen zu diesem oder jenem früher geäußerten Gedanken und diesen gelegentlich auch kritisch bedenken. Ein Beispiel für eine Bezugnahme zu früher Gedachtem sind die Aufzeichnungen 201, 202 und 204 aus dem Bande 94, die das Thema ,Tier und Mensch‘ im Anschluß an die vergleichende Betrachtung der Weltarmut des Tieres und der Weltbildung des Menschen aus der Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 „Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit“23 (GA 29/30) aufgreifen und ergänzend bedenken. Alle von Mal zu Mal sich einstellenden Gedanken, die nicht zu einem im Werden stehenden Manuskript gehören und die auch nicht diesem oder jenem unter 17 Ebd.
Heidegger, Metaphysik und Nihilismus, in: Gesamtausgabe, Bd. 67, hrsg. v. H.-J. Friedrich, Klostermann, Frankfurt a. M. 1999, S. 2 – 174. 19 Heidegger, Die Geschichte des Seyns, in: Gesamtausgabe, Bd. 69, hrsg. v. P. Trawny, 1988. 20 M. Heidegger, Über den Anfang, in: Gesamtausgabe, Bd. 70, hrsg. v. P.-L. Coriando, 2005. 21 M. Heidegger, Das Ereignis, in: Gesamtausgabe, Bd. 71, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 2009. 22 M. Heidegger, Die Stege des Anfangs (1944), in: Gesamtausgabe, Bd. 72, hrsg. v. F.-W. von Herrmann (in Vorbereitung). 23 M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, in: Gesamtausgabe, Bd. 29/30, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, 1992. 18 M.
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einem Begriffswort stehenden Manuskriptenkonvolut hinzugefügt werden, finden seit 1931 in den ,Notizbüchern‘ Aufnahme. Auf Heideggers Nachttisch neben seinem Bett lagen Zettel und Bleistift, um die während der Nacht in einer schlaflosen Stunde sich dann und wann einstellenden Gedanken sogleich zu notieren und am nächsten Tag in das ,Schwarze Heft‘ in sorgfältigen Schriftzügen einzutragen. Jetzt sei aber auf den unrechtmäßigen und den allein rechtmäßigen Umgang mit den ,Schwarzen Wachstuchheften‘ hingewiesen. In zwei von insgesamt drei Bänden der „Überlegungen“24 stößt der Leser auf 13 Textstellen von je einem oder zwei oder vier oder in einem Fall fünf Sätzen, in denen Martin Heidegger in seinsgeschichtlich-kritischer Perspektive zum „internationalen Judentum“ und „Weltjudentum“ Stellung nimmt. Diese Textstellen, die kaum 2 1⁄2 Seiten DIN A 4 füllen im Verhältnis zu den 1250 Seiten der drei Bände „Überlegungen“, nahm der Herausgeber dieser Bände zum Anlaß, nicht etwa nur die 13 Textstellen, sondern von diesen her das ganze Seinsgeschichtliche Denken, somit dieses als solches, als „antisemitisch“ abzuqualifizieren. Nach der Mitschrift eines an der Tagung der Emory-Universität in Atlanta im September 2014 teilnehmenden amerikanischen Professors für Philosophie äußerte der Herausgeber Trawny, daß Heideggers antisemitische Bezüge auf den Judaismus eine „systematische Komponente“ in sich trügen. Die Heideggers kritische Stellungnahme zum „Internationalen Judentum“ tragenden Wortbegriffe sind: die Bodenlosigkeit, das Geschichtslose, das bloße Rechnen mit dem Seienden, das Riesige, die Weltlosigkeit, die leere Rationalität und Rechenfähigkeit, das Versäumnis der Seinsfrage, die Machenschaft des Seienden, das schlechthin Ungebundensein, die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein. Wer die seinsgeschichtlichen Abhandlungen, also die Haupttexte des Seinsgeschichtlichen Denkens, wirklich und vollständig gelesen und durchgearbeitet hat, sieht sofort, daß die aufgezählten Wortbegriffe jene seinsgeschichtlichen Begriffe sind, in denen Heidegger den Geist der neuesten Neuzeit und damit der Gegenwart kennzeichnet, sofern diese sich grundsätzlich aus dem Geist der mathematischen Naturwissenschaft und modernen Technik versteht. Das bedeutet nun aber, daß jene Wortbegriffe nicht als solche antisemitisch sind, also nicht nur auf den jüdischen Geist, sondern auf den Gegenwartsgeist überhaupt bezogen werden. Wenn also Heidegger mit diesen Wortbegriffen den Geist des „internationalen Judentums“ kennzeichnet, dann bezieht er dieses in den neuzeitlichen Gegenwartsgeist ein. Daß er das „Weltjudentum“ eigens erwähnt und eigens kritisch beleuchtet, obwohl das von ihm herausgehobene Kennzeichen auch das des allgemeinen neuzeitlichen Gegenwartsgeistes ist, kann als Reflex auf den damals herrschenden Zeitgeist verstanden werden. Die seinsgeschichtliche Denkungsart und ihre eigene Begrifflichkeit ist nicht vom Wesen her antisemitisch und entspringt nicht einer 24 Martin Heidegger, Überlegungen VII – XI (Schwarze Hefte 1938/39). Gesamtausgabe, Bd. 95. Hrsg. v. P. Trawny. V. Klostermann, Frankfurt a. M. 2014; ders., Überlegungen XII – XV (Schwarze Hefte 1939 – 1941). Gesamtausgabe, Bd. 96. Hrsg. v. P. Trawny. V. Klo stermann, Frankfurt a. M. 2014.
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antisemitischen Grundhaltung, sondern einem phänomenologischen Geist, der die Phänomene in ihrer eigentümlichen Geschichtlichkeit erfährt, sichtbar macht und begreift. Der Skandal sind nicht die genannten 13 Textstellen aus den „Überlegungen“, sondern der Skandal ist allein der verfälschende, verleumdende, zu tiefst unwahre Umgang mit diesen Textstellen. Das ,Buch‘ des Herausgebers, das kein philosophisches Buch ist, wie Frau Prof. Ingeborg Schüßler (aus Lausanne, Schweiz) treffend urteilte, ist kein Buch wahrhaftiger und wahrer Interpretation. Seine These vom systematischen Antisemitismus des Denkens Martin Heideggers ist keine ernsthaft diskutierbare Interpretationssicht, sondern eine bloße Behauptung ohne mitgegebene Beweise. Als philosophischer ,Hauptmitarbeiter‘ an der Gesamtausgabe, wie mich Martin Heidegger schriftlich genannt hat, und als sein Privatassistent in seinen letzten vier Lebensjahren, hatte ich den jetzigen Herausgeber der ,Schwarzen Hefte‘ nur als Text-Editor, nicht aber als Text-Interpreten der Nachlaßverwaltung empfohlen. Das die Edition der „Überlegungen“ begleitende Buch des Herausgebers hätte gänzlich anders konzipiert und verfaßt werden müssen. Sollte mit diesem Buch eine Erklärung des Verlages zu den 13 kritischen Textstellen abgegeben werden, dann hätte die klärende Stellungnahme zu diesen Äußerungen die philosophische Dimension der „Überlegungen“ und der in diesen verstreut auftauchenden kritischen Äußerungen herausarbeiten müssen – so wie wir es getan haben. Das allein wäre der rechtmäßige, weil sachgemäße Umgang mit den ersten drei Bänden der ,Schwarzen Wachstuchhefte‘ gewesen. Stattdessen übergeht der Herausgeber die philosophische Dimension der ,Schwarzen Hefte‘ und somit der drei Bände „Überlegungen“ und verfolgt eine rein ideologisch-politische Perspektive, in der er den philosophischen Gehalt der „Überlegungen“ und deren Stellung zu den anderen Manuskriptarten des Seinsgeschichtlichen Denkens völlig ignoriert. Dadurch erweckt er bei den Lesern seines völlig unphilosophischen Buches und den Hörern seiner mündlichen Ausführungen den falschen Schein, daß es sich bei den ,Schwarzen Heften‘ im ganzen um antisemitisches Gedankengut handle. Sein Umgang mit den ,Schwarzen Wachstuchheften‘, mit Heideggers ,Notizbüchern‘, ist daher durch und durch verfälschend und somit zutiefst unwahr. In den „Beiträgen zur Philosophie“ gibt es einen Textabschnitt, der unsere Ausführungen voll bestätigt. Dieser Abschnitt hat bei Martin Heidegger folgenden Wortlaut: „Der reine Blödsinn zu sagen, das experimentelle Forschen sei nordisch-germanisch und das rationale dagegen fremdartig! Wir müssen uns dann schon entschließen, Newton und Leibniz zu den ,Juden‘ zu zählen. Gerade der Entwurf der Natur im mathematischen Sinne ist die Voraussetzung für die Notwendigkeit und Möglichkeit des ,Experimentes‘ als des messenden“25.
Heidegger wendet sich hier in ironisch beißender Kritik gegen einen Satz aus dem nationalsozialistischen Wissenschaftsverständnis der Naturwissenschaften, 25
Beiträge zur Philosophie, S. 163.
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der das experimentelle Forschen als ,nordisch-germanisch‘ und das rationale Forschen als ,fremdartig‘, soll heißen als ,jüdisch‘ bestimmt. Diese nationalsozialistische Zuordnung des experimentellen Forschens zum nordisch-germanischen Geist und des rationalen Forschens zum jüdischen Geist wird von Heidegger als ,reiner Blödsinn‘ erklärt, denn das experimentelle Forschen in den Naturwissenschaften bedürfe selbst der rationalen Grundlegung durch den mathematischen Naturentwurf, der in wesentlicher Weise von Newton und Leibniz gestiftet wurde. Würde die Aufteilung des experimentellen und des rationalen Forschens auf das Germanische und auf das Jüdische zutreffen, dann müßten die großen Rationalisten Newton und Leibniz von den Nationalsozialisten auch zu den ,Juden‘ gezählt werden, die sie ganz offensichtlich nicht sind. ,Juden‘ steht bei Heidegger in Anführungszeichen, weil er hier von den Juden im Sinne des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs spricht. Jenes Zitat aus den „Beiträgen zur Philosophie“ ist ein klarer Nachweis dafür, daß Heidegger das rationale Forschen und Denken nicht wie jener nationalsozialistische Satz als ein Spezifikum nur des jüdischen Geistes begreift, daß also Heidegger das Rationale als solches gerade nicht auf einen Volksgeist festlegt. Dieses Zitat ist ein Beispiel dafür, daß Heidegger weder in den positiven Wissenschaften noch in der Philosophie antisemitisch denkt. Aus unserer Kennzeichnung der Philosophischen Dimension der drei Bände „Überlegungen“ und aus unserer Analyse der Begrifflichkeit jener 13 knappen Textstellen aus den „Überlegungen“ geht hervor, daß diese Textstellen keine gedanklich-systematischen „Bausteine“, d. h. keine konstitutiven Gedankenzüge im Gefüge des Seinsgeschichtlichen Denkens sind. Um diese Feststellung in ihrem Aussagegehalt zu verstehen, muß man allerdings ein klares Verständnis von dem haben, was die innere Systematik und der innere Gefügecharakter eines philosophischen Denkens besagt. Mit anderen Worten, man muß selbst systematisch zu denken verstehen und zwischen einem systematischen und einem lediglich beiherspielenden (Hegel: nebenher gesagten 26) Gedanken unterscheiden können. Heidegger selbst betont in den „Beiträgen zur Philosophie“ und vor allem in seiner gleichzeitigen ersten Schelling-Vorlesung: „Jede Philosophie ist systematisch, aber nicht jede ist System“27. Jede Philosophie und somit auch das Seinsgeschichtliche Denken ist in sich systematisch, d. h. gefügt. Den systematischen Charakter des Seinsgeschichtlichen Denkens faßt Heidegger in dem Wort ,Gefüge‘, das die innere Fügung und Ordnung des Fragens anzeigt. Die ,Schwarzen Wachstuchhefte‘ der „Überlegungen“, ihre durchgezählten Aufzeichnungen, sind bestimmt von der unausgesetzten Bemühung um die einzige Frage nach der Wahrheit des Seyns, die sich systematisch in einem strengen Gefüge des Fragens und des Gefragten entfaltet. Dies zu sehen, herauszuarbeiten und zu begreifen ist der allein rechtmäßige Umgang mit diesen Aufzeichnungen. Und hierbei gilt es zu unterscheiden, was ein systematischer Gedanke des Gefüges und was ein beiherspielender Gedanke [Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Felix Meiner Verlag 1952, S. 80. Übers.] Heidegger, Schelling. Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), in: Gesamtausgabe, Bd. 42, hrsg. v. I. Schüßler, Klostermann, Frankfurt a. M. 1988, S. 51. 26
27 M.
4. Die Juden-bezogenen Textstellen in den Schwarzen Heften sind belanglos
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ist, der nicht zum systematischen Gefüge eines Denkens gehört. In diesem Sinne sind die von uns immer wieder bedachten 13 Textstellen aus den Bänden 95 und 96 der Gesamtausgabe lediglich beiherspielende Gedanken, durch deren Wegfall das Gefüge des Fragens der Frage nach der Wahrheit des Seyns nicht angetastet wird. Allein in diesem Sinne müssen wir betonen, daß jene 13 Textstellen „philosophisch belanglos“ sind, wie es zuerst mein ungarischer Kollege, Prof. István Fehér aus Budapest, mit scharfem Urteilsvermögen formuliert hat. Martin Heidegger hat bei seinen bedeutenden jüdischen Schülern, wie Hannah Arendt, Hans Jonas und Karl Löwith, statt nur rationales Denken eine große Gabe für das schöpferische Denken gefunden und bis ans Lebensende hoch geschätzt. Hans Jonas hat in der Festschrift zu Martin Heideggers 80. Geburtstag einen Beitrag veröffentlicht, über den sich Martin Heidegger besonders gefreut hat28.
4. Die Juden-bezogenen Textstellen in den Schwarzen Heften sind philosophisch-systematisch belanglos 4. Die Juden-bezogenen Textstellen in den Schwarzen Heften sind belanglos
Als philosophischer Hauptmitarbeiter an der Gesamtausgabe und als einstiger Privatassistent Martin Heideggers in dessen letzten Lebensjahren gebe ich zusammenfassend eine knappe korrigierende Stellungnahme ab zu der Manuskriptengruppe der sog. „Schwarzen Hefte“ oder „Arbeitshefte“. Wie gesagt, wurde der jetzige Herausgeber der „Schwarzen Hefte“ von mir lediglich als Text-Editor, nicht aber als Text-Interpret empfohlen. Von seinen international vorgetragenen Auslegungsversuchen, die mich ihrer inneren Unwahrheit wegen tief enttäuscht haben, muß ich mich um des Denkens Martin Heideggers und der Wahrheit willen strikt distanzieren. Die „Schwarzen Hefte“ begleiten lediglich das um 1930/31 einsetzende Seinsoder Ereignisgeschichtliche Denken Heideggers, d. h. den zweiten Ausarbeitungsweg der Seinsfrage. Sie haben daher einen rein philosophischen Inhalt, sind aber den großen Arbeiten des seinsgeschichtlichen Denkens neben- und nachgeordnet. Deshalb ist der philosophische Gehalt ihrer immer wieder neu einsetzenden Aufzeichnungen nur aus den grundlegenden Zusammenhängen der gleichzeitig verfaßten Abhandlungen nachzuvollziehen. Die im Verhältnis zu den 34 Heften ganz wenigen, in keinem größeren Kontext stehenden Textstellen, die sich auf das Judentum beziehen, sind philosophisch-sy stematisch für das Denken Heideggers völlig belanglos und somit überflüssig. Vor allem bilden sie keinen gedanklich-systematischen Baustein des Seinsgeschichtlichen Denkens. Das bezeugen alle gleichzeitig verfaßten Vorlesungen, Vorträge und Abhandlungsmanuskripte, die nichts Antisemitisches enthalten. 28 Vgl. H. Jonas, Wandlungen und Bestand. Vom Grunde der Verstehbarkeit des Geschichtlichen, in: V. Klostermann (Hrsg.), Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Klostermann, Frankfurt a. M. 1970, S. 1 – 26.
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1. Kap.: Notwendige Erläuterungen zu den Schwarzen Heften
Das Judentum und dessen alte und große Geschichte gehört für Heidegger nicht in die Geschichte des Seins, die nur das abendländische Denken von den Frühen Griechen bis zu Hegel und Nietzsche und die neuzeitlich-gegenwärtige Wissenschaft und moderne Technik umfaßt, welche letztere für Heidegger charakterisiert sind durch das „rechnende Denken“, in dem Martin Heideggers Denken eine große Gefahr für die Menschheit sieht. Der vom Herausgeber unscharf und mißverständlich geprägte Begriff des „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ in bezug auf die wenigen Sätze über die Juden führt zu der unheilvollen Verwirrung, daß das seinsgeschichtliche Denken als solches antisemitisch sei. Heidegger hat auch nicht „eine Zeitlang so gedacht“, wie der Herausgeber formuliert, nämlich so wie in den auf das Judentum bezogenen Sätzen. Wenn man derartig pauschal formuliert, meint der Leser und Hörer, Martin Heidegger habe in der Zeit dieser Sätze auch in seinen philosophischen Abhandlungen ,so‘, also antisemitisch gedacht, was völlig unsinnig ist. Daß das seinsgeschichtliche Denken in seinem inneren Gefüge und Aufbau überhaupt nichts von einer antijüdischen Haltung einschließt, bezeugen die sieben großen seinsgeschichtlichen Abhandlungen von 1936 bis 1944, die mit den „Beiträgen zur Philosophie“ beginnen und mit den „Stegen des Anfangs“ enden.
5. Warum es in Martin Heideggers seinsgeschichtlichem Denken keinen Antisemitismus geben kann 5. Warum es in Martin Heideggers Denken keinen Antisemitismus geben kann
Das allein Entscheidende für den Umgang mit den Juden-bezogenen Textstellen aus den Notizbüchern ist dies: der Geist dieser fraglichen Textstellen findet sich auch nicht als Spur in den grundlegenden Texten des seins- oder ereignisgeschichtlichen Denkens der sieben großen Abhandlungen. Kein einziger ereignisgeschichtlicher Begriff aus diesen Abhandlungen zeigt einen Bezug zu so etwas wie einem Antisemitismus. Die großen Abhandlungen habe ich Satz für Satz nicht etwa nur gelesen, sondern so gelesen, daß ich jeden einzelnen Satz aus seinem sachlichen Quellgrund oder Wurzelgrund nachvollzogen habe. Dieser Quellgrund ist das Wesungsgeschehen der Wahrheit des Seyns. Heideggers Einsicht in die Wesung der Wahrheit des Seyns ergab sich und ergibt sich für ihn aus dem Einblick in die Geschichtlichkeit dessen, was er auf seinem fundamentalontologischen Denkweg als transzendental-horizontal aufgeschlossene Erschlossenheit qua Wahrheit des Seins phänomenologisch aufgewiesen hat. Aus diesem immanenten Wandel des fundamentalontologischen Ansatzes in den seinsgeschichtlichen Ansatz ergeben sich alle seinsgeschichtlichen Grundbegriffe, so wie diese erstmals in den „Beiträgen zur Philosophie. (Vom Ereignis)“ eingeführt und in den folgenden Abhandlungen modifiziert und ergänzt werden. Hegel denkt die Geschichtlichkeit des absoluten Geistes, beginnend mit der Sinnlichen Gewißheit, und Heidegger denkt die Geschichtlichkeit der Wahrheit des Seyns, beginnend mit dem Anklang der Wahrheit
5. Warum es in Martin Heideggers Denken keinen Antisemitismus geben kann
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des Seyns bis zur Gründung der Wahrheit des Seyns und darüber hinaus zu den Zukünftigen und zu dem Gott im Ereignis. Alles das bewegt sich und hält sich auf einer total anderen Besinnungsebene als der zur Alltäglichkeit gehörende Antisemitismus jeglicher Spielart. Schon allein deshalb kann die antisemitische Ebene, welcher Spielart auch immer, nicht in die ereignisgeschichtliche Besinnungsebene eindringen. Daher ist also völlig klar, daß Antisemitisches für das Denken der seinsgeschichtlichen Besinnungsebene ganz und gar irrelevant ist. Um zu dieser Einsicht zu kommen, bedarf es keiner großen Untersuchungen, keiner Re-Lektüre der Schriften Martin Heideggers, sondern nur eines gut ausgebildeten philosophischen Vermögens des Krinein und des Urteilens. Über beides verfügt Peter Trawny nicht, und deshalb schwafelt er begriffs- und urteilsschwach von Heideggers Antisemitismus in seinem Denken. Also, zwischen den fraglichen Stellen aus den Notizbüchern und Heideggers seinsgeschichtlichem Denken besteht k e i n innerer Zusammenhang. Wenn man zu Recht zwischen rassisch bedingtem Antisemitismus und konfessionell motiviertem Antijudaismus unterscheidet, dann gehören jene fraglichen Textstellen in den Notizbüchern weder zum einen noch zum anderen. Wozu gehören sie aber dann? Sie gehören lediglich zu Heideggers privater politischer Anschauung, die er allerdings mit dem seinsgeschichtlichen Begriff des „rechnenden Denkens“ überformt. Doch durch diese nachträgliche begriffliche Überformung wird nicht etwa der seinsgeschichtliche Quellgrund nun seinerseits „antisemitisch“. Wenn Heidegger vom rechnenden Denken des Finanz- und Wirtschaftsjudentums spricht, dann bilden diese Sätze keinen systematischen Baustein des in sich systematisch gefügten Ereignisdenkens – das zu meinen, ist der riesengroße Fehler von Trawny und allen, die ihm nachtrotten. Der im Dritten Reich zur politischen Landschaft gehörende Antisemitismus hat zwar letztlich seine Herkunft aus dem konfessionell motivierten Antijudaismus des 19. Jahrhunderts. Also: wir müssen strengstens scheiden (krinein) zwischen den Juden-bezüglichen Textstellen aus den Notizbüchern und dem reinen philosophischen Ereignisgeschichtlichen Denken, das von sich aus keine Affinität zu irgendeinem Antisemitismus hat! Zu dieser Scheidung muß jeder Leser der veröffentlichten Schriften gelangen, wenn er diese Schriften wirklich aus ihrem tiefsten Grunde heraus denkend nachvollzogen hat. Während meines intensiven Studiums der Schriften Martin Heideggers bin ich niemals auf antisemitische und nationalsozialistische Spuren im Denken Martin Heideggers gestoßen. Ich brauche mich nicht noch einmal an die Lektüre dieser Schriften zu begeben, um nach derartigen Spuren Ausschau zu halten. Sollte die Grundhaltung des Vorstandes der Martin Heidegger-Gesellschaft (vor 2015) darin bestehen, daß vorerst untersucht und diskutiert werden müsse, ob Hei-
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1. Kap.: Notwendige Erläuterungen zu den Schwarzen Heften
deggers »Antisemitismus« für sein Denken relevant sei oder nicht, dann sähe ich mich gezwungen, aus dem Kuratorium und aus der Gesellschaft auszutreten, nicht aber aus Protest gegenüber dem Denker Martin Heidegger, sondern aus Protest gegen eine solche unsichere Haltung gegenüber dem Denken Martin Heideggers. Die Mitglieder der Gesellschaft und auch die großartigen Repräsentanten der Wiener Daseinsanalytischen Gesellschaft verdienen eine klare philosophische Position zum Denken Martin Heideggers. Denn es geht in der Gesellschaft nicht um die Privatperson, sondern allein um das Denken dieses Denkers. Für mich besteht philosophisch kein Klärungsbedarf mehr, was meine vorstehenden Ausführungen klar zum Ausdruck bringen. Meine entschiedene Haltung zu dieser Frage bedeutet keine Reinwaschung Martin Heideggers, sondern lediglich die Freihaltung seines philosophischen Denkens von der Verfälschung.
6. Größe und Bedeutung von Martin Heideggers Denkweg 6.1. Heideggers denkerische Urerfahrung von einer ,Philosophie des lebendigen Lebens‘ Nach Martin Heideggers erster Dozentenvorlesung im Wintersemester 1915/16 schreibt er am 5. März 1916 einen hochbedeutsamen Brief an seine Braut Elfride Petri: „Ich weiß heute, daß es eine Philosophie des lebendigen Lebens geben darf – daß ich dem Rationalismus den Kampf bis aufs Messer erklären darf – ohne dem Bannstrahl der Unwissenschaftlichkeit zu verfallen – ich darf es – ich muß es – und so steht heute vor mir die Notwendigkeit des Problems: wie ist Philosophie als lebendige Wahrheit zu schaffen und als Schöpfung der Persönlichkeit wert- und machtvoll“29.
Der den jungen Philosophen tief beglückende denkerische Fund ist die ihm widerfahrene wegeröffnende und wegweisende Einsicht in die Möglichkeit der Ausarbeitung einer Philosophie des lebendigen Lebens, einer Philosophie als lebendige Wahrheit. Es ist die Einsicht, daß es im Unterschied zum theoretischen Erkenntnisleben das vortheoretische oder atheoretische Leben gibt, in dem wir je schon vor Aufnahme der theoretischen Erkenntnishaltung leben und aus dem sich das theoretische Erkenntnisleben erhebt, und daß es insofern die primäre Aufgabe der Philosophie ist, dieses vor- und atheoretische und das heißt lebendige Leben in seinem Eigensten zur Auslegung zu bringen. Das so Ausgelegte des lebendigen Lebens erweist sich dann als die lebendige Wahrheit über das lebendige Leben. Was der junge Heidegger hier erstmals als das lebendige Leben in den Blick nimmt, faßt er anschließend in den von 1919 bis 1923 gehaltenen Dozentenvorle29 M. Heidegger, »Mein liebes Seelchen!«. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915 – 1970, hrsg. v. G. Heidegger, Deutsche Verlags-Anstalt 2005, S. 36 f.
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sungen als das faktische Leben und als das faktische Dasein. Durch die Veröffentlichung der frühen Briefe Martin Heideggers von 1916 bis 1918 und insbesondere des wichtigsten Briefes vom 5. März 1916 gewinnen wir die neue Erkenntnis, daß die erste Grunderfahrung, die Urerfahrung, für Heideggers eigenste philosophische Fragestellung bereits in das erste Drittel des Jahres 1916 fällt. Diese seine philosophische Grunderfahrung wird von ihm in den Dozentenvorlesungen nach dem Ersten Weltkrieg bis 1923 und weiterhin in den Marburger Vorlesungen von 1923/24 bis 1928 und systematisch abschließend in seinem ersten Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) ausgearbeitet.
6.2. Heideggers Dozentenvorlesungen von 1919 bis 1923 als Weg der Ausarbeitung der hermeneutischen Phänomenologie des faktischen Lebens Die inaugurierte Philosophie des lebendigen Lebens wird von Heidegger zugleich als Blick- und Fragebahn für eine neu auszuarbeitende Religionsphilosophie angesetzt, die er die „wahrhafte Religionsphilosophie“ nennt. Die gesuchte „wahrhafte Religionsphilosophie“ soll ihre Wahrhaftigkeit aus den neuen Grundlagen der Philosophie des lebendigen Lebens gewinnen. Ansätze zu dieser neu grundgelegten Religionsphilosophie gibt Heidegger in zwei Dozentenvorlesungen nach dem Ersten Weltkrieg: in der grundlegenden religionsphänomenologischen Vorlesung vom Wintersemester 1920/21 „Einleitung in die Phänomenologie der Religion“, in der Heidegger auf dem Wege einer hermeneutisch-phänomenologischen Durchdringung dreier Paulus-Briefe die urchristliche Religiosität des Neuen Testaments als urchristliche Lebenserfahrung im Sinne der faktischen Lebenserfahrung zur Auslegung bringt. In der ebenfalls religionsphilosophisch ausgerichteten Dozentenvorlesung vom Sommersemester 1921 „Augustinus und der Neuplatonismus“ interpretiert Heidegger die durch die Gottsuche Augustins geleitete Selbstauslegung der anima und vita aus dem X. Buch der „Confessiones“ als weitgehend bestimmt durch die faktische Lebenserfahrung des lebendigen Lebens. Sowohl in seiner Paulus- wie in seiner Augustinusvorlesung legt Heidegger die christliche Existenz griechentumfrei, also ohne Rückgriffe auf aristotelische, neuplatonische und stoische Begrifflichkeit allein aus dem lebendig-faktischen Leben aus. Was in diesen beiden bedeutenden Vorlesungen aus dem Anfang der 20-er Jahre zur Entfaltung kommt, hat seinen bestimmenden Ursprung in jenem außerordentlichen denkerischen Fund, von dem Heidegger in seinem genannten Brief vom 5. März 1916 an seine Braut hochgestimmt Kunde gibt. In das für die eigenste Fragestellung Heideggers so fruchtbare Jahr 1916 fällt ein weiterer Brief Heideggers an seine Braut, worin er ihr von einer ebenfalls bedeutsamen und weitreichenden denkerischen Einsicht Mitteilung macht. Es ist der Brief vom 13. Juni 1916, in dem es heißt:
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„weil ich einen großen Wurf getan, der letztere bestand darin, daß ich ein fundamentales Problem der Kategorienlehre entdeckte – die Lösung kommt von selbst, für die Forschung ist immer das Problemstellen entscheidend“30.
Der hier erwähnte „große Wurf“, die Entdeckung eines fundamentalen Pro blems der Kategorienlehre, ist die weitere wegweisende Einsicht, daß es außer der bisher in der Philosophie seit Aristoteles allein gesehenen objektiv-logischen Behandlungsart der Kategorien die ganz neue Frage nach den eigensten, ganz anderen Kategorien des lebendigen Lebens und des lebendigen Geistes selbst gibt, die es nunmehr zu enthüllen gilt. Diese Entdeckung und Einsicht ist der entscheidende Vorgriff auf das, was nach dem Ersten Weltkrieg in den Dozenten-Vorlesungen seit 1919/20 als ,Gehaltssinn‘, ,Bezugssinn‘ und als ,Vollzugssinn‘ des lebendigen, faktischen Lebens und was dann schließlich in „Sein und Zeit“ als die Existenzialien des existierenden seinsverstehenden Daseins herausgestellt wird. Im Vorwort seiner letzten Freiburger Dozenten-Vorlesung „Ontologie (Hermeneutik der Faktizität)“ sagt Heidegger: „Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mir Husserl eingesetzt“31.
Hier beruft sich Heidegger auf das phänomenologische Sehen, das er vor allem in Husserls „Logischen Untersuchungen“ erlernt hat. Die geistigen Augen für das geistig-philosophische Sehen der zu denkenden Sachen als der Phänomene verdankt er der Husserlschen Phänomenologie. Doch Husserls eigene Phänomenologie als methodische Vorgehensweise hat den Charakter einer reflexiven Phänomenologie, der gemäß die sinnliche Erfahrung in ihrer ganzen Breite die Ausgangsstellung des menschlichen Bewußtseins von der Welt ist. Heidegger hat mit dem Einsatz seiner Dozenten-Vorlesungen die Husserlsche reflexive Phänomenologie in die hermeneutische Phänomenologie verwandelt. Diese Phänomenologie heißt hermeneutisch, weil sie das Leben-in-der-Welt so, wie es ohne reflexiven Vorgriff verfaßt ist und im Vollzug steht, auslegt. Das aber ist das, was Heidegger das vor-theoretische Leben nennt, während Husserls Inblicknahme der schlichten sinnlichen Erfahrung bereits reflexiv-theoretisch angetastet ist. Dennoch konnte Heidegger an der Husserlschen Phänomenologie das phänomenologische Sehen erlernen, nunmehr aber für die der reflexiven Phänomenologie vorausgehende hermeneutische Phänomenologie. Die insgesamt erhaltenen zehn Dozenten-Vorlesungen Heideggers arbeiten nach verschiedenen Hinsichten die Hermeneutische Phänomenologie des faktischen Lebens aus. Jede dieser Vorlesungen ist ein großer Schritt eigensten Philosophierens, in dem das faktische, d. h. das wirkliche menschliche Leben in dieser seiner Faktizität zur Auslegung gelangt. Wenn auch Husserl selbst in seiner Phänomenologie des Bewußtseinslebens nicht in dieses faktische Leben vorstößt, so hat er doch 30
Ebd., S. 41. Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, in: Gesamtausgabe, Bd. 63, hrsg. v. K. Bröcker-Oltmanns, Klostermann, Frankfurt a. M. 1988, S. 5. 31 M.
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durch seine Praxis des phänomenologischen Sehens der Bewußtseinsphänomene das hermeneutische Sehen und Auslegen der Phänomene des faktischen Lebens ermöglicht.
6.3. Die Marburger Vorlesungen von 1923/24 bis 1928 als Weg für die Ausarbeitung des ersten Hauptwerkes „Sein und Zeit“ Als Martin Heidegger im Herbst 1923 von der Universität Freiburg an die Universität Marburg wechselte, setzte er in seinen Marburger Vorlesungen den Weg fort, den er in den Freiburger Dozenten-Vorlesungen gebahnt hatte. Die hermeneutisch-phänomenologische Auslegung des faktischen Lebens wird jetzt zur hermeneutischen Phänomenologie und existenzial-ontologischen Analytik des seinsverstehenden Daseins. Diese Analytik steht unter der Führung der universellen Seinsfrage als Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. ,Sein überhaupt‘ nennt zweierlei: das Sein, die Seinsverfassung des faktischen menschlichen Daseins und das Sein, die Seinsverfassung aller anderen Bereiche des Seienden, inmitten deren das menschliche Dasein seinsverstehend existiert. Schon die letzte Dozenten-Vorlesung handelte von der Ontologie als der Hermeneutik der Faktizität. Die frühe Einsicht Heideggers, daß zum Kategorienproblem die Kategorien des faktischen Daseins und die Kategorien des Seienden, zu dem sich das faktische Dasein verhält, gehören, steht schon vor der Frage nach dem Sein im Ganzen, dem Sein überhaupt, und dessen Seinssinn. Insofern sind die Marburger Vorlesungen und die mit diesen einhergehende Ausarbeitung von „Sein und Zeit“ die Fortsetzung der Fragestellung in den Dozenten-Vorlesungen. Der Erste Teil von „Sein und Zeit“ gliedert sich in drei Abschnitte: 1. Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins, 2. Dasein und Zeitlichkeit, 3. Zeit und Sein. Das Ganze heißt dann Fundamentalontologie, die jeder Ontologie eines Seinsbereiches fundierend voraufgeht. Im 1. Abschnitt werden die ,Kategorien‘ des seinsverstehenden Daseins als Existenzialien analytisch freigelegt im Unterschied zu den Kategorien im engeren Sinne, den Kategorien des Seienden, zu dem sich das menschliche Dasein verhält. Im 2. Abschnitt wird der Seinssinn der Existenzialien als die existenziale Zeitlichkeit des Daseins zum hermeneutisch-phänomenologischen Aufweis gebracht. Der 3. Abschnitt „Zeit und Sein“ fragt im Ausgang von der Zeitlichkeit des Daseins nach dem Seinssinn des Seienden, das nicht das Dasein ist, zu dem sich aber das Dasein wesenhaft verhält. Gefragt wird nach dem Seinssinn der Kategorien des Seins des Seienden, und dieser Seinssinn wird als Temporalität (Zeit) im Unterschied zur Zeitlichkeit des Daseins gesehen und gefaßt. Während die Zeitlichkeit
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des Daseins sich transzendental vollzieht, ist die Zeit als Temporalität der Horizont, d. h. der Gesichtskreis, aus dem das Dasein im Vollzug seiner Zeitlichkeit die Zeit als den Seinssinn des Seins des Seienden versteht. Die transzendentale Zeitlichkeit der Existenz des Daseins und die horizontale Temporalität (Zeit) des Seins des Seienden, zu dem sich das Dasein verhält, bilden in ihrer Zusammengehörigkeit die Antwort auf die leitende Frage von „Sein und Zeit“, auf die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt oder im Ganzen. Zwar wurde beim Erscheinen von „Sein und Zeit“ 1927 der 3. Abschnitt nicht mitveröffentlicht. Aber in der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1927 gibt Heidegger eine „Neue Ausarbeitung des 3. Abschnittes von ,Sein und Zeit‘“, die als Band 24 seiner Gesamtausgabe veröffentlicht worden ist32. Auch in der letzten Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1928 gibt Heidegger wesentliche Gedankenzüge aus dem 3. Abschnitt „Zeit und Sein“. Die Marburger Vorlesung vom Sommer 1927 „Die Grundprobleme der Phänomenologie“, nämlich der Hermeneutischen Phänomenologie der Fundamentalontologie, muß als nachträgliche Ausarbeitung des 3. Abschnittes von „Sein und Zeit“ gelesen werden.
6.4. Die Erfahrung von der Geschichtlichkeit des Seins selbst und der Weg des seinsgeschichtlichen Denkens Diese denkerische Erfahrung, daß das Sein selbst von ihm selbst her geschichtlich ist, ist auf dem Denkweg Martin Heideggers noch einmal eine Grunderfahrung gewaltigen Ausmaßes. Die Erfahrung von der Geschichtlichkeit des Seins selbst, und nicht nur des Daseins in seinen Existenzmöglichkeiten, bricht im Jahre 1930 auf. Einer der ersten Texte dieser neuen Erfahrung ist der berühmte Vortrag von 1930 „Vom Wesen der Wahrheit“. Seit 1930 stehen die insgesamt 29 Freiburger Vorlesungen in der neu aufgebrochenen Blickbahn des seinsgeschichtlichen Denkens. Das grundlegende Werk für das seinsgeschichtliche Denken sind die „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ (1936 – 1937, 1938). In einem Rückblick auf seinen Denkweg teilt Heidegger mit, daß seit dem Frühjahr 1932 in den Grundzügen der Plan feststeht, der in dem Manuskript „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ seine erste Gestalt gewinnt. Die „Beiträge“ sind die erste von insgesamt sieben seinsgeschichtlichen Abhandlungen bis 1944. Das mit den „Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)“ einsetzende seinsgeschichtliche Denken, das seine Anfänge im Jahre 1930 hat, eröffnet einen neuen, einen zweiten, einen anderen Ausarbeitungsweg der Seinsfrage, der nicht wie der erste Weg von „Sein und Zeit“ mit einer existenzial-ontologischen Analytik des Seinsverständnisses des Daseins, sondern mit der Geschichtlichkeit des Seins im Ganzen beginnt. Wäh32 M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, in: Gesamtausgabe, Bd. 24, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klostermann, Frankfurt a. M. 1975, S. 1.
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rend auf dem Weg von „Sein und Zeit“ das Sein im Ganzen als die transzendental-horizontal aufgeschlossene Erschlossenheit oder Lichtung oder (in diesem Sinne) Wahrheit des Seins gelichtet ist, die zwar mehr oder weniger ursprünglich, aber nicht von ihr selbst her geschichtlich ist, wird nunmehr im seinsgeschichtlichen Denken dieselbe Wahrheit als Lichtung des Seins in ihrem geschichtlichen Walten des Entbergens oder Verbergens bzw. Sichentziehens erfahren. Auch das seinsgeschichtliche Denken hat hermeneutisch-phänomenologischen Charakter. Die Geschichtlichkeit der Wahrheit des Seins zeigt sich in ihrem Walten zwischen Entzug oder Zukehr der Wahrheit des Seins. Die Zukehr faßt Heidegger als die Ereignung des Ereignisses, den Entzug dagegen als die Enteignung des Ereignisses. Die Geschichte der Neuzeit, der neuzeitlichen Naturwissenschaft und modernen Technik und deren wachsende Globalisierung, denkt Heidegger als eine Geschichte des zunehmenden Entzugs der Wahrheit des Seins. Zu diesem seinsgeschichtlichen Entzug gehört ganz wesentlich das ,rechnende Denken‘, durch das die Neuzeit bis in unsere Gegenwart maßgebend bestimmt wird. Der seinsgeschichtliche Gang vom äußersten Seinsentzug bis zur offenen Zukehr der Wahrheit des Seins durchläuft in den „Beiträgen zur Philosophie“ sechs Stationen und mündet in den Wiederaufgang der Dimension des Göttlichen und des Gottes. Dieser Gang der Wahrheit des Seins läßt sich als eine Phänomenologie der Wahrheit des Seins fassen. Was für Heidegger die Phänomenologie der Wahrheit des Seins ist, ist für Hegel die Phänomenologie des Geistes. Ein Vergleich beider Denker unter dieser Hinsicht ist äußerst reizvoll. Eine zum Zentrum des seinsgeschichtlichen Denkens gehörende Grundfrage ist die nach dem Bezug von Sein und Sprache und damit die Frage nach dem Wesen der Sprache. Das Denken der seinsgeschichtlichen Seinsfrage und das Dichten werden als zwei ausgezeichnete Weisen des Bezuges zum Wesen der Sprache in deren Bezug zum Sein gedacht. Derjenige Dichter, der in der Blickbahn des seinsgeschichtlichen Denkens diesem Denken am nächsten steht, ist für Heidegger Friedrich Hölderlin. Deshalb fragt Heidegger nach der Nähe und Nachbarschaft des Hölderlinschen Dichtens zum seinsgeschichtlichen Denken. Hölderlins Spätdichtung der Elegien und Hymnen lebt für Heidegger aus der dichterischen Erfahrung der Lichtung und Offenheit des Seins. Hierher gehören die drei großen Hölderlin-Vorlesungen aus den dreißiger und vierziger Jahren. Heideggers Frage nach der Wesensnachbarschaft von Dichten und Denken nahm auch in den 50er Jahren, als der Verfasser dieses Artikels an der Freiburger Universität studierte, eine bedeutende Stellung ein. Diese denkerischen Bemühungen Heideggers gingen in die Erweiterung der „Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung“ und in das Buch „Unterwegs zur Sprache“ ein. Das seinsgeschichtliche Denken geht aus einem immanenten Wandel des fundamentalontologischen Seinsdenkens hervor. Für den Einsatz des seinsgeschichtlichen Denkens gibt es kein anderes Motiv als nur die Erfahrung von der Eigengeschichtlichkeit der Wahrheit des Seins. Diese Erfahrung entfaltet sich seit 1930 in wachsendem Maße in den Freiburger Vorlesungen, insbesondere aber in den sie-
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ben großen seinsgeschichtlichen Abhandlungen. Diese allein lassen sehen, welche Gedankenzüge zum systematischen Gefüge des seinsgeschichtlichen Denkens gehören. Hier gibt es keine Unterscheidung zwischen einem exoterischen und einem esoterischen Denken, welches letztere vom Herausgeber der Schwarzen Wachstuchhefte, bzw. der Notizbücher irrigerweise als antisemitisch bezeichnet worden ist. Heidegger sprach mündlich von den Schwarzen Heften, eine Bezeichnung, die den äußeren Einband betraf; aber in seinem Überblick über die von ihm verfaßten Manuskripte nennt er diese Hefte Notizbücher, um darin den gedanklichen Gehalt dieser Hefte zu kennzeichnen. Sie sind Notizbücher eigener Art, nicht zur Aufnahme von Notizen zur weiteren Ausarbeitung, sondern Notizen in Gestalt von kleineren Gedankenzügen, die sich außerhalb der jeweils in Arbeit befindlichen Manuskripte von Zeit zu Zeit und auch des Nachts in schlaflosen Augenblicken einstellten. In der Mehrheit gehören diese Eintragungen als Ergänzungen, auch zu weiter zurückliegenden Manuskripten, zum seinsgeschichtlichen Denken. Jene Eintragungen aber, die nicht diesen Ergänzungscharakter haben, sondern zu politischen und sonstigen Zeitgeschehnissen in der Sprache des seinsgeschichtlichen Denkens Stellung nehmen, gehören dadurch nicht etwa auch zum Bestand der seinsgeschichtlichen Gedankenzüge. Was zu diesem Bestand gehört, läßt sich allein und erschöpfend an den seinsgeschichtlichen Abhandlungen ablesen. Jede dieser Abhandlungen ist aber eine Durchgestaltung des systematischen Gefüges des seinsgeschichtlichen Denkens. Wer zwischen den systematischen Gedankenzügen und den beiherspielenden gedanklichen Äußerungen nicht zu unterscheiden vermag, leidet unter einem empfindlichen Mangel an philosophischer Urteilskraft. Das fundamentalontologische und das seinsgeschichtliche Seinsdenken Martin Heideggers hat den Rang einer mit den großen Denkern der Überlieferung vergleichbaren philosophischen Grundstellung, in der Heidegger einst an Aristoteles angeknüpft hat. Aber auch die Transzendentale Phänomenologie Edmund H usserls, die vor allem an die neuzeitliche Überlieferung von Descartes, Kant und Fichte anschließt, ist eine herausragende philosophische Grundstellung. In den letzten Briefen, die Otto Pöggeler mit mir wechselte, sprach er von einer Vielstimmigkeit der Philosophie – ein Diktum, das ich mit Überzeugung aufgriff. Jede philosophische Grundstellung der wahrhaft großen Denker bleibt ein endlicher Weg des denkenden Aufbruchs in das nicht zu bewältigende zu Denkende.
Zweites Kapitel
Die Schwarzen Hefte Zweites Kapitel: Die Schwarzen Hefte
Historisch-kritische Analyse ohne Meinungsäußerungen Francesco Alfieri
1. Vorrede »für die Wenigen – für die Seltenen« Wer Martin Heideggers Schwarze Hefte in Händen hält und deren Seiten so flüchtig überfliegt wie der »Philosoph« seine fliegenden Gedanken in seinen Notizbüchern festhalten wollte, stürzt sich in ein riskantes Unternehmen. In der Tat bezeugt ein solches naives Vorgehen seine innere Grenze darin, daß derjenige, der so vorgeht, sich als unfähig erweist, dem Gedankengang Heideggers zu folgen. Deswegen haben manche auf ihrer eigenen und viel leichteren, ihren eigenen einsamen Einfällen gemäßen Bahn die Stelle des Autors eingenommen, und haben sich so auf einem »Holzweg« verirrt. Heidegger selbst war eine solche Gefahr nicht entgangen. Der Philosoph hat den Willen geäußert, die Schwarzen Hefte seien erst nach Abschluß der Gesamtausgabe seiner Werke zu veröffentlichen. Dieses Detail dürfen wir nicht einfach übergehen, weil die Vertrautheit mit dem wissenschaftlichen Schrifttum Heideggers der einzige interpretative Schlüssel zu diesen Notizbüchern ist, sowie zum Durchdringen der Knappheit ihrer Gehalte, in der sie formuliert und in einem Zug geschrieben wurden; diese Niederschriften haben es nur darauf abgesehen, Gedanken festzuhalten, die mit der Zeit hätten verlorengehen können. Diese Knappheit im Stil ist in vielen Überlegungen der Bände 94 und 95 der Gesamtausgabe unübersehbar, in denen der ganze Text scheinbar aus spontanen, unzusammenhängenden Anmerkungen besteht, die weder ausgearbeitet noch ausgebaut hastig verfaßt wurden und zum Teil eher in der Umgangssprache als in der gehobenen wissenschaftlich gepflegten Sprache formuliert wurden. So handelt es sich nicht um einen streng ausgearbeiteten und ausgebauten Text, der als Baustein eines Denkens gelten könnte. Deswegen schien es mir zweckdienlich, auf manche Stellen durch geschweifte Klammern ({ }) hinzuweisen, wo die Art dieser Heideggerschen Schreibweise erkennbar ist; die Vertrautheit mit einer solchen Schreibart mag dem Leser hilfreich sein, damit er sich in der Knappheit dieser Anmerkungen zurechtfindet. Das reicht aber nicht aus: die thematische Vielfältigkeit dieser Anmerkungen ist so groß, daß von ihnen nur einige mit der Zeit systematisch ausgearbeitet wurden – und davon ist auch eine Spur in den Werken der Gesamtausgabe zu finden. Die meisten Anmerkungen werden aber nicht mehr
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
in den weiteren Werken erwähnt, noch wurden sie dort übernommen und weiter entwickelt. Wie ist es aber möglich, daß manche so hastig verfaßte Anmerkungen der Notizbücher nichts zu tun haben mit einer systematischen Betrachtung ? Wohl könnte man annehmen – wenn man sich dessen bewußt ist, daß dieses Fragen zu einem neuen Anfang führt, der eben das Fragen ist –, daß diese nur entworfenen Anmerkungen, die in der Gesamtausgabe spurlos verschwanden, durchgelesen werden sollen mit Berücksichtigung der Flüssigkeit im Stil vieler Heideggerscher Kategorien, die, von Sein und Zeit (1927) an, nur abgewandelt in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) übernommen und dann im Brief über den »Humanismus« (1946) und in Die Frage nach der Technik (1953) erläutert werden. Durch ein solches Fragen wird wohl das Verständnis dieser Anmerkungen ihrem Sinne nach schwieriger, nicht aber unmöglich, wenn wir diese auch nur in den Zusammenhang des Heideggerschen Sprachgebrauchs einordnen – und meines Erachtens gibt es keinen anderen Weg, um Mißverständnisse zu vermeiden, die über den Rahmen des Weges hinausgehen, den Heidegger mühsam bahnte. Darin besteht die dem Intellektuellen obliegende Aufgabe und Verantwortung, wenn er nicht hastig und um jeden Preis andere, alternative Wege geht, sondern persönlich die Entscheidung trifft, in der Schwierigkeit dieser Anmerkungen zu verweilen, wenn er über das hinaus, was viele im Laufe der letzten Jahre für »selbstverständlich« hielten, zu verstehen versucht. Natürlich ist es keine leichte Aufgabe gewesen, an das Studium der Notizbücher heranzugehen, und zwar wegen der im Hintergrunde verkündeten Selbstverständlichkeit der von einigen Fachleuten erzielten Ergebnisse. Wie dem auch sei, war das vermeintlich Bekannte und Festgestellte, das die Diskussion abschließt, nicht imstande, das – oft beunruhigte – Drängen des Fragens beim Verfasser dieser Zeilen zu beruhigen; dieses Drängen weckt die Not einer Infragestellung der erzielten Ergebnisse, denn es ist m. E. höchst fragwürdig, daß irgendeine Lösung auf einem Ergebnis beruhen könne, wo ein Denkweg ein neues Fragen immer wieder hervorruft. Im Herangehen an diese Notizbücher war ich mir ganz bewußt, das, was Heidegger von Mal zu Mal aufschrieb, erfahren zu wollen. Wie mühsam es auch sein mag, habe ich dafür gesorgt, daß meine Aufmerksamkeit von der eiligen Schreibart der Notizbücher nicht »abgelenkt« werde, und ebensowenig von der »Versuchung« zu einem Verständnis dessen zu gelangen, das letztlich nur in der Rückkehr zum Anfang verständlich wird. Das heißt jedoch nicht, daß es mir gelungen wäre, der vexata quaestio der Schwarzen Hefte ein Ende zu setzen, ganz im Gegenteil: um etwas zu schlichten, muß angenommen werden, daß – am Ende eines Denkweges – eine – wenn auch weitreichende – vexata quaestio weiterbesteht. Mein Vorhaben besteht zunächst darin, die komplexe terminologische Vielschichtigkeit der Anmerkungen Heideggers mit Berücksichtigung des jeweiligen Zusammenhangs hervorzuheben. Das Stück des Weges, den ich ging, vertraue ich dem Leser gern an, aber dann kommt es ihm zu, die Notwendigkeit, auf Heidegger zurückzukommen, selbst zu erfahren, damit neue Wege der Forschung gebahnt werden mögen, wobei diese Komplexität übernommen und dieses Fragen erlitten werden müssen, ohne auf die Ebene der Kompromisse mit der höchsten Widerlegbarkeit dessen, was sich als Selbstverständliches ausgibt, zurückzuge-
1. Vorrede »für die Wenigen – für die Seltenen«
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hen. Den Forschern, die in den vergangenen Jahren ihre eigenen »Auslegungen« vorgeschlagen haben, ihren ganz anders gefällten Urteilen über den Nachlaß Heideggers sowie über die Bemühungen seiner Schüler, ist an keinem Ort zu erwidern. Es bleibt also die Pflicht, die Verläßlichkeit ihrer Behauptungen zu prüfen und zwar aufgrund der Notizen, die Heidegger uns hinterlassen hat. Wenn auch manche Forscher zu sogenannten unwiderlegbaren Selbstverständlichkeiten gelangten, erschien es mir nicht angebracht, ihren Untersuchungen in diesem Deutungsversuch stattzugeben: in letzter Instanz und demzufolge aufgrund unserer eigenen Ergebnisse mittels einer philologischen Analyse der Notizbücher soll es uns erlaubt sein, die Entscheidung darüber zu treffen, ob diese sogenannten Selbstverständlichkeiten auf einem interpretativen Grund hermeneutischer Natur beruhen. Es sei von vornherein darauf hingewiesen, daß es sich in dieser Arbeit als notwendig erwies, eine scharfe Wende und Umkehrung der Perspektive zu vollziehen in der Rückkehr zu Heidegger, um dessen vom Verlag Klostermann bisher herausgegebenen Schwarze Hefte ohne Meinungsäußerungen auszulegen. Der Leser wird feststellen können, daß hier neue Horizonte eröffnet werden, worauf Heidegger selbst hingewiesen hat. Bis jetzt habe ich immer meine eigenen Untersuchungen mit dem Hinweis auf einige von mir erreichte mögliche Schlußfolgerungen abgeschlossen; hier dagegen bleibe es dem Leser überlassen, die erforderlichen Schlußfolgerungen zu ziehen, da eine Rückkehr mir notwendig scheint, um gegen den Strom zu meinem Ausgangspunkt zurückzukehren. Dieser Forschungsversuch – den ich dem von Heidegger gebrauchten Stil getreu als stromaufwärts, bzw. gegen den Strom bestimme – will den ersten Schritt machen im Ausgang von den Notizbüchern, um zu den Absichten des Autors zurückzukehren und mit Hilfe der Werke Heideggers zu versuchen, seinen Denkweg zu durchdringen. Jedem Band der Schwarzen Hefte entspricht im Folgenden eine Reihe ausgewählter Stellen, in denen die Schlüsselbegriffe durch Fettdruck hervorgehoben sind und dann anschließend ausgelegt werden. Nur einige Stellen werden auch in der faksimilierten originalen Handschrift wiedergegeben. Damit soll gezeigt werden, wie Heidegger den ontologischen Begriff der »Kategorie« neu betrachtet, indem er sich auf den ontologischen Aspekt mancher konkret-wirklicher historischer Begebenheiten bezieht, worauf er persönlich re-agieren wollte. Der hermeneutische Übergang, der die Kehre einer neuen Betrachtung des Daseins und der ontischen Sphäre innerhalb des seinsgeschichtlichen Denkens markiert, ist das einzig Entscheidende, um zu Heidegger zurückzukommen und die Komplexität dieser Notizen zu begreifen. In Anbetracht der Bedeutung der behandelten Themen betrachte ich die vorliegende Schrift nur als einen Versuch, sich stets einer eigenen und kritischen Beurteilung zu unterwerfen.
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
2. Überlegungen II – VI – Schwarze Hefte 1931 – 19381 2.1. Heideggers feste Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber Betrachten wir jetzt näher das uns von Heidegger hinterlassene Material. Es gibt keinen anderen Ausweg, um dessen wirkliche Verwicklung in den Nationalsozialismus zu verstehen in jenen düsteren Zeiten, in denen er als Rektor der Freiburger Universität im Vordergrund stand. Nach der Analyse des Bandes 94 habe ich alle Textstellen ausgewählt, die sich auf die thematische Einheit »Nationalsozialismus« beziehen sowie weitere damit verbundene Untereinheiten, in denen Heidegger seine Überlegungen zwischen 1931 und 1938 aufschrieb; nur so können seine Verwicklung und seine mögliche Verantwortung verstanden werden. Um dem Leser ein Raster zu bieten, habe ich eine Spur meines Vorgehens hinterlassen, in dem, wie gesagt, die jeweils ausgelegten Wörter und Ausdrücke der Schwarzen Hefte im Fettdruck hervorgehoben sind, damit wir deren Gebrauch und vor allem Übereinstimmungen aufgrund eines turbulenten historischen Zusammenhangs verstehen können. Nicht selten wandelt sich der Sinn von manchen Ausdrücken je nach dem historischen Kontext, zu dem sie gehören. Bevor wir die Texte lesen, sei hier zunächst eine begriffliche Übersicht gegeben, die sich am Ende dieser Abteilung als nützlich erweisen kann: so werden Ansätze zur Vertiefung des Themas vorgeschlagen. Die Seinsfrage als Frage nach dem Seyn ist der Hintergrund der Überlegungen Heideggers, und dieser Hintergrund ist nicht nur der Zielpunkt, sondern ein geeigneter Rückweg, um den Anfang zu erwecken. In diesem Zusammenhang ist das Dasein neu zu verstehen und kann man Gefahr laufen, auf Abwege geführt zu werden, die das Verstehen von der Rückkehr zum Ursprung der Seinsgeschichte entfernen. Einen anderen Weg einschlagen hieße, den ursprünglichen und eigentlichen Sinn des Anfangs als Fragen aus den Augen zu verlieren. In bezug auf die Seinsfrage warnt Heidegger gleich zu Beginn vor jeder Zurückführung auf das »Spiel« irgendwelcher »wissenschaftlicher Philosophien« (Winke X Überlegungen (II) und Anmerkungen, § 211): diese Frage hat vielmehr mit »neuen Anfängen« zu tun. Häufig ist der Hinweis auf die schöpferische Verwandlung des Daseins: das »Schöpferische“ ist nicht mit den »Machenschaften« zu verwechseln (Überlegungen und Winke III, § 68 und § 79) und eine »geschichtlich-geistige Welt« sei nur durch ein höheres und überlegenes echtes Wissen« mit zu errichten. Daher die »geistige Daseinsnot« und das dringende Fragen: »Wann kommen wir in die große Not des Daseins ? […] Wann machen wir Ernst mit der Fragwürdigkeit des Daseins […] ?« (§ 88). Das ist der Hintergrund. Weiterhin wollen wir jetzt Heideggers Terminologie sowie die unterschiedlichen Deklinationen der Schlüsselbegriffe in den Überlegungen II – IV orten. 1 M. Heidegger, Überlegungen II – IV (Schwarze Hefte 1931 – 1938), hrsg. von P. Trawny, Gesamtausgabe, Bd. 94, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Klostermann, Frankfurt a. M. 2014.
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Der Nationalsozialismus wird in den Überlegungen und Winken III so dekliniert: »nationalsozialistische Bewegung« mit ausdrücklicher Bezugnahme auf »Schlagworte und Phrasen« (§ 46). Was die »Schlagworte« betrifft, erlaubt es sich Heidegger, ein Schlagwort zu gebrauchen, als er den nationalsozialistischen »Philosophen« Alfred Bäumler (Baeumler) erwähnt, den er als »ein[en] mit Nationalsozialismus aufgewärmte[n] Neukantianismus [bzw. Neukantianer]« bestimmt, worauf er im Band 95 zurückkommt mit Bezugnahme auf den Nationalsozialismus. Dann werden »die berufsständlichen Organisationen« mit ihren »rechnenden Gesamtbedürfnissen« (§ 68) erwähnt. Im selben Kontext von § 68 bemerkt Heidegger bezüglich der Zukunft der Universität: »Als sei der Nationalsozialismus ein Anstrich, der allem jetzt schnell aufgetragen wird«; »der Nationalsozialismus [sei] nicht zuerst als „Theorie“ ausgebildet worden, sondern ha[be] mit dem Handeln begonnen« (§ 69); er will nicht »den Nationalsozialismus „theoretisch“ unterbauen, etwa gar, um ihn so vermeintlicherweise trag- und bestandsfähig zu machen« (§ 70). Vom § 72 aus wird offensichtlich ein neuer Ton angeschlagen, indem Heidegger den »geistigen Nationalsozialismus« einführt, obwohl dieser »geistige Nationalsozialismus« »auch nicht der „bessere“ und gar „eigentliche“ ist«. »Wohl aber ist er […] notwendig […]«. Dieser neue Ton bleibt im § 73 unverändert. Im weiteren Text führt eine Kursänderung Heidegger dazu, die »Herabsetzung des Nationalsozialismus zu einem „Dreh“« zu notieren, und in diesem Durchgang stößt der Leser auf den erwähnten »Vorteil, daß man als Nationalsozialist gilt und für die Massen durch die Presse empfohlen wird« (§ 78). Dann taucht zum ersten Mal der auf den Nationalsozialismus bezogene Terminus »Ideologie« auf. Im Folgenden soll bald der Nationalsozialismus in die Rolle eines »Vulgärnationalsozialismus« schlüpfen, und zwar durch eine viel umstrittene Gestalt, nämlich diejenige des »Zeitungsschreibers«, welcher die Rolle eines »Kulturmachers« spielt. Im Kontext einer Kritik am sozialistischen »Getue« der Studentenschaften ist Heidegger der Meinung, daß »der heutige Student kein Nationalsozialist« sei (§ 83). Im Folgenden scheint nach Heidegger der Nationalsozialismus dasselbe Schicksal wie dasjenige des Christentums zu erleiden: viele nehmen Zuflucht »durch eine verlogene Flucht in ein leer gewordenes Christentum oder in ein Ausrufen einer geistig fragwürdigen und in seiner Herkunft zweifelhaften nationalsozialistischen „Weltanschauung“« (§ 88). Momentan beschränken wir uns darauf, diese Daten zu verzeichnen. Was aber Heidegger hier unter Christentum versteht, das ist noch die Frage. Bezüglich der »Studentenschaft« und der »Dozentenschaft« wird auf den Natio nalsozialismus zurückgekehrt, indem sie »unter dem Deckmantel eines oft recht fragwürdigen Nationalsozialismus aus seiner unberechtigten Selbstsicherheit her aus den Gerichtshof spielen und so im Ganzen den völligen Mangel an Gestaltungsfähigkeit nach vorne verdecken und auf dem besten Wege sind, eine unübertreffliche Mittelmäßigkeit zu „organisieren“« (§ 96 Nr.5).
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Der § 101 führt uns in die Bilanz des sich seinem Ende nähernden Rektorats Heideggers ein: »Das bloße Reagieren mit nationalsozialistischen Machtmitteln und den dazugehörigen Funktionären kann vielleicht nach Außen die Behauptung einer Machtstellung vortäuschen; was soll das, wo das ganze Gebilde in sich ohnmächtig ist […]«. Dann wird die wiederkehrende Bezugnahme auf den Nationalsozialismus »den modernsten literarischen Mitteln« der Jesuiten und dem Ruf »lest die nationalsozia listische Presse« gegenübergestellt. Eine weitere plötzliche Kursveränderung im Vergleich zum § 72 – in dem Heidegger den »geistigen Nationalsozialismus« einführte – finden wir im § 183, in dem er notiert, daß »man […] im Nationalsozialismus den „Geist“ vermißt«. Dabei kommnt noch einmal heraus, daß der »deutsche Katholizismus« dem »Nationalsozialismus« gleichkommt, daß dieser »das Andere« und »Neue« ist und sich »im Unbeholfenen und Halben« verläuft (§ 184). Heidegger fragt sich, »inwiefern der Nationalsozialismus niemals Prinzip einer Philosophie sein kann« (§ 198) und bestimmt ihn zum ersten Mal als »ein barbarisches Prinzip«, dessen »Wesentliches« auf dem »gemeinen Denken« und der »exakten Wissenschaft« beruht (§ 206). Diese Bestimmung des Nationalsozialismus als »barbarisches Prinzip« kehrt später in den Bänden 95 und 97 wieder. Noch schärfer wird der Ton in den Überlegungen V: »Eine „nationalsozialistische“ Philosophie ist weder eine „Philosophie“ noch dient sie dem „Nationalsozialismus“« – sondern läuft lediglich als lästige Besserwisserei hinter ihnen her« (§ 61); in den Überlegungen VI wird diese als »überflüssig« und »unmöglich«, sogar »noch unmöglicher und zugleich weit überflüssiger als eine „katholische Philosophie“« betrachtet (§ 154). Den einzigen Verweis auf Hitler finden wir in den Überlegungen und Winken III: »Von hier geht, unter hirnloser Berufung natürlich auf Hitlers „Mein Kampf“, eine ganz bestimmte Geschichts- und Menschenlehre ins Volk; diese Lehre läßt sich am besten als ethischer Materialismus bezeichnen«, der »die rechte ›Ideologie‹« und einen »trüben Biologismus« verschafft (§ 81). Der Kontext einer solchen Überlegung ist dem »Vulgärnationalsozialismus« zuzuschreiben. Zu dieser ersten Gruppe von Textstellen Heideggers gehört eine weitere – sich in den Rahmen des Universitätssystems von 1933 einfügende – Vertiefung des Wortes Kampf mit der Abwandlung »geistiger Kampf« (§ 68 Nr. 9) oder im Sinne einer Vorbereitung: »aus kleinen Bezirken heraus und im Stillen das Kommende in seinem Werden vorbereiten« (§ 68 Nr. 11). Dann wird dieser Ausdruck auf den Nationalsozialismus bezogen (§ 79), aber dort sagt uns Heidegger, in welchem Sinne er den Kampf früher verstanden hatte, indem er jetzt diesen Kampf als »vorgreifenden Kampf« bestimmt: »d. h. Leiden und Gefahr und d. h. Wissen!« (§ 81). Im Folgenden wird der Kampf unter der Abwandlung »bekämpfen« dekliniert: »[…] den Katholizismus zu bekämpfen – als das in das Geistige-politische sich hinüberverwandelnde Zentrum« (§ 184).
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Die soeben formulierten verschiedenen thematischen Einheiten zielen nur darauf ab, die verschiedenartigen Abwandlungen dieser Einheiten in der vorliegenden Abteilung dem Leser anzuzeigen. Nach den nachstehenden ausgewählten Textstellen, die es dem Leser erlauben sollen, unmittelbar mit den Notizen Heideggers vertraut zu werden – wird eine mögliche Deutung vorgeschlagen, und zwar mit Berücksichtigung des ganzen hier gesammelten Materials. Winke X Überlegungen (II) und Anweisungen § 211 [123], S. 87 – 88: Das Ende – die Verwesung des Wesens zum Sein (vgl. S. 105 f.) Das Sein ist vergessen – eben weil noch ständig beiläufig gekannt und gebraucht. Das Sein in einem Gemenge wurzelloser Begriffe vertan, in einem Gewirre aller (leicht) aufstellbaren »dialektischen« Begriffsbeziehungen vernutzt der Tummelplatz für das Spiel irgendwelcher Systeme und »wissenschaftlicher Philosophien« – die sogar den fatalen Scheinvorzug haben, meist richtig – beileibe aber nicht im geringsten wahr zu sein. Doch diese Unphilosophie nur die Folge der Verwesung des Seins. Durch diese das Dasein aus der Bahn geworfen und abgesetzt in der dumpfen Ruhe einer vielfachen Ungefahr – darin alles Große verzehrt, ohne Maß und Richtung – zerfahren und gestaltlos und ohne inneres Gesetz der Nation –. Und wo sie im Aufbruch, da bleibt die eigentliche Disziplin und Zucht ihrer Zuständigkeit (Geist und Leib) ein Nachtrag, dessen leichte Erledigung übelster Pfuscherei übertragen wird.
Winke X Überlegungen (II) und Anweisungen § 218 [129 – 130], S. 92: Weder die Unmittelbarkeit zum »totalen« Staat, noch die Erweckung des Volkes und die Erneuerung der Nation, erst recht nicht die Rettung der »Kultur« als Nachtrag zu Volk und Staat und vollends nicht die Flucht in den christlichen Glauben und das fürchterliche Vorhaben einer christlichen Kultur können und dürfen im Ersten und Letzten bestimmend sein. Es muß vielmehr die weit aus dem Verborgenen genährte Unumgänglichkeit des Werkes der Wesensermächtigung in den wenigen Einzelnen erfahren und verwahrt werden. Das vertrauende Behüten der Möglichkeit des Erwirkens solchen Werkes muß ungezwungen gesichert sein. Gerade weil es sich nicht darum handeln kann, eine »Grundlegung« zu schaffen, sondern das Seiende im Ganzen zu Raum und Bahn eines großen Daseins zu bringen. (S. 131). Ohne das bleibt alles ein zufälliges und uferloses Gezerre und ein kleines Behagen ohne Maß und Rang – trotz aller Erweckung der Massen zur gewachsenen Einheit von Volk und Nation. Wenn wir uns nicht dahin bringen, daß unsere Geschichte wird ein Erkämpfen des Zuspruchs einer wesentlichen Weite und Tiefe des Daseins aus dem verschwiegenen Wesen des Seins, dann | haben wir das Ende verwirkt, und zwar ein kleines und lächerliches Ende.
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Überlegungen und Winke III § 46 [18], S. 121: Weg von den Geschäften, die andere viel besser machen, heißt nicht: Abseitsstehen von der Bewegung. Soll unser Volk nach wenigen Jahren an den ständigen Schlagworten und Phrasen verhungern – oder werden wir einen wirklichen geistigen Adel schaffen, der stark genug ist, die Überlieferung der Deutschen aus einer großen Zukunft zu gestalten? Ist es eine natürliche Folge, daß heute notwendig die Gestalt des künftigen Geistes verkannt wird und daß man innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung die Anfänge verkennen muß, die in ihr zu einer wirklichen gewachsenen Verwandlung der Kräfte und Wege und Werke drängen? Überlegungen und Winke III § 68 [31 – 38], S. 130 – 133: Welche Einrichtungen und Strebungen jetzt (Dezember 1933) die Universität bestimmen (vgl. S. 68): 1. die Deutsche Studentenschaft; 2. die (in der Bildung begriffene) Deutsche Dozentenschaft; 3. das S.A.-Hochschulamt. Diese Organisationen wirken nach ihrer Willensbildung und Haltung nicht aus dem wirklichen geschichtlichen Leben der einzelnen Hochschulen, sondern kommen von außen her, aus rätemäßigen Ansprüchen auf die einzelnen Hochschulen zu. Diese »Organisationen« arbeiten innerhalb der einzelnen Hochschulen nur mit Funktionären, von denen verlangt wird, nach der Führung sich zuerst zu richten. Der Blick für die je eigenen Aufgaben | einer Hochschule – nach Landschaft, Geschichte, Lehrkörperzusammensetzung, Art des Studentenzuzugs je verschieden – wird nicht frei – d. h. eigentlich politische Entscheidungen können gar nicht vollzogen werden. Es fehlt die Eignung und Kraft zur Besinnung auf die Lage; es fehlt vor allem jedes eigentliche weitgreifende Vorauswollen. Die Verzettelung und Verschnürung in Augenblicks-»aktion« ist unvermeidlich – zumal ja verlangt wird, daß etwas »geschieht«. 4. der nationalsozialistische Ärztebund; 5. der nationalsozialistische Juristenbund; 6. der nationalsozialistische Lehrerbund. Diese berufsständischen Organisationen sichern sich einen wesentlichen Einflußbereich auf die Hochschule. Sie bestimmen mit die Auswahl der Lehrkräfte, die Anlage und Verteilung des Lehrstoffes, die Gestaltung des Prüfungswesens. Sie setzen mit die Maßstäbe für die Arbeit und das Urteil in der Hochschulwirklichkeit. Auch hier wird nicht politisch aus jeweiligen Notwendigkeiten und Lagen und Entwicklungsstufen und Widerständen entschieden, | sondern aus den rechnenden Gesamtbedürfnissen der allgemeinen berufsständischen Ansprüche. 7. Die Ministerien übernehmen verwaltungsmäßig die Hochschulen. Sie fordern, regeln, gleichen aus all die Strebungen und Vorschläge und Forderungen der genannten Einrichtungen. Als Sicherung ist in der Hochschule die Rektoratsverfassung eingeschaltet. Sie soll eine Führung der Hochschule gewährleisten. Der Rektor wird aber
2. Überlegungen II – VI – Schwarze Hefte 1931 – 1938 lediglich zur Vermittlungsstelle jener Organisationen. Er hat allenfalls die fragwürdige Aufgabe, für alles, was in die Hochschule hineingetragen wird, die Verantwortung zu übernehmen. Es ist nur ein verhältnisweiser – kein schlechthinniger – Unterschied, ob dabei der Rektor Nationalsozialist ist oder nicht. Im letzten Falle arbeiten sogar die genannten Organisationen leichter, weil schon aus bloßer Vorsicht, wenn nicht gar Angst, alles bejaht und zur Durchführung gebracht wird. 8. Die Hochschule selbst bringt eine eigentliche »Selbstbehauptung« nicht mehr auf; sie versteht diese | Forderung gar nicht mehr; sie verliert sich in das bloße Beibehalten des überkommenen Betriebes mit den jetzt unvermeidlichen Gleichschaltungen und Neuerungen. Sie findet nicht mehr dahin zurück, die Notwendigkeit des Wissens ursprünglich zu erfahren und daraus ihre Aufgabe zu gestalten. Sie weiß nichts davon, daß eine Selbstbehauptung nichts Geringeres bedeuten müßte als die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der großen geistig-geschichtlichen Überlieferung, wie sie durch die Welten des Christentums, des Sozialismus als Kommunismus und die neuzeitliche Aufklärungswissenschaft heute noch Wirklichkeit ist. 9. Von all dem wissen aber auch all die vorgenannten (1 – 7) Einrichtungen und Stellen nichts; weshalb sie sich genau mit dem herrschenden Wissenschaftsbetrieb abfinden, wenn er nur eine gewisse politische Erziehung als notwendige Mit-Leistung sicherstellt. Noch mehr: es bleibt nicht nur bei der Duldung des wesentlichen Charakters der bestehenden Wissenschaft, es herrscht sogar und wird gepflegt ein Widerwille gegen allen | Geist, den man zuvor als Intellektualismus mißdeutet hat. Die Abneigung gegen jeden geistigen Kampf gilt als Charakterstärke und als Sinn für die »Lebensnähe«. Diese ist aber im Grunde nur eine mit Rückgefühlen geladene Spießbürgerei. Sie wäre sogar belanglos, wenn sie nicht unbewußt die ganze Bewegung in eine geistige Ohnmacht abdrängte, die den Mangel an jeglichen scharfen und harten Waffen für den bevorstehenden geistigen Kampf noch vollends als Unbeschwertheit mit Wissenskram und leeren Theorien sich zurechtlegte. 10. Diese Gesamtlage mag ein alsbald verschwindender Übergangszustand sein, gesehen aus der Enge des Geschickes einer Hochschule in der knappen Zeitspanne eines Jahres. Sie kann aber auch gedeutet werden als der rasch und unbeachtet weiterfressende Anfang eines großen Versäumnisses in der Inangriffnahme der dringlichsten Erziehungsaufgabe an der deutschen Jugend: der volklich, geschichtlich, geistigen Wissens-|erziehung, für die Wissen nicht mehr bedeutet: unverbindlicher Besitz an Kenntnissen, sondern ein Sein – das sich begreifende und im Begriff ergriffene Gewachsensein gegenüber der großen und deshalb schweren Zukunft unseres Volkes. 11. Was sollen wir in dieser Lage tun? a) Unmittelbar in der harschen Wirklichkeit nach vorne drängend mitarbeiten, d. h. sich nicht in den Formen sogenannter Führerstellen verfangen und sich um die echte – auf Keimen und Reifen angewiesene – Wirkung bringen. Also: aus der Mannschaft heraus, sie umbildend im Kampf sich eine Führerschaft werden und aus kleinen Bezirken heraus und im Stillen das Kommende in seinem Werden vorbereiten. b) Wo möglich, auf wenige, einfache, im Fluß zu haltende Einrichtungen und deren Schaffung drängen, die vor allem die Gewähr bieten, daß sich in ihrer Ordnung neue Anfänge herausbilden, echte Kräfte zusammenschließen und so langsam | und stetig die höchsten geistigen Maßstäbe gesetzt, in Gesinnung und Haltung vertraut gemacht, in Wort und Werk zur Erscheinung gebracht werden.
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c) Nach beiden Weisen kann nur gehandelt und durchgehalten werden, wenn die Universität als Vorhandenes verneint, aber der Auftrag der ganz anderen Wissenserziehung bejaht wird. {Wenn begriffen wird, daß sowohl die Reaktion, die am Bestehenden hängt, als auch die neuen Organisationen, die das Bestehende nur umschalten, an der unaufhaltsamen Auflösung und endgültigen Zersetzung der Universität arbeiten}. Solange diese Einsicht fehlt, kommt alle Arbeit für die neue Wissenserziehung nicht ins Freie und nicht auf einen wachstumspendenden Boden. – Geschichtlich-geistige Welten und Mächte werden nicht dadurch überwunden, daß man ihnen den Rücken kehrt oder durch Abmachungen in Ketten legt. Der Grundmangel der heutigen »politischen Erziehung« – eine Tautologie – liegt nicht darin, daß zu wenig und dieses nur zögernd und unsicher geschieht, sondern daß zuviel und zu überstürzt im Handumdrehen als neu gemacht werden will. Als sei der Nationalsozialismus ein Anstrich, der allem jetzt schnell aufgetragen wird. Wann begreifen wir etwas von der Einfachheit des Wesens und der bedächtigen Stetigkeit seiner Entfaltung in Geschlechtern? Wir taumeln je nur in abwegigen und überkommenen, nur scheinbar vorgreifenden Zielsetzungen. {Vielspältige Aufgaben anerkennen und in ihrer Notwendigkeit und Rangstufe begreifen und doch das Eine der eigensten Berufung festhalten. Keine Untreue gegenüber der nichtalltäglichen ursprünglichen Sicherheit des Schöpferischen. Dieses nicht mit den Machenschaften verwechseln. Keine »Klassen«, aber Rang. Keine »Schichten«, aber Überlegenheit.} Überlegungen und Winke III § 69 [39 – 40], S. 133 – 134: Eine beliebte Redeweise: der Nationalsozialismus ist nicht zuerst als »Theorie« ausgebildet worden, sondern hat mit dem Handeln begonnen. Gut. Aber folgt daraus, daß die »Theorie« überflüssig ist; folgt daraus gar, daß man sich »sonst« »im übrigen« mit schlechten Theorien und »Philosophien« aufputzt? Man sieht nicht, daß »Theorie« hier zweideutig genommen wird – je nach Bedarf – und daß man also gerade in der Deutung des eigenen Tuns »theoretisch« fehlgreift; denn: waren die vielen »Reden« im Kampf nicht »Theorien« – was wurde denn getan, als dies: die Menschen und Volksgenossen zu anderen Anschauungen umzuerziehen, z. B. vom Arbeiter und Arbeiter, von Wirtschaft, von Gesellschaft, von Staat – Volksgemeinschaft – Ehre – Geschichte? »Theorie« als abgelöster bloßer Gedanke, der nur gedacht wird, und »Theorie« als vorgreifende Wissensforderung dürfen nicht zusammengeworfen werden; je nachdem ist auch der Sinn von Praxis ein anderer; Einsatz ist nicht bloße Praxis; und bloßes Losbrechen und Umsichschlagen ist auch kein Einsatz. Der Unbegriff von »Theorie« kann praktisch die verhängnisvollsten Folgen haben; denn Praxis wird dann nur »Betrieb« = schlecht verstandene »Organisation«. Jetzt ist aber nicht der Endzustand – auch nicht einfach der Abschnitt einer bloßen Ausbreitung desselben im ganzen Volk über Partei hinaus – sondern jetzt gerade Einsatz in diesem vermeintlichen Theoretischen – weil da die Grundstimmungen sich verwurzeln und aus diesen heraus die geschichtliche Welt geschaffen werden muß.
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Je ursprünglicher und stärker die sinnbildliche Kraft der Bewegung und ihre Arbeit, umso notwendiger das Wissen. Aber dieses nicht in seiner satzmäßigen Folgerichtigkeit und Berechnung – sondern als Grundstimmungsmacht der Weltüberlegenheit a. a Hier kann man leicht feststellen, daß eine ganze Reihe von Gedanken entworfen wird, die gar keine gehobene Stilebene beanspruchen, sondern eher in der Umgangssprache formuliert werden: das bezeugen die vielen Semikola (;), das mathematische Zeichen =, der Gedankenstrich (–) und die Sätze ohne Zeitwort. Das ist auch mehr oder weniger der Fall bei den meisten anderen Textstellen.
Überlegungen und Winke III § 70 [40 – 41], S. 134 – 135: Wir wollen nicht den Nationalsozialismus »theoretisch« unterbauen, etwa gar, um ihn erst so vermeintlicherweise trag- und bestandsfähig zu machen. Aber wir wollen der Bewegung und ihrer Richtkraft Möglichkeiten der Weltgestaltung und der Entfaltung vorbauen, wobei wir wissen, daß diese Entwürfe als solche, d. h. zu »Ideen« umgefälscht, keine Wirkfähigkeit besitzen; wohl aber dann, wenn sie geworfene in der Bewegungskraft | und ihrem Feld entsprungene und darin verbleibende Fragehaltungen und Sprache sind. Die stimmende und bildschaffende Kraft des Entwurfs ist das Entscheidende – und das läßt sich nicht errechnen. {Stimmung und Bild – aber muß dem verschlossenen Gestaltwillen des Volkes entgegentreten}b. b Das Verb im Singular ist nicht auf „Stimmung und Bild“ zurückzuführen; hier soll ein anderes Subjekt (wie z. B. „Man“) vorausgesetzt werden.
Überlegungen und Winke III § 71 [41], S. 135: Ist es ein Wunder, daß allenthalben die Spießbürgerei hochkommt, eingebildete Halbkultur, kleinbürgerliche Scheinbildung – daß die inneren Forderungen des deutschen Sozialismus gar nicht erkannt und daher auch nicht gewollt werden – am wenigsten aus dem vielberufenen Charakter heraus? Die billigste Plattheit als volksverbundenes Denken! Aber solche Zustände sind nicht zu umgehen. Mittelmäßigkeit muß sein – nur darf man sie nicht bessern wollen; sie ist gestraft genug; am härtesten dadurch, daß sie um ihre Elendigkeit nicht weiß und ihrem eigenen Gesetz nach nicht darum wissen darf. Überlegungen und Winke III § 72 [42], S. 135: Der geistige Nationalsozialismus ist nichts »Theoretisches«; er ist aber auch nicht der »bessere« und gar »eigentliche«; wohl aber ist er ebenso notwendig wie der der verschiedenen Organisationen und der Stände. Wobei zu sagen ist, daß die »Arbeiter der Stirn« nicht weniger weit vom geistigen Nationalsozialismus entfernt sind wie die »Arbeiter der Faust«. {Deshalb durchstehen mit den geistigen Forderungen,} und wenn auch dieses Wollen noch so oft und leicht von oben her als Nachträgliches belächelt und nach gut marxistischer Denkweise als bloßes »Mitläufer«wesen beiseitegeschoben wird.
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Überlegungen und Winke III § 73 [42], S. 136: Die drohende Verbürgerlichung der Bewegung wird gerade dadurch wesentlich unmöglich, daß der Geist des Bürgertums und der durch das Bürgertum verwaltete »Geist« (Kultur) von einem geistigen Nationalsozialismus her zerstört wird. Überlegungen und Winke III § 78 [50 – 51], S. 140 – 141: Die Herabsetzung des Nationalsozialismus zu einem »Dreh«, mit Hilfe dessen man jetzt, als einer neuen Laterne, die bisherige Wissenschaft und ihre Stoffe absucht und, entsprechend prompt neu beleuchtet, auf den Markt wirft. Das hat neben bequemen Erfolgsmöglichkeiten überdies noch den Vorteil, daß man als Nationalsozialist gilt und für die Massen durch die Presse empfohlen wird. {Durch all das bringt man in die Bewegung eine Erstarrung}c – unter dem Schein der geistigen Verlebendigung. Die Erstarrung schafft einen bloßen Zustand – d. h. unterbindet alle vorgreifenden Antriebe und Stimmungen | und versetzt in eine gleichgeschaltete Behäbigkeit, die schlimmer ist als die vorige. Zuguterletzt schafft man sich eine Wissenslage, von der aus man überlegen vorrechnen kann, daß ja der Nationalsozialismus eigentlich immer schon da gewesen und vorbereitet sei. Und von da entbindet man sich erst vollends von der Grundstimmung der Übernahme eines ganz neuen und unerhörten geistigen Auftrags. c Hier ist der Satzbau nicht besonders gut gebildet. Man hätte eher eine passive Form erwartet: »Durch all dies wird Erstarrung in die Bewegung gebracht«.
Überlegungen und Winke III § 79 [51 – 52], S. 141: Entscheidend bleibt, ob die geistig-geschichtlichen Ausgriffe und Grundstimmungen so ursprünglich und zugleich so klar sind, daß sie eine schöpferische Umschaffung des Daseins erzwingen –; und dafür ist Voraussetzung, daß der Nationalsozialismus im Kampf bleibt – in der Lage des Sich-durchsetzen-müssens, nicht nur der »Ausbreitung« und des »Anwachsens« und Behauptens. Wo steht der Feind und wie wird er geschaffen? Wohin der Angriff? Mit welchen Waffen? Bleibt alles im Zustand des Behauptens des Errungenen, des vorzeitigen Nur-ausbauens hängen? {Beachted die übertriebene Betonung des bisherigen Kampfes, als | sei es nun zu Ende}. Wer sich nur noch behauptet und dabei einer hohlen Überlegenheit verfällt, der ist am wenigsten gefeit gegen jene Urteilslosigkeit, die eines Tages wahllos all das schluckt und preist, was vordem angeblich bekämpft wurde. d »Beachte«: hier darf angenommen werden, daß Heidegger den Leser anspricht – oder vermutlich sich selber.
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Überlegungen und Winke III § 80 [52]: Wir kommen jetzt in die Zeit der schnell angepaßten »Ideologie« für den Nationalsozialismus; {heute besonders leicht}. Die Gefahr dieser: einerseits unerheblich und gerade deshalb die Vielen irreleitend, anderseits erheblicher und dann von Anderen abgelehnt, {was zur Verneinung zugleich des Geistigen wird}e. Alles bewegt sich {doch}f in bürgerlich-liberalen Vorstellungsformen. e Ein richtigerer Satzbau wäre: »Was zugleich zur Verneinung des Geistigen wird«. f »doch« ist ein typisches Füllwort der Umgangssprache.
Überlegungen und Winke III § 81 [52 – 56]: Man kann heute schon von einem »Vulgärnationalsozialismus« sprechen; damit meine ich die Welt und die Maßstäbe und Forderungen und Haltungen der zur Zeit bestallten und geschätzten Zeitungsschreiber und Kulturmacher. Von hier geht, unter hirnloser Berufung natürlich auf Hitlers »Mein Kampf«g eine ganz bestimmte Geschichts- und Menschenlehre ins Volk; diese Lehre läßt sich am besten | als ethischer Materialismus bezeichnen; damit sei nicht gemeint die Forderung von Sinnengenuß und Ausleben als höchstes Daseinsgesetz; {beileibe nicht}h. Die Kennzeichnung dient als bewußte Abhebung gegen den Marxismus und dessen ökonomisch-materialistische Geschichtsauffassung. Materialismus bedeutet im obigen Titel: daß der sogenannte »Charakter«, der ja doch mit Brutalität und Engstirnigkeit nicht identisch ist, der aber als das A und O gilt – eben wie ein Ding angesetzt wird, um das sich alles dreht. »Charakter« kann {ja}i besagen: {bürgerliche Biedermannigkeit; oder aber einsatzbereite, auf seine Arbeit und Sachkenntnis unauffällig beschränkte und unentwegte Einsatzfähigkeit; kann auch bedeuten: Geschicklichkeit in allen Machenschaften, die nach etwas aussehen und die Dürftigkeit des Könnens und die Ernstheit und Gewachsenheit der Gesinnung – so sie fehlen – gut verdecken. Kurz: Charakter ist ja nicht vorhanden wie Steine und Autos – er wird auch nicht nur gebildet in Kurzschulungslagern – | sondern entfaltet sich in der Bewährung innerhalb der Geschichte, die er so oder so mitgestaltet – aber beileibe nicht allein – jedenfalls nicht als vorhandene Kraft – sondern wenn überhaupt – dann als In-der-Welt-sein – d. h. Kraft der Fähigkeit der wissenden, geistigen und natürlichen Auseinandersetzung mit dem Seienden}. Dieser ethische Materialismus – steht zwar höher als der ökonomische – sofern man das Sittliche über das Wirtschaftliche stellt – was ja auch erst begründet werden muß und mit »Charakter« nicht entschieden werden kann. Dieser ethische Materialismus ist daher keineswegs gefeit gegen den ökonomischen – vor allem nicht in der Hinsicht, daß er sich als Unterbau und als Tragend und Bestimmend ansieht und alles andere von vornherein als »Überbau« mißdeutet. g Adolf Hitler: Mein Kampf. Bd. 1 – eine Abrechnung; Bd. 2 – Die nationalsozialistische Bewegung. Fr. Eher Nachfolge: München 1925 u. 1927 [GA, Hrsg.]. h »beileibe nicht« gehört auch zur Umgangssprache. i »ja« hier auch als Füllwort (s. oben Note f).
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Mit diesem reichlich bürgerlichen Charaktergetue, das eines Tages an seiner eigenen Unfähigkeit scheitern könnte – verbindet sich nun ein trüber Biologismus, der dem ethischen Materialismus doch die rechte »Ideologie« verschafft. Man verbreitet die irrsinnige Meinung, die geistig-geschichtliche Welt (»Kultur«) wachse pflanzenhaft aus dem »Volk« heraus, gesetzt, daß man nur die Hemmnisse wegschafft – also z. B. die bürgerliche Intelligenz fortgesetzt schlechtmacht und auf die Unfähigkeit der Wissenschaft schimpft. Was wird aber so allein erreicht? Das dergestalt vor der »Intelligenz« gerettete »Volk« verfällt in seinem dunklen Drang in die ödeste Spießbürgerei und drängt auf Nachahmung und Eignung der bürgerlichen Vorrechte und deren Ansehen; das verfügbar Vorhandene Herrschende wird aufgegriffen, um sich damit selbst zur Herrschaft zu bringen; »man« scheut den Kampf, der nach vorne ins Ungewisse stößt und der weiß, daß nur aus dem Verschlossenen und Erlittenen durch Wenige und Einzelne das Große erschlossen wird. Wobei wir die Frage noch ganz beiseitelassen, wie weit eine Ursprünglichkeit des »Volkes« heute überhaupt auf solchem Wege erreicht wird – etwa durch Abstreichen der Intelligenz, durch Hervorholen des abgelebten Volkskundlichen und dergleichen. Es bleibt dann | immer noch eine Kleinbürgerliche Masse und die Masse der Proletarier – die nur in einem Geschichtsverlauf – aber nicht durch Abstimmung umgeschafft werden können. Wenn diese Gruppen auch nicht mehr in Klassen zerteilt und aufgeteilt und in Parteien organisiert sind – als geschichtliche Haltungen und volkliche Mächte sind sie noch da und werden nur langsam überwunden: einmal von der Jugend her und dann durch geistig-geschichtliche Grundstimmung und Leidenschaft unseres Daseins und schließlich durch den Wesenswandel der Arbeit und des Besitzes. Und all dieses soll ohne »Geist« geschaffen und nur mit »Charakter« gepredigt werden? Und all das soll »von selbst« aus dem Volk hervorwachsen – ohne daß es zur Entscheidung gezwungen und in die Wissenszucht genommen wird. Aus bloßer Beseitigung von Hemmungen ist noch nie etwas – geschweige denn etwas Großes entstanden – sondern nur durch vorgreifenden Kampf – d. h. Leiden und Gefahr und d. h. Wissen! Überlegungen und Winke III § 83 [60 – 62], S. 146 – 147: {Das sozialistische Getue der Studentenschaften – blödeste Romantik: Zusammenhocken und Saufen mit »Arbeitern«; das Besichtigen und Herumstehen in | Betrieben – wo man genau weiß, daß man hier nie auf die Dauer leben und gar arbeiten wird – all das ist genau so dumm, wie wenn der Bauer zur Zeit der Ackerbestellung oder Ernte in die Universitätsstadt zöge und sich zu Studenten-Kommersen einladen ließe, um so von sich aus die Volksverbundenheit zu bekunden; inzwischen gehen Acker und Ernte zum Teufel – oder einige Frauen schinden sich zu Tode – Sozialismus?!}j Wenn sich die Studenten um die Wissenserziehung einen Teufel kümmern; statt in der Vorbereitung zu einer echten Mitwissenschaft mit dem Wissen des Volkes diesem handelnd im Beruf und von diesem aus dienstbereit zu sein und seine geschichtj Diese ganze Stelle wurde offensichtlich (wie die folgende) in einem unruhigen und aufgeregten Gemütszustand geschrieben. Das bezeugen die nicht zu Ende geführten Sätze, die Ausrufe wie die Wörter und Redewendungen der Umgangssprache (“blöd“, „hocken“, „saufen“, „zum Teufel gehen“, „sich zu Tode schinden“ usw.).
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lich-geistige Welt mitzubauen, den Geschmack vor der endgültigen Verkommenheit im Spießerischen zu bewahren, um echte Bedürfnisse zu wecken und zu hegen – durch einfach dienende Vorbildlichkeit, die freilich eine lange Erziehung verlangt und nur aus einem höheren und überlegenen echten Wissen entspringt. Gerade als »Student« ist der heutige Student kein Nationalsozialist, sondern ein ausgemachter Spießbürger; denn in der Wissenserziehung rettet er sich zur billigsten und üblichsten Aneignung eines »Wissensbesitzes«, den er irgendwoher bezieht – ohne wissende Haltung, die in sich »sozialistisch« genannt werden könnte – d. h. von Verantwortung bewegt und durch wahrhafte Überlegenheit gesichert und handlungsbereit wäre. Dieses »sozialistische« Getue ist nur der Deckmantel für eine Flucht vor der eigentlichen Aufgabe und vor der eigenen Unfähigkeit. Überlegungen und Winke III § 88 [64 – 65], S. 148 – 149: Wir sind durch die wirtschaftliche Welt-Not hindurchgegangen und stehen noch in ihr (Arbeitslosigkeit), wir sind der geschichtlich-staatlichen Not verhaftet (Versailles), wir kennen langsam die Verkettung dieser Nöte – aber wir spüren noch nichts von der geistigen Daseinsnot – und daß wir noch nicht erfahrungs- und leidensfähig und d. h. noch nicht groß genug für sie sind, gerade das ist die größte Not. Denn man ist jetzt dabei, jeden Anbruch dieser Not schnell und grob auszuwischen entweder durch eine verlogene Flucht in ein leer gewordenes Christentum oder durch ein Ausrufen einer geistig fragwürdigen und in ihrer Herkunft zweifelhaften nationalsoziali stischen | »Weltanschauung«. Und deshalb wird auch das Geschehen verkleinert und nicht frei gemacht zu seiner geistig existenziell bedrängenden Macht. Deshalb wird alles herabgesetzt in ein billiges Schelten gegen »liberalistische Wissenschaft« und dergleichen. Als ob es in unserer eigenen Geschichte nur dieses gegeben hätte, was die Spießbürger sehen. {Wann kommen wir in die große Not des Daseins? Wie vollbringen wir die große Nötigung in die größte Not? Wann machen wir Ernst mit der Fragwürdigkeit des Daseins und mit der großen Angst, die vor dem Wagnis aufbricht? Wann zerschmettern wir die lärmende und »besitzlose« Kleingeistigkeit, die sich für »Charakter« ausgibt? Wann schaffen wir die wahrhafte Begegnung des deutschen »Arbeiters« mit seiner und seines Volkes deutscher Überlieferung?}k k Fragen über Fragen, die sich in keine gegliederte Rede bzw. strukturierte Denkweise einfügen. Es sind eher fliegende Gedanken, die noch einer weiteren Ausarbeitung bedürfen.
Überlegungen und Winke III § 96 [70 – 71], S. 152 – 153: Studentenschaft und »Dozentenschaft« betreiben jetzt denselben Berufungs- und Besetzungsbriefwechsel, den früher die bösen Ordinarien besorgten. Nur ist jetzt der Unterschied, daß 1. jetzt noch weit mehr Leute mit solchen An- und Rück-|fragen beschäftigt sind, 2. daß demzufolge die Beliebigkeit der Urteilenden und die Unnachprüfbarkeit ihrer Eignung zum Urteil sich steigert,
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3. daß die jetzt Urteilenden noch weit unerfahrener sind, 4. daß sie noch weniger als früher auf das Ganze der Hochschule ausgerichtet sind – weil sie nichts übersehen, 5. daß sie unter dem Deckmantel eines oft recht fragwürdigen Nationalsozialismus aus einer unberechtigten Selbstsicherheit heraus den Gerichtshof spielen und so im Ganzen den völligen Mangel an Gestaltungsfähigkeit nach vorne verdecken und auf dem besten Wege sind, eine unübertreffliche Mittelmäßigkeit zu »organisieren«. Überlegungen und Winke III § 101 [74 – 76], S. 154 – 155: Die wesentliche Erfahrung des zu Ende gehenden Rektoratsjahres: Das ist das unaufhaltsame Ende der Universität in jeder Hinsicht aus der Unkraft zu einer echten »Selbstbehauptung«. Diese bleibt als letzte verhallende Forderung ohne jeden Widerhall. Aus den Formen und Einrichtungen der Hochschule – erst recht nach der Verfassungsänderung – zieht sich das noch flackernde bisherige Treiben mehr und mehr zurück. Was sich als »neu« gebärdet, ist der Aufgabe nicht gewachsen; das »Alte« ist müde und findet in keinen Ursprung zurück; zu ängstlich, sich noch einmal der vollen Fragwürdigkeit der bisherigen wissenschaftlichen Arbeit auszusetzen; zu sehr auf das eigene Fach und Gebiet und Leistungsbereich und Fachwelt festgebunden, als daß ein freier Gefolgewille erwachen könnte; unfruchtbares Wohlwollen ist wertlos. Das bloße Reagieren mit nationalsozialistischen Machtmitteln | und den dazugehörigen Funktionären kann vielleicht nach Außen die Behauptung einer Machtstellung vortäuschen; was soll das, wo das ganze Gebilde in sich ohnmächtig ist und ihm überdies die Zufuhr neuer junger Kräfte oder auch nur die Erhaltung bildsamer Lehrkräfte versagt bleibt. Der Zeitpunkt meines Einsatzes war zu früh, oder besser: schlechterdings überflüssig; die zeitgemäße »Führung« soll es nicht auf inneren Wandel und Selbsterziehung absehen – sondern auf möglichst sichtbare Anhäufung neuer Einrichtungen oder auf eindrucksvolle Änderung des Bisherigen. Es kann bei diesem Tun aber das Wesentliche ganz beim Alten bleiben. All dieses muß sich auslaufen; die »Zuschauer« müssen an ihrer eigenen Langeweile verkümmern; inzwischen sammelt sich die Daseinskraft zu neuer Gründung der deutschen Hochschule. Wann sie kommt und auf welchen Wegen – das wissen wir nicht. Gewiß ist nur: wir müssen an unserem Teil das Kommende vorbereiten. Wir dürfen uns nicht an der Fortführung des Bisherigen verbrauchen, wir können uns nicht die geheime Sicht auf das Kommende verunstalten lassen. Wir werden auch nie beiseite stehen, wo das rechte Wollen auf – und Können – sich ans Werk macht. Wir werden in der unsichtbaren Front des geheimen geistigen Deutschland bleiben.
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Überlegungen und Winke III § 169 [114], S. 180: {Wie »reaktionär« das alles ist und wie sehr Nach-|vorne-denken l – in seinem Sinne – das sichere Arbeiten der Jesuiten, die mit den modernsten literarischen Mitteln eine »Literatur« hinstellen, der gegenüber der Ruf »lest die nationalsozialistische Presse« eines Tages nur noch komisch wirkt – gesetzt, daß man sich nicht entschließt, auch im Geiste revolutionär zu sein, statt den Geist »politisch« zu verfälschen}m. l Die logische Struktur dieser Notiz ist wohl an ihrem Satzbau zu rekonstruieren. m Der Ansatzpunkt dieser Notiz könnte auch als ein Ausruf verstanden werden: »Wie „reak tionär“ ist das alles und wie sehr ist das Arbeiten der Jesuiten ein „Nach-vorne-denken“!«.
Überlegungen und Winke III § 183 [121 – 122], S. 185: Die Leicht-fertigkeit der Stellungnahmen. 1. Man vermißt im Nationalsozialismus den »Geist« und befürchtet und beklagt seine Zerstörung; ja aber was versteht man da unter Geist? Irgendeine unklare Berufung auf irgendein Bisheriges – was in seiner Zeit Geltung hatte. Dieses unklare Vermissen und schwache Sichberufen gibt sich den Anschein des Überlegenen und Höheren – und vermag doch nichts zu schaffen; man ist leicht-fertig mit dem Geschehenden und dem, was »gesollt« werden »soll«. Und man hat bei solcher Leichtfertigkeit auch immer leicht jederzeit wieder Anhalt und Nahrung, um sich fortgesetzt in solchem Tun zu betätigen. 2. Man verteidigt einfach Bisheriges und gleicht es dem Geschehenden an; man betreibt eine schlaue Vermittlung, die sogar wie Aufbau aussieht, und doch ist es kein Wagen; kein Ernstmachen mit wirklicher Verwandlung. Man versteift sich auf Solches, was man überdies selbst gar nicht geschaffen, sondern nur übernommen hat; man ist gar nicht in der Lage jener, die das Kommende schaffen wollen. Mit der Leicht-fertigkeit geht die Leicht-mütigkeit zusammen. Statt wahrhaft zu bestehender Not, herrscht nur die sittlich entrüstete Verdrießlichkeit der Ausgeschalteten und die enge und glatte betriebsame Begnüglichkeit der Eingeschalteten. Und doch vollzieht sich in all diesem Widrigen und Kleinen der Außenheit [?] und des unabwendbaren Massenwesens eine Wandlung. Aber sie darf nur als notwendig – nicht jedoch als hinreichend genommen werden; sonst bleibt es bei einem mehr und mehr erblindenden Verrechnen von Erfolgen. Überlegungen und Winke III § 184 [122 – 123], S. 186: Der deutsche Katholizismus beginnt jetzt, sich der geistigen Welt des deutschen Idealismus – Kierkegaards und Nietzsches – zu bemächtigen, in seiner Weise und mit den klaren und festen Mitteln seiner Überlieferung sich anzuverwandeln. Er übernimmt in seiner Weise eine wesentliche und starke Überlieferung und schafft sich damit im voraus eine neue geistige »Position«; während man im Nationalsozialismus Gefahr läuft, vor lauter Betonung des Anderen und Neuen sich von der großen Überlieferung abzuschneiden und im Unbeholfenen und Halben sich zu verlaufen. Indem man aber dem Konkordat gemäß dem Kampf gegen die katholische Kirche
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Überlegungen und Winke III § 206 [136], S. 194
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absagt, sieht man nicht das Heraufkommen des | Katholizismus als einer in gewisser Weise sich selbst bewußt »säkularisierenden« Macht – die leicht sich mit den übrigen Mächten verbindet. Gegen die Kirche zu kämpfen ist sinnlos – wenn nicht eine Macht gleicher Art dagegen aufsteht – aber den Katholizismus zu bekämpfen – als das in das Geistige-politische sich hinüberverwandelnde Zentrum – mit dem ganzen festen inneren Gefüge seiner erstarkt kirchlichen »Organisation« – ist Grunderfordernis. Doch dieser Kampf verlangt zuerst eine entsprechende Ausgangsstellung und ein klares Wissen um die Lage. Überlegungen und Winke III § 190 [125], S. 188: Man sagt, der Nationalsozialismus sei nicht durch Gedanken, sondern durch die Tat geworden; zugegeben – folgt daraus, daß nun das Denken herabgesetzt und verdächtigt werde – oder folgt das Umgekehrte, daß deshalb erst recht das Denken in eine ungewöhnliche Größe und Sicherheit gesteigert werden müsse? Überlegungen und Winke III § 198 [129], S. 190: {Inwiefern der Nationalsozialismus niemals Prinzip einer Philosophie sein kann, sondern immer nur unter die Philosophie als Prinzip gestellt werden muß. Inwiefern dagegen der Nationalsozialismus wohl bestimmte Stellungen beziehen kann und so eine neue Grundstellung zum Seyn n miterwirken kann!} Dieses aber auch nur unter der Voraussetzung, daß er sich selbst in seinen Grenzen erkennt – d. h. begreift, daß er nur wahr ist, wenn er imstande ist, in den Stand kommt, eine ursprüngliche Wahrheit freizugeben und vorzubereiten. n Weder hier noch in den „Beiträgen“ ist der Gebrauch von „Sein“ und „Seyn“ systematisch. In manchen Fällen weist auch die Schreibart „Sein“ nicht auf den überlieferten Seinsbegriff hin, sondern auf das Sein als Ereignis.
Überlegungen und Winke III § 206 [136], S. 194: Der Nationalsozialismus ist ein barbarisches Prinzip. Das ist sein Wesentliches und seine mögliche Größe. Die Gefahr ist nicht er selbst – sondern daß er verharmlost wird in eine Predigt des Wahren, Guten und Schönen (so an einem Schulungsabend). Und daß jene, die seine Philosophie machen wollen, dann nichts anderes dazu setzen als die überkommene »Logik« des gemeinen Denkens und der exakten Wissenschaft, statt zu begreifen, daß jetzt gerade die »Logik« neu in die Not und Notwendigkeit kommt und neu entspringen muß.
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Überlegungen und Winke III § 207 [137], S. 194
2. Überlegungen II – VI – Schwarze Hefte 1931 – 1938 Überlegungen und Winke III § 207 [137], S. 194: {Wurde ich da neulich gefragt: wer Baeumler sei? Antwort: ein Professor – findig und gescheit – »philosophisch«: der auf den Kopf gestellte Klages. Im übrigen: ein mit Nationalsozialismus aufgewärmter Neukantianismus}. In diesem Falle sind solche Kennzeichnungen mit Schlagworten erlaubt, weil ein wirkliches Philosophieren nicht da ist – sondern nur Spiel mit aufgegriffenen »Stellungen« – das auch unangreifbar ist, wie jeder »Dualismus«; denn nach diesem Prinzip ist alles leicht bestimmbar: wenn es das eine nicht ist, ist es das andere. Und man ist’s zufrieden. Die Karriere ist außerdem auch gemacht. Überlegungen V § 61 [53 – 54], S. 348: Jene Gegnerschaft der Philosophie gegen ihre Zeit entspringt nicht irgendwelchen Mängeln und Mißständen des Zeitalters, sondern kommt aus dem Wesen der Philosophie und dies umso genötigter, je mehr gerade und je echter das Wollen ins Künftige Gestalt und Richtung in der Zeit gewinnt. Denn immer noch ist auch dann und zwar wesenhaft das Erdenken der Wahrheit des Seyns aller Einrichtung, Rettung und Wiederbringung des Seienden – allem unmittelbaren Schaffen und Werken – vorausgesprungen. Deshalb kann auch die Philosophie – gesetzt, daß sie solche ist – nie »politisch« abgeschätzt werden, weder in einem bejahenden noch in einem verneinenden Sinne. Eine »nationalsozialistische Philosophie« ist weder eine »Philosophie« noch dient sie dem »Nationalsozialismus« – sondern läuft lediglich als lästige Besserwisserei | hinter ihm her – aus welcher Haltung schon zur Genüge das Unvermögen zur Philosophie erwiesen ist. Sagen, eine Philosophie sei »nationalsozialistisch« bzw. sei dies nicht, bedeutet ebensoviel wie die Aussage: ein Dreieck ist mutig bzw. ist es nicht – also feig. Überlegungen VI § 154 [135], S. 509: Wer heute die Überflüssigkeit und Unmöglichkeit der Philosophie verkündet, hat den Vorzug der Ehrlichkeit vor allen jenen, die eine »nationalsozialistische Philosophie« betreiben. Dergleichen ist noch unmöglicher und zugleich weit überflüssiger als eine »katholische Philosophie«.
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Die thematische Einheit »Nationalsozialismus« schließt sämtliche oben streng chronologisch geordneten Textstellen aus dem Band 94 ein. Jetzt erweist es sich als notwendig, den gesamten Denkweg Heideggers darzustellen, um den Gedankengang seiner Überlegungen zu begreifen und mit Hilfe weiterer Zwischentexte festzustellen, ob Evolutionen oder Involutionen in seinem Denken vorhanden sind. Der bestimmende Rahmen des Denkens Heideggers in dessen eigenem Gefüge ist die Frage nach dem Sein. Dieses ständig wiederkehrende Thema ist nicht nur der vorliegenden thematischen Einheit zu entnehmen, sondern geht durch alle Überlegungen der Notizbücher hindurch. Und eben diese Frage, nämlich diejenige nach dem Sein, kann niemals von den »wissenschaftlichen Philosophien« übernommen werden, die er als »unphilosophisch« bestimmt. Weder die Flucht in den »christlichen Glauben« noch »das fürchterliche Vorhaben einer christlichen Kultur« seien eine plausible Lösung, weil beide nicht imstande sind, »im Ersten und Letzten bestimmend« zu sein (§§ 211 und 218). Diese Ausführungen fügen sich in die heikle Situation ein, in welcher das Universitätssystem sich damals befand, sowie im Versuch Heideggers, eine neue Gestaltung des Wissens zu fördern, um die Universität neu zu gründen und von jeder Vermischung mit »von außen her« kommenden Organisationen unabhängig zu machen. Unter solchen Umständen hielt Heidegger am 27. Mai 1933 seine Rektoratsrede Die Selbstbehauptung der deutschen Universität2, in der die Überlegungen über die nationalsozialistische »Bewegung« allmählich reifen. Vorrangig bleibt immer die Idee einer Kultur, die nicht »wurzellos«, sondern gerade ein Baustein wäre, sonst wird »das Dasein aus der Bahn geworfen« (§ 211). Scharf kritisiert wird von Heidegger das Auftauchen der »wissenschaftlichen Philosophien«, die eine bloß funktionelle Rolle spielen und sich vom »Spiel irgendwelcher Systeme« nähren, »die sogar den fatalen Scheinvorzug haben, meist richtig – beileibe aber nicht im Geringsten wahr zu sein« (§ 211). Läßt man sich von einer solchen un-philosophischen Kultur verführen, dann verbirgt sich darin die Gefahr, daß sie schrittweise in das Universitätssystem eingeführt wird, nachdem sie schon in die Massen durch die Kommunikationspolitik eingedrungen ist. Die Diskrepanz wird stärker mit dem langen Abschnitt 68 (Überlegungen und Winke III), der wiederum nur mit Berücksichtigung des § 211 verstanden werden kann, worin festgestellt wird, daß, wo die Unphilosophie im Aufbruch ist, »die eigentliche Disziplin und Zucht […] ein Nachtrag« bleibt, da diese erforderliche Voraussetzung für die Gründung der Universität fehle. Bezüglich der Universitätslage, die »wachstumspendend« für eine »neue Wissenserziehung« sein könnte, taucht der Ausdruck »Boden« zum ersten Mal auf. Für Heidegger ist der Boden immer mit dem Stehen auf etwas verbunden, das einem Halt gibt, und demzufolge weist er auf die Verläßlichkeit der Sache selbst. Der Halt 2 M. Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Bd. 16, hrsg. H. Heidegger, Klostermann, Frankfurt a. M. 2000, § 51, S. 107 – 117.
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gebende Boden wird auf die »Sache selbst« bezogen und ist nur von hier aus zu verstehen. Daher ist Boden ein phänomenologischer Begriff; denkerisch auf den Boden zurückgehen, heißt auf das Phänomen zurückgehen. In ihrer Heideggerschen Formulierung lautet die Maxime der Phänomenologie in »Sein und Zeit«: »Zu den Sachen selbst !« und ist gleichbedeutend mit der ersten Formulierung dieses methodischen Prinzips in der Einleitung zu den »Logischen Untersuchungen« Husserls: Auf die Sachen selbst zurückgehen. Bevor wir an den Inhalt des § 68 herangehen, wollen wir an Heideggers Anmerkung erinnern, daß keine »Erweckung der Massen« und des Volkes und keine »Erneuerung der Nation« jemals der wissenschaftlichen Unphilosophie zuzuschreiben ist (Winke X Überlegungen (II) und Anmerkungen, § 218). Aufgrund dieser Voraussetzungen dürfen wir nun in den Kern des § 68 vom Dezember 1933 eindringen und überprüfen, ob Heideggers Vorhaben weiterzuführen ist, die Universität sei der angemessene Boden, auf dem eine neue Kultur Wurzeln schlagen kann. Der Rahmen des § 68 besteht aus zwei Fragen, die Heidegger im § 46 notiert hatte: deren Antworten sind aber nur im Folgenden zu finden. Diese zwei Fragen lauten: a) ob es möglich ist, daß »unser Volk nach wenigen Jahren an den ständigen Schlagworten und Phrasen« verhungere, »oder werden wir einen wirklichen gei stigen Adel schaffen« ?; b) ob man »innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung die Anfänge verkennen« muß ? Bevor wir uns dem Fragen Heideggers stellen, ist es wichtig, über den dahinterstehenden Bestandteil zu verfügen – dessen Konturen noch genauer zu fassen sind –, den wir dem Band 95 (Überlegungen XI, § 53) von 1938 – 39 entnehmen: »Rein „metaphysisch“ (d. h. seynsgeschichtlich) denkend habe ich in den Jahren 1930 – 34 den Nationalsozialismus für die Möglichkeit eines Übergangs in einen anderen Anfang gehalten und ihm diese Deutung gegeben. Damit wurde diese „Bewegung“ […] verkannt und unterschätzt«. Diese »Fehleinschätzung«, die Heidegger begangen hat, wollen wir in der dem Band 95 gewidmeten Abteilung näher betrachten. Aufgrund dieses Bestandteils kann allerdings Heideggers Fragen in den Überlegungen und Winken III (§ 46) neue Fragen hervorrufen. Fahren wir fort in unserem Gedankengang: im § 68 hat Heidegger nicht nur die nationalsozialistische Bewegung beschrieben, sondern auch die »berufsständischen Organisationen« und »Bünde«, die innerhalb des Kontextes der Universität eine fast führende Rolle spielten und die, obwohl sie von außen her kamen, »sich einen wesentlichen Einflußbereich auf die Hochschule« gesichert hatten. Das hat Heidegger zur Kenntnis genommen und davon hat er sich auch distanziert. »Äußere« Bünde werden sie genannt, aber nicht nur deswegen, weil sie außerhalb des Universitätssystems stehen: für Heidegger ist dieses Sich-»außerhalb«-Stellen auch der ihnen fehlenden »Eignung und Kraft zur Besinnung« zuzuschreiben, derart, daß sie nur die Rolle von Funktionären spielen, die »die Maßstäbe für die Arbeit und das Urteil in der Hochschulwirklichkeit« aus »rechnenden Gesamtbedürfnis-
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sen« mitfestsetzen und die Hochschule auf den »Wissenschaftsbetrieb«3 beschränken: damit werden ernsthafte Beschuldigungen gegen diejenigen erhoben, die die Hochschule auf eine bloß äußere Organisation beschränken wollen – auf eine bloße Organisation von Funktionären, die aufgrund von zufälligen und zeitgemäßen »Abmachungen« nicht mehr imstande sind, eine dem »Schöpferischen« gewidmete geistige Kultur Wurzeln schlagen zu lassen, die wiederum eine »schöpferische Umschaffung des Daseins erzwingen« könnte (§ 79); nicht zufällig wird von Heidegger nachher notiert (§ 96): »unter dem Deckmantel« des Nationalsozialismus werde ein völliger »Mangel an Gestaltungsfähigkeit« verdeckt, die »nach vorne« gehen würde. Demzufolge wird das Beschränken von allem auf quantifizierbare und funktionelle Komponenten auf die nationalsozialistischen Bünde bezogen, die alles auf die »Aktion« reduzieren. Wie weit Heideggers Denken von der Funktionalität des Handelns als Bewirken einer Wirkung entfernt ist – um das zu zeigen wäre eine Sonderstudie gefordert, die im Brief über den »Humanismus« ihren Ausgangspunkt fände. Diese Vermischung im Zusammenspiel des »Inneren« und des »Äußeren« verärgert Heidegger, der als Rektor lediglich als »Vermittlungsstelle« der Organisationen fungiert – und nur unter Berücksichtigung dieser unsicheren Situation ist seine öffentliche Rede von 1933 neu zu verstehen. In der Unsicherheit einer »Vermittlungsstelle« zu bleiben, hieße nach Heidegger soviel wie aufschreiben zu müssen, es sei »nur ein verhältnismäßiger – kein schlechthinniger Unterschied, ob dabei der Rektor Nationalsozialist ist oder nicht« (§ 68), da ja der Einflußbereich, den das Äußere auf die Hochschule hat, größer ist als derjenige des Rektors, der die »geistige Führung«4 übernehmen sollte, wenn wir unter »geistig« das verstehen, 3 Der
öffentlichen Antrittsvorlesung, die Heidegger in der Aula magna der Universität Freiburg i. Br. am 24. Juli 1929 hielt, lag schon ansatzweise eine ähnliche Situation zugrunde: vgl. Martin Heidegger, Was ist Metaphysik ?, Klostermann, Frankfurt a. M. 200716, S. 27 [Gesamtausgabe, Bd. 9, S. 104]: »Diese verfallene Vielfältigkeit von Disziplinen wird heute nur noch durch die technische Organisation von Universitäten und Fakultäten zusammenund durch die praktische Zwecksetzug der Fächer in einer Bedeutung gehalten. Dagegen ist die Verwurzelung der Wissenschaften in ihrem Wesensgrund abgestorben«. 4 M. Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 107. Die geistige Führung der Universität übernehmen, heißt für Heidegger soviel wie deren Wesen durch ein »ursprüngliches Wissen« wiederfinden, das nie mit einem »funktionell-instrumentalen« Wissen zu verwechseln ist. Im mittleren Teil der öffentlichen Rede von 1933 können wir den Sinn dessen wiederfinden, was er unter »Geist« mit Bezug auf das Wesen der Wissenschaft sowie als den Auftrag des Rektors als geistigen Führers der Universität verstand: »„Geist“ ist weder leerer Scharfsinn, noch das unverbindliche Spiel des Witzes, noch das uferlose Treiben verstandesmäßiger Zergliederung, noch gar die Weltvernunft, sondern Geist ist ursprünglich gestimmte, wissende Entschlossenheit zum Wesen des Seins« (a. a. O., S. 112). In dieser Rede können wir auch die Vorboten dessen sehen, was Heidegger später in die Lage einer lästigen »Schachfigur« für die nationalsozialistische Bewegung geraten läßt, und einen, der der Hochschule eine andere Gestaltung zum Nutzen anderer Zwecke geben wollte. Dazu gehören z. B. folgende Textstellen: »Alle Wissenschaft ist Philosophie, mag sie es wissen und wollen – oder nicht. Alle Wissenschaft bleibt jenem Anfang der Philosophie
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was Heidegger im Auge hatte, als er auf die »Selbstbehauptung« zurückgriff: »die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der großen geistig-geschichtlichen Überlieferung« (§ 68) – wodurch laut dem 46. Abschnitt ein »geistiger Adel« geschaffen werden könne, »der stark genug ist, die Überlieferung der Deutschen aus einer großen Zukunft zu gestalten«. So zeichnet sich allmählich ab, wie sich Heidegger vom physischen und geistigen Boden der Universität langsam entfernte, in dem er keinen Raum dafür mehr fand, in dem er Wurzeln hätte schlagen können; sein Unbehagen wird dadurch offensichtlich, daß er sich im Klaren darüber ist, in diesen Umständen nicht mehr imstande zu sein, den Auftrag einer geistigen Führung zu übernehmen. In vielerlei Hinsicht hatte dann die Rolle eines Rektors mehr den Charakter einer »Vermittlungsstelle« als diejenige einer geistigen Führung in der Gestaltung einer neuen Bildung. Was blieb noch zu tun ? Heidegger zufolge ist es nicht möglich, »sich in den Formen sogenannter Führerstellen [zu] verfangen, sondern »im Kampf sich eine Führerschaft [zu] werden« (§ 68, 11a) und »wo möglich, auf wenige, einfache […] Einrichtungen« zu halten, »die vor allem die Gewähr bieten, daß sich in ihrer Ordnung neue Anfänge herausbilden« (§ 68, 11b). Wie ist aber Heideggers Zurückgreifen auf das Wort »Kampf« zu verstehen ? In Heideggers Schriften sind die Begriffe Kampf, Krieg oder Streit nur im Lichte des Frg. 53 des Heraklit über den πόλεμος zu verstehen: »Krieg (Kampf) ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien«5, wo πόλεμος dieses Seinsprinzip ist, das die Seienden aus deren Gegensätzlichkeit erzeugt. Für Heidegger ist der als Kampf verstandene πόλεμος in der Wahrheit des Seins verwurzelt, er ist der seinsgemäße Kampf im Gegenspiel des Ent- und Verhüllens, die beide der Wahrheit des Seins wesenhaft angehören. Deswegen ist es durchaus klar, daß Heidegger in seinen Manuskripten nie auf Worte einer politischen Ideologie zurückgegriffen hat, sondern ständig sich auf die vorsokratischen Denker bezieht, nämlich auf Anaximander, Heraklit und Parmenides. So greift z. B. das Wort »Geschick«, das dem seinsgeschichtlichen Denken Heideggers zugrundeliegt, auf den parmenideischen Begriff Moira unmittelbar zurück. Nur damit beschäftigt, auf die gegenwärtigen Erfordernisse zu reagieren und einer flüchtigen Nützlichkeit nachzulaufen, kann das Universitätssystem die Notwendigkeit eines geistigen Kampfes verhaftet« (S. 109); »Solches Fragen zerbricht die Verkapselung der Wissenschaften in gesonderte Fächer, holt sie zurück aus der ufer- und ziellosen Zerstreuung in vereinzelte Felder und Ecken« (S. 111); »Das Wissen steht nicht im Dienste der Berufe, […] ist uns nicht die berufliche Kenntnisnahme von Wesenheiten und Werten an sich« (S. 114); »Alle Führung muß der Gefolgschaft die Eigenkraft zugestehen. Jedes Folgen aber trägt in sich Widertand« (S. 116). 5 Der πόλεμος-Spruch des Heraklit wird auch im 144. Abschnitt der Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (in: Gesamtausgabe, Bd. 65, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klo stermann, Frankfurt a. M. 1989, S. 265) von Heidegger erwähnt; dort wird für dessen Behandlung auf die Vorlesung des Sommersemesters 1933 – 34 Vom Wesen der Wahrheit hingewiesen, jetzt in: Sein und Wahrheit, Gesamtausgabe, Bd. 36/37, hrsg. v. H. Tietjen, Klostermann, Frankfurt a. M. 2001, S. 81 – 264.
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nie begreifen. Ihr stellt es sich sogar mit Widerwillen entgegen. Im 68. Abschnitt sind zwei Fundstellen von »geistiger Kampf« zu finden, und im Folgenden erfahren wir, daß der dann als »vorgreifend« bezeichnete Kampf nur durch »Leiden und Gefahr und d. h. Wissen!« zu führen ist. Mit dem 69. Abschnitt kommen wir zum Kern einer Überlegung über den Nationalsozialismus und der umstrittenen Frage, ob dem Nationalsozialismus eine »Theorie« zugrundeliegt – sei letztere »als abgelöster bloßer Gedanke« oder als »Wissensförderung« verstanden – oder ob er mit einer »Handlung« begonnen habe. Theorie als Wissensförderung wird vom Nationalsozialismus nicht in Betracht gezogen, wie der Tatsache zu entnehmen ist, daß dessen »zu „Ideen“ umgefälschte Entwürfe« »keine Wirkfähigkeit besitzen« (§ 70). Für Heidegger soll ein Entwurf, um dauerhaften Bestand zu haben, »verbleibende Fragehaltungen und Sprache« haben, und sich einfügen in die Bewegung der Geschichte, und sich nicht nur in eine zufällige unmittelbare Gegenwart einschreiben. Dem Nationalsozialismus fehlen diese Erfordernisse und ihnen soll bald ein Ende gesetzt werden: »Wir wollen nicht den Nationalsozialismus „theoretisch“ unterbauen, etwa gar, um ihn erst so vermeintlicherweise trag- und bestandsfähig zu machen«. Ein neuer Ton wird mit der Einführung des »geistigen Nationalsozialismus« angeschlagen, nach einer Terminologie, die insgesamt drei Mal bezeugt ist (zwei Mal im 72. Abschnitt und einmal im 73. Abschnitt). Dieser »geistige Nationalsozialismus« ist nach Heidegger auch »nichts „Theoretisches“«, »er ist aber auch nicht der „bessere“ und gar „eigentliche“; wohl bleibt aber zu verstehen, warum Heidegger behauptet, er sei »ebenso notwendig wie der der verschiedenen Organisationen und der Stände«. Die Abschnitte 72 und 73 verzeichnen, wie Heidegger eine Art von geistigem Nationalsozialismus im Sinne hatte, die er gedacht oder, besser gesagt, idealisisert hatte, und die sich einer Verbürgerlichung der Kultur in den Weg hätte stellen können. Eben darum hält er diesen sogenannten geistigen Nationalsozialismus für »ebenso notwendig« wie denjenigen der verschiedenen nationalsoziali stischen »Organisationen« und »Stände«, die er dagegen im 68. Abschnitt für ihre wiederholten Einmischungen ins Universitätssystem scharf kritisiert hatte. Ein Grund mehr, die Notwendigkeit eines geistigen Nationalsozialismus aufzuklären – der in den übrigen Schwarzen Heften nicht mehr vorkommt; damit wird eine Kritik geübt an der von der »eingebildeten« Halbkultur, kleinbürgerlichen Scheinbildung eingeführten Mittelmäßigkeit, die nur »die billige Plattheit als volksverbundenes Denken« (§ 71) erzeugt. In dem Moment erwähnt Heidegger nur eine ausschließlich auf die kleinbürgerliche Klasse bezogene »Scheinbildung« und glaubt, daß die Verbürgerlichung der Bewegung nicht möglich sei, »daß der Geist des Bürgertums und der durch das Bürgertum verwaltete „Geist“ (Kultur) von einem geistigen Nationalsozialismus her zerstört wird« (§ 73). Ein solcher Optimismus macht nur einen kurzen, bald abgebrochenen Teil des Weges aus, der dann vom 78. Abschnitt ab mit der Gewißheit, daß es diesbezüglich kein Zurück mehr gibt, plötzlich verlassen wird – eine Konstante ist, die bis zum Ende in den übrigen oben verzeichneten Textstellen immer wiederkehrt –, wobei
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Heidegger die Auswirkungen dessen verzeichnet, was er für eine »Herabsetzung« des Nationalsozialismus hält. So herabgesetzt wird nämlich der Nationalsozialismus zu einem »Dreh«, »mit Hilfe dessen man jetzt, wie mit einer neuen Laterne, die bisherige Wissenschaft und ihre Stoffe absucht« und deren Sinn verfälscht – hier kehrt überwiegend die Funktionalität einer der Machenschaft angepaßten Instrumentalisierung der Kultur wieder – und man wähnt, neue Erklärungen auf den Markt zu werfen. Das habe überdies noch den Vorteil, durch »die Presse« empfohlen zu werden, die dazu dient, Ansichten zu verbreiten, die, »unter dem Schein der geistigen Verlebendigung«, das Volk beeinflussen. Darin besteht die Hauptgrenze des Nationalsozialismus, daß er umso stärker ist, wenn er versucht, eine Wissenslage zu schaffen, »von der aus man überlegen vorrechnen kann, daß ja der Nationalsozialismus eigentlich immer schon da gewesen und vorbereitet sei«. Für Heidegger steht es fest, daß der Nationalsozialismus nicht imstande ist, einen »ganz neuen und unerhörten geistigen Auftrag zu übernehmen. Die von seiner Wurzellosigkeit herrührende Dürftigkeit sucht wohl im »Sich-durchsetzen-müssen« überwunden zu werden – aber es zählt nur, daß der Nationalsozialismus im Kampf bleibt« – und gleich danach fügt der Philosoph hinzu: »Beachte die übertriebene Betonung des bisherigen Kampfes« (§ 79), eines Kampfes, der nicht gerade viel zu tun hat mit dem von Heidegger im 81. Abschnitt erwähnten Kampf »durch das Wissen«. Der Nationalsozialismus ist aber vor allem eine »Ideologie« (§ 80). Leicht erfolgt der Übergang von der »Herabsetzung« zur »Ideologie«, weil die Herabsetzung des Nationalsozialismus aus seiner Kultur hervorgeht, die sich auf den funktionellen Gebrauch von Ideen stützt, die im geistig schöpferischen Entwurf des Daseins noch nicht verankert sind und so durch Antonomasie eine »Verneinung des Geistigen« genannt werden. Um so größer die Herabsetzung, desto größer infolgedessen der auf das Volk ausgeübte Einfluß mit Ideen, die nicht darauf abzielen, die Richtigkeit ihrer Inhalte kundzutun, sondern nur durch ein dichtes Netz von breiten – von der Geschicklichkeit der Machenschaften herrührenden – Zustimmungen zu überzeugen. Im folgenden 81. Abschnitt überprüft Heidegger die Ursachen, die zum Vulgärnationalsozialismus führten, und damit werden seine zunehmenden Überlegungen über den Nationalsozialismus angefeuert, die sich bis zum 154. Abschnitt der Überlegungen ausdehnen, und u. a. auch die Frage der Universität betreffen. Wiewohl er eine Folge des Eingreifens des »Zeitungsschreibers« in der Gestalt des »Kulturmachers« ist, hängt der Vulgärnationalsozialismus überhaupt von der Herabsetzung des Nationalsozialismus ab (§ 78), was sich dadurch herausstellt, daß Nationalsozialisten, die ihre Ideen durch »die Presse« auf den Markt werfen, wähnen, einen Druck auf das Volk auszuüben. In diesem Zusammenhang tritt Hitlers Mein Kampf auf; unter Berufung darauf setzt sich der Zeitungsschreiber ein ganz bestimmtes Ziel: »eine ganz bestimmte Geschichts- und Menschenlehre ins Volk« zu verbreiten, die sich als »ethischer Materialismus« bezeichnen läßt. Man muß aber auf Heideggers straffen Gedankengang im 81. Abschnitt achten, da der sogenannte »ethische Materialismus« einen Charakter ausdrücken will, um den sich alles drehen soll, aber dann auch andererseits bedeuten kann: »Geschicklichkeit
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in allen Machenschaften«, die »die Dürftigkeit des Könnens und die Ernstheit und Gewachsenheit der Gesinnung […] gut verdecken«. Dieser so findige Charakter ist nichts »Vorhandenes« – und Heidegger fügt weiter hinzu, daß er »keineswegs gefeit gegen den ökonomischen [Materialismus]« sei. Als ob das nicht genug wäre, distanziert sich hier Heidegger ausdrücklich von einer entsprechenden nationalsozialistischen Propaganda, und uns wird dann erklärt, was unter dem im 80. Abschnitt nur zum Teil skizzierten Begriff »Ideologie« zu verstehen ist: »Mit diesem reichlich bürgerlichen Charaktergetue, das eines Tages an seiner eigenen Unfähigkeit scheitern könnte – verbindet sich nun ein trüber Biologismus, der dem ethischen Materialismus doch die rechte „Ideologie“ verschafft«. Diesbezüglich hielt es Heidegger für erforderlich, eine Überlegung niederzuschreiben, aber vor allem hielt er es für dringend, sich Gedanken darüber zu machen, wie die irrige Meinung verbreitet werden könne, die Welt »wachse pflanzenhaft«. Deswegen scheut »man« »den Kampf, der nach vorne ins Ungewisse stößt« (81). Wir müssen die betreffende Überlegung Heideggers ausführlich wiedergeben, sofern ein Bedeutungszusammenhang in ihr zur Sprache gebracht wird, den wir nicht versäumen sollten: »„man“ scheut den Kampf, der nach vorne ins Ungewisse stößt und der weiß, daß nur aus dem Verschlossenen und Erlittenen durch Wenige und Einzelne das Große erschlosssen wird«. Im gesamten Band 94 ist es die einzige Fundstelle des Begriffes »Ungewisses«, das in den Überlegungen VI (§ 2) wiederkehrt. Hier bezieht sich Heidegger eigentlich auf das Seyn, das einem »ungewiß« bleibt, solange man nicht bereit ist, sich entschlossen dem »vorgreifenden Kampf« zu stellen – und zwar durch das Wissen. Das »verfügbare Vorhandene Herrschende«, d. h. »die geistig-geschichtliche Welt« wird nicht im herrschenden Nationalsozialismus, sondern in seinem beschränkten und flachen Verständnis aufgegriffen, um mit diesem uneigentlichen Verständnis »sich selbst zur Herrschaft zu bringen« . Die herrschende öffentliche Verständlichkeit ist gerade das, was Heidegger in Sein und Zeit (§ 27) eine daseinsmäßige »Seinsweise des Man« nennt: als Einzelner lebe ich nicht aufgrund einer von mir aufgeschlossenen und gebildeten Verständlichkeit der geistig-geschichtlichen Welt, sondern ich lebe in und aufgrund des allgemein öffentlichen und darum nicht ursprünglich erschlossenen Verständnisses: mit dem Anderen (bzw. Mitmenschen) teile ich gleichmäßig dieses mittelmäßige durchschnittliche Verständnis – nicht nur mit dem Anderen, sondern mit allen, kurz mit dem »Man«. Das »Man« gilt als Bezeichnung für das nivellierte, eingeebnete Verständnis der geistig-geschichtlichen Welt, das jeder mit jedem auf die gleiche Weise teilt. In der Seinsweise des »Man« vermeiden die Menschen den Kampf, d. h. den erschließenden Entwurf dessen, was im Sein noch unbestimmt, »unerschlossen« und deswegen »verborgen«, und deswegen« »erlitten« wird. Aber die Menschen, die den Kampf, d. h. den erschließenden Entwurf des Seins übernehmen, sind immer die »Wenigen« und »Einzelnen«, wie insbesondere Denker und Dichter. Der Seinsentwurf dieser »Wenigen« und »Einzelnen« weiß, daß nur das im Sein noch »Unerschlossene« und »Erlittene« im Entwurf erschlossen, d. h. aufgeschlossen
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werden darf – und somit das Große, d. h. das ursprüngliche Verständnis der gei stig-geschichtlichen Welt. Wer diese Entscheidung nicht persönlich übernimmt, dem bleibt sicherlich das Sein ein »Ungewisses«, und Heidegger ist sich dessen ganz bewußt, als er die »Wenigen« und »Einzelnen« erwähnt, d. h. jene, denen es zukommt, den Adel des Seins zu befragen und zu denken. Dieses Bezugselement lag schon im 218. Abschnitt der Winke X und Überlegungen (II) und Anweisungen vor, mit Bezug auf »die weit aus dem Verborgenen genährte Unumgänglichkeit des Werkes der Wesensermächtigung in den wenigen Einzelnen«. Der Nationalsozialismus ist dafür verantwortlich, daß er das »Volk« aus der eigentlichen Bahn verführt, auf der das »Ungewisse« sich nie offenbaren kann, oder nur denen offenbaren kann, die ihre Angst vor dem fragenden Denken überwunden haben. Das ist wohl für Viele ein Hindernis. Man will die »Ursprünglichkeit des „Volkes“« erreichen – aber auf welchem Wege ? Für Heidegger wird schon diese Frage in einer anderen Frage beantwortet: »Und all dies soll ohne „Geist“ geschaffen und nur mit „Charakter“ gepredigt werden ?« Eine Antwort ist dies, die einer Distanzierung vom Nationalsozialismus gleichkommt, wie den Einschätzungen des 81. Abschnittes zu entnehmen ist. Mit dem 83. Abschnitt fährt Heidegger fort in seiner Überlegung über den zeitgemäßen Begriff einer Kultur, die einen Einfluß auf das Volk ausübt, die, wie wir schon gesehen haben, vom Vulgärnationalsozialismus herrührt, aber jetzt kommt »die blödeste Romantik« des »sozialistischen Getues der Studentenschaften« ins Spiel. Diese schroffe Überlegung Heideggers, die vermutlich in einem Wutausbruch und einer inneren Unruhe aufgeschrieben wurde, ist mit der Feststellung verbunden, daß damit nur die »Volksverbundenheit« »bekundet« sei – eben diese Bedeutung hat aber nichts zu tun mit der eigentlichen »Entstehung« einer »geistiggeschichtlichen Welt« durch das Wissen. Im 83. Abschnitt steht allerdings auch eine Behauptung, deren Sinn einer Erklärung bedarf: »Gerade als „Student“ ist der heutige Student kein Nationalsozialist«. Da ja Heidegger früher die »kleinbürgerliche Scheinbildung« (§ 71), den »Geist des Bürgertums« (§ 73), die »bürgerlich-liberalen Vorstellungsformen« (§ 80), die »kleinbürgerliche Masse« (§ 81) mißachtet hat, dürfen wir davon ausgehen, daß der betreffende Student nur ein ausgemachter Kleinbürger, und kein Nationalsozialist ist, sofern der Natonalsozialismus etwas anderes ist als diese Vermischung? Vielleicht wird hier die Mutmaßung angestellt, daß der Nationalsozialismus die zukünftige Möglichkeit in sich berge, sich über das beschriebene sozialistische Getue zu erheben, das am Schluß des 83. Abschnitts so bewertet wird: »nur der Deckmantel für eine Flucht vor der eigentlichen Aufgabe und vor der eigenen Unfähigkeit«. Daraus könnte der Leser leicht entnehmen, daß Heidegger den Nationalsozialismus vor einer derartigen Herabsetzung warnt; liest man aber weiter in den Überlegungen, dann sind diese Bedenken bald behoben. Im 88. Abschnitt kommt Heidegger auf die dringende Mahnung an die »geistige Daseinsnot« zurück, die »die größte Not« ist. Obwohl der Zusammenhang dieser Überlegung von der »geschichtlich-staatlichen Not« des Versailler Vertrags bzw.
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»Diktats« von 1919 sowie derjenigen der Arbeitslosigkeit herrührt – und Heidegger ist die wirtschaftliche Not natürlich nicht unbekannt – wird noch nichts von der »größten Not« gespürt, da man »noch nicht groß genug« für sie ist. Daher der Ausbruch dieser Not und die »verlogene« Flucht »in ein leer gewordenes Christentum« und zugleich in eine »geistig fragwürdige und in ihrer Herkunft zweifelhafte nationalsozialistische „Weltanschauung“«. Dieser Denkweise gemäß wird das »Christentum« – und bald verstehen wir, welcher Art Christentum Heidegger seine Vorwürfe macht – dem Nationalsozialismus angeglichen und somit dem, »was die Spießbürger sehen«. Die Behauptung, »der heutige Student« sei »als Student« »kein Nationalsozialist«, ist im Lichte der weiteren folgenden Überlegungen zu verstehen: der damalige Student ist kein Nationalsozialist, weil der Nationalsozialismus seine Wurzeln im Spießbürgertum schlägt, und demzufolge ist der Student ein ausgemachter Kleinbürger. Den Ursprung des Nationalsozialismus entdecken, heißt soviel wie den Grund verstehen, warum Heidegger eine »geistig fragwürdige und in ihrer Herkunft zweifelhafte nationalsozialistische „Weltanschauung“« erwähnt. Das Problem liegt eigentlich darin, daß der Nationalsozialismus »wurzellos« ist und darin die Größe seiner Not bezeugt. Der Student kann kein Nationalsozialist sein, und sein Getue ist die typische Reaktion desjenigen, der sich große Mühe gibt, um die Dürftigkeit seiner eigenen Grundlosigkeit zu verdecken. Im 88. Abschnitt steht die Dramatik der »geistig fragwürdigen und in ihrer Herkunft zweifelhaften nationalsozialistischen „Weltanschauung“« wörtlich zwischen der Ausgangsfeststellung der »geistigen Daseinsnot« und Heideggers nachstehendem Fragen: »Wann kommen wir in die große Not des Daseins ?«, »Wann zerschmettern wir die lärmende und „besitzlose“ Kleingeistigkeit, die sich für „Charakter“ ausgibt ?«. Die dem geistigen Entwurf Heideggers innewohnende »Not« steht im Gegensatz zum »Charakter«: tatsächlich wird der Begriff »Charakter« von Heidegger mit Bezug auf die »bestehende Wissenschaft« (§ 68, Nr. 9), auf die als »Charakterlosigkeit« geltende »Abneigung gegen jeden geistigen Kampf (§ 68, Nr. 9) gebraucht, es bezeichnet den vielberufenen Charakter der Spießbürgerei (§ 71), das »reichlich bürgerliche Charaktergetue« (§ 1), den erhobenen Anspruch ohne »Geist« zu schaffen und nur mit »Charakter« zu predigen (§ 81). Noch vernehmbarer wird bei Heidegger die Stimmung der »geistigen Daseinsnot«, als er sich dessen bewußt wird, daß seine Vorstellung von der Hochschule vorzeitig war, und bemerkt, daß seine Erfahrung als Rektor zu Ende gehen muß, weil er die Beliebigkeit der »Studentenschaft«, der »Dozentenschaft« und der »Funktionäre«, die »unter dem Deckmantel eines oft recht fragwürdigen Nationalsozialismus aus einer unberechtigten Selbstsicherheit heraus den Gerichtshof spielen und so im Ganzen den völligen Mangel an Gestaltungsfähigkeit nach vorne verdecken und auf dem besten Wege sind, eine unübertreffliche Mittelmäßigkeit zu „organisieren“« (§ 96). Durch die Berücksichtigung eines völligen Mangels an Gestaltungsfähigkeit wird nicht nur das Ende seines Amtes als Rektor angekündigt, sondern ebensowohl »das unaufhaltsame Ende der Universität« wegen ihrer »Unkraft zu einer echten „Selbstbehauptung“«. Von hier aus gibt es für Heidegger
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kein Zurück mehr. Dieses »Ende« siecht nach und nach dahin und wird von den §§ 68, 83 und 96 an verzeichnet. Der 101. Abschnitt stellt den Epilog der Beteiligung Heideggers als des Rektors an der Universität dar, und wenn auch beide das »Ende« als gemeinsamen Nenner haben, will Heidegger allerdings »zurücktreten«, um einen neuen »Anfang« vorzubereiten. Von all seinen offiziellen Beschäftigungen tritt Heidegger dann zurück, weil das »Neue« eintritt. Mit diesem »Neuen« ist der Leser schon vertraut, seitdem Heidegger – mit Bezug auf die Universität – im 68. Abschnitt aufschrieb, »der Grundmangel der heutigen „politischen Erziehung“« liege darin, »daß zuviel und zu überstürzt im Handumdrehen alles neu gemacht werden will«; im 78. Abschnitt mißbilligt er entsprechend mit Bezug auf die Herabsetzung des Nationalsozialismus, daß man die bisherige Wissenschaft mit »einer neuen Laterne« absucht und »neu beleuchtet«, um einen Einfluß auf das Volk auszuüben. Im selben Abschnitt ist der Philosoph sich darüber im klaren, daß der Nationalsozialismus nicht imstande sei, einen ganz neuen »geistigen Auftrag« zu übernehmen. Danach wird immer noch bezüglich des Nationalsozialismus dessen unter anderem typisches Merkmal hervorgehoben: »die laute Betonung des Anderen und Neuen« (§ 184) – aber zwischen diesem »Neuen« und den, von Heidegger bezüglich des universitären Kontexts erwähnten »neuen Anfängen« (§ 68, 11b), ist die geringste Gemeinsamkeit so gut wie ausgeschlossen. Wenn auch das, was sich als neu gebärdet, an Boden gewinnt, ohne der zu erfüllenden Aufgabe »gewachsen« zu sein, muß Heidegger klar und eindeutig erkennen, daß sein Einsatz als Rektor »zu früh« und »schlechterdings überflüssig« war. An einen »inneren Wandel« war kaum zu denken, weil die »nationalsozialistischen Machtmittel« und die dazugehörigen »Funktionäre« nur die Macht hatten, »nach Außen die Behauptung einer Machtstellung« vorzutäuschen, aber »das ganze Gebilde [war] in sich ohnmächtig«. Nach diesem knappen und bündigen Satz wird das Thema Universität von Heidegger nicht mehr behandelt, derart, daß der Begriff »Gebilde« hier eingeführt wird, das mit dem »Wissenschaftbetrieb« (§ 68, Nr. 9) im Zusammenhang steht; in einem derartigen Gebilde ist die Rolle Heideggers insofern überflüssig, als er mit der »Betriebs«-vorstellung nie einverstanden war. Heideggers Rücktritt ist mit einem »beiseite Stehen« nicht zu verwechseln: »Wir werden auch nie beiseite stehen, wo das rechte Wollen auf – und Können – sich ans Werk macht. Wir werden in der unsichtbaren Front des geheimen gei stigen Deutschlands bleiben«. Es ist bemerkenswert, daß die Redewendungen »unsichtbare Front« und »geheimes geistiges Deutschland« nur durch diese Textstelle (§ 101) bezeugt und nirgendwo anders – weder im Band 94 noch in den Bänden 95, 96 und 97 – zu finden sind. Dieser Satz ist ein hapax legomenon (oder Einzelbeleg) und könnte auf den gemeinsamen (»wir werden bleiben«) Entwurf verweisen, beiseite stehen zu wollen, und dabei dennoch am »für Viele« unsichtbaren Rand eines Deutschlands zu bleiben, wo nur die »Wenigen« den geistigen Kampf des Wissens übernehmen können.
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Wenn es auch verfrüht wäre, eine Anmerkung Heideggers aus den Anmerkungen III [57 – 58] von 1946 – 1947 des Bandes 97 vorwegzunehmen – wir haben vor, bei der Untersuchung des betreffenden Bandes noch im einzelnen später darauf einzugehen – sei es uns gestattet, sie jetzt schon insofern zu zitieren, als sie uns ein unentbehrliches Entschlüsselungsschema liefert, das den bisher dargelegten Gedankengang beleuchtet. Der Leser soll nur die nachstehende Textstelle im Gedächtnis behalten – mehr nicht – so wird er in seinem eigenen Gedankengang von einem Fragen begleitet, das ihm hilfreich sein mag, falls gewisse Bedenken bestehen bezüglich der Entscheidung Heideggers, von seinem Amt als Rektor zurückzutreten, zugunsten der Entscheidung Heideggers, und sich damit einer Verpflichtung, welcher er wegen der gleichzeitigen Obstruktionsmanöver seiner Kollegen überhaupt nicht nachkommen konnte, zu entziehen: »Vielleicht kommt eines Tages doch jemand dahinter, daß in der Rektoratsrede von 1933 der Versuch gemacht wurde, diesen Prozeß der Vollendung der Wissenschaft in der Verendung des Denkens vorauszudenken, Wissen als Wesenswissen wieder ans Denken zu bringen, nicht aber an Hitler auszuliefern. Warum ließ denn die Partei in allen Dozentenlagern diese Rede bekämpfen ? Doch wohl nicht deshalb, weil sie, wie die Weltöffentlichkeit vorgibt, die Universität an den Nationalsozialismus verraten hat«. (GA 97, S. 258)
Kommen wir jedoch auf die Überlegungen und Winke III (§ 169) zurück. Dort wurden keine Überlegungen mehr niedergeschrieben bezüglich des Universitätssystems, und dennoch fügt Heidegger im Kontext des Nationalsozialismus diesbezügliche neue Elemente hinzu, u. a. »das sichere Arbeiten der Jesuiten«, die ihre »Literatur« hinstellen, und den Ruf« »lest die nationalsozialistische Presse«, die beide den Geist »politisch« verfälschen. Diese Überlegung können wir nur dann verstehen, wenn wir sie mit einer der Überlegungen (§47) des Bandes 95 in Verbindung bringen: deren Kontext ist die Kritik am politischen Katholizismus und an seiner Politik. Es steht darin geschrieben: »Das „Katholische“ gewann erstmals die eigentliche Form im Jesuitismus«. Der Jesuitismus wird zum abendländischen Vorbild u. a. für die Entschiedenheit der »Organisationen und die Beherrschung der Propaganda«. Eben deshalb stellt Heidegger die »Literatur« der Jesuiten und den propagandistischen »Ruf«: »lest die nationalsozialistische Presse« auf die gleiche Stufe. Im Hintergrund bleibt die Überzeugung, daß der Jesuitismus das im 184. Abschnitt thematisierte »Katholische« gestaltet habe (Überlegungen und Winke III); andererseits ist der Bezug auf die »Propaganda« ein Thema, mit dem Heidegger sich in einer mit dem »Zeitungsschreiber« als »Kulturmacher« verbundenen Überlegung über den Vulgärnationalsozialismus heftig auseinandersetzte. All dies wird von Heidegger heftig widerlegt; in den Anmerkungen I [28] wird ein schärferer Ton angeschlagen über den »Journalismus« überhaupt und anschliessend in den Anmerkungen II [70 – 75] über den »Weltjournalismus« und den »neuzeitlichen Journalismus«. Konstant bleibt bei Heidegger in der Ablehnung der Propaganda die Bewußtwerdung, daß das Denken nunmehr verneint ist und daß ihm der »Geist« fehlt: diese lineare Entwicklung hilft uns, den 183. Abschnitt (Überlegungen und Winke III) zu verstehen: »Man vermißt im Nationalsozialismus den „Geist“ und befürchtet und beklagt seine Zerstörung«.
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In seiner »Leichtfertigkeit« und »Leicht-mütigkeit« kommt der Nationalsozia lismus dem »deutschen Katholizismus« nahe (§ 184). Bemerkenswert ist hier, daß Heidegger nicht den Katholizismus schlechthin kritisiert, wohl aber diesen bestimmten Katholizismus, der sich »in das Geistige-politische« verwandelt, der sich »säkularisiert« und der demzufolge »leicht sich mit den übrigen Mächten verbindet«, u.a. laut Heidegger mit dem Nationalsozialismus: beide finden einen gemeinsamen Nenner in der Machtgier. Nach diesem ziemlich langen Durchgang sind wir imstande, durch die flüchtigen Anmerkugen des 198. Abschnitts dem näher zu treten, was Heidegger vermutlich auf den Nationalsozialismus übertrug. Das haben wir uns mit den Abschnitten 72 und 73 notiert, in denen er über den »geistigen Nationalsozialismus« nachdachte. In dieser Überlegung des 198. Abschnitts behauptet Heidegger, daß der Nationalsozialismus, wenn er auch »niemals Prinzip einer Philosophie sein kann«, dennoch »eine neue Grundstellung zum Seyn miterwirken kann […], dieses aber auch nur unter der Voraussetzung, daß er sich selbst in seinen Grenzen erkennt – d. h. […] wenn er in den Stand kommt, eine ursprüngliche Wahrheit freizugeben und vorzubereiten«. Diese Anmerkungen werden danach mit dem 206. Abschnitt der Überlegungen und Winke III durchgesehen und überholt. In diesem späteren Abschnitt heißt es: »Der Nationalsozialismus ist ein barbarisches Prinzip. Das ist sein Wesentliches und seine mögliche Größe«. Zunächst ist zu vermerken, daß die Redensart, die den Nationalsozialismus als ein »barbarisches Prinzip« bezeichnet, in den Schriften Heideggers nirgendwo anders bezeugt ist. Demzufolge ist es ratsam, das Adjektiv »barbarisch« aus dem Zusammenhang der Schwarzen Hefte auszulegen, und angesichts anderer Kontexte, in denen Heidegger diesen Begriff gebraucht. Im Band 95 kommt er zweimal vor: »der beste Schutz gegen die freilich immer geringer werdende Gefahr, daß eine solche Barbarei des „Denkens“ […]« (Überlegungen VIII, § 51) und: »Ernst des Denkens ist nicht Betrübnis und Klage über vermeintlich schlechte Zeiten und drohende Barbarei […]« (Überlegungen XI, § 29); im Band 97 kommt er auch zwei Mal vor: »gegen die Verwilderung des Nationalsozialismus« (Anmerkungen I [151]) und: »die Barbarei der „neuen Welt“« (Anmerkungen V [137]. Insgesamt sind fünf Belege in den Schwarzen Heften zu finden, wohl unter dem Vorbehalt, daß die in den Anmerkungen I [151] erwähnte »Verwilderung« [des Nationalsozialismus] für ein Synonym von »Barbarei« gehalten werden darf. Bezüglich der vier übrigen – die zu denjenigen des Bandes 94 (§ 206) hinzukommen – findet der Leser später nicht nur diese allgemeinen Schlussfolgerungen, sondern zu gegebener Zeit die betreffende Textstelle, wo der hier nur vorläufig ausgelegte Begriff »barbarisch« vorkommt. Verfahren wir schrittweise! Die fünf Belegstellen, in denen das Wort »Barbarei« vorkommt, haben als jeweilige Hintergründe: den Nationalsozialismus in den Überlegungen und Winke III (§ 206), das »machenschaftliche Sein der Neuzeit« in den Überlegungen XI (§ 29), wieder den Nationalsozialismus in den Anmerkungen I [151] und schließ-
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lich das Abendland und die Kritik an der »neuen Welt« in den Anmerkungen V [137]. In den ersten zwei Quellenangaben (Überlegungen und Winke III, § 206 und Überlegungen VIII, § 51) kommt wiederholt das Wort »Gefahr« vor, das wir leicht mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringen können und somit mit dessen Philosophie, die »der überkommenen „Logik“ des gewöhnlichen Denkens und der exakten Wissenschaft« folgt (§ 206), aber auch mit dem »nationalsozialistischen« Gedankengut, von dem Heidegger sich ebensowohl distanziert, wie er die national-sozialistische Philosophie von Hans Heyse (1891 – 1976, ab 1933 Mitglied der NSDAP) widerlegt und scharf kritisiert. Dessen aus Mißverständnissen von Sein und Zeit mit »nationalsozialistischem Gedankengut« versalzte »Existenzphilosophie« wird von Heidegger so heftig widerlegt, daß er dessen Treiben als Verwässerung (»Wassersuppe«) bezeichnet, die mit ihm nichts zu tun hat. In der dritten Quellenangabe (Überlegungen XI, § 29) hat Heidegger eine Täuschung, einen Schwindel der »Vollstrecker und Gesetzgeber der Machenschaft« im Auge. Ihm fällt eine Kritik an der Neuzeit zu, worin »die unbedingte Herrschaft der Seiendheit über das Seiende […] den Vorrang über das „Sein“ „hat“« und die »Scheinphilosophie« nur »ein schwacher Lärm« ist. Das Abendland ist das Zeitalter der Seinsvergessenheit, aber trotz seines Verfalls bleibt ihm als Halt der »Ernst des Denkens«, das nicht »Betrübnis und Klage über vermeintlich schlechte Zeiten und drohende Barbarei« ist, sondern »Entschiedenheit« des Fragens. In der vierten Textstelle (Anmerkungen I [151]) ist der Leitfaden das Thema der »Schuld«, bzw. »Kollektivschuld«. Nun handelt es sich um eine entscheidende Anmerkung, so daß die Vorwegnahme ihres Inhalts und die dazugehörigen hermeneutischen Schlüssel uns zu weit weg führen würden. Letzlich ist der Kontext der fünften Textstelle (Anmerkungen V [137]) immer noch die Kritik am Abendland und an der Neuzeit. Es ist nicht zu übersehen, daß der gemeinsame Leitfaden der fünf oben ausgelegten Textstellen die »Scheinphilosophie« ist – die des öfteren auf den Natio nalsozialismus und die »Funktionäre« der Kultur bezogen ist – und die Gedankenlosigkeit, die in mancher Hinsicht den Nationalsozialismus und die Neuzeit miteinander verbindet: beiden gilt Kultur als ein Betrieb zweckmäßiger, funktio neller Handlungen, die dann der zweckmäßigen Machenschaft der Technik zu Diensten stehen. Alles einberechnet gerät das Sein in Vergessenheit. All diese Betrachtungen mögen nützlich sein, um den Sinn der Behauptung, der Nationalsozialismus sei »ein barbarisches Prinzip«, in den rechten Zusammenhang einzuordnen. Aufgrund der fünf oben erwähnten Textstellen und ihrer jeweiligen Kontexte kann angenommen werden, was Heidegger mit dieser Formulierung »barbarisches Prinzip« betonen wollte: das Fehlen im Sinne eines völligen Mangels an Prinzipien, das keiner neuen Erziehung zum Wissen zugrundeliegen kann. Nun müssen wir nur noch den Sinn des unmittelbar folgenden Satzes herausarbeiten. Nach der Behauptung der Überlegungen und Winke III (§ 26): »Der National-
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sozialismus ist ein barbarisches Prinzip« kommt der Satz: »Das ist sein Wesen und seine mögliche Größe«. Wollten wir uns an den wörtlichen Sinn dieser Redeweise halten, dann wäre zwangsläufig der von uns bis jetzt eingeschlagene Gedankenweg ungültig gemacht. Wegweisend mag uns als formale Anzeige das Wort »Größe« sein. Tatsächlich ist dieses Wort zumeist mehrdeutig im Sprachgebrauch Heideggers. Beispielsweise: in den Überlegungen VII (§ 56) erhält es eine positive Bedeutung: »Untergang (das heißt zur Größe)«, sowie in den Beiträgen (§§ 2, 11, 44, 116, 250, und 271), wo »Untergang« immer eine positive Bedeutung erhält. In den Überlegungen VIII (§ 53) nimmt dagegen das Wort »Größe« eine negative Bedeutung an: »die eigene Größe der jetzigen Weltanschauungen« in einem Zeitalter, das – aufgrund der »„national-sozialistischen“ Scheinphilosophie« – das Sein grob faßt und es auf die Berechenbarkeit reduziert. In den Überlegungen XI (§ 29), die den Mittelpunkt auf die scharfe Kritik an der Vollendung der Neuzeit darstellen, die von der Machenschaft bewältigt wird (deren Wesen sich als eigenes »Unwesen« erweist), stehen entsprechend die Vollstrecker dieser Machenschaft »in einem Müssen«, das ihnen »die Sicherheit gibt, die jedesmal das Zeichen der „Größe“ wird«; daraus geht eindeutig hervor, daß das Wort »Größe« hier eine negative Bedeutung erhält, wie im 2. Abschnitt der Beiträge6. Es ist zu vermuten, daß die Freiburger Vorlesung Einführung in die Metaphysik, SS 1935, in der Heidegger die »Größe« der nationalsozialistischen »Bewegung« anerkennt, hermeneutisch neu zu betrachten ist aufgrund der Mehrdeutigkeit des Begrifffes »Größe« im Sprachgebrauch Heideggers. Ein Zweifel besteht und darf durch den flüssigen Stil gerechtfertigt werden, mit dem Heidegger die Eindeutigkeit von vielen Grundworten abwandelt – im Sinne eines neuen Er-schaffens – um neue Horizonte zu eröffnen, die je aus dem geistigen Kontext seiner Überlegungen zu entnehmen sind. Einen derartigen Werdegang verfolgend soll die hier angewandte Hermeneutik die unbequemen philologischen Übereinstimmungen berücksichtigen und demzufolge sich mit ihnen auseinandersetzen. Das sind nur einige Beispiele, um darauf hinzuweisen, daß es unmöglich ist, den von Heidegger gebrauchten Begriffen einen wörtlichen Sinn zugrundezulegen, da sie unterschiedlichen Farbschattierungen unterliegen und manchmal von ihm mit einer veränderten Bedeutung gebraucht werden, die nur aufgrund des jeweiligen Kontexts verständlich sind. Kommen wir auf die oben angeführte Textstelle zurück – »Der Nationalsozialismus ist ein barbarisches Prinzip. Das ist sein Wesen und seine mögliche Größe« – dann und demzufolge darf sie nicht aus ihrem Gesamtkontext herausgerissen und isoliert betrachtet werden ohne Berücksichtigung der hermeneutischen Fragestellung des Heideggerschen Sprachgebrauches. Die Erläuterung des Sinnes beider Sätze erweist sich nicht als erforderlich, da deren Sinngehalt den vorangehenden Auslegungen zu entnehmen ist. Dazu steht diese 6 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, § 2, S. 8: »[…] weil der Mensch unkräftig geworden ist zum Da-sein, da ihn die entfesselte Gewalt der Raserei im Riesigen überwältigt hat unter dem Anschein der „Größe“«.
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Auslegung weiteren hermeneutischen Schlüsseln offen, die im Laufe der vorliegenden Arbeit wiederzufinden sind. Auf den Nationalsozialismus zurückkommend: in den Überlegungen und Winke III (§ 207) berichtet Heidegger auch über das von ihm gefällte Urteil als Antwort auf die ihm gestellte Frage, wer Bäumler sei (d. h. der deutsche Philosoph und Bachofen- und Nietzsche-Ausleger Alfred Bäumler, 1887 – 1968, der 1933 in die NSDAP eintritt). Die Frage beantwortet Heidegger unverblümt, er sei »ein mit Nationalsozialismus aufgewärmter „Neukantianer“«, und dabei erlaubt er sich ein Schlagwort zu gebrauchen (»In diesem Falle sind solche Kennzeichnungen mit Schlagworten erlaubt«). Für Heidegger gibt es bei Baeumler kein »wirkliches Philosophieren«. Auf Heideggers Abneigung gegen die Ausnutzung der Philosophie – und damit sind wir bald am Ende der vorliegenden Abteilung angelangt – wird im 65. Abschnitt der Überlegungen V zurückgegriffen: »Eine „nationalsozialistische Philosophie“ ist weder eine Philosophie noch dient sie dem „Nationalsozialismus“ – sondern läuft lediglich als lästige Besserwisserei hinter ihm her«. Damit wird der eindeutige Beweis dafür erbracht, daß Heidegger sein seinsgeschichtliches Denken gerade nicht auf den Nationalsozialimus gründete, und somit überhaupt nicht auf Politik. Seine Stellungnahmen zu der Philosophie, die man damals als nationalsozialistisch ausgab, gelten auch noch heutzutage für jeden, der seine Philosophie heute als nationalsozialistisch bezeichnen will. Wer so vorgeht, setzt sich der scharfen Ironie Heideggers aus: »Sagen, eine Philosophie sei „nationalsozialistisch“ bzw. sei sie nicht, bedeutet ebensoviel wie die Aussage: ein Dreieck ist mutig bzw. ist es nicht – also feig«. So will Heidegger betonen, daß eine derartige Kennzeichnung der Philosophie blanker Unsinn ist. Heideggers Entwurf eines geistigen Wissens, das der Wahrheit des Seins gewachsen wäre, hatte wenig zu tun mit der Funktionalität, auf die die damalige Kultur sich gestürtzt hatte. Eine »nationalsozialistische Philosophie« betreiben – »dergleichen ist noch unmöglicher und zugleich weit überflüssiger als eine „katholische Philosophie“« (Überlegungen VI, § 154).
2.2. Entwurzelung, Boden und verbundene zusammengesetzte Wörter: deren »Ursprung« und un-politischer Gebrauch »Entwurzelung«, »Boden« und verwandte zusammengesetzte Worte werden dann von Heidegger gebraucht, wenn er sich auf die Ursache bezieht, die zur Niederlage der »echten Philosophie« führen, wie wenn diese als Tauschmittel (wohl ein Wort der Kaufmannsprache !) für den Zugang zu akademischen Karrieren gebraucht wird. Die Gründe entdecken, die zum Verfall der echten Philosophie führen wie zu deren Unfähigkeit, auf die Seinsgeschichte zurückzukommen, soll uns helfen, den Sprachgebrauch Heideggers genau zu orten und zu er-örtern und dessen »Ursprung« aus dem jeweiligen Kontext, aus dem seine Überlegungen ihren Ausgang nehmen. Ihre jeweiligen Kontexte außer acht zu lassen, hieße deren Sinn
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zu vergessen und vom rechten Weg abzukommen, der zum eigenen Verständnis führt und das Verständnis der Anderen begünstigt: darin steht die Verantwortung des »Forschers« auf dem Spiel. 2.2.1. Entwurzelung – trotz aller Widerstände widerstandsfähig Das Wort »Entwurzelung« ist insgesamt sechs Mal belegt: einmal in den Überlegungen IV (§ 269) und fünf Mal in den Überlegungen V (§§ 85, 86, 87, 95 und 123). Dessen Kontext kennzeichnet die Krisis des ursprünglichen beabsichtigten Wissens und dessen beabsichtigten Ersetzung durch die »Tyrannei der Technik«, die selbst gegen sich selbst »ungesichert, schwankend und schwindend ist«. Diese Ersetzung markiert das Zeitalter des Fortschritts sowie der »großen Leere« (§ 123), in der der von der Technik faszinierte und verführte Mensch in eine gedankenlose Gegenwart »taumelt«. Infolge der Technik versinkt alles in die Funktionalität des Nutzbaren; dadurch wurde der Mensch zum Nutznießer eines Mechanismus, dem er unwissentlich ebenso zum Opfer fällt: in die Verlorenheit im Un-grund. Der Begriff »Entwurzelung« unterliegt folgenden Abwandlungen: »der Entwurzelung des Abendlandes die Gegenwehr entgegenstellen« (Überlegungen IV, § 269); bezüglich der »Tyrannei der Technik«: »wie weit muß die Entwurzelung schon reichen, um durch Solches hingerissen zu werden […]« (Überlegungen V, § 85); »Die geschichtliche Entwurzelung und Ungebundenheit des Zeitalters hat ihr deutlichstes Kennzeichen in der Hölderlin-Mode« (§ 86); »Technik und Entwurzelung« gehören zusammen und haben einen »gemeinsamen Grund« (§ 87); das Zeitalter, »wo gar nicht Wahrheit, sondern nur Geltung gesucht wird«, »weil man schließlich gar nichts anderes mehr hören will als – die Betörung über die organisierte Entwurzelung« (§ 95); der Fortschritt einer Kultur, die »die selbe Verödung einer schon längst vollzogenen Entwurzelung des Seienden aus dem Seyn« weiterführt (§ 123). Die jeweiligen Zusammenhänge dieser Abwandlungen werden im Folgenden näher betrachtet; bis dahin sei nur bemerkt, daß in dieser auf das Thema »Entwurzelung« bezogenen Abteilung manche Bezugnahmen Heideggers auf »das Christliche« (§ 86) und die »Ohnmacht des christlichen Glaubens« (§ 123) auftauchen. Wie sind aber »Entwurzelung« und die zwei oben erwähnten Hinweise im Kontext des Fortschreitens der Technik und des Fortschritts der Kultur miteinander zu verbinden ? Was für Folgen soll ein Wissen haben, das sich auf historische Begebenheiten beschränkt, als wenn Hölderlin »zu irgendeinem Nutzen in Bezug gestellt ist« ?
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Überlegungen V § 85 [78], S. 363
2. Überlegungen II – VI – Schwarze Hefte 1931 – 1938 Überlegungen IV § 269 [105 – 106], S. 292 – 293: Wir können nicht wissen, was im Grunde mit uns geschieht; solches Wissen war auch noch nie einem geschichtlichen Zeitalter beschieden. Was es zu wissen meint, ist immer noch ein Anderes als das, was geschieht. Aber wir müssen ein Zwiefaches ergreifen und in seiner Zusammengehörigkeit begreifen: einmal der Entwurzelung des Abendlandes die Gegenwehr entgegenstellen und dann zugleich die höchsten Entscheidungen geschichtlichen Daseins vorbereiten. Jene Gegenwehr ist in der Art ihres Vorgehens und ihrer Ansprüche völlig verschieden von dieser Vorbereitung. Jene braucht einen unmittelbaren Glauben und die Fraglosigkeit der zugreifenden Gegenhandlung. Diese muß ein ursprüngliches Fragen werden, sehr vorläufig und fast – von dort gesehen – nutzlos. Es ist nicht nötig, ja vielleicht sogar unmöglich, daß Beides zugleich aus einem höheren Wissen heraus vollzogen wird. Es ist sogar wahrscheinlich, daß im Gesichtskreis der Gegenwehr, die sich zugleich als Neu-Gründung weiß, alles Fragen als zurückgebliebene Haltung abgewiesen werden muß. Und dennoch – nur wenn die Vorbereitung der äußersten Entscheidungen sich einen gegründeten Raum schafft – als Dichten, und Kunst überhaupt, als Denken und Besinnung – nur dann wird die kommende Geschichte mehr sein als nur die Forterhaltung der leiblichen Geschlechterfolge in einem leidlich erträglichen »Lebens«kreis. Überlegungen V § 85 [78], S. 363: Die Tyrannei der Technik – wo sie selbst gegen sich so ungesichert, schwankend und schwindend ist; im Nu durch sich selbst überholt und ohne Verlaß – daß solches herrschen und bezaubern kann – welchen Menschen setzt dies voraus? Wie weit muß die Entwurzelung schon reichen, um durch Solches hingerissen zu werden; denn es handelt sich ja nicht um Einzelne, die vielleicht noch romantisch sich wehren und doch mitzermahlen werden. Technik kann verlängern, verzögern, so oder so ins Meßbare wirken – sie kann niemals überwinden, d. h. gründen –; sie wird selbst mehr und mehr das stets Überwindbare, und so gerade hält sie sich in einer Dauer – obzwar sie keine Gewähr bietet, zumal wo sie gegen ihresgleichen steht. Überlegungen V § 86 [78 – 79], S. 363 – 364: Die geschichtliche Entwurzelung und Ungebundenheit des Zeitalters hat ihr deutlichstes Kennzeichen in der Hölderlin-Mode; denn entweder verrechnet | man Hölderlin auf das »Vaterländische« oder man spielt ihn offen und versteckt ins »Christliche« hinüber. So wird die Entscheidung, die er ist, nicht nur umgangen, sondern überhaupt nicht ins Wissen gehoben. Aber jedesmal besteht der Schein, als sei sein Werk nun am Höchsten gemessen, wo es doch nur historisch gemacht und zu irgendeinem Nutzen in Bezug gestellt ist.
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Überlegungen V § 87 [79], S. 364
2. Überlegungen II – VI – Schwarze Hefte 1931 – 1938 Überlegungen V § 87 [79], S. 364: Technik und Entwurzelung. – Während Radio und allerlei Organisation das innere Wachsen und d. h. ständige Zurückwachsen in die Überlieferung im Dorf und damit dieses selbst zerstören, errichtet man Professuren für »Soziologie« des Bauerntums und schreibt haufenweise Bücher über das Volkstum. Dieser Vorgang des Schreibens über … ist genau derselbe wie das Aufreden des Radioapparats an die Bauern mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der städtischen Fremden, die das Dorf zunehmend überschwemmen. Aber das Verhängnisvollste ist, daß man diese Vorgänge überhaupt nicht sehen will, geschweige denn ihre Selbigkeit und ihren gemeinsamen Grund. Überlegungen V § 95 [86 – 87], S. 369: Wer ahnt unter den Heutigen jenes andere Gesetz, daß das Wesentlichste zuerst in der Gestalt erstritten wird, die von ihm fordert, zuvor noch einmal in das Verborgene zurückzusinken als das zu Frühe? Und vollends: wer wagt diesen Umweg in einem Zeitalter gar, wo nur die greifbare »Tat«, d. h. der Nutzen und der Erfolg, in Geltung steht – wo gar nicht Wahrheit, sondern nur Geltung gesucht wird. Wann kommen die Wegbereiter der Umwege des | Zu-Frühen? (Vorerst lärmen nur die Trompeter des Allzuspäten und sie lärmen unausgesetzt und sich überlärmend, weil die Ohren für den Lärm immer größer und zahlreicher werden – weil man schließlich gar nichts anderes mehr hören will als – die Betörung über die organisierte Entwurzelung.) Überlegungen V § 123 [115 – 117], S. 387 – 389: Wir bewegen uns immer noch im Zeitalter des Fortschritts – nur daß er eine Zeitlang als internationales Gut angestrebt wurde und heute als der Wettbewerb der Nationen ausgerufen wird: die »besten« Filme und die »schnellsten« Flugzeuge – die »sicher sten« Mittel, nirgendwo mehr zu verweilen und auf etwas zuzuwachsen – sondern alles unversehens in einem zu besitzen und dann? in der großen Leere taumeln und sich überschreien. Der Fortschritt, zum Wettbewerb eigens ausgerufen, wird jetzt zur noch schärferen Zange, die den Menschen in seine Leere einklemmt. Und was ist denn nun eigentlich Fortschritt? Das Fort- und Wegbringen des Seienden und was dafür gilt aus der an sich | schon genug dürftigen Wahrheit des Seyns. Denn sehen wir einmal offenen Auges zu und fragen wir, wohin ist z. B. die neuzeitliche Naturwissenschaft fortgeschritten? Man möchte sagen: seit drei Jahrhunderten so weit und so rasch und sich überstürzend, daß keiner mehr diese Bewegung übersieht. Und was geschah im Grunde hinsichtlich des Wissens von der Natur? Es ist um keinen Schritt »weiter« gekommen, und es konnte dies und durfte es auch nicht, wenn jener Fortschritt ermöglicht werden sollte; denn noch ist Natur: der zeiträumliche Bewegungszusammenhang von Massepunkten – trotz Atomphysik und dergleichen. Ja anfänglich war noch diese Natur eingehalten in eine Ordnung des Seienden – jetzt ist auch diese mit der wachsenden Ohnmacht des christlichen Glaubens geschwun-
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den und [an] deren Stelle treten die »persönlichen« »Sentimentalitäten« der Naturforscher, die natürlich gegenüber den weit ehrlicheren und redlicheren »Materialisten« des vorigen Jahrhunderts zugeben, daß es »daneben« – »neben« ihrem Beschäftigungsbereich – noch das »Innere« »gäbe«. Fortschritt beruht auf der wachsenden Vergessenheit des Seyns aufgrund der immer findigeren und beliebigeren berechnenden Ausnutzung der »Natur«; bald wird auch | die lebendige Natur so weit sein, daß sie in die Zange der Planung genommen und zerstört wird. Aber dieser Vorgang ist deshalb gleichgültig, weil er – soweit er auf die Zerstörung treibt – immer dasselbe bringt, weil das, was er vermag, schon in seinem Beginn ausgeschöpft wurde – die Übernahme der Natur in die Berechnung und die Versetzung des Menschen in die Haltung des Sichsicherns durch die Nutzung. Das Nur-noch-sich-sichern bei der Zunahme der Massen und die Versorgung dieser panibus et circensibus nimmt sich überdies als Kulturleistung in Anspruch, so daß der Fortschritt der Kultur nunmehr als gesichert gelten kann. Unabsehbar ist, was in diesem Rahmen sich begibt und doch ist es immer nur dieselbe Verödung einer schon längst vollzogenen Entwurzelung des Seienden aus dem Seyn. Was muß geschehen, damit wirklich wieder Geschichte sich ereignet?
Nach Heidegger soll jedem geschichtlichen Zeitalter ein ursprüngliches Wissen beschieden sein, dessen Grund nicht einfach im Rahmen üblicher ontischer Kategorien erfolgt, wie sie in ihrer bloßen Phänomenalität zum Vorschein kommen. Darin liegt eine mit diesem Vorgehen verbundene Schwierigkeit, der wir immer Rechnung tragen müssen: als ursprüngliches Wissen war das Wissen, auf das Heidegger sich bezieht, »auch noch nie einem geschichtlichen Zeitalter beschieden« (Überlegungen IV, § 269). So stehen wir einem vorrangigen Wissen gegenüber, das durch die Geschichte hindurchgehen soll, ohne von seinsgeschichtlichen, geschweige denn historischen Kategorien abzuhängen. Allerdings werden die ontischen Kategorien von Heidegger nie einfach zurückgelassen, sondern sie werden in einer auf die Seinsgeschichte Rücksicht nehmenden ontologischen Prüfung wiederaufgenommen. Diese Wiederaufnahme hilft uns, Heideggers Stellungnahme zu verstehen, sowie die »Gegenwehr«, die er der Entwurzelung des Abendlandes entgegenstellt, eines Abendlandes, das dann durch ein andersartiges, funktionelles und der »Technik gemäßes Wissen verführt wird.« Im 269. Abschnitt kehren die Worte »Gegenwehr« und »Vorbereitung« nicht weniger als fünf Mal wieder – abgesehen davon, daß »Vorbereitung« in einem Falle nicht ausdrücklich gesagt, sondern stillschweigend vorausgesetzt wird: »Beides« –. Damit soll gezeigt werden, wie erforderlich es ist, der Entwurzelung des Abendlandes eine Gegenwehr entgegenzustellen, und zugleich »die höchsten Entscheidungen geschichtlichen Daseins« vorzubereiten. Als Grundproblem erscheint nicht nur die Entwurzelung eines ursprünglichen Denkens, das die Ursprünge seines Anfangs zukünftig bewahrt, sondern auch die schnelle Verwandlung des Abendlandes durch eine andere Art des Wissens, die imstande ist, die historischen Begebenheiten aufgrund einer immer geschichts-loseren zufälligen Gegenwart umzuschreiben. Dabei besteht die Gefahr einer allmählichen Entwurzelung der
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ontologischen Dimension, so daß das Ontische selbst verflacht wird: damit wird der Hinblick auf das »Ereignis« derart aus den Augen verloren, daß das sich Ereignende sich auf eine bloße Gegebenheit beschränkt. Es erweist sich jedoch als erforderlich, sich der Entwurzelung entgegenzustellen, weil die Gegenwehr eine »Neu-gründung« ist (§ 269), und eben diese »Neu-gründung« ist insofern unentbehrlich, als von einem Denken gefordert, das aus der Wahrheit des Seins nicht herausgedreht sein kann: nur so ist dieses Denken imstande, sich auf den Weg zu machen, der in einem »ersten« und »letzten« Anfang verwurzelt ist und seine Denkrichtung auf ihn setzt. Aus diesem Entwurzelungsversuch, nämlich des Wissens, erfolgt zwangsläufig die Unmöglichkeit sich zurückzufinden und damit die Unmöglichkeit einer Selbstbesinnung. Von den Überlegungen V an werden die Hauptzüge der »Tyrannei der Technik« knapp, kurz und bündig verzeichnet (§ 85), die zur Folge haben, das Bild eines der Logik der Knechtung unterworfenen Menschen zu gestalten: »sie selbst gegen sich so ungesichert«, »schwankend«, »schwindend«, »durch sich selbst überholt«, »ohne Verlaß«, auf das »Herrschen und Bezaubern« zielend, ins »Meßbare« wirkend, »sie selbst wird mehr und mehr das stets Überwindbare« und dazu noch »hält sie sich in einer Dauer obzwar sie keine Gewähr bietet«. Noch wichtiger ist die Tatsache, daß sie »niemals überwinden, d. h. gründen« kann. Dieses in den Augen Heideggers unleugbare Nicht-gründen-können der Technik (§ 85) steht offensichtlich mit dem Schluß des 152. Abschnitts der Beiträge in Zusammenhang: »Was soll die Technik sein ? Nicht im Sinne eines Ideals, sondern wie steht sie innerhalb der Notwendigkeit, die Seinsverlassenheit zu überwinden bezw. von Grund aus zur Entscheidung zu stellen ? Ist sie der geschichtliche Weg zum Ende, zum Rückfall des letzten Menschen in das technisierte Tier, das damit sogar auch die ursprüngliche Tierheit des eingefügten Tieres verliert, oder kann sie, zuvor als Bergung übernommen, in die Da-seinsgründung eingefügt werden ?«7
So wird die Neuzeit durch die Tyrannei der Technik gekennzeichnet und somit durch die Funktionalität eines Vorgehens, das alles, worauf es trifft, nur nutzt und ausnutzt. Ein derartiger Utilitarismus bleibt immer in einer Immanenz eingeschlossen, ohne jeglichen Bezug: beispielsweise wird Hölderlin zu einer Mode, wenn man ihn »auf das „Vaterländische“ verrechnet oder ihn […] ins „Christliche“« hinüberspielt. Alles wird »zu irgendeinem Nutzen in Bezug gestellt« (§ 86). Alles zugunsten von auf Nutzen ausgerichteten Zwecken umstürzen: dieser Betrieb kennzeichnet eine blind gewordene Neuzeit, die unfähig wurde, ihr eigenes Schicksal zu betrachten, da sie der Starrheit einer vom Menschen manipulierten Gegenwart und zwangsläufig vom eigenen tyrannischen Spiel manipulierbaren Menschen ohnmächtig beiwohnt. »Technik und Entwurzelung« (§ 87) bilden so eine untrennbare Einheit, in der der Mensch zum Hauptakteur einer Geschichts-losigkeit wird, die dazu berufen ist, in einem Räderwerk dahinzusiechen, das nach und nach unfaßbar und unkontrollierbar werden soll. 7
M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, § 152, S. 275.
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Angeklagt wird die Ausnutzung des Wissens zugunsten von vaterländischen Zwecken, und zwar mit der Mittäterschaft des »Radioapparats«, der Professuren für »Soziologie« und »haufenweise geschickter Bücher«, die »das innere Wachsen« zerstören (§ 87). Durch die Betörung des Menschen wird in ihm eine zerstörende Verwirrung versursacht, in der das Denken nicht mehr imstande ist, sich zusammenzuhalten, und jedem Weltbild ist jegliche ursprüngliche Verankerung abhanden gekommen. Damit wird das »Selbst« zerstört, das sich von nun an nur der Bodenlosigkeit einer auf eine Summe zurückgeführten Welt widmet, worin jedes Ding ein an sich isoliertes Seiendes ist und von jeglicher Bewandtnis abgetrennt wird. Für Heidegger liegt aber das »Verhängnisvollste« darin, »daß man diese Vorgänge überhaupt nicht sehen will, geschweige denn ihre Selbigkeit und ihren gemeinsamen Grund« gerade darin findet, daß sie mechanische Wiederholungen sind, die auf ihrem eigenen Un-Grund beruhen. Durch die Technik wird das Seiende maßlos entwickelt und mittels einer Verherrlichung seiner »Form« auf eine Macht reduziert. Damit wird die Illusion geschaffen, das zu besitzen und zu fassen, was von der auf Nutzen ausgerichteten Denkweise nie gepflegt werden kann, »wo nur die greifbare Tat, d. h. der Nutzen und der Erfolg etwas gelten – wo gar nicht Wahrheit, sondern nur Geltung gesucht wird« (§ 95). Die jeder »Geltung« zugrundeliegende Logik wird von Heidegger entschieden widerlegt, weil sie die Ursache ist, die vor allem dazu beigetragen hat, die Philosophie in geschlossenen Systemen zu versanden, die sie nunmehr daran hindern, sich neuen Sinnhorizonten zu öffnen. Sobald die Philosophie sich demzufolge in der Seinsgeschichte nicht mehr zurechtfinden kann, ist sie zwangsläufig dazu verdammt, sich von den auf Nutzen ausgerichteten Denkweisen irreführen zu lassen, die nur die objektive »Geltung« der erzielten Erfolge suchen. Der Rückfall in die Technik und in ihre komplexen Mechanismen trägt auch dazu bei, diese Verlorenheit zu steigern, und schafft ein rohes Dasein, insofern dessen wesenhafte Zugehörigkeit zur Seinsgeschichte ihm entzogen wird. Mit der »Verführung« durch die Technik (§ 85) geht auch einher, daß »die Ohren für den Lärm immer größer und zahlreicher werden« und dabei will man »schließlich gar nichts anderes mehr hören als – die Betörung über die organisierte Entwurzelung« (§ 95). Man möchte meinen, Technik hätte durch ihre Betörung die Funktion einer Ablenkung, indem sie durch ihre Vorgänge dem Menschen scheinbar eine Machtstellung wiedergibt, die in der Erhebung des Menschen ihn stattdessen von seinem Geschick langsam aber sicher entfernen. Alles läuft so, als würde der Macht der Technik eine Kraft innewohnen, die das Seiende festlegt – und damit auch das Zeitalter, das für ihre Reize empfänglich ist – und jeglicher Seinsregung entgeht, aber demungeachtet läuft das Sein unaufhaltsam durch die Geschichte hindurch. Die Gefangennahme des Seienden durch die Technik stellt den dunkel sten Anblick eines schon entwurzelten Zeitalters dar, das unfähig ist, irgendwas zur Kenntnis zu nehmen, weil es sich von dem Lärm irreführen läßt, den seine Handlungen weiterhin nähren. Die Prüfung der vorliegenden Abteilung neigt sich dem Ende zu mit dem 123. Abschnitt über »das Zeitalter des Fortschritts«, in dem das Wort »Fortschritt«
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immerhin sechs Mal vorkommt, insbesondere im Schlußteil, in dem der Bezug auf den »Fortschritt der Kultur« unumgänglich ist. Dieses Wort, das eigentlich »das Fort- und Wegbringen des Seienden […] aus der Wahrheit des Seyns« bezeichnet, beruht »auf der wachsenden Vergessenheit des Seyns aufgrund der […] berechnenden Ausnutzung der „Natur“«. Infolgedessen treibt derartiges Tun dazu, »in der großen „Leere“« zu »taumeln« und »wird jetzt zur noch schärferen Zange, die den Menschen in seiner Leere einklemmt«. Heidegger greift zwei Mal auf den Begriff »Leere« zurück am Beginn des 123. Abschnitts, der mit der »Verödung einer schon längst vollzogenen Entwurzelung des Seienden aus dem Seyn« abschließt. In diesem Rahmen wird auf die Unfähigkeit zum Verweilen zurückgegangen, um dementsprechend »alles sofort auf einen Schlag zu besitzen«. An die Stelle der »Ohnmacht des christlichen Glaubens«, die nicht imstande war, die Ordnung des Seienden zu bewahren, in die die »Natur« noch eingebunden war, treten jetzt »die „persönlichen“ „Sentimentalitäten“ der Naturforscher« in den Vordergrund. Daß diese aufgrund der Vergessenheit des Seyns zu einer Herrin gemacht wurde, erfolgt aus der »immer findigeren und beliebigeren berechnenden Ausnutzung der „Natur“«. Eben dieser Vorgang treibt zur »Zerstörung« und zu dem, womit der »Fortschritt der Kultur« in Zusammenhang steht. Bei alledem bleibt im Hintergrunde das drängende Fragen Heideggers: »Was muß geschehen, damit wirklich wieder Geschichte sich ereignet ?« 2.2.2. Boden und verbundene Ausdrücke und zusammengesetzte Wörter Die vorliegende letzte Abteilung unserer Auslegungen des Bandes 94 konzentriert sich auf das Wort »Boden«. Diese letzte Abteilung sollte sich als besonders interessant für den Leser erweisen, in der Hinsicht, als er damit – beim Lesen dieser Textstellen – Heideggers Besorgnis um das Schicksal der Philosophie beinahe durchleben kann, aber auch sich dessen bewußt werden kann, wie aktuell diese Texte klingen. Hier geht Heideggers Text über seine eigene Zeit hinaus, um in die Gegenwart des heutigen Lesers hereinzubrechen. Der Kontext, in dem »Boden« und die verwandten Begriffe stehen, ist dem Verfall der Philosophie zuzuschreiben: der »den Übergang vollziehende Denker« (Überlegungen V, § 62); die »Philosophie« (§§ 134 u. 145); »das Seyn« (Überlegungen VI, § 3); »was „Philosophie“ jetzt noch ist« (§ 31). (Was die diesbezügliche Übersetzung aus dem Deutschen in andere Sprachen betrifft, soll den weiteren jeweiligen Kontexten Rechnung getragen werden, in denen dieses Wort vorkommt: »Bodenständigkeit« (Überlegungen V, § 62); »Bodenständigkeit« (§ 134); »brüchiger Boden« (§ 145); »Bodenständigkeit« (Überlegungen VI, § 3); »Bodenlosigkeit« (§ 31). In der vorliegenden Abteilung ist der 31. Abschnitt insofern ausgesprochen wichtig, als er die Gegensätze zwischen »Bodenlosigkeit«, Grundlosigkeit (»kein Grund« [der Leitfrage nach dem Seienden]) und, andererseits, »Gründung«, »gründen« und »Grund« hervorhebt.
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Überlegungen V § 62 [54], S. 349: Jeder übergängliche, den Übergang vollziehende Denker steht notwendig im Zwielicht der ihm eigenen Zweideutigkeit. Alles scheint ins Vergangene zurückzuweisen und aus diesem errechenbar, und zugleich ist alles ein Abstoßen des Vergangenen und willkürliches Setzen eines Künftigen, dem die Zukunft zu fehlen scheint. Er ist nirgends »unterzubringen« – aber diese Heimatlosigkeit ist seine unbegriffene Bodenständigkeit in der verborgenen Geschichte des Seyns. Überlegungen V § 134 [127 – 129], S. 395 – 396: Jene, die meinen, man sollte an den ohnedies verendeten Universitäten die »Philosophie« abschaffen und durch die »politische Wissenschaft« ersetzen, haben im Grunde, ohne daß sie im geringsten wissen, was sie tun und wollen, völlig recht. Zwar wird dadurch nicht die Philosophie abgeschafft – das ist unmöglich – aber es wird etwas beseitigt, was so aussieht wie Philosophie – es wird dieser in einer Hinsicht die Gefahr genommen, verunstaltet zu werden. Käme es zu dieser Abschaffung, dann wäre die Philosophie von dieser Seite her »negativ« gesichert – es wäre deutlich künftighin, daß die Ersatzleute der Philosophieprofessoren nichts mit der Philosophie zu tun haben, nicht einmal mit ihrem Schein – gesetzt, daß nicht jener Ersatz noch mehr in den Schein von Philosophie versinkt. Die Philosophie wäre verschwunden aus dem öffentlichen und erzieherischen »Interesse«. Und dieser Zustand entspräche der Wirklichkeit – denn die Philosophie gibt es da überhaupt nicht – eben dann, wenn sie ist. Warum also helfen wir nicht noch mit an jener Abschaffung? Wir tun es schon, | indem wir die Nachwuchsausbildung nach Möglichkeit unterbinden (keine Dissertationen mehr). Aber das ist nur ein Beiläufiges, und vor allem: das kommt bereits zu spät. Schon möchte man wieder jene Professorenphilosophie, schon melden sich die »neuen« Anwärter für dieses Geschäft – Leute, die noch die nötige »politische« Geschicklichkeit mitbringen und nun erst recht als die »Neuen« das Bisherige in seiner Bisherigkeit bestätigen und festigen. Denn sie alle sind noch weiter entfernt von allem Fragen und »verpflichten« sich zu einem sacrificium intellectus, demgegenüber das mittelalterliche überhaupt nicht zählt; weil das Mittelalter überhaupt kein ursprüngliches Fragen und seine Notwendigkeiten kannte – und nichts erfahren konnte von dem, was Nietzsche ins Wissen heben mußte. Aber dieser ist ja auch den Heutigen nur ein Notbehelf und je nach Bedarf eine Fundgrube, aber nichts, was sie zu einem Ernst und auch nur zu seiner Besinnung zwingen könnte. Man »hat« ja die Wahrheit. Beweis: man tut jetzt so, als müßte »geforscht« werden. Jedesmal dann und erst dann, wenn man sich im Besitz der Wahrheit | weiß, macht sich die Bejahung der »Wissenschaft« geltend. Und es ist der »Wissenschaft« noch nie so gut gegangen wie heute; es bedurfte nur eine Zeitlang des Geschimpfes über die »Intellektuellen« – nur so lange, bis man selbst weit genug war und zahlreich genug, deren Stellen zu besetzen. Täuschen wir uns nicht über die unabsehbare Bisherigkeit der »neuen« Wissenschaft – verkennen wir nie ihre Bodenlosigkeit und ihre Ferne zu aller Philosophie. Und wissen wir, daß dieses zu wissen immer nur ein Beiläufiges ist, weil wir wissen: die Geschichte der Wahrheit des Seyns geschieht in ihrem eigenen Bereich und hat ihre eigene »Chronologie«.
2. Überlegungen II – VI – Schwarze Hefte 1931 – 1938 Überlegungen V § 145 [137 – 138], S. 401: Diejenigen, die heute noch den letzten Rest von Philosophie zur Weltanschauungs-scholastik umfälschen, um sich zeitgemäß zu machen, sollten mindestens noch so viel Einsicht und Geradheit des Denkens aufbringen, daß sie den heiligen Thomas von Aquino zu ihrem – ihnen allein gemäßen – Schutzpatron erheben – um an ihm zu lernen, wie man im großen Stil unschöpferisch sein und doch sehr klug wesentliche Gedanken in den Dienst des Glaubens stellen und diesem ein entscheidendes Grundgefüge geben kann. Warum geschieht das nicht? Weil sogar zu dieser großzügigen Unselbständigkeit des Denkens die Kraft und vor allem die handwerkliche Sicherheit fehlt. Die Verwirrung ist so groß, daß man nicht einmal erkennt, daß diese »politischen« und »volksverbundenen« Philosophien kümmerliche Nachbilder der Scholastik sind. Die Groteske wird vollständig, wenn zu all dieser Verworrenheit noch der »Kampf« gegen die katholische Kirche kommt – ein »Kampf«, der seinen Gegner noch gar nicht gefunden hat und auch nicht finden kann, solange er so kurz und so klein denkt von dem, was die Grundlagen dieser Kirche ausmacht: die abgewandelte Metaphysik des abendländischen Denkens überhaupt, | in der diese »Weltanschauungskämpfer« so sehr verstrickt sind, daß sie nicht ahnen, wie sehr sie denselben brüchigen Boden [Fraglosigkeit des Seins, Grundlosigkeit der Wahrheit, Wesensbestimmung des Menschen] mit ihrem »Gegner« teilen. Überlegungen VI § 3 [1 – 3], S. 421: Das Seyn. – Die aus ihm quellende Überhöhung des Seyns selbst erfahren wir Übergänglichen in der Verweigerung. – In dieser Überhöhung entspringt der Spielraum des Zwischen, das die Verweigerung als Zuweisung des Da-seins er-eignen läßt. Und in der Zugewiesenheit reicht das Da als Wahrheit des Seyns über die Verweigerung hinaus in die zu ihr gehörige Abgründigkeit der Erzitterung. Aus dem Grunde des Volkes, aus seiner Geschichte, und aus dem Grunde seiner Geschichte, aus dem Da-sein, gegen das Volk – das die Wahrheit nie wissende – sprechen. Nur so kommt es zu seinem »Raum«! Womit wir freilich zuerst immer nur den Platz meinen, an dem die Vielen Zusammengedrängten sich ausbreiten können. Wie aber, wenn dieser Platz uns zurückgegeben wäre eines Tages und trotzdem die Raumnot anhielte, ja vielleicht erst ausbräche. Wenn das Volk nur das Volksein zum Ziel hat, das zu bleiben, was es als Vorhandenes schon »ist«, hat dieses Volk dann nicht den Willen zum Volk ohne Raum, d. h. ohne den Entwurfsbereich, in dessen Abgründen erst es die Höhe findet, sich zu überwachsen und die Tiefen, um Wurzeln ins Dunkle zu treiben und ein Sichverschließendes als das Tragende zu haben (wahrhaft eine Erde)? Oder dürfen wir meinen, wenn nur erst der »Platz« gesichert sei, dann falle dem Volk der Raum von selbst zu? Elende Verblendung? Jener »Platz« für die immer zahlreicher werdenden Allzuvielen müßte erst recht jede Raumnot völlig ersticken und damit die Möglichkeit einer geschichtlich-|-schaffenden Bodenständigkeit. Weit hinaus muß daher die Besinnung der Wenigen gehen über die jetzige Aufrüttelung, damit ihr von weither ein langes Ziel zustoße und ihr die Blendung durch das Jetzige verwehre. (Vgl. S. 30 f.).
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Überlegungen VI § 31 [24 – 27], S. 435 – 438: Was »Philosophie« jetzt noch ist: 1.Anhäufung von historischer und systematischer Gelehrsamkeit. (Und wie sollte nicht aus Beseitigung aller Fehler einer Denküberlieferung von zwei Jahrtausenden schließlich sich das »richtige« »Werk« einer sehr eifrigen Schulmeisterei zusammenstellen lassen). 2. »Scholastik« – aber natürlich das Neueste aufgreifende apologetische Verarbeitung von »Gedankengut« beliebigster Herkunft – im Dienste der christlichen Kirchen – der Mischmasch von verhältnismäßig ordentlichem »Niveau« als Grundsatz der Zusammenrechnung. 3. »Scholastik« – aber noch auf der Suche nach ihrem Aristoteles – im Dienste der politischen Weltanschauung (Grundsatz die Verdeckung und Verleugnung aller »Quellen«, aus denen diese Philosophie kommt). »Gemeinschaft« als Prinzip des Diebstahls – die Auswahl der möglichst Unverbildeten – sprich Ahnungslosen als »Publikum«. Die Organisation der wechselweisen Belobigung. 4. »Philosophie« als Geschimpfe auf die Philosophie und deren Umknetung in nachhinkendes Weltanschauungsgefasel. | (Grundsatz: angeblicher Kampf gegen das Christentum – ohne daß man je selbst Christ war und durch eine Auseinandersetzung hindurch mußte). 5. Journalistische Geschicklichkeit der Verarbeitung aller dieser Arten von »Philosophie« mit verschiedener Dosierung je nach den Umständen – (die Reste von Literaten der »Frankfurter Zeitung« und anderer Blätter). Lauter Gleichgültigkeiten – für sich genommen –; aber in ihrer nicht zufälligen Zusammengehörigkeit (die bis zum ausgesprochenen Einverständnis geht) sind alle diese Unarten von »Philosophie« doch das Wesentliche der »geistigen« und »kulturpolitischen« Situation. Alle zusammen haben das gemeinsame und je anders und je gleich schlecht verhüllte Interesse, das wirkliche Fragen, das auf erste Entscheidungen und Besinnungen hindrängt, hintanzuhalten und vor aller Fragwürdigkeit des Seyns und vor jeder Ungeschütztheit des Seienden die Augen zu schließen. Und deshalb steht diese »Kameradschaft« der Un-philosophie »geschlossen« bereit zum »Einsatz« im Dienst der Verfestigung der Seinsverlassenheit des Seienden und ihrer Vorform – des Nihilismus. Aber | all dies wäre nicht nur zu hoch, sondern vor allem verkehrt geschätzt, wollte einer dadurch sich zu einer ausdrücklichen unmittelbaren Bekämpfung verleiten lassen, zumal diese »Philosophie« ein notwendiges Mittel der Mittelmäßigkeit bleibt. Alles Mittelmäßige, was in sich kein Gewicht hat und nie Wurzeln schlagen kann, bedarf von Zeit zu Zeit einer aufgedrungenen Bestätigung seiner Unentbehrlichkeit, um so immer mittelmäßiger und brauchbarer zu werden. Was die »Philosophie« in den genannten Arten jetzt noch ist, das bezeugt nur, daß sie schon seit Jahrzehnten aus der großen Bahn ihrer ersten Geschichte herausgeworfen wurde und nicht mehr die Gefahr wagen kann, durch Einschwenken in diese Bahn sich einer wesentlichen Auseinandersetzung zu stellen, durch die sie in ihre Bodenlosigkeit verwiesen wird (daß die Leitfrage nach dem Seienden – so sie überhaupt noch gefragt wird – keinen Grund hat, es sei denn, sie erwachse aus der Grundfrage nach der Wahrheit des Seyns). Was freilich mit dieser Frage heraufzieht, fordert eine Verwandlung des Menschen und fordert das Einzige und Höchste aller Philosophie, daß sie in der Grün-
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dung der Wahrheit des Seyns sich selbst aus diesem den Ursprung gibt und damit auf jede Krücke und Anlehnung und jede Bestätigung Verzicht tut –. Dieses ist am schwersten zu begreifen: | Das Erdenken des Seyns wagt den Ursprung aus dem Nichts (dem Schatten des Seyns): das Seiende im Ganzen als Seiendes. Das Seyn ist zu wagen – ob der Mensch die Wahrheit des Seyns gründend [sich] selbst in diesen Grund und seine Erhaltung – d. h. Entfaltung verwandle. Mit dem Ergriff und der Vorbereitung dieser Aufgabe steht und fällt die Philosophie. Sich der Philosophie in dieser Aufgabe zukehren, heißt: sich abkehren von jedem Versuch zu einer unmittelbaren Verständigung mit dem Noch Gültigen und Betriebenen oder auch nur aus diesem und aus dem Gegensatz zu ihm. Diese Abkehr gerät aber außerdem, vom Geläufigen und seinen Sachwaltern her gesehen, in den Anschein der verdrießlichen Abwendung und des Eigensinns. Die Abkehr kann nicht ihr Wesentliches und Erstes und Tragendes zeigen: die ursprünglich er-eignete Zukehr zur Wahrheit des Seyns – die Inständigkeit des Da-seins.
Die auf das Wort »Boden« zentrierte thematische Abteilung ist eine der wichtigsten, zumal da vom schlechten Ruf und vermeintlichen politischen Gebrauch dieses Wortes abgesehen werden muß. Das Verzeichnen aller Textstellen, in denen dieses Wort vorkommt, bietet den Vorteil, Heideggers Überlegungen über das Schicksal der Philosophie und was davon »jetzt noch ist« zu straffen. Damit sind wir Zeugen einer Dramatik der historischen Gegenwart, in der diese Überlegungen zur Reife gebracht worden sind, und im Nachhinein haben wir dennoch nicht den Eindruck, in eine historisch vergangene Zeit zurückzugehen, sondern in eine Vergangenheit, die mit oder trotz der Zeit, in der sie immer noch gegenwärtig bleibt, als die Fehlentwicklung, der das Denken unterworfen war, unverändert geblieben ist. Obwohl sie in einer bestimmten historischen Zeit entstanden ist, behalten sie demzufolge die Fähigkeit, sich sozusagen nach vorne zu beugen, um, wie gesagt, in unsere Gegenwart hereinzubrechen, und zwar derart, daß damit vor der Gefahr einer politischen Ausnutzung des Wissens und ihrer Entgleisungen – und vor dieser Gefahr war selbst Heidegger nicht geschützt – gewarnt wird. Eine Fehlentwicklung der Philosophie findet statt, wenn, was Viele heute wie gestern für »Philosophie« halten, dennoch nur eine Philosophie »je nach den Umständen« ist, und politisch genutzt und ausgenutzt wird: meines Erachtens könnte der 31. Abschnitt (Überlegungen VI), der diese Abteilung schließt, als Anweisung eingefügt werden, die Heidegger dem die Wahrheit über jedwede »Gegenwart« hinaus suchenden Leser gibt. Bevor wir zu diesem Verständnis gelangen, ist es erforderlich, den Weg zurückzugehen, wenn auch der Blick uns unvermeidlich nach vorne treibt. Sind wir uns aber dessen bewußt, dann fällt es uns viel leichter, zurückzublicken, um das vorangehend Vorgelegte zu rechtfertigen. Sollte uns dieses Vorhaben gelingen, müssen wir hierzu jetzt noch Heidegger folgen, wohl im richtigen Abstand, damit umnötige Überschneidungen vermieden werden. Eine Symbolfigur ist der »den Übergang vollziehende Denker« (Überlegungen V, § 62). Im Rahmen der Geschichte des Seins bezieht sich die Rede vom »Übergang« auf den – Heidegger eigenen – spekulativen Übergang der Seinsfrage im ersten Anfang (Sein als Sei-
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endheit des Seienden) zur verwandelten Seinsfrage innerhalb des anderen Anfangs (Seyn als Wahrheit, Lichtung, Enthüllung oder Offenheit des Seyns und die sich er-eignende Wahrheit des Seins als Ereignis; das Ereignen des er-eignenden Wurfs der Wahrheit des Seins durch den daseinsmäßigen und er-eigneten aufschließenden Entwurf der Wahrheit des Seins). Im 62. Abschnitt skizziert Heidegger die Umrisse des dieses Namens würdigen Denkers und dabei zeigt er, wie dessen Arbeit von außen her vernommen, und deswegen im Hinblick auf eine bloß historische Berechenbarkeit ausgedrückt wird. Wer heutzutage, in der Endphase der Geschichte des ersten Anfangs, d. h. der Metaphysik, wirklich denken will – und damit bezieht sich Heidegger auch auf sich selbst – ist dazu berufen, ein »den Übergang vollziehender Denker« zu sein, und zwar ein Denker, der auf die Geschichte des ersten Anfangs sowie auf deren begriffliches Erbe zurückgeht, um darin das Ungesagte und Ungedachte aufzuspüren, das, angemessen herausgearbeitet, den Aufschwung eines neuen Laufs der Geschichte gestattet, nämlich die Geschichte des anderen Anfangs, in dem die Frage nach der Wahrheit des Seins als Ereignis in den Vordergrund kommt. Auf diesem Wege wird dem Seyn der Vorrang gegeben, und dem Denker ist nur dann die Möglichkeit vorbehalten, diesen anderen Anfang zu ergreifen, wenn dem Seyn gegönnt wird, das Wort zu ergreifen. Im Unterschied zu Husserl und zum eigentlichen Entwurf seiner Phänomenologie ist aber Heidegger nicht dazu bereit, die Subjektivität mit diesem Auftrag zu betrauen. Die Rückkehr zu den Ursprüngen kann nicht aufgrund der Intentionalität im Sinne Husserls erfolgen; der Phänomenologie fällt es zu, einen Weg einzuschlagen, der zu unserer ursprünglichen Zugehörigkeit zum Seyn führt. Andere Gedankengänge sind nach Heidegger in ihren jeweiligen Vorhaben gescheitert, und die Philosophie selbst irrte, als sie gerade das verbarg, was sie in ihrer Un-verborgenheit ans Licht hätte bringen sollen. Darum ist die Philosophie gescheitert, als sie in der Vergessenheit der vorrangigen Grundfrage – »wie west das Seyn ?« – gelebt hat. Dem ist zu entnehmen, daß für Heidegger der Vorrang des Seyns sich als ein Erfordernis erweist, das nie ergreifbar ist aus den üblichen Kategorien, die ihren Ausgangspunkt im vereinzelten und somit verdunkelten Menschen suchen; in diese Vereinzelung wurde der Mensch durch eine lange irreführende philosophische Tradition gerückt, die sich auf ihn beschränkte, und damit einen immer mehr verfeinerten Anthropologismus entwickelte. Darüber hinaus stellt sich der Gedankengang des »den Übergang vollziehenden Denkers«, wenn er von außen her beobachtet wird – und hier wird Bezug genommen auf die »Neuen«, die alles hinsichtlich des Einflußes und der Neuerung schätzen – einem Denken gegenüber, das den Übergang vorbereitet und das versucht, ihn zu vollziehen: von diesen »Neuen« wird dieser Gedankenweg entweder als bloße Wiederaufnahme des Erbes der Überlieferung gesehen, oder als Nachtrag dieser Überlieferung, oder noch als eine willkürliche Sichtweise auf die Zukunft – und zwar auf eine Zukunft, die, so ausgerechnet, dem Wesen der Zukunft durchaus fremd bleibt. Für Heidegger ist die Zukunft nicht das, was nach der Gegenwart als nächstes kommt und das aufgrund von Berechnungen voraussehbar und planbar
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ist, sondern die Fähigkeit, die immer unvorhersehbare Schenkung des Seins augenblicklich zu übernehmen. Weil der wesentliche Denker hin und her schwingt – zwischen der Besinnung über den ersten Anfang und dem Einsatz eines anderen Denkens – eben darum mag er willkürlich erscheinen. Er ist weder in einer bestimmten Auslegungsleitlinie noch in dieser oder jener philosophischen Denkweise unterzubringen, ebenso wenig darf er mit einem »-ismus« verzeichnet werden. »Er ist nirgends „unterzubringen“, da er in keinen bestimmbaren und berechenbaren Kontext oder Rahmen aufgrund historischer Einschätzungen einzuordnen ist. Ein solcher Denker zeichnet sich durch seine »Heimatlosigkeit« aus. Diese »Heimatlosigkeit« verbirgt aber eine tiefe und wahrhaftere Verwurzelung, eine »Bodenständigkeit«: ein solcher Denker ist mit der Wahrheit des Seins eng verbunden, und so verfügt sein Denken über einen festen Boden, auf dem es sich eigentlich entfaltet und auf dessen Grundlage eine Verbindung mit der Vergangenheit aufgenommen werden kann – zwar nicht durch Gelehrsamkeit, wohl aber durch geschichtliche Aus-einander-setzung – und die Zukunft zu verwirklichen ist. Im Sprachgebrauch Heideggers beziehen sich die Worte »Heimatlosigkeit« und »Bodenlosigkeit« ausschließlich auf die Geschichte des Seins, das das Wagnis eines Denkens fordert. Auf weitere Anwendungen oder ideologische Gedankengebäude mittels eines unzutreffenden Gebrauchs der Terminologie Heideggers zurückzugreifen, hieße, sich durch erhebliche hermeneutische Mißverständnisse irreführen zu lassen. Nach dem Versuch einer Skizze des »den Übergang vollziehenden Denkers« nimmt Heidegger den unabwendbaren Verfall der Philosophie zur Kenntnis, die jetzt ganz klar so überholt wäre, daß man »an den ohnedies verendeten Universitäten die „Philosophie“ abschaffen« sollte. Dieser Satz, der ganz lapidar lautet – so die Anfangsworte des 134. Abschnitts – ist eine wichtige Wegmarke in der ausdauernden zweiseitigen Überlegung Heideggers: einerseits, was für Philosophie gehalten werden darf, und andererseits, deren Surrogate; einerseits außerhalb verbleiben (außerhalb der Universität) und andererseits sich innerhalb befinden (innerhalb der Seinsgeschichte), in einem Gegenspiel immer schärferer Abhebungen, die mit dem Erinnern an die zu erfüllende »Aufgabe« abschließen, falls überhaupt das Schicksal der Philosophie bewahrt werden soll (Überlegungen VI, § 31). Wie schon angedeutet, ist es hier besonders schwierig, die relevanten Zeitformen in der Zeitenfolge der Verben zu bestimmen, da Heideggers Überlegungen einem Zeitraum angehören, der auf die geschichtliche Vergangenheit nicht einfach blickt, aber sie so schaut, daß unsere eigene Gegenwart sich ihr zukehrt und erst so verständlich wird. So wird in der Universität Philosophie durch »politische Wissenschaft« ersetzt: »Zwar wird dadurch nicht die Philosophie abgeschafft – das ist unmöglich – […] aber es wird von dieser in einer Hinsicht die Gefahr abgewendet, verunstaltet zu werden« (Überlegungen V, § 134). Von der Philosophie wird diese Gefahr abgewendet, indem sie den vom Nutzen bestimmten Denkweisen der Politik entzogen
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wird, die die von Heidegger als »die „neuen“ Anwärter für dieses Geschäft« bezeichneten »Personen« benutzt, um eine »Professorenphilosophie« einzuleiten, in der im vorliegenden Fall Nietzsche und was er ins Wissen heben mußte, oder das Wissen überhaupt »nur ein Notbehelf und je nach Bedarf eine Fundgrube« ist. Die Hervorhebung des »Neuen« sowie der maßlosen Gier nach dem »Neuen« bezieht sich ausdrücklich auf das, was Heidegger in den Überlegungen und Winken III (§§ 68, 78 u. 184) über die Lage der Universität und den Nationalsozialismus festgestellt hatte. All dies sind nämlich Elemente, die nach wie vor eine Distanzierung Heideggers von den »neuen« Kulturmachern und von deren »Geschäft« bezeugen. Man braucht nur der in den Überlegungen und Winken III (§ 46) wiederkehrenden Erwähnung eines derartigen »Geschäfts« Aufmerksamkeit zu schenken: »Weg von den Geschäften, die andere viel besser machen […]», was in den Anmerkungen I [28] wiederaufgenommen wird: »Der moderne Historiker, dessen Geschäft eine Form von Journalismus ist, muß so viele Bücher und Akten lesen und so viele Bücher selbst verfassen, daß ihm nicht auch noch zugemutet werden kann, bei diesem Geschäft einen Gedanken zu fassen und ihm nachzudenken und dabei Gefahr zu laufen, daß das Nachdenken eine Verzögerung in den Geschäftsbetrieb bringen könnte«, und dann in den Anmerkungen V [143]: »Inzwischen gerät das Tun des Ackerbauers, der Landwirt ist, in die Zange der Industrietechnik und erledigt seine Geschäfte […]«. Wie weit Heidegger sich von solchen »Geschäften« entfernt, weil sie das Erwachen irgendeines Fragens verhindern – das steht ebenso fest wie dessen Widerstand und politische Unbeholfenheit in derartigen Geschäften. »Täuschen wir uns nicht über die unabsehbare Bisherigkeit der „neuen“ Wissenschaft – verkennen wir nie ihre Bodenlosigkeit und ihre Ferne zu aller Philosophie« (Überlegungen V, § 154); ein Hinweis ist es auf ein Neues, das sich in seiner völligen Grundlosigkeit durchsetzt, um die Gültigkeit seiner Aktionen vorzutäuschen. Philosophie läuft nicht nur Gefahr, »verunstaltet« (§ 134) sondern auch »verfälscht« zu werden (§145). Was bleibt dann von der Philosophie übrig ? Nicht viel, weil sie dann durch die neuen »politischen Wissenschaften« ersetzt wird, die nach Heidegger »kümmerliche Nachbilder der Scholastik« sind. Derartige Nachbildungen verleiten zu einer Verfälschung dessen, was von der Philosophie übrigbleibt, und wer sich in den Dienst einer derartigen Leistung stellt, dem entgeht es, daß er dann den Fuß auf einen »brüchigen Boden« setzt. In der Kritik an den »volksverbundenen« »politischen Philosophien« stellt sich Heidegger auf subtile Weise gegen den Begriff einer nationalsozialistischen Philosophie. In ihren jeweiligen Vorgehensweisen gelingt es den »nationalsozialistischen Philosophien« nicht einmal miteiander übereinzustimmen. Unbeholfen sind sie auch im Verfolgen dessen, wor auf sie es verschwiegen abgesehen haben: ihnen fehlt die Einsicht, um das Denken in den Dienst eines leeren Glaubens und weiterer Überzeugungen zu stellen. Bei alledem sind sie nicht einmal ihrem instrumentaliserenden Vorhaben gewachsen. Ihre eigene »Unselbständigkeit« läßt sie in eine so große Verwirrung geraten, daß sie nicht einmal erkennen, ihre Leistung sei nichts anderes als ein kümmerliches »Nachbild« einer Vergangenheit, auf die sie sich beziehen, ohne imstande zu sein,
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ihr voll und ganz zuzustimmen. Was sie erreichen, besteht nur in der Umfälschung einer anderen »Weltanschauung«, die, in ihrer negativen Bedeutung, in die vierteilige Klassifizierung der »heutigen« »Weltanschauungen« einzuordnen ist, die Heidegger in den Beiträgen einer systematisch differenzierten und gegliederten Prüfung8 unterzieht. Der 3. Abschnitt (Überlegungen VI) fügt eine weitere Erläuterung hinzu: »Wenn das Volk nur das Volksein zum Ziel hat, das zu bleiben, was es als Vorhandenes schon „ist“, hat dieses Volk dann nicht den Willen zum Volk ohne Raum, d. h. ohne den Entwurfsbereich […]« . Hier wird die nationalsozialistische Rede über das »Volk« von Heidegger nur dazu angeführt, um zu zeigen, daß und wie ein derartiges »Volk« nur sein eigenes schon vorhandenes Volksein will, »ohne den Entwurfsbereich«, d. h. ohne die Wahrheit des Seins, die zunächst im daseinsmäßigen Entwurf entworfen und erschlossen wird – ohne diese Wahrheit, worin das Volk sich in seinen Höhen und Tiefen erst erreicht. Das bedeutet, daß Heidegger spekulativ nach etwas strebt, das sich von allem im Nationalsozialismus laut und deutlich Verkündeten durchaus unterscheidet: eine un-politische Gründung, die einzig und allein dem Sein gemäß wäre, und damit einer echten Erneuerung des Volkes in seiner gesamten Umgebung. Dann »hat dieses Volk nicht den Willen zum Volk ohne Raum«. Diese Bezugnahme auf das Volk erlaubt uns, auf den 242. Abschnitt der Beiträge hinzuweisen: »Der Zeit-Raum als der Ab-grund«9. Das Volk solle sich in seinen ursprünglichen Raum, d. h. in einen echten Boden einwurzeln. Was ist aber dieser echt verstandene Raum ? Nichts anderes, wie gesagt, als die Wahrheit des Seins, die Heidegger als »Zeit-Raum« oder »Abgrund« bestimmt. Dieser »Zeit-Raum« bzw. »Abgrund« Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, § 7, S. 24 – 25, wo Heidegger vier Arten von »Weltanschauungen« verzeichnet: »1. Das Tranzendente (ungenau auch „die Transzendenz“ genannt) ist der Gott des Christentums; 2. Diese „Transzendenz“ wird geleugnet und das „Volk“ selbst – unbestimmt genug in seinem Wesen – als Bild und Zweck aller Geschichte angesetzt. Diese gegenchristliche „Weltanschauung“ ist nur scheinbar unchristlich; denn sie kommt im Wesentlichen dennoch überein mit jener Denkart, die den „Liberalismus“ kennzeichnet; 3. Das Transzendente ist hier eine „Idee“ oder „Werte“ oder ein „Sinn“, solches, wofür sich nicht leben und nicht sterben läßt, was aber durch „Kultur“ sich verwirklichen soll; 4. Gleich beide dieser Transzendenzen – völkische Ideen und Chri stentum, oder völkische Ideen und Kulturpolitik, oder Christentum und Kultur – oder aber alle drei werden in verschiedenen Graden der Bestimmtheit gemischt. Und dieses Mischgebilde ist die heute durchschnittliche und vorherrschende „Weltanschauung“, in der auch alles gemeint ist und nichts mehr zur Entscheidung kommen kann«. Entscheidend bleibt die ständige Bezugnahme auf die Beiträge, um das zu vertiefen, was die Schwarzen Hefte nur in ihren Grundzügen entwerfen: § 14 »Philosophie und Weltanschauung« (S. 36 – 41) und § 15: »Philosophie als „Philosophie eines Volkes“« (S. 42 – 43), dazu noch § 268 »Das Seyn (Die Unterscheidung): ›(wo immer zu fragen bleibt, wer die sind, die solches richtig finden und sogar auf solche Richtigkeiten „Wissenschaften“ wie Biologie und Rassenkunde aufbauen und mit diesem vermeintlich noch die „Weltanschauung“ unterbauen; was immer der Ehrgeiz jeder „Weltanschauung“ ist‹)« (S. 479). 9 Ebd., S. 379 – 388. 8
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entfaltet sich in der Dualität von zwei Momenten: Lichtung und Verhüllung, Verweigerung und Schenkung. Die Wahrheit des Seins gehört immer mit dem wesentlichen Entwurf des Daseins zusammen, das in dieser Geworfenheit gründet. Mit dem 31. Abschnitt wird diese Thematisierung zum Abschluß gebracht, wobei Heidegger eine Bilanz erstellt über das, »was „Philosophie“ jetzt noch ist«, und die Abwandlungen herausstellt, die sie mundtot gemacht haben. Philosophie wurde zur »Gelehrsamkeit«, »Scholastik«, »journalistische Geschicklichkeit« (»die Reste von Literaten der „Frankfurter Zeitung“ und anderer Blätter«). In diesem ungünstigen Rahmen bleibt Philosophie auf die »Umstände« angewiesen, wobei »Weltanschauungsgefasel« die Oberhand hat über die Suche nach der Wahrheit. Durch diesen Lärm wird »das wirkliche Fragen« hintangehalten; alles fügt sich in die Gleichgültigkeit der »geistig-politischen« Anschauungen einer Zeit, in der die »Kameradschaft« der »Unphilosophie« sich durchsetzt, die zum einzigen »notwendigen Mittel der Mittelmäßigkeit« wurde. Hier sind wir Zeugen einer Kursänderung, und dementsprechend wird die Universität zu einem unschöpferischen Raum, der eine ungefähre Un-philosophie aufnimmt, die danach immer gieriger wird, eine Zustimmung zu finden, um die Früchte ihrer Einsichten mittels der journalistischen Geschicklichkeit auf den Markt zu werfen. Was Viele für das »neue« Wissen halten, ist nicht mehr Suche nach einem echten Fragen, sondern Gegenstand einer maßlosen Vermarktung. Das Wissen »verhüllt« sich in einem falschen Schein und schließt die Augen vor »aller Fragwürdigkeit des Seyns«. In diesem Lustspiel will Heidegger über die Leichtfertigkeit eines blinden Gefasels hinausgehen, das mit seinen entschlußlosen Einfällen handelt, um seine eigene Mittelmäßigkeit zu rechtfertigen. Die auf Nutzen ausgerichtete Vorgehensweise der neuen Philosophie ist dazu berufen, außerhalb der Seinsgeschichte zu bleiben und kann sich »einer wesentlichen Auseinandersetzung« gar nicht stellen, weil sie durch eine solche Auseinandersetzung »in ihre Bodenlosigkeit verwiesen wird (wenn die Leitfrage nach dem Seienden – so sie überhaupt noch gefragt wird – keinen Grund hat, es sei denn, sie erwachse aus der Grundfrage nach der Wahrheit des Seyns«). »Was freilich mit dieser Frage heraufzieht, fordert eine Verwandlung des Menschen und fordert das Einzige und Höchste aller Philosophie, daß sie in der Gründung der Wahrheit des Seyns sich selbst aus diesem den Ursprung gibt und damit auf jede Krücke und Anlehnung und jede Bestätigung Verzicht tut –« . Dieser Auszug ist von zentraler Bedeutung hinsichtlich des hermeneutischen Begriffs »Gründung«10: in ihm wird die Aufgabe der echten Philosophie erkannt. »Gründung« bezeichnet das Seinsverständnis, das den Dingen auf den Grund geht, und damit an die Wahrheit des Seins herankommt. Bei alledem hebt Heidegger besonders nachdrücklich hervor, das seinsgeschichtliche Denken habe überhaupt keine nationalsozialistische und darüber hinaus gar keine ideologisch-politische Färbung. »Was freilich mit dieser Frage heraufzieht«, d. h. was mit der Grundfrage nach der Wahrheit des Seins heraufzieht, »fordert eine Verwandlung des Menschen« in das 10
Darüber sei noch einmal auf die Beiträge hingewiesen: vgl. §§ 187 – 188, S. 307 – 308.
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Dasein, d. h. in die Inständigkeit im »Da«, also in der Wahrheit des Seyns »und fordert das Einzige und Höchste aller Philosophie, daß sie in der Gründung der Wahrheit des Seyns sich selbst aus diesem den Ursprung gibt«. In dieser Textstelle wird sehr deutlich gesagt, daß das seinsgeschichtliche Denken seinen Ursprung nirgendwo anders findet – weder im Politischen noch im Ideologischen, bzw. in dem, was einer Weltanschauung gemäß ist, und so gar nicht mit dem Antisemitismus verbunden sein darf – sondern nur im Ereignen der Anwesung der Wahrheit des Seyns als Ereignisses, also im er-eignenden Wurf der Wahrheit des Seyns für den philosophischen (erschließenden) Entwurf aus diesem Zukommenlassen des Ereignisses auf uns zu, aus eben dieser Wahrheit des Seins.
3. Überlegungen VII – XI – Schwarze Hefte 1938/3911 3.1. Die ausdrückliche »Distanzierung« vom Nationalsozialismus und der Grund seines aktiven Schweigens Der sprachliche Bau des seinsgeschichtlichen Denkens unterstützt das thematische Gerüst der vorliegenden Abteilung, und in kürzeren Abständen soll jetzt auf die Beiträge hingewiesen werden, vor allem in den Abschnitten, in denen die Frage der »Universität« und deren enge Verbindung mit und Abhängigkeit von dem Nationalsozialismus zur Diskussion steht; dieser direkte Zusammenhang ist aus dem hier benutzten Wortschatz zu entnehmen: »die „Reichs“-universität« (so am Beginn des 6. Abschnitts der Überlegungen VII) und im selben Kontext die »riesenhafte Apparatur« , die in der vorliegenden Abteilung fünf Mal vorkommt, »Erlebnis« (zweimal), »christlicher Kulturbetrieb« (drei Mal), »Philosophiebetrieb« (einmal), bezüglich der Universität, so der dazugehörige Kontext. Aber parallel zu ihr kommen gleichzeitig zum Vorschein die »nationalsozialistische Weltanschauung« und die Feststellung, daß ihr Besinnung und demzufolge wesentliches Wissen fremd bleiben. Der Gang dieser Überlegungen fährt mit dem »nationalsozialistischen Gedankengut« fort, das mit seinem »Phrasen Mut« »aus einem Zustand des neuzeitlichen Zeitalters aufschießt« wie aus dem »Aufgeblähten der Redensart«, und weiterhin mit einem Crescendo gleichartiger Wörter wie z. B. »Barbarei des „Denkens“«, »Verfall«, »Entfremdung«. Mit all diesen eng zusammen verflochtenen Worten nimmt Heidegger in der damaligen Lage der Universität unvermeidlich zur Kenntnis, wie eng diese mit dem Nationalsozialismus und dessen Intellektuellen verbunden ist, mit diesen Intellektuellen, die in mancher Hinsicht die nationalsozia listische Weltanschauung mit dem »neuzeitlichen«, bzw. »jetzigen« Menschen teilen (nebenbei gesagt, wird hier die betonte negative Valenz des Adjektives »jetztig« hervorgehoben). 11 M. Heidegger, Überlegungen VII–XI (Schwarze Hefte 1938/39), in: Gesamtausgabe, Bd. 95, Abt. 4: Hinweise und Aufzeichnungen, hrsg. v. P. Trawny, Klostermann, Frankfurt a. M. 2014.
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Wenn das wesentliche Wissen als eine Gefahr gilt, dann nimmt die »national-sozialistische „Scheinphilosophie“« (Überlegungen VIII, § 53) immer mehr Gestalt an, die sich mittels einer »maßlosen, lärmenden und räuberischen „Literatur“« durchsetzt, um Wurzeln zu schlagen, und »sich eine öffentliche Geltung zu verschaffen versucht« (Überlegungen XI, § 55). Im soeben in groben Zügen dargestellten Rahmen werden in der vorliegenden Abteilung viele komplexere Argumente ins Feld geführt, die im Folgenden unter Bezugnahme auf die Beiträge ausgelegt werden. Der Leser wird gebeten, den Abschnitten 51 (Überlegungen VIII) und 53 (Überlegungen XI) die größtmögliche Aufmerksamkeit zu schenken: beide sind ausschlaggebend, wenn man verstehen will, warum Heidegger sich dem Nationalsozialismus nicht öffentlich entgegensetzen wollte (§ 51) und vor allem, wie seine Täuschung über die »Bewegung« mit einer weiteren Täuschung verbunden ist, und zwar mit derjenigen, »die Universität ließe sich ja noch zu einer Stätte wesentlicher Besinnung verwandeln« (§ 53). Heideggers Sache ist es, seinen »Irrtum« zu bestimmen. Darauf wollen wir aber mit einer eingehenden Analyse zurückkommen. Überlegungen VII § 6 [5 – 7], S. 6 – 7: Es gibt noch kindische Romantiker, die vom »Reich« und gar der »Reichs«-universität schwärmen im Sinne der »Reichs«-Vorstellung Stephan [sic] Georges. Woher die Angst dieser angeblich Angstfreien vor dem Reich als der riesenhaften Apparatur des Partei- und des Staatsapparats in ihrer Einheit? Kann das metaphysische Wesen der Neuzeit und damit der nächsten Zukunft eine mächtigere Einheit zeitigen als den Apparat der Einheit von Apparaten? Wer hier bloße Veräußerlichung wahrnimmt und sich in ein nie Gewesenes – vielleicht Mittelalterliches – | zurück sehnt, der vergißt, daß ja im Riesenhaften dieses Apparates (deutsch: Zu-rüstung) die riesenhaften Möglichkeiten des »Erlebens« geöffnet werden und keinem kein Erlebnis versagt bleiben soll, daß in dieser Zurüstung erst die »Kultur« als Erlebnisveranstaltung zurüstungsmäßig gesichert ist. Deshalb ist auch das ständige Bekenntnis zur Kultur keine »Phrase« und der Portier am Kinotheater hat ein vollkommenes Recht darauf, sich als »Kulturträger« zu wissen. Man weiß nicht, was man will, wenn man aus Kultur-besorgnis sich glaubt, eine Gegnerschaft zum »Nationalsozialismus« einreden zu müssen. Allerdings wächst der Raum dieser Besorgnis und die Zahl derer, die ihn füllen, stärker und rascher als die Verantwortlichen – trotz aller Hinweise darauf – sehen möchten. Und dieser Raum ist schon überdacht und geschützt durch den christlichen Kulturbetrieb, der allerdings sich täuscht, wenn er meint, dadurch die Christlichkeit zu erneuern –. Aber diese Meinung ist vielleicht nur eine Maske – man will die Herrschaft im Kulturbetrieb – nicht in der »Politik«. Wie, wenn dann der christliche Kulturbetrieb nur die als Lichtseite ausgegebene Kehrseite dessen wäre, was | der Bolschewismus als Kulturzerstörung betreibt – des Vorgangs, durch den die Neuzeit sich auf ihre Vollendung einrichtet und um eine Zurüstung für diese kämpft. Die nächste Entscheidung ist deshalb allein diese: welche der riesenhaften Zurü stungen des neuzeitlichen Weltbildes sich als die siegende einrichten wird.
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Die Fronten und Formen dieses Kampfes um diese Entscheidung liegen noch nicht fest. Wir dürfen ihn auch nicht und lediglich als ein künftiges Vorkommnis historisch vorausrechnend betrachten, sondern müssen in wachsender Besinnung das Wesen der Neuzeit im Ganzen ihrer geschichtlichen Bahn wissen, gesetzt, daß den Deutschen der Vollzug einer Entscheidung aufbehalten ist, durch die in der Vollendung der Neuzeit die Not eines Übergangs erwacht. Dann müssen jene bereit sein, denen die Not der Geschichte nicht ein Jammer, aber auch kein Vergnügen, sondern ein Stoß des Seyns selbst ist.
Überlegungen VII § 21 [23 – 25], S. 17 – 19: Alle Besinnung, je wesentlicher sie ansetzt, bewirkt die Gefahr, wesentliche Vorstufen des geschichtlich Notwendigen zu überspringen. Deshalb muß sie die Kraft haben, im Vorsprung bleibend doch zurückzuspringen und das Übersprungene eigens in den Vorsprung einzuholen. Die »Selbstbehauptung der deutschen Universität«o irrt, sofern sie die Wesensgesetzlichkeit der »heutigen« Wissenschaft überspringt. Sie irrt noch einmal, indem sie im Überspringen meint, wieder zur »Wissenschaft« zu kommen, wo eben doch mit der Neuzeit auch »die Wissenschaft« zu Ende ist und wir die Weise des künftigen Wissens und seiner Gestaltung nicht wissen – wir wissen nur, daß eine bloße »Revolution« im Seienden ohne Verwandlung des Seyns keine ursprüngliche Geschichte mehr schafft, sondern lediglich das Vorhandene verfestigt. Deshalb brauchte auch der erste Schritt | zur Vorbereitung einer Verwandlung des Seyns nicht erst auf den »Nationalsozialismus« zu warten, sowenig wie jenes Fragen beanspruchen kann, als »nationalsozialistisch« zu gelten. Hier sind Bereiche in Beziehung gebracht, die sich unmittelbar nichts angehen, aber mittelbar zugleich in verschiedener Weise auf eine Entscheidung über das Wesen und die Bestimmung der Deutschen und damit das Geschick des Abendlandes drängen. Das bloße Verrechnen von »Standpunkten« kann hier nur »Gegensätze« finden und Gegensätze sogar, die zu beachten gar nicht »lohnt«, da ja die Herrschaft der nationalsozialistischen Weltanschauung entschieden ist. Und es gehört zum Wesen der Weltanschauung, daß sie über diesen Sieg hinaus gar nicht weiter denken kann und nicht will, denn sie muß sich, wenn sie sich selbst versteht, aus ihrem ihr gemäßen »Selbstbewußtsein« heraus, als »unbedingt« setzen. Ein Papst, der sich auf das Verhandeln im Dogmatischen einläßt, ist kein »Stellvertreter« Christi auf Erden – aber er ist andererseits nur dann Oberhaupt der Kirche, wenn er zugleich dafür sorgt, daß sich die Kirche, je nach den wechselnden Zeitläufen, alles Mögliche und sogar sich Zuwiderlaufende gestatten kann, damit ent-|sprechend dem Gang der abendländischen Geschichte in die »Kultur« das Christentum als Kulturchristentum sich erhalte, wodurch das Seelenheil der Gläubigen besonders gut geschützt wird. Der Protestantismus geht daran zugrunde, daß er nicht begriff, inwiefern die Einheit von »Glauben« und »Kulturschaffen« notwendig zur Durchführung eine doppelte Buchführung verlangt, für deren Bewältigung die Rechenkünstler lange erzogen sein müssen. In den neuzeitlichen Formen des Menschseins – in der Weltanschauung – kommt, nicht nur wegen ihrer Abhängigkeit vom Christlichen, die o Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. GA 16. hrsg. von Hermann Heidegger. Frankfurt a. M. 2000, S. 107 – 117 [GA, Hrsg.].
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Einheit von »Glauben« und »Kultur« verschärft zum Vorschein. Schulung und Erziehungsanstalten als bewußte Einrichtung, »Überwachung« der weltanschaulichen Erziehung als straffer Betrieb – das sind nicht willkürliche und künstliche oder gewalttätige Erfindungen – sondern Wesensnotwendigkeiten einer in die Entschiedenheit ihres »Selbstbewußtseins« eingetretenen Weltanschauung. Die Besinnung ist ihr fremd und notwendig eine Fessel. Überlegungen VIII § 51 [122 – 124], S. 170 – 172: Zur Feststellung: mit der »Existenzphilosophie« habe ich nichts zu tun und schon gar nicht mit derjenigen von Heysep. Ob dessen aus Mißverständnissen von »Sein und Zeit« zum siebenten Mal aufgekochte und mit »nationalsozialistischem Gedankengut« versalzene Wassersuppe etwas mit mir zu tun hat, darüber nachzudenken überlasse ich diesem »Denker«. Wohl dagegen habe ich mit dem Ernst der Gesinnung und Besinnung von Karl Jaspers zu tun, von dessen »Philosophie« allerdings meine Fragestellung in »Sein und Zeit« durch einen Abgrund getrennt bleibt – eine Tatsache, die die Verehrung und Dankbarkeit in keiner Weise antastet, die ich ihm bewahre. Pascal nennt den Menschen einmal ein »denkendes Schilfrohr«q; vielleicht ist Heyse, der sich mit seinen eigenen Phrasen Mut zu seiner merkwürdigen »Haltung« macht, auch ein solches »Rohr« – nur daß er nicht denkt. Solche Schriftstellerei ist aber nur deshalb erwähnenswert, weil sie aus einem Zustand des neuzeitlichen Zeitalters aufschießt, der bereits die Kraft zur denkerischen Besinnung verloren und das Aufgeblähte der Redensart an seine Stelle gesetzt hat, so zwar, daß | jedermann dies in Ordnung findet und niemand mehr ein echtes Bedürfnis nach Anderem zu empfinden vermag. Diese Empfindungslosigkeit, vor deren »Augen« sich ein »lebendiges«, »geistiges« »Ringen« abspielt, ist der beste Schutz gegen die freilich immer geringer werdende Gefahr, daß eine solche Barbarei des »Denkens« sich eines Tages doch noch gezwungen sieht, vor ihrer eigenen Unheimlichkeit auszuweichen – wohin? In den Schutz der politischen Wirklichkeit. Nicht diese und nicht der bloße nur noch nachmacherische Verfall des Denkens, sondern allein dies, daß solcher Verfall sich deckt und gar als Aufstieg ausgibt mithilfe einer Wirklichkeit, die anderer Herkunft ist, bezeugt dies Ausmaß von Entfremdung gegenüber dem eigentlichen Denken. Nicht das Aufkommen solcher Machwerke – die noch bei ihrem Entstehen (vor 1933) ganz andere »Zielsetzungen« hatten – ist beachtenswert, sondern die Bereitschaft der Ahnungslosen, die so etwas »ernst« nimmt, was man eben noch »Ernstnehmen« im Felde des Denkens nennen kann. Alles, was sich da begibt, ist nicht »Schuld« des Heutigen, sondern nur breitester und flachster Auslauf eines zurückliegenden und verhüllten Ereignisses. Deshalb darf einer höchstens seinen Standort dagegen feststellen, aber niemals in eine Auseinandersetzung sich wegwerfen. Ja selbst jene Feststellung darf nur als Feststellung eigener Besinnung gelten, niemals auch nur zu einer öffentlichen Absetzung dagegen dienen; denn auch diese könnte nur dazu gebraucht werden, den Betrieb des »Geisteslebens« mit »Neuigkeiten« zu versorgen und ihm seine vermeintliche Unentbehrlichkeit zu bestätigen. p Hans Heyse: Idee und Existenz. Hanseatische Verlagsanstalt: Hamburg 1935 [GA, Hrsg.]. q Blaise Pascal: Pensées. Édition par Léon Brunschvicg. Hachette; Paris 1904, n. 346 ff. [GA, Hrsg.].
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Überlegungen VIII § 53 [125], S. 172 – 173: Der »Rationalismus« des Descartes bedeutet, daß sich das Wesen des Seins aus der Gewißheit des Denkens, aus der Selbstsicherheit der Denkbarkeit bestimmt. Das Sein erhält jetzt ausdrücklich den bis dahin zurückgehaltenen oder erst grob gefaßten Charakter der Berechenbarkeit – der Machbarkeit – im weitesten Sinne. Diese Auslegung des Seins wird zur Grundbedingung der Neuzeit und des neuzeitlichen Menschen. Diese Grundbedingung jedoch kommt erst zu ihrer ungeschmälerten Macht, wenn dieses Zeitalter zu seiner eigenen Vollendung ansetzt. In diesemZeitpunkt steht die Geschichte des jetzigen Menschen. Daher ist es eine fast irrsinnige Verkennung des jetzigen Zeitalters und seiner nur ihm eigenen Weltanschauungen, wenn man von diesem her (auf Grund einer »natio nalsozialistischen« Scheinphilosophie z. B.) versucht, gegen den »Rationalismus« Descartesʼ anzugehen, vermutlich weil Descartes ein Franzose und »Westler« ist. Vielmehr ist es die eigene Größe der jetzigen Weltanschauungen und ihres »Totalitäts«anspruches, daß sie den metaphysisch begriffenen »Rationalismus« (vgl. oben) als die innerste Macht ihres Machtwillens zur Geltung bringen und alle künstliche »Mystik« und »Mythik« ablehnen. Descartes’ Rationalismus ist weder »französisch«, noch westlich – sondern abendländisch und das Französische, wenn man es schon wissen will, besteht darin, daß es das Vermögen ins Spiel brachte, zum erstenmal jene Auslegung des Seins wißbar zu machen. Das Wißbare selbst ist weder französisch, noch deutsch, noch italienisch, noch englisch, noch amerikanisch – wohl aber der Grund dieser Nationen! Überlegungen X § 47 [79 – 80], S. 325 – 326: Warum wenden sich jetzt Viele – vielleicht sogar schon der ganze noch bestehende Protestantismus – der katholischen Kirche zu? Aus Furcht vor dem – Katholizismus. Der politische Katholizismus ist durch eine »katholische« Politik abgelöst worden; das Wesen des »Katholischen« liegt weder im Christlichen, noch im Kirchlichen als solchem – sondern καθόλον heißt – über das Ganze herrschend – das »Totale«. Die katholische »Kirche« täuscht sich, wenn sie meint, die ihr Zulaufenden seien von »religiösen Bedürfnissen« getrieben, und der Nationalsozialismus sollte sich nicht darüber verwundern, daß er zum Schrittmacher dieses Zulaufes werden muß. So werden die Bereiche kommender Entscheidungen wiederum nur verdeckt – das »Katholische« war aber niemals, vor allem nicht im »christlichen« | Mittelalter, der Ursprung eines gestalterischen Kampfes um das Sein – er liegt für immer verborgen in der Einsamkeit einiger Namenloser. Das »Katholische« gewann erstmals die eigentliche Form im Jesuitismus; hier ist das abendländische Vorbild für allen unbedingten Gehorsam, die Ausschaltung jedes Eigenwillens – die Entschiedenheit der »Organisation« und die Beherrschung der Propaganda und die Selbstrechtfertigung durch die Herabsetzung des Feindes für die Nutzbarmachung aller Mittel des »Wissens« und Könnens, für die Umfälschung dieser zur eigenen Entdeckung, für die historische Zurechtmachung der Geschichte, für die Verherrlichung des Willens und der Strammheit des Soldatischen innerhalb des Katholischen, für die Grundhaltung des Gegen… (Gegenreformation). Das »Katholische« in diesem wesentlichen Sinne ist seiner geschichtlichen Herkunft nach römisch – spanisch –; ganz und gar unnordisch und vollends undeutsch.
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Überlegungen X § 59 [100 – 103], S. 338 – 340: »Entscheidung« – nennen sie jetzt die Flucht in ein längst Entschiedenes – das als Kulturchristentum seine Widersinnigkeit zuletzt während des ersten Weltkrieges bewiesen hat. Man redet von »Entscheidung« und verzichtet vorher auf jedes Fragen und die Erfahrung der Notwendigkeit des wesentlichen Fragens –; man spielt die alte christlich-katholische Apologetik in neuzeitlich-protestantischer Form gegen ein »Heidentum« aus, dem alles fehlt, um auch nur dieses zu sein – die Götter und die gottschaffende Kraft. Man führt – vermutlich mit der größten »subjektiven« Ehrlichkeit – ein »literarisches« Schauspiel auf und alle »Rezensenten« aller »Blätter« und »Zeitschriften« sind | gierig darauf, das Gerede über »Abendländische Entscheidung« nicht zu versäumen. Aber schließlich ist dieses auf der Fraglosigkeit alles erst Zu-fragenden und dann erst noch in die Entscheidung zu Stellenden gegründete »Entscheidungs«gerede nur der Widerhall der gleich-oberflächlichen »nationalsozialistischen Philosophie«, die mit Hilfe aufgedonnerter Redensarten und Schlagworte das »Christentum« überwunden zu haben vorgibt und angeblich »Entscheidungen« stellt, nachdem sie ein »Opfer des Denkens« zuvor dargebracht hat, im Vergleich zu dem das »Denken« eines katholischen Vikars noch Freigeisterei genannt werden darf. Wohin sind die Deutschen geraten? Oder sind sie nur erst immer noch dort geblieben, wo sie schon immer waren und wo sie zuletzt Hölderlin fand und Nietzsche noch antraf, der freilich bisher nur erreichte, daß sie sich einen »Stolz« angewöhnten, in dem »Leben« zu stehen, in dem sie – trotz ihrer »Ausnahmen« – stets gestanden. Aber vielleicht ist dies das Wesen der Deutschen – und vielleicht kommt es durch den von ihnen noch gründlicher geübten »Amerikanismus« und durch den noch »rastloser« vollzogenen »Romanismus« | erst ans Licht, was sie alles »können« – daß sie das »Volk« der Denker und Dichter nur deshalb heißen, weil sie als »Volk« dieses Denken und Dichten nicht wollen, d. h. nicht in solcher Gefahr ihren Grund zu suchen bereit sind – sondern immer noch und immer unwissender – »das Fremde« verherrlichen und nachmachen – doch wer will dann sagen, daß ein »Volk« jenes sein müßte und könne, was dem Seyn die Stätte seiner Wahrheit bereitet? – Denken wir den Menschen nicht immer noch nur tierhaft, wenn wir ihn als »Volk« »denken«? Ist diese Anschauung, trotz ihrer unantastbaren »Richtigkeit«, nicht doch der ins Riesige eingerichtete Abfall von jener anfänglichen abendländischen Bestimmung des Menschen in die Zugehörigkeit zum Seyn – so daß die abendländische Entscheidung niemals dort fällt, wo nur ein innerhalb der schon entschiedenen, d. h. hellenistisch-jüdischen »Welt« erst recht Entscheidungsloses sich die Herrschaft angemaßt hat –; daß die Entscheidung niemals sein kann die zwischen Christentum und »Heidentum«, weil beide schon aus der Entscheidungsunkraft überhaupt ihren Bestand sichern. – Die Entscheidung ist aber diese: ob der Mensch des Abendlandes sich dem Seienden als Gegenstand überläßt oder ob er das Seyn als Ab-grund erringt und aus diesem die Not einer Gründung seines Wesens aus der Zugewiesenheit zum Sein. Weil solches in einem ersten Anfang bei den Griechen glückte – weil sie aus dem Sein sich zu bestimmen wagten, mußte, solange dieses Wagnis gewagt wurde, jene kurze und einzige Geschichte möglich sein. Alles »Blut« und alle »Rasse«, jedes »Volkstum« ist vergeblich und ein blinder Ablauf, wenn es nicht schon in einem Wagnis des Seins
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schwingt und als Wagendes dem Blitzstrahl sich frei stellt, der es dort trifft, wo seine Dumpfheit auseinanderbrechen muß, um der Wahrheit des Seyns den Raum einzuräumen, innerhalb dessen erst das Seyn ins Werk des Seienden gesetzt werden kann. Überlegungen XI § 53 [76], S. 408 – 409: Rein »metaphysisch« (d. h. seynsgeschichtlich) denkend habe ich in den Jahren 1930 – 1934 den Nationalsozialismus für die Möglichkeit eines Übergangs in einen anderen Anfang gehalten und ihm diese Deutung gegeben. Damit wurde diese »Bewegung« in ihren eigentlichen Kräften und inneren Notwendigkeiten sowohl als auch in der ihr eigenen Größengebung und Größenart verkannt und unterschätzt. Hier beginnt vielmehr und zwar in einer viel tieferen – d. h. umgreifenden und eingreifenden Weise als im Faschismus die Vollendung der Neuzeit –; diese hat zwar im »Romantischen« überhaupt begonnen – hinsichtlich der Vermenschung des Menschen in der selbstgewissen Vernünftigkeit, aber für die Vollendung bedarf es der Entschiedenheit des Historisch-Technischen im Sinne der Vollständigen »Mobilisierung« aller Vermögen des auf sich gestellten Menschentums. Eines Tages muß auch die Absetzung gegen die christlichen Kirchen vollzogen werden in einem chri stentumslosen »Protestantismus«, den der Faschismus von sich aus nicht zu vollziehen vermag. Aus der vollen Einsicht in die frühere Täuschung über das Wesen und die geschichtliche Wesenskraft des Nationalsozialismus ergibt sich erst die Notwendigkeit seiner Bejahung und zwar aus | denkerischen Gründen. Damit ist zugleich gesagt, daß diese »Bewegung« unabhängig bleibt von der je zeitgenössischen Gestalt und der Dauer dieser gerade sichtbaren Formen. Wie kommt es aber, daß eine solche wesentliche Bejahung weniger oder gar nicht geschätzt wird im Unterschied zur bloßen, meist vordergründlichen und alsbald ratlosen oder nur blinden Zustimmung? Die Schuld trägt zum Teil die leere Anmaßung der »Intellektuellen« – deren Wesen (oder Unwesen) ja nicht darin besteht, daß sie das Wissen und die Bildung verteidigen gegenüber dem nur Handeln und der Unbildung, sondern daß sie die »Wissenschaft« für das eigentliche Wissen und den Grund einer »Kultur« halten und vom wesentlichen Wissen nichts wissen wollen und können. Die größere Gefahr des Intellektualismus ist, daß er die Möglichkeit und den Ernst des echten Wissens bedroht, nicht aber, daß er das Handeln schwächt; dieses weiß sich zu helfen; der Kampf für das Wissen gegen die Wissenschaft dagegen ist heute aussichtslos, weil die Forscher nicht einmal von sich selbst, von der Wissenschaft, hinreichend Wesentliches wissen, um sich im Ernst zu einer Gegnerschaft zu stellen. Daher sind überall alle Fronten ineinander verwirrt: Die Universitäten zeigen die reinste Gestalt dieser Verwirrung; hier ist der Grund ihrer Ohnmacht zu suchen – | aber auch die Ursache der mißleiteten Ansprüche. Sie selbst bedingen die Entschlußlosigkeit, die den einzigen Schritt verhindert, der jetzt getan werden müßte: die ausdrückliche Abschaffung und Ersetzung durch Forschungsbetriebe und technische Lehranstalten: chemische und alemannische »Institute«. Eine weitere Täuschung war daher die Meinung, die Universität ließe sich ja noch zu einer Stätte wesentlicher Besinnung verwandeln, um ein Wesen zu behaupten, darin das abendländische Wissen in seine eigene Fragwürdigkeit sich zurückstelle, um einen
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anderen Anfang der Seynsgeschichte mit vorzubereiten. Ein von hier ausgedachter Begriff von »Wissenschaft« ist, sowohl von der Universität her gesehen wie aus der geschichtlichen Wirklichkeit geschätzt, das reine »Phantom«. Täuschungen – durchdacht und durchlitten in allen ihren Abgründen – sind Wege zu dem, was »ist«. (Vgl. S. 110). Überlegungen XI § 55 [77 – 78], S. 410: Die erste und somit allem vorausgreifende und sich ständig verschärfende Einsicht des denkerischen Denkens muß sein: jeder Denker, der in der Geschichte des abendländischen Denkens eine Grundstellung gründete, ist unwiderlegbar; das will sagen, die Sucht des Widerlegens ist der erste Abfall vom eigentlichen Denken. An solchem Maß gemessen bleibt aller Philosophiebetrieb, zumal der »nationalsozialistische«, außerhalb des Bezirks wesentlichen Wissens. Das hindert nicht, daß solche Betriebsamkeit in einer maßlosen und lärmenden und – räuberischen »Literatur« sich eine öffentliche | Geltung zu verschaffen versucht, die aufs Haar jener Schriftstellerei entspricht, die sich als »katholische Philosophie« bei den »Gebildeten« aller »Konfessionen« und »Stände« einen Eingang verschafft hat. Wie lange diese Betriebe wohl noch dauern mögen? Ob mit der Vollendung der Neuzeit erst ihre Zeit gekommen ist ?
Die oben angeführten Stellen gehören insofern einer sehr komplexen thematischen Abteilung an, als sie Heidegers dringende Notwendigkeit, die Seinsfrage neu zu stellen, zur Sprache bringen, was immer seine Überlegungen auch sein mögen, deren Sprachgebrauch nur dann verständlich wird, wenn wir ihn ständig auf die Beiträge zurückführen. Nationalsozialismus und Universität bilden eine unauflösliche Einheit und werden jetzt einer noch komplexeren Untersuchung unterworfen: damit soll gezeigt werden, wie beide einem ganz andersartigen Gedankengang fremd bleiben, den wir hier nicht verfolgen können. In der Tat scheint sich Heideggers Sprachgebrauch wie eine unsichtbare und schwer zugängliche, dicke Mauer zu erheben, wenn man ihn vom ganzheitlichen seinsgeschichtlichen Denken ablöst. Im 6. Abschnitt (Überlegungen VII) übt Heidegger harte Kritik am Reich und an der nationalsozialistischen Partei mit Hilfe der Sprache des seinsgeschichtlichen Denkens. Man denke nur an die folgende Äußerung: »Woher die Angst dieser angeblich Angstfreien vor dem Reich als der riesenhaften Apparatur des Partei- und des Staatsapparats in ihrer Einheit ?«. Das Wort »riesenhaft« kommt insgesamt vier Mal als Kernelement in diesem Abschnitt vor. In den Beiträgen ist es immer mit den Mitursachen der Seinsvergessenheit und der Seinsverlassenheit des Seienden verbunden12. In den Schwarzen 12 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, § 14 »Philosophie und Weltanschauung«: »Die Wege und Wagnisse einstmaligen Schaffens werden in das Riesenhafte der Machenschaft eingerichtet, und dieses Machenschaftliche ist der Anschein der Lebendigkeit des
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Heften ist dasselbe Sprachregister wiederzufinden, das deswegen einer näheren Betrachtung bedarf, unter unentbehrlicher Bezugnahme auf die Beiträge; man sehe Schöpferischen« (S. 40 – 41); § 45 »Die Entscheidung«: »Der Übergang zum technisierten Tier, das die bereits schwächer und gröber werdenden Instinkte durch das Riesenhafte der Technik zu ersetzen beginnt« (S. 98); § 70 »Das Riesenhafte«: »Sobald aber die Machenschaft ihrerseits seinsgeschichtlich begriffen wird, enthüllt sich das Riesenhafte als „etwas“ Anderes« (S. 135); § 70 »Das Riesenhafte« (S. 138); §72 »Der Nihilismus«: »Die Angst vor dem Seyn war noch nie so groß wie heute. Beweis: die riesenhafte Veranstaltung zur Überschreiung dieser Angst« (S. 139), »[…] bedarf freilich schon eines Standortes, von dem aus weder eine Täuschung möglich ist von seiten des vielen „Guten“ und „Fortschrittlichen “ und „Riesenhaften“, was geleistet wird […]« (S. 140); § 76 »Sätze über die „Wissenschaft“«: »Mit der zunehmenden Verfestigung des machenschaftlich-technischen Wesens aller Wissenschaften wird der gegenständliche und verfahrungsmäßige Unterschied der Natur- und Geisteswissenschaften immer mehr zurücktreten. Jene werden zu einem Bestandstück der Machinentechnik und der Betriebe, diese breiten sich aus zur umfassenden Zeitungswissenschaft riesenhaften Umfangs, in der das gegenwärtige „Erleben“ fortlaufend historisch gedeutet und in dieser Deutung seiner möglichst raschen und möglichst eingängigen Veröffentlichung für Jedermann zugeführt wird« (S. 155), »Die „Wissenschaft“ hat in sich bei all ihrer heutigen riesenhaften Ausdehnung und Erfolgssicherheit und Behäbigkeit gar nicht die Voraussetzungen eines wesentlichen Ranges, aufgrund dessen sie je in einem Gegensatz zum Wissen des Denkens gerückt werden könnte« (S. 156); § 155, »Die Natur und die Erde«: »Und schließlich blieb noch „Landschaft“ und Erholungsgelegenheit und dies jetzt auch noch ins Riesenhafte gerechnet und für die Massen zugerichtet. […] Waru m schweigt die Erde bei dieser Zerstörung ? Weil ihr nicht der Streit mit einer Welt, weil ihr nicht die Wahrheit des Seyns verstattet ist. Warum nicht ? Weil das Riesending Mensch je riesiger um so kleiner wird« (S. 277 – 278); § 250 »Die Zukünftigen«: »Das Un-wesen des Untergangs aber geht seinen eigenen und anderen Weg und ist Versacken, Nichtmehrkönnen, Aufhören hinter dem Anschein des Riesenhaften und Massenhaften und des Vorrangs der Einrichtung vor dem, was sie erfüllen soll« (S. 397); § 255 »Die Kehre im Ereignis«: »Er [der Mensch] mag noch jahrhundertelang mit seinen Machenschaften den Planeten ausrauben und veröden, das Riesenhafte dieses Treibens mag in das Unvorstellbare sich „entwickeln“ und die Form einer scheinbaren Strenge, die Maßregelung des Öden als solchen, annehmen, die Größe des Seyns bleibt verschlossen, weil keine Entscheidungen mehr fallen über Wahrheit und Unwahrheit und deren Wesen« (S. 408 – 409); § 260 »Das Riesenhafte«: »Das Riesenhafte gründet in der Entschiedenheit und Ausnahmslosigkeit der „Rechnung“ und wurzelt in einem Ausgriff des subjekthaften Vor-stellens auf das Ganze des Seienden« (S. 441), und nach der Beschreibung der vier Formen des »Riesenhaften« fährt er so fort: »In allen diesen aufeinander bezogenen Formen des Riesenhaften west die Seinsverlassenheit des Seienden« (S. 442), »Am Riesenhaften wird erkennbar, daß jede Art von „Größe“ in der Geschichte der unausgesprochenen „metaphysischen“ Deutung des Geschehens entspringt (Ideale, Taten, Schöpfungen, Opfer) und deshalb nicht eigentlich geschichtlichen, sondern historischen Wesens ist« (S. 443); § 262 »Der „Entwurf“ des Seyns und das Seyn als Entwurf«: »[…] das Wissen wird wach, daß nur im Durchgang durch äußerste Entscheidungen noch eine Geschichte zu retten ist angesichts des Riesenhaften der Geschichtslosigkeit« (S. 450); § 274 »Das Seiende und die Berechnung«: »Und in dem Augenblick, da die Planung und Beherrschung riesenhaft geworden, beginnt das Seiende im Ganzen zu schrumpfen. Die „Welt“ wird immer kleiner […]. Die metaphysische Verkleinerung der „Welt“ erzeugt eine Aushöhlung des Menschen« (S. 495).
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nur zum Beispiel den 75. Abschnitt (Überlegungen VII): »[…] jenen Vorgang der Seinsverlassenheit des Seienden, der seine Eigenmacht in der Riesenhaftigkeit und Rücksichtslosigkeit des Vordringens der Berechnung und des Betriebs enfaltet«, den 73. Abschnitt (Überlegungen XIII): »[…] die Seinsverlassenheit des Seienden (und d. h. das Riesenhafte der technisch-politischen Ab- und Einrichtungen) in den unbedingten Erfolg verfestigen und so in riesenhaftem Stil […]«, und schließlich den 128. Abschnitt (Überlegungen XIII): »Was bedeutet das Erscheinen des riesenhaften Taumels der machenschaftlichen Verwüstung […] ?«. Heideggers subtile Ironie gegenüber dem Reich als »riesenhafter Apparatur des Parteiapparats« wird mit einer dichten Verflechtung von Worten fortgesetzt, die ein Beweis ist für die Absicht, die Banalität eines zum Scheitern verurteilten Systems lächerlich zu machen: »daß im Riesenhaften dieses Apparats […] die riesenhaften Möglichkeiten des „Erlebens“ geöffnet werden und keinem dies Erlebnis versagt bleiben soll; […] »daß in dieser Inszenierung erst die „Kultur“ als Erlebnisveranstaltung inszeniert gesichert ist«. Derartige Möglichkeiten dürfen nicht zur Entfaltung gebracht werden, schon sind sie in einer verfallenen Existenz eingesperrt, die sich nicht mehr zurechtfinden kann, und demzufolge in der Starrheit einer Gegenwart festgehalten, in der Erlebnisse erlebt werden; bei alledem wird »Kultur« zur bloßen Veranstaltung ihrer selbst. Die negative Bedeutung, die Begriffe der überlieferten Phänomenologie bei Heidegger erhalten – so »Erlebnis« und »Erlebnisveranstaltung«13– die mit dem Da-sein nichts gemein haben und spä13 Kommt man z. B. auf die Beiträge zurück, dann stellt sich die negative Bedeutung des Stichwortes »Erlebnis«, der verwandten zusammengesetzten Worte wie der jeweiligen thematischen Verbindungen klar heraus. § 5 »Für die Wenigen – Für die Seltenen«: »Man beruft sich auf die flachen Wasserlachen der „Erlebnisse“, unfähig, das weite Gefüge des denkerischen Raumes auszumessen, und in solcher Eröffnung die Tiefe und Höhe des Seyns zu denken. Und wo man sich dem „Erlebnis“ überlegen glaubt, geschieht dies als Berufung auf einen leeren Scharfsinn« (S. 19); § 6 »Die Grundstimmung«: »Nur weil das mit dem Wort«“Stimmung“ Belegte längst durch die „Psychologie“ hintangehalten wird, nur weil gar noch die Sucht nach dem „Erlebnis“ heute erst recht alles in die Verwirrung reißen müßte, was von der Stimmung gesagt wird ohne eine Besinnung auf sie […]« (S. 21); § 7 »Vom Ereignis«: »Dieses Nächste ist so nah, daß alle unumgängliche Betreibung der Machenschaft und des Erlebens notwendig schon an ihm vorbeigegangen sein muß und deshalb auch niemals unmittelbar zu ihm zurückgeholt werden kann« (S. 27); § 14 »Philosophie und Weltanschaung«: »„Weltanschaung“ ist immer „Machenschaft“ gegenüber dem Überkommenen zu seiner Überwindung und Bändigung mit dem ihm eigenen und von ihm vorbereiteten aber nicht zum Austrag gebrachten Mitteln – alles übergeleitet in das Erlebnis« (S. 38), »Das machenschaftlich-erlebnishafte Wesen der Weltanschauung zwingt die Ausformung der jeweiligen Weltanschauungen dazu […]« (S. 39); § 18 »Die Ohnmacht des Denkens«: »2. daß Machenschaft und Erlebnis das allein Wirksame und somit „Mächtige“ zu sein beanspruchen und echter Macht keinen Raum geben« (S. 47), »4. daß bei der zunehmenden Abstumpfung gegen die Einfachheit wesentlicher Besinnung und beim Mangel an Ausdauer im Fragen jeder Gang und Weg mißgeachtet wird, wenn er nicht schon im ersten Schritt ein „Ergebnis“ bringt, womit etwas zu „machen“ und wobei etwas zu „erleben“ ist« (S. 47); § 19 »Philosophie (Zur Frage: wer sind wir ?)«: »Hieraus wird deutlich: Jene Wer-Frage als Vollzug der Selbstbesinnung hat nichts gemein mit einer neugierigen
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ter immer mehr mit der Machenschaft verbunden werden, da sie anderen Wesens sind – hilft uns, den Sinn von Heideggers Ironie zu verstehen, als er sich auf den ich-süchtigen Verlorenheit in die Zergrübelung der „eigenen“ Erlebnisse; (S. 51)«, § 30 »Das anfängliche Denken (als Besinnung)«: »Für die erste Besinnung aber mußte versucht werden, überhaupt einmal an äußersten Seinsweisen des Menschen die Andersartigkeit des Daseins gegen alles „Erleben“ und „Bewußtsein“ zur Abhebung zu bringen« (S. 68); § 34 »Das Ereignis und die Seinsfrage«: »„Temporalität“ ist nie gemeint als Verbesserung des Zeitbegriffes, als landläufige Ersetzung des rechnerischen Zeitbegriffes durch die „Erlebniszeit“ (Bergson/Dilthey). All solches bleibt außerhalb der erkannten Notwendigkeit des Überganges von der als solcher begriffenen Leitfrage zur Grundfrage« (S. 74); § 44 »Die Entscheidungen«: »[…] ob die Wahrheit als Richtigkeit in die Gewißheit des Vorstellens und Sicherheit des Rechnens und Erlebens entartet […] – ob die Kunst eine Erlebnisveranstaltung oder das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit ist […] – ob die Natur zum Ausbeutungsgebiet des Rechnens und Einrichtens und zur Gelegenheit des „Erlebens“ erniedrigt wird oder ob sie als die sich verschließende Erde das Offene der bildlosen Welt trägt« (S. 91); § 50 »Anklang«: »Wohin führt die Machenschaft ? Zum Erlebnis. Wie geschieht das ? […] Durch die Entzauberung des Seienden, die einer durch sie selbst vollzogenen Verzauberung die Macht einräumt. Verzauberung und Erlebnis«; § 51 »Der Anklang«: »Und dies ist das Erleben: daß aus allem ein „Erlebnis“ und ein immer größeres und ein immer unerhörteres und ein immer mehr sich überschreiendes „Erlebnis“ werde. Das „Erlebnis“, hier gemeint als die Grundart des Vorstellens des Machenschaftlichen und des Sichhaltens darin, ist die Jedermann zugängliche Öffentlichkeit des Geheimnisvollen, d. h. Aufregenden, Aufreizenden, Betäubenden und Verzaubernden, was das Machenschaftliche notwendig macht . […] daß hier in aller Öde und Furchtbarkeit etwas vom Wesen des Seyns anklingt und die Verlassenheit des Seienden (als Machenschaft und Erlebnis) vom Seyn aufdämmert« (S. 109 – 110), § 52 »Die Seinsverlassenheit«: »Ob wir diese große Lehre des ersten Anfangs und seine Geschichte begreifen: das Wesen des Seyns als die Verweigerung und höchste Verweigerung in der größten Öffentlichkeit der Machenschaften und des „Erlebens“ ?« (S. 112); § 55 »Anklang«: »Die Seinsvergessenheit weiß nicht von ihr selbst, sie vermeint beim „Seienden“, dem „Wirklichen“, zu sein, dem „Leben“ nahe und des „Erlebens“ sicher« (S. 114); § 58 »Was die drei Verhüllungen der Seinsverlassenheit sind und wie sie sich zeigen«: »Nun aber, da das Seiende vom Seyn verlassen ist, ersteht die Gelegenheit für die platteste „Sentimentalität“. Jetzt erst wird alles „erlebt“, und jedes Unternehmen und jede Veranstaltung trieft von „Erlebnissen“. Und dieses „Erleben“ bezeugt, daß nun auch der Mensch als seiender seines Seyns verlustig gegangen und zum Raub seiner Jagd nach Erlebnissen geworden ist« (S. 123 – 124); § 61 »Machenschaft«: »Und in dieses erste Gesetz der Machenschaft ist ein zweites geknüpft: je entschiedener dergestalt die Machenschaft sich verbirgt, umsomehr drängt sie auf die Vorherrschaft dessen, was ihrem Wesen ganz entgegen zu sein scheint und doch ihres Wesens ist, auf das Erlebnis. […] So fügt sich ein drittes Gesetz ein: Je unbedingter das Erleben als Maßgabe der Richtigkeit und Wahrheit (und damit „Wirklichkeit“ und Beständigkeit), umso aussichtsloser wird es, daß von hier aus seine Erkenntnis der Machenschaft als solcher sich vollzieht. […] Wenn Machenschaft und Erlebnis zusammengenannt werden, deutet dies auf eine wesentliche Zugehörigkeit beider zueinander […]. Machenschaft und Erlebnis ist die ursprüngliche Fassung der Formel für die Leitfrage des abendländischen Denkens: Seiendheit (Sein) und Denken (als vor-stellendes Be-greifen)« (S. 127 – 128); § 62 »Die zur Seinsverlassenheit gehörige Verstellung ihrer selbst durch die Machenschaft und das „Erlebnis“, S. 129; § 65 »Das Unwesen des Seyns«, S. 130; §§ 66 – 68 »Machenschaft und Erlebnis«, S. 131 – 134; § 69 »Das Erlebnis und „die Anthropologie“«,
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Verfall der Kultur sowie auf die daraus folgende Fehlentwicklung der Neuzeit bezieht. Darüber hinaus erweist sich die Gegenüberstellung mit den Quellenangaben unserer langen Fußnote 13 bezüglich des Begriffes »Erlebnis« insofern als erforderlich, als sie die Distanz Heideggers gegenüber irgendeinem anthropologischen Denken bezeugt. Die Tragweite dieser Frage kann gar nicht überschätzt werden, da die dazugehörigen Andeutungen der Schwarzen Hefte immer als »Kategorien« betrachtet werden müssen, die vom Seienden als solchem grundverschieden sind. Aus jeder anders gerichteten Interpretationslinie könnte ja eine die Seinsgeschichte erstickende Instrumentalisierung hervorgehen durch eine von der Machenschaft ermächtigte historische Lektüre, die den Menschen auf ein bloßes Seiendes reduziert und ihn in der Seinsvergessenheit festhält. Man bräuchte z. B. nur auf die Abschnitte 69 und 214 der Beiträge zurückzukommen, um sich im klaren darüber Fußnote: »Was ist Erlebnis! Wie dessen Herrschaft zur anthropologischen Denkweise führt! Wie dieses ein Ende ist, weil es die Machenschaft unbedingt bestätigt« und im Hauptteil des Textes: »so wird die heutige „erlebende“ Zeit von diesem langweiligen und gemeinplätzigen Abklatsch ihrer eigenen Oberflächlichkeit noch weniger ein Aufhebens machen können« (S. 134 – 135); § 72 »Der Nihilismus«: »[…] in dieser lärmenden „Erlebnis“-Trunkenboldigkeit, ist der größte Nihilismus, das organisierte Augenschließen vor der Ziel-losigkeit des Menschen. […] Das Seyn hat so gründlich das Seiende verlassen und dieses der Machenschaft und dem „Erleben“ anheimgestellt […]« (S. 139 – 140); § 76 »Sätze über „die Wissenschaft“: »„Zeitung“ und „Maschine“ sind im wesentlichen Sinne gemeint als die vordrängenden Weisen der endgültigen (für die Neuzeit zur Vollendung treibenden) Vergegenständlichung, die in sich alle Sachhaltigkeit des Seienden aufsaugt und dieses selbst nur noch als Anlaß des Erlebens« (S. 158); § 123 »Das Seyn«: »Nur durch große Ein- und Umstürze des Seienden kommt das in die Machenschaft und das Erleben verzwungene und zum Unseienden schon erstarrte Seiende ins Weichen vor dem Seyn und damit in dessen Wahrheit« (S. 241); § 129 »Das Nichts«: »Wenn nun die Seinsverlassenheit zum „Seienden“ der Machenschaft und des Erlebens gehört, darf es da verwundern, wenn das „Nichts“ als das nur Nichtige mißdeutet wird ? […] Wenn das Ja des „Machens“ und des „Erlebens“ so ausschließlich die Wirklichkeit des Wirklichen bestimmt, wie verwerflich muß dann alles Nein und Nicht sich ausnehmen !« (S. 246); § 214 »Das Wesen der Wahrheit (Offenheit)«: »Deshalb ist ja auch der Weg der Besinnung auf die Richtigkeit und den Grund ihrer Möglichkeit unmittelbar wenig überzeugend […], weil man nicht loskommt von den Vorstellungen eines Menschendinges (Subjekt – Person und dgl.) und alles nur auf „Erlebnisse“ des Menschen und diese wieder als Vorkommnisse in ihm sich zurechtlegt«; § 254 »Die Verweigerung«: »Die Machenschaft nimmt das Unseiende unter dem Schein des Seienden in seinen Schutz, und die unumgänglich damit erzwungene Verödung des Menschen wird wettgemacht durch das „Erlebnis“« (S. 406); § 256 »Der letzte Gott«: […] daß weder im „persönlichen“ noch im „massenweisen“ „Erlebnis“ der Gott noch erscheint, sondern einzig in dem abgründigen „Raum“des Seyns selbst« (S. 416); § 262: »Der „Entwurf“ des Seyns und das Seyn als Entwurf«: »Das „Leben“ wird in das Erleben verschlungen, und dieses selbst steigert sich in die Veranstaltung des Erlebens. Die Veranstaltung des Erlebens ist das höchste Erlebnis, in dem „man“ sich zusammenfindet« (S. 450); § 274 »Das Seiende und die Berechnung«: »Das „Erleben“ erreicht das äußerste seines Wesens, die Erlebnisse werden erlebt. Die Verlorenheit in das Seiende erlebt sich als Fähigkeit, das „Leben“ in den berechenbaren Wirbel des leeren Kreises um sich selbst zu verwandeln und dieses Vermögen als die „Lebensnähe“ glaubhaft zu machen« (S. 495).
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zu sein, daß Heidegger nie etwa eine »Geschichte der Menschheit« im Auge hatte, noch wollte er sich auf die Geschichte und das Schicksal dieses oder jenes »Volkes« stützen: das Gegenteil behaupten zu wollen, hieße, den – wenn auch z. T. heiklen – Gedankenweg Heideggers verkennen, der über »die Vorstellungen eines Menschendinges (Subjekt – Person und dgl.)« entschieden hinausgehen würde. Obwohl eine als »Erlebnisveranstaltung« vorhandene »Kultur« zum Scheitern verurteilt ist, wird diese vom »christlichen Kukturbetrieb« beauftragt. Mit dem Wort »Betrieb« wird hier das veranstaltungsmäßige Wesen eines so beschaffenen Wissens hervorgehoben, daß es nur auf den Nutzen fürs Volk ausgerichtet ist und sich von außen gesehen als Popaganda gestaltet und damit Anlaß gibt zur Täuschung, Volkseinheit wäre durch die Diktatur des Man zu erreichen. Im 6. Abschnitt kommt das Wort »Betrieb« drei Mal vor, und dessen unterschiedlicher Sinngehalt ist auch anderen Textstellen der Schwarzen Hefte zu entnehmen, wie z. B.: »aller Philosophiebetrieb, zumal der „nationalsozialistische“ [bleibt] außerhalb des Bezirks wesentlichen Wissens« (Überlegungen XI, § 55); »Heute gibt es Gebildete und angeblich einsichtige Deutsche, die meinen, wenn der Militarismus und der nationalsozialistische Terror beseitigt seien, daß dann das »Dichten und Denken« im Volk von selbst erwache, wobei man „Dichten und Denken“ immer noch in der Prägung des Bisherigen, zumal des „verruchten Naziregimes“ genau als „Kulturbetrieb“ auffaßt und als nichts außerdem […]« (Anmerkungen I [126]. Als Produkt seiner Zeit teilt das Regime mit dem Kulturbetrieb, der seinen eigenen Raum zu verteidigen sucht, die Unfähigkeit, der Not eines Überganges gewahr zu werden. Diese Not sind beide umso weniger imstande zu erkennen, als sie zur Verherrlichung des Seienden beigetragen haben und aus ihr ein ohnmächtiges Absolutes gemacht haben. Von der Not einer »Entscheidung« wird kaum Notiz genommen, solange man nur vom Seienden und dessen Schmeicheleien getrieben wird. Das Reich bahnt sich einen Weg durch wiederholte Instrumentalisierungen; man denke nur an die »kindischen Romantiker« und an deren »Schwärmerei« im Sinne einer »Reichsuniversität«, die sich ein Werk des deutschen Dichters Stefan George (1868 – 1933), Das neue Reich (1928), zu Propagandazwecken zunutze machte. Für Heidegger ist Denken und Dichten beauftragt, neue Sinnhorizonte zu eröffnen. Nie kann Philosophie sich an die Denkart dieser oder jener politischen Ausnutzung anpassen, geschweige denn gespeist werden von der durch die Propaganda des Re gimes erhaltenen Zustimmung. In diesem Sinne sind Journalismus und Propaganda ebenbürtig ! Dem hier rekonstruierten Gedankengang entlang (Überlegungen VII, § 21) zeigt Heidegger einen Punkt auf, an dem es kein Zurück mehr gibt: die Unmöglichkeit einer »Besinnung«, oder besser gesagt ihre Entfernung gegenüber einem selbstbezogenen Regime. Das Schlüsselwort, worauf Heideggers Überlegung beruht, und das diesen Rückzug auf sich selbst deutet, ist der Begriff« »Selbstbewußtsein«. In diesem Rückzug auf sich selbst befindet sich die deutsche Universität, die vortäuscht, »die Wesensgesetzlichkeit der „heutigen“ Wissenschaft« zu überspringen und im Überspringen meint, wieder zur Wissenschaft zu kommen, wo eben doch
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das Seiende lediglich verfestigt und von der Seinsgeschichte gelöst ist. Dessen einziger Spielraum liegt im Fortbestehen einer geschichtslosen Gegenwart, sofern der »Sprung« »das Wagnis eines ersten Vordringens in den Bereich der Seinsgeschichte ist«14. Ist aber die Universität einem solchen Sprung nicht gewachsen, so bleibt ebenfalls der »Nationalsozialismus« außerhalb der »Vorbereitung einer Verwandlung des Seyns«, »da ja die Herrschaft der nationalsozialistischen Weltanschauung entschieden ist«. Es liegt nahe, daß die Bestandserhaltung dessen, was das Regime erzeugt, aber nie abfragt, seine höchste Verwirklichung in der Entschlossenheit des »Selbstbewußtseins« findet. So verwirklicht sich eine neue Betrachtungsweise angesichts der »Besinnung«, die mit dem von Heidegger in Betracht gezogenen »Übergang« nichts gemein hat. Wohingegen der Neuzeit eine Auffassung des Menschen anhaftet, wonach er sich selbst aufgrund seines ichhaften Selbstbewußtseins verstehen kann. Grundverschieden ist der Entwurf Heideggers, wobei die Ichvorstellung unzureichend ist, um das Selbst zu »gründen«: »So entspringt die Offenheit und Gründung des Selbst aus der und als die Wahrheit des Seyns. […] Nicht die anders gerichtete Zergliederung des Menschenwesens, nicht die Anzeige anderer Seinsweisen des Menschen – alles für sich genommen als verbesserte Anthropologie – ist es, was hier die Selbst-besinnung beibringt, sondern die Frage nach der Wahrheit des Seins bereitet den Bereich der Selbstheit«15.
Die Frage nach der Wahrheit des Seins bleibt dem Nationalsozialismus vollkommen fremd, sofern dessen Weltanschauung »gar nicht weiter denken kann und nicht will« (Überlegungen VII, § 21). Durch die abflachende Zurückführung des Menschen auf ihn selbst bzw. »Vermenschung des Menschen« wird jede Gründung gestrichen, und der »Übergang« ist eine Gefahr, die sorgfältig vermieden werden muß. Nicht zufällig führt eine derartige Fehlentwicklung unvermeidbar dazu, das Dasein zu verkleinern und Heideggers Denken als »Existenzphilosophie« zu bezeichnen (Überlegungen VIII, § 51). Eben darum distanziert sich Heidegger von Heyse, von dessen Mißverständnissen von Sein und Zeit und Plünderungen, die eine »zum siebenten Mal aufgekochte und mit „nationalsozialistischem Gedankengut“ versalzene Wassersuppe« daraus machen. Als Kronphilosoph des Regimes wird Heyse durch seine »Phrasen Mut« gekennzeichnet und ist auch desselben Wesens wie das Regime: er denkt nicht. Die Unfähigkeit des Nationalsozialismus ist an seinen Anhängern erkennbar: was sie miteinander verbindet, besteht darin, daß sie »gar nicht weiter denken« können (Überlegungen VII, § 21) und unter ihnen taucht Heyse auf als der »Denker«, »[…] der nicht denkt« (Überlegungen VIII, § 51). In der Tat ist Heyse ein Kind der Neuzeit: der »Phrasen Mut« und »das Aufgeblähte der Redensart«, worauf dieser zurückgreift, bleiben von der Not eines ursprünglichen Denkens weit entfernt und gehören der »Barbarei des „Denkens“« zu. Heidegger hat es sich daher angelegen sein lassen, abzuklären, daß Sein und Zeit zu derartigen Mißverständnissen nicht führen kann, oder, besser gesagt, mit dem »nationalsoziali 14 15
Ebd. § 115 »Die Leitstimmung des Sprungs«, S. 227. Ebd. § 30 »Das anfängliche Denken« (als Besinnung)«, §§ 67 – 68.
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stischen Gedankengut« nichts gemein hat. Diese Abklärung ist auf die erheblichen Unterschiede zwischen seinem Denken und der angeblich »nationalsozialistischen „Philosophie“« zurückzuführen – zwischen dieser und jenem liegt ein Abgrund. Dem aufmerksamen Leser bietet der Abschluß des 51. Abschnitts einen – für Viele unerwarteten – neuen Anlaß zur Besinnung. Wenn auch ein dem Denken gewidmetes Leben als »Askese« gilt, scheint es Heidegger angebracht, »höchstens seinen Standort« gegen den entgegengesetzen Standort »fest[zu]stellen«, »aber niemals in eine Auseinandersetzung sich weg[zu]werfen«. Was aber überraschen mag, besteht darin, daß dieses Feststellen »niemals auch nur zu einer öffentlichen Absetzung« dienen dürfe. Im 51. Abschnitt bezieht er sich unzweideutig auf den Nationalsozialismus, aber da ist die Ablehnung jeder »öffentlichen Absetzung« bemerkenswert, »denn auch diese könnte nur dazu gebraucht werden«, die »vermeintliche Unentbehrlichkeit« des Betriebs zu bestätigen. Besonders ausschlaggebend ist dieses Element, indem es Heideggers wirkliche Absicht enthüllt, jede öffentliche Absetzung, jeden öffentlichen Widerstand gegen die Partei zu vermeiden, sofern eine Auseinandersetzung das voraussetzt, was bei der Gegnerschaft gerade fehlt: die Fähigkeit zum Denken. Nach Heidegger ist es außer Frage, sich in eine »Ausein andersetzung« »weg[zu]werfen«, und das Verb wegwerfen bedeutet hier nicht nur sich dazu herabzulassen, sich öffentlich abzusetzen, sondern ebensowohl oder eher sich aus der eigenen Bahn werfen zu lassen – und zwar im wahrsten und schlimm sten Sinne des Wortes. Wäre es möglich, die Zeit anzuhalten, dann würde die Eindeutigkeit dieser Überlegung zwangsläufig dazu führen, daß die Standpunkte vieler Interpreten revidiert werden müssen, die in den letzten Jahren Heideggers Schweigen als stillschweigende Zustimmung zum Nationalsozialismus verstehen wollten. Heideggers Ent-täuschung betrifft auch die Neuzeit, den »neuzeitlichen« Menschen und die »nationalsozialistische Scheinphilosophie« (§ 53), die das Erkennbare einzuschließen versucht, als wäre es auf die deutsche Volkseinheit reduzierbar. Mit einem derartigen Anspruch läuft das Denken noch mehr Gefahr, instrumentalisiert zu werden: es wird in eine Berechenbarkeit als Grundzug einer Zeit eingeordnet, die in den ungefähren Schätzungen einer geschichtslosen Gegenwart nicht fähig ist, weder sich zu öffnen noch zu verschließen. All dies wird von Heidegger widerlegt: »Das Wißbare selbst ist weder französisch, noch deutsch, noch italienisch, noch englisch, noch amerikanisch – wohl aber der Grund dieser Nationen !« Der Grund ist nie zu suchen im künstlichen Aufbau einer Volkseinheit, womit so etwas Ähnliches wie eine Einheit eine Sinn-losigkeit verdeckt. Darüber hinaus ist jede Gründung unmöglich, solange die geschichtliche Unbestimmtheit der noch verbleibenden Volkseinheiten und deren völkisch-politischen Willen zur Macht sich in der Festsetzung des Seienden abkapselt und es zu einem höchsten Seienden herabsetzen. Von der politischen Instrumentalisierung wurde auch der »politische Katholizismus« heimgesucht, der eine noch verfeinertere Form annimmt: die »religiösen Bedürfnisse« werden durch eine andere Zielsetzung verdeckt, nämlich durch die Entstehung einer »katholischen Politik« (Überlegungen X, § 47). Heideggers Be-
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zugnahme auf das »Katholische« weist auf dessen »Charakter« hin und kann nicht lediglich als eine ontische Kategorie im üblichen Sinne des Wortes verstanden werden. Folglich nimmt das »Katholische« Gestalt an im »Jesuitismus«, der genau wie der Nationalsozialismus ein Vorbild ist in der »Entschiedenheit der „Organisa tionen“« wie durch »die Beherrschung der Propaganda […] für die Verherrlichung des Willens und der Strammheit des Soldatischen.« Es besteht kein Grund, sich darüber zu wundern, daß die hier wiederkehrenden Themen der Propaganda, der Organisationen, Elemente sind, die, wenn auch Grundzüge des Nationalsozialismus, von Heidegger mit diesem Katholizismus verbunden werden, der die »religiösen Bedürfnisse« vergessen hat und zu einem politischen Apparat wurde. Mit dem Wort »katholisch« wird hier tatsächlich eine neue Kategorie genannt, und wie Heidegger es klarstellt, »das Wesen des „Katholischen“«, bzw. des »katholischen« Charakters läge weder im Christlichen noch im Kirchlichen als solchem »– sondern καθόλον heißt – über das Ganze herrschend – das „Totale“« (§ 47). Eben dieser Gebrauch des Wortes »das Totale« hilft uns das zu klären, was Heidegger mit dem »Wesen des Katholischen« meint. Darüber ist ein Hinweis auf die Beiträge, insbesondere auf deren 14. Abschnitt erforderlich: »Jede Haltung, die als „totale“ die Bestimmung und Regelung jeglicher Art des Handelns und Denkens in Anspruch nimmt, muß alles, was darüber hinaus noch als Notwendigkeit auftreten könnte, unumgänglich unter das Gegnerische und gar Herabsetzende rechnen«16.
Wohlgemerkt wäre es nach Heidegger eine Täuschung zu meinen, diese Katholiken wären von »religiösen Bedürfnissen« getrieben (Überlegungen X, § 47). Dann fügt er hinzu: »So werden die Bereiche kommender Entscheidungen wiederum nur verdeckt – das „Katholische“ war aber niemals […] der Ursprung eines gestalterischen Kampfes um das Sein« (§ 47). Damit kommen weitere Übereinstimmugen im 14. Abschnitt (S. 41) der Beiträge zum Vorschein: »Daß nun aber der totale politische Glaube und der ebenso totale christliche Glaube bei ihrer Unvereinbarkeit dennoch auf den Ausgleich und die Taktik sich einlassen, darf nicht verwundern. Denn sie sind desselben Wesens. Als totalen Haltungen liegt ihnen der Verzicht auf wesentliche Entscheidungen zugrunde. Ihr Kampf ist kein schöpferischer Kampf, sondern „Propaganda“ und „Apologetik“«.
In diesem Kontext kommt zum Durchbruch, was Heidegger mit der Kategorie »katholisch«, »christlich« (als Charakter, bzw. Haltung) meinte – und damit die Unvereinbarkeit zwischen Glaubensbekenntnis und Politik – was diese auch immer sein mag. Ferner bleibt der im 47. Abschnitt der Überlegungen X und im 14. Abschnitt der Beiträge erwähnte »gestalterische Kampf« dem »Wesen des „Katholischen“« vollkommen fremd. Dieser »gestalterische Kampf« wird durch die Propaganda niedergeschlagen, damit diese auf keinen Fall zur Diskussion stehe. 16
Ebd. § 14 »Philosophie und Weltanschauung«, S. 40.
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»Die alte christlich-katholische Apologetik« (Überlegungen X, § 59), die »auf jedes Fragen« verzichtet, bewirkt den höchsten Grad einer übermäßigen Ichheit, die jeden in die Sache gebrachten Schwung zurückhält und jeden Versuch einer »Entscheidung« vertreibt. Durch diese Versperrung entsteht ein »Gerede«, das nur »der Widerhall der gleich-oberflächlichen „nationalsozialistischen Philosophie“« ist. Der Lärm derartigen grundlosen Geredes ist einem »Opfer des Denkens« zuzuschreiben. So verzichtet das deutsche Volk auf die wesentlichen Entscheidungen, es verzichtet auf das Denken und Dichten, das als eine zu vermeidende Gefahr gilt; sonst könnte eine Ausdauer im Fragen überlegen sein, und zwar auf Kosten einer erfolgreichen Lebensnähe, die sich nur dem zuwendet, was als funktionell und gültig für sie gilt. Die Deutschen seien nicht bereit, »in solcher Gefahr ihren Grund zu suchen« (§ 59). Was ist aber das Wesen der Deutschen ? »Wer« sind »wir« ? Was heißt »Volk« ? Das sind Fragen über Fragen, die aus dem 59. Abschnitt hervorgehen und nur im Lichte des 19. Abschnitts der Beiträge17 verständlich werden; sonst erweist es sich als schwierig, die beiden Textstellen zu deuten, in denen Heidegger behauptet, »daß die abendländische Entscheidung niemals dort fällt, wo nur ein innerhalb des schon entschiedenen, d. h. hellenistisch-jüdischen „Welt“ erst recht Entscheidungsloses sich die Herrschaft angemaßt hat –; […]« und daß »alles „Blut“ und alle „Rasse“, jedes „Volkstum“ vergeblich« ist. Nach dem »Wir« fragen heißt, auf die Klärung des »Selbst« zurückkommen: »Diese Selbst-besinnung hat allen „Subjektivismus“ hinter sich, auch den, der sich am gefährlichsten versteckt im „Kult“ der Persönlichkeit. […] Und will man etwa das Ich-Sagen biologisch begründen ? […] Sebst-besinnung als Begründung der Selbstheit steht außerhalb der genannten Lehren«.
Für Heidegger bleibt die Frage nach dem, »wer sind wir« ein gefährliches Hindernis, da durch die Herrschaft eines bloßen Subjektivismus alles schon entschieden ist. Das Volksein darf weder von der hellenistisch-jüdischen Tradition noch von der biologischen Angehörigkeit zu einer Volksgemeinschaft abgeleitet werden. All dies ist unzureichend, da die Gefahr eines solchens Fragens in die Grundfrage »wie west das Seyn ?«18 einzufügen ist. Infolgedessen sind biologische Rassenfragen oder religiöse Traditionen nicht einmal zureichend, um die Frage nach dem, »wer sind wir«, zu stellen. Die Einzigen, die es wagten, der Gefahr eines solchen Fragens zu trotzen, waren die Griechen, »weil sie aus dem Sein sich zu bestimmen wagten« (Überlegungen X, § 59). Ausschlaggebend ist diese Textstelle, in der Heidegger die Möglichkeit einer Selbstbestimmung aufgrund zufälliger Gegebenheiten – seien sie biologisch oder völkisch-religiös – entschieden zurückweist. Unverzüglich kommt Heideggers confessio bzw. Bekenntnis bezüglich seiner Unterschätzung der »Bewegung«:
17 18
Ebd. § 19 »Philosophie (Zur Frage: wer sind wir ?)«. Ebd. S. 54.
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»Rein „metaphysisch“ (d. h. seynsgeschichtlich) denkend habe ich in den Jahren 1930 – 1934 den Nationalsozialismus für die Möglichkeit eines Überganges in einen anderen Anfang gehalten und ihm diese Deutung gegeben« (Überlegungen XI, § 53).
Wohl war das eine Fehleinschätzung. Innerhalb der entworfenen S einsgeschichte ist allerdings jede weitere Vermutung in vollem Umfang zurückzuweisen, nach der die Seinsgeschichte und politische Fragen aufeinander bezogen werden dürften. Früher wird diese Fehleinschätzung eine »Täuschung« genannt. Es ist klar, daß diese Fehleinschätzung den noch in den Anfängen steckenden Nationalsozialismus und nur die damalige Lage der Universität betreffen soll, als einziger Stätte für diese Hoffnung und darauffolgende Ernüchterung. Damit soll kein Schlüssel zur Auslegung geboten werden, dem Kontext des 53. Abschnitts bleiben wir aber treu, der nicht nur die Zeitspanne der Täuschung, oder wie lange sie dauerte, sondern auch einen bestimmten Raum umgrenzt: die Räume der Universität und deren Gründung im wesentlichen Wissen. Anderen Wegen und Visionen der Auslegung sei hier freier Lauf gelassen, da die Quellenangaben eher sparsam sind. Diese »Täuschung« soll natürlich erkannt werden, aber mit dieser Täuschung geht eine weitere Täuschung Heideggers einher, in der vergeblichen Hoffnung, seine Mühe könne sich der Gründung eines ursprünglichen Wissens als dienstbar erweisen. All dies hat nicht viel genützt, da die Universität das »echte Wissen« verlassen und der Kultur die Wissenschaft zugrundegelegt hat. Dieser Vorgang ist der »leeren Anmaßung« der »Intellektuellen« und deren »Unwesen« zuzuschreiben, die »vom wesentlichen Wissen nichts wissen wollen und können«. So verunstaltet geraten die Hochschulen in eine »Verwirrung«. Nicht zufällig kommt Heidegger auf die »Täuschung« zurück in folgender Äußerung: »Eine weitere Täuschung war daher die Meinung, die Universität ließe sich ja noch zu einer Stätte wesentlicher Besinnung verwandeln«. Daß er das Wort »Täuschung« bezüglich des Nationalsozialismus und dann der Universität benutzt, hilft uns zu verstehen, wie diese Täuschung seine Fehlschätzung mit einer Grundfrage verbindet: die Bewahrung des wesentlichen Wissens und deren möglicher Gründung. Falls diese wesentliche Voraussetzung fehlt, dann beruhen immer noch Nationalsozialismus und Universität auf einem Grund, der aber nichts anderes ist als »der Grund ihrer Ohnmacht«. Die gegenseitige Annäherung zwischen dem Nationalsozialismus als historischer Tatsache und der Universität – die durch die selbe Täuschung mitein ander verbunden sind – tritt noch deutlicher im Schluß des 53. Abschnitts hervor: »Ein von hier ausgedachter Begriff von „Wissenschaft“ ist, sowohl von der Universität gesehen wie aus der geschichtlichen Wirklichkeit geschätzt, das reine „Phantom“«. Das vollständige Fehlen des wesentlichen Wissens macht den Leitfaden aus, der die Abschnitte 53 und 55 miteinander verbindet: »[…] bleibt aller Philosophiebetrieb, zumal der „nationalsozialistische“, außerhalb des Bezirks wesentlichen Wissens. Das hindert nicht, daß solche Betriebsamkeit in einer maßlosen und lärmenden und räuberischen „Literatur“ sich eine öffentliche Geltung zu verschaffen versucht. […]«.
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3.2. Der »neuzeitliche Mensch« gegenüber dem »zukünftigen Menschen« In dieser dem »neuzeitlichen Menschen« gegenüber dem »zukünftigen Menschen« gewidmeten Abteilung werden alle Textstellen berücksichtigt, in der Heideggers Sprachgebrauch zu Mißverständnissen führen kann, wenn er aus dem jeweiligen Kontext herausgerissen wird. Die betreffenden Begriffe sind folgende: »Verwüstung«, »Entwurzelung«, »Vergemeinerung«, »Zerstörung«, »Blut«, »Rasse«, »Rechenhaftigkeit«, »Boden«, »Feind«, »Gottlose«, »Judentum«, »Juden«, »Weltlosigkeit«, »weltlos«, »Unwesen«. Die Behandlung dieser Fragen ist umso heikler, als das Nachwort des deutschen Herausgebers des Bandes 95 der Gesamtausgabe für ein schwerwiegendes Mißverständnis verantwortlich ist bezüglich des Wortes »Judentum«, wie es im 5. Abschnitt der Überlegungen auftritt. Diesbezüglich schreibt er: »Den Hintergrund dieser Äußerungen über das „Judentum“ sowie der Auslegung des nationalsozialistischen Alltags bilden freilich alle jene Gedanken, die wir aus Heideggers zur selben Zeit entstehenden seinsgeschichtlichen Abhandlungen kennen: den „Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)“ (Gesamtausgabe Bd. 65, 1936 – 1938) […]«19.
Anschließend erwähnt dieser Auszug aus dem Nachwort des deutschen Herausgebers vier andere Werke von Heidegger. Mir schien es dennoch angebracht, momentan nur die Beiträge zu berücksichtigen. In der Tat verrät hier der betreffende deutsche Herausgeber ganz offensichtlich, daß er mit diesem Werk gar nicht vertraut ist, da die in den Bänden 94 und 95 schon belegten Hinweise der Beiträge auf die Überlegungen ohne jeglichen, ausdrücklichen oder stillschweigenden Bezug sind weder auf den Nationalsozialismus noch auf die Judenfrage. Das haben wir in der dritten Abteilung dieses Buches, Zu unveröffentlichten Briefwechseln Friedrich-Wilhelm von Herrmanns20 nachgewiesen. Aus der von diesem katastrophalen Mißverständnis ausgehenden Inszenierung seitens des deutschen Herausgebers erfolgte – und hier greifen wir Heideggers ausdrückliche Worte auf – eine verantwortungslose »riesenhafte Apparatur«, die es so einrichtete, daß sich die Meinung in den Massen verbreitete, das seinsgeschichtliche Denken Heideggers wäre von einem »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« »kontaminiert«, also seit den Beiträgen. Sofern sie in den Texten Heideggers nicht bezeugt sind, werden die Einfälle des deutschen Herausgebers zu einer fons iniquitatis bzw. Quelle einer Welt voll Ungerechtigkeit, die wiederum das Wuchern von »Mißverständnissen« begünstigt. Es ist skandalös, daß im Nachwort des betreffenden Bandes der Gesamtausgabe die Spur eines derartigen und unbegründeten Mißverständnisses hinterlassen wurde.
19 P. Trawny, Nachwort des Herausgebers, in: M. Heidegger, Überlegungen VII – XI (Schwarze Hefte 1938/39), S. 452. 20 S. unten, S. 235, Fußnote 5.
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Überlegungen VII § 56 [75 – 76], S. 52: In welcher Weise und in welcher Absicht dürfen wir heute noch »über« die Künste nachdenken? Indem wir fragen, ob nicht gewagt werden muß – ohne den Kunstbetrieb dem »Seienden« sich einmal auszusetzen und so die Vordergründlichkeit alles »Erlebens« in seiner Aufspreizung ins Licht der Besinnung zu heben und alle, die sich durch Beteiligung am Kunstbetrieb eine Beschäftigung und eine Bestätigung geben – auch die Kunsthistoriker –, in ihrer Zufälligkeit und Verlassenheit von jeder Not bloßzustellen. Ob nicht dieses Wagnis in die Nähe des Seyns zwingt und allen Kulturbetrieb in Frage stellt? In Wahrheit strebt dieser genau dasselbe an, was in seiner Weise der bodenlose »Kulturbolschewismus« befördert, und was einstmals notwendige Wege waren auf einem bestimmten und begrenzten und zum Untergang (d. h. zur Größe) berufenen Gang, das sind jetzt in sich gerundete Ziele und »Werte« als Gelegenheiten, sich den geschichtlichen Entscheidungen zu entziehen und lediglich den Menschen als Subjektum zu sichern. Weil der Schritt dazu im Wesen der Neuzeit liegt, ausdrücklich aber erstmals im 19. Jahrhundert in der ganzen Breite der historischen Veranstaltung der Geschichte unternommen wurde, muß auch eine Zeit – | und zwar sehr bald – sich einstellen, in der das 20. Jahrhundert zur Verteidigung gerade des 19. Jahrhunderts sich entschließen muß. Ohne diese würde das 20. seine vordergründlichen Veranstaltungen und Vorhaben mißdeuten und verkennen. […] Überlegungen VII § 71 [110 – 111], S. 73 – 74: Eine Hemmung – nicht aber eine Gefahr – könnte bald für das Denken des Seyns dadurch sich breitmachen, daß die »Erde« und was zu ihr gehört zum Gegenstand der »Philosophie« erklärt wird; daß Goethes Naturbezug zum Leitfaden einer Philosophiegelehrsamkeit herabsinkt. Diese »geistige« Durchdringung der »Natur« ist beirrender als jede Art des rohen »biologischen« Deutens, dessen Rechenhaftigkeit sogleich an den Tag kommt. Jene Hemmung wird aber durch die herrschende »Erlebnis«-sucht fast herbeigerufen und sie wird in dem, was man »das Leben« nennt, die unmittelbare Bestätigung und Bekräftigung ihrer Scheinwahrheit finden. (Vgl. ob. Schelling, 86 ff.). Die Gefahr droht der Erde selbst, weil solche Art ihrer Vergeistigung eine Form der Verwüstung darstellt, die unmittelbar gar nicht aufzuhalten ist, weil sie vom herrschenden Menschenwesen zu dessen eigener Sicherung eingerichtet und befördert wird. Wiederum liegt geschichtlich all dem weit voraus, was Hölderlin »die Erde« nennt und was nur historisch verdeutlicht ist, wenn wir es mit der »Gäa« zusammenbringen. Geschichtlich – d. h. den künftigen Menschen tragend – kann die Erde nur werden, wenn der Mensch zuvor in die Wahrheit des Seyns gestoßen ist und ihm aus dem | Erdenken des Seyns die Götter und er selbst in die Stätte des Kampfes um ihre Bestimmung eingehen, aus welchem Kampf erst die Welt aufblitzt und die Erde ihr Dunkel zurückgewinnt.
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Überlegungen VII § 75 [115 – 121], S. 77 – 80: »Naturverbundenheit«. – Allenthalben, auf verschiedenen Wegen, wechselnder Ausdauer verlangt den heutigen Menschen nach dem »Wirklichen« oder dieses Verlangen wird ihm von Einigen eingefühlt und aufgeredet. Dieses Verlangen könnte einen Vorgang anzeigen, auf dessen Oberfläche der heutige Mensch sich fortbewegt, ohne die Ebene seines Weges als Oberfläche eines Anderen zu erkennen. Es könnte so sein, aber alles andere deutet dafür, daß es nicht so ist. Vor allem bleibt verworren, was denn die Wirklichkeit des »Wirklichen« sein soll, ob und wie sie maßstäblich sich anbietet. Was man unter diesem Namen sucht, muß ja wohl das Gegenteilige dessen sein, was man als das Unwirkliche flieht. Und wieder ist zu fragen, ob nicht das »Unwirkliche« so eingeschätzt wird, weil über die Wirklichkeit nicht entschieden ist. […] Und dennoch – wie steht es mit dieser »Naturverbundenheit« und ihrer Einrichtung? Den Wald und den Bach, den Berg und die Wiese, die Lüfte und den Himmel, das Meer und die Insel nimmt der Mensch jetzt als Ablenkungsanlaß, als Beruhigungsmittel, als Gegenstand seiner Erholungs-tätigkeit, die ihre festen Betriebsformen und beanspruchten Einrichtungen hat. Wenn es hochkommt, nimmt der Mensch das Genannte als »Landschaft«, die er bei kurzem Aufenthalt oder auf der eiligen Durchfahrt sich zur Kenntnis bringt und vielleicht als späteren Unter-|haltungsstoff in sein Gedächtnis verstaut. Neuerdings überfällt der Mensch die Landschaften außerdem mit seiner historischen und volkskundlichen und prähistorischen Neugier und Vergleichungssucht und meint sich so jenem bloßen Naturgenuß überlegen. Beides gemischt bewirkt die Einbildung, nunmehr auf Grund dieser vielleicht noch ungeraden [?] Genußfähigkeit und der historischen Kenntnisse zu den Bodenständigen zu gehören und an der Erzeugung der Bodenständigkeit mitzuwirken. […] Wer ahnt die Entwurzelung der letzten spärlichsten Wachstümer, die es noch gab? Wer will überhaupt ahnen, daß hier etwas vor sich geht, was vollends mißdeutet wäre, wollte man es nur als einen Verlust der »guten alten Zeit« feststellen, berechnend bedauern. Die Furchtbarkeit dieses nach außen vergnüglichen Naturbetriebs ist erst dann begriffen, wenn wir | sie ohne Gefühlsschwärmerei zurückdenken in jenen Vorgang der Seinsverlassenheit des Seienden, der seine Eigenmacht in der Riesenhaftigkeit und Rücksichtslosigkeit des Vordringens der Berechnung und des Betriebs entfaltet. Dieses ist das Wirkliche, das niemand sieht und keiner sehen will; weil diese Fortschrittlichen der neuen Zeit im Grunde am zähesten am mißdeuteten Alten hängen und die eigentlichen »Romantiker« sind; wer wie sie die Geschichte historisch und nur so nimmt, vermag auch in der eigenen Gegenwart und hier am meisten das »Wirkliche« nicht zu erfahren. Überlegungen VIII § 4 [8 – 9], S. 96 – 97: […] Im Geschichtslosen kommt dasjenige, was nur innerhalb seiner zusammengehört, auch am ehesten in die Einheit der völligen Vermischung; das scheinbare Aufbauen
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und Erneuern und die völlige Zerstörung – beides ist dasselbe – Bodenlose – dem nur Seienden Verfallene und dem Seyn Entfremdete. Sobald das | Geschichtslose sich »durchgesetzt« hat, beginnt die Zügellosigkeit des »Historismus« –; das Bodenlose in den verschiedensten und gegensätzlichsten Gestalten gerät – ohne sich als gleichen Unwesens zu erkennen – in die äußerste Feindschaft und Zerstörungssucht. Und vielleicht »siegt« in diesem »Kampf«, in dem um die Ziellosigkeit schlechthin gekämpft wird und der daher nur das Zerrbild des »Kampfes« sein kann, die größere Bodenlosigkeit, die an nichts gebunden, alles sich dienstbar macht (das Judentum). Aber der eigentliche Sieg, der Sieg der Geschichte über das Geschichtslose wird nur dort errungen, wo das Bodenlose sich selbst ausschließt, weil es das Seyn nicht wagt, sondern immer nur mit dem Seienden rechnet und seine Berechnungen als das Wirkliche setzt. Überlegungen VIII § 5 [9], S. 97 Eine der verstecktesten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens, wodurch die Weltlosigkeit des Judentums gegründet wird. Überlegungen VIII § 39 [108], S. 161: Das völkische Prinzip zeigt sich in seiner riesigen neuzeitlichen Bedeutung, wenn man es als Abwandlung und Nachkommenschaft der Herrschaft der Soziologie der Gesellschaft begriffen hat. Ist es Zufall, daß der Nationalsozialismus die »Soziologie« als Name ausgemerzt hat? Warum wurde die Soziologie mit Vorliebe von Juden und Katholiken betrieben? Überlegungen VIII § 48 [118 – 119], S. 168 – 169: Descartes. – Der Angriff auf Descartes, d. h. das seiner metaphysischen Grundstellung gemäße Entgegenfragen aus einer grundsätzlichen Überwindung der Metaphysik, kann nur aus dem Fragen der Seinsfrage vollzogen werden. Der erste Angriff solcher Art ist versucht in »Sein und Zeit« (1927). Er hat mit der vormaligen und nachmaligen »Kritik« des »Cartesianismus« nichts gemein. Dieser Angriff setzt durch die Wahl des Gegners diesen erst in seine unantastbare Größe innerhalb der Geschichte des abendländischen Denkens. Dieser Angriff weiß, daß mit »Widerlegungen« hier nichts auszurichten ist, daß vielmehr durch die Ursprünglichkeit des Angriffs der Angegriffene erst recht in seine geschichtliche Unerschütterbarkeit zu stehen kommt und deshalb immer weniger als »erledigt« gelten kann, wenn anders dem Abendland noch eine Zukunft des denkerischen Fragens aufbehalten bleibt. Daher hat dieser Angriff (obzwar er seitdem von Juden und Nationalsozialisten gleich stark ausgebeutet wird, ohne doch in seinem Wesenskern begriffen zu sein) keine Gemeinschaft mit den jetzt ins Kraut schießenden dummdreisten Bekrittelungen Descartes’ aus »völkisch-politischen« Gesichtspunkten durch übereifrige und noch lehrstuhllose Privat-|dozenten »der Philosophie«. Auch ist es unnötig, wie manche es gern sehen möchten, sich öffentlich gegen solche Schriftstellereien abzusetzen.
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Überlegungen IX § 81 [104 – 105], S. 247 – 248: Nietzsche – verkannte, daß seine Umkehrung des Platonismus, d. h. die Ansetzung »des« Lebens als der ausschließlichen Grundwirklichkeit, die auch Unterscheidbarkeit von Diesseits und Jenseits hinfällig macht, im Grunde seiner innersten Absicht auf den höheren, wohlgeratenen Menschen (die großen Exemplare) entgegenarbeiten mußte; denn mit jener Ansetzung ist die Massenhaftigkeit des Lebenden und seines Lebensdranges an sich gerechtfertigt; die Anerkennung derselben als Boden und Widerstand für den Einzelnen aber ist nur ein Schein, weil die Einzelnen selbst | sich alsbald nur als Beauftragte des »Lebens«, und d. h. für die Massen und deren Wohl und Glück, wissen können. Ihrem eigenen Willen bleibt nur das Echo »des Lebens« und seiner Steigerung, und jeder »Lebende« wird als solcher den Anspruch auf Lebensrecht anmelden und der wachsende Anspruch wird »das Leben« steigern. Überlegungen IX § 84 [108], S. 249: […] Die Vieldeutigkeit und willkürliche Bedeutung solcher Namen (Glauben, Wissen, Wissenschaft, Kultur und so fort) ist schon kein bloßes Schwanken mehr innerhalb eines in sich gegründeten Bedeutungsspielraumes – (sofern alle Sprache ursprünglich diese Ausschläge der Bedeutung als Wesenskraft besitzt und kein Zeichensystem und gar ein »genormtes« sein kann), sondern das Anzeichen einer Entwurzelung der Wahrheit des Seyns – falls je schon eine Verwurzelung im Seyn selbst bestand –; die Folge davon, daß »Sprache« und »Denken«, »Begriff« und Vorstellung psychologisch-biologisch zu Mitteln der Einrichtung der Lebensbewältigung herabgesunken und veräußerlicht sind. Nicht, daß man sich nicht »einigen« kann auf wesentliche Ziele und deren begründete Satzung, sondern daß überhaupt der Erfahrungsblick auf das Seiende verwirrt und diese Verwirrung als gefahrlos ausgegeben ist, da der unmittelbare Nutzen Jegliches rechtfertigt und der »Schaden« und der »Fehlgriff« als solcher nicht berechnet wird. Überlegungen IX § 91 [116 – 117], S. 254 – 258: Nietzsche – die entscheidende Überwindung Nietzsches (nicht etwa die immer unphilosophische »Widerlegung«) kann nie unmittelbar durchgeführt werden; sie besteht vielmehr in der Erschütterung (Grundentziehung) | der abendländischen Metaphysik als solcher; dadurch wird die Ansetzung »des Lebens« als des Seienden bodenlos – weil das »Seiende« überhaupt den Vorrang verliert. […] Überlegungen IX § 92 [123], S. 258: Man findet es befremdlich, daß die Besinnung auf ein ganz Anderes hinausfragen könnte, auf das Sein und seine Wahrheit und deren Gründung und Grundlosigkeit – so daß Besinnung als Selbstbesinnung nichts zu tun hätte mit einer Begutachtung der Erlebnishintergründe; die Form dieser Zergliederung ist geblieben, auch nachdem man die jüdische »Psychoanalyse« vorgeschoben hat. Diese Form muß bleiben, solange man sich als Erlebnismensch nicht selbst aufgibt. Solange aber ist Besinnung im denkerischen Sinne unmöglich.
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Überlegungen X § 14 [10], S. 282: Denker – ist jener, der eine die Wahrheit des Seyns wagende Frage ohne den möglichen Anhalt an einem Widerhall so zwischen die sich fortwälzende Neugier der immer Fraglosen wirft, daß sie in sich stehen bleibt als ein ragender Abgrund inmitten des Gut Errechneten, geschickt Gestützten und gemeinten Bodenständigen. Überlegungen X § 15 [10 – 11], S. 282: Die Kennzeichnung von Stein, Tier und Mensch durch die Art des Weltbezugs (vgl. Vorlesung 1929/30) ist im Frageansatz festzuhalten und dennoch unzureichend. Die Schwierigkeit hängt in der Bestimmung des Tieres als »Weltarm« – trotz der vorbehaltenden Einschränkungen des Begriffes »Armut«; nicht: weltlos, weltarm, weltbildend, sondern: feld- und weltlos, / feldbenommen-weltlos, / und weltbildend-erderschließend / sind die angemesseneren Fassungen | der Fragebezirke. Dabei verlangt die Kennzeichnung des »Steins« als feld- und weltlos zugleich und zuvor die eigene »positive« Bestimmung. Aber wie ist diese anzusetzen? Doch von der »Erde« her – dann aber vollends gar aus »Welt«. Überlegungen X § 39 [59], S. 312: […] Hierbei ist nicht gedacht an die erst diesem Vorgang nachträglichen gelehrten Erneue rungen der hegelschen Philosophie und Nachmachungen nietzschescher Gedanken und Stellungnahmen – sondern gerade die gemeingeistige – alltäglich-öffentliche Vorstellung und Wertung des Seienden wird – ohne daß es zu einem Wissen davon zu kommen braucht – von jener Vollendung der Metaphysik getragen. Die verborgen geschichtliche Kraft ihrer untergründigen Zusammengehörigkeit aber ist die Metaphysik von Leibniz – freilich in der Form der groben und weitmaschigen Vergemeinerung, die ihr seit Herder und Goethe zuteil wurde. Die Vollendung der abendländischen Metaphysik ist deshalb eine durch und durch deutsche Notwendigkeit, in der Descartes sowohl wie der Platonismus und Aristotelismus des Abendlandes und damit die geistigen Bereiche des Mittelalters und des neuzeitlichen Kulturchristentums zu einem letzten Anlauf des metaphysischen Denkens zusammengeschlossen sind. Überlegungen X § 44 [74], S. 322: Solange das Wesen des Menschen durch die Tierheit (animalitas) vorbestimmt bleibt, kann immer nur gefragt werden, was der Mensch sei. Nie ist die Frage möglich: wer der Mensch sei? Denn diese Wer-frage ist als Frage schon die ursprünglich andere und einzigartige Antwort auf die Frage nach dem Menschen – dieses Fragen selbst setzt den Menschen in seinem Wesen an als die Inständigkeit in der Wahrheit des Seyns. Sie ist jene Frage nach dem Menschen, die nicht etwa nur über ihn hinaus fragt nach seiner Ursache und dergleichen, sondern die überhaupt nicht nach ihm, des Menschen wegen fragt, sondern um des Seyns willen, da dieses in die Entgegnung zum Menschen als dem Gründer der Wahrheit versetzt. Erst diese Frage überwindet die neuzeitliche anthropologische Bestimmung des Menschen und mit ihr alle voraufgegangene, christliche hellenistische – jüdische und sokratisch-platonische Anthropologie.
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Überlegungen X § 46 [77 – 78], S. 324: Aber auch Nietzsche »denkt« als Künstler und d. h. hier aesthetisch-wagnerisch-schopenhauerisch, wenn er den »Genius« als Ziel der Menschheit – ansetzt – er bleibt in der Umzäunung der biologischen Metaphysik hängen und deshalb kann man mit dem gleichen Recht auf dem Boden dieser Metaphysik auch in der Umkehrung »das Volk« als den Zweck seiner selbst ansetzen – beides ist »dasselbe« – und erst damit erreichen wir den Bereich, von dem das nur zunächst vordergründlich genommene Kulturtreiben | stets und einzig seine Begründung empfängt und ohne sein Wissen die eigentlichen Anstöße: die Herrschaft der neuzeitlichen Metaphysik in der Endform der Vermenschung des Menschen. Alle Kulturpolitik und Kultur der Kultur sind die Sklaven dieser ihnen verborgenen Herrschaft des Subjectum (des Menschen als des historischen Tieres). Überlegungen X § 46a [79], S. 325: Jeder Dogmatismus, er sei kirchlich-politisch oder staatspolitisch, hält notwendig jedes von ihm scheinbar oder wirklich abweichende Denken und Tun für eine Zustimmung zu dem, was ihm, dem Dogmatismus, der Feind ist – seien das die Heiden und Gottlosen oder die Juden und Kommunisten. In dieser Denkweise liegt eine eigentümliche Stärke – nicht des Denkens – sondern der Durchsetzung des Verkündeten. Überlegungen XI § 1 [1 – 5], S. 360 – 362: Der neuzeitliche Mensch hat die Sicherung seines Wesens darauf angelegt, einstmals ein Teil der Maschine zu werden, damit er im Dienst für die Sachlichkeit und Berechnetheit ihres Laufens seine mühelose Sicherheit, seine Antriebe und seine Lust finde. Dieses Sicheinlassen auf das Maschinenwesen ist etwas Wesentlich Anderes als der bloße Gebrauch »technischer« Möglichkeiten; hier begibt sich die äußerste Anverwandlung des Menschenwesens in die Rechenhaftigkeit des Seienden. Mit all dem kommt erst der Geist (d. h. das Verstand- und Rechenhafte der Tierheit) zu seiner höchsten Macht; die Herrschaft des Maschinenwesens ist weder »Rationalismus« noch »Materialismus« – nicht die Verödung des leeren Verstandes und nicht die Heiligung des bloßen Stoffes. Vielmehr vollzieht sich in dieser Anverwandlung an das Maschinenwesen jenes Sichloslassen in das Seiende, das keiner »Bilder« mehr bedarf für einen »Sinn« – weil die Anschaulichkeit sich zur völligen Berechenbarkeit ausgefaltet hat und in ihr stets gegenwärtig ist, weil der »Sinn« in der sich fortzeugenden Plan-|mäßigkeit zu einer einzigartigen Beweglichkeit verfestigt hat. Der neuzeitliche Mensch bedarf keiner Sinnbilder mehr, nicht weil er den Sinn verleugnet, sondern ihn beherrscht als die Ermächtigung des Menschen selbst zu der rechnenden Mitte aller Einrichtungen jeglicher Machenschaft für das Seiende im Ganzen. Der neuzeitliche Mensch braucht das Sinnbild nicht mehr, weil er das Anschauliche und Schaubare ganz in die Macht seines Herstellens alles Machbaren (und nirgends Unmöglichen) eingezwungen hat. Sinnbild ist nur dort möglich und nötig, wo die Metaphysik das Sein über das Seiende stellt und durch dieses jenes darstellen muß –; sobald aber, wie im Zeitalter der Vollendung der Metaphysik, das Seiende selbst alles Sein übernimmt und nur Seiendes in seiner Vor- und Herstellbarkeit kennt, wo das »Wirkliche« und »Lebendige«, die »Tat« und der Erfolg das »Wahre« ausmachen, entfällt
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
jede Möglichkeit und Notwendigkeit eines Sinnbilds. Wer solches neuzeitlich – d. h. auf dem Wege der historischen Nachrechnung und Nachmachung – wieder einführen möchte, täuscht einen flachen | Tiefsinn vor und verkennt gerade die eigentliche Wesenstiefe des eigenen Zeitalters. »Sinnbilder« sind jetzt in mehrfachem Sinne unmöglich: 1.) weil das, was ihr Wesen ist, in einem tieferen Sinne und entschiedener geschieht (die Gleichsetzung von Sinn und Bild in der einrichtbaren Berechnung des Seienden und d. h. der Rechenhaftigkeit seines Seins); 2.) weil, wenn man schon eine Sinnbildschaffung für nötig halten möchte, diese einen bildlosen und bildfordernden Sinn voraussetzt – d. h. eine Wesensbestimmung des Seins, das erst im ganz Anderen eines Seienden sich darstellen müßte. Aber gerade diese Voraussetzung wird nicht mehr gesetzt und kann nicht mehr gesetzt werden, wenn der Mensch selbst sich als Tier (Rasse – Blut) zum Ziel seiner selbst gesetzt und die Planbarkeit seiner Geschichte in seinen Willen genommen hat. Wo der Sinn in das Sinnlose gelegt wird, wo das Seiende jegliches Sein überflüssig gemacht hat, fehlt jede Quelle für eine sinnbildende Kraft; 3.) weil selbst dann, wenn auch noch dem Sinnlosen und Seinsverlassenen eine Spur | sinnbildender und bildschaffender Kraft zugestanden werden dürfte (was unmöglich ist), die Bildschaffung nie erweckt und vollzogen werden könnte durch ein historisches Ausgraben vergangener Symbole und Symbolwelten auf dem Wege der Volkskunde. Die angeblich Heutigen wissen gar nichts von der Gegenwart ihrer Geschichte, sondern erfinden sich »romantisch« mit den romantischen Mitteln der Historie (»Volkskunde« und »Vorgeschichte«) ein Gewesenes als Ideal einer Zukunft. Man macht ständig den »Intellektualismus« verächtlich und taumelt gleichzeitig in den Orgien eines ungewöhnlichen Historismus und verschließt sich dem Wissen dessen, was eigentlich ist. Man predigt »Blut« und »Boden« und betreibt eine Verstädterung und Zerstörung des Dorfes und des Hofes in Ausmaßen, wie sie vor kurzem noch niemand zu ahnen vermochte. Man redet von »Leben« und »Erleben« und unterbindet überall jegliches Wachstum, jegliches Wagnis und jegliche Freiheit des Irrens und Scheiterns, jede Möglichkeit der Besinnung und jede Not der Befragung. Man weiß und kennt Alles und schätzt Jegliches | nach dem Erfolg und hält nur noch das für wirklich, was einen Erfolg verspricht. Überlegungen XI § 29 [32 – 43], S. 380 – 386: Kein Zeitalter läßt sich durch die Abschilderung einer »gegenwärtigen Situa tion« fassen. Seine Geschichte wissen wir überhaupt nie unmittelbar. Die Frage nach dem Wesen seiner Geschichtlichkeit (und Ungeschichtlichkeit) fragt, wie es sich zum Seienden als solchem überhaupt und im Ganzen entscheidet, in welcher Wahrheit diese Entscheidung maßgebend wird. Vom Zeitalter der Neuzeit jedoch gilt alles dieses in einem noch ausschließlicheren Sinne und das, je jäher es in den Abschnitt seiner Vollendung, d. h. unbedingten Wesensentfaltung übergeht. Die unbedingte Zersetzung und Zerstörung alles Bisherigen wird aus dem bereits maßstablosen Gesichtskreis des »Bisherigen« als einer Folge von »Kulturzeitaltern« im Sinne eines Niedergangs abgewertet. Man übersieht dabei, daß in der »Zersetzung« und »Zerstörung« gar nicht die bloße Beseitigung des bislang Gültigen wesentlich ist, sondern die Unbedingtheit, Berechenbarkeit, Planbarkeit und innere Wandelbarkeit
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des Zerstörungsvorganges selbst. Das will sagen: Die Seiendheit des Seienden – das Machenschaftliche als solches und seine unbedingte Gesetzlichkeit | bestimmen das, was ist. Alles seitdem »Wirkliche« und noch dafür Gehaltene, die »Kultur« und ihre Güter verschwinden nicht, sondern rücken nur in den Vordergrund dessen, was die Vor-wand r abgeben muß, um jenen Zerstörungsvorgang nicht in seinem eigentlichen Sein hervortreten zu lassen; denn dieses ist, wie jedes Sein, nur Wenigen ertrag- und wißbar – hier in der vollendeten Neuzeit nur denjenigen, die selbst in der Machenschaftlichkeit des Seienden stehend von ihr als die richtenden Vollstrecker gefordert sind. Da sich eine solche Vollendung eines Zeitalters / und hier des neuzeitlichen Zeitalters / nicht mehr nur in Teilbereichen menschlichen Betreibens abspielen kann, sondern Alle und d. h. das neuzeitliche Massenwesen des Menschentums einbegreifen muß, bedarf es wesentlicher Einrichtungsformen und Meinungen, die die Massen über den bloßen Herdencharakter hinausheben; nicht damit sie einer bisher ihnen versagten höheren Kultur zugeführt werden und die »Segnungen« der Wohlfahrt und des Glückes erfahren – sondern damit sie im Scheine dieser Einrichtungen unbedingt für die Machenschaft verfügbar werden und dem Ablauf der Zerstörung | keinen Widerstand mehr entgegensetzen, da alles, was in voraufgegangenen Jahrhunderten der Neuzeit in einzelnen Wirkungsgebieten und Schichten des Menschentums als »Kultur« galt und einheitliche Zielsetzungen eines Schaffens und Genießens enthielt, jetzt ausgehöhlt und ohne eigene bestimmende Kraft ist, eignet es sich am besten dazu, um jetzt den Massen als der Schein ihrer höheren Berufung zugeführt zu werden, in welchem Schein-erleben und Rausch sie sich zu einer unbedingten – bedingungslosen Aufgabe aller Herrschaftsansprüche für das Zeitalter bereithalten. Daher ist z. B. alle gut gemeinte Ausgrabung früheren Volksgutes, alle biedere Pflege des Brauchtums, alles Besingen von Landschaft und Boden, alle Verherrlichung des »Blutes« nur Vordergrund und Vorwand und zwar notwendig, um das, was eigentlich und allein ist, die unbedingte Herrschaft der Mach-schaft der Zerstörung als in sich gesetzlicher Vorgang, für die eigene vollständige Vollendung seines Wesens frei zu halten und d. h. den Vielen zu verhüllen. Diese vordergründliche Verhüllung ist nun aber nicht etwa eine bloße Täuschung und gar ein Schwindel und eine Schauspielerei von Seiten | jener, die Vollstrecker und Gesetzgeber der Machenschaft bleiben, vielmehr ist dieser Vor-wand als eine vom eigentlichen Geschehen der Zerstörung völlig schon losgelöste Vor-wand durch den Vorgang der Vollendung der Machenschaft von ihren Vollstreckern selbst gefordert – diese stehen in einem Müssen, das ihnen jene Sicherheit gibt, die jedesmal das Zeichen der »Größe« wird. Dieses Müssen der Vollstreckerschaft hat in sich das Wissen dessen, was in diesem Vorgang jeweils in eigentümlichen Formen der Sprünge unumgänglich geworden (Aufhalten der Zerstörung sowohl, wie weitvorgreifendes Vorbereiten einer solchen durch die unscheinbarste Zersetzung) – die Größe dieses Wissens – als einer einzigartigen Gewißheit, in der sich das ego cogito – sum Descartes’ innerhalb des Seienden im Ganzen und für dieses vollendet – hat darin seine innere, gestaltgebende Grenze, daß es nicht vermag, das Wesen der eigenen Geschichtlichkeit zu wissen. r “Vor-wand“ wird hier auch im ursprünglichen Sinn der „Vorwand“ < lat. prætexta (toga), „vorn angewobener“ (Talar) gebraucht ; vgl. „Leinwand“, „Gewand“.
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Dieses Unvermögen ist von der Herrschaft der Machenschaft aus gesehen kein Mangel, sondern die eigentliche Stärke des Handelnkönnens und der Unbedenklichkeit. Aus einem wesentlich anders gegründeten und gearteten Wissen jedoch, dem denkerischen, | ist zu erkennen, daß hier, in diesem Vorgang der Vollendung der Neuzeit, die Seiendheit des Seienden als Machenschaft nur das in die Einheit des unbedingten Wesens und Unwesens bringt, was in der abendländischen – durch die »Metaphysik« getragenen Seinsgeschichte vorgezeichnet liegt. Die unbedingte Herrschaft der Seiendheit über das Seiende in der Gestalt, daß überall dieses Seiende als das Wirkende und Wirksame den Vorrang über das »Sein« »hat« und dieses als letzten Dunst des bloßen Denkens ausgibt. Diese Herrschaft treibt ohne ihr Wissen zu einer Entscheidung über das Seyn – welche Entscheidung sie selbst nicht mehr stellen kann. {Sie vermag nicht mehr ihrerseits einen Entwurfsraum für ein anderes Fragen zu schaffen und keine »Zeit« für die Fragwürdigkeit des Seyns selbst als des Fragwürdigstens}. Zugleich aber wird den Wissenden (in der Art der Vollstrecker und anders denen in der Art des Seynsdenkens) klar, daß alle biedere und gefühlsverzwungene, sentimentale Betreibung von Volkstum und Volkskunde – abgelöster und nur mittelhafter Vordergrund ist, ein »abstraktes« Erleben, das gar nie erlebt und – auch nie erleben soll, was eigentlich ge-|schieht und ist. Die Meinungen, die in solchem Betreiben von Blut und Boden und dem darin vermeintlich Erreichten und Erlebten die eigentliche Wirklichkeit sehen möchten, verkennen nicht nur das, was ist und allein ist, sie sind, wenn sie anmaßend auftreten, eine Herabsetzung und Verharmlosung des einzigen Seins des Zeitalters, die Verkleinerung des Seienden, die allerdings wiederum von diesem selbst betrieben und für wünschbar gehalten wird. Zur Zeit ist vielleicht überhaupt kein größerer Gegensatz ausdenkbar als derjenige, der sich z. B. zwischen der Welt in Wagners »Meistersinger« und dem eigentlichen Sein des Zeitalters ausspannt, der aber nur von ganz Wenigen ausgehalten und getragen und nur von Einzelnen, Seltenen in seiner seynsgeschichtlichen Wahrheit begriffen wird. Daß man aber dieses Wissen bei Gelegenheit vielleicht als eine »vornehme Abstraktheit« auf die Seite schieben kann zugunsten der »Lebensnähe« des historisch wieder hervorgeholten Volks- und Brauchtums –, das gehört gleichfalls in die Wirkungskreise der unumgänglichen Blendung und Verblendung aller, die mehr und weniger abgestuft und mittelbar der Vollstreckerschaft des machenschaftlichen Seins der Neuzeit dienen | müssen. Daß bei dieser unumgänglichen Dienerschaft die »Wissenschaften« alles an Harmlosigkeit und Ahnungslosigkeit des Wissens übertreffen, darf nicht verwundern. Sie sind die echtbürtigen Nachkommen des beginnenden neuzeitlichen Geistes und werden auch schonungslos in der von ihnen selbst beförderten, aber nie wißbaren Wesensgleichheit von Historie und Technik zerrieben, d. h. zum Verschwinden im bloßen Instrumentalen gebracht werden. Daß sich in all dem noch etwas Ansehen zu verschaffen sucht, was den Namen »Philosophie« sich zugelegt hat, ist das Zeugnis für den vollendeten Triumph der Ahnungslosigkeit. Heute wird, wie vormals im Mittelalter, der Name »Philosophie« in Anspruch genommen als Aushängeschild für die meist unwissentlich betriebene Anbahnung des völligen Verzichtes auf das Denken und die Denkfähigkeit im Sinne des denkerischen Denkens. Wogegen das s unvollständiger Satz, in dem ein zweites Verb fehlt.
3. Überlegungen VII – XI – Schwarze Hefte 1938/39
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rechnende Denken – der logos – eine Höhe und Sicherheit und Macht erreicht hat, die alles Bisherige wesentlich übertreffen. Verglichen mit diesem rechnenden Denken ist die »Scheinphilosophie«, die im Kulturbetrieb gern zugelassen wird, nur ein schwacher Lärm mit erborgten Worten und Begriffen, denen niemand mehr | ernstlich nachfragt, weil hier am ehesten noch gespürt wird, wie völlig dies nur eine nachgetragene Kulisse bleibt, allein schon im Verhältnis zur Volkskunde und Historie und Biologie, die ihrerseits ja, nur ungewußt, lediglich als Vor-wände ihre Rolle spielen. Doch gibt es ein Wissen vom Sein aus dem Erfragen der Seynsgeschichte und der Geschichte des Wesens der Wahrheit, welches Wissen zugleich das Wesen des Zeitalters weiß und eine Vorbereitung seiner Zukunft schon ist, ohne daß ein Bild dieser und ein Planbares nach dem Sinn des noch herrschenden Rechnens bereitgestellt werden könnte. Die Geschichte des Abendlandes vollzieht unter der Decke der völkischen und nationalen Sammlungen jene hintergründliche und wesentliche Sammlung auf die letzte Ausfaltung des machenschaftlichen Wesens der Seiendheit – die als das vorgestellte Sichherstellen in der ausnahmslosen, eingerichteten, berechenbaren Verfügbarkeit über Jegliches im Ganzen und über dieses selbst ihr Wesen findet und im unbedingten – blinden sich zur Verfügungstellen und Aufgehen in der Machenschaft die letzte Forderung stellt, die in ihr selbst schon die erste und endgültige Erfüllung darbietet. Die Seiendheit übermächtigt sich hier, um sich zur höchsten Macht zu erheben | und diesen Vorgang der sich je und je übermächtigenden Machtbeständigkeit als ihr Wesen im Seienden auszubreiten dergestalt, daß eine Frage nach der Wahrheit dieses Wesens und ihrer Begründung grund- und anstoßlos geworden. Der Mensch dieses Zeitalters kommt in einen Wahrheitslosen Bereich zu stehen, indem schon die Übermächtigung des einen Zustandes durch den nächsten so genug der Rechtfertigung enthält, daß sogar der Sinn auf diese über der Machtentfaltung vergessen und ausgerottet wird. Kein Widerspruch liegt darin, daß die höchste Herrschaft des Seins als Machenschaft die völlige Seinsvergessenheit um sich breitet. Und gesetzt – es wäre ein »Widerspruch« – was liegt schon in diesem Herrschaftsbezirk an einem Widerspruch? Er kann nur noch als ein jeweils zu spät gekommener »Gedanke« gelten, der noch versucht, auf dem Wege des nachträglichen oder begleitenden Vorstellens aus dem Vorgang der sich übermächtigenden Machtbeständigkeit herauszuhalten – ein Versuch, der nur scheinbar gelingt. Ein Zeitalter jedoch, dem die Wahrheit auf Grund des Vorrangs des Wirklichen und Wirksamen kein Bedürfnis mehr sein kann, dem sonach die Wahrheitlosigkeit keine Einbuße, sondern höchstens ein Gewinn sein muß, macht zugleich jedes Sichanklammern | an zuvor geglaubte »Wahrheiten« zu einem eitlen Beginnen, das vielleicht den Einzelnen, Flüchtigen noch einen Ausweg der Beruhigung verschafft, in der Herrschaft des Seins als Machenschaft freilich nicht mehr mitspricht und noch weniger die Eignung zeigt, den Übergang vorzubereiten. Das Zeitalter der Wahrheit-losigkeit muß aber zugleich den vollendeten Schein des unbedingten Wahrheitsbesitzes um sich legen, der es jederzeit als überflüssig und zudringlich erscheinen läßt, das Zeitalter selbst auf sein Wesen und seine Bestimmtheit innerhalb der Seynsgeschichte zu befragen. Weit umher macht sich in diesem Zeitalter noch ein Gezappel Jener geltend, die nicht sehen können, was ist und die ihrerseits auf einen Anschein sich retten, daß, was sie nur noch vertreten, deshalb schon eine Geschichtskraft besitze. Das Zeitalter der vollendeten, um sich selbst unbekümmerten Seinsvergessenheit und Wahrheitslosigkeit ist so einzig in seinem geschicht-
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
lichen Wesen, weil hier die schrankenlose Weite des Machtanspruchs der Seiendheit sich in eins setzt mit einer Schrumpfung des Seins auf das nur nichtige – wahrheitslose Nichts. Zur Selbstkennzeichnung des Zeitalters bleibt ihm nur noch der historische Vergleich als Herausrechnen seiner Unvergleichlichkeit und die technische Planung als Verhinderung jedes | Stillstandes – der sogleich beim wesentlichen Vorrang der Übermächtigung und ihrer Selbstgewißheit als eine Unsicherheit sich vordrängen könnte. Die tiefste Zerstörungskraft eines Zeitalters (seine im Anschein der Stärke verhüllte »Schwäche«) besteht darin, daß es sich nicht zur Wahrhaftigkeit gegenüber seiner verborgensten Wesensnot entschließen kann. Wie aber, wenn diese Entschlußunfähigkeit als Bejahung des Fraglosen das Wesen eines Zeitalters – das Neuzeitliche seiner Vollendung ausmachte? Dann darf hier nicht von einem »Versagen« und einem »Mangel« gesprochen werden; wissend müssen wir hier die eigene Größe – die Riesenhaftigkeit einer geschichtlichen Bestimmung anerkennen und jedes Ansinnen kurzrechnender Verurteilung aus Verdrießlichkeit und Unverstand zurückweisen – denn entscheidender als das Behagen der längst Gesättigten, weil niemals echt Hungrigen, wesentlicher als die Erhaltung der längst Überflüssigen ist der Aufstand des Wissens von dem, was ist; denn hier verbirgt sich das Versprechen eines Wissens der anderen Wahrheit, in die der künftige Mensch sich aufmachen muß. Ernst des Denkens ist nicht Betrübnis und Klage über vermeintlich schlechte Zeiten und drohende Barbarei, sondern die Entschiedenheit des fragenden | Ausharrens im Unerrechenbaren und eigentlich Wesenden und in sich schon Zukünftigen. Wenn einer darauf verzichtet, die vielen und oft zurückgelegten Wege eines Suchens des Selben als Funde öffentlich vorzugeben und auszubreiten, dann sammelt sich all seine Wegschaft in einen einfachen Standort, dessen einziger Zeit-Raum entbreitet wird durch die Pflicht des Ausharrens in der Fragwürdigkeit des noch Fraglosen: des Seyns und der Gründung seiner Wahrheit. Überlegungen XI § 40 [52 – 53], S. 393: Nun, da glücklich selbst die »Einsamkeit« zur öffentlichen Einrichtung werden soll, dürfte erwiesen sein, daß die Zersetzung aller bisherigen wesentlichen Haltungen und Stimmungen des Menschen und ihre Auflösung in den unterschiedslosen Erlebnisbetrieb vollständig geworden ist. Zwar meint man auf solche Weise (durch die Einrichtung der Einsamkeit zu einer | veranstaltbaren, öffentlich zuteilbaren und berechneten Zuständlichkeit) dem allzu großen Betrieb der bloßen Gemeinschaftsarbeit zu entfliehen und »das Andere« zu sichern; in Wahrheit aber werden so nur die letzten Inseln von den Fluten der unaufhaltsamen Vermengung und Vergemeinerung überschwemmt; denn Einsamkeit kann man nicht »machen« und auch nicht »wollen« – Einsamkeit ist das Seltenste und eine Notwendigkeit des Seins – sofern es sich in seinen Abgründen in das Da-sein des Menschen verschenkt. Was »man« also »machen« kann, ist höchstens eine Vorbereitung des Wissens, daß nur eine Verwandlung des Seins als solchen, d. h. eine Überwindung des Zeitalters der vollendeten Seinsverlassenheit, die Möglichkeit von einsamen Menschen als Gründern und als die wesentlich Tragenden eröffnet. Dagegen vollzieht sich in der Veröffentlichung der Einsamkeit zu einer Einrichtung die Beseitigung der letzten Dämme gegen das Anwogen der Machenschaft des Seins. Jener Vorgang – unschein-
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bar vielleicht und wie das Aufzucken verspäteter Romantiker – ist nur das Zeichen eines seynsgeschichtlichen Vorgangs, gegen den alle zeitgeschichtliche »Weltgeschichte« ein Kinderspiel bleibt. Und fernste Götter lächeln über diesen Taumel. Überlegungen XI § 42 [55 – 60], S. 394 – 397: Das, was künftig mit dem Namen brutalitas (nicht zufällig römisch) benannt werden muß, die Unbedingtheit der Machenschaft des Seins, hat nichts zu tun mit einer abschätzigen und bürgerlich »moralischen« Bewertung irgendwelcher vordergründlicher Begebenheiten, an deren »Verurteilung« die zurückbleibenden Bisherigen und die christlichen Gemüter sich berauschen, um dabei ihren Eigenwert sich zurückzuzahlen, an den sie doch nicht mehr ganz glauben. Brutalitas des Seins ist der Widerschein des Wesens des Menschen, der animalitas des animal rationale – also auch und gerade der rationalitas. Nicht als sei jene brutalitas die Folge und die Übertragung einer menschlichen Selbstauffassung in den Bezirk der nichtmenschlichen Dinge – sondern: daß der Mensch als animal rationale bestimmt werden mußte und daß die brutalitas des Seienden eines Tages in ihre Vollendung sich vortreibt; das hat denselben und einen einzigen Grund in | der Metaphysik des Seins. Von diesem Wesen des jetzt für das Zeitalter der vollendeten Neuzeit gültigen Seienden und Ganzen wissen heute nur und in jeweils grundverschiedener Weise: einmal Jene wesentlichen (d. h. jenem Wesen unbedingt und unverstört zubestimmten und zugehörigen) Menschen, die handelnd-planend das Zeitalter gestalten; und dann jene gleich Wenigen, die bereits aus einem ursprünglichen Wissen in die Fragwürdigkeit des Seins selbst vorgesprungen sind. Was sich außerhalb dieser Wissenden »tut«, ist unentbehrlich und wird in seiner Massenhaftigkeit immer unentbehrlicher – ohne doch jemals das Sein mitzubestimmen. All diese Niemals-zu-Vielen brauchen die Romantik vom »Reich«, vom Volkstum, vom »Boden« und von der »Kameradschaft«, von der Beförderung der »Kultur« und dem »Blühen« der »Künste«, und wenn das nur die Artisten und Tanzweiber des Berliner Wintergartens sind. All diese Nie-zu-Vielen brauchen die unausgesetzte Gelegenheit zum »Er-leben« – denn was sollten sie sonst mit ihrem »Leben« anstellen – wenn sie es nicht erlebten. Dabei gibt es dann noch »Christen«, die, | weil sie nichts ahnen, von dem, was wirklich ist, meinen, sie lebten in den »Katakomben«, während sie doch noch vor kurzem, als überall Gelegenheit war zur politischen Machtbeteiligung, sich im »Himmel« wußten. Das Pharisäertum von Karl Barth und Genossen übertrifft noch das Altjüdische um jene Ausmaße, die mit der neuzeitlichen Geschichte des Seins notwendig gesetzt sind. Dieser Anhang meint, das möglichst laute Schreien von dem längst toten Gott führe jemals in einen Bereich der Entscheidung über die Gottschaft der Götter. Sie meinen, weil sie sich in ein Vergangenes »dialektisch«-redend flüchten, aus der Zeit in die »Ewigkeit« gehoben zu sein – während sie nur als die eigentlichen Zerstörer »die Zukunft« (nicht den Fortschritt) des Menschen untergraben. In Wahrheit sind sie dennoch die ganz abseitigen und unwissenden Beförderer der brutalitas – sie gehören in ihrer Weise zu den Unentbehrlichen, sofern sie das wesentliche Wissen mitverhindern und der brutalitas des Seins mit die Bahn freihalten.
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Überlegungen XI § 42 [55 ], S. 394 – 395
3. Überlegungen VII – XI – Schwarze Hefte 1938/39
Überlegungen XI § 42 [56], S. 395
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Überlegungen XI § 42 [57], S. 395 – 396
3. Überlegungen VII – XI – Schwarze Hefte 1938/39
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Die brutalitas des Seins hat zur Folge – nicht etwa zum Grund – daß der Mensch selbst sich als seienden eigens | und durchaus zum factum brutum macht und seine Tierheit durch die Lehre von der Rasse »begründet«. Daher ist diese Lehre vom »Leben« die pöbelhafteste Form, in der die Fragwürdigkeit des Seyns – ohne diese im geringsten zu ahnen – als Selbstverständlichkeit ausgegeben wird. Die Erhöhung des Menschen durch die Flucht in die Technik – das Erklären aus der Rasse – die »Nivellierung« von allen »Erscheinungen« auf die Grundform des »Ausdruckes« von … – das alles ist immer »richtig« und für jeden »einleuchtend« – weil es hier nichts zu fragen gibt, da im Voraus die Frage nach dem Wesen der Wahrheit unzugänglich bleibt. Diese »Lehre« unterscheidet sich von den sonstigen »naturwissenschaftlichen Weltanschauungen« nur dadurch, daß sie alles »Geistige« scheinbar bejaht, ja erst zur »Wirkung« bringt und doch zugleich und im Tiefsten verneint in einer Verneinung, die dem radikalsten Nihilismus zutreibt – denn alles ist »letzten Endes«, d. h. schon an seinem Beginn, »Ausdruck« der Rasse. Im Rahmen dieser Lehre ist alles und jedes, je nach Bedarf, lehrbar und dieses wiederum muß als Folge der brutalitas erkannt werden. »Totale Mobilmachung« – aber nie als frei ergriffene und wissend bewältigte Folge der Machenschaft des Seienden – sondern nur als unumgängliche Zeiterscheinung neben Wagnerischer | Kulturpolitik und wissenschaftlicher Weltanschauung des 19. Jahrhunderts. Aber dieser »Synkretismus« ist doch nur der Vordergrund der eigenen Größe dieses Zeitalters, das sein unausgesprochenes Prinzip hat in der völligen Besinnungs-losigkeit; dem entspricht in der Lehre vom Menschen: das Prinzip der Rasse als Grundwahrheit. Dieses Prinzip wird jetzt vom Menschen erst gewonnen und für sein Menschentum als Zeit und Grund angesetzt – ein Prinzip – aus dem die Tierheit der Tiere »von selbst« lebt. »Menschheit« und »Persönlichkeit« sind selbst nur Ausdruck und Eigenschaften der Tierheit – das Raubtier ist die Urform des »Helden« – denn in ihm sind alle Instinkte unverfälscht durch »Wissen« – und zugleich gebändigt durch seinen jeweils rassisch gebundenen Drang. Das Raubtier aber mit den Mitteln der höchsten Technik ausgestattet – vollendet die Verwirklichung der brutalitas des Seins, so zwar, daß in ihrem Dunst auch alle »Kultur« und die historisch aufrechenbare Geschichte – das Geschichtsbild – gestellt wird – dann gibt es noch einmal für die »Wissenschaften« eine »fröhliche« Zeit sich jagender Entdeckungen und dann? Welche Erschütterung ist wesentlich genug, um eine Besinnung entspringen zu lassen? Oder behält die brutalitas das letzte Wort? Hat sie | es vielleicht schon gesprochen, so daß alles nur noch der leere Taumel in das lange Ende ist – in die Untergangslosigkeit als die Mißgestalt der »Ewigkeit«? Überlegungen XI § 88 [119 – 123], S. 438 – 440: Rainer Maria Rilke. – Man fordert von mir immer wieder eine Auslegung der »Duineser Elegien«t und die »Stellungnahme« dazu. Man vermutet Verwandtschaft und sogar Gleichheit der Stellung – all dies bleibt im Äußerlichen – die »Elegien« sind mir unzugänglich – wenn ich auch ihre dichterische Kraft und Einzigkeit inmitten dieser dichtungslosen Jahrzehnte ahne und verehre. Ein dreifach Wesentliches trennt mein t Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien. Insel-Verlag: Leipzig 1923 [GA, Hrsg.].
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Denken vom Dichter – d. h. macht ein Gespräch sehr weitläufig und läßt es heute noch als verfrüht erscheinen: Das Erste ist die Geschichtslosigkeit seiner Dichtung – will sagen: die Leib- und Tierversunkenheit des Menschen, der unrein aus diesem Bezirk Ausgewichener bleibt. Das andere ist die Vermenschung des Tieres – was dem ersten nicht widerspricht –. Das Dritte ist das Fehlen wesentlicher Entscheidungen, wenngleich der christliche Gott überwunden ist. Rilke steht, obwohl wesentlicher und dichterischer in seinem Eigentlichen, so wenig wie Stefan George in der Bahn der von Hölderlin gegründeten, aber noch nirgends übernommenen Berufung »der Dichter«. Rilke hat nicht – und noch weniger George – dichterisch-denkend den abendländischen Menschen und dessen »Welt« bewältigt – er trägt für sich – »heroischer« als viele der heute lauten »Helden«, die Heroismus mit der bloßen Brutalität eines Straßenkampfes verwechseln – ein ungeklärtes – in das Vorgeschichtliche – Kindhafte Zurückwollendes »Schicksal«. Trotzdem wird sein »Werk« bleiben, wenn auch Manches Artistische, das bei George noch ganz anders wuchert, abfallen muß. Wenn nur die zudringlichen »Interpretationen« der Heutigen anderen Beschäftigungen sich zuwenden wollten. […] Doch vorläufig wird noch jedes Schweigen auch nur historisch genommen als bloße Zurückhaltung und als Ausweichen, als Nichtdazugehören – man mißt es weiterhin am öffentlichen Betrieb der Öffentlichkeit und vermag noch nicht zu wissen, daß Schweigen schon zur Rettung und Zuweisung des gesuchten, Einfaches nennenden, Wortes in die Gründung des Seyns geworden. Wie Vieles aber muß und wie völlig erst der Zerstörung anheimfallen, bevor an die Stelle der Lebensnot und der Wünschbarkeiten die Not des Seyns rückt, um so die frühere Stelle, die »Welt« des Menschen, zu verwandeln in die Stätte eines Kampfes, der vielleicht Kriege und Friedenszeiten nicht ausschließt, aber niemals aus dem nur »Kriegerischen« sich bestimmt, das ja jetzt erst sich in seiner neuzeitlichen Gestalt als Folge, nicht als Beherrschung der Machenschaft des Seienden, herausstellt. Durch den ausschließlichen Vorrang des machenschaftlichen – kriegerisch-technisch-|-historischen »Kampfes« entfernt sich das Zeitalter notwendig in einer Wesensweite am weitesten vom Wesen des Kampfes als der vieltorigen Pforte des Seyns zur Erstreitung der Lichtung, in der sich das Fremdeste sein Wesen entgegnet – versagend verschenkt und aus der höchsten Milde bindet. Deshalb aber ist auch das fernste Wort des Dichters ein Wink in das Ungegründete – Erst-zu-Nennende – deshalb ist er Geschichte, will sagen, Zu-kunft und Ankunft einer Not, die das Seyn selbst in das unseiend gewordene »Seiende« reißt. Deshalb bedürfen wir der befremdlichen Vorboten und sollten sie nicht in die Plattheit des Zeitgemäßen hinüberrechnen und dann in Brauchbares und Unbrauchbares zerteilen und so der unausweichlichen Verwüstung anheimgeben.
Trotz ihrer zusammengesetzten inneren Struktur aufgrund des Ineinandergreifens einiger Begriffe, deren Tragweite näher zu betrachten ist, steht die vorliegende Abteilung in Zusammenhang mit der Schnittstelle zwischen der Herrschaft des »neuzeitlichen Menschen« und der Einsamkeit des »zukünftigen Menschen«, deren Unvereinbarkeit Heidegger zur Kenntnis nimmt. Dem Leser bleibt es vorbehalten, davon Notiz zu nehmen, wie Heidegger diese ausgesprochene Gegensätzlichkeit erkennt und seiner zu Ende gehenden Zeit zum Trotz nach vorne blickt.
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Das letzte Wort dürfte nicht die Brutalität der Machenschaft haben, sondern ein neuer Anfang, den der »zukünftige Mensch« vorbereiten soll. In der Gegenüberstellung beider Gestalten steht und fällt der Verfall des Abendlandes und Heideggers Entwurf eines »neuen Anfangs«. Um etwaigen Mißvertändnissen vorzubeugen, gilt es aber zunächst, die Gestalt des »neuzeitlichen Menschen« abzugrenzen. Im Hintergrund bleibt immer das ersehnte wesentliche Wissen und zwar so, daß alle dazugehörigen Kategorien von diesem Kontext untrennbar sind. Irreführend wäre jede weitere Mutmaßung, und deswegen ist ein schrittweises Lesen der Texte erforderlich, um klar zu sehen – ohne jeglichen Kommentar, da nur gefordert wird, dem Gedankengang Heideggers in seinen Überlegungen zu folgen – wie die Kritik, die er an seiner von der Technik beherrschten Zeit übt und demzufolge an den instrumentalen Denkarten, mit seiner kompromißlosen Stellungnahme gegen die »Lehre von der Rasse« und den »machenschaftlichen-kriegerisch-technisch-historischen „Kampf“« einhergeht. Der von Heidegger in Anspruch genommene Begriff »Kampf« ist dennoch weit entfernt vom kleinsten Zugeständnis gegenüber der Herrschaft der Kriegsmaschinerie seiner Zeit. Immer dringender wird die Not eines wesentlichen Fragens in der »Einsamkeit« der »Notwendigkeit des Seins«. In diesen Überlegungen ist der Verfall seiner Zeit deutlich spürbar, und nicht zuletzt eine gewisse Stimmung, die in einer schweigend-zuhörenden Einsamkeit schwingt. Gehen wir zunächst auf die Abwandlungen des Begriffes »neuzeitlicher Mensch« ein, damit wir uns einem Verständnis seines Wesens annähern: »den Menschen als Subjektum« (Überlegungen VII, § 56); »das herrschende Menschenwesen« (§ 71); »Herrschaft des Subjectum (des Menschen als des historischen Tieres)« (Überlegungen X, § 46); »der neuzeitliche Mensch«, wovon drei Vorkommen im langen ersten Abschnitt der Überlegungen X zu zählen sind; »der Mensch dieses Zeitalters« (§ 29). Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Kontext der vorliegenden Abteilung durch den Übergang des neuzeitlichen Menschen gekennzeichnet ist, können wir schon die Kritik ahnen, die Heidegger an dieser Subjektivität übt, die dem Menschen einen absoluten Vorrang zuweisen will, weil sie jede Notwendigkeit aus den Augen verlor, auf das Sein zurückzukommen. Die Vereinzelung des neuzeitlichen Menschen ist die natürliche Folge der Vermenschung des Menschen, wie einigen hier von Heidegger benutzten Schlüsselworten zu entnehmen ist: das immer wiederkehrende Thema des »Erlebens« (Überlegungen VII, § 56); »die herrschende »„Erlebnis“-sucht« und vor allem, »was man „das Leben“ nennt« (§ 71); das starke Verlangen nach dem »Wirklichen« und der »Wirklichkeit des „Wirklichen“«, die Einbildung, »zu den Bodenständigen zu gehören und an der Erzeugung der Bodenständigkeit mitzuwirken« (§ 75); die Rede vom »Leben« und »Erleben« (Überlegungen XI, § 1); die Vorliebe für die »Lebensnähe« (§ 29); die Ablösung »aller bisherigen wesentlichen Haltungen und Stimmungen des Menschen« »in den unterschiedslosen Erlebnisbetrieb« und die »unaufhaltsame […] Vergemeinerung« (§ 40); »die unausgesetzte Gelegenheit zum „Er-leben“« (§ 42). Der Gebrauch eines derartigen Wortschatzes erläutert das Wesen des neuzeitlichen Menschen und nicht zuletzt dessen Stellung in einer Welt, in der sein Wesen hier und jetzt auf seine grundsätzliche Unfähigkeit hinweist, die Geschehnisse außer-
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halb eines bloßen historischen Vorgangs aufzunehmen, in dem sein eigenes Leben »gelebt« und »erlebt« wird. Bei alledem wird uns indessen noch nicht zu verstehen gegeben – wenn das überhaupt möglich ist – auf »wen« Heidegger in seiner Kritik am »neuzeitlichen Menschen« sich eigentlich bezieht. Dafür wird aber der Weg durch den 44. Abschnitt der Überlegungen X gebahnt: »[Solange das Wesen des Menschen durch die Tierheit (animalitas) vorbestimmt bleibt, kann immer nur gefragt werden, was der Mensch sei.] Nie ist die Frage möglich: wer der Mensch sei ?«. Diese Frage erweist sich als unmöglich, solange ihr Ursprung in der Wahrheit des Seins nicht beheimatet ist. Unmöglich ist das Fragen nach dem Menschen als solchem und um des Menschen willen, und infolgedessen ist eine Manipulierung, eine Verbindung mit oder eine mögliche Annäherung einer Volksgemeinschaft in der von Heidegger geübten Kritik am neuzeitlichen Menschen wiederzufinden. Der 44. Abschnitt erweist sich als ausschlaggebend in dieser Richtung: erst die Frage, die die Wahrheit des Seins wagt, »Erst diese Frage überwindet die neuzeitliche anthropologische Bestimmung des Menschen und mit ihr alle voraufgegangene, christlich-hellenistisch-jüdische und sokratisch-platonische Anthropologie«.
Heidegger konzentriert sich ganz auf den neuzeitlichen Menschen und die Folgen dessen Treibens, da dieses Szenario auf den dringenden Auftrag derer hinweist, die es übernehmen sollen, einem wesentlichen Wissen stattzugeben. Eben darin bestehe der Auftrag des »zukünftigen Menschen«. Das ist der einzige Ausgangspunkt, um einen neuen »Anfang« zu begründen. Zudem geht aus manchen Zwischenbemerkungen Heideggers ganz deutlich hervor, wie dessen Kritik am »neuzeitlichen Menschen« nichts gemein hat mit der Volkseinheit. Dafür ist ein deutlicher Beweis im 4. Abschnitt der Überlegungen VIII zu finden. Am zeitgemäßen »Geschichtslosen« sind »Zerstörung« und das »Bodenlose« beteiligt, deren Vermischung »gleichen Unwesens« ist. Der Begriff »Unwesen« kann uns entscheidend dabei mithelfen, Heideggers »Zielscheiben« allmählich besser zu erkennen: »[Daß hier] Seiendheit des Seienden als Machenschaft nur in die Einheit des unbedingten Wesens und Unwesens bringt, was in der abendländischen […] Seinsgeschichte vorgezeichnet liegt« (Überlegungen XI, § 29); »Die Schuld trägt zum Teil die leere Anmaßung der „Intellektuellen“, deren Wesen (oder Unwesen) […]« (§ 53). Über den Band 95 hinaus kehrt dieses Wort auch im Band 97 wieder: »das Geheimnis des Unwesens – das „Erkennen“ und „Wissen“, das uns von den „Wissenschaften“ und der „Lebenspraxis“ angeboten wird […]« (Anmerkungen I [28]); »Die Deutschen aber, die ein böses Geschick in ihr Unwesen verwirrte […]« (ebd., [97]); »das unverantwortliche Unwesen, mit dem Hitler in Europa umhertobte« (Anmerkungen III, [46]). Man braucht nur diesem Gedankengang zu folgen, um zu verstehen, wie Heidegger Hitlers Wesen aus dessen »Unwesen« bestimmt. Hitler gilt als Veranschaulichung des »Unwesens«. Bevor wir das Thema Judentum angehen, wie es im 4. Abschnitt der Überlegungen VIII vorkommt, soll Heideggers Stellung angesichts des »Bodens«, des »Blutes«, der »Rasse« und der »Lehre von der Rasse« klarer dargestellt werden. Im
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59. Abschnitt der Überlegungen X, den wir schon in der Abteilung 3. 1. ausgelegt haben, stießen wir auf eine Stelle, an der Heidegger ganz offensichtlich erklärt, wie die vergebliche Politik seiner Zeit ihm fremd bleibt: »Alles „Blut“ und alle „Rasse“, jedes „Volkstum“ ist vergeblich und ein blinder Ablauf, wenn es nicht schon in einem Wagnis des Seins steht […]«.
Auf diesen Grund ist die Schwierigkeit zurückzuführen, den weiteren Kontext zu rekonstruieren, in den Heideggers Überlegungen gestreut sind; andernfalls läuft man Gefahr, das Wort »Judentum« und die verwandten Wörter aus dem Zusammenhang zu reißen, und so einer Instrumentalisierung freien Lauf zu lassen, die wir später als unberechtigt zurückweisen. Viele Textstellen der entworfenen Überlegungen Heideggers sind schwierig zu vereinbaren mit den Auslegungen derjenigen, die sich zutrauen, eine antisemitische »Kontamination« in den Schwarzen Heften zu entdecken. Kommen wir auf den 1. Abschnitt der Überlegungen XI zurück, dessen Kontext durch den der Rechenhaftigkeit des Seienden überlassenen »neuzeitlichen Menschen« gekennzeichnet ist, der schließlich selbst dieser anheimfällt: »wenn der Mensch selbst sich als Tier (Rasse – Blut) zum Ziel seiner selbst gesetzt […] hat. […]« Man predigt »Blut« und« »Boden«. So wird die Geschichte durch die Überschattung des Seins vom Seienden geplant, in der ständigen Sucht nach einem flüchtigen »Wirklichen«, dem das »Unwirkliche« entgeht. Hier tritt eine weitere Dichotomie auf, die uns dabei helfen kann, die Verbindung zwischen »Boden«, »Blut«, »Rasse« und, andererseits, dem »Wirklichen« als Kategorie zu verstehen – einem »Wirklichen«, das nichts zu tun hat mit dem »Unwirklichen«, auf das Heidegger zurückkommen will. Diese Dichotomie zwischen dem oberflächlichen »Wirklichen« und dem »Unwirklichen«, die auch im 75. Abschnitt der Überlegungen VII vorkommt, ist im Zusammenhang mit dem 262. Abschnitt der Beiträge zu lesen: »[…] ist das Seiende in der Gestalt des Gegenständlichen und Vorhandenen immer mächtiger geworden. Das Seyn ist auf die letzte Blässe des abgezogensten Allgemeinbegriffes beschränkt, und jedes „Allgemeine“ unterliegt dem Verdacht des Kraftlosen und Unwirklichen, des nur „Menschheitlichen“ und deshalb auch „Wesensfremden“ […]. Man ist so weit, ohne das Seyn „auszukommen“«21.
Erst in der Absonderung des in der Starrheit eines Vorhandenen eingeschlossenen »Wirklichen« entstehen »die Meinungen, die in solchem Betreiben von Blut und Boden und dem damit vermeintlich Erreichten und Erlebten die eigentliche Wirklichkeit sehen möchten« (Überlegungen XI, § 29). Die Neuzeit ist dazu bestimmt, nur oberflächlich zu überleben: die von den Wissenschaften geleistete Hilfe, die das begreifbare »Wirkliche« in Beschlag nehmen, erzeugt in der Neuzeit den langsamen Vorgang einer »Entwurzelung« des Seyns, wobei das rechnende Denken die Oberhand gewinnt über das spekulative Denken: »Die Seiendheit übermächtigt sich hier, um sich zur höchsten Macht zu erheben […]. Ein Zeitalter jedoch, dem die Wahrheit auf Grund des Vorrangs des Wirklichen und Wirksa21
M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, § 262, S. 449.
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men kein Bedürfnis mehr sein kann, dem sonach die Wahrheitlosigkeit keine Einbuße, sondern höchstens ein Gewinn sein muß […]« (§ 29).
Obwohl eine derartige Konstellation nicht leicht zu verwalten ist wegen der unaufhaltsamen Machenschaft, die der Mensch einrichtet und der er unterworfen ist, will Heidegger »in der Fragwürdigkeit des noch Fraglosen: des Seyns und der Gründung seiner Wahrheit« durchhalten (§ 29). Wer mit diesem Auftrag und dem Wieder-aufbau betraut werden dürfe, an diese Frage kommen wir bald heran; so dürfen auch Grundzüge der Vorbereitung dieses neuen Anfangs hervorgehoben werden. Im 42. Abschnitt der Überlegungen XI heißt brutalitas »die Unbedingtheit der Machenschaft des Seins«, durch die das Sein geplant wird durch einige auf die überlieferte Metaphysik bezogene Kategorien; diese Kategorien beziehen sich ständig auf eine Vergangenheit, die den Weg zum Seyn nie zurückverfolgen kann. Weder diese Kategorien noch dogmatische Formulierungen sind imstande, uns in diesem Unternehmen zu helfen, weil beide vom »wesentlichen Wissen« weit entfernt sind; deren Ferne zu ihm, und demgemäß deren Wirkungslosigkeit ist darauf zurückzuführen, daß bei ihnen alles schon entschieden, geplant und gegliedert ist, wohingegen das wesentliche Wissen durch ein Fragen sucht, das die üblichen Denkweisen nicht haben vorbilden können. Heideggers Gedankengang beruht nicht auf Postulaten, sondern auf einem Suchen, dem ein unablässiges Fragen innewohnt. Man braucht nur diesen 42. Abschnitt der Überlegungen XI zu überfliegen, um Kategorien zu finden, die weit entfernt sind von diesem Vorsprung »aus einem ursprünglichen Wissen in die Fragwürdigkeit des Seins selbst«: im Vordergrund stehen die »Niemals-zu-Vielen«, d. h. die Romantiker »vom „Reich“ , vom Volkstum, vom „Boden“ und von der „Kameradschaft“«. Das Kollektivneutrum »Volkstum« verstehen wir hier in diesem Zusammenhang als »Volkscharakter« – und dabei ist zu beachten, daß die Übersetzung von »Judentum« in Fremdsprachen nicht so einfach ist. Unter den »Niemals-zu-Vielen« zählt Heidegger die »Chri sten« – wohl diese Christen bzw. Trittbrettfahrer, die die erstmögliche Gelegenheit zur politischen Machtbeteiligung nicht verpaßt haben – und »das Altjüdische«. Worauf beziehen sich aber Heideggers Erwähnungen der »Christen« und des »Altjüdischen« als »unwissende Beförderer der brutalitas«, die »das wesentliche Wissen mitverhindern« ? Die hier gestellte Frage ist im Lichte des 84. Abschnitts der Überlegungen IX zu lesen: »Die Vieldeutigkeit und willkürliche Bedeutung solcher Namen (Glauben, Wissen, Wissenschaft, Kultur und so fort) ist schon kein bloßes Schwanken mehr innerhalb eines in sich gegründeten Bedeutungsspielraumes […], sondern das Anzeichen einer Entwurzelung der Wahrheit des Seyns – falls je schon eine Verwurzelung im Seyn selbst bestand«.
Ganz eindeutig ist diese Stellungnahme, die wohl einerseits das, was sich aus einem religiösen Glauben ergibt, gegen ein wesentliches Wissen abgrenzt, da jeder Glaube und jede davon ausgehende Dogmatik eine bestimmte Einstellung voraussetzen, aber andererseits darf nicht totgeschwiegen werden, daß Heidegger die »Lehre von der Rasse« ganz fremd bleibt und daß deren Befürwortern ein wesent-
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liches Wissen ebenso fremd bleibt. Infolgedessen schreibt Heidegger im 42. Abschnitt der Überlegungen XI, nach ausdrücklicher Bezugnahme auf die »Christen« und das »Altjüdische«: »Die brutalitas des Seins hat zur Folge – nicht etwa zum Grund – daß der Mensch selbst sich als seienden eigens und durchaus zum factum brutum macht und seine Tierheit durch die Lehre von der Rasse „begründet“. Daher ist diese Lehre vom „Leben“ die pöbelhafteste Form, in der die Fragwürdigkeit des Seyns […] als Selbstverständlichkeit ausgegeben wird. Die Erhöhung des Menschen durch die Flucht in die Technik – das Erklären aus der Rasse – […] hier [gibt es] nichts zu fragen, da im voraus die Frage nach dem Wesen der Wahrheit unzugänglich bleibt«.
Es braucht nicht viel, um Heideggers Ferne zur damaligen, vom Rassenprinzip abhängigen, beherrschenden Kultur klarzustellen, wie zu einer dazugehörigen Politik, die aus der Bodenständigkeit die einzige und alleinige Voraussetzung für das Überleben macht. Zudem fügt er anschließend im selben 42. Abschnitt hinzu: »der Vordergrund der eigenen Größe dieses Zeitalters, das sein unausgesprochenes Prinzip hat in der völligen Besinnungs-losigkeit; dem entspricht in der Lehre vom Menschen: das Prinzip der Rasse als Grundwahrheit«.
Die Lehre von der Rasse kann Heidegger nicht gleichgültig lassen, nicht zuletzt, weil der Verfall einer brutalen Politik, die mit den Mitteln der Technik ihren Höhepunkt erreicht, nur durch den aus der »Besinnung« entspringenden Kampf hintanzuhalten ist. Daher und nur daher diese Frage: »Welche Erschütterung ist wesentlich genug, um eine Besinnung entspringen zu lassen ?«
Es ist an der Zeit, das Wort »Judentum« und dessen Auswirkungen zu deuten, um dann diese Abteilung abzuschließen mit dem Versuch, einem Verständnis dessen – soweit als möglich – näherzukommen, wie Heidegger mit der »Einsamkeit« des »zukünftigen Menschen« auf den Verfall seiner Zeit zu reagieren gedachte. Wie dem auch sei, soll zunächst ein Element erläutert werden, das vor allem nicht vernachlässigt werden darf. Im 4. Abschnitt der Überlegungen VIII kommt »Judentum« vor, also grammatikalisch ein Kollektivneutrum mit der Endung -tum – analog zu »Russentum«, »Christentum«, »Slawentum« und »Amerikanertum« – die im Band 95 auch vorkommen. Wie schon in den vorangehenden Auslegungen des Bandes 95 mehrmals hervorgehoben, gebraucht Heidegger keine ontischen Kategorien im üblichen Sinne; im gegebenen Fall weist das Kollektivneutrum auf einen »Charakter«, auf eine »Einstellung«, »Gesinnung« oder innere »Haltung« hin, als Unterlage, auf die individuelle Bestimmungen zurückzuführen sind, die nicht zu verwechseln sind mit ideologischen oder konfessionellen Zügen, geschweige denn mit der bloßen Volkszugehörigkeit. Bei Heidegger weist das Kollektivneutrum auf etwas hin, das über alle Schichtungen hinausgeht, die diese Bezeichnungen aufgrund einer bloß historischen Lektüre angenommen haben mögen. Es bei einer »oberflächlichen« Deutung bewenden zu lassen, führt zu unvermeidlichen Mißverständnissen, von denen selbst die italienische Übersetzerin des Bandes 95 nicht frei ist, wenn sie schreibt:
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
»Das Kollektivneutrum, mit dem Heidegger sich auf die Gestalten bezieht, die in den grauenhaften Jahren vor dem Weltkrieg und während des Weltkrieges auf der Weltbühne geschäftig hin und her eilen, weist auf eine bestimmte ethnische oder nationale Volksgemeinschaft – Russentum, Slawentum, Chinesentum, Amerikanertum und so fort – wurde hier mit »russischer«, »slawischer«, »chinesischer«, »amerikanischer« Charakter wiedergegeben. Bezüglich »Judentum« wurde allerdings eine einzige Ausnahme gemacht: dieses Wort, das wohl nicht von Heidegger geprägt wurde, dessen heikle Erscheinung (scabrosa comparsa) dem zweiten Band der [Schwarzen] Hefte zu entnehmen ist, wird immer mit ebraismo wiedergegeben«22.
Aus der bezüglich »Judentum« gemachten Ausnahme, aufgrund der Tatsache, daß dieses Wort »wohl nicht von Heidgger geprägt wurde«, geht hervor, daß der Übersetzerin die Leitlinie der Überlegungen Heideggers entging, die nicht bloß der Volksgemeinschaft gelten mag. Eine derartige Voraussetzung steht im Widerspruch zu den Heideggerschen Kategorien, die das Ontische immer verklären und es aus einer Weltanschauung herausreißen, die ein Seiendes geradezu auf ein dastehendes Vorhandenes, auf eine ethnische oder nationale Volksgemeinschaft zurückführen. Dieser Vorgriff im Auslegungsansatz wird auch dadurch bestätigt, daß die bezüglich des Wortes »Judentum« gemachte Ausnahme, wie es damit aus einem viel weiteren und gegliederten Kontext herausgerissen wird – koste es, was es wolle – eines vorherigen Unterbaus bedürftig ist, den die betreffende Übersetzerin zu allem Überfluß so ausdrückt: »Bezüglich „Judentum“ wurde allerdings eine einzige Ausnahme gemacht, […] dessen heikle Erscheinung (scabrosa comparsa) dem zweiten Band der [Schwarzen] Hefte zu entnehmen ist«23. Wird zu »Judentum« dessen »heikle Erscheinung« [in den Notizbüchern]« hinzugefügt, und wird dieses Wort von den weiteren begleitenden Kategorien abgesondert, und dies zwar in der Absicht und Bedeutung, den »jüdischen Charakter« abzulehnen, dieses Wort gerade durch ebraismo zu übersetzen, dann ist nicht zu übersehen, daß die ita lienische Übersetzung nicht ohne Vor-verständnisse ist, die auf die instrumentalisierende Diskussion der Schwarzen Hefte zurückzuführen sind. Damit stellt sich klar heraus, daß diese Stellungnahme weit über Heideggers wirkliche Absichten hinausgeht. Im vorliegenden Buch geht das Kollektivneutrum, sei es »Russentum«, »Slawentum«, »Chinesentum« oder »Amerikanertum« über den üblichen Gebrauch bzw. Mißbrauch dieser Wörter in deren jeweiligen wörtlichen Bedeutungen hinaus; so soll nach den Ansichten Heideggers dem Sachverhalt Rechnung getragen werden , daß bei ihm diese mit -tum endenden Wörter ebensowohl den russischen, slawischen, amerikanischen als auch ebensowohl den jüdischen Charakter unterschiedslos – und ausnahmslos – bezeichnen. Diesbezüglich ist es von Belang, auf den 19. Abschnitt der Beiträge wieder zurückzugreifen, um eine Verfälschung der Texte zu vermeiden. Wenn Heideg22 A. Iadicicco, Avvertenza della traduttrice [Vorwort der Übersetzerin], in: M. Heidegger, Quaderni neri 1938/1939 (Riflessioni VII-XI), Bompiani, Mailand 2016, p. XI. 23 Ebd. (unser Fettdruck).
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ger die Frage stellt, oder besser fragt: »wer sind wir ?«, dann ist das »Wir« nicht ausschließlich auf ein einziges Volk zurückzuführen: »nicht wir sind die Einzigen, sondern als Volk mit anderen Völkern«24. Dazu verweist eine derartige Frage über das »Wir« hinaus auf ein weit tieferes Fragen, das die Fragestellung selbst erschüttert: »Der Wille zum Selbst-sein macht die Frage hinfällig«25. Ferner: »Diese Selbst-besinnung hat allen „Subjektivismus“ hinter sich, auch den, der sich am gefährlichsten versteckt im Kult der „Persönlichkeit“«26. Klar genug ist hier Heideggers Linie, die sich in das feinmaschige Netz eines Subjektivismus nicht verfangen läßt, geschweige denn in die systematische Behandlung einer Idee von Volk, was sie auch immer sein mag, als wäre von der Pluralität eines »Wir« abzusehen, das unter Bezugnahme eines »Selbst-seins« zu verstehen ist. Diese Herangehensweise bleibt aber unzureichend, solange die Grundfrage nicht berücksichtigt wird: »Zumal die Frage: wer wir sind, rein und völlig eingefügt bleiben muß in das Fragen der Grundfrage: wie west das Seyn ?«27
Das Zurückfragen auf den 19. Abschnitt der Beiträge ist auch insofern ausschlaggebend, als das Kollektivneutrum »Judentum«, sowie »Russentum« nur einmal in diesem Hauptwerk vorkommt, wogegen »Christentum« zweimal vorkommt, im hier zur Diskussion stehenden 19. Abschnitt und im 72. Abschnitt: »(die Endform des Marxismus, die wesentlich weder mit Judentum noch gar mit dem Russentum etwas zu tun hat; […] sofern aber die Vernunftherrschaft als Gleichsetzung aller nur die Folge des Christentums ist, und dieses im Grunde jüdischen Ursprungs […], ist der Bolschewismus in der Tat jüdisch; aber dann ist auch das Christentum im Grunde bolschewistisch !«28.
Abgesehen davon, daß »Russentum« in der italienischen Übersetzung durch »Rußland« (»Russia«) übersetzt worden ist, ist hier bedeutsam die enge Verbindung zwischen Christentum und Judentum, oder besser gesagt, das Herleiten von »Christentum« aus dem »Judentum«. Das Verzeichnen des auf »Christentum« und demzufolge »Judentum« bezogenen Charakters wie die Annäherung beider an den Bolschewismus, stellt eine Art Gleichsetzung dar aufgrund damaliger verbreiteter Klischeevorstellungen, die in den nachfolgenden Werken Heideggers nicht wiederaufgenommen werden (das Gegenteilige ist in den vorhandenen Texten nicht nachzuweisen). Die von Heidegger im 19. Abschnitt der Beiträge geübte Kritik bezieht sich auf die »Vernunftherrschaft« und die Unmöglichkeit, die philosophische Frage: »wer sind wir ?« zu stellen, solange »die Rechtfertigung des Abendlandes aus seiner Geschichte« nicht angebahnt wird:
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M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, § 19, S. 48.
25 Ebd. 26
Ebd., S. 52. Ebd., S. 54. 28 Ebd. 27
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
»Aber diese Frage [»wer sind wir ?«] […] kann nicht, so sie sich selbst versteht, beanspruchen, das unmittelbar im Augenblick nötige Vorgehen ersetzen oder auch nur bestimmen zu wollen«29.
Aufgrund des 42. Abschnitts der Überlegungen XI, in dem Heidegger sich von der »Lehre von der Rasse« distanziert, und unter Rücksichtnahme auf das Kollektivneutrum »Judentum« läßt sich die Stellung derjenigen nur mit großer Schwierigkeit rechtfertigen, die in diesen Überlegungen eine strukturelle antisemitische »Kontamination« des seinsgeschichtlichen Denkens zu entdecken suchen. Auf große Schwierigkeiten stößt in der Tat der Versuch, eine solche Theorie zu beweisen, da die vorliegende Abteilung, deren Auslegung wir kaum angeschnitten haben, alle Textstellen einschließt, auf die zurückgegriffen wird, um die angeblich unleugbare These eines in den Schwarzen Heften vorhandenen Antisemitismus zu untermauern, wohingegen diese Textstellen viel tiefer sind, wenn auch deren Tragweite demjenigen entgeht, der außerhalb des von Heidegger entworfenen »wesentlichen Wissens« steht. Weiterhin ist auch die These eines möglichen »Einverständnisses« des Denkens Heideggers mit der nationalsozialistischen Bewegung zu beseitigen, und zwar aufgrund der Überlegungen, die Heidegger selbst in den Überlegungen von 1938/39 niederschrieb. Das Grundproblem dieser Notizbücher besteht einzig und allein in der Schichtung bzw. Vielschichtigkeit vieler Grundbegriffe der Philosophie Heideggers sowie im ständigen Erfordernis, dessen entworfene Überlegungen je in den passenden Kontext einzufügen. Wie z. B. im 5. Abschnitt der Überlegungen VIII: »Eine der verstecktesten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens, wodurch die Weltlosigkeit des Judentums gegründet wird«.
In den Notizbüchern ist das Wort »Weltlosigkeit« nur hier zu finden. Bei Heidegger ist »Weltlosigkeit« nicht allein auf das Judentum beschränkt, sondern gehört überhaupt der Neuzeit zu und ist nicht mehr wegzudenken vom neuzeitlichen Menschen, dessen Weltverständnis durch das rechnende Denken der Neuzeit durchsetzt wird. Tatsächlich kommt das Wort »Weltlosigkeit« auch vor in den Freiburger Vorlesungen des Wintersemesters 1929/30, im Rahmen einer umfangreichen Untersuchung über folgende Dreiteilung: der Stein ist »weltlos«, das Tier ist »weltarm«, der Mensch ist »weltbildend«30. Für Heidegger ist »Welt« ein Bedeutungszusammenhang, während der Stein, seinem Sein gemäß, demgegenüber in seiner Verschlossenheit bleibt im Unterschied zum Tier, das, wenn auch der Welt erst empfänglich, in einer Benommenheit lebt und dem Seins- und Weltverständnis ganz fremd bleibt. Dem Tier ist die jeweilige zugehörige »Umwelt« die einzige Weltoffenheit, und so bleibt es »weltarm«. Der neuzeitliche Mensch – und daran ist das Judentum auch beteiligt – lebt in der Beraubung der Weltbedeutsamkeit, weil 29 Ebd. 30 M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt–Endlichkeit–Einsamkeit, in: Gesamtausgabe, Bd. 29/30, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klostermann, Frankfurt a. M. 1983, S. 261 ff.
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seine eigene Existenz einem rechnenden Denken rechenschaftspflichtig ist, das ihn zu einer grundsätzlichen Ohnmacht führt. Die Bedeutsamkeit der Welt wurzelt im Grunde des seinsgeschichtlichen Denkens, das nie aufgrund eines rechnenden Denkens zu erreichen ist. Diese Gleichsetzung ist aber keineswegs dem Judentum vorbehalten, darauf sind vielmehr der neuzeitliche Mensch und dessen Epoche angewiesen. Anschließend stößt Heidegger im 15. Abschnitt der Überlegungen X auf die hier vorgelegten Begriffe, die sich auf die Vorlesung von 1929/30 beziehen. Von hier aus ist zu verstehen, wie »Weltlosigkeit« im »Ereignis« zu überwinden ist; wenn auch die Thematik dieses Abschnitts mit derjenigen des 5. Abschnitts der Überlegungen VIII verwandt ist, wird nun das Judentum gar nicht erwähnt. Anschließend wird die Diskussion von den Überlegungen XI erweitert, die sich auf den Gegensatz zwischen dem »neuzeitlichen« und dem »zukünftigen« Menschen stützen. Die erheblichen strittigen Punkte in der Kritik an der Neuzeit werden nie so verstanden, als wären sie anzufechten, da sie an ihrem eigenen Verfall beteiligt werden sollen, wie aus dem 71. Abschnitt der Überlegungen VII klar hervorgeht: »[…] eine Form der Verwüstung […], die unmittelbar gar ncht aufzuhalten ist, weil sie vom herrschenden Menschenwesen zu dessen eigener Sicherung eingerichtet und befördert wird«.
Für Heidegger ist der »neue Anfang« vom »zukünftigen Menschen« gekennzeichnet, der sich in die Wahrheit des Seins aufgemacht hat; der »Scheinwahrheit« »in dem, was man das „Leben“ nennt« (§ 71) und der »Scheinphilosophie«, die vom rechnenden Denken erzeugt wird (Überlegungen XI, § 29) stellt sich der Kampf des »künftigen Menschen« gegenüber. Ein weiterer Hinweis auf die Beiträge hilft uns zu verstehen, worin das Wesen des »zukünftigen Menschen« besteht und was dessen Hauptzüge sind: »Sie stehen im herrschaftlichen als dem wahrhaften Wissen. […] Dieses Wissen ist überdies nutzlos und hat keinen „Wert“; es gilt nicht und kann nicht unmittelbar angenommen werden als Bedingung des gerade ablaufenden Betriebs«31.
Durch andere Grundmerkmale der »Zukünftigen« wird deren Gegensätzlichkeit zum typischen Handeln des zweckmäßigen Denkens hervorgehoben, das die Neuzeit kennzeichnet. So werden sie von Heidegger in den 248. bis 252. Abschnitten der Beiträge gekennzeichnet: »Fremdlinge«, »die stillsten Zeugen der stillsten Stille«, »langsam und langhörend«, »die Inständigen, die unausgesetzt sich dem Fragen aussetzen«, diejenigen, die »den lärmenden „Optimismus“ nicht kennen, die »Suchenden«, die »Wenigen«, »die wesentlich Unscheinbaren, denen keine Öffentlichkeit gehört«32. Da die »Zukünftigen« mit der Rückkehr zum Anfang beauftragt werden, sind in der vorliegenden Abteilung charakteristische Anmerkungen wiederzufinden, die
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Beiträge zur Philosophie, § 250, S. 396. Ebd., S. 395 – 401.
2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
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über den Verfasser dieser Überlegungen – in einer Art Selbstbildnis – Aufschluß geben. So z. B. im 14. Abschnitt der Überlegungen X: »Denker – ist jener, der eine die Wahrheit des Seyns wagende Frage ohne den möglichen Anhalt an einem Widerhall […] zwischen die sich fortwälzende Neugier der immer Fraglosen wirft […]«.
Das die Wahrheit des Seyns wagende Fragen hat schon immer darauf verzichtet, einen möglichen Widerhall zu haben, und darf auch nicht mit der Funktionalität eines unterschiedslosen Handelns verwechselt werden, das mit dem »Erlebnis« einhergeht. Im Gerede über das »Wirkliche« ist dieses Wagnis undenkbar: erst in der »Einsamkeit« ist die Stimme des Seyns zu hören. Einsamkeit könne man aber »nicht „machen“ und auch nicht „wollen“ – Einsamkeit ist das Seltenste und eine Notwendigkeit des Seins« (Überlegungen XI, § 40). »Das Zeitalter der völligen Fraglosigkeit duldet nichts Fragwürdiges und zerstört jede Einsamkeit. […] Dieses Zeitalter der völligen Fraglosigkeit kann nur überstanden werden durch ein Zeitalter der einfachen Einsamkeit, in der sich die Bereitschaft für die Wahrheit des Seyns selbst vorbereitet«33.
In einer solchen »Einsamkeit« wird das »Schweigen« Offenheit bzw. Empfänglichkeit für das Hören auf das Seyn. Die Vermutung liegt nahe, daß Heidegger sich in dieser andersartigen Fragestellung zurechtfindet, in der immer wieder nach vorne »gesucht« wird, was in seinem Anfang schon begründet ist: »Wenn uns eine Geschichte, d. h. ein Stil des Da-seins, noch geschenkt sein soll, dann kann dies nur die verborgene Geschichte der großen Stille sein, in der und als welche die Herrschaft des letzten Gottes das Seiende eröffnet und gestaltet«34.
Gedankenzüge, die uns helfen, Heideggers Stellung, wenn auch von weitem, besser zu vernehmen in einer höchst kontroversen epochalen Lage, in der er sich befand, d. h. in derjenigen einer Zeit des ausschließlichen »Vorrangs des machenschaftlichen-kriegrisch-technisch-historischen „Kampfes“«. (Überlegungen XI, § 88).
4. Überlegungen XII – XIV – Schwarze Hefte 1939 – 194135 4.1. Die nationalsozialistische Weltanschauung: die Folgen von deren »„kultur“-zerstörerischen Wirkung« Hier kommt Heidegger auf die Frage des Nationalsozialismus zurück, deren »geschichtliches Wesen wie die Folgen der davon herrührenden »Weltanschauung« in einigen Textstellen der Überlegungen XIII (§§ 77 und 90) und der Überlegungen XIV ([12], [41, 42], [74 – 75], [106]) bestimmt werden. 33
Ebd., § 51, S. 110. Ebd., § 13, S. 34. 35 M. Heidegger, Überlegungen XII – XV (Schwarze Hefte 1939 – 1941), in: Gesamtausgabe, Bd. 96, Abt. 4: Hinweise und Aufzeichnungen, hrsg. v. P. Trawny, Klostermann, Frankfurt a. M. 2014. 34
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Den in den Überlegungen XIII jeweiligen Änderungen nach erscheint der Nationalsozialismus, wie der Faschismus, als eine »entsprechende« Form des »autoritären Sozialismus« (§ 73); die Verwandtschaft zwischen Nationalsozialismus, Bolschewismus und Faschismus besteht in ihrer gemeinsamen Zugehörigkeit zur »Machenschaft« in den jeweiligen »riesigen Vollendungsformen der Neuzeit« (§ 90). In den Überlegungen XIV ist dagegen das Thema »nationalsozialistische Welt anschauung« unmittelbar angegangen, mit deren zwangsläufigen Auswirkungen auf die Massen; mit dem Gegensatz zwischen dem »Volk« und den »Massen« stellt sich klar heraus, wie durch die der instrumentalisierenden Machenschaft innewohnende Denkart das Volk Gefahr läuft, manipuliert und auf eine gesichtslose Masse reduziert zu werden; erst in dieser Phase ist eine »Weltanschauung« als Zusammenkunft von politisch-militärischer Macht und Wirtschaftskontrolle imstande, Wurzeln zu schlagen. In diesem Sinne wird die »„kultur“– zerstörerische Wirkung der nationalsozialistischen Weltanschauung« verzeichnet unter Berücksichtigung der Rede des Führers vom 30. Januar 1940 (Überlegungen XIV [12]). Weiterhin sind der Übergang vom »Nationalsozialismus« zum »Rational-sozialismus« ([41 – 42]) und das gemeinsame Wesen der »christlichen Philosophie« und der »nationalsozia listischen Philosophie« ([74 – 75]) auf den Rückgriff auf das rechnende Denken zurückzuführen. Das Wort »Zerstörung« kommt in den Überlegungen XIV (§ 13) vor, und zwar in Bezug auf die »Kultur«; »Rechnung« ist in den Überlegungen XIV ([41 – 42], [74 – 75]) zu finden, immer noch in Bezug auf den »Nationalsozialismus« und dann auf die »christliche Philosophie«. Die Frage bezüglich der τέχνη, wie sie in den Überlegungen XIV ([41 – 42]) eingeführt wird, wollen wir auch unter Rücksichtnahme ihrer Behandlung in den Beiträgen angehen. Überlegungen XIII § 73 [42 – 43], S. 109 – 110: Der Bolschewismus (im Sinne der despotisch-proletarischen Sowjetmacht) ist weder »asiatisch« noch russisch – sondern gehört in die Vollendung der in ihrem Beginn westlich bestimmten Neuzeit. Entsprechend ist der autoritäre »Sozialismus« (in den Abwandlungen des Faschismus und Nationalsozialismus) eine entsprechende (nicht gleiche) Form der Vollendung der Neuzeit*. Der Bolschewismus und der autoritäre Sozialismus sind metaphysisch dasselbe und gründen in der Vormacht der Seiendheit des Seienden (vgl. die früheren Überlegungen). Die nächste geschichtliche Entscheidung ist: ob beide Grundformen der Vollendung der Neuzeit unabhängig voneinander die Seinsverlassenheit des Seienden (und d. h. das Riesenhafte der technisch-historisch-politischen Ab- und Einrichtungen) in den unbedingten Erfolg verfestigen und so in riesenhaftem Stil mit oder ohne ausdrücklichem »politischen« Zusammenschluß dasselbe sind, oder ob durch sie in einer vermittelten Mittelbarkeit eine | rückgewinnende Befreiung des Russentums zu seiner Geschichte (nicht »Rasse«) und eine abgründige Frag-Würdigkeit des Deutschtums zu seiner Geschichte sich anbahnt, wobei die Geschichte beider aus demselben verborgenen Grunde
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
einer anfänglichen Be-stimmung kommt: die Wahrheit des Seyns (als Er-eignis) zu gründen. – * Der Name »Sozialismus« bezeichnet nur dem Schein nach noch und für das »Volk« einen Gefühlssozialismus im Sinne der sozialen Fürsorge; gemeint ist die politisch-militärische-wirtschaftliche Organisation der Massen. Klasse: herrschende Schicht. Überlegungen XIII § 90 [68], S. 126 – 127: Demarkationslinien zwischen Rußland und Deutschland verschleiern nur die Abgründe von Vorbedingungen für eine noch nicht einmal erfragte Ent-scheidungu über das Wesen der abendländischen Geschichte. Trennungsstriche haben das Verfängliche, das, was im Wesen dasselbe ist, in seiner Selbigkeit gerade offenbar zu machen. Der Nationalsozialismus ist nicht Bolschewismus und dieser ist kein Faschismus – aber beide sind machenschaftliche Siege der Machenschaft – riesige Vollendungsformen der Neuzeit – ein errechneter Verbrauch von Volkstümern. u “Ent-scheidung“ (Bindestrich des Verf.) hier als „Scheidung“ zu hören.
Überlegungen XIV [12], S. 177: Gegen den Vorwurf der »kultur«-zerstörerischen Wirkung der nationalsozialistischen Weltanschauung ist nach der Zeitung jetzt ein klares Zeugnis aus der Führerrede vom 30. Januar 1940 festzuhalten, worin auch die »Dichter und Denker« als »Arbeiter« anerkannt sind: »›Der Dichter und Denker braucht außerdem nicht soviel Nahrung als der Schwerstarbeiter‹. (Heiterkeit).«v v Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932 – 1945. Bd. II. Untergang. Erster Halbband. Süddeutscher Verlag: München 1965, S. 1456. Es heißt: »[…] wie der Schwerarbeiter« [GA, Hrsg.].
Überlegungen XIV [41 – 42], S. 195: Vom National-sozialismus zum Rational-sozialismus, d. h. zur unbedingten Durch rechnung und Verrechnung des Zusammenseins der Menschentümer in sich und miteinander. Diese Rationalität verlangt die höchste Geistigkeit. Das Wesen des abenländischen Geistes als τέχνη. Überlegungen XIV [74 – 75], S. 214 – 215: Die »christliche Philosophie« ist so jedesmal die Koppelung zweier »Halbheiten«. Und man könnte versucht sein, sich auszurechnen, daß zwei »Halbheiten« doch ein Ganzes ergeben müßten. Aber diese Rechnung geht fehl, wenn sie übersieht, daß dieses errechnete Ganze nur eine ganze – d. h. vollständige Halbheit sein kann, in der die Halbheiten nicht beseitigt, sondern so gesteigert sind, daß das Ganze die völlige Nichtigkeit der Vorstellung einer »christlichen Philosophie« dartut. – Freilich erkennt man nur selten das Unmögliche dieses Begriffes in seiner Schärfe, weil man
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sowohl mit dem »Christlichen« als auch mit der »Philosophie« nie ernst macht, statt dessen aber harmlosere Begriffe unterstellt und dadurch sich bestätigt hält in solchem Meinen, daß es »faktisch« dergleichen ja doch | »gibt« – d. h. es wird von Leuten, die hieran ihr wohlberechnetes Interesse haben, ständig verkündigt. Vollends möchte Vielen zunächst schwer eingehen, daß sich der Wesensart nach eine »nationalsozia listische Philosophie« in Nichts von der »christlichen Philosophie« unterscheidet. Jeder politisch klar Denkende lehnt daher auch folgerichtig jede »Philosophie« innerhalb der »Weltanschauung« ab; sie kann höchstens eine rein technisch-schola stische Bedeutung haben. Überlegungen XIV [106], S. 234: Welcher Unterschied besteht zwischen folgenden Vorgängen: Barmat und Kutiskerw machen sich ein gutes Geschäft aus der Nachkriegsdemokratie. Volksschullehrer werden mit Hilfe der nationalsozialistischen Weltanschauung zu »Philosophen«, um die sich ein ernsthafter Mensch nie kümmerte? Es besteht kein Unterschied; denn hier ist das geschichtliche Wesen des Nationalsozialismus gleichwenig begriffen, wie dort das geschichtliche Wesen der parlamentarischen Demokratie. w Iwan Baruch Kutisker (1873 – 1927) und Julius Barmat (1887 – 1938) wurden unabhängig voneinander in den zwanziger Jahren wegen größerer Finanzdelikte, in die auch Politiker verstrickt waren, zu Gefängnisstrafen verurteilt [GA, Hrsg.].
Nuanciert wird das Wort »Nationalsozialismus« in den vorliegenden Überlegungen Heideggers. Betrachten wir die vorangehenden Auslegungen über dieselbe thematische Einheit in den Bänden 94 und 95, dann geht daraus sofort deutlich hervor, daß die Erweiterung dieser vorangehenden Auslegungen nur manche Grundzüge der Überlegungen XIII und XIV betrifft; dabei kehren auch manche Begriffe wieder, die dazu beitragen mögen, das Wesen des Nationalsozialismus zu bestimmen. So verweist u. a. der Bezug auf das »Riesenhafte« im 73. Abschnitt der Überlegungen XIII auf unsere Untersuchungen des Bandes 9536; dazu wird auch auf zwei weitere Elemente zurückgegriffen, nämlich auf »Rechnung« und »Machenschaft«. Dadurch wird eine Blockade erzeugt aufgrund des Vorrangs der Seiendheit des Seienden, und als zwangsläufige Folge der »Zerstörung« der Kultur. Die aus der nationalsozialistischen »Weltanschauung« hervorgehenden Auswirkungen sind für das deutsche Volk schädlich: das deutsche Volk wird dann, wie gesagt, auf eine gesichtslose Masse reduziert, sofern jede Notwendigkeit des Fragens auf die Logik einer aufs Neueste eingestellten Politik angewiesen ist. Dann wird das zufällige Leben zum unbedingten Ziel in einer unvollständigen Weltanschauung, die sich dennoch als absolut durchsetzen will. Bei alledem bleibt das »Gründen der Wahrheit des Seins (als Ereignis)« den Betreibern der Machenschaft unbekannt, die aktiv und passiv die instrumentalisierende Logik der Macht allmählich vorbereiten und sich damit wegen ihrer Unfähigkeit der Würde der aus der Besinnung entspringenden Grundfrage entziehen. 36
Siehe oben, S. 110 – 111, Fußnote 12.
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Es läßt sich nur schwer vermuten, ob die Not des Seins aus dem Abgrund – d. h. der Grund-losigkeit – der aus der Absolutierung der Seiendheit des Seienden hervorgeht, entspringen kann: dieser Not wird man erst dann gewahr, wenn man entscheidet, außerhalb der subtilen Rechnungen zu stehen, die aufgrund eines einstweilig abgekapselten Lebens die Herrschaft eines totalitären Denkens verstärken. Das Flüchtige und die Grund-losigkeit sind nicht nur einem nur den Augenblick erlebenden Leben zuzuschreiben, sondern auch der »Verlassenheit«: das erwähnte Absolute braucht die Herrschaft, um hervorzuragen, und die dazugehörigen Denkweisen sind zum Scheitern verurteilt, da es am Rande des Abgrundes und zudem vor der Seinsverlassenheit steht. Mit der »Seinsverlassenheit« stürzt sich die Neuzeit in ihre Vollendung. Vorboten der »„kultur-zerstörerischen Wirkung der nationalsozialistischen Weltanschauung« (Überlegungen XIV [12]) sind vom Universitätssystem ausgegangen, aber die Auswirkungen auf die Massen sind nun unaufhaltsam, wenn wir bedenken, daß nur die Sicherheit dessen, was als gewiß, nützlich und funktionell gilt, die Not eines wesentlichen Wissens abschwächen kann. Um diesen Schritt zu verstehen, ist es wichtig, den 76. Abschnitt der Beiträge zu vertiefen, in dem Heidegger – wie übrigens auch in seinen Notizbüchern – etwas von der unausweichlichen Niederlage der Kultur der Universität zum Ausdruck bringen will: »Die „Universitäten“ als „Stätten der wissenschaftlichen Forschung und Lehre“ (solcher Art sind sie Gebilde des 19. Jahrhunderts) werden zu reinen und immer „wirklichkeitsnäheren“ Betriebsanstalten, in denen nichts zur Entscheidung kommt. Den letzten Rest einer Kulturdekoration werden sie nur solange behalten, als sie vorerst noch zugleich Mittel zur „kulturpolitischen“ Propaganda bleiben müssen. Irgendein Wesen von „universitas“ wird sich aus ihnen nicht mehr entfalten können: einmal, weil die politisch-völkische Indienstnahme solches überflüssig macht, sodann aber, weil der Wissenschaftsbetrieb selbst ohne das „Universitäre“, d. h. ohne den Willen zur Besinnung, weit sicherer und bequemer zu halten ist«37.
Die unausweichliche Zerstörung der Kultur und die »Besinnungs«-losigkeit sollen aber nicht nur die Niederlage des Universitätssystems kennzeichnen, das sind die Hauptzüge eines Zeitalters, in dem die politisch-militärische Organisation Massen regiert, die in der Täuschung leben, die Beanspruchung eines nationalen Charakters sei fürs heutige Leben mehr als ausreichend. Was entgeht einer unerschütterlichen Organisation in der Förderung einer rein sachlichen Kulturpolitik ? Zweifellos die Unsicherheit, die daraus hervorgeht, daß man seinen eigenen Standpunkt beiseite zu lassen hat, um der Flüssigkeit der Besinnung Raum zu geben, in dem das Denken über die Sicherheit der zufälligen Selbstverständlichkeit hinausgeht, um ins Unwirkliche verlorenzugehen, gerade in das, was dem bloßen Rechnen entgeht. Vielen wird dieses »Verlorengehen« unmöglich und undurchführbar, in Anbetracht des unbestreitbaren Wertes eines punktuellen Wirklichen in seiner absoluten Starrheit. Unbegreiflich bleibt die »Be-wëgung« des Denkens in den Überlegungen Heideggers, solange man sich an die Sicherheit des greifbaren 37
M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, S. 155 – 156.
4. Überlegungen XII – XIV – Schwarze Hefte 1939 – 1941
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Wirklichen hält; die anhaltende Schwierigkeit in diesem Gedankengang besteht darin, daß wir eine nicht-lineare Bewegung zu verfolgen haben, deren Gang zwar manchmal verwirrend und schwer fassbar ist. In dieser Abteilung ist es der Mühe wert, die ständigen Bezugnahmen auf alles, was in den Bereich des »Vernünftigen« fällt, zu berücksichtigen, wie z. B. die »christliche Philosophie« als »Koppelung zweier „Halbheiten“.« Diese Bezugnahme auf die christliche Philosophie – und auf deren lange jüdisch-christlische Tradition – spiegelt das veraltete »technisch-scholastische« Gebilde wieder, wonach die definitio (Bestimmung) der einzige Maßstab ist, der der Seiendheit eine ständige Anwesenheit sichert und durch die Berechnung die Meßbarkeit zum Leitprinzip erhob, auf den – in einem geschlossenen Kreislauf – alles zurückzuführen ist. Sich so distanzierend will Heidegger einen Weg bahnen zu einem anderen Anfang, in dem das Sein nicht mehr vom Seienden und dessen Berechenbarkeit aus berücksichtigt wird: da das Menschenwesen sich auf das Sein gründet, beinhaltet dieses Wesen ein Übersteigen der Seiendheit und eine Infragestellung des ens als ens creatum. In diesem Sinne können wir verstehen, warum die Überlegung zur christlichen Philosophie in den Rahmen der Untersuchung über den Rationalismus fällt, und warum sie immer mit einer Bezugnahme auf das »Rechnen« verbunden wird, sowie auf das Gebiet der Seiendheit, auf dem die Neuzeit einen stabilen Grund finden will, den sie mit der »Gewißheit« ihrer eigenen Objektivität rechtfertigt. Prüfen wir jetzt die folgende Textstelle aus den Überlegungen XIV ([41 – 42]): »Diese Rationalität verlangt die höchste Geistigkeit. Das Wesen des abendländischen Geistes als τέχνη«. Hier soll der Terminus τέχνη aufgrund der in den Beiträgen vorhandenen Bezugnahmen und deren systematische Behandlung38 ausgelegt 38 Ebd., § 50 »Anklang«: »Was heißt Machenschaft ? Machenschaft und beständige Anwesenheit; ποίησις – τέχνη. Wohin führt die Machenschaft ? Zum Erlebnis. Wie geschieht das ? (ens creatum – die neuzeitliche Natur und Geschichte — die Technik) Durch die Entzauberung des Seienden, die einer durch sie selbst vollzogenen Verzauberung die Macht einräumt. Verzauberung und Erlebnis. Die endgültige Verfestigung der Seinsverlassenheit in der Seinsvergessenheit. Das Zeitalter der völligen Fraglosigkeit und des Widerwillens gegen jede Zielgründung. Durchschnittlichkeit als Rang« (ebd., S. 107 – 108); § 61 »Machenschaft«; »das Machen (ποίησις – τέχνη), was wir zwar als menschliches Verhalten kennen. […] Daß sich etwas von sich selbst macht und demzufolge für ein entsprechendes Vorgehen auch machbar ist, das Sich-von-selbst-machen ist die von der τέχνη und ihrem Hinblickskreis aus vollzogene Auslegung der φύσις dergestalt, daß nun schon das Übergewicht in das Machbare und Sich-machende zur Geltung kommt […], was kurz die Machenschaft genannt wird […], daß nun das Machenschaftliche sich deutlicher vordrängt und durch das Hereinspielen des jüdisch-christlichen Schöpfungsgedankens und der entsprechenden Gottesvorstellung, das ens zum ens creatum wird« (ebd., S. 126 – 127); § 64 »Machenschaft« (ebd., S. 130); § 67 »Machenschaft und Erlebnis«: »Machenschaft als Herrschaft des Machens und des Gemächtes. […] Dies ist die Nennung einer bestimmten Wahrheit des Seienden (seiner Seiendheit). Zunächst und zumeist ist diese Seiendheit uns faßlich als die Gegenständlichkeit […]. Aber die Machenschaft faßt diese Seiendheit tiefer, anfänglicher, weil auf die τέχνη bezogen. In der Machenschaft liegt zugleich die christlich-biblische Auslegung
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
werden – da die Grenze der Notizbücher darin besteht, daß sie eine systematische Argumentation darüber nicht zustandebringen können – eben deswegen bleibt es sinnlos, den Gedankengang der Überlegungen Heideggers als eine Schlußfolgerung von einem Vorher zu einem Nachher zu bezeichnen. Wo der neuzeitliche Mensch in eine neue Geistigkeit eingeführt wird, da fällt die τέχνη in den Bereich der Machenschaft: das Erlebnis ermöglicht die Entwicklung einer Strategie, die das Seiende ganz beherrschen kann zwecks dessen Nutzbarkeit. Die Kenntnis des Seienden und die Erschöpfung seines Seins erzeugt die Täuschung, daß alles, was in der Welt wohnt, vom Willen zur Macht bewältigt und manipuliert werden kann. Diese Herrschaft und die sich daraus ergebende Manipulation sind nur insofern möglich, als die Un-fähigkeit im Menschen entstand, über die Starrheit hinauszuschauen, in die er verfiel, als er die Welt zugleich absolutiert und auf seine eigene Tragweite reduziert hat. Vom Seienden an sich ausgehen und das Seiende erschöpfen, erzeugt eine Isolation im Menschen, und zwar derart, daß er nicht nur die Not der Frage nach dem Sein nicht mehr erfährt, sondern auch nicht mehr im Bilde ist, daß er sie aus den Augen verlor. In dieser viel entwickelteren und beherrschenderen Phase der τέχνη lassen sich die Mechanismen der Manipulation des Seienden kaum als solche erkennen, da diese Herrschaft zu einer Abkapselung geführt hat, wobei das jenseits Liegende nicht mehr als Zweck erwogen wird; alles verzehrt sich in der ontischen Plattheit des hier und jetzt. In alledem stützt sich das produktive Machen auf das Erlebnis: der Radius des Handelns, in dem sich der Entwurf der τέχνη zuspitzt, läßt sich dem Inneren der ontischen Dimension zuschreiben, und dabei ist der Mensch nicht nur der Ausführende eines solchen machbaren Entwurfs, sondern auch dessen Adressat. Was der Mensch durch die Geschicklichkeit der Machenschaft erzeugt, wird immer mittels des Erlebens verbessert, derart, daß der Mensch selbst von seinen eigenen Errungenschaften geprägt wird. Dem Seienden den Vorrang gegenüber dem Sein geben heißt, das Seiende in den absoluten Herrschaftsbereich der menschlichen Machenschaft zu rücken (und dazu gehört auch der Schöpfungsakt), sowie es zu verbannen, derart, daß das Andersartige ihm ganz fremd wird. Eben darum lebt der Mensch in der Seinsverlassenheit: nicht nur kommt diese Not dem Menschen abhanden, sondern dessen wird er sich auch nicht gewahr – er ist nicht mehr imstande, eine Notwendigkeit weder zu erfahren noch zu schaffen, da er von seinen des Seienden als ens creatum, mag dies nun gläubig oder verweltlicht genommen werden« (ebd., S. 131 – 132); § 70 »Das Riesenhafte«: »daß die Seiendheit von der τέχνη aus und von der ἰδέα bestimmt wird« (ebd., S. 135); § 91 »Denken (Gewißheit) und Gegenständlichkeit (Seiendheit)«: »die τέχνη als Grundcharakter der Erkenntnis, d. h. des Grundbezugs zum Seienden als solchem. […] Der erste Anfang wird nicht bewältigt, die Wahrheit des Seyns trotz ihres wesentlichen Aufleuchtens nicht eigens gegründet, und dies bedeutet: ein menschlicher Vorgriff (des Aussagens, der τέχνη, der Gewißheit) wird maßstäblich für die Auslegung der Seiendheit des Seyns« (ebd., S. 184); § 97 »Die φύσις (τέχνη)« (ebd., S. 190 – 191); § 99 »Bewegung als Anwesung des Umschläglichen als solchen«: »[…] die Auslegung des Seienden als εἶδος – ἰδέα und somit μορφή – ὕλη, d. h. τέχνη, die wesensbezogen auf φύσις« (ebd., S. 193).
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eigenen Errungenschaften und von der Gewißheit seiner Vorstellungen beherrscht wird. In seinen Vor- und Herstellungen meint der Mensch, er würde in der Manipulierung eines zu bewältigenden Seienden etwas machen, und dadurch hat seine Machenschaft zur Folge, daß jede Beziehung zum Sein und damit die Möglichkeit zu dessen Gründung zerstört wird; ihm bleibt der ontologische Bereich unzugänglich. Die Starrheit der Herrschaft des Seienden veranlaßt den Menschen dazu, dieses Seiende derart zu manipulieren, daß die von ihm entwickelte Strategie jede Empfänglichkeit für die Wahrheit des Seins stillschweigend zerstört. So wird der Mensch allmählich zu einem Menschending innerhalb einer als Gegenständlichkeit vorgestellten Seiendheit: dieser unaufhaltsame Verfall soll Heidegger später dazu bringen, seine Einstellung zur τέχνη zu ändern, da nicht nur diese sich der ontischen Ebene des Vorhandenen bemächtigt, sondern sie drückt auch dynamisch die Gegenschwingung des sich Ent- und Verhüllens des Seins (im Gegenspiel seines ständigen Schenkens und Entziehens) aus. In den Bremer (1949) und Freiburger (1957) Vorträgen wird alles noch einmal von vorn angefangen: dort hängt Technik als Phänomen nicht mehr von einer herausfordernden Machenschaft des Menschen ab, sondern vom Entbergen des Seyns im Hervorbringen.
4.2. Die unsichtbare »Verwüstung« als verborgene Voraussetzung der sichtbaren »Zerstörung« In der vorliegenden Abteilung werden alle Textstellen des Bandes 96 berücksichtigt, in dem manche Begriffe Heideggers unbedingt in ihre jeweiligen Kontexte einzufügen sind. Da diese Begriffe in den Beiträgen nicht zu finden sind – wie z. B. der Begriff »Verwüstung«, der in unserer Prüfung von zentraler Bedeutung ist – verzeichnen wir zunächst diese Befriffe, denen unsere Auslegungen anschließend gewidmet werden sollen. Verwüstung kommt 36 Mal vor. 10 Mal in den Überlegungen XII: [a] , § 8 , § 10 (»verwüsten« und »Verwüstungsvollstrecker«), § 24, § 26, § 35 (»Ver-wüstung«); 6 Mal in den Überlegungen XIII: § 34, § 124, § 128 , § 129, § 134; 8 Mal in den Überlegungen XIV: [7], [10] (»geistigen Verwüstung«), [31], [41] , [86] (»Sprachverwüstung«), [93], [119 – 121]; 12 Mal in den Überlegungen XV: [6] (»Selbstverwüstung«), [8 – 11] , 512], [14] , [24, 25 – 26] . Machenschaft kommt 12 Mal vor. 8 Mal in den Überlegungen XII: § 8, § 10, § 13, § 24, § 35, § 38 ; 3 Mal in den Überlegungen XIII: § 101 , § 128; einmal in den Überlegungen XV [14]. Zerstörung kommt 9 Mal vor. 4 Mal in den Überlegungen XII: [a] , § 24, § 35; 4 Mal in den Überlegungen XIII: § 124, § 128, § 129; § 134; einmal in den Überlegungen XIV (119]. Jude kommt 8 Mal vor. 4 Mal in den Überlegungen XII: § 24 (»Judentum«), § 38 (»die Juden«); einmal in den Überlegungen XIII: § 101 (»internationales Ju-
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
dentum«); 4 Mal in den Überlegungen XIV: [79] (»des Juden „Freud“«); [120] (»der Jude Litwinow«), [121] (»Weltjudentum«) ; einmal in den Überlegungen XV 517] (»Weltjudentum«). Wüste kommt in den Überlegungen XII (§ 8) 7 Mal vor. Vernichtung kommt 4 Mal vor. 2 Mal in den Überlegungen XIV [41]; 2 Mal in den Überlegungen XV [14] (»Vernichtung«; »vernichten«). Entwurzelung kommt 3 Mal vor. Überlegungen XII (§ 36); Überlegungen XIV [121]; Überlegungen XV 59]. Vergemeinerung kommt 3 Mal vor. 2 Mal in den Überlegungen XII (§ 13, § 24); einmal in den Überlegungen XIV [9]. Rasse kommt 3 Mal in den Überlegungen XII vor (§ 38, »Rasse«, »Rassegedanken«, »Rasseprinzip«). Machtsteigerung kommt einmal vor: Überlegungen XII (§ 24). Rechenfähigkeit kommt einmal in den Überlegungen XII (§ 24) vor. Rechner, Raffer, Berechenbarkeit und deren Verwendung im Kontext der Überlegungen XIII (§ 34) erweisen sich als ausschlaggebend, um die betreffenden Adressaten zu bestimmen. Überlegungen XII [a], S. 3: Zerstörung ist der Vorbote eines verborgenen Anfangs, Verwüstung aber ist der Nachschlag des bereits entschiedenen Endes. Steht das Zeitalter schon vor der Entscheidung zwischen Zerstörung und Verwüstung? Aber wir wissen den anderen Anfang, wissen ihn fragend – (vgl. S. 76 – 79). Überlegungen XII § 8 [16 – 18], S. 14 – 15: Nietzsche hat vorausdenkend die Wüste jener Verwüstung betreten, die mit der Unbedingtheit der Machenschaft einsetzt und im ausschließlichen Subjektcharakter des Tieres Mensch als Raubtier ihre ersten »Erfolge« zeitigt. Die Wüste ist die Versandung und Verstreuung aller Möglichkeiten der wesentlichen Entscheidung. Die Entschiedenheit aber zur völligen Entscheidungsunmöglichkeit liegt in der Lehre von der ewigen Wiederkehr; deshalb ist sie das Endhafteste im Ende der abendländischen Metaphysik – das letzte Metaphysische, was im Abendland gedacht werden konnte und mußte – der Gedanke aller Gedanken Nietzsches; kein »religiöses« Ersatzgebilde – sondern nur im entschiedensten metaphysischen Denken denkbar. Diese vorausbetretene und nur langsam sich öffnende Wüste ist der verborgene Grund für das Verzehrende des Nietzscheschen Denkens, das trotz aller Widrig-|keit seine Notwendigkeit bewahrt. Das Abstoßende und Lähmende und Verödende dieses Wüstenhaften darf jedoch die denkerische Auseinandersetzung keinen Augenblick von ihrem Weg abbringen und dazu verleiten, das Wüstenhafte selbst zu einem Grund der Ablehnung Nietzsches zu machen. […]
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Aber muß erst, bevor wir und die Künftigen in der »uralten Verwirrung« inständig zu werden vermögen, die allerjüngste Verwüstung durchschritten werden? Dürfen wir dies als ein Zeichen nehmen, daß die Geschichte der Verweigerung des Seyns in abgründig abgesetzten Sprüngen sich ereignet und ein Vorgang und Fortgang ist, als welche Fläche nur der historisch-technischen Betreibung »des« sogenannten »Lebens« zugeschoben wird, damit es nicht ahne, wie weit weggeschleudert von der Geschichte des Seyns die Historie des Seienden verläuft? Daher führt kein Weg von der Verwüstung der Wüste | (der völligen Entscheidungsunbedürftigkeit) in die Verwirrung der Irre – wenngleich die Durchschreitung der Wüste notwendig ist. Ihre Schritte müssen abgelöst werden durch einen anderen Sprung, der wiederum nicht Hölderlins Stiftung nur erneuern könnte. Überlegungen XII § 10 [28 – 29], S. 21 – 22: Denker-sein heißt wissen, daß nicht die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines »Weltbildes« und die Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit einer »Weltanschauung« zur Entscheidung stehen, daß sich die Besinnung nicht daran kehren darf, ob und inwieweit ein Gedanke einen Lebensnutzen sicherstellt oder der Nutzlosigkeit verfallen ist, daß vielmehr nur das eine zur Entscheidung vorbereitet und einst geführt werden muß: ob die losgebundene Machenschaft des Seienden Alles in das Nichts verwüste und der Mensch im Schutze der Tierheit des Raubtieres zu einem gleichgültigen, alles berechnenden und jeder Schnelligkeit habhaften Einrichtungstier der bestgeordneten Herdenhaftigkeit sich entwickle, aus welcher Herde zuweilen noch Rudel der Verwüstungsvollstrecker sich zusammenrotten – oder ob das Seyn die Gründung seiner Wahrheit als Not verschenke und dem Menschen die Notwendigkeit zuwerfe, aus einem anderen Anfang die Einfachheit des Wesens aller Dinge in eine Bewahrung zu nehmen, kraft deren er reifen kann zur Inständigkeit inzwischen der Geschichte des Seyns, die ihn eines Untergangs würdigt, der ein Anfang des letzten Gottes ist. Überlegungen XII § 13 [49], S. 34: Je mehr das metaphysische Wesen des Menschen – das vernünftige – gefühlvolle (d. h. »erlebende«) Tier zur Macht kommt innerhalb der unausweichlichen Anbahnung der unbedingten Ermächtigung der Machenschaft, umso deutlicher drängt sich auch innerhalb des Massenhaften des Menschentums die Vergemeinerung dieses Wesens heraus: Das Tierhafte sowohl wie das Erlebnisartige schaffen sich ihre Form der Gemeinheit: Der Mensch ist animalisch und sentimental zugleich – das eine entspricht dem anderen – beide bestätigen sich wechselweise und nehmen für sich den Besitz der »Kraft« und der »Tiefe« (des »Erlebens«) in Anspruch. Die Einrollung des Menschen auf dieses sein vermeintlich vollständiges und fragloses Wesen ist die Vermenschung des Menschen.
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Überlegungen XII § 24 [64 – 65, 67 – 68], S. 44 – 47: Die Geschichte des abendländischen Menschen – gleichgültig ob er sich in Europa aufhält oder anderswo – hat sich langsam auf eine Lage vorgeschoben, in der alle sonst vertrauten Bezirke wie »Heimat«, »Kultur«, »Volk«, aber auch »Staat« und »Kirche«, aber auch »Gesellschaft« und »Gemeinschaft« die Zuflucht verweigern, weil sie selbst zu bloßen Vorwänden herabgesetzt und dem beliebigen Vorschub preisgegeben sind, dessen bewegende Mächte unkenntlich bleiben und ihr Spiel lediglich darin verraten, daß sie den Menschen in die Gewöhnung zur je aufdringlicheren Massenhaftigkeit zwingen, deren »Glück« sich darin erschöpft, ohne Entscheidungen auszukommen und in der Meinung sich zu betäuben, immer mehr in ihren Besitz und Genuß zu bringen, weil das Besitzwürdige stets geringer und gehaltloser wird. […] Wo könnte hier noch eine Spur jener Angst erwachen, die erkennt, daß eben die Vormacht des Vorhandenen und die Unbedürftigkeit gegenüber Entscheidungen, das ungreifbar um sich greifende Anwachsen der Bestimmung zu dieser Lage bereits und allein nicht nur Zerstörung, sondern die Verwüstung ist, deren Herrschaft durch Kriegskatastrophen und Katastrophenkriege nicht mehr angetastet, sondern nur noch bezeugt werden kann. Ob das Herdenwesen des Menschen, sich selbst überlassen, durch seine Vergemeinerung den Menschen zur Vollendung seiner Tierheit treibt, oder ob Rudel von Gewalthabern die auf das Höchste durchgegliederten und »einsatzbereiten« Massen der völligen Entscheidungslosigkeit zujagen, ob also eine »Rangordnung« innerhalb des endgültig festgestellten Tieres im Sinne des »Übermenschen« noch aufgezüchtet werden kann oder nicht, das bringt in den metaphysischen Charakter des Seienden im Ganzen keine wesentliche Änderung. […] Aus demselben Grunde aber ist auch jeder »Pazifismus« und jeder »Liberalismus« außerstande, in den Bezirk wesentlicher Entscheidungen vorzudringen, weil er es nur zum Gegenspiel gegen das echte und unechte Kriegertum bringt. Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums aber hat darin ihren Grund, daß die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit, die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im »Geist« verschaffte, ohne die verborgenen Entscheidungsbezirke von sich aus je fassen | zu können. […] (So ist Husserls Schritt zur phänomenologischen Betrachtung unter Absetzung gegen die psychologische Erklärung und historische Verrechnung von Meinungen von bleibender Wichtigkeit – und dennoch reicht sie nirgends in die Bezirke wesentlicher Entscheidungen, setzt vielmehr die historische Überlieferung der Philosophie überall voraus; die notwendige Folge zeigt sich alsbald im Einschwenken in die neukantische Transzendentalphilosophie, das schließlich einen Fortgang zum Hegelianismus im formalen Sinne unvermeidlich machte. Mein »Angriff« gegen Husserl ist nicht gegen ihn allein gerichtet und überhaupt unwesentlich – der Angriff geht gegen das Versäumnis der Seinsfrage, d. h. gegen das Wesen der Metaphysik als solcher, auf deren Grund die Machenschaft des Seienden die Geschichte zu bestimmen vermag. […])
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Überlegungen XII § 26 [69], S. 47: Das Äußerste an Verwüstung ist dann vorbereitet, wenn auch dem Nihilismus im wesentlichen Sinne – als der dünkelhaften Ahnung des Geheimnisses des Seyns aus der weitesten Entfernung zu ihm, die Möglichkeit eines Durchgangs versagt wird und er nicht in seinem metaphysischen Wesen zum Austrag kommt. Überlegungen XII § 35 [79 – 80], S. 54: Die »Bild«- und »Ton«-»Reportage« der Machenschaft ist der planetarische »Mythus« des Vollendungsabschnittes der Neuzeit. Die Welt des abgelegensten deutschen Bauernhofes wird nicht mehr durch das Geheimnis der Gezeiten des Jahres, durch die »Natur« bestimmt, in der noch die Erde waltet, sondern durch das illustrierte Blatt mit der Darstellung von ausgezogenen Film- und Tanzweibern, von Boxern und Rennfahrern und sonstigen »Helden« des Tages. Hier handelt es sich nicht mehr nur um Zerstörung der »Sittlichkeit« und des »Anstandes«, sondern um einen metaphysi-|schen Vorgang, um die Ver-wüstung jeder Möglichkeit des Seyns in das Gemächte des machbaren – her- und vorstellbaren Seienden. Zum elektrischen Pflug und zum Motorrad, das in einer Stunde zur nächsten Großstadt befördert, gehört das amerikanisch aufgemachte »Magazin« und illustrierte Blatt, gehört die Angleichung der Sitten der Bergbewohner an diejenigen des großstädtischen Sport- und Barbetriebs. Überlegungen XII § 36 [80 – 81], S. 55: Aufklärung, Despotismus, schrankenlose Verdummung: sind metaphysisch begriffen ein einziger Vorgang; die Entwurzelung aus dem Seyn, die Ersetzung des Ursprungs durch Machtentfaltung, die Einrichtung auf das Sichbegnügen mit | dem je Vorgestellten – durchgängig die Vormacht des Seienden. Überlegungen XII § 38 [82 – 83], S. 56: Daß im Zeitalter der Machenschaft die Rasse zum ausgesprochenen und eigens eingerichteten »Prinzip« der Geschichte (oder nur der Historie) erhoben wird, ist nicht die willkürliche Erfindung von »Doktrinären«, sondern eine Folge der Macht der Machenschaft, die das Seiende nach allen seinen Bereichen in die planhafte Berechnung niederzwingen muß. Durch den Rassegedanken wird »das Leben« in die Form der Züchtbarkeit gebracht, die eine Art der Berechnung darstellt. Die Juden »leben« bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen. Die Einrichtung der rassischen Aufzucht entstammt nicht dem »Leben« selbst, sondern der Übermächtigung des Lebens durch die Machenschaft. Was diese mit solcher Planung betreibt, ist eine vollständige Entrassung der Völker durch die Einspannung derselben in die gleichgebaute und gleichschnittige Einrichtung alles Seienden. Mit der Entrassung geht | eine Selbstentfremdung der Völker in eins – der Verlust der Geschichte – d. h. der Entscheidungsbezirke zum Seyn.
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Überlegungen XIII § 34 [23], S. 94: Wo die Sinnlosigkeit zur Macht | gelangt und zwar durch den Menschen als Subjektum, den Rechner und Raffer seiner und aller Dinge Berechenbarkeit, da muß die Beseitigung alles Sinnes (d. h. der Frage nach der Wahrheit des Seyns – bzw. ihres Anklangs in der Seiendheit und ihrer Entwerfung) ersetzt werden durch Solches, was allein noch als gemäßer Ersatz zulässig bleibt: durch ein Rechnen und zwar durch das Rechnen mit den »Werten«. Der »Wert« ist die Übersetzung der Wesenheit des Wesens in das Mengenhafte und Riesige, die Auslieferung des Seienden in die Verrechnung. (Werden nun gar diese Werte (durch die nachtretende Philosophie-gelehrsamkeit – d. h. historisch-platonisch) zu Werten »an sich« erklärt und als erschaubare Gegenstände ausgegeben und in riesigen Tafeln und Rangordnungsschematen verrechnet, dann schlägt die Vollendung der Metaphysik zugleich um in die Verwü stung des Denkens, dessen Folge sich als Kulturschwindel zeigt und als Vernutzung der Kultur zu einem Mittel der Propaganda). Überlegungen XIII § 101 [77], S. 133: Daher kann sich auch beider das »internationale Judentum« bedienen, die eine als Mittel für die andere ausrufen und bewerkstelligen – diese machenschaftliche »Geschichts«-mache verstrickt alle Mitspieler gleichermaßen in ihre Netze –; im Umkreis der Machenschaft gibt es »lächerliche Staaten«, aber auch lächerliche Kulturmache. In der anrückenden abendländischen Revolution werden die ersten neuzeitlichen Revolutionen (die englische, amerikanische, französische und ihre Nachspiele) erst auf ihr Wesen zurückgebracht; der »Westen« wird zuletzt und am entschiedensten von ihr ergriffen; so zwar, daß er noch meint, sie zu bekämpfen. Überlegungen XIII § 124 [97], S. 147: Die unsichtbare Verwüstung wird in diesem zweiten Weltkrieg größer (eingreifender) sein als die sichtbaren Zerstörungen. Überlegungen XIII § 128 [109 – 111], S. 155 – 156: Was bedeutet das Erscheinen des riesenhaften Taumels der machenschaftlichen Verwüstung und der von ihr ausgelösten »Taten« gegenüber dem Kommen des letzten Gottes und der ihm zugewiesenen stillen Würde der Erwartung? Aber der Gott – wie denn dieser? Frage das Seyn und in dessen Stille als dem anfänglichen Wesen des Wortes antwortet der Gott. Alles Seiende mögt ihr durchstreifen, nirgends zeigt sich die Spur des Gottes. Wie jedoch wirst du ein Fragender, der das Seyn fragt? Nur durch die Stimme der Stille, die dein Wesen zur Inständigkeit im Da-sein anstimmt und den Gestimmten in das Aufhorchen auf das Kommen erhebt. […] Die Zuversicht ist […] stark genug, das Erschrecken vor der Seinsverlassenheit des Seienden in das Wesen der Zuversicht aufzunehmen. In ihrer Langmut errichtet sie die Großmut gegen die unsichtbare Verwüstung des Wesens des Seyns, | die schon alle losbrechende Zerstörung des Seienden übertroffen hat.
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Überlegungen XIII § 129 [112], S. 157 – 158: Ein Volk kann seine »Zeit« haben, in der es gerade zum Untergang zu spät ist, da ihm die Wesenshöhe fehlt, aus der noch es stürzen müßte. Und wenn dann nur noch die langsame Gewöhnung an das unauffällige Sinken der verborgenen Maße bleibt und die unmerkliche Eingewöhnung in das Verflachen der Ansprüche, dann ist eine Zerstörung »des« Seins im Gange der Zukunft, und alle äußere Verwüstung kann nur noch als das leere Schauspiel eines zu spät gekommenen Nachtrags gelten. […] Überlegungen XIII § 134 [114], S. 159: Zu einer Zeit, da die unsichtbare Verwüstung eingreifender ist als die sichtbaren Zerstörungen, müssen selbst die Wege des täglichen Bedenkens ihre Richtung in das Unsichtbare nehmen. […] Überlegungen XIV [7], S. 174: Heute, will sagen für das Kommen des Kommenden, gilt nur, was im Äußersten steht und was weiß, daß darum gekämpft wird, ob das Menschentum ein Knecht der Verwüstung bleibt oder ob es in einer anders gegründeten Geschichte zum Widerklang der Stimme des Gottes wird. Überlegungen XIV [10], S. 176: Eine neue »Gattung« von »Literatur« macht sich jetzt breit: die Nachmachungen von Nietzsches »Also sprach Zarathustra« mit Hilfe von Wortschwällen, aus Hölderlin und George und Rilke zusammengebraut; gut gemeintes, aber wüstes Zeug, das eine Verherrlichung des »Lebens« und des »Krieges« und von Allem sein will, was Große einmal genannt und geschätzt haben; die verfänglichste Form der geistigen Verwüstung, wo nicht und nie die Spur war einer einfachen und langen Besinnung, wo alles zwischen Urlauten (vermeintlichen) umhertaumelt und Jegliches ins Reden gebracht wird, großtönend und mächtig einherschreitend, Götter anrufend und allwissend und doch nur ein grundloser Traum eines blinden Rausches, der sich als Wissen gebärdet. Überlegungen XIV [31], S. 188 – 189: Wenn der Abscheu gegen das Denken den gleichen Grad erreicht hat wie die Unfähigkeit dazu, dann »machen« die verunglückten Professoren der Medizin und die mißratenen Volksschullehrer die »Systeme« der »Weltanschauung«, was man dann für »Philosophie« hält. Warum bringt jeder Sieg im Seienden über das Seiende notwendig eine Verwüstung des Seyns?
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Überlegungen XIV [41], S. 195: Metaphysik. Alles muß durch die völlige Verwüstung hindurch, der eine Vernichtung in der schärfsten Gestalt der scheinbaren Erhaltung der »Kultur« voraufgeht. Nur so ist das zweitausendjährige Gefüge der Metaphysik zu erschüttern und in den Sturz zu bringen. Die Vernichtung und Verwüstung haben aber selbst noch die Einrichtungsform der Metaphysik (»Ideen« und »Werte«). Überlegungen XIV 79 – 80], S. 218: Man sollte sich nicht allzulaut über die Psychoanalyse des Juden »Freud« empören, wenn man und solange man überhaupt nicht anders über Alles und Jedes »denken« kann | als so, daß Alles als »Ausdruck« »des Lebens« einmal und auf »Instinkte« und »Instinktschwund« »zurückführt«. Diese »Denk«-weise, die überhaupt im voraus kein »Sein« zuläßt, ist der reine Nihilismus. Überlegungen XIV [86], S. 221: Unter dem »Regime« der Sprachverwüstung gilt jedes Bauen als »unnatürlich« und »unorganisch«. Hier öffnet sich überdies ein Durchblick in die Folgerichtigkeit, die allem Bösartigen in höherem Grade eignet. Überlegungen XIV [91], S. 225: Ausdehnung und Vorbereitung und in ihrem Gefolge die Vergemeinerung sind die unüberwindlichen Feinde des Wesenhaften und von hier gedachten »Großen«. Überlegungen XIV [93], S. 226: Eine Lehrerschaft, die der Anstrengung des wahrhaften Denkens und der langen Besinnung ausweicht, darf sich nicht wundern, wenn »das illustrierte Blatt« und »das Kino«, wenn bloße Tabellen und Kurven zu den bevorzugten Bildungsmitteln sich aufschwingen und die Verwüstung des Geistes für den Geist selbst gehalten wird. Überlegungen XIV [119 – 121], S. 242 – 243: Das untrüglichste Zeichen für die Ursprünglichkeit und Gediegenheit eines wesenhaften, geschichtegründenden Meschentums ist sein Bezug zum Wort. Wo dieser Bezug unbestimmt wird und ins Gleichgültige fällt, sind bereits alle Wesensgründe des Volkes erschüttert. Äußere Zerstörungen sind nur späte Folgen einer schon bestehenden Verwüstung. […] Zugleich kommt jetzt die »Hinterhältigkeit« der bolschewistischen Politik an den Tag. Der Jude Litwinowx taucht wieder auf. Zu dessen 60. Geburtstag schrieb der
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Chefredakteur der Moskauer »Iswestija«, der bekannte Kommunist Radeky, folgenden Satz: »Litwinow hat bewiesen, daß er es versteht, nach bolschewistischer Art, wenn auch nur zeitweilig, Bundesgenossen zu suchen, wo sie eben zu finden sind«. […] Auch der Gedanke einer Verständigung mit England im Sinne einer Verteilung der »Gerechtsamen« der Imperialismen trifft nicht ins Wesen des geschichtlichen Vorgangs, den England jetzt innerhalb des Amerikanismus und des Bolschewismus und d. h. zugleich auch des Weltjudentums zu Ende spielt. Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche »Aufgabe« übernehmen kann. x Maxim Maximowitsch Litwinow (1876 – 1951), zunächst Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten der Sowjetunion, dann ab November 1941 Botschafter in Washington [GA, Hrsg.]. y Karl Radek (1885 bis vermutlich 1939), in den zwanziger Jahren Mitglied des Zentralkomitees der KPDSU, Journalist, 1937 in einem Moskauer Schauprozess zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, dann verschollen [GA, Hrsg.].
Überlegungen XV [6], S. 256: Wir haben eine Aufgabe. Die Frage bleibt nur, ob wir selbst es vermögen, diese Aufgabe selbst zu sein: Jeder deutsche Mann ist umsonst gefallen, wenn wir nicht stündlich dafür wirken, daß über die jetzt ganz losgelassene und endgültige Selbstverwü stung des gesamten neuzeitlichen Menschentums hinaus ein Anfang des deutschen Wesens gerettet wird. Überlegungen XV [8 – 10], S. 257 – 258: Der Amerikanismus ist die historisch feststellbare Erscheinung der unbedingten Verendung der Neuzeit | in die Verwüstung. Das Russentum hat in der Eindeutigkeit der Brutalität und Versteifung zugleich ein wurzelhaftes Quellgebiet in seiner Erde, die sich eine Welteindeutigkeit vorbestimmt hat. Dagegen ist der Amerikanismus die Zusammenraffung von Allem, welche Zusammenraffung immer zugleich die Entwurzelung des Gerafften bedeutet. […] Das Russentum ist trotz allem zu bodenständig und vernunftfeindlich, als daß es imstande sein könnte, die geschichtliche Bestimmung der Verwüstung zu übernehmen. Um die Seinsvergessenheit zu übernehmen und als eine solche einzurichten und als Haltung zu beständigen, dazu bedarf es einer im höchsten Grade fertigen und alles berechnenden Vernünftigkeit, die man, wenn man will, auch noch »Geistigkeit« nennen kann. Nur dieser »Geist« bleibt der geschichtlichen Aufgabe der Verwüstung gewachsen. Die Bedientenrolle innerhalb | dieser Verwüstung hat das »Herrenvolk« der Engländer übernommen. Die metaphysische Nichtigkeit ihrer Geschichte kommt jetzt an den Tag. Sie suchen nur diese Nichtigkeit zu retten und leisten damit ihren Beitrag zur Verwüstung.
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Überlegungen XV [12], S. 259: Die Seuche dieses scheinbar selbstverständlichen und überall gültigen Anspruchs auf »Durchsetzung« als Maßstab der Wesenhaftigkeit eines Jeglichen, verdirbt schon die Möglichkeit der Besinnung. Und hier hat schon die Verwüstung begonnen. Was ist dann nach der »Auseinandersetzung« mit Amerika? Überlegungen XV [14], S. 260: Dieser aber ist der Planetarismus: der letzte Schritt des machenschaftlichen Wesens der Macht zur Vernichtung des Unzerstörbaren auf dem Wege der Verwüstung. Die Verwüstung vermag das Unzerstörbare zu vernichten, ohne daran gehalten zu sein, dieses überhaupt je zu fassen. Verwüstung aber untergräbt die Möglichkeit des Wesens eines Anfänglichen. Denn das Unzerstörbare ist nicht das irgendwo vorhandene Beständige, sondern das Anfängliche. Überlegungen XV [17], S. 262: Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern. Überlegungen XV [24, 25 – 26], S. 266 – 267: Verbrechen: das ist kein bloßes Zerbrechen, sondern die Verwüstung von Allem in das Gebrochene. Das Gebrochene ist vom Anfang abgebrochen und in den Bereich des Brüchigen verteilt. Hier bleibt nur noch die eine Möglichkeit des Seins – in der Weise der Ordnung. Das Ordnen ist nur das Gegenspiel des seynsgeschichtlich (nicht etwa juristisch-moralisch) begriffenen Verbrechertumsz. […] Wenn man sich aber in den Glauben an »Christus« rettet, entsteht die Verlegenheit, daß dieser Glaube in der »Philosophie«, die man zu betreiben vorgibt, nicht vorkommen kann. Man nennt sich daher, statt sich als gläubigen Christen zu bekennen und dann auch die »Philosophie« als eine »Torheit der Welt« preiszugeben, einen »unverbesserlichen Platoniker«. Dabei beklagt man sich noch über die Falschmünzerei des Bolschewismus. In | solchem Treiben zeigt sich erst die Verwüstung. z Diese Variationen über das Verb „brechen“ lassen sich nur schwer in andere Sprachen übersetzen.
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Zur Diskussion steht die verwendete Sprache Heideggers, insbesondere der Begriff »Verwüstung«, der, wie gesagt, in den Beiträgen nicht zu finden ist. Bevor wir den Begriff »Verwüstung« näher betrachten, und zwar, damit wir unsere Auslegungen zu Ende führen dürfen, ist vom Begriff »Wüste« auszugehen. Demzufolge soll hervorgehoben werden, wie »Verwüstung« und »Zerstörung« zusammenhängen: beide Begriffe decken sich nicht und sind gar nicht auf die subjektiven Rahmenvorstellungen von Raum und Zeit zurückzuführen. Hier gelte als Ausgangspunkt das Substantiv »Wüste«, das nur in den Überlegungen XII (§ 8) vorkommt. Mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Nietzsche – wenn auch erhebliche Unterschiede zwischen beiden Denkern bezüglich des »Nihilismus« nicht unterschätzt werden dürfen – wird von Heidegger darüber niedergeschrieben: »Die Wüste ist die Versandung und Verstreuung aller Möglichkeiten der wesentlichen Entscheidung«; »Das Abstoßende und Lärmende und Verödende dieses Wüstenhaften darf jedoch die denkerische Auseinandersetzung keinen Augenblick von ihrem Weg abbringen«; dann wird wieder auf die »völlige Entscheidungsbedürftigkeit« in der »Verirrung der Irre« zurückgegriffen – »wenngleich die Durchschreitung der Wüste notwendig ist«. Darüber hinaus sind in den Überlegungen keine weiteren Belege, die uns dar über weitere Auskünfte erteilen. Nun ist aber auf den Begriff »Irre« zurückzukommen, da mit dem Verständnis dessen, wie Heidegger dieses Wort verwendet, vielen Mißverständnissen, zu denen er Anlaß gegeben hat, ein Ende gesetzt wird. Der Begriff »Verwüstung« ist nicht nur in den Überlegungen XIII (§ 10) wie in den Überlegungen XIV ([53, 82, 109]) unauffindbar, sondern auch in den Beiträgen39, in denen er gar nicht auf die Irrfahrt der Hebräer in der Wüste zurückzuführen ist. Man braucht nur die Stellen der Notizbücher und vor allem der Beiträge zu lesen, in denen der Begriff »Wüste« vorkommt, um sich darüber im Klaren zu sein, daß die diesbezüglichen sich vermehrenden Mißverständnisse auf der Unkenntnis der Texte Heideggers beruhen und daß »erhebliche Irrtümer« sich daraus ergeben, die den Texten Heideggers wirklich Gewalt antun40. 39 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, § 87: »Die Geschichte des ersten Anfangs (die Geschichte der Metaphysik)«: »Dieses Wissen ist, weil es den Nihilismus noch ursprünglicher in die Seinsverlassenheit hinabdenkt, die eigentliche Überwindung des Nihilismus, und die Geschichte des ersten Anfangs wird so völlig aus dem Anschein der Vergeblichkeit und bloßen Irre herausgenommen; jetzt erst kommt das große Leuchten über alles bisherige denkerische Werk« (ebd., S. 175); § 226: »Die Lichtung der Verbergung und die ἀλήθεια«: »Jetzt erst auch wird der Ursprung der Irre deutlicher und die Macht und Möglichkeit der Seinsverlassenheit, die Verbergung und die Ver-stellung; die Herrschaft des Ungrundes« (ebd., S. 351), § 259 »Die Philosophie«: »Nur die Kälte der Kühnheit des Denkens und die Nacht der Irre des Fragens leihen dem Feuer des Seyns Glut und Licht« (ebd., S. 430). 40 Der Leser wird ersucht, die von Donatella Di Cesare geleistete Auslegung des Wortes »Wüste« mit Aufmerksamkeit zu lesen: dabei ist er sich sofort darüber im Klaren, daß deren Beschreibung »aufgrund« der Notizbücher gar nicht belegt ist in den Überlegungen XII (§ 8) als einziger beanspruchbaren Quelle. Es gilt, deren Beschreibung vollständig anzuführen, da wir nur so die Tragweite einer Lektüre ermessen können, nach der Heidegger
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Den Ausspruch: »Die Wüste wächst« hat Heidegger von Nietzsche geerbt. Dennoch ist die Frage der »Verwüstung« in diejenige des »Nihilismus« einzufügen, wobei ein erheblicher Unterschied zwischen beiden Autoren nicht ausgelöscht werden darf. Für Nietzsche heißt Nihilismus soviel wie »Entwertung« der höchsten Werte, und damit hält er sich immer auf der Ebene der »Werte«. Ihm gelten die »Werte« als das Sein des Seienden im Sinne dessen Seiendheit. In diesem Sinne fordert Nietzsche »die Umwertung aller Werte«. Nietzsches Perspektive ist offensichtlich ohne Bezug auf die Dimensionen der »Wahrheit«, der »Lichtung«, der »Offenheit« und der »Unverborgenheit« des Seins, wie sie Heidegger versteht. Daraus folgt, daß »Nihilismus« bei Heidegger nie als Entwertung der höchsten Werte zu verstehen ist, sondern als wesendes Ereignis in der Wesung des Seins: das »Nichts« des Nihilismus, das nihil der Verwüstung verhindert, daß ein neuer Anfang in der Wesung der Wahrheit des Seins anhebt. Ist das wesende Ereignis in der Wesung des Seins verwüstet, dann ist der Entfaltung des Seienden in die Offenbarkeit seines eigenen Wesens ein Ende gesetzt. Der ontologische Unterschied im Seienden, oder mit anderen Worten der Unterschied zwischen dem Sein und dem Seienden (»ontologische Differenz«) waltet erst in der zwiespältigen Bewegung, die die Verwüstung der Wahrheit des Seins gegenüber der Zerstörung des Seienden in seiner Verborgenheit begleitet; demzufolge ist Verwüstung gar nicht niemals von ihm gebrauchte Worte, weder in den Notizbüchern noch sonst irgendwo, ihm dennoch zugeschrieben werden. Die Mißdeutung und Verfälschung der Notizbücher wohnt diesen willkürlichen Veranschaulichungen inne: »Trocken, verwüstet, öde, steinig, unwirtlich, unbewohnbar, leblos, null und nichtig, formloser, maßloser und grenzenloser Raum, Sündenpfuhl und Ort der Versuchung, des Bösen und des Dämonischen: so sieht Heideggers Wüste aus, so ist sie« (Donatella Di Cesare, Heidegger e gli ebrei. I „Quaderni neri“, Bollati Boringhieri, Turin 2014, S. 127). Infolge der Verfälschung der Notizbücher will die Verfasserin das Wort Verwüstung eher mit desertificazione wortwörlich übersetzen – und damit bezeugt sie, daß sie den Inbegriff der Distanz zwischen Heidegger und Nietzsche, bei welchem u. a. die Dimensionen der Wahrheit oder der Lichtung usf., wie Heidegger sie versteht, verkennt – weil diese wortwörtliche und dennoch unwahre Übersetzung sich als nützlich zur Unterstützung ihrer eigenen These erweist: »Insofern, als »Verwüstung« auf die »Wüste« hinweist und das betreffende Phänomen, das, politisch bewertet, für Heidegger dennoch von ontologischer Relevanz ist und in die Seinsgeschichte einzuschreiben ist, aus beiden Gründen ist es nicht richtig, [das Wort »Verwüstung«] mit inaridimento oder devastazione zu übersetzen« (ebd., S. 126). Durch diese Schreibart übersieht sie aber noch einmal den Sachverhalt, daß, wenn »Verwüstung« wohl der Seinsgeschichte zugehört, die Bezugnahme auf »Wüste« – und damit was Heidegger mit Nietzsche verbindet – dennoch zugleich überholt wird durch Heideggers Ansatz. Das bedarf aber keiner weiteren Prüfung, da die Verfasserin auf etwas ganz anderes hinaus will, wie ein wenig später ihrem Text zu entnehmen ist: »Darauf kommt es an, auf den Nachklang und die Beschwörung der Wüste zu hören. Es ist naheliegend, daß diese Verwüstung eine weitere Figur des Judentums ist« (ebd., S. 127). Diese erzwungene Einsperrung der »Verwüstung« in der »Wüste« wird sich ihr als nützlich erweisen, um Heideggers Sprachgebrauch durch ihren eigenen Ansatz zu vergewaltigen – und zwar durch einen willkürlichen und in mancher Hinsicht phantasievollen Ansatz – der um jeden Preis ein Vorhandensein des Judentums dem seinsgeschichlichen Denken aufzwingen will.
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dasselbe wie Zerstörung. Mit der Verwüstung entzieht sich jede Möglichkeit einer ursprünglichen Entscheidung41, und damit wird die Dauerhaftigkeit der Entscheidungslosigkeit gesichert. Daß ihr jede Möglichkeit einer ursprünglichen Entscheidung entgeht, ist in dem Sinne zu verstehen, daß diese Entscheidungslosigkeit jede Notwendigkeit einer ursprünglichen Entscheidung begräbt, und zwar dadurch, daß sie ein zufälliges Leben festhält und so versucht, dieses festgehaltene Leben in seiner unveränderlichen Anwesenheit zu behalten. Den Überlegungen XII-XIV können wir die Hauptzüge der »Verwüstung« entnehmen, wie sie von Heidegger berücksichtigt wird: sie ist »der Nachschlag des bereits entschiedenen Endes« (Überlegungen XII, [a]); »Nietzsche hat voraussehend die Wüste dieser Verwüstung betreten, die mit der Unbedingtheit der Machenschaft einsetzt«, »Aber muß erst […] die allerjüngste Verwüstung durchschritten werden ?«, »führt kein Weg von der Wüstung der Wüste […] in die Verwirrung der Irre« (§ 8); »die Unbedürftigkeit gegenüber Entscheidungen, das ungreifbar um sich greifende Anwachsen der Bestimmung zu dieser Lage ist bereits und allein nicht nur die Zerstörung, sondern die Verwüstung« (§ 24); »das Äußerste an Verwüstung ist dann vorbereitet, wenn auch dem Nihilismus im wesentlichen Sinne […] die Möglichkeit eines Durchgangs versagt wird« (§ 26); »die „Reportage“, […] das Illustrierte Blatt mit der Darstellung von ausgezogenen Film- und Tanzweibern […]. Hier handelt es sich nicht mehr um Zerstörung der „Sittlichkeit“ und des „Anstandes“, sondern um einen metaphysischen Vorgang, um die Ver-wüstung jeder Möglichkeit des Seyns in das Gemächte des machbaren – her- und vorstellbaren Seienden« (§ 35); »Wo die Sinnlosigkeit zur Macht gelangt und zwar durch den Menschen als Subjektum, […] da muß die Beseitigung alles Sinnes […] ersetzt werden durch […] das Rechnen mit den „Werten“. […] Dann schlägt die Vollendung der Metaphysik zugleich um in die Verwüstung des Denkens« (Überlegungen XIII, § 34); »Die unsichtbare Verwüstung wird in diesem zweiten Weltkrieg größer […] sein als die sichtbaren Zerstörungen« (§ 124); »das Erscheinen des riesenhaften Taumels der machenschaftlichen Verwüstung«, »die unsichtbare Verwü stung des Wesens des Seyns, die schon alle losbrechende Zerstörung des Seienden übertroffen hat« (§ 128); bezüglich des Volkes »die langsame Gewöhnung an das unauffällige Sinken der verborgenen Maße […] und die unbemerkliche Eingewöhnung in das Verflachen der Ansprüche«, und damit »im Gange der Zukunft« »eine Zerstörung „des“ Seins und alle äußere Verwüstung« (§ 129); in Zusammenhang mit dem 124. Abschnitt wird von Heidegger noch einmal hervorgehoben, wie »die unsichtbare Verwüstung eingreifender ist als die sichtbaren Zerstörungen« (§ 134); darum werde gekämpft, »ob das Menschentum ein Knecht der Verwü 41 M. Heidegger, Metaphysik und Nihilismus, in: Gesamtausgabe, Bd. 67, Abt. 3: Unveröffentlichte Abhandlungen, hrsg. v. H.-J. Friedrich, Klostermann, Frankfurt a. M. 1999, § 136 »Das Nichts und die Ver-wüstung«, S. 146: »Wüste: die Beständigkeit der Verwehrung des Anfangs. Die Ver-wüstung als die Sicherung der Dauerhaftigkeit einer vollständigen Entwurzelung von allem, so zwar, daß alles Bisherige doch erhalten bleibt; daß man sich zu Zwecken der Ver-wüstung um die „Kulturpolitik“ bemüht«.
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stung bleibt oder ob es in einer anders gegründeten Geschichte zum Widerklang der Stimme des Gottes wird« (Überlegungen XIV, [7]); mit Bezug auf die Instrumentalisierungen von Also sprach Zarathustra: »die verfänglichste Form der gei stigen Verwüstung, in der nicht und nie die Spur war einer einfachen und langen Besinnung, wo alles […] umhertaumelt« ([10]); »bringt jeder Sieg im Seienden über das Seiende notwendig eine Verwüstung des Seyns« ([31]); die »völlige Verwü stung«, die eine Vernichtung in der schärfsten Gestalt der scheinbaren Entfaltung der „Kultur“ voraufgeht« ([41]); »Unter dem „Regime“ der Sprachverwüstung gilt jedes Bauen als „unnatürlich“ und „unorganisch“« ([86]); in Zusammenhang mit dem 35. Abschnitt führt Heidegger noch einmal seine Überlegungen aus und nimmt zur Kenntnis, »wie „das illustrierte Blatt“ und „das Kino“ […] zu den bevorzugten Bildungsmitteln sich aufschwingen und die Verwüstung des Geistes für den Geist selbst gehalten wird« (Überlegungen XIV, [93]); »Äußere Zerstörungen sind nur späte Folgen einer schon bestehenden Verwüstung« ([119]); wir sollten dafür wirken, »daß über die jetzt ganz losgelassene und endgültige Selbstverwü stung des gesamten neuzeitlichen Menschentums hinaus ein Anfang des deutschen Wesens gerettet wird« (Überlegungen XV [6]). Nach diesem langen Überblick ist eine Pause in unserem Gedankengang zu machen aufgrund einer kurzen Stelle der Überlegungen XV [8 – 11, 12]. Heidegger fällt ein, daß die Verwüstung nicht nur die Neuzeit bestimmt, sondern deren »historische feststellbare Erscheinung« träte mit dem Amerikanismus auf; die »Bedientenrolle« innerhalb der Verwüstung übernehme aber »das „Herrenvolk“ der Engländer«. Wohl ist das eine historische und als solche fragwürdige Ansicht. Diese ist aber von Belang, um Heideggers Ansicht der Neuzeit sowie der ihr innewohnenden Verwüstung zu umgrenzen: über deren Sichtbarkeit in der vom Wesen des Nationalsozialismus untrennbaren Zerstörung hinaus kommt die Verwüstung in der Neuzeit dem Nationalsozialismus zuvor und tritt schon auf, sobald man einem nicht mehr im Sein gegründeten Denken erliegt. Die Zerstörung ist nur die historische Erscheinung einer von weither kommenden Verwüstung, und desto »eingreifender« ist sie; in mancher Hinsicht ist Heideggers Kritik an der Neuzeit nur der Endpunkt einer Überlegung, die es nicht bei »seiner Zeit« bewenden lassen will. Die an den Engländern und an deren Rolle im Weltkrieg geübte Kritik ist m. E. eine darauf hinweisende Warnung, daß die historischen »sichtbaren« Zerstörungen nur der Vordergrund sind: nicht darauf kommt es an, auf dieser Ebene eine Lösung zu finden für das, was »passierte«. Die Grundfrage bleibt auf einer viel tieferen Ebene, und als solche für Viele unsichtbar, nämlich eine Verwüstung, die aufgrund der Zerstörung unzugänglich bleibt. Die Auswirkungen der Zerstörung führen unvermeidlich dazu, die Möglichkeit einer Zusammengehörigkeit des Seins des Seienden unüberwindlich zu behindern, als dann darauf geachtet wird, daß das Seiende steif und fest auf seiner Seiendheit beharrt. Zerstört wird nicht etwas Sichtbares, Quantifizierbares: es bleibt alles wie sonst, nur von einer neuen Geistigkeit verändert, die lediglich den neuzeitlichen Menschen auffordert, in der Entscheidungslosigkeit und im gesprächigen Taumel seines leeren Besitztums dahinzuleben. Die dem Zerstörungsvorgang innewohnende Vorherrschaft des Sei-
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enden mag wohl aufrechterhalten werden, unter der Voraussetzung, daß der Wahn der Vernünftigkeit die verheerenden Auswirkungen der unaufhaltsam auftretenden Verwüstung nicht vernimmt. Im Hintergrund besteht nicht nur die ontologische Differenz zwischen Verwüstung und Zerstörung, sondern der eingreifendere Vorrang jener über diese. Ferner sieht Heidegger in den Engländern wie in Amerika den scheinbar selbstverständlichen und überall gültigen Anspruch »auf „Durchsetzung“ als Maßstab der Wesenhaftigkeit eines Jeglichen« (Überlegungen XV [12]). Das durch den Kriegszustand in Gang gekommene historische Geschehen bedarf nach Heidegger einer anderen Hinsicht, falls eine geschichtliche Zukunft zu bauen ist. Ungenügend bleibt es, nur die historische Verflachung zu beheben: erforderlich ist eine völlige Neu-orientierung über die offensichtliche sichtbare Zerstörung hinaus. Seine Überlegungen über die »Verwüstung« führt Heidegger in weiteren Stellen der Überlegungen XV aus: »Verwüstung aber untergräbt die Möglichkeit des Wesens eines Anfänglichen« ([14]); »Verbrechen: das ist kein bloßes Zerbrechen, sondern die Verwüstung von Allem in das Gebrochene. Das Gebrochene ist vom Anfang abgebrochen und in den Bereich des Brüchigen verteilt« ([24]); schließlich sind das Retten in den Glauben an »Christus« sowie das sich Beklagen über die Falschmünzerei des Bolschewismus« ein ungeeignetes Treiben: »In solchem Treiben zeigt sich erst die Verwüstung« ([26]). Diese lange Untersuchung, die wir so knapp wie möglich dargelegt haben, wich aber gar nicht von unserem Thema ab: damit können wir besser verstehen, wie Heideggers Übersetzungen sich auf zwei Ebenen entfalten: einerseits auf der Ebene der Verwüstung, andererseits auf derjenigen der Zerstörung, die in ihrer Sichtbarkeit die Täuschung erzeugt, deren Auswirkungen der allerletzte Horizont sind, wenngleich das Vordergründige nur die Folge einer viel tieferen Verwüstung bezüglich der Seinsfrage ist. Wo befindet sich Heidegger in einem solchem Szenario ? Hineinragend ist dessen Fragen, das sich ein Ziel gesetzt hat: »Aber muß erst, bevor wir und die Künftigen in der „uralten Verwirrung“ inständig zu werden vermögen, die allzunahe Verwüstung durchschritten werden ?« (Überlegungen XII, § 8). Das Durchschreiten der Verwüstung ist von größerer Tragweite als das Feststellen der bloßen Zerstörung: es erweist sich als unmöglich, sich auf die Bilder einer lediglich kategorialen Weltanschauung zu beschränken, weil diese zum Entscheidungsbereich des Seins nicht gelangen. Um Gestalt anzunehmen, erfordert die Entscheidung nicht nur die Inständigkeit im Fragen nach dem Sein, wohl aber auch die Ausdauer des Sich-aussetzens der Wesung der Wahrheit des Seins. Das Grundproblem wohnt der kategorialen Weltanschauung inne und besteht, solange man innerhalb der »vertrauten Begriffe wie „Heimat“, „Kultur“, „Volk“, aber auch „Staat“ und „Kirche“, aber auch „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“« bleibt (Überlegungen XII, § 24). Diese Bereiche stellen feste Orte dar und verstärken die Machenschaft des Seienden in seiner historischen Einwurzelung. Was wird aber dadurch verstärkt und aufrechterhalten ? Die Sinnlosigkeit. Durch den »Menschen als Subjektum« – als »„Rechner“ und „Raffer“ seiner und aller Dinge
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Berechenbarkeit« (§ 34) – kommt die Verwüstung des Denkens zum Durchbruch. In diesem genau abgegrenzten Rahmen wird der Mensch als Subjektum zum Mittelpunkt des Seienden. Nach Heidegger verursacht eine solche Macht die Verwü stung des Denkens42. Mit der Berücksichtigung einiger Stellen der Überlegungen XII (§§ 24, 38), XIII (§ 101), XIV ([121]) und XV ([17]) gelangen wir an das Ende dieser Abteilung. In den Überlegungen XII (§ 24) geht die »Machtsteigerung des Judentums« dem Rückgriff auf das Thema Judentum voran, und »hat darin ihren Grund, daß die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit, die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im „Geiste“ verschaffte, ohne die verborgenen Entscheidungsbezirke von sich aus je fassen zu können« (§24, [67 – 68]). Der Ausführung dieses Ausdrucks zufolge müssen wir dem Rechnung tragen, daß er einem Kontext zugehört, in dem die Meisterleistungen des »abendländischen Menschen« und der Tatbestand, daß »neue Bezirke wie „Heimat“, „Kultur“, „Volk“, aber auch „Staat“ und „Kirche“, aber auch „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“« »als der Ort, wo für die Masse „das“ Glück« sich darin erschöpft, ohne Entscheidungen auszukommen, und in der Meinung sich betäuben, immer mehr in ihren Besitz und Genuß zu bringen« ([64]). Es erweist sich als unmöglich, die Tragweite der Bezugnahme auf das »Judentum« zu ermessen, ohne den Beginn des 24. Abschnitts zu berücksichtigen. Von viel größerer Tragweite ist Heideggers Überlegung: dabei wird auf das »Judentum« wie auf das dann verbreitete Stereotyp von dessen »Rechenfähigkeit« zurückgegriffen, aber die Berechenbarkeit betrifft die Neuzeit überhaupt als Zeitalter der Rationalität und der Metaphysik in ihren überlieferten Formen (»Ideen« und »Werte«). In diesem 24. Abschnitt sagt Heidegger ausdrücklich: »Die zeitweilige Macht steigerung des Judentums aber hat ihren Grund darin, daß die Metaphysik des Abendlandes […] die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit« (§ 24, [67]); es genügt aber nicht, die Struktur dieser Überlegung aus ihrem Kontext herauszureißen, wie in der vermeintlichen Veranschaulichung von Donatella Di Cesare: »In diesem gähnenden Abgrund wird der Jude mit dem metaphysischen Feind gleichgesetzt«43. Der Tatbestand, daß die Rechenfähigkeit ihren Grund in der Metaphysik des Abendlandes hat, gilt für Heidegger als ein zureichender Grund, um die Unmöglichkeit eines Verständnisses des Entscheidungsbereichs hervorzuheben; sonst bleibt unverständlich, warum der echte Grund seiner Distanz zu Husserl im Abschluß des 24. Abschnitts zu Tage tritt: in Heideggers Sicht ist sein »Angriff« gegen Husserl gar nicht gegen ihn allein gerichtet: sein »Angriff« »geht gegen das Versäumnis der Seinsfrage, d. h. gegen das Wesen der Metaphysik als solcher«. So ist die Bezugnahme auf das 42 Der 34. Abschnitt der Überlegungen XII ist aus den 260. u. 261. Abschnitten der Beiträge zu vertiefen, bzw. »Das Riesenhafte« und »Das Meinen des Seyns«: siehe M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, bzw. S. 441 – 443 u. 443 – 446. 43 D. Di Cesare, Heidegger e gli ebrei, S. 99.
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»Judentum« auf einen viel weiteren Kontext zurückzuführen, wobei der Bereich wesentlicher Entscheidungen berücksichtigt wird; nur mit äußerster Gewalt wird also diese Bezugnahme mit einem metaphysischen Deckmantel verstellt und in die Metaphysik des Abendlandes zwangsweise gerückt. Wie dem auch sei, ist diese verfälschende Fehldeutung in den Überlegungen XII (§ 24) gar nicht bezeugt; um dem »Juden« einen metaphysischen Deckmantel anzulegen und so einen metaphysischen Zusammenprall – zwischen Heidegger und dem »Juden« – zu inszenieren, wird da der Trick bedient, das Wort »Feind« ausfindig zu machen, das in den Überlegungen und Winken III (§ 79) des Bandes 94 mit ziemlicher Mühe aufgestöbert wurde: »Wo steht der Feind und wie wird er geschaffen ? Wohin der Angriff ? Mit welchen Waffen ?«, wie in den Überlegungen VI (§ 91): »Der Philosophie verschrieben steht der Denker gegen einen Feind (das Unwesen des Seienden, das […] sich als zugehörig zu dem erweist, dem der Denker von Grund aus der Freund sein muß (das Wesen des Seyns)«44. Diese Extrapolierung dient dazu, die folgende Thesis zu unterstützen: »Dem Philosophen obliegt es, tief verwurzelt im Boden des Seins zu bleiben, um den Konflikt ans Licht zu bringen, um eine Verwirrung zu entwirren«45. Mit Absicht wird das Wort »Denker« hier durch »Philosoph« übersetzt, da der metaphysische Zusammenprall vom Philosophen gelöst werden und in seinem Zuständlichkeitsbereich bleiben soll. Hätte die Verfasserin den 91. Abschnitt weitergelesen, dann hätte sie bemerkt, wie Heidegger all diejenigen scharf kritisiert, die nur »von außen« auf die Philosophie zurückgreifen, die »naschen«, oder kritisiert er eher all diejenigen, die die Philosophie für ihren eigenen Bedarf benutzen: so verfahrend wird man m. E. letztlich zu einem Bettler des Sinnes. Erstaunlicherweise griff die Verfasserin zum Band 94, ohne dessen gewahr zu werden, daß der Kontext, in dem »Feind« eingeführt wird, sich mit dem Nationalsozialismus befaßt und daß kein Hinweis besteht, in dem das Wort »Jude« auf »Feind« zurückzuführen wäre. Ungeachtet dessen hat sie darauf bestanden, daß der »Jude« mit dem »Feind« gleichzusetzen ist und daraus folgt – ihrem Ansatz nach – daß Heidegger zum Henker wird, der den Juden als den Verantwortlichen für die Entwurzelung angreifen will, obwohl es ausgereicht hätte, beim Text des Bandes 96 zu verbleiben, um den Sinn dieses Wortes bei Heidegger zu begreifen: »Ausdehnung und Vorbereitung und in ihrem Gefolge die Vergemeinerung sind die unüberwindlichen Feinde des Wesenhaften […]« (Überlegungen XIV [91]); »Das Russentum ist […] zu bodenständig und vernunftfeindlich« (Überlegungen XV [100]). Das möge genügen, um auf die Gefahr aufmerksam zu machen, der man nicht vorbeugt, wenn eine In strumentalisierung der Notizbücher dadurch entsteht, daß man schweifenden und willkürlichen Verallgemeinerungen aus manchen Textstellen freien Lauf läßt, um seine eigenen Vor-urteile zu erhärten. So entsteht eine riesenhafte Verfälschung der Quellen. Ferner ist der Abschluß der Überlegungen XIV [121] – »Die Frage 44 Ebd., S. 100: »Der Feind ist das Unwesen des Seienden, das ohne die Kampfhandlungen einzustellen, sich dem Philosophen offenbart als Wesen des Seins«. 45 Ebd.
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nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit« – weit entfernt von den abwegigen Denkweisen des Mythos der Rasse, auf den der Nationalsozialismus es absah. Der Verweis auf »die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit« will nicht sagen, daß dem Weltjudentum ein metaphysischer Grund zugeschrieben wäre, sondern eher, daß Heideggers Überlegungen hermeneutisch zu lesen sind im Lichte der ontologischen Differenz wie der Kritik an unterschiedlichen Epochen der Metaphysik: unumgänglich ist es, um klar und eindeutig zu begreifen, daß »die völlige Entwurzelung des Seienden aus dem Sein« keineswegs ausschließlich und nicht mit ernstem Tone dem »Judentum« noch dem »Weltjudentum«, geschweige denn dem »Juden« zuzuschreiben ist: in den Notizbüchern ist nirgendwo die geringste Spur davon zu finden, daß Heidegger dem Juden ein metaphysisches Wesen zugeschrieben hätte. Diese Instrumentalisierung weiterführend ragt, wie in einem Gebirge, ein weiterer Interpretationsfehler hervor, der darin besteht, eine Ausrede zu suchen, um das Unbeweisbare zu beweisen. Ein konstantes Merkmal ist es in den Nachworten des deutschen Herausgebers der Notizbücher. So behauptet er z. B. im Nachwort des Bandes 96: »Die Art und Weise, mit der Heidegger die „machenschaftlichen Zeichen“ betrachtet, darf allerdings nicht als politische Stellungnahme verstanden werden. Es geht vielmehr um eine seinsgeschichtliche Bestandsaufnahme der Geschehnisse, in der Heidegger einen besonderen Gesichtspunkt einnimmt. So versteht er die zunehmende Entfesselung der Kriegsereignisse als die „Vollendung der Technik“, deren „letzter Akt“ sein werde, „daß sich die Erde selbst in die Luft“ sprenge und das „jetzige Menschentum“ verschwinde. Das aber sei „kein Unglück“, sondern die erste Reinigung des Seins von einer tiefsten Verunstaltung durch die Vormacht des Seienden«46.
Aufgrund der »Reinigung des Seins« (Überlegungen XIV ([113])), die aber nur den Ausgangspunkt einer Überlegung darstellt, fährt er anschließend fort mit einer Anhäufung von Auszügen aus den Überlegungen XII und XV – in denen Bezugnahmen auf »Judentum« und »Weltjudentum« zu finden sind, die wir in ihre jeweiligen Kontexte eingehend eingefügt haben – dann nimmt er den Begriff »Reinigung« wieder auf, den er so benutzt: »In solchen Äußerungen über das „Judentum“ zeigt sich, wie sehr Heidegger sich in seinen Gedanken von einer „Reinigung des Seins“ verstrickt«47.
Was für weitere Ausreden dieser erstellte Zusammenhang zwischen »Reinigung« und »Judentum« verursacht haben mag, damit die riesenhafte Maschine der Instrumentalisierung wieder in Gang gebracht werde, ist für alle zu ersehen48. 46 P. Trawny, Nachwort des Herausgebers, in: M. Heidegger, Überlegungen XII – XV (Schwarze Hefte 1931 – 1941), S. 281. 47 Ebd., S. 282 – 283. 48 Vgl. D. Di Cesare, Heidegger e gli ebrei, § 24 »Der Jude und die „Reinigung“ des Seins«, S. 212 – 217. Im Anschluß an Trawnys Nachwort nimmt die Verfasserin die betreffende Passage der Überlegungen XIV ([113]) wieder auf, um ein Blitzlicht auszulösen, womit sie
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Was aber »Reinigung des Seins« bedeutet, wird uns klar aufgrund der Beiträge: »Die Überwindung des Platonismus in dieser Richtung und Art ist eine geschichtliche Entscheidung von weitestem Ausmaß und zugleich die Begründung einer gegenüber der Hegelschen andersartigen philosophischen Geschichte der Philosophie. (Was in »Sein und Zeit« als »Destruktion« entfaltet ist, meint nicht Abbau und Zerstörung, sondern Reinigung in der Richtung des Freilegens der metaphysischen Grundstellungen. Aber dies alles ist im Blick auf den Vollzug von Anklang und Zuspiel nur das Vorspiel.)«49
Vom deutschen Herausgeber des Bandes 96 der Gesamtausgabe – der sich für eine antisemitische »Kontamination« des seinsgeschichtlichen Denkens ab 1936 einsetzt, somit auch der Beiträge – hätte man erwarten dürfen, daß er in seinem Nachwort diese Stelle berücksichtige, aber – bei näherer Betrachtung – damit wäre die ganze Reihe seiner Behauptungen unterbrochen worden, die sich lediglich als unvollständige Skizzen darstellen, in der Absicht, Zweifel zu streuen, die als solche nicht auszuräumen sind, da sie mit den Texten Heideggers nicht zusammenhängen.
5. Anmerkungen IV – Schwarze Hefte 1942 – 194850 5.1. Heidegger das Wort erteilen: »Ich nenne dies nicht zur Verteidigung, nur als Feststellung« In der vorliegenden Abteilung findet der Leser einen anderen Ton: ausgehend von den in den Bänden 94 bis 96 versammelten Überlegungen kommen wir jetzt zu den Anmerkungen des Bandes 97, in denen Heidegger — ganz unmittelbar mit einem direkten Schreibstil – manche private Elemente wiedergibt über eine historische Periode, die von der grimmigen Brutalität Hitlers geprägt wurde. Mit Hilfe dieser Elemente dürfen wir die oft verhängnisvollen Stereotypen auf ihr gerechtes Maß zurückführen, die die Figur Heideggers durch eine politische Lektüre manipulieren wollten. Die Auszüge, die wir nachstehend daraus zitieren, sprechen für sich: die Klarheit dieser Anmerkungen macht denjenigen, der sich mit ihnen auseinandersetzt, offen gestanden sprachlos – oder besser gesagt würde jeden sprachlos machen, der nicht wüßte, daß diese Anmerkungen von Heidegger geschrieben sind. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, daß zahllose Mißverständnisse den ihren Absatz abschließt: »Während er [=Heidegger] zu Beginn der 40er Jahre „Reinigung des Seins“ niederschreibt, ist diese „Reinigung“ schon zur Vernichtung geworden«. Diese Behauptung ist nicht eingehend zu prüfen, da wir jetzt an einem Punkt sind, wo der unheilbare willkürliche Gebrauch von losen Ausdrücken von Heidegger zum Durchbruch kommt, und zwar mit der Absicht, den Denker in eine Borderline-Hermeneutik einzusperren. 49 Ebd., § 110 »Die ἰδέα, der Platonismus und der Idealismus«, S. 221. 50 M. Heidegger, Anmerkungen I – V (Schwarze Hefte 1942 – 1948), in: Gesamtausgabe, Bd. 97, Abt. 4: Hinweise und Aufzeichnungen, hrsg. v. P. Trawny, Klostermann, Frankfurt a. M. 2015.
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Verfasser dieser Anmerkungen müde gemacht haben, die er noch zu überwinden hat, weshalb er über wesentliche Daten seines Lebensweges eine Bilanz zu ziehen nötig findet. So ist es wichtig, daran zu erinnern, daß diese Abteilung keinen Anspruch darauf erhebt, eine Verteidigung von Heidegger zu sein; wir halten uns an dessen Anmerkungen und nehmen den ihn leitenden Grundsatz an, als er ein Zeugnis seiner Beziehung zum Juden Husserl in der Form eines schriftlichen Nachweises niederschrieb: »Ich nenne dies nicht zur Verteidigung, nur als Feststellung« (Anmerkungen V [52 – 54]). Eine aufmerksame Lektüre der Anmerkungen hat sich als entscheidend erwiesen, um festzustellen, daß die »Erläuterungen« dieser Abteilung »nicht für die Öffentlichkeit sind«, nicht für die aufdringliche Personenkategorie, die unverschämt plündert, dennoch wohl wissend, daß sie nichts anderes finden kann als die Anmaßung ihrer eigenen Ungläubigkeit: »Aber die Herrschaft der öffentlichen Meinung ist schon so diktatorisch, daß jede Überlegung dieser Art einfach als „nazistisch“ erklärt und damit unwirksam gemacht wird« (Anmerkungen V [49]). Zunächst sei aber eine Bestandsaufnahme mancher Textübereinstimmungen vorgenommen, die uns hilfreich sein mag: Hitler: die »geheime Brutalität51« – »die diejenige Hitlers weit übertrifft« (Anmerkungen I [127]); Kontext: »der Fall meiner Professur«); »der eigentliche Irrtum des „Rektorats 1933“ war nicht so sehr, daß ich, wie andere Klügere, nicht „Hitler“ in seinem „Wesen“52 erkannte […] sondern daß ich meinte, jetzt sei die Zeit, nicht mit Hitler […] anfänglich-geschichtlich zu werden« (Anmerkungen I [149]); »[…] handelt es sich nicht darum, ob Hitler oder Mussolini oder sonstwer „Recht“ behält oder nicht, sondern daß erfahren wird […], daß das künftige Geschlecht« die »Chance« bekommt, »zu erfahren, was ist und zu seyn im: Seyn« (Anmerkungen II [29]); »Hitler und seine Helfershelfer […]«, »ist Hitler nicht geschicklich „gerechtfertigt“53« (Anmerkungen II [62 – 63]); »stehen wir etwa nicht am Abgrund ? […] und nicht nur seit gestern, und schon gar nicht „durch“ Hitler, sowenig wie „durch“ Stalin oder „durch“ Roosevelt« (Anmerkungen II (62 – 72]); Kontext: »„Meine Philosophie“ […] sei „die Philosophie des Abgrunds“«, darauf fragt Heidegger zurück); »Nachträglich wundern sich die Herren an der Universität und an den höheren Schulen darüber, weshalb die „Hitlerjugend“ in den Schulen 51
Der hier auf Hitler bezogene Begriff »Brutalität« (Anmerkungen I [127]) wurde kurz vorher auf das Dritte Reich bezogen: »in der stumpfen Brutalität des „Dritten Reiches“« (Anmerkungen I [126]). 52 Das »Wesen« Hitlers ist im Nachfolgenden als »unverantwortliches Unwesen« ausgezeichnet (Anmerkungen III (46]). 53 Kurz vorher hatte Heidegger niedergeschrieben: »soll in keiner Weise der „Nationalsozialismus“ – d. h. dessen gleichfalls kaum unüberbietbare Ahnungslosigkeit „gerechtfertigt“ werden« (Anmerkungen II [40 – 41]) (s. unten S. 175). Diese Bezugnahme auf Hitler sowie auf den Nationalsozialismus – damit alles in Betracht gezogen werde – ist eine unbestreitbare Tatsache, die jegliche Zweifel über Heideggers diesbezügliche Stellungnahme beseitigen dürfte.
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solchen Einfluß gewinnen konnte« (Anmerkungen II [78 – 79]); »das unverantwortliche Unwesen, mit dem Hitler in Europa umhertobte. Stalin braucht nur ein Geringes mehr an Klugheit ins Spiel zu bringen als Hitler […]. Hitler ist zur Katastrophe geworden […]«. Hitler war »doch selber nur ein Merkzeichen des Weltalters« (Anmerkungen III [46 – 47]); Kontext: »das ratlose Gezappel […], mit dem heute die „Westmächte“ Europapolitik machen«); »Vielleicht kommt eines Tages doch jemand dahinter, daß in der Rektoratsrede von 1933 der Versuch gemacht wurde, […] Wissen als Wesenswissen wieder ans Denken zu bringen, nicht aber an Hitler auszuliefern (Anmerkungen III [57 – 58]); »den verbrecherischen Wahnsinn Hitlers« (Anmerkungen V [21]); »das verbrecherische Wesen Hitlers […]«, schwer sei zu erörtern, ob unter denjenigen, »die für Hitler waren […]«, »einige von diesen […] gegen Hitler« waren (Anmerkungen V [48 – 49]); niemals wurde, »wie vorgeschrieben und auch in den übrigen Seminaren befolgt worden ist, ein „Führerbild“ aufgehängt« (Anmerkungen V [53]). Nazi-/Nati-: »Die Meinung, sich an einem Volk rächen zu können und deshalb sich rächen zu müssen, schlägt auf uns zurück. Was haben wir auf die nationalsozialistische Verblendung zu antworten […] ?« (Anmerkungen I [75]; es besteht gar kein Zweifel, daß das hier gemeinte Volk das jüdische Volk ist); »der Terror der wütenden Gewalt, die „Leben“ auslöscht und verwüstet, bleibt grausig. […] Der Terror der rohen Gewalt und öffentlichen Verwüstung ist dumm« (Anmerkungen I [113 – 114]); »Heute gibt es gebildete und angeblich einsichtige Deutsche, die meinen, wenn der Militarismus und der nationalsozialistische Terror beseitigt seien, das „Dichten und Denken“ im Volk von selbst erwache, wobei man „Dichten und Denken“ immer noch in der Prägung des Bisherigen, zumal des „verruchten Naziregimes“« auffaßt (Anmerkungen I [126]); »unvermeidliche Folgen des Terrorregiments« (Anmerkungen I [129]); »die massive Brutalität des geschichtslosen „Nationalsozialismus“« (Anmerkungen I (134]); »das aufgespreizte Gerede eines vormaligen nationalsozialistischen Schriftstellers und Zeitungsmachers« (Anmerkungen I [135]; Kontext: jene, »die sich für das Abgestandene dadurch legitimieren, daß sie beiseite gestanden«, so Sternberger); »die Greuel des Nationalsozialismus« (Anmerkungen I [149]); »die Verwilderung des Nationalsozialismus. […] die anderen erneut bereit zum Nationalsozialismus sich erklären« (Anmerkungen I [151]); »dann hätte „man“ erkennen müssen, daß der sogenannte Nationalsozialismus […] von einer ganz anderen Wirklichkeit angetrieben war und daß niemand frei und wissend« genug war (Anmerkungen II [28]; Kontext: »in meinem Schritt 1933«; »Der „Nationalsozialismus“ und „Faschismus“ wären, wenn es geglückt wäre, ein Weg gewesen, „Europa“ und seine „Bildung“ und seinen „Geist“ für den „Kommunismus“ reif und bereit zu machen« (Anmerkungen II [31 – 32]); »Man kann sich nicht laut genug entrüsten über den Zerfall der „Wissenschaft“ und der „Wahrheit“ während der Herrschaft des Nationalsozialismus« (Anmerkungen II [39]); »soll in keiner Weise der „Nationalsozialismus“ – d. h. dessen gleichfalls kaum überbietbare geschichtliche Ahnungslosigkeit „gerechtfertigt“ werden […]. Es ist […] verantwortungslos, über den Nationalsozialismus herzufallen, ohne sich je einen ernsthaften Gedanken über
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den „Sozialismus“ zu machen […]. Man rümpft die Nase über die „Nazis“ und ihren Terror und hängt sich an alles Vordergründige und unleugbar Scheußliche der einzelnen Parteifunktionäre […]« (Anmerkungen II [40 – 41]); »der Irrtum von 1933 […] bestand nicht darin, daß ein Versuch gewagt wurde mit dem „Nationalsozialismus“« (Anmerkungen II [58]); »es sollte im vorhinein nicht beim Nationalsozialismus als solchem bleiben, als einer Einrichtung für die Ewigkeit. […] Daß die jetzt in Deutschland in Gang gebrachte Tötungsmaschinerie […] nur die „Strafe“ für den Nationalsozialismus sei, […] möge man wohl eine Zeit lang einigen Törichten glauben machen« (Anmerkungen II [59 – 60]); »„Katholische Philosophie“ – das ist nicht viel anders als „nationalsozialistische Wissenschaft“« (Anmerkungen II [75]); »Man „entnazifiziert“ kräftig und ahnt nicht im Entferntesten, daß man mit der eigenen „Wissenschaft“ seit Jahrzehnten Schlimmeres betrieben hat, als es die törichten Redereien der Partei vermochten« (Anmerkungen II [78 – 79]); »bei der heutigen Zerrüttung der Atmosphäre des Denkens, aus welcher Zerrüttung der „Nationalsozialismus“ sehr rasch und unaufhaltsam eine der Abirrungen ins Verbrecherische54 wurde« (Anmerkungen II (39]); »Im „Nationalsozialismus“, d. h. in der erbärmlichen Abirrung seines Wesens, wurde „der Geist“ nur verachtet« (Anmerkungen II [154 – 155]); »Warum ließ denn die Partei in allen Dozentenlagern diese Rede bekämpfen ? Doch wohl nicht deshalb, weil sie, wie die Weltöffentlichkeit vorgibt, die Universität an den Nationalsozialismus verraten hat« (Anmerkungen III [58]); »Die Nietzsche-Vorlesungen sind weder eine Rechtfertigung des Nationalsozialismus, noch ein Angriff auf das Christentum« (Anmerkungen IV [100]); »die Herrschaft der öffentlichen Meinung ist schon so diktatorisch, daß jede Überlegung dieser Art einfach als „nazistisch“ erklärt und damit unwirksam gemacht wird« (Anmerkungen V [49]); »sowenig wie je ein nationalsozialistisches Buch, z. B. Rosenberg und dergleichen angeschafft« wurde (Anmerkungen V [53]; Kontext: die Zeit des Rektorats). Jude/Christ/Kz: »Diese [= die Judenschaft] ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung. […] Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken in das verborgene anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes das Andenken an den ersten Anfang im Griechentum bedeutet, das außerhalb des Judentums und d. h. des Christentums geblieben« ist (Anmerkungen I (29 – 30]); »Der Terror des endgültigen Nihilismus ist noch unheimlicher als alle Massivität der Henkerknechte und der Kz« (Anmerkungen I [89]); »eine noch wesentlichere „Schuld“ und eine „Kollektivschuld“, deren Größe gar nicht – im Wesen nicht einmal am Greuelhaften der „Gaskammern“ gemessen werden könnte […]; eine Schuld – die gewiß künftig keiner je entschuldigen dürfte. […] daß jetzt schon das deutsche Volk und Land ein einziges Kz ist« (Anmerkungen I [151]); »Ich habe nie das Geringste gegen Husserl unternommen. Seine Werke sind niemals aus der Seminarbibliothek entfernt worden, wie das für 54 Das Adjektiv »verbrecherisch« wurde schon in zwei Bezugnahmen auf Hitler angewendet: »der verbrecherische Wahnsinn Hitlers« (Anmerkungen V [21]; »das verbrecherische Wesen Hitlers« (Anmerkungen V [49 – 49] (s. oben S. 175).
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jüdische Autoren vorgeschrieben war; […] Es ist nie ein Wort der Kritik […] gefallen, weder in den Vorlesungen noch in den Übungen. Ich bin an Husserl vorbeigegangen; das war eine schmerzliche Notwendigkeit. […] Mir scheint aber, daß meine Versuche seit „Sein und Zeit“ das würdigste Zeugnis für das sind, was ich Husserl verdanke »– […], daß ich nicht sein Anhänger blieb […]. Aber genau dies verstieß gegen die Hausordnung, lange bevor von Nationalsozialismus und Judenverfolgung die Rede war« (Anmerkungen V [52 – 54]). Antisemitismus: »Daß die großen Propheten Juden sind, ist eine Tatsache, über dessen Geheimnis noch nicht nachgedacht worden ist. (Anmerkung für Esel: mit „Antisemitismus“ hat die Bemerkung nichts zu tun. Dieser ist so töricht und so verwerflich, wie das blutige und vor allem unblutige Vorgehen des Christentums gegen „die Heiden“. Daß auch das Christentum den Antisemitismus als „unchristlich“ brandmarkt, gehört zur hohen Ausbildung der Raffinesse seiner Machttechnik« (Anmerkungen II [77]). Universitätsprofessoren/Philosoph/Fassadenkletterer/öffentliche Meinung: »Die Universitätsprofessoren unterschreiben heute, ohne mit der Wimper zu zuk ken, „Erklärungen“, die von Moral triefen und nur dazu gemacht sind, alles ins Harmlose und Langweilige und d. h. Beherrschbare „sicher“ zu stellen« (Anmerkungen I [126]); »machen sich nur jene breit, die sich für das Abgestandene dadurch legitimieren, daß sie beiseite gestanden […] und jetzt aus dem Abgestandenen einen Betrieb gemacht haben« (Anmerkungen I [135]); »das einzige Hindernis auf dem Weg ist jetzt das Tun derer, die versuchen, das, was zukünftig gesagt werden muß, zu verflachen und ins Bisherige zurückzuzerren […] – sie glauben immer noch, das Unheil wäre vermieden worden, wenn die Vollstreckung des Unheils „gebildeter“ gewesen« wäre. »[…] Überall noch und wieder die gleichen Fassadenkletterer« (Anmerkungen II [25]); »es gehört zum besonderen Glück der flachen Köpfe, daß sie das Unheil, das sie wegfegt, nicht als solches zu denken vermögen, daß sie vielmehr bei ihrem Rechnen nach schuldig und nicht schuldig immer abgeleiteten Erscheinungen die Schuld geben und sich am Schauspiel des öffentlichen Meinungsbetriebs beteiligen« (Anmerkungen II [29]); »läßt man – nicht beliebige Privatdozenten der Philosophie – als erkannter Philosoph, in den Übungen ahnungs- und ehrfurchtslose Jünglinge […] in Thesen daherreden […] man duldet nicht nur, man pflanzt und pflegt systematisch eine Frechheit gegenüber der Geschichte und gegenüber dem Denken und der Strenge der Besinnung und des Sagens […]« (Anmerkungen II [39]); »Nachträglich wundern sich die Herren an der Universität und an den höheren Schulen darüber, weshalb die „Hitlerjugend“ in den Schulen solchen Einfluß gewinnen könnte« und man »ahnt nicht im Entferntesten, daß man mit der eigenen „Wissenschaft“ seit Jahrzehnten Schlimmeres betrieben hat […] man hat, selber gedankenlos – die Gedankenlosigkeit in jeder Gestalt großgezüchtet« (Anmerkungen II [78 – 79]); »Man hat sich in den letzten Jahren oft und heftig darüber erregt, daß um 1933 manche „Intellektuelle“ nicht sogleich das verbrecherische Wesen Hitlers erkannten. Es ist schwer auszumachen, ob diejenigen, die sich zu den Vorausschauenden rechnen, sich nicht an ganz anderem gestoßen haben, was nur ihrer Eitelkeit und Herrschsucht zuwiderging.
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[…] Aber die Herrschaft der öffentlichen Meinung ist schon so diktatorisch« (Anmerkungen V [48 – 49]); »Weil auch noch im Jahre 1948 die Verunglimpfungen und Schmähungen im Schwange sind, […] sei dies noch einmal vermerkt, nicht für die Öffentlichkeit […]« (Anmerkungen V [54]). Mit welchen Vorgehensweisen tritt Heidegger dem Unwesen Hitlers sowie den erheblichen Auswirkungen des Nationalsozialismus entgegen ? Darauf antwortet er: »weshalb es zum Verhängnis wurde, nur durch Danebenstehen oder durch verspätetes Revoltieren, an ihm vorbeizukommen« (Anmerkungen III [47]). Dieser entscheidende Hinweis kann uns hilfreich sein zum besseren Verständnis der Art und Weise, wie Heidegger auf die damalige Situation im »Danebenstehen« eifrig reagierte, wie schon dem Abschluß des 51. Abschnitts der Überlegungen VIII (Gesamtausgabe Bd. 95, S. 172) zu entnehmen war: »Deshalb darf einer höchstens seinen Standort dagegen feststellen, aber niemals in eine Auseinandersetzung sich wegwerfen. Ja selbst jene Feststellung darf nur als Feststellung eigener Besinnung gelten, niemals auch nur zu einer öffentlichen Absetzung dagegen dienen; denn auch diese könnte nur dazu gebraucht werden, den Betrieb des „Geisteslebens“ mit „Neuigkeiten“ zu versorgen und ihm seine vermeintliche Unentbehrlichkeit zu bestätigen«55. Anmerkungen I [29 – 30], S. 20: Der Anti-christ muß wie jedes Anti- aus dem selben Wesensgrund stammen wie das, wogegen es anti- ist – also wie »der Christ«. Dieser stammt aus der Judenschaft. Diese ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung. […] Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken in das verborgene anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes das Andenken an den ersten Anfang im Griechentum bedeutet, das außerhalb des Judentums und d. h. des Christentums geblieben. Anmerkungen I [31], S. 21: Die Absage an das Aufmerken auf die Zugehörigkeit in das Sein ist die grimmigste Verwüstung unseres eigenen geschichtlichen Wesens. Anmerkungen I [75], S. 50: Die Moral, die meint, Gerechtigkeit bestehe in der Rache. Die Meinung, sich an einem Volk rächen zu können und deshalb sich rächen zu müssen, schlägt auf uns zurück. Was haben wir auf die nationalistische Verblendung zu antworten, wenn wir jetzt vielleicht versuchen, mit der Zeit irgendwo ein international bestimmtes Unterkommen zu finden?
55
s. oben, S. 106 und 117 .
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Anmerkungen I [81], S. 54: Seht ihr immer noch nicht oder gar immer weniger, wie die Unwelt sich breit macht, in der kein Denken mehr gewagt werden kann, weil das Wesen des Denkens und der Freyheit verschollen ist im Staub der Verwüstung? Anmerkungen I [88 – 89], S. 59: Der Nihilismus tritt jetzt erst in das Stadium seiner eigentlichen, d. h. durch und durch täuschenden und verfänglichen und verführenden und niederziehenden, Zug um Zug auszehrenden Gestalt. Der schleichend unkenntliche auszehrende Nihilismus als die Folge des gröbsten | und für jeden handgreiflichen und darum jeden auch sogleich übertölpelnden Nihilismus. Endgültig ist der auszehrende Nihilismus erst, wenn er diejenige Täuschungssicherheit erlangt hat, die ihm erlaubt, auch den »Glauben« und das Christentum und die Moral in seinen Dienst zu nehmen und dafür bejaht und gefördert zu werden. Der Terror des endgültigen Nihilismus ist noch unheimlicher als alle Massivität der Henkerknechte und der Kz. Anmerkungen I [97], S. 64: Die Deutschen aber, die ein böses Geschick in ihr Unwesenaa verwirrte, klagen nur einander und sich selbst an vor einem Richter, der die Gerechtigkeit selber sein soll. Wo ist da größere Anmaßung, im Verbrechen oder im Richten? Wo ist bei all diesem Treiben die Zugehörigkeit ins Seyn – wo zuvor die Absage an alle Sicherung und Unsicherheit – die nur dem Aufstand der Eigensucht des Menschenwesens entstammt, durch den der Mensch dem Anfang entwichen ist, um sich in der geordneten Verwü stung der Erde unterzubringen? aa Hier ist „Unwesen“ in allen Bedeutungen des Wortes zu hören: „Unfug“, „verwerfliche Handlungsweise“, aber auch „ungestaltetes, grimmiges Wesen“, das „sein Unwesen treibt“.
Anmerkungen I [113 – 114], S. 74: Der Terror der wütenden Gewalt, die »Leben« auslöscht und verwüstet, bleibt grausig. Seine Grausamkeit hat, um Grauen zu erregen, den Vorteil des Greifbaren und der »Tatsachen« – des wirkenden Wirklichen. Und dennoch ist dieser Terror, angefüllt mit Unheil, noch nicht das Heillose und der eigentliche Schrecken. Das Heillose zeigt sich nicht im Gewalt-tätigen und Rohen des Wütenden; es zeigt sch überhaupt nicht, sondern verbirgt sich im Anschein der gerechten Verteilung der Ansprüche der Macht und der Mächtigen. […] Der Terror der rohen Gewalt und öffentlichen Verwüstung ist dumm. Der Terror des Wahrheitsbesitzes aber ist gescheit und stellt das Unauffällige und die Besorgnis um das Heil der Welt in den Dienst seiner Listen.
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Anmerkungen I [126], S. 82
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Anmerkungen I [126], S. 82: Man nennt das die »Erziehung des deutschen Volkes« und die Herabwürdigung zu Heloten. Die Universitätsprofessoren unterschreiben heute, ohne mit der Wimper zu zucken, »Erklärungen«, die von Moral triefen und nur dazu gemacht sind, alles ins Harmlose und Langweilige und d. h. Beherrschbare »sicher« zu stellen. Sie übernehmen heute zustimmend Zumutungen, die ihnen selbst in der stumpfen Brutalität des »Dritten Reichs« nie angesonnen wurden. Man redet jetzt wieder von der Würde der Persönlichkeit und treibt die Charakterlosigkeit auf die Spitze. Heute gibt es Gebildete und angeblich einsichtige Deutsche, die meinen, wenn der Militarismus und der nationalsozialistische Terror beseitigt seien, daß das »Dichten und Denken« im Volk von selbst erwache, wobei man »Dichten und Denken« immer noch in der Prägung des Bisherigen, zumal des »verruchten Naziregimes«, genau als »Kulturbetrieb« auffaßt und als nichts außerdem – d. h. eben wie vormals: ad maiorem gloriam, will sagen, violentiam et potestatem ecclesiae. Vgl. 138f. Anmerkungen I [127], S. 83: Inzwischen hat sich auch die Kirchenbehörde mit dem Fall meiner Professur beschäftigt. Man ist sich – mit Herrn Jaspers – darüber einig, »das Gefährliche« des an dieser Stelle der Universität gepflogenen Denkens unschädlich zu machen. Einige, in denen über aller geheimen Brutalität, die diejenige Hitlers an Geschicklichkeit weit übertrifft, noch nicht ein Geringstes an Anstand erstorben ist, versuchen diesen großartig angelegten und praktizierten Hinauswurf meiner Person etwas zu beschönigen. Anmerkungen I [128 – 130], S. 83 – 85: Wohin ist es mit den Deutschen gekommen? Nur dahin, wo sie schon immer waren – daß sie jetzt nur noch blöder und immer blöder die eigene Seele leugnen und, im Hohn der Fremden mithöhnend, ahnungslos das verborgenste Wesen preisgeben. So fürchterlich zum Ertragen Zerstörung und Verwüstung sind, die jetzt über die Deutschen und ihre Heimat gekommen, all das reicht nie an die Selbstvernichtung, die jetzt im Verrat am Denken das Dasein bedroht. […] Die Deutschen stehen jetzt in der Beschattung durch die eigene gegen sich selbst betriebene Verräterei am eigenen Wesen – ein Vorgang, der sich nicht auf unvermeidliche Folgen des Terrorregiments des verschwundenen Systems berufen darf – ein Verhalten vielmehr, das blindwütiger ist und zerstörerischer als die weithin sichtbare Verwüstung und die in Plakaten an-|schaulich zu machenden Greuel. Anmerkungen I [134], S. 87: Wie erbärmlich ist dies ratlose Kriechen unter der Beschattung durch den planetarischen Terror einer Weltöffentlichkeit, mit dem verglichen die massive Brutalität des geschichtslosen »Nationalsozialismus« die reine Harmlosigkeit ist – trotz der unübersehbaren Handgreiflichkeit der von ihm mitangerichteten Verwüstung?
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Anmerkungen I [127], S. 83
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Anmerkungen I [135], S. 88: Statt dessen machen sich nur jene breit, die sich für das Abgestandene dadurch legitimieren, daß sie beiseite gestanden und schon 1932 nichts begriffen und jetzt aus dem Abgestandenen einen Betrieb gemacht haben. Ist etwa das lose Geschwätz des Herrn Sternbergerab mehr wert und anders im Grunde, als das aufgespreizte Gerede eines vormaligen nationalsozialistischen Schrift-stellers und Zeitungsmachers? ab Dolf Sternberger (1907 – 1989) studierte in Kiel, Frankfurt a. M. und Heidelberg Theaterwissenschaft und Germanistik. Er promovierte 1931 bei Paul Tillich zum Thema »Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzialontologie«. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird er Mitherausgeber der Monatszeitschrift »Die Wandlung«. Er gilt als ein Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft [GA, Hrsg.].
Anmerkungen I [149], S. 98: Der eigentliche Irrtum des »Rektorats 1933« war nicht so sehr, daß ich, wie andere Klügere, nicht »Hitler« in seinem »Wesen« erkannte und mit jenen in der Folgezeit grollend daneben stand, im Bereich der Willenlosigkeit – d. h. im selben Bereich mit den Wollenden – sondern daß ich meinte, jetzt sei die Zeit, nicht mit Hitler, aber mit einer Erweckung des Volkes in seinem abendländischen Geschick anfänglich – geschichtlich zu werden. Vgl. die Rektoratsredeac. […] Die jetzt Zusammenstehenden, die nichts gelernt haben; es sieht in der Tat so aus, als sei sonst in den 12 Jahren nichts geschehen bei uns – die Anknüpfung der Gescheiterten beim Zustand von 1932 und die Zustimmung des Auslands dazu! Man kennt nur dieses oder die Greuel des Nationalsozialismus. | Aber dieses Entweder-Oder ist der eigentliche Irrtum. ac Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. GA 16. Hrsg. von Hermann Heidegger. Frankfurt a. M. 2000, S. 107 – 117 [GA, Hrsg.].
Anmerkungen I [151], S. 99 – 100: Wäre z. B. die Verkennung dieses Geschickes – das uns ja nicht selbst gehörte, wäre das Niederhalten im Weltwollen – aus dem Geschick gedacht, nicht eine noch wesentlichere »Schuld« und eine »Kollektivschuld«, deren Größe gar nicht – im Wesen nicht einmal am Greuelhaften der »Gaskammern« gemessen werden könnte –; eine Schuld – unheimlicher denn alle öffentlich »anprangerbaren« »Verbrechen« – die gewiß künftig keiner je entschuldigen dürfte. Ahnt »man«, daß jetzt schon das deutsche Volk und Land ein einziges Kz ist – wie es »die Welt« allerdings noch nie »gesehen« hat und das »die Welt« auch nicht sehen will – dieses Nicht-wollen noch wol lender als unsere Willenlosigkeit gegen die Verwilderung des Nationalsozialismus. | Was könnte die Folge sein; daß auf der einen Seite die einen zurückfallen auf die Zeit vor 1932 und die anderen auf den Nationalsozialismus erneut sich verstehen, in der Meinung, daß er »doch recht« gehabt habe.
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Anmerkungen I [149], S. 98
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Anmerkungen II [25], S. 125: Das einzige Hindernis auf dem Weg ist jetzt die Betulichkeit der vermeintlich Gutmeinenden, die versuchen, das, was inskünftig gesagt sein muß, ins Bisherige zurückzuzerren und alles aufzubieten, um »Kultur« und »Bildung« zu »retten« – sie glauben immer noch, das Unheil wäre vermieden worden, wenn die Vollstrecker des Unheils »gebildeter« gewesen wären. Damals wie jetzt – wagt sich das Denken nicht in äußerste Positionen und zwar auf dem Wege ursprünglicher Verwindung der bisherigen Geschichte. Überall noch und wieder die gleichen Fassadenkletterer. Anmerkungen II [27 – 29], S. 127 – 128: »Man« wird daher auch nicht sobald begreifen, was das eigentliche Be-stimmende war in meinem Schritt 1933, der gleichwohl ein Irrtum wurde; nicht in dem eben Gesagten, sondern hinsichtlich der Möglichkeit im National-Sozialismus und hinsichtlich des Augenblicks und der Eignung eines Denkenden zum verwaltungsmäßigen Handeln in einer Anstalt des öffentlichen Unterrichts – das Wesen des imperialistischen Materialismus. […] Wäre die Versimpelung der Deutschen nicht schon vor 1933 ins Unmaß gestiegen gewesen, dann hätte »man« erkennen müssen, daß der sogenannte Nationalsozialismus, ohne daß dieser und seine parteimäßigen Verfechter es wußten, von einer ganz anderen Wirklichkeit gestoßen war und daß niemand frei und wissend – denkend genug war, um ins Freie und in die Dimension derjenigen Entscheidungen zu führen, die seit langem da sind und jetzt trotz | »Antifaschismus« dennoch ins Äußerste treiben. Aber auch jetzt handelt es sich nicht darum, ob Hitler oder Mussolini oder sonstwer »Recht« behält oder nicht, sondern, daß erfahren wird, was ist, und daß das künftige Geschlecht nicht nur die »Chance« der Armut bekommt, sondern die Chance, zu erfahren, was ist und zu seyn im: Seyn. […] Es gehört zum besonderen Glück der flachen Köpfe, daß sie das Unheil, das sie wegfegt, nicht als solches zu denken vermögen, daß sie vielmehr bei ihrem Rechnen nach schuldig und nicht schuldig immer abgeleiteten Erscheinungen die Schuld geben und sich am Schauspiel des öffentlichen Meinungsbetriebs beteiligen. Anmerkungen II [31 – 32], S. 130: Kommunismus. – Der »Nationalsozialismus« und »Faschismus« wären, wenn es geglückt | wäre, ein Weg gewesen, »Europa« und seine »Bildung« und seinen »Geist« für den »Kommunismus« reif und bereit zu machen. Aber – das war zu früh; denn alles wurde nur »politisch« gesehen; nicht einmal metaphysisch, geschweige denn seynsgeschichtlich. Anmerkungen II [39], S. 135: Man kann sich nicht laut genug entrüsten über den Zerfall der »Wissenschaft« und der »Wahrheit« während der Herrschaft des Nationalsozialismus und zugleich läßt man – nicht beliebige Privatdozenten der Philosophie – als anerkannter Philosoph, in den Übungen ahnungs- und ehrfurchtslose Jünglinge in einer Stunde über
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»Platon« und »Hegel« in Thesen daherreden, als seien das irgendwelche Zeitschriftenartikelschreiber; man duldet nicht nur, man pflanzt und pflegt systematisch eine Frechheit gegenüber der Geschichte und gegenüber dem Denken und der Strenge der Besinnung und des Sagens, man betreibt eine Verwüstung unter angeblicher »Wandlung« des verruchten Bisherigen, die durch nichts mehr zu überbieten ist und gegenüber dem früheren nur dieses voraus hat, daß es sich mit »Moralismus« und alten Fetzen von »Bildung« und »Geistigkeit« in seinen eigenen Zerfall verhüllt und einen lauten Betrieb entfaltet und von einer in gleicher Weise urteilslosen und sachfremden Öffentlichkeit bejaht wird. Anmerkungen II [40 – 41], S. 136 – 137: Man kann daraus sich leicht ausrechnen, was diese wieder auferstandenen Herrschaften geleistet hätten an wachsender Ahnungslosigkeit, wenn sie 1933 weiter »an der Macht« geblieben wären – mit dieser Überlegung soll in keiner Weise der »Nationalsozialismus« – d. h. dessen gleichfalls kaum überbietbare geschichtliche Ahnungslosigkeit »gerechtfertigt« werden. […] Es ist billig, aber auch töricht und, um moralisch zu reden, vielleicht doch verantwortungslos, über den National-sozialismus herzufallen, ohne sich je einen ernsthaften | Gedanken über den »Sozialismus« zu machen; dieser ist nicht eine bloß »politische« Parteisache, er ist die neuzeitliche Anthropologie innerhalb der Technik – er ist ein Grundstück der Vollendung der Wesensgeschichte der Neuzeit. Man rümpft die Nase über die »Nazis« und ihren Terror und hängt sich an alles Vordergründige und unleugbar Scheußliche der einzelnen Parteifunktionäre und -einrichtungen und – man täuscht sich darüber, was hier, ohne rechtes Wissen des Nationalsozia lismus selber, gewollt war, gewollt sein mußte – man mogelt sich so mit Hilfe der Entrüstungen und moralischen Erklärungen darüber hinweg, was eigentlich ist und rettet sich womöglich noch ins 18. Jahrhundert oder sonstwohin und sieht nicht, was schon da ist – nicht erst vielleicht »kommt«. Anmerkungen II [58], S. 147: »Der Irrtum von 1933« – es ist nötig, daß man sich über diesen Irrtum keine irrige Vorstellung mache. Der Irrtum bestand nicht darin, daß ein Versuch gewagt wurde mit dem »Nationalsozialismus« als einer Gestalt der unumgänglichen Verwirklichung und Einrichtung der absoluten Metaphysik des Willens zum Willen, um diese selbst aus sich und damit das Weltgeschick vorzubereiten in den Übergang zur Überwindung der Metaphysik. Anmerkungen II [59 – 60], S. 148 – 149: Der Irrtum war nicht ein bloß »politischer« in dem Sinne, daß man sich in der »Partei« versah; politisch im weltgeschichtlichen Sinne war die Entscheidung kein Irrtum; denn es sollte im vorhinein nicht beim National-sozialismus als solchem bleiben, als einer Einrichtung für die Ewigkeit; er war gedacht als Ende der Metaphysik, als Übergang, der selbst nur aus dem Anfang zu überwinden sein wird.
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[…] Daß die jetzt in Deutschland, im besetzten wohlgemerkt, in Gang gebrachte Tötungsmaschinerie etwas anderes leisten soll als die vollständige Vernichtung, das können nur noch liberale Demokraten und sogenannte Christen glauben machen wollen. Daß diese Maschinerie nur die »Strafe« für den Nationalsozialismus sei, oder auch nur die bloße Ausgeburt einer Rachsucht, möge man noch eine Zeit lang einigen Törichten glauben machen. Man hat in Wahrheit die erwünschte Gelegenheit gefunden, nein, in den letzten zwölf Jahren mitorganisiert und zwar bewußt, um diese Verwüstung in Gang zu bringen. Wenn dabei Verzögerungen eintreten, dann entspringen sie nur der Berechnung, die darauf sieht, daß diese Maschinerie das eigene Geschäftsgebahren nicht noch zu plötzlich stört. Anmerkungen II [62 – 63], S. 150: Angenommen (eine Rechnung, die schon ungeschichtlich »denkt«) Hitler und seine Helfershelfer seien nicht auf – und »an« die Macht und durch diese verkommen, | wäre dadurch die Wirklichkeit von Amerika und Rußland, wie sie ist, im Geringsten, (wesentlich gedacht) geändert worden? Im Gegenteil: der Andrang dieses Wirklichen wäre nur verschleiert und vielleicht noch schrecklicher geblieben. Dadurch ist Hitler nicht geschicklich »gerechtfertigt«, was wiederum ein fragwürdiges Vorhaben ist. Überdies stehen Amerika und Rußland ihrerseits in einem Weltgeschick, das sie nicht machen, sondern nur vollziehen. Anmerkungen II [72], S. 156: »Meine Philosophie« – falls der törichte Ausdruck gebraucht werden darf – sei »die Philosophie des Abgrunds« – ich frage zurück: stehen wir etwa nicht am Abgrund? Nicht nur wir, die Deutschen, nicht nur Europa – sondern »die Welt«? Und nicht nur seit gestern und schon gar nicht »durch« Hitler, so wenig wie »durch« Stalin oder »durch« Roosevelt. – Anmerkungen II [75], S. 157 – 158: »Katholische Philosophie« – das ist nicht viel anders als »nationalsozialistische Wissenschaft« – ein viereckiger Kreis, ein hölzernes Eisen, das, wenn es ins Feuer kommt, zur Asche zerfällt, statt gehärtet zu werden. Anmerkungen II [77], S. 159: »Prophetie« ist die Technik der Abwehr des Geschicklichen der Geschichte. Sie ist ein Instrument des Willens zur Macht. Daß die großen Propheten Juden sind, ist eine Tatsache, deren Geheimes noch nicht gedacht worden. (Anmerkung für Esel: mit »Antisemitismus« hat die Bemerkung nichts zu tun. Dieser ist so töricht und so verwerflich, wie das blutige und vor allem unblutige Vorgehen des Christentums gegen »die Heiden«. Daß auch das Christentum den Antisemitismus als »unchristlich« brandmarkt, gehört zur hohen Ausbildung der Raffinesse seiner Machttechnik.)
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Anmerkungen II [139], S. 199 – 200
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Anmerkungen II [78 – 79], S. 160: Nachträglich wundern sich die Herren an der Universität und an den höheren Schulen darüber, weshalb die »Hitlerjugend«ad in den Schulen solchen Einfluß gewinnen konnte. Man »entnazifiziert« kräftig und ahnt nicht im Entferntesten, daß man mit der eigenen »Wissenschaft« seit Jahrzehnten | Schlimmeres betrieben hat, als es die törichten Redereien der Partei vermochten – man hat, selber gedankenlos – die Gedankenlosigkeit in jeder Gestalt großgezüchtet. ad Die Hitlerjugend war die Jugend- und Nachwuchsorganisation der NSDAP. Sie wurde 1926 gegründet und verschwand mit dem Zusammenbruch. Vgl. Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Hrsg. von Wolfgang Benz, Herman Graml und Hermann Weiß. Klett-Cotta Verlag: Stuttgart 3/1998, S. 513 [GA, Hrsg.].
Anmerkungen II [125], S. 191: Sprachliche Begabung ohne eine lange Übung im Handwerk des Denkens ist für den Begabten und seine Umgebung ein Unheil. Anmerkungen II [139], S. 199 – 200: Aber der Mensch kann sich »wandeln«; auch der »Philosoph« – er kann, wenn auch nicht christlich-theologisch, doch christlich-sentimental werden und aus dem »Scheitern«, das vom Verzicht auf das unbekannte Denken lebt, eine Religion machen. Das ist alles in der Ordnung bei der heutigen Zerrüttung der Atmosphäre des Denkens, aus welcher Zerrüttung der »Nationalsozialismus« sehr rasch und unaufhaltsam eine der Abirrungen ins Verbrecherische wurde. Wenn man nun die Deutschen von dieser Pest reinigt, was bleibt dann? Etwa das Reine? Allerdings – der reine vorherige und bisherige Sumpf der geschichtslosen Angst vor dem Denken. Anmerkungen II [154 – 155], S. 209: Im »Nationalsozialismus«, d. h. in der erbärmlichen Abirrung seines Wesens, wurde »der Geist« nur verachtet – das war wenigstens eindeutig. Jetzt aber wird er geistigerund »geistlicher«weise ruiniert. Anmerkungen III [46 – 47], S. 250 – 251: Man sehe sich das ratlose Gezappel an, mit dem heute die »Westmächte« Europapolitik machen. Manche von ihnen meinen, wir lebten noch im 17. Jahrhundert. Die Verantwortung solcher Gedankenlosigkeit, oder ist es schon mehr: Unvermögen des Denkens?, übersteigt um viele tausende von Graden das unverantwortliche Unwesen, mit dem Hitler in Europa umhertobte. Stalin braucht nur ein Geringes mehr an Klugheit ins Spiel zu bringen als Hitler: er braucht nur zu warten. Die Torheit seiner nicht erst heutigen Gegner spielt ihm alles zu. Deren erste Niederlage, daß er sie nämlich zum Bündnis mit sich brachte, hat schon alles entschieden. […]
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Anmerkungen III [46], S. 250
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Anmerkungen III [47] S. 250 – 251
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Zwar | ist dieser Weg der billigste, um sich von seiner damaligen Ahnungslosigkeit zu distanzieren und sie gar noch zu heroisieren; denn, sagt man, Hitler ist zur Katastrophe geworden. Nein – ihr Tugendbolde, eure Ahnungslosigkeit und Kurzsichtigkeit, die nicht weiter sah als bis zu den Aufmärschen und zum Teil üblen Erscheinungen, die euch und eure Behäbigkeit störten, die nicht zuließ, daß ihr über euch hinaus und über Hitler hinaus dachtet, der doch selber nur ein Merkzeichen des Weltalters war, weshalb er zum Verhängnis wurde, nur durch Danebenstehen oder durch verspätetes Revoltieren, an ihm vorbeizukommen. Das heutige christlich-liberale Weltverhältnis zum Kommunismus ist genau so töricht und ahnungslos und – selbstgefällig, wie das Gebahren der allzu gescheiten und vornehmen bürgerlichen Herren in Deutschland gegenüber dem Nationalsozialismus. Man merkt immer noch nicht, während man sich von dem verruchten System aushalten ließ und Berufungen durch seine Minister annahm und für sie auf Reisen ging, daß in diesen wuchtigen und brutalen Erscheinungen das eigene technische Weltwesen, in dem die bürgerlich-industrielle Gesellschaft steckt, dieser in seiner eigentlichen und d. h. produktiven Fragwürdigkeit entgegenkommt. Anmerkungen III [57 – 58], S. 258: Vielleicht kommt eines Tages doch jemand dahinter, daß in der Rektoratsrede von 1933 der Versuch gemacht wurde, diesen Prozeß der Vollendung der Wissenschaft in der Verendung des Denkens vorauszudenken, Wissen als Wesenswissen wieder ans Denken zu bringen, nicht aber an Hitler auszu-|liefern. Warum ließ denn die Partei in allen Dozentenlagern diese Rede bekämpfen? Doch wohl nicht deshalb, weil sie, wie die Weltöffentlichkeit vorgibt, die Universität an den Nationalsozialismus verraten hat. Anmerkungen III [125], S. 307: Das Unheil der Verwahrlosung liegt nicht in der ungepflegten Sprache; es hat sich in der gepflegten fast noch gefährlicher eingenistet. Das Unheil besteht darin, daß die Sprache, ob gepflegt oder ungepflegt, nicht mehr Sprache ist, noch nicht Sprache sein kann. Anmerkungen III [129], S. 309: Gleichwohl dürfen wir dieses Furchtbare der Verworfenheit des Menschen nur am Rande der äußersten Verweigerung der Wahrheit des Seyns erwähnen; denn schon ist in der Verweigerung das Einstige der ereignenden Enteignis gedacht als die Stille des Ratsals, der gegenüber die Verwirrende Verwüstung des Erdballs in die Verwahrlosung doch nur das nichtige Nichts bleibt, das bezeugt, daß es mit dem Seienden, das vermeintlich in seiner Realität für sich genommen sei, gerade nichts ist. Vermutlich ist dies so, weil es sogar mit dem Seyn nichts ist, weil das Seyn als das Seyn des Seyns ist: die Eschatologie seiner selbst aus dem Ereignis des Brauchs.
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Anmerkungen III [57], S. 258
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Anmerkungen III [58], S. 258
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Anmerkungen III [137], S. 315: Noch haben wir wenig Mut, dem Unheil, das die Wissenschaft befördert, ins Gesicht zu sehen und mit dem Durchdenken dieses Geschicks ernst zu machen […]. Anmerkungen IV [62], S. 369: Zur Götterlehre. – Jehova ist derjenige der Götter, der sich anmaßte, sich zum auserwählten Gott zu machen und keine anderen Götter mehr neben sich zu dulden. Die Wenigsten erraten, wie dieser Gott auch so noch und zwar notwendig sich unter die Götter rechnen muß; wie könnte er sonst sich aussondern. Daraus wurde dann der eine einzige Gott, außer dem (praeter quem) überhaupt sonst keiner sei. Was ist ein Gott, der sich gegen die anderen zum auserwählten hinaufsteigert? Jedenfalls ist er nie »der« Gott schlechthin, gesetzt, daß das so Gemeinte je göttlich sein könnte. Anmerkungen IV [99 – 100], S. 394 – 395: Oder gehört gar beides zusammen im andenkenden Denken? Doch wie hält man es mit Nietzsches Philosophie? Man schmäht sie und hält sie mit der Beseitigung des Nationalsozialismus für überwunden. Oder sie sagen, Nietzsches Denken sei nicht so schlimm –; dieses, anscheinend objektive Reden, ist das Schlimmste und gehört mit jener Auslegungsart zusammen, die Nietzsche zu Kierkegaard stellt und diese als Ausnahmen vorstellt – Ausnahmen von welcher Regel? ([…] Die Nietzsche-Vorlesungen sind weder eine Rechtfertigung des Nationalsozia lismus, noch ein Angriff auf das Christentum –. Sie sind ein Denken, rein um des Denkens willen und d. h. des Zu-Denkenden.) Anmerkungen V [21], S. 444: Das deutsche Volk ist politisch, militärisch, wirtschaftlich und in der besten Volkskraft ruiniert, sowohl durch den verbrecherischen Wahnsinn Hitlers als auch durch den endlich »zum Zuge gekommenen« Vernichtunsgwillen des Auslandes. Man mache sich nichts vor. So töricht es ist, die Geschichte jetzt erst von 1945 ab zu rechnen und über Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu jammern, so töricht ist es, statt dessen erst mit 1933 zu beginnen. Anmerkungen V [22], S. 445: Beruht die Zukunft der Menschheit auf der endgültigen Auseinandersetzung zwischen Amerika und Rußland? Worüber geht und in welcher Dimension geht sie? Ist sie der letzte Schritt in die Endgültigkeit der Verwüstung?
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Anmerkungen V [21], S. 444
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Anmerkungen V [49], S. 460
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Anmerkungen V [48 – 49], S. 460: Man hat sich in den letzten Jahren oft und heftig darüber erregt, daß um 1933 manche »Intellektuelle« nicht sogleich das verbrecherische Wesen Hitlers erkannten. Es ist schwer auszumachen, ob diejenigen, die sich zu den Vorausschauenden rechnen, sich nicht an ganz anderem gestoßen | haben, was nur ihrer Eitelkeit und Herrschsucht zuwiderging. Ebenso schwer ist zu erörtern, ob diejenigen, die für Hitler waren, nicht gerade anderes und weiteres und Wesentlicheres sahen und eben nicht am Vordergründigen haften blieben. Vielleicht waren einige von diesen in einem echten Sinne schon und früher als die späteren – gegen Hitler. Aber solche Überlegungen nehmen sich nicht als Verrechnungen, sondern nur als Hinweis darauf, daß jetzt die Intellektuellen erst recht und im ganzen vor Demokratie und politischem Christentum kapitulieren und übereifrig nur das wollen und befördern, was man mit ihnen will. – Es ist ein förmliches Gelaufe nach internationalen Kongressen. Aber die Herrschaft der öffentlichen Meinung ist schon so diktatorisch, daß jede Überlegung dieser Art einfach als »nazistisch« erklärt und damit unwirksam gemacht wird.
Anmerkungen V [52 – 54], S. 462 – 463: Husserl. – Seitdem Husserl von 1930/31 öffentlich in Vorträgenae, die schon eher Kundgebungen waren (Berlin und Frankfurt), gegen mich Stellung nahm und meine Arbeit als Unphilosophie zurückwies (vgl. das Nachwort zu seinen »Ideen« (1930/31)), bin ich an ihm vorbeigegangen. Ich habe nie das Geringste gegen Husserl unternommen. Man lügt, ich hätte ihn aus der Universität vertrieben und die Bibliothek verboten. Husserl war seit 1928 emeritiert auf eigenen Wunsch; er hat seitdem nie mehr gelesen oder eine Übung gehalten; er hat nie die Universitätsbibliothek benutzt, von wenigen Ausnahmen in den Jahren 1920 ff. abgesehen. Was gab es da zu vertreiben? Seine Werke sind niemals aus der Seminarbibliothek entfernt worden, wie das für jüdische Autoren vorgeschrieben war; | sowenig wie je ein nationalsozialistisches Buch, z. B. Rosenbergaf und dergleichen, angeschafft oder, wie vorgeschrieben und auch in den übrigen Seminaren befolgt war, ein »Führerbild« aufgehängt wurde. Ich nenne dies nicht zur Verteidigung, nur als Feststellung, wozu auch dieses gehört, daß ich zwischen 1933 und 44 genau wie früher in der gleichen Sachlichkeit auf die Bedeutung der Phänomenologie Husserls und die Notwendigkeit des Studiums der »Logischen Untersuchungen« hingewiesen habe. Es ist nie ein Wort der Kritik, was ja möglich und berechtigt und kein Verbrechen gewesen wäre, gefallen, weder in den Vorlesungen noch in den Übungen. Ich bin an Husserl vorbeigegangen; das war eine schmerzliche Notwendigkeit. Man hätte auch jede andere Haltung von mir nur als höfliche Geste ausgelegt. Wer aber von verabscheuungswürdigem Verrat redet, weiß nicht, daß er nur Rache redet und von dem, was früh geschah, nichts weiß: daß mein eigener Weg des Denkens als ae Edmund Husserl: Phänomenologie und Anthropologie. In: Aufsätze und Vorträge (1922 – 1937). Hua XXVII. Hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp. Kluwer Academic Publi shers: Dordrecht et al. 1989, S. 164 – 181 [GA, Hrsg.]. af Alfred Rosenberg: Der Mythus des XX. Jahrhunderts. Hoheneichen-Verlag: München 1930 [GA, Hrsg].
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Anmerkungen V [52], S. 462
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Abfall ausgelegt wurde, daß man zur Propaganda die Zuflucht nahm, als mein Weg anders nicht aufzuhalten war. Man inszeniert jetzt eine große Geschichtsfälscherei. Mir scheint aber, daß meine Versuche seit »Sein und Zeit« das würdigste Zeugnis für das sind, was ich Husserl verdanke – daß ich von ihm lernte und für seinen Weg zeugte dadurch, daß ich nicht sein Anhänger blieb, der ich auch nie war. Aber genau dieses verstieß gegen die Hausordnung, lange vor dem, daß von Nationalsozialismus und Judenverfolgung die Rede war. Weil auch noch im Jahre 1948 die Verun glimpfungen und Schmähungen im Schwange sind, niemand sich die Mühe nimmt, sachlich aus Sachkenntnis zu urteilen oder gar auf meine Schriften einzugehen und die sonst viel benutzten Vorlesungen als Zeugnisse meines Denkens anzuführen, sei dies noch einmal vermerkt, nicht für die Öffentlichkeit, nicht zur Verteidigung, sondern als Feststellung. Anmerkungen V [85], S. 481: Der letzte Akt der Verwüstung. Der Roman im Übergang zur Berichterstattung. Anmerkungen V [90], S. 483: Das Unheil der Psychologie – sie ist die populäre und gemeine Form des Subjektivismus – sie verlangt noch weniger Nachdenken und gibt den Anschein einer letzten Überlegenheit einer letzten Reserve. Anmerkungen V [137], S. 509: Alle Feinde sind einträchtig in ihrer Feindschaft; sie verschleiern diese oder bekennen sie in den verschiedensten Formen. Ins Ganze gesehen leisten sie der Barbarei der »neuen Welt« den bequemsten Vorschub und zögern dann auch nicht, mit dieser ihre gemeinsame Sache zu machen. Anmerkungen V [143], S. 512: Inzwischen gerät das Tun des Ackerbauers, der Landwirt ist, in die Zangen der Industrietechnik und erledigt seine Geschäfte rasch in möglichst wenig Tagen und Stunden mit möglichst viel Gewinn mit immer rascheren Maschinen. Inzwischen verläuft im Feldweg die Spur von Traktoren. Diese Verwüstung ist in ihrem Bezirk mit ihren Mitteln unaufhaltsam.
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Anmerkungen V [53], S. 462 – 463
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Die vorliegenden am Beginn dieser Abteilung zu findenden Textzusammenhänge wurden aufgrund einer erschöpfenden Übersicht der im Band 97 versammelten Notizbücher erstellt: deren Berücksichtigung würde schon genügen, um Heideggers Anmerkungen zwischen 1942 und 1948 klar und ausgewogen zu begreifen – will sagen: nicht durch unzusammenhängende Verallgemeinerungen mancher aus den Anmerkungen gerissenen Textstellen verfälscht. Ferner erwies es sich als notwendig, alle Textstellen – ausnahmslos – nacheinander zu übertragen, woraus sich klar und eindeutig ergibt, wie Heidegger den verbrecherischen Wahnsinn Hitlers völlig ablehnte, der dann in Europa umhertobte, wobei auch hervorgehoben wird, daß dieser »nicht geschicklich „gerechtfertigt“« war (Anmerkungen II [62 – 63]). Heideggers entschlossene Stellungnahme »gegen« Hitler greift auf ein nachdrückliches Vokabular zurück, wobei »Unwesen«, »verbrecherisches Wesen« und »verbrecherischer Wahnsinn« die Hauptzüge einer Verantwortungslosigkeit auszeichnen, die dann maßlos herausströmten: »Hitler ist zu einer Katastrophe geworden« (Anmerkungen III [47]). In den Anmerkungen macht Heidegger einige Feststellungen über Hitler, die doch allen klar waren; allerdings ist das Vordergündige und Unübersehbare an und für sich noch kein Grund, sich verantwortungsvoll Fragen darüber zu stellen, wie nicht nur Deuschland, sondern auch ganz Europa dann am Rande des Abgrundes standen. Das Problem ist nicht auf die Abwehr gegen den nationalsozialistischen Terror zu beschränken: der Leser dieser Anmerkungen soll Abstand gewinnen, da er sonst Gefahr läuft, deren Sinngehalt zu verunstalten. In den Augen Heideggers ist die durch Hitler mit der grausamen nationalsozialistischen Politik ausgelöste Katastrophe das Merkzeichen des Unwesens einer Welt, in der das Denken nicht mehr gewagt wird. Über die sichtbare und unleugbare von Hitler entfesselte Zerstörung hinaus, übt Heidegger eine folgerichtige Kritik an der historischen Verantwortung von Amerika und Rußland. Seine Argumentation ist meistens provozierend: »Angenommen (eine Rechnung, die schon ungeschichtlich „denkt“) Hitler und seine Helfershelfer seien nicht« an »die Macht ge- und durch diese verkommen, wäre dadurch die Wirklichkeit von Amerika und Rußland, wie sie ist, im Geringsten, (wesentlich gedacht) geändert worden ?« (Anmerkungen II [62 – 63]). In diesem Sinne werden nicht nur Hitler, der Nationalsozialismus sowie die Wirklichkeit von Amerika und Rußland einer kritischen Beurteilung unterworfen, sondern ebensosehr die Art und Weise, wie diese beiden die Nachkriegsperiode verwalteten. Heidegger zufolge ist Entnazifizierung kein Allheilmittel, nicht nur darauf kommt es an, diejenigen zu beseitigen, die dazu beigetragen haben, Hitlers verbrecherischen Wahnsinn zu steigern – und hier sei die Bezugnahme auf »Hitler und seine Helfershelfer« ! ausdrücklich bemerkt – u.a., weil damit noch nicht ernsthaft über die wahren Gründe nachgedacht wird, wie eine derartige Verwilderung hat entstehen können. Ferner ermittelt Heidegger das Ausmaß der Schäden, die von der »geschichtlichen Ahnungslosigkeit« des Nationalsozialismus verursacht wurden und »alles Vordergründige und unleugbar Scheußliche der einzelnen Parteifunktionäre […]«
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(Anmerkungen II [40 – 41]). Der Nationalsozialismus und die »verbrecherischen Abirrungen« (Anmerkungen II [139]) haben dazu beigetragen, die Brutalität Hitlers durch die Vernichtungslager zu systematisieren. Diesbezüglich ist folgender Auszug aus den Anmerkungen I [75] beispielhaft: »Die Meinung, sich an einem Volk rächen zu können und deshalb sich rächen zu müssen, schlägt auf uns zurück«. Was in den Vernichtungslagern geschah, dürfe »gewiß künftig keiner je entschuldigen« (Anmerkungen I [151]); verwerflich sind die grauenhaften Gaskammern. Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß Heidegger den Antisemitismus als »töricht und verwerflich« bezeichnet (Anmerkungen II [77]); mit dieser Anmerkung wird nur hervorgeboben, wieweit Heidegger diese Denkschemata fremd sind, geschweige denn und erst recht die mit äußerster Brutalität verübten Übergriffe des Regimes, die einen nie wiedergutzumachenden Schaden am jüdischen Volk wie am Menschengeschlecht angerichtet haben. In der vorliegenden Abteilung ist die Bezugnahme auf das Judentum stets auf den Kontext aller geprüften Texte zurückzuführen: »Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken in das verborgene anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes das Andenken an den ersten Anfang im Griechentum bedeutet, das außerhalb des Judentums und d. h. des Christentums geblieben« (Anmerkungen I [29 – 30]). Das Judentum, »und d. h. das Christentum«: nach Heidegger bleiben beide außerhalb der Seinsgeschichte, die sich zwischen dem ersten Anfang (dessen Anbruch auf die griechischen Denker zurückgeht) und dem anderen Anfang, den die Deutschen zu übernehmen haben, erstreckt. Daraus folgt, daß hier nichts als vereinzeltes losgebundenes Absolutes gelten darf, und zwar auf mehreren Ebenen: wie das Judentum nicht vom Christentum abzugrenzen ist (mit dem es immer in Zusammenhang steht), so sind aufgrund des Gedankenweges Heideggers Judentum und Christentum nie in das seinsgeschichtliche Denken einzufügen. Damit wird der Beweis dafür erbracht, daß die Unterstellungen des deutschen Herausgebers der Notizbücher nur dessen eigenes Unvermögen bezeugen, des theoretischen Knotens zwischen dem ersten und dem anderen Anfang Herr zu werden. »Diese [= die Judenschaft] ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung«, steht es in den Anmerkungen I [29 – 30]) geschrieben. Hier kommt die unauflösbare Einheit des Judentums und – nicht nur des Christentums, sondern ebensowohl »des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik« zum Vorschein – und so wird bezüglich des christlichen Abendlandes hinzugefügt: »d. h. der Metaphysik«. Wie das Judentum vom christlichen Abendlande nicht zu trennen ist, ebensowenig ist das Judentum in die Metaphysik einzufügen: das Gegenteil behaupten, hieße die Texte – hier wie anderswo – wissentlich verfälschen. Beim Vergewaltigen der Texte durch persönliche Lektüre begibt man sich in Gefahr, den ganzen Denkweg Heideggers zu verunstalten. Daß das Judentum nach Heidegger »das Prinzip der Zerstörung« sei, das soll aufgrund der Kritik verstanden werden, die er am gesamten christlichen Abendlande wie an der Neuzeit übt. Weiterhin ist das Prinzip der Zerstörung, wie schon mehrmals in unseren Analysen eingehend geprüft wurde, ein Prinzip, das die Unveränderlichkeit der Seiendheit durch die Bewahrung ihrer Selbstgenügsamkeit aufrechterhalten will.
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»Zerstörung« ist in dem Sinne zu verstehen, daß die Seiendheit des Seienden sich vom Sein völlig ablöst. Die Hypothese aufstellen, die Anmerkungen sollten so gelesen werden, als wäre ein Prinzip der »Zerstörung« auf das jüdische Volk zurückzuführen, hieße, die Kategorien und Ausdrücke Heideggers, die mit einer sehr gedrängten knappen Ausdrucksweise im Satzbau zusammenhängen, nicht begreifen zu können. Die aufgestellte und dann unterstützte Hypothese, nach der Heidegger in die Judenvernichtung mehr oder weniger verwickelt gewesen sei, dementieren noch klarer und eindeutiger die im Band 97 versammelten Anmerkungen. Beim Lesen dieser Texte stellt es sich ganz klar heraus, daß Heidegger den gegen ihn erhobenen Beschuldigungen gegenüber keine Rechtfertigung geben wollte: seine entschlossene Abwendung von Hitler, vom Nationalsozialismus sowie vom Wahnsinn derjenigen, die an der geplanten Judenverfolgung teilgenommen haben, ist – heute wie gestern – nicht zu übersehen, abgesehen davon, daß die »öffentliche Meinung«, die »Herren« an der Universität, seine eigenen Kollegen, die »Fassadenkletterer« den Tatbestand mit ihren Verleumdungen verstellt haben, und so dazu beigetragen haben, eine große Geschichtsklitterung zu inszenieren. So etwas geschah, als sein Rektorat im politischen Sinne interpretiert wurde: Heidegger gibt gerne zu, daß es ein »Irrtum« war, aber fügt auch hinzu, es sei auch nötig, »daß man sich über diesen Irrtum keine irrige Vorstellung mache« (Anmerkungen II [58]). Fast zwanghaft kommt er in den Anmerkungen I bis III auf den Irrtum seines Rektorats zurück, als wollte er hervorheben, wie sehr sein eigener theoretischer Denkweg von Anfang an der »Bewegung« fremd bleibt, wohingegen seine eigenen Andeutungen zu immer wiederkehrenden Mißverständnissen Anlaß gaben. Die von seinen Gegnern bewerkstelligte Geschichtsklitterung blieb ihm auch nicht erspart bezügich seiner Beziehungen zum jüdischen Philosophen Husserl: da stehen wir einer Manipulierung der historischen Geschehnisse gegenüber, in denen Heidegger sich dazu verpflichtet fühlt, genauere Angaben niederzuschreiben, die einer diktatorisch gewordenen Öffentlichkeit entgehen. Demungeachtet will Heidegger klarstellen, diese seine Anmerkungen seien nicht für die »Öffentlichkeit« bestimmt: für diese sind sie insofern nicht bestimmt, als seine Anmerkungen denen unzugänglich bleiben, die im Vor-verständnis eines selbstbezogenen Lebens eingesperrt bleiben, und die mit den Waffen eines brüchigen Wissens versuchen, die Vermutung eines Anspruchs auf Wissen vorzutäuschen. Unmöglich ist es, so zu tun, als hätte man Heidegger verstanden, wenn man zunächst dazu beigetragen hat, eine katastrophale Verwirrung zu stiften; läßt man es nur so weit kommen, dann können wir das neue Erscheinungsbild der Diktatur in der Anmaßung der unsichtbaren maßlosen Sinnlosigkeit ahnen, mit der die Öffentlichkeit zufrieden ist. Was Heidegger im Jahre 1948 in den Anmerkungen V [52 – 54] in bezug auf Husserl niederschreibt, wird 1950 in den Reden wiederaufgenommen, deren spätere Sammlung im Band 16 der Gesamtausgabe zu finden ist. Es lohnt sich, diese Rede hier vollständig zu übertragen, weil ihre Erklärungen die Stellungnahme Heideggers bezüglich des Nationalsozialismus, seiner Beziehungen zu Husserl und zu seinen jüdischen Studenten wiederaufnehmen. Das betreffend, was Heidegger uns in den dem Band 97 der Gesamtausgabe entsprechenden Notizbüchern hinterlassen
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hat, wird dieses Material in der Zeit ziemlich gewaltsam erklärt, so daß er selbst manche vorherige Äußerungen über seine Beziehung zu Husserl (»mein Meister«) leicht ändert. Heidegger sei aber das Wort erteilt: »Ich habe nie der S.A. oder gar der S.S. angehört, auch keinem anderen militaristischen Verband; ich habe daher auch nie – außer 4 Jahre den Soldatenrock im ersten Weltkrieg – je eine Uniform getragen. Ich habe niemals – weder vor, noch nach 1933 – je irgendwelche persönlichen oder schriftlichen Beziehungen zu Parteistellen oder Aktivisten der nationalsozialistischen Bewegung gehabt. Auch während meiner Amtstätigkeit als Rektor bin ich nur wenige Male und auch nur bei dienstlichen Anlässen mit einigen wenigen Parteileuten in Berührung gekommen. Ich habe mich niemals an irgendwelchen antisemitischen Maßnahmen beteiligt; im Gegenteil: ich habe 1933 an der Freiburger Universität den antisemitischen Aufruf der nationalsozialistischen Studentenschaft verboten, ebenso die Demonstration gegen einen jüdischen Professor. Für meine ins Ausland gehenden jüdischen Schüler habe ich mich weitgehend eingesetzt; meine Empfehlungen haben ihnen in vielem die Wege erleichtert. Daß ich als Rektor Husserl den Zutritt zur Universität und Bibliothek verboten hätte, ist eine besonders niederträchtige Verleumdung. Ich habe nie aufgehört, in Husserl in Dankbarkeit und Verehrung meinen Lehrer zu sehen. Meine philosophischen Arbeiten haben sich allerdings in vielem von seiner Position entfernt, so daß Husserl selbst in seiner großen Rede im Berliner Sportpalast 1931 mich öffentlich angriff. So war schon lange vor 1933 eine Lockerung des freundschaftlichen Verhältnisses eingetreten. Als dann 1933 das erste Gesetz gegen die Juden herauskam (das mich und viele andere aufs heftigste erschreckte), schickte meine Frau an Frau Husserl einen Blumenstrauß mit einem Brief, der – zugleich in meinem Namen – unsere unveränderte Verehrung und Dankbarkeit zum Ausdruck brachte, zugleich mit der Verurteilung des rigorosen Vorgehens gegen die Juden. Bei einer späteren (1941) Auflage von »Sein und Zeit« schrieb mir der Verleger, daß diese nur ohne die Widmung an Husserl erscheinen dürfe. Ich habe mich mit der Streichung einverstanden erklärt, unter der Bedingung, daß die eigentliche Widmung im Text S. 38 unverändert bliebe. Das geschah dann auch. Als Husserl starb, lag ich krank zu Bett. Ich habe allerdings nach meiner Genesung nicht an Frau Husserl geschrieben, was ohne Zweifel ein Versäumnis war; der Beweggrund war schmerzliche Scham über das, was inzwischen – weit über das erste Gesetz hinausgehend – gegen Juden geschah und dem man machtlos gegenüberstand. Ich habe aber anläßlich des 90. Geburtstages von Frau Husserl ihr mit Blumen einen Brief geschrieben mit der ausdrücklichen Bitte, mein Versäumnis beim Tod ihres Mannes zu entschuldigen, welches Versäumnis mich all die Jahre aufs schmerzlichste bedrückt hätte« 55.
Zwischen Husserl und Heidegger waren die Divergenzen schon viel früher als 1927 und der Veröffentlichung von Sein und Zeit aufgetreten. Diese werden von Husserl in seinem Brief vom Jahre 1921 an den polnischen Philosophen Roman Ingarden festgestellt: 55 M. Heidegger, Bemerkungen zu einigen Verleumdungen, die immer wieder kolportiert werden (1950), in: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, § 211, S. 468 – 469.
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»Ich bin ja so viel weiter gekommen, obwohl ich die Id[een] I nicht verwerfe (nur in manchen Einzelausführungen, die hinter meinen Msc. [Manuskripten] zurückbleiben), so habe ich doch das Systemat.[ische] sehr viel weiter geführt u. in allem Prinzipiellen viel gereinigt. Ich bin ganz sicher geworden. Gott wird schon weiter helfen. Heidegger hat seine kraftvoll merkwürdige Eigenart auch weitergebildet u. wirkt stark. Was auch immer in ihm wird, es wird ein Hochwertiges sein« 56.
Heideggers Denkweg entsprach nicht Husserls Hoffnungen und stellte sich in den Weg von Husserls Entwurf einer Begründung der Phänomenologie als »strenger Wissenschaft«, in der Gestalt, die sie nach den Logischen Untersuchungen immer mehr angenommen hatte. Die anderen Schüler von Husserl, unter ihnen zuallererst Hedwig Conrad-Martius, wollten den Husserlschen Entwurf allein auf die Logischen Untersuchungen festlegen und beschränken; nach der Veröffentlichung der Ideen I entfernten sie sich vom Meister und faßten dessen Position als idealistisch auf insofern, als er seine Analysen auf der einzigen Ebene der »Wesenheit« festgeschrieben hatte. Bei Heidegger dagegen wohnen wir einer völligen Umkehrung des Husserlschen Entwurfs bei, von Grund auf; dabei gilt seine Distanz zu Husserl als eine Selbständigkeit seines eigenen theoretischen Denkweges, aber dessenungeachtet hat er nie vergessen, was er Husserl verdankt, noch den starken Einfluß, der das Studium der Logischen Untersuchungen auf ihn ausgegeübt hat. So ist der Gedankengang der Schüler von Husserl von demjenigen Heideggers ganz verschieden. Unter jenen geht es darum, die Phänomenologie und ihre Methode umzugestalten, wohingegen die Phänomenologie bei Heidegger vielmehr umgekehrt, und mit der Hinsicht auf die Seinsfrage57 neu ausgerichtet wird. Vom Husserlschen Entwurf, wie er sich mit der Veröffentlichung der Ideen ausbildete, entfernt sich allerdings nicht nur Heidegger, sondern gleichzeitig auch Hedwig Conrad-Martius. Zweifellos bestand mit der »eidetischen Reduktion« eine echte Möglichkeit, den Kantischen Kritizismus zu überholen, der es seit längerer Zeit für unmöglich hielt, »das Gegebene« gründlich zu durchforschen, um zu seinem »Wesen« zu gelangen. Die Husserlsche Phänomenologie der Logischen Untersuchungen hat eine neue Blütezeit des philosophischen Studiums ermöglicht, und andererseits stellte sie sich den Tendenzen entgegen, die die »Gegebenheit« auf die funktionellen Parameter der bloßen Subjektivität »reduzieren« wollten. Gerade an diesem Punkt wird die ganz bewußte Entscheidung der realistischen Phänomenologie von Con56 E. Husserl, Briefe an Roman Ingarden. Mit Erläuterungen und Erinnerungen an Husserl (Phaenomenologica, 25), hrsg. v. R. Ingarden, Nijhoff, Den Haag 1968, S. 23 – 24 (Brief vom 24. XII. 1921). 57 Besonders relevant ist Iso Kerns eingehende Untersuchung über Husserls Studium von Sein und Zeit im Jahrzehnt 1925 – 1935, da er »zu einer nüchtern-endgültigen Stellung zur Heideggerschen Philosophie« kommen wollte, wie aus manchen seiner Manuskripte zu entnehmen ist (A VII 3; A VII 24; B III 5, Bl 32); s. I. Kern, Einleitung des Herausgebers, in: E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter Teil: 1929 – 1935, in: Gesammelte Werke, Bd. XV, hrsg. v. I. Kern, Nijhoff, Den Haag 1973, S. XXII – XXVII u. LII – LV.
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rad-Martius getroffen, auf dem Wege einer »Wesensforschung« der Realität selbst und ihrer unterschiedlichen Gebiete im Sinne Husserls fortzuschreiten, da eine echte philosophische Spekulation, die sich auf tatsächliche Gegebenheiten gründet, nicht nur der Kenntnisnahme der empirischen Daten bedarf, sondern vor allem die »Wesensschau« des zu interpretierenden Realen erfordert58. Unter diesen Umständen ist es leicht verständlich, daß die erste Erwartung, die Conrad-Martius dazu geführt hatte, Husserl zu folgen, die die vom Meister geleistete Überwindung des Psychologismus gewesen war, und zwar dieses Psychologismus naturalistischer Art, der nur den »psychisch-physischen« Erkenntnisvorgängen Vorrang einräumte, auf Kosten der realen Gegebenheit dessen, was sich »hier und jetzt«, »leibhaftig« zeigt. Der Gewinn, den man aus der entstehenden Phänomenologie zieht, besteht im »Ausgleich« des nicht mehr gegensätzlichen Verhältnisses zwischen dem »kennenden Subjekt« und, andererseits, dem »Realen, wie es konkret in Erscheinung tritt«; nur so wird das »Reale« wieder an seinen richtigen Platz gerückt, und hört auf, die ausschließliche »Domäne« des Bewußtseins zu sein. Angesichts dessen fühlt sich Conrad-Martius zur Wiederaufnahme der Untersuchungen Husserls motiviert, und dadurch ermutigt, daß Husserls Phänomenologie nicht als eine Philosophie unter anderen zu zählen ist, vielmehr ist sie ein Forschungsstil, der nicht aus der Philosophie schöpft, sondern aus der Quelle der »Sachen selbst«. Es ist an ihnen, die Forschung auszurichten und den Blick des Beobachters zu orientieren. Dieser Vorrang der Sachen selbst ist beträchtlich, zumal wenn man bedenkt, mit welchem kulturellen Hintergrund Husserls Untersuchungen zur Reife gelangten. Der bloßen Tatsächlichkeit und der zügellosen Forschung stellt Husserl einen strengen Forschungs»stil« entgegen – als Vorwegnahme seiner stetigen Aufmerksamkeit, ein Muster von philosophischer »Wissenschaft« zu begründen – das nicht nur den noch zurückzulegenden Weg berücksichtigt, sondern vor allem ganz bewußt jeden Erkenntnisakt mit Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit vollzieht und in den Vordergrund schiebt. »Sachlichkeit« und »Wahrhaftigkeit« sind beides Elemente, die zur Realität gehören, und eben deswegen sollen Untersuchungen jeder sich darbietenden Gegebenheit, jeder originär sich gebenden Anschauung Rechnung tragen. So wird der »Gedankenweg« zum Boden, auf dem der Phänomenologe sich bewährt, wenn auch die erzielten Erfolge zu neuen Pfaden werden, zu einem »neuen Anfang« – im Hinblick darauf hinterließ uns Husserl mit seiner Formel »immer wieder« die Maxime der Husserlschen Methode. So richtet diese neue Einstellung zum ersten Mal den Blick auf die Sachen selbst, denen der »Beobachter« seine eigenen Gesetze in dieser oder jener Art von Konstruktivismus nicht aufzwingt – sondern die richtige Herangehensweise »erhält« vielmehr der Beobachter von den maßgebenden Gegenbenheiten, wie sie sich darbieten. 58 S. H. Conrad-Martius, Phänomenologie und Spekulation, in: M. J. Langeveld (Hrsg.), Rencontre – Encounter – Begegnung. Festschrift für F. J. J. Buytendijk, Utrecht – Antwerpen 1957, S. 116 – 128.
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Mit der Veröffentlichung der Ideen – die die fünf Vorlesungen enthalten, die Husserl 1907 in Göttingen hielt – soll aber bald die »Hoffnung« wieder auf dem Spiel stehen. Von nun an melden sich die ersten Vorboten eines entstehenden »Unverständnisses« zwischen dem Meister und seinen Schülern. In diesen Vorlesungen hebt Husserl den »Bewußtseinsstrom« hervor und ihm auferlegt er eine Reduktion nach dem Modell der eidetischen Reduktion, so daß seine Schüler eine Rückkehr zum transzendentalen Idealismus daraus schlossen. Wohl erschöpft sich Husserl nicht als Verfasser der Logischen Untersuchungen in der realistischen Einstellung der entstehenden Phänomenologie. Das Ganze der Husserlschen Phänomenologie ergibt sich nicht aus diesem einzigen Schlüssel. Auf dem Spiel steht der Sinn der Idee der Phänomenologie bei Husserl, d. h. der Phänomenologie als strenger »Wissenschaft«. Der Status einer »Wissenschaft« war wohl keinem phänomenologischen Realismus zuzuschreiben, insofern, als dieser mit einer »deskriptiven« phänomenologischen Einstellung verbunden bleibt, die nicht die ganze Sphäre der intentionalen Analysen berücksichtigt. Bezüglich des ganzen Gedankenbaus der Husserlschen Phänomenologie beruft sich Conrad-Martius nur auf die rein eidetische Phänomenologie. Daher kommt die Schwierigkeit beim Zugang zu ihren Untersuchungen: diese Schwierigkeit ist nicht nur auf eine gewiß schwierige Sprache zurückzuführen, sondern auf eine Einstellung, die wohl von Husserl stammt, und dennoch keine Stütze an der transzendentalen Reduktion zuläßt. Nur das erste Moment der Reduktion nimmt sie an: z. B. ist ihre Ontologie statisch-deskriptiv, gelinde »geometrisch«, wobei die Begriffe »Seinsort« und »Seinssphäre« nur in der Reihenfolge eines vielschichtigen real-ontologischen Aufbaus »zurückzulegen« sind. Das ist gar nicht so einfach, da in den Untersuchungen von Conrad-Martius keine Verbindung zwischen den statischen Aspekten der eidetischen Methode und dem »genetischen« Stadium der intentionalen Analysen zu finden ist. Diesem letzten Stadium verweigerte sie ihre Gunst, weil es an eine »Rückkehr« der Realität »je nach« der Ichsphäre erinnern könnte. Damit wurde die intentionale Analyse wieder der echte Wendepunkt der Phänomenologie. Die kritische Einstellung von Conrad-Martius gegenüber dem Meister wird immer ausdrücklicher und betrifft die »unverständliche Rückkehr zum Transzendentalismus, zum Subjektivismus, wenn nicht gerade zum Psychologismus«.59 Diese Stellungnahme führte Husserl dazu, seine Mißbilligung der Tatsache zum Ausdruck zu bringen, daß manche seiner Schüler nicht gründlich verstanden hätten, was ein »großer Anfang« für ihn sei. In seinem Brief von 1921 an Ingarden hat Husserl nicht nur seine Enttäuschung über Heidegger zum Ausdruck gebracht. Im ersten Teil seines Briefes schreibt er: »Aufrichtig gesagt, wiederholt erwog ich, ob ich nicht vom Jahrb. zurücktreten solle«60. Der Entschluß, auf die Leitung des Jahrbuches zu verzichten, ist aufgrund 59 H. Conrad-Martius, Die transzendentale und die ontologische Phänomenologie, in: Schriften zur Philosophie. Gesammelte kleinere Schriften, hrsg. v. E. Avé-Lallemant, Bd. III, Kösel, München 1963 – 1965, S. 395. 60 E. Husserl, Briefe an Roman Ingarden, S. 23.
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mancher Erwägungen deutbar, die Husserl Ingarden anvertraute; insbesondere bringt Husserl sein Bedauern zum Ausdruck über manche Vertreter der Münchner Schule wie über manche Mitarbeiter, die seinen »Forschungshorizont« nicht verstanden haben: »[Wie über Frl. St[ein]] so über die neue Schrift von Frau C[onrad]-Mart[ius]. Ich war genau so befremdet; aber sie war nie eigentlich meine Schülerin und den Geist einer Ph[ilosophie] „als strenger Wiss[enschaft]“ lehnt sie bewußt ab. […] Selbst Pfänders Phän[omenologie] ist eigentlich etwas wesentlich Anderes als die meine, u. da ihm die konstitutiven] Probleme nie voll aufgegangen sind, gerät er, der übrigens Grundehrliche und Solide, in eine dogm[atische] Metaph[ysik]. Schon Geiger ist nur 1/4 Phänom[enologe]. Sie [= R. Ingarden] aber sind, meine ich, ein ganzer. Wie schade, daß Sie nicht 2 Jahre später hier waren u. die vier intensiven Vorlesungssemester mitgemacht haben«61.
Husserls Enttäuschung betrifft nicht nur Heidegger, sondern auch Conrad-Martius, Pfänder und Geiger. Ganz anders stellt sich die Situation von Edith Stein dar, wenn sie auch mit der Zeit die klassische Phänomenologie Husserls revidierte, insofern, als sie eine ausgesprochen metaphysische Erweiterung dieser Phänomenologie in ihren Untersuchungen durchführt; diese Erweiterung ist stärker ausgeprägt bei Edith Stein als bei Husserl, wenn wir unter Metaphysik klassische Metaphysik verstehen, auf die Edith Stein als wertvolle Hilfe für die Phänomenologie zurückgreift. In diesem Sinne ist der – in Potenz und Akt – Exkurs über den transzendentalen Idealismus zu verstehen, wo sich Edith Stein vom – schnell ausgeschalteten – Kantischen transzendentalen Idealismus, und anschließend von der Phänomenologie Husserls distanziert. Wenn auch diese Kritik – wie wir an anderer Stelle gezeigt haben – m. E. auf das Unvermögen zurückzuführen ist, die Seele der Husserlschen Erkenntnistheorie zu begreifen – d. h. das Prinzip der Beziehung »Bewußtsein–Welt« zueinander, das bei Husserl gar nicht mit einem »Welt«-bewußtsein zu verwechseln ist62. »Distanz«, »Entfernung«, »Revision des Husserlschen Entwurfs« – diese Elemente dürfen nur teilweise auf Heidegger bezogen werden; vielmehr sind sie auf die Beziehungen zwischen Husserl und seinen Schülern zurückzuführen, die in klarem Zusammenhang mit der Denkrichtung ihrer jeweiligen Untersuchungen steht, die je auf die Phänomenologie zurückkommen – zumeist auf diese Husserl sche Phänomenologie, wie sie mit den veröffentlichten Werken und den zuerst in Göttingen, dann in Freiburg bis zum Wintersemester 1927/28 zum Ausdruck gebracht wurde, als Husserl sich ein Jahr vor der Erreichung der Altersgrenze emeritieren ließ.
61 Höchstwahrscheinlich bezieht sich hier Husserl auf Metaphysische Gespräche (1921 veröffentlicht). 62 Für eine eingehende Untersuchung dieses Themas verweisen wir auf F. Alfieri, Il serrato confronto con la fenomenologia husserliana in Potenza e atto di Edith Stein. Al limite della fenomenologia tradizionale, in: A. Ales Bello – F. Alfieri (hrsg.), Edmund Husserl e Edith Stein. Due filosofi in dialogo (Filosofia, 62), Morcelliana, Brescia 2015, S. 41 – 99.
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5.2. »Selbstvernichtung«: von den Überlegungen63 zu den Anmerkungen64 In dieser letzten Abteilung haben wir vor, den Begriff »Selbstvernichtung« mit Bezug auf »Vernichtung« auszulegen, und zwar aufgrund aller Textstellen der Notizbücher, wo diese Verbindung zum Vorschein kommt. In der Tat ist »Selbstvernichtung« in den Anmerkungen ohne Bezugnahme auf die Überlegungen nicht zu verstehen. Da »Selbstvernichtung« in den Beiträgen nicht vorkommt, sind hier die Notizbücher unser einziger Ausgangs- und Endpunkt. Im Nachfolgenden werden die jeweiligen Kontexte und Quellenangaben der betreffenden Textstellen verzeichnet: Überlegungen XIII [107 – 109]: Kontext: der Kommunismus und der englische Staat – Der Kommunismus: »In welchem historischen Zeitpunkt die Selbstvernichtung des Kommunismus einsetzt zu einem sichtbaren Vorgang und Ende […]«; »Die Selbstvernichtung hat ihre erste Form darin, daß der Kommunismus auf den Ausbruch kriegerischer Verwicklungen […] hinausdrängt«. – »die bürgerlich-christliche Form des englischen „Bolschewismus“: »ohne die Vernichtung dieser […]«; »die endgültige Vernichtung kann aber nur die Gestalt der wesenhaften Selbstvernichtung haben, die am stärksten durch die Übersteigerung des eigenen Scheinwesens in die Rolle des Retters der Moralität befördert wird«. Überlegungen XIV [18 – 19] Kontext: Das Wesen der Subjektivität (»treibt und rast« […]) – »Die Selbstvernichtung des Menschentums besteht nicht darin, daß es sich beseitigt, sondern daß es sich jeweils die Geschlechter züchtet, in denen ihm seine Herrlichkeit bestätigt wird, ohne daß diese Blendung als Verblendung sich bloßstellen ließe […]«. Überlegungen XV [12 – 14] Kontext: Der »neuzeitliche« Mensch – »„Politik“ ist neuzeitlichen Wesens und ist als solche stets Machtpolitik […]. Die höchste Art und der höchste Akt der Politik bestehen darin, den Gegner in eine Lage hineinzuspielen, in der er dazu gezwungen ist, zu seiner eigenen Selbstvernichtung zu schreiten«. – Planetarismus: »der letzte Schritt des machenschaftlichen Wesens der Macht zur Vernichtung des Unzertörbaren auf dem Wege der Verwüstung«. – »Weder Vernichten noch Ordnen noch Neuordnen ist wesentliches Genügen einer geschichtlichen Bestimmung, sondern allein das Dichten am Wesen des Seins und das Erbauen einer gegründeten Zugehörigkeit in dieses«. Erläuterung: der Gegner: der »Amerikanismus«; das »Unzerstörbare«: »das Anfängliche«.
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M. Heidegger, Überlegungen XII – XV (Schwarze Hefte 1939 – 1941). M. Heidegger, Anmerkungen I – V (Schwarze Hefte 1942 – 1948).
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Anmerkungen I [26 – 31] Kontext: die Technik; das christliche Abendland – die Technik: »Die höchste Stufe der Technik ist dann erreicht, wenn sie als Verzehr nichts mehr zu verzehren hat – als sich selbst. In welcher Gestalt vollzieht sich diese Selbstvernichtung ? […] der in ihr Wesen eingeschlossenen Unaufhaltsamkeit zum immer „neueren“ – d. h. verzehrenden«. – Das christliche Abendland: »Wenn erst das wesenhaft „Jüdische“ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepnkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, daß das „Jüdische“ überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat, so daß die Bekämpfung „des Jüdischen“ und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt«. Anmerkungen II [66 – 75] Kontext: Das Denken – »Was jetzt unter dem Namen „Philosophie“ sich breitmacht, ist die kirchlich und parteimäßig organisierte oder aber aus Ratlosigkeit und Unvermögen gespeiste Selbstvernichtung des Denkens«. – »Die Atombombe läßt […] nur alles in Staub verfallen, indem sie selbst in die Vernichtung eingeht. Die Öffentlichkeit aber arbeitet sich aus ihrem Vernichtungsgeschäft ständig heraus«. – »Verheerender als die Hitzewelle der Atombombe ist der „Geist“ in der Gestalt des Weltjournalismus. Jene vernichtet, indem sie nur auslöscht; dieser vernichtet, indem er den Schein von Sein errichtet auf dem Scheingrund der unbedingten Wurzellosigkeit«. – »Die eigentliche Niederlage besteht nicht darin, daß „das Reich“ zerschlagen, die Städte zertrümmert, die Menschen durch unsichtbare Tötungsmaschinerien hingemordet werden, sondern daß sich die Deutschen durch die Anderen in die Selbstvernichtung ihres Wesens treiben lassen und sie selbst betreiben unter dem plausiblen Anschein, das Schreckensregiment des „Nazismus“ zu beseitigen«. Überlegungen XIII [107 – 109], S. 154 – 155: Ist der »Kommunismus« die metaphysische Verfassung der Völker im letzten Abschnitt der Vollendung der Neuzeit, dann | liegt darin, daß er bereits im Beginn der Neuzeit sein Wesen, wenngleich noch verdeckt, in die Macht setzen muß. Politisch geschieht das in der neuzeitlichen Geschichte des englischen Staates. Dieser ist – auf das Wesen gesehen und von den zeitgemäßen Regierungs- und Gesellschafts- und Glaubensformen abgesehen – dasselbe wie der Staat der vereinigten Sowjetrepubliken – nur mit dem Unterschied, daß dort eine riesenhafte Vorstellung in den Schein der Moralität und Völkererziehung alle Gewaltentfaltung harmlos und selbstverständlich macht, während hier das neuzeitliche »Bewußtsein« rücksichtsloser, wenngleich nicht ohne Berufung auf Völkerbeglückung, sich selbst im eigenen Machtwesen bloßstellt. Die bürgerlich-christliche Form des englischen »Bolschewismus« ist die gefährlichste. Ohne die Vernichtung dieser bleibt die Neuzeit weiter erhalten. Die endgültige Vernichtung kann aber nur die Gestalt der wesenhaften Selbstvernichtung haben, die am stärksten durch die Übersteigerung des eigenen Scheinwesens in die Rolle des Retters der Moralität befördert
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wird. In welchem historischen Zeitpunkt die Selbstvernichtung des »Kommunismus« einsetzt zu einem sichtbaren Vorgang und Ende, ist gleichgültig gegenüber der seynsgeschichtlich schon gefallenen Entscheidung, die jene unausweichlich macht. Die Selbstvernichtung hat ihre erste Form darin, daß der »Kommunismus« | auf den Ausbruch kriegerischer Verwicklungen in das Unaufhaltsame ihrer vollständigen Machtloslassungen hinausdrängt. (Vgl. oben S. 88 »Der Krieg …« bis S. 89). Als bewußte Taktik ist die Beförderung von Weltkriegen als erstes von Lenin erkannt, gefördert und ausgeübt worden. Sein Jubel über den Ausbruch des Weltkrieges im Jahre 1914 kennt keine Grenzen; je neuzeitlicher solche Weltkriege werden, umso rücksichtsloser fordern sie die Zusammenfassung aller kriegerischen Gewalten in die Machthaberschaft Weniger. Dies bedeutet jedoch, daß überhaupt nichts mehr, was irgend zum Sein der Völker gehört, davon ausgenommen werden könnte, ein Element der kriegerischen Gewalt zu sein. Und gerade diese von Lenin erstmals als »totale Mobilmachung« erkannte und auch so genannte Einrichtung des Seienden auf die unbegrenzte Versteifung der Machtentfaltung in die Maßlosigkeit des Umfassens von Jeglichem wird durch die Weltkriege verwirklicht. Sie trägt den »Kommunismus« auf die höchste Stufe seines machenschaftlichen Wesens. Diese höchste »Höhe« ist die allein geeignete Stätte, um in das von ihm selbst bereitete Nichts der Seinsverlassenheit hinabzustürzen und das lange Ende seiner Verendung einzuleiten. Alle Völker des Abendlandes sind je nach ihrer geschichtlichen Wesensbestimmung in diesen Vorgang einbezogen, sei es, daß sie ihn beschleunigen oder hemmen, sei es, daß sie an seiner Verhüllung | arbeiten oder an seiner Bloßstellung, sei es, daß sie ihn scheinbar bekämpfen oder versuchen, außerhalb seines grenzenlosen Wirkungsfeldes zu bleiben. Überlegungen XIV [18 – 19], S. 181 – 182: Die Selbstvernichtung des Menschentums besteht nicht darin, daß es sich beseitigt, sondern daß es sich jeweils die Geschlechter züchtet, | in denen ihm seine Herrlichkeit bestätigt wird, ohne daß diese Blendung als Verblendung sich bloßstellen ließe. Das Wesen der Subjektivität treibt und rast in dieses Sicheinrichten in der unbedingten Seinsverlassenheit. (Vgl. Vom Wesen der φύσις, S. 10)ag. Das Sichselbstzurechtstellen der geeigneten Selbstbestätigung ist die innerste Wesung der Subjektivität. Daher muß diese von Grund aus erschüttert – d. h. die Metaphysik als solche muß überwunden werden. Warum läßt sich jedes wesentliche denkerische Denken »dialektisch« einebnen und dadurch scheinbar verschärfen und zuspitzen? Weil diese Art der Zerstörung notwendig dort als Gefahr sich verschärfen muß, wo gerade Gründung und Anfang am ursprünglichsten walten. Zu einer Zeit, die alle Sprache nur als Verkehrs- und Organisationsmittel kennt und alles Denken als »Rechnung«, ist der Überfall der Dialektik und der »dialektischen« Verödung auf jeden Sproß und Keim am ehesten ohne Hemmung, ja im Recht. Die wesenhafte Wehrlosigkeit gegen diese Zerstörung, weil jede Abwehr schon in den Bezirk des Flachen sich begeben und das Eigenste aufgeben muß; durch Absteigen wird nie ein Gipfel erreicht, geschweige denn innebehalten im Sinne der stillen Überhöhung. ag Martin Heidegger: Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B,1. In: ders.: Wegmarken. GA 9. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 21996, S. 241 [GA, Hrsg.].
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Überlegungen XV [12 – 14], S. 259 – 260: Der »neuzeitliche« Mensch ist im Begriff, sich zum Knecht der Verwüstung zu machen. Wer als geschichtlicher Mensch geschichtlich handeln muß, der bedarf allem zuvor der Inständigkeit im Wesenhaften, | die schon das Wesentliche alles Wesens anfänglich zum Austrag gebracht hat. »Politik« ist neuzeitlichen Wesens und ist als solche stets Machtpolitik, d. h. die Einrichtung und der Vollzug der Ermächtigung der Macht in dem von ihr übermächtigten Seienden. Die höchste Art und der höchste Akt der Politik bestehen darin, den Gegner in eine Lage hineinzuspielen, in der er dazu gezwungen ist, zu seiner eigenen Selbstvernichtung zu schreiten. Hierbei muß die Politik einen langen Atem und einen langen Arm haben und imstande sein, längere Zeit hindurch Schläge hinzunehmen; sie darf sich durch zeitweilige Niederlagen nicht irre machen lassen. Nicht »bilden« und keine »Typen«, sondern Übereignen in das Sein und Gleichmütige der wesentlichen Ahnung. Man entdeckt jetzt erst und spät genug und nur wieder halb als eine politische Gegnerschaft den »Amerikanismus« (vgl. ob. S. 8). Das Fehlen jeder Selbsterkenntnis bringt es mit sich, daß die Wesensgleichheit dieser Erscheinung mit allen übrigen auf dem Planeten unbegriffen bleibt und der Geschichtsgrund aller nicht bestimmt wird. Dieser aber ist der Planetarismus: der letzte Schritt des machenschaftlichen Wesens der Macht zur Vernichtung des Unzerstörbaren auf dem Wege der Verwüstung. Die Verwüstung vermag das Unzerstörbare zu vernichten, ohne daran gehalten zu sein, dieses überhaupt je zu fassen. Verwüstung aber untergräbt die Möglichkeit des Wesens eines Anfänglichen. Denn das Unzerstörbare ist nicht das irgendwo vorhandene Beständige, sondern das Anfängliche. Weder Vernichten noch Ordnen noch Neuordnen ist wesentliches Genügen einer geschichtlichen Bestimmung, sondern allein das Dichten am Wesen des Seins und das Erbauen einer gegründeten Zugehörigkeit in dieses. Anmerkungen I [26 – 31], S. 18 – 21: Der Denker kommt weiter nur auf die Art, daß er der Nähe des Nächsten und jedesmal von den Gedankenlosen übersehen näher kommt. Weitergehen ist hier das stete Nichtverlieren des Anfangs. Die höchste Stufe der Technik ist dann erreicht, wenn sie als Verzehr nichts mehr zu verzehren hat – als sich selbst. In welcher Gestalt vollzieht sich diese Selbstvernichtung? Erwarten dürfen wir sie auf Grund der in ihr Wesen eingeschlossenen Unaufhaltsamkeit zum immer »neueren« – d. h. verzehrenderen. Heute ist es wesentlicher, wahrhaft da-zu-sein, statt zu »wirken«. Es wird zu viel gewirkt. Das eifervolle Bereden dessen, was denn künftig werden solle und wie die Geschichte »aussehen« werde, wie man sich die Zukunft zu denken habe, all das sind Bekümmernisse nach der Art des ordnenden Planens. Es sind Rückfälle in das Überwundene. Im Zeitalter der Vollendung der Metaphysik ist es wesentlich, zu wissen, daß wir im einfachen Wissen des Seyns einfach da sein müssen. Das langsame Wort
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des Seyns zu denken ist schwer, falls man darauf noch denken darf, ob etwas schwer oder leicht sei. In jeder Lage ist dieses Denken und seine Inständigkeit schwerer als jede Art von Heroismus. Wir nähern uns dem Augenblick der weltgeschichtlichen Prüfung der Deutschen, ob sie es vermögen, den Bereich jenseits von Rationalismus und Irrationalismus zu erfahren und wohnbar zu machen. Warum hindern wir uns selbst an dem Geschick, heutige Kräfte zu erwecken und ihre Gestalt zu bauen? »Revolution« – ihr Wesen müssen wir endlich doch revolutionär verstehen und d. h. worthaft als die Rückwälzung des Wesens in das Anfängliche. Der eigentliche Revolutionär bringt weder Neues, noch bewahrt er Altes, er erweckt das Anfängliche. Im Denken der Denker ist einfaches Da-sein, sofern sie ihr Sagen an der Quelle des Erfahrens halten, für das sich ereignet, was ungesagt bleibt. Der Denker, der reden muß und des Wortes nicht entbehren kann, hat gleichwohl die einfache Zuweisung in ein »Handeln«, das vor allem Tun und Machen und Wirken bloßes Da-sein ist. Nur in diesem Bereich der Geschichte des Denkens erfahren wir, was sich ereignet. Das Geheimnis des Unwesens – Das »Erkennen« und »Wissen«, das uns von den »Wissenschaften« und der »Lebens praxis« angeboten wird, ist in Wahrheit überall τέχνη, die als das Sichauskennen überall jegliches »kennt«, in dem es das zu Kennende durch eine Erklärung überholt und ihm dadurch überlegen wird zu Zwecken einer Meisterung. Das denkerische Wissen will nicht das Seiende überholen durch Beschaffung des neuen Seienden, das erklärt. Das denkerische Wissen geht nur den Gang, um beim Sein anzukommen und vor seiner Wahrheit zurückzutreten. Dieser Rückschritt ist grundverschieden im Wesen von dem für alle Wissenschaften und alle Praktiken unentbehrlichen Fortschritt. Das Verborgenste Wesen der Macht ist die Unsicherheit und die Angst vor ihr. Der moderne Historiker, dessen Geschäft eine Form des Journalismus ist, muß so viel Bücher und Akten lesen und fortgesetzt so viel gelesene Bücher besprechen und so viel Bücher selbst verfertigen, daß ihm nicht auch noch zugemutet werden kann, bei diesem Geschäft einen Gedanken zu fassen und ihm nachzudenken und dabei Gefahr zu laufen, daß das Nachdenken eine Verzögerung in den Geschäftsbetrieb bringen könnte. Das reine Wesen des Griechentums, d. h. das Seiende, inmitten dessen die Griechen als seiende fremd gewesen, dieses und sie selbst und der Bezug des Seins zu ihnen – in der einfachen Wesung von der ἀλήθεια her zeigen und erfahren. Den μῦθος und λόγος – jedes Wort und Gebild rein, aber nicht erzwungen und schematisch-pedantisch – aus ἀλήθεια erfahren. Wir müssen jeden Tag neu den Blick im Unzerstörbaren ruhen lassen. Aus dieser Ruhe entspringt alle Bewegung. Der Anti-christ muß wie jedes Anti- aus dem selben Wesensgrund stammen wie das, wogegen es anti- ist – also wie »der Christ«. Dieser stammt aus der Judenschaft. Diese ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung. Das Zerstörerische in der Umkehrung der Vollendung der Metaphysik – d. h. der Metaphysik Hegels durch Marx. Der Geist und die Kultur wird zum Überbau des »Lebens« – d. h. der Wirtschaft, d. h. der Organisation – d. h. des Biologischen – d. h. des »Volkes«.
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Wenn erst das wesenhaft »Jüdische« im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, daß das »Jüdische« überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat, so daß auch die Bekämpfung »des Jüdischen« und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt. Von hier aus ist zu ermessen, was für das Denken in das verborgene anfängliche Wesen der Geschichte des Abendlandes das Andenken an den ersten Anfang im Griechentum bedeutet, das außerhalb des Judentums und d. h. des Christentums geblieben. Die Verdüsterung einer Welt erreicht nie das stille Licht des Seins. Wir dürfen jetzt nicht »über« das Abendland ein »historisches« Gerede und Geschreibe machen, sondern es gilt, abendländisch zu sein, d. h. anfänglicher den Anfang anfangen lassen. Vorbeigehen am Rechnen der Macht. Einkehr in die Erwartung des Spielzeitraums des Geschichtsah. Daß in Zielen, Werten, Aufträgen, Beiträgen gerechnet wird und gedacht werden muß, zeigt, in welcher Weise das Geschicht schon in die Ungeschichte verworfen ist. Wesentliche Geschichte bedarf nicht der Ziele. Sie ruht in der Wahr-heit. Nicht, daß eine wimmelnde Masse erhalten und ihr Lebensstandard – auch nur das wirtschaftliche Auskommen – gesichert bleibt, ist das geschichtlich Wesentliche – sondern, daß das Sein – als das sich lichtende Gefild der Anwesung und Abwesung der Blickenden gewahrt und die Wahrheit des Seins zum Eigentum wird. Die Absage an das Aufmerken auf die Zugehörigkeit in das Sein ist die grimmigste Verwüstung unseres eigenen geschichtlichen Wesens. Das seynsgeschichtlich Belanglose genießt den Vorzug der historischen Weltöffentlichkeit. »Heimkunft« ist die Zukunft unseres geschichtlichen Wesens. Hier bestimmen nicht »Ziele«. Jetzt stimmt einzig der Anfang. Die Preisgabe in die Verwahrlosung der Wahrheit. ah “Geschick“ (Neutrum), mhd. für „Geschichte“: damit wird nicht das Geschehen der Geschichte als Weltgeschichte gemeint, sondern das Ereignen des Ereignisses.
Anmerkungen II [66 – 75], S. 152 – 158: Landschaft. – Man kann sie »sehen« und entdecken | und beschreiben und ins Gerede und in den Verkehr bringen – nach der Art aller Zugereisten – sie wird zu etwas für alle Welt und von aller Welt Gesichtetem und bekommt ihr Allerweltsgesicht (so läßt sich der Titel Panorama verstehen) oder – einer gehört dem Land, braucht es nicht anzugaffen und dabei meinen, er gehöre kraft des Gaffens dazu – er steht in ihr schweigend und so als kennte er sie nicht. Daß sie aber in ihm spricht – nicht er über sie – kommt in Anderem zur Sprache. Und selbst diese Überlegung sollte nicht aufgezeichnet sein. Wer unvertraut bleibt mit dem Denken, meint, dieses sei, weil es den Anschein von »Reflexion« zeige, eingeweiht in sein Wesen. Nur das halbwüchsige Denken beobachtet sich selbst und gerät noch auf den Einfall, mit einer »Logik« sich den Abschluß zu schaffen.
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Die seltsamste und vielleicht stärkste Wirkung, die ein Denken ausübt, ist jene, die in den Gegnern wider deren Wollen und Wissen erfolgt. Kaum aber sind sie je so geartet, daß ein Denken von ihnen lernen | könnte. Die Gegnerschaft ist zu abhängig von dem Trugbild, gegen das sie angeht und das sie notwendig auf eine Ebene des Prekären hinabstößt. Weil der Lärm der Gegnerei nicht eine innere Dauer eines sachhaltigen Gewichts aufbringt, muß er immer neu und immer lauter gemacht werden. Schließlich meint sogar dann eine aufwachsende Jugend, »hören« sei nichts anderes als das Weitertragen von Lärm. Was jetzt unter dem Namen »Philosophie« sich breitmacht, ist die kirchlich und parteimäßig organisierte oder aber aus Ratlosigkeit und Unvermögen gespeiste Selbstvernichtung des Denkens. Als das Denken bei den ersten Denkern des Abendlandes, d. h. bei den ersten und einzigen Denkern zu Ende war, mit und nach dem Denken der Griechen (Aristoteles), entstand die »Logik«. »Philosophie« ist jetzt der Name für die Ausreden einer organisierten Angst vor dem Denken. ― Im Denken warte des Wohnens im Geschick. Das Denken stiftet andenkend das Licht des Einst. Schule und Historie setzen das Denken dem Verderb aus. Das Weglassen lernen wir nur im Seyn-Lassen des Seyns. Abhängiger noch als die Schuldner von ihren Gläubigern sind diese von jenen. Gerechnete Verhältnisse sind ohnedies unfreie. Der Dank fällt nicht in sie. Und wo die Pflicht zum Dank geltend gemacht wird, ist der Dank, der ihr entspricht, schon nicht mehr Dank; denn er entspringt nicht im Denken. In einer Zeit, da die Angst vor dem Denken als »Philosophie« gilt, muß jeder, der noch aus einem Bezug der Sache des Denkens lebt, sich über die erste Entscheidung klar sein. Sie heißt: wegbleiben. Sie ist aber nur im Anschein negativ. Sie kommt aus dem Wartenkönnen. Warten: freilich nicht auf eine spätere Zustimmung einer Öffentlichkeit; sondern warten, über die eigene Lebenszeit hinaus, auf den Blick einer Lichtung des Seyns, der sich dem Menschen ereignet. In der Natur der Sache liegt es wohl, daß die Sache des Denkens, die wohl die Sache des Menschen ist, sich dem Menschen ständig entzieht und ihn so gerade anzieht, damit das Denken ein An-denken werde. Bei der Sache bleiben, koste dies, was immer es koste. Denn hier wird nicht mehr gerechnet. Eine »wörtliche« Übersetzung besteht nicht darin, daß man die entsprechenden »Wörter« nach Anzahl und grammatischer Form setzt, sondern daß wir »das Wort« treffen und zwar im Herkommen aus dem Sagen der übersetzenden Sprache. Im Weltalter der Kriege und Zerstörungen ist es nötig, das Kostbare zu schützen. Der beste Schutz bleibt, daß es unauffällig im Unbekannten gehalten wird. Die größte Zerstörungskraft eignet heute der Öffentlichkeit. Denn sie zerstört, indem sie den Anschein errichtet, als baue sich in ihr und durch sie eine Welt auf. Die Atombombe läßt dagegen nur alles in Staub zerfallen, indem sie selbst in die Vernichtung eingeht. Die Öffentlichkeit aber arbeitet sich aus ihrem Vernichtungsgeschäft ständig heraus. Dieses ist ihr Element. Es gilt, vor dieser Zerstörung das Kostbare, das Denken als Andenken, in das Unbekannte zurückzunehmen, gleichsam zu vergraben.
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Wir können das Seyn nie erzwingen, aber er-warten: im Austrag des Behütens seiner Wahrheit eine Ankunft bereiten. Oft faßt einen das Grauen bei der Aussicht, daß auf Jahrzehnte hinaus bei uns kein Denken mehr sein wird, sondern nur ein zuchtloses »Weltanschauungs«-gerede, das noch gar nicht merkt, wie sehr es sich mehr und mehr in die Botmäßigkeit dessen begibt, was man als »verruchtes System« ausrotten möchte. Man schaltet zwar dessen »Inhalte« aus und beseitigt die vormaligen Anhänger. Dafür behält man jedoch um so entschiedener den Stil zurück und umgibt ihn mit christlichen und humanitären Phrasen. Verheerender als die Hitzewelle der Atombombe ist der »Geist« in der Gestalt des Weltjournalismus. Jene vernichtet, indem sie nur auslöscht; dieser vernichtet, indem er den Schein von Sein errichtet auf dem Scheingrund der unbedingten Wurzellosigkeit. Der absolute Journalismus betäubt die heute Stil gewordene Angst vor dem Denken und sorgt so für die gründlichste Ausrottung des Denkens. Wir müssen uns und die Kommenden darauf bringen, daß inskünftig für lange Zeit das Denken ein kostbarer Schatz bleibt, den man am besten hütet, wenn man ihn tief vergräbt. Mit »Pessimismus« hat das nichts, aber viel mit Nüchternheit zu tun. (Später erwähnt in einem Brief an Manfred Schröterai.) Rettungen und Verteidigungen gegenüber der | Öffentlichkeit sind unnötig. Aber nötig ist die Ruhe für die Unruhe des Denkens. Im Denken ist es gut, öfter und dabei, wie neu ankommend, dorthin zurückzukehren, wohin der Weg schon einmal gelangte. Weshalb gelangen wir denkend nur so weit im Element des Seyns, wie weit das Geschick der Wahrheit des Seyns aus diesem herkommt? Das Maß im Einst. Im Bereich des Einfachen sind wir unversehens und ohne daß sich etwas in seiner Unmöglichkeit genügend anzeigt, auf dem Irrweg. Wir finden uns dann bei einem Vorhaben, das dem Versuch gleicht, auf einem Baum Fische zu fangen. Eine Gesetzgebung des Da-seins, die das Gesetz aus dem Geschick des Da-seins erst werden und – im Werden läßt, auf die Gewähr, daß sich sogar das Wesen von Gesetz wandelt. Das Zu-Denkende: Der Unterschied im Geschick des Einst. Meine Personalakten in der Philosophischen Fakultät Freiburg sind verschwundenaj. Vielleicht beweist ein späterer Historiker der Universitätsgeschichte auf Grund dieses Fehlens der Akten, daß meine dreißigjährige Tätigkeit an der Universität eine Fiktion sei. »Meine Philosophie« – falls der törichte Ausdruck gebraucht werden darf – sei »die Philosophie des Abgrunds« – ich frage zurück: stehen wir etwa nicht am Abgrund? Nicht nur wir, die Deutschen, nicht nur Europa – sondern »die Welt«? Und nicht nur seit gestern und schon gar nicht »durch« Hitler, so wenig wie »durch« Stalin oder »durch« Roosevelt. – ai Manfred Schröter (1880 – 1973) promovierte 1908 mit einer Arbeit über Schelling. Der spätere Editor der Münchner Jubiläumsausgabe von Schelling (1927/28) war seit 1909 mit einer Jüdin verheiratet, weshalb er in der Zeit des Nationalsozialismus eine Dozentur an der TU München aufgeben mußte [GA, Hrsg.]. aj Die Akte wurde am Beginn der neunziger Jahre im damaligen Domizil der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (Erbprinzenstraße 13) mit anderen Personalakten in einer Badewanne gefunden. Vgl. Danksagungen im Nachwort des Herausgebers [GA, Hrsg.].
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Ist ein Denken gefährlich, das denkt, was ist? Oder will man »denken«, was nicht ist? Will man überhaupt nicht denken, sondern faseln, die Faselei über »das Wirkliche« fortsetzen? Man will nur dieses. Man steht immer noch nicht am Abgrund, man will gar nicht wissen, was das ist. Gleich als hetzte da eine geheime Angst davor, daß der Mensch mit dem Blick in den Abgrund gerade nur erst beginnt, zu erfahren, erfahren zu lernen, was ist. Gleich als hätten die Rechner und Zersetzer, | die alles durch ihre Intellektualität zerreiben, Angst vor jener Leere, in der ihr Gefasel und ihre organisierte Zerstörerei auch bei denen, die törichter sind als die Deutschen, nichts mehr verfängt. Die eigentliche Niederlage besteht nicht darin, daß »das Reich« zerschlagen, die Städte zertrümmert, die Menschen durch unsichtbare Tötungsmaschinerien hingemordet werden, sondern daß sich die Deutschen durch die Anderen in die Selbstvernichtung ihres Wesens treiben lassen und sie selbst betreiben unter dem plausiblen Anschein, das Schreckensregiment des »Nazismus« zu beseitigen. Man wird dieses, zumal wenn es hinreichend präpariert und geschichtlich isoliert worden ist – als sei es ohne Zu-tun der Anderen, plötzlich im Januar 1933 vom Himmel gefallen, um sich, ebenso isoliert, in den nächsten zwölf Jahren zu entwickeln – man wird dieses so präparierte Gebilde jederzeit mit Recht der Weltöffentlichkeit als Schande vorführen können. – Aber es wird schwer sein, den Blick so frei und überlegen zu machen, daß er erkennt, wie eben dieses Rechthaben – im Grunde eine planetarische Irreführung darstellt, die alles in die Verwirrung treibt. Vielleicht weiß »Man« sehr gut, daß auf diesem Wege am sichersten der zugleich gebrandmarkte »Nazismus« noch unheilvoller angereizt und gezüchtet wird. Man wird auch dieses, von langer Hand vorbereitet, wollen, um dann noch einmal zur letzten Maßnahme der Ausrottung unter noch lauterem Humanitätsgeschrei auszuholen. Und das Christentum versucht, während diese Teufelei »anläuft«, noch da und dort seine kulturellen Geschäfte zu machen. Man verzeichnet mit Genugtuung über soviel neu erreichte Modernität, daß der Leiter der Fernsehforschungsgesellschaft – ein Katholik sei. Man predigt zugleich, die Technik müßte dem Menschen dienen. Man wagt es gleichzeitig, solches törichtes Zeug zu reden und den »Joseph Goebbels« als einen Lügner an den Pranger einer äußerst fragwürdigen Weltöffentlichkeit zu stellen. Im wirklichen Gehen, zumal im Gang des Denkens – können wir nie zugleich hinter uns hergehen, um auch dieses Gehen noch zu belauern. Ob sich bald wohl einige noch finden, die sich | mit einem merkbaren Ruck von dem elenden Zeitschriftengeschwätz abkehren und der nachwachsenden Jugend noch einmal zeigen, was Arbeit im Geiste ist? Werkstatt, nicht Faseleien. Aber auch dieses Zeigen ist schon zu spät. »Katholische Philosophie«, dieses Gebilde, und eher noch sein Aushängeschild, wagt sich jetzt aufdringlicher hervor. Daß sich schon im bloßen Titel die bare Unmöglichkeit kundtut, scheinen die noch nicht zu merken, die meinen, es sei nötig, mit dieser Form von Spiegelfechterei sich einzulassen. »Katholische Philosophie« – das ist nicht viel anders als »nationalsozialistische Wissenschaft« – ein viereckiger Kreis, ein hölzernes Eisen, das, wenn es ins Feuer kommt, zur Asche zerfällt, statt gehärtet zu werden. Aber es geht nicht einmal ins Feuer. Es erhebt nur ein großes Geschwätz nach dem Vorbild des modernen Journalismus – auch vor der »Aneignung« dieser
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Erscheinung schreckt man nicht zurück. »Katholische Philosophie« – dieser Titel erklärt schon, falls man ihn denkt, die unbedingte Bereitschaft zum – Verzicht auf das Denken, aber hinter der Fassade und mit dem Aufwand der Terminologie des jeweils gerade gängigen »Philosophierens«, das auch nicht immer schon Denken ist.
Der »Kommunismus«, der »englische Staat«, das Wesen der »Subjektivität«, der »neuzeitliche« Mensch, die »Technik«, das »christliche Abendland« und schließlich das »Denken«: ebensoviele Hauptfiguren auf der Szene, die mit Vernichtung und Selbstvernichtung in den Notizbüchern zusammenhängen. Um deren Gebrauch in den Anmerkungen I-II (1942 – 1946) zu erläutern, ist eine Erweiterung unserer Untersuchung erforderlich, die auch den Überlegungen Rechnung trägt. Daß manche Leser nur die ersten Zeilen der Anmerkungen I [30] berücksichtigt haben, gehört zu den Gründen, die eine sachliche Prüfung des Begriffs »Selbstvernichtung« im gehörigen Zusammenhang verhindert haben. Da diese Anmerkungen ab 1942 niedergeschrieben wurden, war die Versuchung naheliegend, sie nur aufgrund ihrer ersten Zeilen zu lesen, und sie auf dieses Minimum zu beschränken, anstatt sie weiterzulesen. Es ist unleugbar, daß der einzige Schlüssel in der Interpretation der Anmerkungen nach deren Veröffentlichung jede Überlegung auf diese Ausgangsposition zurückführte, wie auf beliebige Deutungen des Begriffs »Selbstvernichtung«; eben deshalb wurde der vielschichtige Gehalt der Anmerkungen nicht ordentlich geprüft – und zwar derart, daß die gesamte Argumentation unseres 5. Abschnitts versäumt wurde. Die voreingenommenen Interpretationen von »Selbstvernichtung«, die mit sicherem Effekt auf die Öffentlichkeit verstärkt wurden, haben jede eingehende Betrachtung aufgehalten und einseitige, restriktive Deutungen verursacht. Der allzu wörtliche Sinn, den Viele diesem Wort gaben, wurde zur ganz allgemeinen Falle. Daher ist es wohl begreiflich, weshalb der Inhalt der Anmerkungen I–V totgeschwiegen und nur überflogen wurde; weil sonst die Instrumentalisierung geschwächt worden wäre, die die »Selbstvernichtung« als einzigen Anhalts- und Stützpunkt betrachtet. Dieses Verfahren hat dazu beigetragen, den Inhalt aller anderen Anmerkungen zu mindern und schließlich zu beseitigen; die Bevorzugung der Anmerkungen I [30] als Quellenangabe für die Interpretation von »Selbstvernichtung« ist aber für Viele nicht von großem Nutzen gewesen: damit – wie hier nachgewiesen – wurde nur eine hermeneutische Verzerrung ausgeweitet bezüglich dieses Begriffs und seines gehörigen Kontexts. Im Allgemeinen ist es nicht möglich, eine ordentliche Auslegung der Notizbücher durchzuführen, wenn man seine eigene »Weltanschauung« nicht beiseite läßt. »Selbstvernichtung« ist eine Form von Vernichtung. »Selbstvernichtung« wird auf den Kontext des »Kommunismus« und des »englischen Staates« bezogen (Überlegungen XIII [107 – 109]) und ist nicht mit einer Selbstvernichtung im wörtlichen Sinne gleichzusetzen, sondern bedeutet Aufrechterhaltung und Steigerung beider oben genannten Wirklichkeiten, die mit der Zeit absolute Formen annehmen. So enthüllt sich die Selbstvernichtung in deren Auftreten, wie dem Gebrauch der Verbalformen zu entnehmen ist: »auf den Ausbruch kriegerischer Verwicklun-
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gen […] hinausdrängt« (Kommunismus); »die am stärksten durch die Übersteigerung des eigenen Scheinwesens […] befördert wird« (die bürgerlich-christliche Form des englischen „Bolschewismus“). In gleichem Maße ist die auf »das Wesen der Subjektivität« bezogene »Selbstvernichtung« (Überlegungen XIV [18 – 19]) als Selbstbestätigung zu verstehen – und eben deswegen darin besteht, daß das Menschentum »sich jeweils die Geschlechter züchtet, in denen ihm seine Herrlichkeit bestätigt wird«. Unter dieser neuen Form »treibt und rast« das Wesen der Subjektivität »in dieses Sicheinrichten in der unbedingten Seinsverlassenheit«. In dieser Denkrichtung wohnen wir mit dem »neuzeitlichen Menschen« (Überlegungen XV [12 – 14]) der Herrschaft der Machtpolitik bei, d. h. der Einrichtung und des Vollzugs »der Ermächtigung der Macht in dem von ihr übermächtigten Seienden«. Die Selbstvernichtung wird zur höchsten Form, die diesen Machtspielen innewohnt, in denen das Seiende den höchsten Grad der Macht erreicht und in dem das, was sich selbst vernichtet, immer aufrechterhalten wird in der Abfolge immer neuer Aspekte. Ist die Seiendheit des Seienden durch die Vernichtung mit den Denkschemata der Übermacht verstanden, besteht die Selbstvernichtung darin, daß alle Strategien übersteigert werden, die diesen Denkschemata ihre Be-harrlichkeit und Unveränderlichkeit sichern. Der Gedankenweg der Überlegungen wird in den Anmerkungen fortgeführt, wobei die »Technik«, »das christliche Abendland« und das »Denken« die Orte sind, in denen die Selbstvernichtung sichtbar wird. So erreicht die »Technik« die höchste Stufe der Selbstvernichtung, »wenn sie als Verzehr nichts mehr zu verzehren hat – als sich selbst«, und zwar »auf Grund der in ihr Wesen eingeschlossenen Unaufhaltsamkeit zum immer „neueren“ – d. h. verzehrenderen«. Infolgedessen kommt Selbstvernichtung dem stetigen Einräumen eines neuen Spielraums für die Machenschaft gleich, der den Willen zur Macht zu immer neuen Bereichen seiner Vorherrschaft treibt, damit er seine Herrschaft verstärkt, die in dieser Steigerung sich erhält und befestigt. Die Bezugnahme auf das »christliche Abendland«, wie auf das Judentum und das Jüdische hat keinerlei ausdrücklichen oder impliziten Bezug zu irgendetwas, wonach zu vermuten wäre – sofern etwas Derartiges angenommen werden könnte – daß Heidegger sich auf das jüdische Volk als solches bezieht: der Höhepunkt der Selbstvernichtung wird dann erreicht, wenn »das wesenhaft „Jüdische“ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft«, und so gegen sich selbst vorgeht, d. h. den Höhepunkt der Selbstvernichtung erreicht, als die Einkapselung in der Starrheit der Berechenbarkeit (die zu den verbreiteten zeitgemäßen Klischeevorstellungen gehört) sich seinem Wesen entgegenstellt; dieser Höhepunkt der Selbstvernichtung entspricht der höchsten Stufe der Metaphysik des christlichen Abendlandes, in welcher die »Weltanschauung« von der Nicht-zugehörigkeit zur Seinsgeschichte gekennzeichnet ist. Im Hintergrund bleiben immer das christliche Abendland und die Kategorien, auf die Heidegger zurückgreift und mit denen er beschreibt, wie die Selbstvernichtung eine Konstante ist, die im Laufe der Ge-
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schichte besteht und unter neuen Formen immer wieder auftaucht. Bezüglich des »Denkens« (Anmerkungen II [66 – 75]) waltet eine neue Form der Vernichtung in der Selbstvernichtung des Denkens durch das, was jetzt als »kirchlich und parteimäßig organisierte […] Selbstvernichtung des Denkens« »unter dem Namen „Philosophie“ sich breitmacht«. Schließlich weist die Bezugnahme auf die »Öffentlichkeit« wie auf deren »Vernichtungsgeschäft« nochmals darauf hin, daß die Selbstvernichtung als ein systematisches Tun zu verstehen ist, das verfügt, daß die »Weltanschauung« einer von der Übermächtigung des Seienden beherrschten Moderne und, andererseits, Heideggers Entwurf einer Gründung eines wesentlichen Wissens unvereinbar sind.
6. Postskriptum Dieses Postskriptum stellt etwas Selbständiges dar, völlig unabhängig von den bisherigen durchgeführten Analysen, und zwar insofern, als manche in ihm erörterte Fragen viel zu tun haben mit einem Gedankenweg, der sich von den abgegriffenen, von Klischeevorstellungen gespeisten Denkschemata weit abseits halten will. Sich davon distanzieren, heißt abseits vom Wahnsinn der Verwirrung liegen, die das Denken anpaßt und mit Bereichen vermischt, in die es nie freiwillig absinken kann. Nur in der Besinnung rückt uns diese Distanz in eine aktive Bewegung bzw. Unruhe, die darin besteht, stets über jedes bestimmbare Jenseits hinaus zu gehen, wobei die Sprache in ihrer Unvollkommenheit sich als biegsam erweist, in dem Sinne, daß sie nicht imstande ist, die einheitliche Fülle des »Jenseits« zu versammeln, d. h. sich anzueignen. Anläßlich mancher Pausen in unserem Gedankengang sahen wir rückblickend, wie das Fragen nie aufhört, drängend zu sein. Macht man Halt, dann bemerkt man, daß unser Blick auf die Welt sich verändert hat: damit eröffnet sich eine Perspektive, die uns auch befähigt, manche Elemente festzustellen, die hier zur Kenntnis genommen werden sollten. Kommen wir auf die im Abschnitt 3. 2.65 noch schwebende Frage bezüglich des Nachwortes zum Band 95 zurück, und insbesondere auf folgende Behauptung des deutschen Herausgebers der Notizbücher: »Der Hintergrund dieser Äußerungen über das “Judentum“ sowie der Auslegung des nationalsozialistischen Alltags bilden freilich all jene Gedanken, die wir aus Heideggers zur selben Zeit entstehenden seinsgeschichtlichen Abhandlungen kennen: den „Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)“ (GA 65, 1936 – 1938), der „Besinnung“ (GA 66, 1938/39) sowie der späteren „Geschichte des Seyns“ (GA 69, 1939/1940), „Über den Anfang“ (GA 70, 1941) und „Das Ereignis“ (GA 71, 1941/42). Immer wieder finden sich in den „Überlegungen“ Anklänge an diese Schriften«66.
65
s. oben S. 121. Trawny, Nachwort des Herausgebers, in: M. Heidegger, Überlegungen VII – XI (Schwarze Hefte 1938/39), S. 452. 66 P.
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Hier führt der deutsche Herausgeber die Überlegungen an die Bände 65, 66, 69, 70 und 71 der Gesamtausgabe heran, wohl ist aber diese Heranführung nur ein Vorwand, um einen Zweifel zu streuen, den wir bald ausräumen wollen. Da die Überlegungen und ganz allgemein die Schwarzen Hefte zur selben Zeit entstanden wie die großen seinsgeschichtlichen Abhandlungen, ist es selbstverständlich, daß diese auf jene sich durchgehend beziehen. Mit seiner Behauptung will aber der deutsche Herausgeber unterstellen, die »Äußerungen über das „Judentum“ sowie [die] Auslegung des nationalsozialistischen Alltags« seien in die entworfene Seinsgeschichte eingeschrieben. Schwerwiegend sind diese unbegründeten Beschuldigungen, und demzufolge sind sie keineswegs totzuschweigen. In seinem späteren Buch Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung behauptet der deutsche Herausgeber, »sie [die Schwarzen Hefte] werden in eine seinsgeschichtliche Topographie oder Autotopographie […] versetzt, in der ihnen eine besondere und spezifische Bedeutung zugeschrieben wird, und diese Bedeutung ist antisemitischer Natur«67. Hier darf der strittige Punkt gar nicht in den Hintergrund gerückt werden, da er solche riesigen Ausmaße annimmt, daß er die schweren Beschuldigungen des deutschen Herausgebers noch verstärkt: daraus ergibt sich in der Tat, daß er sowohl Heidegger wie das seinsgeschichtliche Denken als antisemitisch bezeichnet. Von seinem Nachwort ab hat er eine ganze Reihe von Unterstellungen zur Sprache gebracht, die – obwohl unberechtigt – in seinen Schriften wiederaufgenommen wurden; so verstieß er – ganz unbehelligt – gegen die ausdrücklichen Anweisungen Heideggers bezüglich der Herausgabe der Bände der Gesamtausgabe68. 67 Ders., Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Klostermann, Frankfurt a. M. 20153, S. 15. 68 Dieses Argument wurde in meinen Freiburger Gesprächen mit F.-W. von Herrmann intensiv abgehandelt. Heideggers vertraglich festgelegte Anweisungen mit Vittorio Klo stermann bezüglich der Herausgabe der Bände der Gesamtausgabe sind klar und deutlich und bestimmen auch den Spielraum der Übersetzer dieser Bände in Fremdsprachen: »Die Herausgeber und Übersetzer dürfen keine Vorworte schreiben, sondern nur Nachworte. Die Nachworte der Herausgeber sollen sich auf ihre jeweilige Arbeit als Herausgeber beschränken, und sich jeder Interpretation des Inhalts des betreffenden Bandes enthalten« ; ebenso »darf der Übersetzer seine Arbeit an der Übersetzung ansprechen, muß sich aber jeder Besprechung und Interpretation dessen enthalten, was er übersetzte«. Diese Anweisungen sind verbindlich, und nicht zuletzt für Franco Volpi, als er eine Kopie der Fahnen seiner italienischen Übersetzung der Beiträge, Contributi alla filosofia (Dall’Evento), an das Verlagshaus Klostermann versandte. Da von Herrmann als wissenschaftlicher Hauptmitarbeiter an der Gesamtausgabe den Fall Volpi verfolgte, berichte ich hier vollständig über unser Gespräch: »Als Nachlaßverwalter stellte Hermann Heidegger fest, daß Volpi als Übersetzer und Her ausgeber insofern gegen die oben genannten Anweisungen verstieß, als er ein Vorwort verfaßte, in dem er den Inhalt des betreffenden Bandes interpretiert. Das Nachwort sollte er demzufolge in eine Avvertanza del Curatore dell’edizione italiana [Hinweis des Herausgebers für den Leser der italienischen Ausgabe] verändern, und die Ausführungen seiner eigenen Auslegungen wurden schlicht und einfach gestrichen. Diese Maßnahmen haben das Verlagshaus Klostermann und Hermann Heidegger einmütig ergriffen«. Später wurde die vollständige Urfassung dieser Avvertanza in F. Volpi, La selvaggia chiarezza. Scritti su
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Die Hypothese eines vermeintlichen Antisemitismus Heideggers haben wir aufgrund des Inhalts der Notizbücher vollständig zurückgewiesen: dieser bleibt der Heidegger [Wilde Lichtung. Schriften zu Heidegger] (Adelphi, Mailand 2011, S. 267 – 299) veröffentlicht. Beim Vergleich beider Fassungen stellt sich heraus, daß Folgendes beseitigt wurde: in allererster Linie wurden die Unterteilungen in 8 Abschnitte sowie die mit Quellenangaben versehenen 57 Fußnoten des Herausgebers ausgeschaltet; F. Volpis eigene Auslegungen, – die in der vollständigen Fassung einen beträchtlichen Teil ausmachen (s. S. 268 – 280; von den 3 letzten Zeilen der S. 283 bis zur S. 285 und S. 296 – 299), und der Text wurde zum größten Teil revidiert, der dann in der italienischen Ausgabe als Avvertenza del Curatore erscheinen durfte. Das Übrige wurde beseitigt, sowie einige Hinweise von Volpi auf die »persönliche Krise«, die Heidegger in den Jahren 1936 – 1938 durchgemacht hätte und die 1. Fußnote, in der geschrieben stand: »Nach Pöggeler trieb diese Krise Heidegger dazu, an Selbstmord zu denken«. Für solche Hinweise, wie der Hinweis auf den Privatbriefverkehr zwischen Heidegger und Elisabeth Blochmann in den Jahren 1932, 1935 und 1938 (s. ebd. S. 273 und 275) – d. h. zur Zeit der Entstehung der Beiträge – ist der Her ausgeber/Übersetzer als solcher nicht zuständig; man möchte meinen, dieser Hinweis auf Blochmann sei doch nicht so unanständig, dennoch wurde er beseitigt, da deren »Affäre« mit Heidegger damals noch nicht zum Gemeingut geworden war wie heutzutage (s. unten, Martin Heidegger war kein Antisemit, S. 279 – 280). Über den Briefverkehr mit E. Blochmann hinaus bezog sich Volpi auf andere Briefwechel, wie z. B. auf denjenigen mit Hannah Arendt im Jahre 1950 (s. ebd. S. 274 – 275) sowie auf den Briefwechsel von Arendt mit Karl Jaspers im Jahre 1949, in dem Arendt berichtet: »Ich las den Brief gegen [sic] den Humanismus, auch sehr fragwürdig und vielfach zweideutig, aber doch das erste, was wieder auf dem alten Niveau ist. (Ich las hier über Hölderlin und ganz scheußliche, verschwatzte Nietzsche-Vorlesungen.) Dies Leben in Todtnauberg, auf Zivilisation schimpfend und Sein mit einem y schreibend, ist ja doch in Wahrheit nur das Mausloch, in das er sich zurückgezogen hat« (ebd. S. 284; vgl. Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926 – 1969, Piper Verlag 1985, S. 178, Brief vom 28. September 1949). Damit verstehen wir, warum diese Urfassung nach dem ausgesprochenen Willen von Hermann Heidegger »zensiert« wurde: neben Volpis Interpretation über den Inhalt der Beiträge waren Elemente zu finden, die in einem Hinweis für den Leser der Beiträge völlig unangebracht sind. Damit beziehen wir uns auf einige Redewendungen von Volpi bezüglich des von ihm übersetzten Buches, die ebenso von der Ausgabe beim Verlag Adelphi im Jahre 2007 beseitigt wurden, wie z. B.: »Dazu wären die ersten Anregungen hinzuzufügen, die wir dem heimlichen Umlauf des Manuskripts zwischen den Anhängern verdanken, ebenso wie die Überzeugung, daß diese Seiten den Schlüssel enthalten, um das Denken des „zweiten“ Heidegger zu entziffern« (ebd., S. 267). Entscheidend bleibt aber der Inhalt des Schlußteils seines Textes, wo der Verf. auf die »wilde Lichtung« zurückgreift: »Seine genialen Experimente mit der Sprache implodieren, wobei er immer mehr wie ein Seiltänzer aussieht, sogar wie jemand, der immer das gleiche wiederkaut. Sein Gebrauch der Etymologie erweist sich als ein Mißbrauch. Seine Überzeugung, nach welcher die eigentliche Philosophie nur Altgriechisch und Deutsch (und warum nicht Latein ?) sprechen könnte, ist übertrieben. Sein Lob der Rolle des Dichters ist auch eine Überschätzung, wie die großen Hoffnungen, die er auf das dichtende Denken setzt, ein frommer Wunsch bleiben. Seine Anthropologie der Lichtung, wobei der Mensch als Hirt des Seins fungiert, ist ein unzulässiger und undurchführbarer Vorschlag. Ein Rätsel bleibt nicht so sehr das Denken des späten Heidegger als vielmehr die unterwürfige und des öfteren unkritische Bewunderung, die jenem gewidmet worden ist und die soviel Scholastik erzeugt hat« (ebd., S. 298 – 299). Aus diesen kurzen, wohl aber bedeutsamen Andeutungen ist die Folgerung zu ziehen, und zwar mit folgender Grundfrage: ob eine solche Beurteilung,
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
einzige Kern der Sache, da der angebliche Antisemitismus Heideggers erst seit der Veröffentlichung dieser Notizbücher als Hypothese aufgestellt wurde. Nach Zurückweisung dieser Hypothese bliebe freilich noch zu klären, warum der deutsche Herausgeber die Bände 65, 66, 69 70 und 71 der Gesamtausgabe in Frage gestellt hat. So will der von ihm gesäte Zweifel den ganzen Gedankenweg Heideggers von der Wurzel her ab 1936 unterminieren und in gewisser Weise die Aufmerksamkeit auf dessen Notizbücher richten: diese seien die Meisterleistung, das geheimnisvolle Werk, in dem die entlegensten antisemitischen Sprüche – und demzufolge nazifreundlichen – Sprüche zu finden seien, und in denen die Bausteine seines Gedankenweges und die in seinem Nachwort aufgezählten fünf großen seinsgeschichtlichen Abhandlungen schon zur Verfügung stünden. Falls diese Andeutungen wahr wären, dann wären wir nicht mehr im Bereich des Zweifels bzw. des Bedenkens, sondern in demjenigen der Gewißheit. Es besteht aber nur ein unbegründeter Zweifel, für den der deutsche Herausgeber bis jetzt keinerlei Beweis zur Rechtfertigung dessen erbrachte, was er behauptet. Uns bleibt es nur, den umgekehrten Weg zu gehen, um die Tragweite dieser Unterstellung zu begreifen: da in den Notizbüchern Überlegungen und Anmerkungen vorliegen, die dann wieder aufgenommen und vertieft wurden, wollen wir prüfen, ob und wie Hinweise auf die Überlegungen oder auf die Anmerkungen in den fünf eben erwähnten Abhandlungen zu finden sind. Freilich wurde ein beträchtlicher Teil des Materials der Notizbücher in den Abhandlungen wieder aufgenommen oder vertieft: verzeichnen wir diese Hinweise in der folgenden Liste: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65) 69 – 21 Verweise auf Überlegungen II, IV, V, VI; Überlegungen IV [85 ff.]; Überlegungen IV (über den Anfang und den Übergang); Überlegungen IV [90]; Überlegungen IV [96]; Überlegungen IV [83]; Überlegungen VI [33, oder sei es nur Stellungnahme von Volpi über Heidegger in der Avvertenza del Curatore der Beiträge am richtigen Platz seien und als solche veröffentlicht werden dürften ? Dieser Schwierigkeit wurde schon zu Lebzeiten Heideggers peinlich genau zuvorgekommen, und eben deswegen lag ihm sehr viel daran, daß seine Anweisungen festgelegt und von den Her ausgebern und Übersetzern gewissenhaft befolgt werden. Im Fall Volpi mußten sich Hermann Heidegger und von Herrmann in Zusammenarbeit mit Klostermann dafür verbürgen, daß Heideggers verbindliche Anweisungen eingehalten würden. Die durch den deutschen Herausgeber der Notizbücher entstandene Situation entging einer aufmerksamen Analyse, und zwar vermutlich, weil ihre Auswirkungen zuerst wohl unterschätzt worden sind. 69 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, »I. Vorblick« (S. 1); § 16 »Philosophie*« (S. 43); § 23 »Das anfängliche Denken. Warum das Denken aus dem Anfang ?« (S. 57); § 40 »Das denkerische Werk im Zeitalter des Übergangs« (S. 83); § 52 »Die Seinsverlassenheit« (S. 112); § 56 »Das Währen der Seinsverlassenheit in der verborgenen Weise der Seinsvergessenheit« (S. 118); § 76 »Sätze über „die Wissenschaft“*« (S. 147); § 105 »Hölderlin – Kierkegaard – Nietzsche« (S. 204); »IV. Der Sprung*« (S. 225); § 136 »Das Seyn*« (S. 255); § 171 »Da-sein*« (S. 294); »VI. Die Zu-künftigen*« (S. 393); § 251 »Das Wesen des Volkes und Da-sein« (S. 398); § 257 »Das Seyn« (S. 421); § 258 »Die Philosophie« (S. 422); § 265 »Das Er-denken des Seyns*« (S. 456); § 267 »Das Seyn* (Ereignis)« (S. 473); § 272 »Der Mensch*« (S. 491).
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68, 74]; Überlegungen IV [115 ff.]; Überlegungen II, IV, V, VII; Überlegungen V [17 ff., 34, 51 ff.]; Überlegungen V [82 ff. »Plato«]; Überlegungen V [44 ff.]; Überlegungen VII (47 ff.]; Überlegungen V [35 ff.]; Überlegungen VII [97 ff., Hölderlin – Nietzsche]; Überlegungen VII [90 ff.]; Überlegungen VI, VII, VIII; Überlegungen VI, VII (Hölderlin); Überlegungen VII [78 ff.]; Überlegungen IV [1 ff.]; Überlegungen VIII. Besinnung (GA 66)70 – 13 Verweisungen auf die Überlegungen XII [29]; Überlegungen VIII [64 ff., 89]; Überlegungen XI [24]; Überlegungen X [70 ff.]; Überlegungen IX [86]; Überlegungen VII [ff.]; Überlegungen IX [40 ff., 44 ff.]; Überlegungen X [47 ff.]; Überlegungen X [55 ff.]; Überlegungen XIII [36]; Überlegungen XIII; Überlegungen XIII [41 ff.]; Überlegungen und Winke Heft II–IV–V. Die Geschichte des Seyns (GA 69)71 – 3 Verweisungen auf die Überlegungen XII, XIII; Überlegungen XIII (§ 81, § 89); Überlegungen XIII [6 ff.]. Über den Anfang (GA 70)72 – 3 Verweisungen auf die Überlegungen XV [17, 20]; Überlegungen XV [22]; Überlegungen XV. Das Ereignis (GA 71)73 – eine einzige Verweisung auf die Überlegungen (GA 94 – 96).
Man brauchte nur diese vorliegenden Hinweise in den fünf betreffenden Abhandlungen wiederaufzunehmen, um dessen gewahr zu werden, daß sie in den Notizbüchern 1) nur einige Textstellen der Überlegungen aus den Bänden 94 und 95 wiederaufnehmen, und 2) ausschließlich die theoretischen Gliederungen des seinsgeschichtlichen Denkens betreffen, wobei überhaupt keine Spur zu finden ist, die auf mit dem Nationalsozialismus zusammenhängende politische Fragen hinweisen, geschweige denn auf mit dem jüdischen Volk verbundene Themen, seien sie ideologischer oder konfessioneller Natur. Freilich ist das Fehlen derartiger 70 M. Heidegger, Besinnung, in: Gesamtausgabe, Bd. 66, Abt. 3: Unveröffentlichte Abhandlungen. Vorträge – Gedachtes, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klostermann, Frankfurt a. M. 1997, § 8 »Zur Besinnung« (S. 15); § 11 »Die Kunst im Zeitalter der Vollendung der Neuzeit« (S. 30); § 15 »Die Selbstbesinnung der Philosophie als geschichtliche Auseinandersetzung (Die Aus-einander-setzung zwischen der Metaphysik und dem seynsgeschichtlichen Denken)« (S. 68); § 58 »Die Frage an den Menschen« (S. 148); § 64 »Historie und Technik« (S. 183); § 64 »Die Seynsgeschichte« (S. 224); XXII. »Seyn und „Werden“ (Die Vollendung der abendländischen Metaphysik)« (S. 279); § 97 »Das seynsgeschichtliche Denken und die Seinsfrage« (S. 339); § 98 »Das seynsgeschichtliche Denken« (S. 358); § 129 »Der letzte Aufstieg der Metaphysik« (S. 400); Beilage zu Wunsch und Wille (Über die Bewahrung des Versuchten): (S. 420). Im betreffenden Werk verweist Heidegger auf Notizbücher, die jetzt in den Bänden 94 – 95 der Gesamtausgabe erschienen sind, wie im Nachwort von F.-W. von Herrmann eingetragen (S. 433). 71 M. Heidegger, Die Geschichte des Seyns, in: Gesamtausgabe, Bd. 69, hrsg. v. P. Trawny, Klostermann, Frankfurt a. M. 1988, § 87 »Geschichte« (S. 1, Fußnote 1); § 89 »Der letzte Gott« (S. 105, Fußnote 1); § 93 »Ereignis« (S. 107, Fubnote 1). 72 M. Heidegger, Über den Anfang, in: Gesamtausgabe, Bd. 70, hrsg. v. P.-L. Coriando, Klostermann, Frankfurt a. M. 2005, § 16 »Der neuzeitliche Wesensaufenthalt des Menschen. Planetarismus und Idiotismus« (S. 34, Fußnote 1); § 79 »Aufriß der Sage des Anfangs (dieser Aufriß eher zu einer Hinleitung)« (S. 100, Fußnote 1). 73 M. Heidegger, Das Ereignis, in: Gesamtausgabe, Bd. 71, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klostermann, Frankfurt a. M. 2009, § 363 »Denken« (S. 320).
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
Hinweise auf die Anmerkungen (die der Verfasser im Nachhinein hätte gebrauchen können) kein Zufall, in denen Heidegger sich mit Fragen auseinandersetzt, die mit dem Nationalsozialismus und dem verbrecherischen Wahnsinn Hitlers verbunden sind, und auf den Irrtum von 1933 mehrmals zurückkommt, als er das Amt des Rektors annahm. Damit ergibt sich, daß die Notizbücher dazu dienten, alle fliegenden Gedanken niederzuschreiben, auf die er auf seinem Gedankenweg zurückkommen wollte: wohl werden manche Gedanken wiederaufgenommen und vertieft, aber andere bleiben hapax legomena, die nur in den Notizbüchern auftauchen. Wie gesagt, ist in den fünf geprüften Abhandlungen kein ausdrücklicher Hinweis auf politische Fragen zu finden, geschweige denn auf Fragen, die mit dem jüdischen Volk verbunden wären, aber dazu auch kein impliziter Hinweis, der dem widerspräche, was wir eben vorbrachten. Die Andeutung des deutschen Herausgebers der Notizbücher auf eine antisemitische »Kontamination« dieser Abhandlungen im seinsgeschichtlichen Gedankenweg Heideggers wird von ihm umrissen, aber ohne den geringsten Beweis dafür. Und zwar aus gutem Grund, weil für eine derartige Behauptung keine Elemente vorliegen. Aufgrund einer solchen unbegründeten Voraussetzung sind die Ausführungen unberechtigt, die ihren Ausgangspunkt in der Unterstellung des deutschen Herausgebers fanden: daß in den Schriften Heideggers Belege einer antisemitischen »Kontamination« zu entdecken wären, die ab 1936 mit der Abfassung der Beiträge spürbar würden. Wer eine solche Stellungnahme abgibt – und daran sei zu erinnern, daß Günter Figal von diesem Vorschlag so verführt war, daß er den Wunsch geäußert hat, diese Richtung sei einzuschlagen – beweist nur, daß er sich mit dem »Fall Heidegger« abwartend verhalten wolle, ohne Entscheidung für eine klare und eindeutige Haltung aufgrund des von Heidegger hinterlassenen Erbes. Wer diesbezüglich eine klare und theoretisch begründete Haltung einnimmt, läuft freilich Gefahr, als »Leugner« oder noch schlimmer als »Neo-Nazi« gebrandmarkt zu werden – auch wenn nachgewiesen ist, daß keine Spur von Antisemitismus bei Heidegger zu finden ist. Daraus ergibt sich, daß kein Gedankengang je genügen wird, eine unpolemische Auseinandersetzung zu stiften, da unbegründete Unterstellungen im Laufe der Jahre manche Klischeevorstellungen gefördert haben, die Heidegger aufgrund eines angeblichen überlieferten Antisemitismus lesen wollen, der bei ihm seinen Höhepunkt und seine Erfüllung erreichen soll. Kurz und zusammenfassend gesagt: die von Figal bezogene Stellung sowie von denjenigen, die sich diesem Standpunkt anpassen und glauben möchten, daß alle Schriften der Gesamtausgabe Heideggers neu zu lesen wären, um letzten Endes einen versteckten Antisemitismus in ihnen zu entdecken – diese Stellungnahme erweist sich freilich als eine Weise, sich – gleichsam inkognito – aus einer schwierigen Lage zu helfen, die schon in unbegründete Anschuldigungen entartete. Diese werden denen nicht erspart, die sich entscheiden, die anstrengende Arbeit auf sich zu nehmen, sich in der Vielschichtigkeit der Heideggerschen Texte zurechtzufinden: »François Fédier, als geistiger »Sohn« Heideggers, die Mühe, die er sich seit den 50er Jahren gab im Übersetzen von dessen Texten als Verwalter des Nachlaßes des Philosophen, mit seinem stetigen Anspruch auf ein Recht auf Eigentum bzw. Miteigentum […].
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[…] Seinerseits leugnet von Herrmann den Antisemitismus. Diesbezüglich ist zu sagen, daß wer in der Verneinung und Verleugnung verharrt, ohne sich von den nazistischen Argumenten zu distanzieren, sich schon in den Neonazismus einschreibt«74.
Von dieser Äußerung berichten wir nur insofern, als sich damit klar herausstellt, wie schwer es zahlreichen Intellektuellen fiel, in die Kontroverse über den »Fall Heidegger« einzutreten – wobei manche sich abseits hielten – die sonst gebrandmarkt gewesen wären, wenn auch eine nähere Betrachtung der Notizbücher zum Vorschein bringt, daß all dies auf einem Mißverständnis beruht. Den Antisemitismus Heideggers verneinen, hieße eine Spur davon irgendwo entdeckt haben – sonst läuft man Gefahr, etwas um jeden Preis entdecken zu wollen, das freilich nur politischen Lektüren zuzuschreiben ist, die gewöhnlich mit vielen unbewältigten Suggestionen einhergehen. Freilich sind Friedrich-Wilhelm von Herrmann, François Fédier, die Familie Heidegger sowie der Verfasser dieser Zeilen von nazistischen Argumenten weit entfernt – wohl und völlig unangebracht und unverschämt ist es aber, daß bequeme Veranschaulichungen die strenge Arbeit der Forschung stören und, noch schlimmer, alles auf die politische Ebene reduzieren75, wobei der Schmerz des jüdischen Volkes medienwirksam instrumentalisiert wird. Intellektuelle Ehrlichkeit sieht sich aber dazu veranlaßt, eine Gangart einzuschlagen, durch die anstrengende Komplexität bzw. Vielschichtigkeit eines Denkens hindurchzugehen, mit der Verpflichtung, verantwortungsvoll in dieser Dichte zu verweilen, ohne auf bequeme Veranschaulichungen zurückzugreifen, die für das Denken nur eine Behinderung sind. Über die Notizbücher sei hier der bahnbrechende Sammelband von Francesca Brencio gewürdigt: La pietà del pensiero. Heidegger e I Quaderni neri76. Die Verfasserin hat den Inhalt der Notizbücher auf dem Grunde der Schwierigkeit des Heideggerschen Sprachgebrauchs ausgelegt, und dabei vermied sie, Gewaltsamkeit in ihren Auslegungen zu üben, die die semantische Einheit des Ganzen verletzt hätte; so folgt sie einem Denken, das sich gegen alles Bruchstückhafte abhebt. Die von ihr geleistete Arbeit war insofern keine bequeme Aufgabe, als sie nicht nur eine Interpretation vorbringt; eine bahnbrechende Arbeit ist es, wie gesagt, weil in diesem Sammelband verschiedenartige hermeneutische Durchgänge vorgeschlagen werden, die dem Leser helfen, sich selbständig in den Texten zurechtzufinden. Darin ist nichts, was aufsehenerregend wäre. Über die Auslegung von Stichwörtern hinaus ist es der Verfasserin meisterhaft gelungen hervorzuheben, wie bei Heidegger D. Di Cesare, Heidegger & Sons, S. 23 u. 25. S. 27: »offensichtlich sind darunter viele Leute von rechts. An erster Stelle seien genannt die – wenn auch vermutlichen – »großen Erben«, wie von Herrmann und Fédier«. Solche Äußerungen verraten, wie die Stellungnahmen von Donatella Di Cesare über Heideggers Notizbücher aus einer Kultur des Ressentiments hervorgehen und infolgedessen aus einer fehlerhaften Grundlinie, die die Lektüre Heideggers um jeden Preis auf eine politische Ebene herabsetzen will, wobei nicht zuletzt die Arbeit von dessen Mitarbeiter nicht geschont ist. 76 F. Brencio (Hrsg.), La pietà del pensiero. Heidegger e I Quaderni neri [Die Frömmigkeit des Denkens. Heidegger und die Schwarzen Hefte], Aguaplano, Passignano s. T. 2015. 74
75 Ebd.,
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2. Kap.: Die Schwarzen Hefte
die Juden-bezogenen Textstellen im Zusammenhang mit dem Christentum zu lesen sind, und zwar innerhalb des noch weiteren Kontextes einer Kritik am christlichen Abendland77. In diesem Sammelband wird alles auf sein gerechtes Maß zurückgeführt; insbesondere wird die Knappheit dieser Texte zusammengefaßt, die nur im Laufe einer durch- und eingehenden Lektüre der Notizbücher zu verstehen sind. Beim Nachvollziehen des Gedankenweges Heideggers hat die Verfasserin viele Stellungnahmen ausgeglichen, die um jeden Preis ein Gemeingut sein wollten, und zwar ohne Zweifel daran zu hegen, daß sich dabei durchaus erweisen könnte, daß es sich um Irrtümer handeln könnte. Die in der Untersuchung von Francesca Brencio wiedergegebenen ausgeglichenen Stellungnahmen, die mit einer reichhaltigen Sekundärliteratur versehen sind, bestätigen unsere Überzeugung, daß die Instrumentalisierung der Notizbücher und der medienwirksame Rummel nicht darauf zielten, eine wissenschaftliche Debatte anzuregen, sondern nur darauf, Heidegger in allzu persönlichen Lektüren abzuriegeln, um eine in mancher Hinsicht grund- und gegenstandslose Debatte fortzusetzen. Infolgedessen wird in dem von Francesca Brencio herausgegebenen Sammelband ein hilfreiches und notwendiges Material vorgelegt für den, der künftig eine systematische Studie der Notizbücher durchführen will, und zwar durch eine strenge hermeneutische Untersuchung, die die innere Einstellung der Epoché einsetzt, die Husserl mit einer »religiösen Umkehrung« gleichsetzt78. Zum Schluß dieses Kapitels sei es uns gestattet, an das folgende Wort Heideggers zu erinnern, das uns hilfreich sein mag, wenn beim Studium eines Verfassers die Schwierigkeit der Übersetzung sowie der Auslegung in Betracht gezogen wird: »Eine „wörtliche“ Übersetzung besteht nicht darin, daß man die entsprechenden „Wörter“ nach Anzahl und grammatischer Form setzt, sondern daß wir „das Wort“ treffen und zwar im Herkommen aus dem Sagen der übersetzenden Sprache« (Anmerkungen II [69]).
77 Dies., »Heidegger, una patata bollente«. L’antisemitismo fra critica alla cristianità e Seinsgeschichtlichkeit [»Heidegger, oder der gegenseitig zugeschobene „schwarze Peter“«. Antisemitismus zwischen Kritik an der Christenheit und Seinsgeschichtlichkeit hin- und hergerissen] a. a. O. , S. 107 – 186. 78 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. W. Biemel, Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 6, Nijhoff, Den Haag 19762, S. 140.
Drittes Kapitel
Zu den unveröffentlichten Briefwechseln von Friedrich-Wilhelm von Herrmann Drittes Kapitel: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
Francesco Alfieri
1. Vorwort – Edith Stein und Martin Heidegger Im ersten Entwurf des vorliegenden Buches war die Veröffentlichung einiger unveröffentlichter Briefe von Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer gar nicht geplant. Anläßlich unserer Freiburger Gespräche im Spätherbst 2015 haben wir unsere Absicht bekräftigt, es beim Studium der Schwarzen Hefte bewenden zu lassen. Beim Lesen und nochmaligen Durchlesen dieser Hefte wurden wir aber dessen gewahr, daß Heidegger klar und deutlich festgestellt hat, daß die Versuchung, seine Philosophie zu instrumentalisieren immer groß gewesen sei und daß diese Gefahr falsche Interpretationen hervorrufen könne. Dann fragte ich von Herrmann, ob nicht weitere unbekannte Dokumente von Heidegger selbst vorlägen, die uns helfen könnten, die Schwierigkeit besser zu verstehen, in Zukunft seine Manuskripte zu studieren. Uns schien, daß der Titel Schwarze Hefte schon geheimnisvoll genug war und Leser dazu geführt bzw. verführt hat, sich einzubilden, in diesen Heften läge etwas tief versteckt, so daß der »vergrabene Schatz« des »Menschen Heidegger« mit deren Veröffentlichung endlich öffentlich »entlarvt« wäre. Mit dieser Veröffentlichung ging aber keine wahre Kenntnisnahme der Aufzeichnungen Heideggers einher. Bald waren wir darüber im klaren, daß der Ausdruck Schwarze Hefte – der sie der Einordnung, aber nicht dem Inhalt nach bezeichnet – leider dazu benutzt wurde, den Gedankenweg Heideggers in seinen Notizbüchern noch geheimnisvoller und unzugänglicher zu machen. Wenn noch hinzukommt, daß zu allem Überfluß willentlich bedeutsame Textstellen totgeschwiegen wurden, und so der Öffentlichkeit unbekannt bleiben sollten, dann ist dem leicht zu entnehmen, daß damit das ideale feinmaschige Netz einer noch bestehenden Instrumentalisierung schon gesponnen war. Dieses Manuskriptenkonvolut, aus dem die Bände 94 – 96 und 97 bestehen, sollte man eher, wie Heidegger es tut, als Überlegungen und Anmerkungen bezeichnen. Unter uns war es aber schon fast Gewohnheit geworden, diese Notizbücher als Schwarze Hefte zu bezeichnen, obwohl wir uns bewußt waren, daß für den Leser diese Benennung mehr Verwirrung mit sich bringt, als daß sie eine Hilfe leistet.
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
Jedoch ist nur weniges erforderlich, um die Vor-urteile derjenigen auszurotten, die die Gestalt des »Intellektuellen« Heidegger um jeden Preis so darstellen wollen, als wäre er in den Nationalsozialismus und die wahnsinnige Politik Hitlers eng verwickelt gewesen. Man brauchte nur z. B. einen Schritt rückwärts zu machen und auf den Göttinger phänomenologischen Kreis zurückzukommen, insbesondere auf dessen Vertreterin Edith Stein. Diese jüdische Philosophin und Schülerin von Husserl hat 1922 den Entschluß gefaßt, einen »Übergang« zum Katholizismus zu vollziehen, dann schlug sie den Weg des Karmels ein und schließlich nahm sie das schreckliche Schicksal ihres eigenen Volkes auf sich, als sie in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, in dem sie am 9. August 1942 starb. Wie verhalten sich aber Edith Steins und Martin Heideggers Lebenserfahrungen in ihren jeweiligen Höhen und Tiefen zueinander ? Wohl sind beider Lebensverhältnisse und Schicksale in vielerlei Hinsicht unvergleichbar. Und dennoch verbindet beide ein »geistiger Beitrag« in der düsteren Zeit der Machtergreifung des Nationalsozialismus und dessen immer mehr unabwendbaren Verfalls auf der schiefen Bahn einer wahnsinnigen und grausamen Politik. Unter dem Titel Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins verfaßte Edith Stein in den Jahren 1935 – 37 ihr bedeutendes Werk, ein echtes philosophisches Meisterwerk. Diese Meisterleistung bezeichnet ihre Verfasserin als ihr »Abschiedsgeschenk an Deutschland«1, aber hier erweist sich im vorliegenden Zusammenhang als besonders relevant, daß das Manuskript auch zwei Anhänge einschloß, deren erstes den folgenden Titel trägt: Martin Heidegger. Existenzphilosophie. Das Manuskript wurde dem Breslauer Verleger Borgmeyer anvertraut, der es in zwei Bände unterteilte: der zweite Band enthielt den Anhang über Martin Heidegger – oder genauer hätte ihn enthalten sollen. In der Tat: im Jahr 1938 waren die Fahnen schon druckfertig (eine Kopie davon wird im Kölner Edith-Stein-Archiv aufbewahrt), als der Druck durch eine immer judenfeindlichere politische Lage unterbrochen wurde, besonders nach den Geschehnissen der »Kristall-« bzw. »Reichspogromnacht« im November 1938. Später wurde Edith Steins Hauptwerk in den 50er Jahren veröffentlicht, aber weiter ohne die Anhänge, wie es leider auch der Fall war bei den nachfolgenden Ausgaben2; man muß auf die Neuausgabe der Edith Stein Gesamtausgabe (ESGA) warten, die die ursprünglichen Fahnen, die die zwei Anhänge eingeschlossen hatten, in einem einzigen Band herausgeben wird. Unverständlich bleibt es, aus welchem Grund die ersten Herausgeber die Anhänge nicht einschließen konnten – oder wollten. Wie dem auch sei, bleibt es aber im vorliegenden Zusammenhang eine Nebensache. Hauptsächlich 1 Vgl. E. Stein, Selbstbildnis in Briefen. II. Zweiter Teil: 1933 – 1942, Einleitung v. H.-B. Gerl-Falkovitz, Bearbeitung und Anmerkungen v. M. A. Neyer, 2. Auflage durchgesehen und überarbeitet v. H. B. Gerl-Falkovitz (ESGA, 3), Herder, Freiburg/Basel/Wien 2006, Brief vom 9. XII. 1938, S. 324: »Sollte es noch möglich sein, so würde es mein Abschiedsgeschenk an Deutschland sein«. 2 Vgl. dies., Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins, hrsg. v. L. Gelber u. R. Leuven (ESW, II); Herder, Löwen/Freiburg/Basel/Wien 1950, 19622, 19863.
1. Vorwort – Edith Stein und Martin Heidegger
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kommt es darauf an, die diesbezüglich relevante Frage zu stellen: wie kam Edith Stein darauf, am Ende ihres Werkes Endliches und ewiges Sein einen Anhang über Marin Heidegger hinzuzufügen ? Hätte sie gewußt, daß Heidegger so oder so in den Nationalsozialismus verwickelt sei, hätte sie dann am Ende dieses Werkes ein Gespräch mit einem Befürworter des Nazismus führen können, und sogar im Laufe der Jahre 1935 – 1938, als der Nationalsozialismus von Tag zu Tag eine zunehmende Feindseligkeit gegenüber den jüdischen Intellektuellen sowie auch den Regimegegnern an den Tag legte ? Beim Korrekturlesen hätte wohl Edith Stein Zeit genug gehabt, um diesen Anhang zu beseitigen. In der Tat gehen die Beziehungen zwischen Edith Stein und Heidegger auf das Jahr 1931 zurück, als sie ihm ein mit dem Titel »Potenz und Akt« versehenes Manuskript zeigte, das sie als ihre mögliche Habilitationsschrift an der Universität Freiburg i. Br. verfaßt hatte. Darüber schreibt sie in einem Brief vom 25. Dezember 1931 an den polnischen Freund Roman Ingarden: »Die Freiburger Philosophen muß ich entschieden verteidigen. Honecker hat sich, obwohl er mich gar nicht kannte, große Mühe gegeben. Er hat sich – vergeblich !– bemüht, mir ein Privatdozentenstipendium vom Ministerium zu verschaffen, hat stundenlang mit mir und mit Husserl beraten. Da alte Leute, die keinerlei Versorgung haben, von der Fakultät nicht mehr zugelassen werden, hat er mir schließlich geraten, lieber nicht einzureichen, um mir eine Zurückweisung zu ersparen. Heidegger war durchaus freundlich, wenn er mir auch die Sache als aussichtlos hinstellte. Er meinte vor 1 Jahr wäre es noch ohne Schwierigkeiten gegangen. Und er hat sich meine Arbeit [Potenz und Akt] zum Lesen behalten und neulich über 2 Std. mit mir darüber gesprochen, in einer sehr anregenden und fruchtbaren Weise, so daß ich ihm wirklich dankbar bin«3.
Wenn Edith Steins Laufbahn sich 1931 durch die Schrift Potenz und Akt mit derjenigen Heideggers verbindet, und dann bis Ende 1938 mit Endliches und ewiges Sein fortgeführt wird, wie ist es dann begreiflich, daß die ehemalige Schülerin von Husserl Heideggers mutmaßliche Verwicklung in den Nationalsozialismus nicht in Betracht zog ? Im übrigen und aufgrund des Zeugnisses Edith Steins über ihre mögliche Habilitation in Freiburg sowie über den Einsatz von Husserl und Heidegger dafür, daß ihre Bemühungen um eine Habilitation in Freiburg mit Erfolg gekrönt sein mögen, wie sollen wir dann manche übereilte Folgerungen deuten, mit denen man Edith Stein in Frage und deren geistige Laufbahn in Abrede stellen will, und zwar aufgrund der Annahme ihres »Abschieds von der Philosophie«, als sie Karmelitin wurde ?4 Wie aber sollte eine verfehlte Habilitation den 3 Vgl. dies., Selbstbildnis in Briefen. III. Briefe an Roman Ingarden, Einleitung v. H.-B. Gerl-Falkovitz, Bearbeitung und Anmerkungen v. M. A. Neyer, Fußnoten erarbeitet v. E. Avé-Lallemant (ESGA, 4), Herder, Freiburg/Basel/Wien 20052, S. 225 – 226. 4 Hier beziehen wir uns auf jüngste Folgerungen von D. Di Cesare, die weder im philosophischen Denkweg von Edith Stein noch in den vorliegenden Quellen bezeugt sind: »Man denke nur an den akademischen Schiffbruch, den Edith Stein als Husserl-Assistentin erlitten hat, die die Rolle des ewigen Skriptgirls, der auf Lebenszeit bleibenden Sekretärin, des »Mädchens« spielte – deren Aufgabe darin bestand, die Notizen des Meisters ins Reine umzuschreiben, die des öfteren im Papierkorb landeten. Daß Stein zur Habilitation nicht
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
»Abschied« von der Philosophie zur Folge haben? Ob Edith Stein wegen verfehlter Habilitation und Martin Heidegger wegen Lehrverbot von der Philosophie »Abschied« genommen haben ? Nie kann eine geistige Laufbahn von einer akademischen Stelle so sehr bestimmt sein, daß ein »Abschied von der Philosophie« davon abhinge. In den Gesprächen mit von Herrmann kamen uns all diese Überlegungen und ebensoviele Fragen häufig in den Sinn; für uns war das ein Beweggrund, weiter über den »Fall Heidegger« nachzudenken, sowie über die Weise, wie er behandelt worden war: durch den Gebrauch pauschaler und übereilter Urteile, die selbst seine Kollegen jüdischer Herkunft (nämlich Edith Stein und deren Meister Edmund Husserl) nicht verschonten, und die in den Quellen überhaupt nicht nachweisbar sind. Als wir auf die Behauptung stießen, »das Übrige der Geschichte« sei »bekannt«, da wurde uns klar, daß wir ihre Idee vom sogenannten »Bekannten« in Frage stellen müßten; wir sahen ein, daß eben das, was von diesen aufgrund ihrer ungefähren Deutungen für »bekannt« gehalten wird, auch ihren Verfechtern gerade noch »unbekannt« ist. Kommen wir aber zur vorherigen Frage zurück: ob von Herrmann vielleicht über weitere Heideggersche Dokumente verfüge, die uns in unserer Untersuchung hätten helfen können. Als ich ihm diese Frage stellte, erinnerte er mich daran, daß die Notizbücher ihm schon bekannt waren, und dennoch habe Heidegger ihn nicht beauftragt, für deren Herausgabe zu sorgen, da von Herrmann sich auf die gelangen konnte, weil man in Baden-Württemberg keine Frauen zuließ, das war im Grunde für Husserl selbstverständlich. Dessen Nachfolger war Heidegger – nicht Stein. Das übrige ist bekannt, so wie die Auswirkungen der Vernachläßigung seitens des Meisters: die Schülerin ist treu geblieben, dennoch nahm sie Abschied nicht nur von der Philosophie, sondern auch von der Welt in einer inneren Flucht, die, wie paradox das auch klingen mag, sie schließlich einsperrte und deren Endstation Auschwitz hieß« (D. Di Cesare, Heidegger & Sons. Eredità e futuro di un filosofo, Bollati Boringhieri, Turin 2015, S. 64). In einem solchen, übereilten und in vielerlei Hinsicht erfundenen Bild wird der Einfluß völlig außer Acht gelassen, den Stein als Assistentin durch die Umarbeitung mancher Manuskripte von Husserl hatte. Nicht rein zufällig hat Th. Vongehr als Mitarbeiter des Husserl-Archivs in Löwen den Wunsch geäußert, ein heikler und notwendiger neuer Horizont in der Forschung sei eröffnet, um E. Steins starken Einfluß in der Umarbeitung der Manuskripte des Meisters zur Zeit ihrer Assistenz zu begreifen. Zu diesem Thema schreibt er: »Ein Desiderat der Stein- bzw. Husserl-Forschung, auf das z. B. Imhof schon 1987 […] hingewiesen hat, besteht immer noch in einer detaillierten Beschreibung der konkreten Arbeitsprojekte, an denen Edith Stein während ihrer Assistentenzeit gearbeitet hat. Dazu müsse in einer eigenen, umfangreichen Untersuchung nicht nur das innerhalb der Husserliana veröffentliche Werk berücksichtigt, sondern der gesamte, auch unedierte Nachlaß Husserls auf Spuren Steins untersucht werden. Nur so kann die beeindruckende Arbeitsleistung Edith Steins und der Umfang ihrer Bearbeitungen ermessen und bewertet werden« (»Der liebe Mei ster«. Edith Stein über Edmund und Malvine Husserl, in: D. Gottstein/H. R. Sepp [Hrsg.], Polis und Kosmos. Perspektiven einer Philosophie des Politischen und einer philosophischen Kosmologie. Eberhard Avé-Lallemant zum 80. Geburtstag, Königshausen & Neumann, Würzburg 2008, S. 273, Fußnote 4).
1. Vorwort – Edith Stein und Martin Heidegger
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Herausgabe der Hauptwerke Heideggers im Rahmen der Gesamtausgabe konzentrieren sollte, die dann ab 1975 beim Verlag Klostermann ihren Ausgang nahm. von Herrmann war auch der Inhalt dieser Notizbücher insofern bekannt, als er wußte, daß in ihnen Heidegger Überlegungen niedergeschrieben hatte, die sich auf ihn selbst bezogen und die erst nach der Herausgabe der unveröffentlichten Manuskripte bekannt werden sollten. Heidegger selbst war der Meinung, daß seine Notizbücher nur einfache Notizen enthielten und – eben deswegen – erst nach der Veröffentlichung aller anderen Bände der Gesamtausgabe zu veröffentlichen seien; deren Inhalt ist aber nie als »privat« betrachtet worden, noch als »geheim« zu halten, wie aus den Hinweisen auf ihn in seinen Werken zu entnehmen ist5. Anderer5 Man brauchte nur z. B. die Beiträge an der Hand zu haben, um zu bemerken, daß Heidegger auf die jetzt in den Bänden 94 und 95 der Gesamtausgabe veröffentlichten Überlegungen hinweist. U. a.: »Überlegungen IV, 83«, M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: Gesamtausgabe, Bd. 65, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klostermann, Frankfurt a. M. 1989, S. 118; »Überlegungen« II, IV, V, VI, VII«, S. 225; »Überlegungen CII, 97 ff. Hölderlin – Nietzsche. […] Überlegungen VII, 90 ff.«, S. 421; »Überlegungen VI, VII, VIII. […] Überlegungen VI und VII Hölderlin S. 422. Bei diesen Hinweisen geht es um das seinsgeschichtliche Denken, nicht um politische Sachen, geschweige denn um etwas, das »antisemitischer Natur« wäre. Demzufolge stehen wir vor einer falschen Äußerung von Peter Trawny, als er in der Einleitung zu Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Klostermann, Frankfurt a. M. 20153 behauptet: »sie [= die Schwarzen Hefte] werden in eine seinsgeschichtliche Topographie oder Autotopographie […] versetzt, in der ihnen eine besondere und spezifische Bedeutung zugeschrieben wird, und diese Bedeutung ist antisemitischer Natur« (S. 15). Mit dieser Erklärung verrät Trawny, daß er sich nicht ganz sicher sei, sich auf dem rechten Weg zu befinden, als er von einer antisemitischen »Kontamination« des seinsgeschichtlichen Denkens von Heidegger redet, so daß er am Schluß seiner Einleitung schreibt: »Daher könnte die eine oder andere Beurteilung einer Äußerung zu einseitig ausfallen, sie könnte auch irren. Kommende Diskussionen mögen meine Deutungen widerlegen oder korrigieren. Ich wäre der Erste, der sich darüber freute« (S. 16). Diese Äußerung ist insofern von Belang, als Trawny zunächst eine antisemitische »Kontamination« des seinsgeschichtlichen Denkens von Heidegger erwähnt und damit eine These verteidigt, die – nicht nur aufgrund der Notizbücher, sondern insbesondere auch der Gesamtausgabe überhaupt ganz unberechtigt – nur schwierig immanent belegt werden kann, und zwar von der These aus, die Trawny aufstellen und beweisen will. So kontrastiert die Einleitung, wo von einer »Kontamination« die Rede ist, mit dem Schlußteil seines Buches, nämlich mit den »Antwortversuchen«, wo er hingegen schreibt: »Von einem seinsgeschichtlichen Antisemitismus zu sprechen, impliziert also nicht, daß das seinsgeschichtliche Denken als solches antisemitisch ist« (S. 15). So wurde Trawny dessen nicht gewahr, daß er die These einer antisemitischen »Kontamination« verteidigt hat, die er dann am Schluß seines eigenen Gedankenwegs in einer Selbst-widerlegung abbaut. Noch blieben weitere Fragen in der Schwebe: wozu und zu welchem Zweck hat Trawny einen Weg eingeschlagen, der letzten Endes und vor allem seinem eigenen Wegbereiter unzugänglich bleibt ? Und darüber hinaus: wenn die Diskrepanz zwischen der Einleitung und den »Antwortversuchen« seines Buches zur Kenntnis genommen wird, wie ist es dann möglich, die weiteren Erwägungen seines Gedankenweges über Heidegger mit Redewendungen wie »philosophische Hermeneutik« oder »intellektuelle Redlichkeit« zu würdigen ?
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
seits sei hier auch betont, daß Heidegger, aber auch dessen Gattin Elfride, sehr viel daran lag, sich auf die Assistenz von Friedrich-Wilhelm von Herrmann verlassen zu können. In von Herrmann hatte Heidegger den Menschen erahnt, der – ab seiner Dissertation von 1964 – seinen philosophischen Denkweg am besten verstanden hatte. Daß Heidegger seinen Privatassistenten auch finanziell unterstützte, hilft uns auch zu verstehen, daß diese Wahl in einer entscheidenden Periode stattfand: für ihn erwies es sich als erforderlich, daß ihm eine Vertrauensperson bei seiner Arbeit zur Hand gehe, insbesondere um die geplante Veröffentlichung einer Gesamtausgabe zustande zu bringen. Bei dieser Unterhaltung darüber lud mich von Herrmann ein – ganz unerwarteterweise und eben deswegen ist es erwähnenswert – in sein Büro zurückzukehren. Dann nahm er einen Aktenordner aus einem Fach, der in der Nähe seiner Schreibmaschine stand, den er öffnete. Hier bewahrte er seinen Briefwechsel mit Heidegger auf. So begannen wir, mit der wertvollen Hilfe von Frau von Herrmann, diesen Briefwechsel zu lesen. Nach der Auswahl der Briefe, die der Leser im 3. Abschnitt der vorliegenden Abteilung findet, traf Prof. von Herrmann die Entscheidung, diese Briefe nicht zu veröffentlichen, indem er mir sagte: »es genügt schon, die Schwarzen Hefte zu studieren, und man braucht kein weiteres Material. Wer wirklich verstehen will, der braucht kein weiteres Material«. So überraschte es mich um so mehr, als ich am nächsten Tag drei Briefe auf meinem Arbeitstisch fand. Sofort habe ich dann verstanden, daß diese Briefe eben diejenigen waren, die ich am Vorabend gesehen hatte. Auf einem von Prof. von Herrmann beigefügten Zettel stand geschrieben: »Es ist nötig, mindestens diese drei Briefe in unserem Buch zu veröffentlichen«. Zunächst war es vorgesehen, daß die Abteilung der unveröffentlichten Dokumente mit diesen drei Briefen abgeschlossen sein sollte. Trotzdem haben wir sie anläßlich meines zweiten Aufenthaltes in Freiburg i. Br. im Januar 2016 erneut geprüft, nachdem wir die Entscheidung getroffen hatten, einen weiteren Briefwechsel zu prüfen, und zwar denjenigen zwischen von Herrmann und Hans-Georg Gadamer, der in Marburg Assistent von Heidegger gewesen war. Wohl wußten wir, daß damit die Veröffentlichung des vorliegenden Buches verschoben werden müßte, die zum 27. Januar, dem »Tag des Gedächtnisses« geplant war – aber dessenungeachtet hielten wir es für notwendig, auch diesen Briefwechsel zu studieren, weil damit neue Denkanstöße sich abzeichneten. Einem Zeitzeugen von Heidegger sollte es gegönnt sein, das Wort zu ergreifen, das würde uns wie auch dem Leser helfen, den »Fall Heidegger« erneut zu untersuchen. Diese Ergänzung wurde auch ausschlaggebend, indem sie zum Vorschein brachte, wie Gadamer seinerzeit auf die Instrumentalisierung von Heidegger reagierte, die 1987 durch ein Buch des Chilenen Victor Farías angezettelt worden war. Im 4. Abschnitt des vorliegenden Kapitels findet also der Leser auch drei Briefe von Gadamer. Dieser Briefwechsel ist viel umfangreicher, aber derzeit deshalb nicht zu veröffentlichen, als er Themen angeht, die lebende Privatpersonen und persönliche Lebensumstände betreffen; falls aber diese Veröffentlichung eine Option gewesen wäre, dann wären viele Themen
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– u. a. das strittige Thema der Geschichte der Martin-Heidegger-Gesellschaft – wie die Deutungen mancher Sachkundigen in Frage gestellt. Im vorliegenden Zusammenhang kommt es aber nur darauf an, bei dem Halt zu machen, wie Gadamer die Instrumentalisierung auf Kosten seines Meisters durch die Farías-affaire aufgenommen hat, und wie er 1987 mit einer schwierigen Lage klar kam. Das Déja-vu der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war uns auch sehr nützlich, um die jetzige ausgeheckte Machenschaft zu durchschauen.
2. Kriterien der vorliegenden Herausgabe Der Leser verfügt über eine numerische Wiedergabe der Urschriften und deren Übertragung. In den Texten wird die Seitennummer durch eckige Klammer (und gegebenenfalls durch r = recto und v = verso) angezeigt; ein neuer Absatz wird immer durch ein Unterbrechungszeichen (|) angezeigt. Im kritischen Apparat werden die Urschriften durch die Abkürzungen Heid und Gad bezeichnet; was den Briefwechsel mit Gadamer betrifft, werden seltene Flüchtigkeitsfehler durch corr ed angezeigt und korrigiert; die von Gadamer handschriftlich hinzugefügten Korrekturen und Ergänzungen werden auch angezeigt (Gad2). Unser eigenes Eingreifen (add ed) wird durch eine eckige Klammer kenntlich gemacht. Alle Fußnoten sind die des jeweiligen Verfassers. Im Brief von Gadamer vom 27. Januar sind zahlreiche Stellen von FriedrichWilhelm von Herrmann hervorgehoben: in der Übertragung werden diese bedeutsamen Stellen ebenso hervorgehoben.
3. Die drei Briefe aus dem Briefwechsel Heidegger – von Herrmann Der erste Brief, der das Datum vom 20. Februar 1964 trägt, geht auf die Zeit zurück, als von Herrmann Assistent von Eugen Fink war (dieses Amt bekleidete er zwischen 1961 und 1970), während im zweiten Brief, vom 26. November 1972, Heidegger seinen mit der geplanten Gesamtausgabe beauftragten Privatassistenten anspricht. Von vornherein sei aber darauf hingewiesen, daß es insofern nicht in Frage kam, diesen Brief von 1964 in voller Länge zu veröffentlichen, weil dessen Inhalt auch in den Notizbüchern steht, die, wie gesagt, nicht in absehbarer Zukunft veröffentlicht werden sollen. So wurde hier nur der erste Teil dieses langen Briefes veröffentlicht. Der Veröffentlichung dieser zwei Briefe wurde ein Kriterium von Heidegger als Maßstab zugrundegelegt: darauf achten, daß die »Mißdeutungen«, die seinen Denkweg immer begleitetet haben, sich durch die Geschichte hindurchziehen können, bis sie uns erreichen und eine neuen Gestalt annehmen, und zwar die der Instrumentalisierung durch Massenmedien. 1964 hat Heidegger geurteilt, daß in
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
seiner Dissertation Friedrich-Wilhelm von Herrmann genügend Abstand hatte von den lange üblichen Mißdeutungen, die damals über »Sein und Zeit« schwebten: »Ihre Dissertation bezeugt eine gründliche Durcharbeitung meiner Schriften und läßt die lange üblichen Mißdeutungen hinter sich«.
Diese Verfahrensweise führte der Adressat in seinen nachfolgenden Schriften fort, und wie eben diese Verfahrensweise Heidegger nicht gleichgültig sein kann, ist dem Brief von 1972 zu entnehmen, der so anfängt: »vielen Dank für Ihren Brief und den Aufsatz. Dieser ist für den Außenstehenden – und wie Viele von den heutigen Philosophen stehen noch draußen – kaum zugänglich«.
Den »Mißdeutungen« fügen sich viele neue Elemente hinzu: die Verfahrensweise der »Außenstehenden« wie die Bezugnahme auf die »heutigen Philosophen«, die mit ihren Ränken, »noch draußen« stehen und zwar so, daß jeder Versuch eines echten Verständnisses – mit anderen Worten das Wagnis einer Rückkehr zum Grund eines neuen Anfangs ihnen »kaum zugänglich« wird. Damit nehmen die »Mißdeutungen« eine neue Gestalt an, und zwar diejenige einer »machenschaftlichen Instrumentalisierung«, da ein anderer Faktor noch hinzukommt, den Heidegger so kennzeichnet: »Aber heute ist alles auf das „Gesellschaftspolitische“ fixiert«. Der Rückfall in das »Gesellschaftspolitische« besteht in der Versuchung einer Instrumentalisierung des Denkens, das sich nunmehr auf der hektischen Suche nach Sinn macht; solchen Umständen ist aber kein Sinn abzugewinnen, da die Verlockungen eines politisierten Denkens die eigennützigen Philosophen in das feinmaschige Netz der manipulierenden Denkschemata einsperrt. Heidegger und von Herrmann sind dieser Gefahr entkommen, weil sie die Auswirkungen solcher Machenschaften durchschaut haben: an der »Oberfläche« zu bleiben, wie der Spielball der politischen Umstände und Ereignisse. Im zweiten Brief ist auch Heideggers folgende knappe Benachrichtung erwähnenswert: »Über alles andere mündlich«. Das genügt schon, um die Wahl von Friedrich-Wilhelm von Herrmann als Privat assistenten zu verstehen, und zwar aufgrund des intensiven intellektuellen Austausches, der sie verband. Das dritte Dokument ist eine Karte, die am 15. August 1978 an von Herrmann von Pfarrer Heinrich Heidegger, dem jüngeren Sohn von Fritz Heidegger, gesandt wurde. Aufgrund dieser kurzen Schrift dürfen zwei Elemente hervorgehoben werden. Zunächst die Rolle von Bernhard Welte bei der Bestattung von Martin Heid egger: dem katholischen Philosophen und Freunde hatte Heidegger seinen Wunsch mitgeteilt, ihm falle es zu, die Grabrede zu halten, und demzufolge hatte er Bibelstellen mit ihm im Voraus ausgewählt. Dabei tauchen manche kleine Texte wieder auf, die einige Aspekte seines Privatlebens widerspiegeln: z. B. ist auf dessen 1954 verfaßte Schrift »Vom Geheimnis des Glockenturms«6 hinzuweisen, die das Läu6 M. Heidegger, Vom Geheimnis des Glockenturms, in: Aus der Erfahrung des Denkens, Gesamtausgabe, Bd. 13, Abt. 1: Veröffentlichte Schriften 1910 – 1923, hrsg. v. H. Heidegger, Klostermann, Frankfurt a. M. 1983, S. 113 – 116.
3. Die drei Briefe aus dem Briefwechsel Heidegger – von Herrmann
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ten der Glocken je nach den Stunden der vorbestimmten Gebete thematisiert und uns an die Zeit erinnert, in der Heidegger Messnerbube und Ministrant war in der Sankt-Martins-Kirche von Meßkirch, die dem Elternhaus gegenübersteht. Als zweites Element wird auch im dritten Dokument hervorgehoben, wie aufmerksam die Familie Heidegger die geplante Gesamtausgabe beachtete, die von Herrmann anvertraut worden war. Das bezeugen folgende Zeilen von Heinrich Heidegger: »Die Gesamtausgabe macht ja gute Fortschritte ! Ich hatte nicht mit dieser Schnelligkeit gerechnet«. Zusammenfassend: Diese drei Briefe betreffen die ernüchterte Wahrnehmung der Gefahr von »Mißdeutungen«, den Ruin einer zur »Gesellschaftspolitik« gewordenen Philosophie und schließlich die entscheidende Rolle, die von Herrmann in der Einrichtung der geplanten Gesamtausgabe gespielt hat, die ihm auf Wunsch Heideggers anvertraut worden war.
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
Brief Nr. 1. Martin Heidegger an von Herrmann, Freiburg, 20. Februar 1964 (Archiv F.-W. von Herrmann)
3. Die drei Briefe aus dem Briefwechsel Heidegger – von Herrmann
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3.1. Martin Heidegger an von Herrmann: Brief Nr. 1
Frbg. 20. Febr. 64.
[1r] Lieber Herr v. Herrmann, Ihre Dissertation7 bezeugt eine gründliche Durcharbeitung | meiner Schriften und läßt die lange üblichen Mißdeutungen | hinter sich. Um vorwegzunehmen, was ich einen Tag | vor Ihrem Besuch zu Herrn Tugendhat8 sagte: „Die Kehre ist in „Sein und Zeit“ nicht vorgeplant – der-|gleichen ist unmöglich – aber sie ist durch die Thematik | von „Zeit und Sein“ dem Denken abverlangt.“ In | dieser Thematik waren die bestimmenden Fragen: die Auslegung | des Seins als Sein von der „Geworfenheit“ und dem „Nichts“ | her zu gewinnen. Ich habe daher bei der Lektüre a, 9 zuerst | nach diesen Phänomenen und nach der Behandlung durch Sie | gesucht. Sie bemerken mit Recht, daß die „Geworfenheit“ | zum voraus das Transzendentale anders prägt im Unterschied | zur kantischen Transzendentalphilosophie. Sie sprechen von | der „Bedingtheit“ des Daseins – die sich dann „steigert“ und „verstärkt“. Aber diese Charakteristik ist keine phänomenologische, sondern | eine von außen vorstellende gegenständliche. Geworfenheit | des Daseins, das ausgezeichnet ist durch den Entwurf 10 von Sein – ist | also Geworfenheit in die Eröffnung von Sein (Sinn von Sein). [1v] […] a
add ed
7 Bezieht sich auf die Dissertation von F.-W. von Herrmann, die er Heidegger gesandt hatte; vgl. F.-W. von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, Anton Hain, Meisenheim am Glan 1964. 8 Der 1930 geborene ehemalige Schüler von Karl Ulmer, der Philosoph Ernst Tugendhat, der in den Universitäten Tübingen, Heidelberg und Berlin lehrtätig war. Dessen berühmte Habilitationsschrift trägt den Titel: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, de Gruyter, Berlin 1970. 9 Diese Ergänzung ist unentbehrlich zum Verständnis des Textes. 10 »Entwurf« bedeutet meist: Vollzug des Daseins; im Horizont des seinsgeschichtlichen Denkens hat aber dieses Wort die Bedeutung eines Ent-werfens des sich ent-ziehenden Seins, das das Dasein in seine Wahrheit wirft. In diesem Sinne ist es z. B. im 3. Absatz des 13. Abschnitts der Beiträge zu verstehen. So kann »Entwurf« entweder als ein vom Dasein vollzogener hermeneutischer Entwurf oder als ein Wurf und Ent-wurf des Seins selbst verstanden werden.
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
Brief Nr. 2. Martin Heidegger an von Herrmann, Freiburg, 26. November 1972, S. 1r (Archiv F.-W. von Herrmann)
3.2. Martin Heidegger an von Herrmann: Brief Nr. 2
Frbg. 26. XI. 72
[1r] Lieber Herr v. Herrmann, vielen Dank für Ihren Brief und den Aufsatz11. | Dieser ist für den Außenstehenden – und wie | Viele von den heutigen Philosophen stehen noch | draußen – kaum zugänglich. Denn Sie haben zum | ersten Mal den Zusammenhang dessen klar |
3. Die drei Briefe aus dem Briefwechsel Heidegger – von Herrmann
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Brief Nr. 2. Martin Heidegger an von Herrmann, Freiburg, 26. November 1972, S. 1v (Archiv F.-W. von Herrmann)
und gründlich herausgestellt, was im Titel | Ihrer Arbeit genannt ist. Es betrifft den einfachen | Sachverhalt, daß alles in S.u.Z. Gesagte (über | Dasein und Existenz) im Horizont der Frage nach | dem Sein steht. Es braucht vermutlich noch eine | lange Zeit, bis dies wirklich erkannt und | weitergedacht wird. Was Sie im besonderen | über die Erschlossenheit schreiben, ist ausge-|zeichnet. – 11
[1v] Aber heute ist alles auf das „Gesellschaftspolitische“ | fixiert. Dr. Pflaumer12 ist Schüler von Gadamer13, den ich am | Mittwoch hier spreche. Über alles andere mündlich. Ich bitte Sie, mich | am Freitag d. 1. Dez. zwischen 17 u. 18 Uhr zu | besuchen. Mit herzlichen Grüßen von uns Ihr Martin Heidegger 11 F.-W. von Herrmann, Zeitlichkeit des Daseins und Zeit des Seins. Grundsätzliches zur Interpretation von Heideggers Zeit-Analysen, in: R. Berlinger/E. Fink (Hrsg.), Philosophische Perspektiven. Ein Jahrbuch, Bd. VI, Klostermann, Frankfurt a. M. 1972, S. 198 – 210. 12 Ruprecht Pflaumer war Schüler von Gadamer in Heidelberg. 13 Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002) war Assistent von Heidegger in Marburg.
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
Brief Nr. 3. H. Heidegger an von Herrmann, Freiburg, 26. August 1978 (Archiv F.-W. von Herrmann)
3.3. Heinrich Heidegger an von Herrmann: Brief Nr. 3
St. Blasien, 15. 8. 78
[1r] Sehr geehrter Herr Professor v. Herrmann, Ich darf in aller Kürze Ihnen antworten | auf Ihre telefonische Anfrage. Die Schrift-|texte, die Prof. Welte14 vorschlug, waren folgende: | Psalm 130 „Aus den Tiefen …“ und | Mt 7, 7 – 11 „Bittet, so wird …“ Die Gesamtausgabe macht ja gute Fortschritte! Ich hatte nicht mit dieser Schnelligkeit | gerechnet. Mit herzlichen Grüßen
Ihr Heinrich Heidegger15
14 Bernhard Welte (1906 – 1983) war ab 1952 Professor für Christliche Philosophie an der Universität Freiburg. Auf Wunsch von Martin Heidegger hat er die Grabrede bei dessen Beisetzung gehalten. Vgl. Gedenkschrift der Stadt Meßkirch an ihren Sohn und Ehrenbürger Professor Martin Heidegger, Stadt Meßkirch, H. Schönebeck 1977. Aufgrund einer Abmachung zwischen Bernhard Welte und Martin Heidegger wurden bei der Beisetzung folgende Bibelpassagen gelesen (in deutscher Übersetzung aufgrund der Vulgata): Psalm 130 und Matthäus 7, 7 – 11. 15 Heinrich Heidegger (geboren 1928), katholischer Pfarrer und Dekan, ist der jüngere Sohn von Fritz Heidegger (1894 – 1980), dem Bruder des Philosophen. Er hat die Trauerfeierlichkeiten für Martin Heidegger nach dem Ritus der katholischen Kirche geleitet.
4. Hans-Georg Gadamer und die 1987 entstandene Farías-affaire
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4. Hans-Georg Gadamer und die 1987 entstandene Farías-affaire Jetzt gilt es, die Stellungnahme des Philosophen Hans-Georg Gadamer zugunsten seines Meisters näher zu betrachten, als er 1987 die Entscheidung traf, die Beleidigungen von Farías nicht unbeantwortet zu lassen, mit denen die Instrumentalisierung von Heidegger ihren Aufschwung genommen hatte und mit der der bis heute noch wirkende »Fall Heidegger« erfunden wurde. Dessen Unterstellungen bezüglich der Verwicklung Heideggers in den Nationalsozialismus wurden fortgesetzt, Jahre hindurch haben sich viele Interpreten abhängig gemacht und von einem ausgewogenen kritischen Urteil über den eigentlichen Inhalt der Schriften Heideggers entfernt. Die hektische Suche nach »handfesten Beweisen« aus den Schriften Heideggers, die Farías’ Unterstellungen bestätigen könnten, wurde mit der Zeit das Hauptziel von einigen Fachleuten, da das Ziel des Königsweges des seinsgeschichtlichen Denkens zu erreichen, ihnen kaum zugänglich »war« und noch »ist«. Die Geschichte wiederholt sich, und wenn auch die »Hauptfiguren« dieser immer wiederkehrenden Instrumentalisierungen auf neue, wohl aber von Anderen herstammende Formulierungen zurückgreifen, zeichnet sich jedoch eine Konstante ab: das Unvermögen jener, die – ohne imstande zu sein, ihre eigenen Thesen zu unterstützen – immer noch einen medienwirksamen Rummel mit großem »Einfluß auf die Massen« unterhalten, und zwar nur aufgrund ihrer »oberflächlichen« Lektüre. Eine solche Strategie verfolgen, heißt auf Heidegger und ebensowohl auf jede Möglichkeit eines Anfangs von vornherein verzichten. Hier verfügt der Leser über drei Briefe von Gadamer an von Herrmann, die folgende Daten tragen: 30. November 1987, 27. Januar und 11. April 1988. Hier wäre jeder Kommentar überflüssig, da Gadamer sich unverblümt und ohne Umschweife ausdrückt. Obwohl die Versuchung naheliegt, einige Stellen dieser Briefe auszulegen, ist zu vermuten, der Leser könne sich selbst orientieren und zu unerwarteten Betrachtungen gelangen, wie das auch jedesmal der Fall ist, wenn der Verfasser dieser Zeilen diese Dokumente aufgreift. Dennoch ist es angebracht, einige Erläuterungen über den französischen Philosophen François Fédier abzugeben, den Gadamer in seinem Brief vom November 1987 erwähnt. Die Veröffentlichung des Buches von Farías hat sehr verschiedenartige Reaktionen hervorgerufen. Trotz seiner Gesundheitsprobleme nimmt Gadamer die Herausforderung an, und in mancher Hinsicht will er die Auswirkungen des Buches von Farías relativieren, und zwar auch insofern als Heidegger »keine politische Kompetenz besaß«. Diese heikle Situation setzt Gadamer auch gesundheitlich sehr zu; trotzdem hat er keine Mühe gescheut, um sowohl privat durch sein Schreiben an von Herrmann oder öffentlich bei verschiedenen Gelegenheiten seine Stellungnahme abzugeben. Aufschlußreich ist der Schluß des ersten Briefes: »Die Fehler und Schwächen von Heidegger sind vermutlich keine anderen und keine größeren, als jeder andere Mensch in exponierten Lagen zu begehen in Gefahr ist. Da-
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
von reden zu müssen, ist immer etwas pharisäerhaft, und ich hasse das. So bin ich recht unglücklich, da ich meine bisher befolgte Reserve nicht weiter aufrechterhalten kann. Leider setzt es mir auch gesundheitlich sehr zu«.
Von einer anderen Art und Weise, allerdings nicht hinsichtlich des eigentlichen Inhalts, ist der Einsatz von François Fédier, der früher mit Jean Beaufret und nach dem ersten Versuch von Sartre in L’Être et le néant dazu beigetragen hatte, das Denken Heideggers in Frankreich bekanntzumachen. Entscheidend wurde die Rolle von François Fédier, dem Heidegger die wissenschaftliche Verantwortung für die französische Ausgabe seiner Werke übertrug. Die sehr entschlossene Position von Fédier gegenüber Farías stützt sich auf seinen früheren direkten Kontakt mit dem deutschen Philosophen: ihm konnte Heideggers Unbehagen nicht entgehen, als dieser vor dem Nationalsozialismus sich in die Isolierung zurückziehen mußte und kurz nach dessen Niederlage von einer Untersuchung der Entnazifizierungskommission bedroht wurde. Das Buch von Farías fand in Fédier einen entschlossenen Gegner, dessen Stellungnahme sich dann verschärfte16, als er dessen gewahr wurde, daß die Presse vorgefaßten und völlig unberechtigten Meinungen folgte – wie z. B. denjenigen von Emmanuel Faye. Gadamer versuchte, die morbide Aufmerksamkeit der Fokussierung auf Heid egger abzulenken, und die schwachen Beleidigungen von Farías finden nur wenig Beachtung bei ihm, wohingegen Fédier ganz offen angreift und die Verantwortung desjenigen übernimmt, der nicht einwilligt, das Feld solchen Kritikern zu überlassen. Nur so ist folgende Äußerung Gadamers zu verstehen: »Ich habe große Sorgen, daß Herr Fédier mit seiner Prüfung und durchaus richtigen Schilderung der Voreingenommenheit und einer gewissen Gehässigkeit von Herrn Farias seine ganz unerwünschte Wirkung erzielt«.
Zusammenfassend gesagt: Heideggers Zeitgenossen – so Gadamer, Fédier und von Herrmann – intervenieren so oder so, und zwar nicht zwecks Verteidigung Heideggers, wohl aber, um eine beträchtliche Geschichtsklitterung anzuprangern, die zu Lasten des Philosophen inszeniert wurde. Über all diese Erwägungen hinaus hat Gadamer wohl recht, als er gegen Ende seines Briefes vom 27. Januar 1988 von Herrmann Folgendes schreibt: »Im ganzen würde ich aber an Ihrer Stelle und ebenso als Angehöriger der Familie recht zuversichtlich sein, daß die ganze Affäre für die philosophische Würdigung und Wirkung eines großen Denkers ohne Schaden bleibt. Schließlich ist ein Mann wie Heidegger nicht auf den Beifall von Dummköpfen oder der sogenannten Massen angewiesen«.
16 Um auf die zwingende Argumentation des französischen Philosophen näher einzugehen, sei auf folgende Schriften hingewiesen: F. Fédier, Heidegger. Anatomie d’un scandale, Laffont, Paris 1988, und desselben Verf., Regarder voir, Les Belles Lettres, Paris 1995, S. 83 – 117 und 223 – 244.
4. Hans-Georg Gadamer und die 1987 entstandene Farías-affaire
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4.1. Gadamer an von Herrmann: Brief Nr. 1 Heidelberg, 30. November 1987 [1] Verehrter Herr von Herrmann, Sie glauben gar nicht, wie mich die Angelegenheit Farias | aufregt. Natürlich könnten wir unsa in der überlegenen Haltung | fühlen, daß dieses oberflächliche und miserable Buch für | deutsche Leser im Grunde nichts Neues enthält, jedenfalls | nichts, was man gegen Heidegger ausspielen kann. Aber die | Wirklichkeit der Massenmedien nötigt einen, aus der bisher | befolgten Reserve, soweit ich selbst in Frage komme, heraus-|zutreten. Der Rieseneffekt, den das Buch von Farias in Frank-|reich macht, zeigt eben, daß man so oberflächlich in der Welt | mit den Dingen umgeht, und hier liegt doch auch ein Versäumnis | der deutschen Freunde in Frankreich vor. In Wahrheit schrieb | ich in diesem Sinne an Fédierb. Aber er scheint das nicht so | zu sehen. Man kann in gewissem Sinne sagen, daß wir Deutschen, | insbesondere ich selbst, uns ähnlich verhalten haben, indemc | wir die ‘politische Verirrung’ mit ein paar bedauernden Worten | abtatend und möglichste dem Denker undf seinen Fragen | sich zuwandten. Das tat aber in Deutschland keinen Schaden, | oder nur geringen. Denn hier hat es seit langem einen Infor-|mationsstrom gegeben, auch einfach aus eigenem Wissen, wie | man in einem totalitären Lande lebte und wie man Kritik an | einer herrschenden Ideologie allein betreiben konnte. So | durfte man in Deutschland eigentlich keine nochmalige Wirkungg | des Buches von Farias erwarten. Aber ich bin skeptisch geworden. Die modernen Massenmedien | sind unersättlich und wissen auch Bedürfnisse zu erzeugen, | wo keine bestehen, und vollends, wenn das Ausland bereits | in Rage ist. So habe ich nach dem Studium des Buches keinen anderen Weg | mehr gesehen, als die Sache gründlicher anzupacken. Das ist [2] nun freilich ein ebenso heikles wie schwieriges Unternehmen. | Natürlich h ist das alles Unsinn, wenn man etwa die Stilgebung | von ‘Sein und Zeit’ als Pränazismus interpretiert. Leider hat | uns aber die Weltgeschichte genaui solche Schlüße suggeriert. | Die ebenso verzweifelte wie doch auch lebensvolle Zeit der | zwanziger Jahre ist zugleich ein Stück Lebenszeit in der Ent-|stehung der nationalsozialistischen Bewegung gewesen. Die | enthusiastischen Erwartungen eines Teils der Jugend und der | jüngeren Intelligenzschichten war damals nicht so gänzlich ver|schieden von dem, was Heidegger und seine Freiburger Freunde | auf dem Gebiete des Universitätslebens sich erhofften. So törichtj das auch in dem Buch herauskommt, durch die Iden-| tifikation mit dem Röhm-Putsch,k wird suggeriertl, daß Heidegger | eine Revolution dieses Stiles a uns corr ed] und Gad b Fédier Gad 2] Fedier Gad c indem] in dem Gad • in-dem Gad 2 d abtaten Gad 2] abtat Gad e und möglichst corr ed] und möglichst und möglichst Gad f und Gad 2] uns Gad g nochmalige Wirkung corr ed] nochmaligeWirkung Gad h Natürlich corr ed] Natrülich Gad i genau corr ed] genaus Gad j töricht] tör icht Gad • tör-icht Gad 2 k Röhm-Putsch, Gad 2] Röhm-Putsch Gad l suggeriert corr ed] suggriert Gad
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
Brief Nr. 1, Gadamer an von Herrmann, Heidelberg, 30. November 1987, S. 1 (Archiv F.-W. von Herrmann)
4. Hans-Georg Gadamer und die 1987 entstandene Farías-affaire
Brief Nr. 1, Gadamer an von Herrmann, Heidelberg, 30. November 1987, S. 2 (Archiv F.-W. von Herrmann)
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
Brief Nr. 1, Gadamer an von Herrmann, Heidelberg, 30. November 1987, S. 3 (Archiv F.-W. von Herrmann)
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anstrebte, sozusagen mit Waffen-|gewalt. Das ändert aber nichts daran, daß das tatsächliche Ein-|greifen m Hitlers auf der Seite der Reichswehr und der SS gegen | die SA in den Augen Heideggers eine Art Verrat an seiner eigenen n | Revolution war. So ungern man das hören mag, die schrecklichen | Vereinfachungen von Farias treffen da einen richtigen Punkt. | Er war von der bürokratischen Erstarrung des geistigen Lebens | unter Hitler zutiefst enttäuscht. All dem habe ich in dem | beigelegten Text17 meinero Antwort auf das Buch Ausdruck gegeben. | Ich konnte nicht anders, als jetzt die Sache so darstellen, | wie ich sie seit Jahrzehnten sehe. Ob das jetzt Gutes oder | Schlechtes oder gar nichts bewirkenp wird, weiß ich nicht. | Meine einzige Hoffnung ist, daß sich der Fall Heidegger zum | Anlaß ausweiten wird, das Phänomen des Nationalsozialismus | nicht länger aus der Vulgärperspektive anzusehen und immer | nur das Verbrecherischeq seiner Ausartungen (und r insbesondere | die der gewissenlosen Fortsetzung eines verlorenen Krieges) zus | sehen. Bei der Lage der Dinge muß ich voraussehen, daß die Sache in | der deutschen Öffentlichkeit immer weiter diskutiert wird, und | ich bin nicht all zu zuversichtlich, daß es mir gelingen könnte, | eine tiefere Auffassung herbeizuführent. Denu Begriff des Irrtums [3] und der Verirrung kann man zunächst in dem Sinne verstehen, | daß Heidegger keine politische Kompetenz besaß. Sodann aber | auch in dem Sinne, daß die deutsche Geschichte dieser Zeit | sich wahrhaft verirrt hat und in ein Unheil führte, dasv die | heute lebende Generation überhaupt nicht mehr verstehen kann. | Ich habe große Sorgen, daß Herr Fédier w mit seiner Prüfung | und durchaus richtigen Schilderung der Voreingenommenheit und | einer gewissen Gehässigkeit von Herrn Farias eine ganz uner-|wünschte Wirkung erzielt. Die vielen kleinen Bosheiten und | Oberflächlichkeiten des Buches sind zwar wirklich kläglich. | Aber wer so etwas liest, findet das alles ohne Gewicht, ver-|glichen mit der nach wie vor lastenden Frage, die ich nicht | so sehr als Frage in Bezug auf Heidegger kenne,x als eine Frage | in Bezugy auf das deutsche Volk als Staatsvolk, das seinen | Schicksalsweg damals verfehlt hat. Wenn ich allein an all die mir wohlbekannten Männer denke, | die damals mit Heideggers Rektorat zusammenarbeiteten – sie | alle haben die Schrecklichkeiten wahrlich nicht gewollt, die | für uns und die Welt schließlichz dabei herauskamenaa.
m Eingreifen Gad 2] eingreifen Gad n seiner eigenen Gad 2] seine eigene Gad o meiner Gad 2] meine Gad p bewirken] bew irken Gad • bew-irken Gad 2 q Verbrecherische Gad 2] Verbrecherrische Gad r Ausartungen (und Gad 2] Ausartungen und Gad s Krieges) zu Gad 2] Krieges) zu Gad t herbeizuführen Gad 2] herbeiführt Gad u Den Gad 2] Der Gad v daß Gad 2] das Gad w Fédier Gad 2] Fedier Gad x kenne, Gad 2] kenne Gad y Bezug corr ed] bezug Gad z Welt schließlich Gad 2] Weltschließlich Gad aa herauskamen corr ed] herauskam Gad
17 Bezieht sich auf einen noch unveröffentlichten maschinengeschriebenen vierseitigen Text von Gadamer.
3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
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Ich fürchte sehr, daß die Öffentlichkeit einfach noch nicht | reif ist, hier zu einem besseren Verständnis zu gelangen. | Die Fehler und Schwächen von Heidegger sind vermutlich keine | anderen und keine größeren, als jeder andere Mensch in expo|nierten Lagen zu begehen in Gefahr ist. Davon reden zu müssen, | ist immer etwas pharisäerhaft,ab und ich hasse das. So bin ich | recht unglücklich, daß ich meine bisher befolgte Reserve nicht | weiter aufrechterhaltenac kann. Leider setzt es mir auch gesund-|heitlich sehr zu. Ich bin nach meiner Erkrankungad durchaus noch | nicht von der alten Frische und Elastizität und bin recht be-|kümmert. Mit den besten Grüßen Ihr HGGadamer ab pharisäerhaft, Gad 2] pharisâerhaft Gad ac aufrechterhalten] Aufrecht erhalten Gad • aufrecht-erhalten Gad 2 ad Erkrankung corr ed] ERkrankung Gad
4.2. Gadamer an von Herrmann: Brief Nr. 2
Heidelberg, 27. Januar 1988
[1] Verehrter Herr von Herrmann, Von meiner Reise aus Italien bin ich zurück und finde hier | Berge von Post vor. In Neapel hatte ich bei zwei offiziellen Präsentationena Neuerscheinungen zu fungieren (das ist | eine italienische Sitte, die von den Verlagen organisiert | und von den Kultureinrichtungen ausgeführt wird.) im vor-|liegenden Falle war das eine die italienische Übersetzung | von Heideggers ‘Wegmarken’18, die ich zu würdigen hatte. Das | zweite war die italienische Übersetzung meines eigenen Büch-|leins „Heideggers Wege“19, bei dem ich gewürdigt wurde, aber auch | kurz antworten mußte. Zweimal habe ich also schon wieder | mich äußern müssen und konnte feststellen, daß zwar die Massen-|medien auch in Italien dem französischen ‘Vorbild’b folgen, | daß es aber sonst dort anders aussieht. Was ein totalitärer | Staat ist, hat man dort noch nicht ganz vergessen, und daß | ein Denker wie Heidegger in jedem Falle eine säkulare Er-|scheinung bleibt, ist dort den Leuten durchaus klar. Inzwischen erwartet mich bei meiner Rückkehr nun auch etwas | in Deutschland, nämlich die Begegnung mit Derrida und einem | seiner jüngeren Kollegen
a
Präsentationen Gad 2] Präsitationen Gad b ‘Vorbid’ corr ed] ‘Vorbild’, Gad
M. Heidegger, Segnavia, ins It. übersetzt von F. Volpi, Adelphi, Mailand 1987. Gadamer, I sentieri di Heidegger [Heideggers Wege: Studien zum Spätwerk, Mohr, Tübingen 1983] ins It. übersetzt von R. Cristin, Marietti, Genua 1987. 18
19 H.-G.
4. Hans-Georg Gadamer und die 1987 entstandene Farías-affaire
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aus Straßburg20, die am 5. Februar | in der Heidelberger Universität stattfinden soll. Da werden | wir kaum über die politischen Albernheiten zu reden haben, | sondern ich hoffe, daß es eine philosophische Auseinander-|setzung wird. Aber auch eine solche wird eine schwierige Sa-|che. Erstens ist mein Französisch nicht gut genug, um einen | Schriftsteller so hohen Grades immer genau verstehen zu kön-| nen (und meine Ohren auch nicht). Dazu kommt aber, daß Derri-|da in Wahrheit überhaupt kein Verhältnis zur deutschen Kultur | hat, auch von mir wohl nie wirklich Kenntnis genommen hat, | sondern immer nur an Ricœurc oder Heidegger denkt, den er | ‘links zu überholen’ sucht. [2] Nun immerhin, das wird einen philosophischen Gehalt haben | hoffe ich. Falls nicht die akademische Öffentlichkeit, die | dabei unvermeidlich ist, die Sache umfunktioniert. Ich kenne | in dieser Sache die Heidelberger Stimmung nicht. Aber da | Dummheit die Welt regiert, muß man skeptisch sein. Es wird immer nur mit großem Widerstreben sein, daß ich mich | zu einer öffentlichen Stellungnahme bereit finde. Die fran-|zösische Veröffentlichung ist sehr verkürzt wiedergegeben, | wie man leicht feststellen kann. Doch ist jetzt sowohl eine | französische wie eine italienische Buchveröffentlichung über | den ganzen Fall zu erwarten, in der wenigstens ein ungekürzter | Abdruck meiner Stellungnahme zu lesen sein wird. Aber natür-|lich beherrschen die französischen Autoren das Feld. Immerhin | habe ich mir meinen Brief an Sie noch einmal vorgeholt, um | über Ihre Anregung nachzudenken, meine Stellungnahme noch zu | erweitern. Vielleicht bietet sich ein zwingender Anlaß. Ich möchte aber doch um Verständnis bitten, wie schwierig das | Ganze für mich ist. Ich habe zwar mit Heidegger ein Vertrauens-|verhältnis gehabt, das kein Thema bewußt vermied. Es war aber | umgekehrt nicht meine Gewohnheit, in den Gesprächen mit Hei-|degger meinerseits Fragen zu stellen. So weiß ich über gar | nichts Bescheid, was Sie oder etwa die Familie aus privatem | Umgang wissen. Es würde mir sehr viel daran liegen, bevor ich | genötigt bin, mich etwa öffentlich zu dem „Fall“ zu äußern, | einmal zwanglose Gespräche über die Sachen zu führen. Ich | bin ja froh, wenn man mir meinen guten Willen nicht in Ver-|dacht zieht, vermute aber, daß doch vieles, gerade auch bei | Nahestehenden, Anstoß erregt, was ich geschrieben habe. Nun, meine italienischend Stellungnahmen betreffen natürlich | auch nicht den „Fall“, sondern die Philosophie Heideggers | und sind auch durch ihre Adresse mitbestimmt. Im ganzen würde | ich aber an Ihrer Stelle und ebenso als Angehöriger der Fa-|milie recht zuversichtlich sein, daß die ganze Affäre für diee | c
Ricœur corr ed] Riceout Gad d italienischen Gad 2] italienische Gad e für die Gad ] der Gad 2
20 Der »jüngere Kollege aus Straßburg« war Philippe Lacoue-Labarthe (1940 – 2007); vgl. J. Derrida, H.-G. Gadamer, Ph. Lacoue-Labarthe, La conférence de Heidelberg (1988): Heidegger, portée philosophique et politique de sa pensée, éd. Imec, Paris 2014.
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
Brief Nr. 2, Gadamer an von Herrmann, Heidelberg, 27. Januar 1988, S. 1 (Archiv F.-W. von Herrmann)
4. Hans-Georg Gadamer und die 1987 entstandene Farías-affaire
Brief Nr. 2, Gadamer an von Herrmann, Heidelberg, 27. Januar 1988, S. 2 (Archiv F.-W. von Herrmann)
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
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philosophischef Würdigung und Wirkung eines großen Denkers | ohne Schaden bleibt. Schließlich ist ein Mann wie Heidegger | nicht auf den Beifall von Dummköpfen oder der sogenannten Massen | angewiesen. Danke für die Jahresgabe, die meine nächste Lektüre sein wird
Ihr HGGadamer
f philosophische
Gad 2] philosophische Gad
4.3. Gadamer an von Herrmann: Brief Nr. 3
Heidelberg, 11. April 1988
[1] Sehr geehrter Herr von Herrmann, vielen Dank für Ihr Schreiben mit den guten Nachrichten, | die mich etwas aufatmen lassen. Meine Erkrankung im vorigen | Herbst hatte doch die unangenehme Folge, daß ich verschiedene | Verpflichtungen auf dieses Jahr verschieben mußte und dabei | auf meine geschwächte Arbeitskraft stoße. Doch ich hoffe | schon, alles uns betreffende leisten zu können. Sehr gern | würde ich das Geleitwort an die Jahresgabe anschließen;a | da es bis zum Beginn des Sommers Zeit hat, bin ich zuversicht-|lich. Heute schreibe ich vor allem wegen des Husserl-Bandes. Auch | ich bin sehr beeindruckt von der in diesem Band geleisteten | Arbeit. Aber erlauben Sie mir ein Wort zu dem Beitrag von Ott. | Ich hatte den Beitrag beinahe als ersten gelesen, weil ich | nach der Erfahrung in Bochum Schlimmes befürchtete. Ich muß | Ihnen gestehen, ich war angenehm enttäuscht. Auch seine Kritik | an dem Buch von Farias, die mir in die Hände kam, schien mir | ganz vorzüglich. In beiden Fällen bestreite ich nicht, daß | ein gewisses Hintergrundressentiment zu spüren ist. Die Sache | ist mir nur zu klar. Ott gehört zu den regional gebundenen | Katholiken, der an Heidegger ganz zufällig durch seine Archiv-|studien geraten ist und sich da herausgefordert fühlte. Er | hat ja damit wirklich nicht Unrecht, daß Heidegger den imperia-|listischenb Mißbrauch des katholischen Kirchenregiments damals | in Freiburg seinerseits wirklich gehaßt hat. Bei unserer | Heidelberger Diskussion mit Derrida usw. wurde in kleinerem | Kreise die interessante Frage gestellt, ob sich Heidegger | wohl überhaupt in das politische Abenteuerc von 1933 einge-|lassen hätte, wenn er damals nicht in Freiburg, sondern noch | in Marburg geblieben wäre. Auch an dieser Frage ist etwas | Wahres. Nun, ich möchte einfach meinen Eindruck Ihnen nicht vorent-|halten. Herr Ott in Bochum hat mich weniger durch Gehässigkeit [2] gereizt als durch Blindheit a anschließen; Gad 2] anschließen Gad b imperialistischen Gad 2] imperialistischen Gad c Abenteuer] Aben teuer Gad • Aben-teuer Gad 2
4. Hans-Georg Gadamer und die 1987 entstandene Farías-affaire
Brief Nr. 3, Gadamer an von Herrmann, Heidelberg, 11. April 1988, S. 1 (Archiv F.-W. von Herrmann)
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3. Kap.: Zu den unveröffentlichten Briefwechseln
Brief Nr. 3, Gadamer an von Herrmann, Heidelberg, 11. April 1988, S. 2 (Archiv F.-W. von Herrmann)
4. Hans-Georg Gadamer und die 1987 entstandene Farías-affaire
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und methodische Torheit. Wie | kann man eine Verteidigungsschrift, wie sie der Anhang zu | der Rektoratsrede ist, dadurch kritisieren wollen, daß sie | Auslassungen von Belastendem oder für belastend Gehaltenemd | enthält. Das ist ein hermeneutischer Mißgriff des Herrn Ott21, | den ich ihm auch deutlich gesagt habe. Weit schlimmer war | aber das naive Pharisäertum der jüngeren Teilnehmer in Bochum. | Das ist auch jetzt mein ganzer Kummer bei der Farias-Affäre. | Wie soll eine solche pharisäische Generation, die in Frank-| reich wie bei uns geradezu gestreichelt wird,e die Lagen von | Druck aushalten und bestehen können, die eines Tages auf sie | zukommen werden. Was nun den Beitrag von Herrn Ott betrifft, so möchte ich | Sie doch einmal bitten, ihren eigenen Eindruck von meinem | eigenen her zu überprüfen. Ich habe nach Ihrem Brief den | Ottschen Beitrag mit Ihren Augen nochmalsf zu lesen gesucht. Es ist | mir nicht gelungen. Ich fandg die kurze Seite über den Kon-|flikt mit Husserl maßvoll. Der Brief an Mahnke22 ist auf alle | Fälle ein Dokument, das man nicht zitieren würde, wenn man | gehässig gesinnt wäre. Ferner bitte ich Sie zu beachten, mit | welchem Takt er das Fehlen Heideggers bei der Beerdigung von h | Husserl unausgesprochen gelassen hat. In meinen Augen hat | er auch bei den weiteren Angaben über die Verwaltungsakte | durchaus nicht den Eindruck zu erwecken gesucht, als ob | dieselben auf das Schuldkonto von Heidegger gingen. Ich habe da doch den Eindruck, daß Sie mit einer gewissen Überempfind-|lichkeit indirekte Belastungen verleumderischer Art vermuten, | die ein unbefangener Leser so nicht verstehen kann. Schließ-|lich bin ich doch selbst sehr sensibilisiert, und bin so viel | Schlimmeresi gewohnt, wenn es sich um üble Nachrede gegen | Heidegger handelt, daß Herr Ott alles in allem als ein redlicher | Mann erscheint, der nur manchmal seine wissenschaftliche Red-|lichkeit mit leichten Einfärbungen mischt. Auf alle Fälle | scheint mir das aber bei ihm im Abklingen zu sein, und ich | bemühe mich meinerseits, alle Verschärfungen von Spannungen | zu mildern. Bitte verstehen Sie auch diesen Brief als einen | Beitrag zu diesem Ziele.
Mit den besten Grüßen! HGGadamer
d belastend Gehaltenem Gad 2] Belastet gehaltenem Gad e wird, Gad 2] f Augen nochmals2] Augen Gad g fand corr ed] fan d Gad h Beerdigung ed] Beerdigungvon Gad i Schlimmeres Gad 2] schlimmeres Gad
ird Gad von corr
21 Geboren 1931 ist Hugo Ott emeritierter Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Freiburg i. Br. Er hat eine Biographie Heideggers veröffentlicht unter dem Titel Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Campus, Frankfurt a. M./New York 1988 (19922). 22 Dietrich Mahnke (1884 – 1939), Philosoph und Historiker der Mathematik, ab 1927 Professor an der Universität Marburg. Er hat Leibniz behandelt.
Epilog
Betrachtungen über den »seinsgeschichtlichen« bzw. »metaphysischen« Antisemitismus Epilog: Betrachtungen über den Antisemitismus
Die »Judenfrage« in den Schwarzen Heftenim Lichte der »Kritik an der Metaphysik« Leonardo Messinese
1. Einleitung Die Schwierigkeit, die der philosophischen Auseinandersetzung mit jeglicher »Frage« innewohnt – und dann schärfer wird, wenn man sie einer wesentlichen Eigenart des jeweiligen Themas gegenüberstellt – entsteht dadurch, daß die philosophische Herangehensweise nie über einen anfänglichen Punkt als berechtigten Ausgangspunkt verfügen kann: ihr kommt es zu, ihre ersten Schritte von dem »Vorausgesetzten« zu befreien. Dieser Eigenheit bzw. Besonderheit der Philosophie begegnen wir schon in deren Anfängen und sie wurde in dieser oder jener Art und Weise im Laufe der nachfolgenden Epochen ihrer Geschichte erkannt. (Die erwähnten verschiedenartigen »Weisen« stammen von der Verschiedenartigkeit des jeweiligen Grundbegriffs von Philosophie bei den betreffenden Denkern: man denke nur z. B. an Hegel und an Heidegger.) Umgekehrt besteht auch eine Schwierigkeit darin, ein echt philosophisches Werk zu verstehen, wenn es sich auch auf andere Felder des Denkens oder gar auf das alltägliche Leben bezieht; diese andersartige Schwierigkeit entsteht dadurch, daß die ursprüngliche Distanz des »vulgären Verstandes« zur Gliederung der philosophischen Begrifflichkeit zu leicht vergessen wird. So führt das Benennen mit denselben Begriffen zu einer Art Kurzschluß, weshalb der Schein entsteht, daß die philosophische Begrifflichkeit sich auf dieselben Sachen bezöge. Einem solchen Sachverhalt liegt wiederum die ständige Mißdeutung zugrunde, die im Gespräch von Philosophen und Nicht-Philosophen unvermeidlich ist. So hat z. B. Heidegger diese Mißdeutung mit folgenden Worten ausgedrückt: »Wenn das Philosophieren aber ausgesprochen ist, dann ist es der Mißdeutung preisgegeben, […] jener wesentlichen sachlichen Mißdeutung, auf die der vulgäre Verstand zwangsläufig verfällt, indem er alles, was ihm als philosophisch ausgesprochen entgegenkommt, wie etwas Vorhandenes erörtert, es von vornherein, da es wesentlich zu sein scheint, in der selben Ebene nimmt wie die Dinge, die er alltäglich betreibt, und nicht bedenkt und auch nicht verstehen kann, daß das, wovon die Philosophie handelt, über-
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Epilog: Betrachtungen über den Antisemitismus
haupt nur in und aus seiner Verwandlung des menschlichen Daseins sich aufschließt. Dieser mit jedem philosophischen Schritt geforderten Verwandlung des Menschen aber widersetzt sich der vulgäre Verstand zufolge einer natürlichen Behäbigkeit […]«1.
Dieser »natürlichen Behäbigkeit« des vulgären Verstandes – wie Heidegger hinzufügt – bleibe »jeder von uns verhaftet und der meint zu philosophieren, wenn er philosophische Bücher liest oder darüber schreibt und dabei argumentiert«2. Um jedem Mißverständnis vorzubeugen, fügt also Heidegger hinzu, der Grund dafür liege »weder im Mangel an Scharfsinn beim Leser, auch nicht im Mangel an Bereitschaft, auf das Dargelegte einzugehen, […] auch nicht […] in dem Mangel an Eindringlichkeit der Interpretation, sondern in der »natürlichen Behäbigkeit« des vulgären Verstandes, dem jeder von uns verhaftet bleibt […]«3. Dies ist nicht der Ort, die von Heidegger geforderte spezifische Art, wie eine solche »Verwandlung« der natürlichen Denkweise zu vollbringen ist, und ebensowenig die spezifische Form zum Vorschein zu bringen, in der diese Verwandlung die Distanz bestimmt zwischen der Ebene, in der der vulgäre Verstand die Dinge aufnimmt, »die er alltäglich betreibt« – die »wesentlich zu sein scheint« – und, andererseits, den »Dingen«, wie sie sich in der »philosophischen Erkenntnis« von ihnen selbst her zeigen. Hier genüge es, an die Betrachtungen Heideggers bezüglich der »formalen Anzeige« als »Grundcharakter der philosophischen Begriffe« zu erinnern, und damit an die Notwendigkeit, diese nicht »wie etwas Vorhandenes« zu verstehen, sondern eher als einen Verweis darauf, eine »Verwandlung des menschlichen Daseins« zu vollbringen. Aufgrund derartiger Beobachtungen halte ich es für wichtig, auf eine mögliche grundlegende Mißdeutung hinzuweisen, die immer im Hinterhalt lauert, sobald man das Denken eines Philosophen angeht, zumal wenn dessen Inhalte jeden Menschen sowie seine tiefsten Überzeugungen in seinem »Menschsein« betreffen. Beim Lesen der Schriften einiger einflußreicher Sachkundiger über Heideggers Schwarze Hefte hat man den Eindruck, als wäre eine derartige »Mißdeutung« am Werk, die immer lauert, wenn die »Mitteilung« zwischen Fachphilosophen stattfindet, wie Heidegger es geahnt hatte. Ab 1931 hat die Abfassung der Schwarzen Hefte etwa vierzig Jahre hindurch die philosophische Autorschaft Heideggers bei akademischen Produktionen begleitet. Die Veröffentlichung im Rahmen der Gesamtausgabe der ersten vier Bände der Überlegungen aus den Heften hat bekanntermaßen eine breite Debatte auf internationaler Ebene ausgelöst. Allerdings möchte ich vorausschicken, daß ein beträchtlicher Teil dieser Debatte die Veröffentlichung der betreffenden Bände vorweggenommen hat, und zwar 1 M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Gesamtausgabe Bd. 29/30, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klostermann, Frankfurt a. M. 1983, § 70, S. 422 – 423. 2 Ebd., S. 426. 3 Ebd., S. 426.
Die »Judenfrage« in den Schwarzen Heften
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auch mittels in den Tageszeitungen veröffentlichter Kostproben, wodurch die Öffentlichkeit erfuhr, daß ein abscheulicher »Antisemitismus« in den Überlegungen dieser Hefte zweifelsohne vorhanden wäre, und zwar als zentrales Thema dieser Schriften. Selbst unter der Annahme, daß ein Antisemitismus in ihnen vorhanden sei, wird es immer offensichtlicher, daß er keineswegs den »Kern« der Schwarzen Hefte ausmacht, da die beschuldigten Stellen nur einen winzigen Teil der Heideggerschen »Überlegungen« und »Anmerkungen« ausmachen, wenn auch den »indirekten« Bezügen auf das Judentum Rechnung getragen wird. So besteht das aufgeworfene Problem darin, zu begreifen, ob der Antisemitismus etwas sei, was mit dem philosophischen Denken Heideggers etwas zu tun habe, ob er dessen relevantesten Begriffen zugrundeliege, ob gegebenenfalls demzufolge Heideggers Schriften so »kontaminiert« seien, daß sie insgesamt von der Geschichte der Philosophie auszuschließen wären. Die Frage, ob ein angeblicher »Antisemitismus« Heidegger zuzuschreiben sei oder nicht, also mit Fug und Recht oder Unrecht, ist freilich nichts Neues. Mit den Schwarzen Heften hat sie nur ein weiteres Publikum erreicht als das strenge akademische Publikum. So wurden die Schwarzen Hefte zum Anlaß und Vorwand, um den angeblichen Antisemitismus bei Heidegger zum Hauptthema zu machen, und die Frage zu stellen, ob dieser vielleicht nicht eine größere Tragweite hätte, als diejenige, die bis jetzt dem Denker aus Meßkirch zugeschrieben worden war. So geht es darum, wie gesagt, zu prüfen, ob der Heidegger zugeschriebene Antisemitismus nur auf Behauptungen zurückzuführen ist, die nur Heidegger als »Privatperson«, oder auch als »Denker« beträfen; darüber hinaus kommt es darauf an, klarzulegen, ob Heideggers philosophisches Denken nicht von einem seiner Struktur nach zwielichtigen Antisemitismus durchdrungen sei.
2. Einige Interpretationen des Denkens Heideggers aufgrund eines angeblichen Antisemitismus vor der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte Eine Sammlung der Stellungnahmen Heideggers, seien sie direkt oder indirekt, die auf die Jahre 1929 – 1934 zurückgehen, und für antisemitisch gehalten wurden, ist im bekannten und sehr umstrittenen Buch von Emmanuel Faye Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie4 zu finden. Um es gleich vorweg zu sagen, beabsichtige ich nicht die zahlreichen Stellen, insbesondere Briefe und öffentliche Reden der reichlichen Heideggerschen Literatur zu untersuchen, aus denen sich ergeben haben soll, daß der sog. Antisemitismus Heideggers deutlich erwiesen sei, sondern umgekehrt einige Elemente der Frage zu 4 E. Faye, Heidegger. L’introduction du nazisme dans la philosophie. Autour des séminaires inédits de 1933 – 1935, Albin Michel, Paris 2005; deutsche Übersetzung: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Matthes&Seitz, Berlin 2014.
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Epilog: Betrachtungen über den Antisemitismus
besprechen, ob überhaupt ein Zusammenhang zwischen dessen philosophischem Denken und einer antisemitischen Einstellung besteht. Dazu können wir vom Buch von Faye ausgehen, und den Unterschied hervorheben zwischen der Interpretation, die er aufgrund mancher Dokumente bestätigen will und, andererseits, dem wirklichen Inhalt dieser Interpretation. Der Verfasser berichtet über einen Auszug aus einem Brief von Heidegger an den Geheimrat Viktor Schwœrer vom 2. Oktober 1929, in dem der deutsche Philosoph sich auf die Not einer Besinnung dessen bezieht, »daß wir vor der Wahl stehen, unserem deutschen Geistesleben wieder echte bodenständige Kräfte und Erzieher zuzuführen oder es der wachsenden Verjudung im weiteren und engeren Sinne endgültig ausliefern«5. Als Vorbemerkung sei nicht außer Acht gelassen, daß die italienische Fassung »Verjudung« durch giudaizzazzione übersetzt, und so nur den möglichen abwertenden Sinn des von Heidegger gebrauchten Wortes hervorhebt, der den näheren Angaben von Faye entspricht; dazu wird »Bodenständige« durch provenienti dal territorio (»Einheimische«) übersetzt, und dabei wird die mitschwingende »Verwurzelung in einem Boden« gar nicht in Betracht gezogen, die im deutschen Wort zum Ausdruck kommt. Wie dem auch sei, bezieht sich die von Heidegger erwähnte »wachsende Verjudung« im engeren Sinne auf die steigende Anzahl der jüdischen Professoren und Studenten in der Universität sowie in den akademischen Kreisen6; im weiteren Sinne – führt Faye fort – bezeichne dieser Ausdruck »alles, wogegen Heidegger bis zum Ende Abneigung empfand: Liberalismus, Demokratie, die „Zeit des Ich“ und Subjektivismus7«. Wenn wir jetzt diese Klärung bei Faye der Bedeutungen von »Verjudung« im engeren und im weiteren Sinne von den Interpretationen ablösen, die Heidegger einen deutlichen Antisemitismus zuschreiben8, dann ist es erwähnenswert, daß der Verfassser vielleicht gegen seinen Willen dazu beiträgt, den echten Sinn der Heideggerschen Stellung zu verstehen. Ich will sagen, daß aus der Bedeutung von »Verjudung« im weiteren Sinne, so wie sie Faye versteht, eben das hervorgeht, daß zu den Schriften Heideggers nichts hinzuzufügen ist außer dessen Kritik an der 5 Ebd., S. 60. In der entsprechenden Fußnote werden die Quellen des Briefes im Original wie in dessen frz. Übersetzung angegeben; vgl. Ulrich Sieg, »Die Verjudung des deutschen Geistes«, Die Zeit, Nr. 52, 22. Dezember 1989, S. 50. 6 Diesbezüglich hat Rüdiger Safranski eine Bezeichnung erwähnt, die in diesen Jahren von Sebastian Haffner geprägt worden und in den akademischen Kreisen weitverbreitet war: »Konkurrenzantisemitismus« (Vgl. R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Carl Hanser Verlag, München Wien 1994, S. 299). 7 E. Faye, ebd. S. 61. 8 Die These eines Antisemitismus wie einer völligen Zustimmung Heideggers zum Nationalsozialismus ist im Buch von Faye beständig vorhanden, darüber wäre eine Sonderstudie erforderlich.
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geistigen und politischen Neuzeit als der »Metaphysik der Subjektivität« – und weiter nichts. Darüber ist später im vorliegenden Aufsatz zurückzukommen. Darüber hinaus ist auch die Kritik an der neuzeitlichen Welt richtig zu verstehen, und zwar ohne die allzu bequeme Kurzfassung, die die Stellungnahmen Heideggers unter der übermäßigen Vereinfachung des »Anti« verzeichnen: anti-neuzeitlich, anti-humanistisch, anti-demokratisch, und dazu anti-semitisch und so weiter9. Diesbezüglich mag die Bezugnahme auf Heideggers Einstellung zum politischen demokratischen System erhellend sein, um den Sinn seiner Kritik zu verstehen. Im berühmten Spiegel-Gespräch, das seinem Willen entsprechend erst 1976 kurz nach seinem Tode veröffentlicht, aber zehn Jahre früher stattfand, behauptet er: »[…] daß die planetarische Bewegung der neuzeitlichen Technik eine Macht ist, deren Geschichte-bestimmende Größe kaum überschätzt werden kann. Es ist für mich heute eine entscheidende Frage, wie dem heutigen technischen Zeitalter überhaupt ein – und welches – politisches System zugeordnet werden kann. Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Ich bin nicht überzeugt, daß es die Demokratie ist«10.
Wie Heidegger es ein wenig später genauer erklärt, ist die Frage bezüglich der Demokratie und worauf er keine Antwort wüßte, diejenige, ob sie einen Weg, der »der Technik entspricht«, anbieten könne, und gehört eher zur Ethik als zur Politik11. Derartige Betrachtungen entsprechen denjenigen, die Heidegger bezüglich der verschiedenen Aspekte der Neuzeit uns hinterlassen hat, angesichts einer Wirklichkeit – der Technik –, die der Mensch nicht in der Hand hat, die er »von sich aus nicht bewältigt«, wenn er auch der Illusion erliegt, daß er eine Macht bewältigt und beherrscht, von der er umgekehrt »gestellt, beansprucht und herausgefordert« wird12. Vermutlich dem breiten Publikum weniger bekannt als viele Heidegger-Kritiker bezüglich der »Judenfrage« ist der an der Universität Dallas lehrende amerikanische scholar David Patterson. In einem 1999 veröffentlichten Aufsatz13 hat er eine herbe Kritik an Heidegger und auch an einem beträchtlichen Teil der abendländischen Philosophie überhaupt und besonders der deutschen Philosophie (Kant, Hegel, Nietzsche) geübt14. 9 Zu berücksichtigen wären Heideggers Beobachtungen über alles, was im Namen eines »Anti« kämpft: »Alles „Anti“ denkt im Sinne dessen, wogegen es „anti“ ist« (M. Heidegger, Parmenides, in: Gesamtausgabe, Bd. 54, hrsg. von M. S. Frings, Klostermann, Frankfurt a. M. 1982, S. 77). 10 M. Heidegger, »Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger (23. September 1966), in: Gesamtausgabe, Bd. 16, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, hrsg. v. H. Heidegger, Klostermann, Frankfurt a. M. 2000, S. 668. 11 Ebd., S. 669. 12 Ebd., S. 672. 13 Vgl. D. Patterson, Nazis, Philosophers, and the Response to the Scandal of Heidegger, in: J. K. Roth (Hrsg.), Ethics after the Holocaust. Perspectives, Critiques and Responses, Paragon House, St Paul Minn. 1999, S. 148 – 171. 14 Patterson schöpft aus einer Quelle, die als Hauptvertreter Emil L. Fackenheim zählt; von diesem Verf. sei hier nur das Buch genannt: Encounters between Judaism and Modern
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Diesem Verfasser nach besteht das Grundmotiv darin, daß mit diesen Philosophen die »Vollendung« eines Denkens vollbracht sei, das Abraham und den Gott Abrahams vom menschlichen Leben austilgt und ein beträchtlicher Bestandteil dessen wäre, was zum Holocaust geführt hat: »Die Geschichte einer wichtigen Denkrichtung des abendlândischen Denkens ist die Geschichte eines Kampfes, um Abraham und den Gott Abrahams vom menschlichen Leben auszutilgen. So geschah der Holocaust nicht trotz, sondern z. T. wegen der abendländischen Kultur, wie sie durch europäische Philosophie gestaltet wurde. Das hat nicht zum Zerfall, sondern z. T. zur Vollendung der Philosophie geführt. Und an der Spitze dieser Vollendung stand der Nazi Martin Heidegger«15.
Nach Patterson gingen die Angriffe gegen die Juden und das Judentum von einer »Komplizenschaft« vieler Philosophen und nicht nur von Heidegger aus – man betrachte in mancher Hinsicht die philosophischen Lehren von Kant, Hegel und Nietzsche16 oder auch noch die Tatsache, daß 1940 fast die Hälfte der deutschen Philosophen Mitglieder der NSDAP waren, die sich dann in Gruppen unterteilten, deren jede sich um die Vorherrschaft in der NS-Bewegung bemühte17. Unter diesem Aspekt erscheint Heidegger in Pattersons Augen als die vordergründige Figur, die auf dem Hintergrund der Interpretation von Levinas in Totalité et infini hervortritt, und zwar aufgrund eines »Vorranges« der »Ontologie« über die Ethik, der Sein und Zeit zu entnehmen wäre18. Hier sei ein Auszug aus dem erwähnten Werk von Levinas zitiert, der die These von Patterson besonders verstärkt: »Den Vorrang des Seins über das Seiende in Anspruch nehmen, heißt schon zum Wesen der Philosophie Stellung nehmen, d. h. schon die ethische Beziehung als Beziehung zu Jemandem, also zu einem Seienden einer Beziehung zum Sein des Seienden unterordnen, zu einem unpersönlichen Sein, das das Besitzen, das Beherrschen des (einer wissenden Beziehung unterworfenen) Seienden annimmt, die Gerechtigkeit der Freiheit unterordnet […]. Die als Ontologie ausgeführte Beziehung zum Sein besteht in der Neutralisierung des Seienden, um es zu begreifen oder zu greifen«19.
Nach Levinas führen die verhängnisvollen Folgen einer derartigen Einstellung, »die die Beziehung zum Mitmenschen derjenigen zum Sein überhaupt unterordnet«, »zur imperialistischen Herrschaft, zur Tyrannei«20. Dieser Hermeneutik von Sein und Zeit und deren Auswirkungen stimmt Patterson völlig zu. Philosophy. A Preface to Future Jewish Thought, Basic Books, New York 1972. Dem Denken des »letzten deutsch-jüdischen Philosophen« hat Patterson eine Studie gewidmet: Emil L. Fackenheim. A Jewish Philosopher’s Response to the Holocaust, Syracuse University Press, Syracuse NY 2008. 15 D. Patterson, Nazis, Philosophers …, S. 151 (kursiv von mir, L. M.). 16 Ebd., S. 157 – 159. 17 Ebd., S. 156. 18 Ebd., S. 159 – 160. 19 E. Levinas, Totalité et infini. Essai sur l’extériorité (1961), Neuauflage: Le Livre de poche, Paris 2012, S. 36. 20 Ebd., S. 38.
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Mit dem Vorrang des Seins – so Levinas – wird nach Patterson die Philosophie Heideggers, zufolge des »griechisch-christlichen Vorurteils«, wonach »das Andere das Sein ist«, zu einer Denkweise, die – wie Lyotard es schon bemerkte – ohne jeglichen Bezug zu einer anderen Denkweise ist, wonach, wie es im jüdischen Denken der Fall ist, »das Andere das Gesetz ist«21. Dieser Grundstruktur des Denkens von Heidegger würde das innewohnen, was er nacheinander über das »Volk«, den »Führer« und den »Kampf«22 äußerte, das ihn daran gehindert hätte, sich gegenüber der moralischen Verdorbenheit des Nationalsozialismus kritisch einzustellen 23. »Freilich, falls Heidegger zugestanden wird, das Wesen und die Güte des Menschen liege im Seinsverständnis und nicht in der Fürsorge angesichts unserer Mitmenschen – falls nicht der Gerechtigkeit, sondern der Freiheit Interesse entgegengebracht wird, dem, was ist und nicht dem, was gerecht ist – dann beruht die Kritik an irgendeiner Ideologie auf ontologischen und nicht auf moralischen Gründen«24.
Ich wollte auf die Einschätzungen des amerikanischen scholar hier in doppelter Hinsicht eingehen: 1) damit wird daran erinnert, daß die querelle über das Vorhandensein eines Antisemitismus bei Heidegger nicht erst seit der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte ausgelöst wurde25; 2) damit wird auch gezeigt, wie völlig ungenügend es ist, die genannte Frage in den Zusammenhang des »philosophischen Denkens« von Heidegger einzuordnen, um von daher den rechten Zugang zur Lektüre Heideggers zu finden. Wenn freilich eine derartige Verbindung mit einem fehlgehenden Verständnis der Grundbegriffe der Philosophie Heideggers (Dasein, Seyn, Freiheit, Schicksal, Geschick usw.) einhergeht, dann kann man immer noch ganz bequem dessen Denken beschuldigen, sich gegen die Moral und die Heiligkeit der Religion zu vergehen und gar diese Beschuldigung gegen wer weiß wie viele weitere Philosophen erheben. Tom Rockmores Lösung gegenüber der angeblichen Schwäche des Heideggerschen Denkens, was die Ethik angeht, d. h. eine Rückkehr zur Aufklärung im Sinne der Kantischen Philosophie, lehnt Patterson als ungenügend ab; was den Vorrang 21 D. Patterson, Nazis, Philosophers …, S. 160; J.-F. Lyotard, Heidegger et »les juifs«, Galilée, Paris 1988. 22 Vgl. ebd. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 161 – 162. 25 Hier begnügen wir uns damit, lediglich auf einige spätere Beiträge zur Diskussion hinzuweisen: T. Sheehan, Everyone has to Tell the Truth. Heidegger and the Jews, in: »Continuum« 1 (1990), S. 30 – 44; J. D. Caputo, Heidegger’s Scandal. Thinking and the Essence of the Victim, in: T. Rockmore – J. Margolis (Hrsg.), The Heidegger Case. On Philosophy and Politics, Temple University Press, Philadelphia 1992, S. 265 – 281; A. Bursztein, Emil Fackenheim on Heidegger and the Holocaust, in: »Iyyun. The Jerusalem Philosophical Quarterly« 53 (2004), S. 325 – 336; S. Hammerschlag, Troping the Jew. Jean François Lyotard’s Heidegger and „the jews“, in: »Jewish Studies Quarterly« 12 (2005), S. 371 – 398.
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der Ontologie betrifft, der die Wurzel allen Übels in der Philosophie Heideggers sei, weist er mit folgenden Worten auf das hin, was diesem Vorrang gegenübergestellt sein sollte: »Kants Philosophie der Aufklärung ist nicht als eine Antwort auf Heidegger zu erheben, da sie […] zu Heidegger führte. Heidegger ist eher die jüdische Metaphysik gegenüberzustellen, die dem Nazismus gegenüber die Heiligkeit des Mitmenschen gegen die Autonomie des Selbst, die verbindlichen Befehle Gottes gegen die allgemeingültigen Maximen der Vernunft, Gerechtigkeit gegen Freiheit vorbrachten«26.
In letzter Analyse sagt uns Patterson, daß mit dem Auslassen des Bildes Gottes im Menschen und dem Abwesenden des Endlichen vom Unendlichen – für die er die Philosophie weitgehend verantwortlich macht – jede Ethik abgeschafft wäre, womit den abscheulichsten Handlungen freier Lauf gelassen würde, die in der Judenvernichtung ihren Höhepukt erreichten 27. Aber so, wie äußerst menschlich und edelmütig die Gründe auch sein mögen, die Patterson dazu führten, Heidegger und die Hauptvertreter der deutschen Philosophie anzugreifen, hat er vielleicht ungewollt eine Mauer errichtet zwischen der religiösen und der philosophischen Dimension. All dieses ist nicht besonders hilfreich, um das rein »Begriffliche« und ebensowenig die historischen Geschehnisse in ihrer Komplexität zu verstehen.28
3. Peter Trawnys These eines seinsgeschichtlichen Antisemitismus Fahren wir fort in unserer Untersuchung mit einer Bezugnahme auf einige Studien, in denen das Vorhandensein eines Antisemitismus bei Heidegger aufgrund einer erneuten Prüfung seines philosophischen Denkens, die ausgehend von einigen Juden-bezogenen Äußerungen der Schwarzen Hefte, zurückverfolgt wird. Als Ausgangspunkt gelte die Stellungnahme des Herausgebers der vier bisher veröffentlichten Bände des betreffenden Werkes, Peter Trawny, der seiner Arbeit als Herausgeber einen Kommentar und eine Reihe von Aufsätzen und Beiträgen hinzufügte, die seine Hauptthese klären und verteidigen sollen, diejenige eines »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« bei Heidegger. Gehen wir davon aus: 26 D. Patterson, Nazis, Philosophers, and the Response to the Scandal of Heidegger, S. 164 (kursiv von mir, L. M.). 27 Ebd., S. 152 – 153: »Der Angriff auf das Bild Gottes im Menschen wurde von Philosophen verfaßt und von den Nazis ausgeführt. Dieser zuerst begriffliche, dann wirkliche Angriff ist ein Angriff auf Gottheit, Menschheit und schließlich auf das auserwählte Volk, das als Zeugnis der göttlichen Auserwählung jedes Menschen auserwählt wurde«. 28 Hier sei auf die neuere Veröffentlichung eines Buches hingewiesen, wo Patterson die »metaphysischen Ursprünge« des Antisemitismus untersuchen will, und dessen Auftreten mit der menschlichen Versuchung des »und werdet sein wie Gott« verbindet (Vgl. desselben Verf., Antisemitism and Its Metaphysical Origins, Cambridge University Press, New York 2015). In diesem Buch kommt er auf das neuzeitliche philosophische Denken (S. 107 – 134) und auf Heidegger immer noch im Kontext des Nationalsozialismus zurück (S. 135 – 146).
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»Der Begriff des seinsgeschichtlichen Antisemitismus soll keineswegs besagen, dass wir es mit einem besonders elaborierten oder raffinierten Antisemitismus zu tun hätten. Heidegger hat sich im Grunde auf allgemein bekannte Formen bezogen. Allerdings hat er sie philosophisch, d. h. seinsgeschichtlich, interpretiert«29.
Mit der Bezugnahme auf das »seinsgeschichtliche« Denken Heideggers bezieht sich Trawny auf das Heideggersche »Narrativ« der Geschichte des Seins zwischen dem »ersten Anfang« bei den ersten griechischen Denkern und dem »anderen Anfang«, den Heidegger von den Deutschen erwartet. Der »andere Anfang« ist gedacht mit Bezug auf die »Vollendung« der Geschichte, die mit dem »metaphysischen Denken« bei den Griechen, d. h. beim Volk des »ersten Anfangs« begann. In Heideggers Augen hat das metaphysische Denken das Sein als seinen Horizont nicht gedacht und beruht auf dem Seienden im Ganzen; das metaphysische Denken hat die Logik nicht gründlich gedacht, sofern es sie nicht auf ihre »Ursprünge« zurückführte. Nachdem es durch verschiedene Phasen hindurchging (das »römische« Denken, das »christliche« Denken, die neuzeitliche Metaphysik der »Subjektivität«), hat sich dieses metaphysische Denken in den neuzeitlichen politischen Staaten verkörpert (in den demokratisch-liberalen Vereinigten Staaten sowie in der bolschewistisch-kommunistischen Sowjetunion) wie auch in dem technischen Apparat, der den ganzen Planeten gleichschaltet durch seine Fähigkeit, sich jedwedem »Unterschied« zu unterwerfen, wie groß auch die natürlichen und kulturellen »Unterschiede« sein mögen30. In diesem Zusammenhang bezieht sich die Rede vom »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« bei Trawny auf die von Heidegger übernommenen negativen Einstellungen zu den Juden, wobei er auch die seinerzeit weitverbreiteten antisemitischen Klischeevorstellungen im Narrativ der »Geschichte des Seins« im Sinne hat. So, fügt Trawny hinzu, »tauchen die Juden […] als Akteure des seinsgeschichtlichen Narrativs auf«, allerdings nicht anders als andere Epochen der Philosophie, europäische und nicht-europäische Völker und jeweilige Staaten, denen eine Stellung im Rahmen des Verfalls bezüglich des »ersten Anfangs« von Heidegger zugeschrieben wird. Seine ‘Interpretation’ führt Trawny mit der Unterscheidung von drei Typen vom »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« durch, die er den Schwarzen Heften entnimmt.
29 P. Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Klostermann 2014, S. 31. Die Stellung des Verf. wird in Heidegger e l’ebraismo mondiale entfaltet, in: A. Fabris (Hrsg.), Metafisica e antisemitismo. I Quaderni neri di Heidegger tra filosofia e politica, ETS, Pisa 2015, S. 9 – 37. 30 Zur Analyse der Beziehung zwischen der »Neuzeit« und der ihr zugrundeliegenden »Philosophie« mit besonderer Hinsicht auf die erste Konfiguration der »Metaphysik der Subjektivität« sei auf die folgende Studie hingewiesen: L. Messinese, Heidegger e la filosofia dell’epoca moderna. L’»inizio« della soggettività: Descartes, Lateran University Press, Città del Vaticano 20042.
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Epilog: Betrachtungen über den Antisemitismus
Im ersten Typus erscheint der Jude »als das von der „Machenschaft“ beherrschte, weltlos kalkulierende Subjekt«31. Folgende Sequenz bei Heidegger wird von Trawny rekonstruiert: die »Weltlosigkeit des Judentums« ist auf der »zähen Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens« begründet, die eine »der verstecktesten Gestalten des Riesigen« sei, d. h. »eine der Formen der „Machenschaft“, d. h. der sich totalisierenden Rationalisierung und Technisierung der Welt«32. In dieser ersten Typologie spreche Heidegger von einer spezifischen »Weltlosigkeit« bei den Juden und damit transformiere er »eine recht banale antisemitische Zuschreibung« in eine »Denkfigur« im Rahmen seiner Geschichte des Seins«33. Der zweite Typus wird in Verbindung mit Heideggers judenbezogener Textstelle, die sich auf »Rasse« bezieht, eingeführt. Trawny vermerkt, daß »Heideggers Distanz zum „Rassedenken“ […] die theoretische Verabsolutierung eines Moments der „Geworfenheit“ unter anderen Momenten« betrifft, »jedoch nicht die Ansicht, daß Rasse zum Dasein gehört«34. So dürften die diesbezüglichen Anmerkungen der Schwarzen Hefte sagen, daß »die Feindschaft zwischen den Juden und den Nationalsozialisten aus einer seinsgeschichtlichen Konkurrenz« resultiere, und zwar aus rassischen Gründen.35 Schließlich wird der dritte Typus von Trawny in Heideggers Notizen über das »Weltjudentum« identifiziert. Diesem werden vom Philosophen alle Grundzüge des Gegenteils »von allem, was er mit seiner Philosophie zu retten versuchte«, und deren Kritik der Moderne zugeschrieben, so daß für Trawny der Jude der »Gegenspieler des Heideggerschen Denkens schlechthin« ist36. In der Zerstreuung des jüdischen Volkes über die ganze Erde habe Heidegger »eine Feindschaft gegen das „Bodenständige“ der Deutschen« gesehen.37 31
Ebd., S. 39. Ebd., S. 33 – 35. Donatella Di Cesare, deren These im nächsten Abschnitt berücksichtigt wird, hebt auch das Thema der von Heidegger auf die Juden bezogenen Weltlosigkeit hervor und aufgrund der Auslegungen Heideggers in den Vorlesungen des Wintersemesters 1929 – 1930 über den »weltlosen« Stein, das »weltarme« Tier und den »weltbildenden« Menschen (vgl. M. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik) sagt sogar, »der Jude sei also wie der Stein – weltlos« (D. Di Cesare, Heidegger e gli ebrei. I »Quaderni neri«, Bollati Boringhieri, Turin 2014, S. 207). Doch ist der Frage aus der Klarstellung noch einmal nachzudenken, daß für Heidegger der Mensch erst dann »weltbildend« ist, wenn »die Verwandlung des Daseins« in ihm geschieht, und zwar »aus einem Walten der Welt« (vgl. ebd., S. 514). So ist »Weltlosigkeit« für Heidegger keineswegs etwas, das mit den Juden zu tun hätte, sondern ein Zustand, der in einem »Ereignis« zu überwinden ist, und worauf jeder Mensch sich vorzubereiten hat (vgl. ebd.). 33 Ebd., S. 35. 34 Ebd., S. 40. 35 Ebd., S. 44. 36 Ebd., S. 53 – 54. 37 Ebd., S. 54. 32
Die »Judenfrage« in den Schwarzen Heften
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Was Trawnys Spezifizierungen angeht, worauf ich hier nur kurz eingegangen bin, so scheint es mir, daß aller Heidegger zugeschriebene »Antisemitismus« in den bis jetzt geprüften Analysen, nämlich den kritischen Elementen, die bezüglich der Juden auftauchen, letztlich in den vom Philosophen auch in andere Richtungen geübten Kritiken lösbar sind, so daß Anti-semitismus dem Anti-amerikanismus, dem Anti-bolschewismus wie auch dem späteren Anti-nationalsozialismus gleichzusetzen ist, die Heidegger im Laufe der Jahre zur Sprache gebracht hat. So hätte diese Gegen-überstellung zu den Juden vom Wesen her etwas zu tun mit seinem philosophischen Denken, aber nur insofern, als ihnen zu Recht oder zu Unrecht negative Züge zugeschrieben werden, ebenso wie den anderen Zielscheiben der Heideggerschen Kritik. Bis dahin sieht die Rede von einem »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« wie eine Dramatisierung der Judenfrage bei Heidegger aus. Allerdings bringt Trawny eine These vor, die auf den ersten Blick von derjenigen hier in ihren Grundlinien dargestellten These wesentlich abweicht. So behauptet er: »Bei Heidegger gibt es einen seinsgeschichtlichen Antisemitismus, der nicht wenige Dimensionen seines Denkens zu kontaminieren scheint«38, den er als »einen spezifischen Antisemitismus«39 bezeichnet. Derartige Redewendungen klingen nicht mehr wie ein Hinweis auf eine »Topo graphie des Judentums« im Rahmen des seinsgeschichtlichen Denkens, sondern wie die Unterstellung einer antisemitischen Konnotation des Heideggerschen Denkens als solchen, die den anderen hier geprüften Interpretationen mehr oder weniger gleichkommt. Freilich hat bei näherer Betrachtung das, was Trawny mit der Unterstellung einer »antisemitischen Kontamination von Heideggers Denken«40 eigentlich meint, nicht dazu ausgereicht, das seinsgeschichtliche Denken in seinem Kern anzutasten, sondern nur in einem »äußerst schwachen« Element, das mit der zeitweiligen Überzeugung einherging, der »andere Anfang« hätte seinen geschichtlichen Aufschwung beim deutschen Volk genommen. Berücksichtigen wir die ganze Stelle, in der Trawny, anstatt der »antisemitischen Kontamination« des seinsgeschichtlichen Denkens die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, die These vorbringt, Heideggers Antisemitismus sei die Folge seiner Überzeugung von dem geschichtlichen Auftrag des deutschen Volkes41. In diesem Sachverhalt läßt sich der Antisemitismus nur schwer als ein bedeutender »Faktor« des philosophischen Denkens von Heidegger denken; dann, auch in diesem Fall, schrumpft die wirkliche Tragweite der These Trawnys zusammen. »Ich habe schon angedeutet, dass ich Heideggers seinsgeschichtlichen Anti semitismus für die Konsequenz eines seinsgeschichtlichen Manichäismus halte, 38
Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. 40 Ebd., S. 114. 41 Ebd. 39
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Epilog: Betrachtungen über den Antisemitismus
der am Ende der dreißiger Jahre voll zum Ausbruch kam und sein Denken in ein Entweder-Oder trieb, das die Juden und ihr Schicksal nicht verschont. Als Heideggers Narrativ von der deutschen Rettung des Abendlandes – die Sehnsucht nach einer „Reinigung des Seins“ – in eine Krise gerät, treten die Juden auf die Seite des Feindes. Die Grenzen der Kontamination von Heideggers Text decken sich daher mit den Grenzen des seinsgeschichtlichen Manichäismus. In dem Maße, wie das „Seyn“ und das „Seiende“ keine Alternative mehr waren, die sich in der Alternative von „Machenschaft“ und „anderer Anfang“ widerspiegeln, verschwand die Möglichkeit zur Hypostasierung eines feindseligen „Weltjudentums“. Von einem seinsgeschichtlichen Antisemitismus zu sprechen, impliziert also nicht, dass das seinsgeschichtliche Denken als solches antisemitisch ist.«42 Dieser Auszug sei hier kurz ausgelegt. Indem er die sich mit den Grenzen des seinsgeschichtlichen Manichäismus deckenden »Grenzen der Kontamination von Heideggers Text« erwähnt, wird von Trawny eingeräumt, daß die Emphase, mit der er die These eines seinsgeschichtlichen Antisemitismus Heideggers in der letzten vorgeschlagenen Spezifizierung vorgebracht hat – so daß er darauf hinweist, »was das Narrativ einer deutschen Rettung des Abendlandes in dieser Philosophie schließlich angerichtet hat«43, unberechtigt zu sein scheint. Nicht nur das. Insgesamt enthält die These eines seinsgeschichtlichen Antisemitismus – wie wir schon gesehen haben – in ihrer sachlichen Tragweite kaum etwas mehr als das, was – der Bezeichnung von Trawny entsprechend – »seinsgeschichtlicher Antiamerikanismus«, »seinsgeschichtlicher Antibolschewismus« und so fort zu nennen wäre. Letztlich, und wenn auch im Lichte der These von Trawny ausgelegt, büßt so die Frage nach einem Antisemitismus philosophischer Art im Denken Heideggers sehr an »Dramatik« ein, die ihnen aufgrund der ersten Berichte über die Schwarzen Hefte anhingen. Daraus geht nicht hervor, daß Heidegger dem jüdischen Volke als solchem eine negative Rolle in der Geschichte des Seins zugeschrieben hätte, sondern eher, daß er dieses Volk anderen Völkern wie anderen politischen und kulturellen Gebilden gleichgesetzt hat. Heideggers kritische Beurteilungen angesichts des Judentums wie überall anderswo sind hermeneutisch auf die »ontologische Differenz« zurückzuführen, wie auf die Kritik an der Metaphysik, aus der das »seinsgeschichtliche Denken« entstand. Aber darin bilden allerdings die Juden keinen schlimmeren Fall als alle anderen in der »Entwurzelung des Seins«. Damit wird auch gesagt, daß wir über einen einzigen hermeneutischen Schlüssel verfügen, der uns zum Verständnis führt, wenn wir verstehen wollen, warum Heidegger Kritik an den unterschiedlichen Momenten oder Phasen der »Geschichte des Seins«, den unterschiedlichen »Epochen der Metaphysik«, wie auch den ver-
42 43
Ebd., S. 114 – 115 (kursiv von mir, L. M, in den ersten und letzten Zeilen des Auszugs). Ebd., S. 117.
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schiedenartigen »Inbegriffen« des Vorrangs des »Seienden« in der »Seinsvergessenheit geübt hat«44.
4. Die von Donatella Di Cesare vorgebrachte These eines metaphysischen Antisemitismus Eine weitere philosophische Herangehensweise an die Judenfrage bei Heidegger ist diejenige, auf die Donatella Di Cesare aufmerksam gemacht hat. Das Referenzwerk der Verfasserin zu unserem Thema ist das hier schon zuvor zitierte Buch Heidegger e gli ebrei, das von einer gewissen Anzahl von vorangehenden und nachfolgenden medienwirksamen Beiträgen in der italienischen wie in der internationalen Presse begleitet wurde45. Deren Hauptthese ist, daß bei Heidegger kein Antisemitismus aus rassischen Motiven aufgrund »biologischer Lehren« – wie die Theoretiker des Nationalsozialismus zu sagen pflegen – zu finden ist; wohl aber ein Antisemitismus mit einem spezifisch »philosophischen« Profil46. So hätten wir nach der Autorin immer noch mit einem Antisemitismus zu tun, der aus der Philosophie Heideggers hervorgehe und als »metaphysisch« zu bezeichnen sei. Streben wir an, zu einem besseren Verständnis dieser These zu gelangen. Bezüglich eines derartigen Antisemitismus stellt die Verfasserin eine Mehrdeutigkeit des Wortes »metaphysisch« vor, die ihre These erläutern soll. Zunächst zeigt sie auf, wie Heidegger eine »Metaphysik des Juden« ausführe. Damit soll gesagt werden, daß Heidegger trotz seiner Kritik an der Metaphysik von eben dieser Metaphysik die Fragestellung angesichts der Juden geerbt habe. Die kategorischen Erwägungen des Philosophen, die ausgrenzenden Sprüche in dessen Überlegungen gelten »insgesamt als ebensoviele Antworten auf die alte Frage: ti ésti; was ist ?«47
44 Dieser Denkrichtung gemäß ist der Beitrag von Alfredo Roche de la Torre zum Studientag, der am 1. Juli 2014 im Philosophischen Seminar der Universität Pisa den Schwarzen Heften gewidmet wurde: »Der Antisemitismus des Philosophen aus Meßkirch ist nur ein aus dessen Überlegungen über die Metaphysik herrührender Ausdruck, und besonders über die neuzeitliche Metaphysik, d. h. diejenige, die zur leeren Vernünftigkeit des Rechnens führt. In diesem Sinne erweisen sich Demokratie, Kommunismus, Nationalismus und – wie seltsam das für viele von uns klingen mag – auch das Judentum, als ebensoviele Erscheinungen der Entfaltung der rechnenden und planenden Rationalität, als Phänomene, die in der „politischen Hinsicht“ Heideggers […] auf das Selbe herauskommen« (A. Roche de la Torre, I Quaderni neri nel contesto della questione politica in Heidegger, in: A. Fabris [Hrsg.], Metafisica e antisemitismo, S. 98). 45 Vgl. C. Gualdana, Zur medienwirksamen Instrumentalisierung der Schwarzen Hefte von Martin Heidegger in Italien. Mit einigen Notizen aus einem unveröffentlichten Gespräch mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann versehen, s. unten, S. 281 ff. 46 Vgl. D. Di Cesare, Heidegger e gli ebrei, S. 6. 47 Ebd., S. 207.
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Epilog: Betrachtungen über den Antisemitismus
Diese typisch metaphysische Einstellung, wie sie in Platons Theätet reichlich zum Ausdruck gebracht wird, wurde zur Zeit Heideggers von Wittgenstein in Frage gestellt, als er den Glauben kritisiert, »es gäbe ein was, ein identisches Wesen trotz aller Unterschiede und darüber hinaus«48; darin liege die echte »Quelle der Metaphysik«, die aber den Philosophen zur »völligen Dunkelheit«49 führe. Der Verfasserin nach sei das ja gerade der Fall bei Heidegger: obwohl dieser entsprechend »sowohl die Bestimmung, als auch die Identität, als auch den Begriff Wesen« kritisiert, stellt er auch und nichtsdestoweniger Fragen über die Juden nach der überlieferten Art der metaphysischen Fragestellung, als er sich damit beschäftigt, »den Juden zu bestimmen und zu identifizieren«50. »Metaphysik des Juden« ist auch in einer zweiten Bedeutung zu verstehen, und zwar im Sinne des genitivus subjectivus. Dann wird »die Metaphysik des Juden zum metaphysischen Juden«51, d. h. zu einer »abstrakten Gestalt«, »zur „Idee“ vom Juden, zum Vorbild, zum idealen Juden«52. Und eben auf diese Gestalt – so die Verfasserin – werden bei Heidegger »die leibhaftigen Juden zurückgeführt«53. Ein weiterer Aspekt führe auch dazu, von einer »Metaphysik des Juden« zu reden, und zwar dessen Bestimmung durch »uralte metaphysische Dichotomien, die Heidegger sonst bestreitet«54. So vertrete immer der Jude den negativen Pol derartiger Dichotomien und demzufolge den Gegenpol, der auszuschließen ist55. So werde ein erster Kreis geschlossen: »Die Metaphysik des Juden erzeugt einen metaphysischen Juden, die Idee des aufgrund uralter Gegenüberstellungen bestimmten Juden, die den Juden ausschließen, ihn in den unechten Schein zurückweisen, in die seelenlose Abstraktion, die gespenstische Unsichtbarkeit und nach und nach ins Nichts verbannen«56. Ein derartiges »philosophisches« Verfahren liege der »politischen Praxis«, den »Gesetzen« und deren »Anwendung« zugrunde, und demgegenüber könne sich der Philosoph nicht aus der Affäre ziehen mit dem Vorwand, er sei nicht der Urheber der Gesetze eines Staates57. Daher die eindeutige Schlußfolgerung der Verfasserin:
Wittgenstein, Das Blaue Buch. Eine philosophische Untersuchung (Das Braune Buch), Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1980. 49 Ebd. 50 D. Di Cesare, Heidegger e gli ebrei, S. 208. 51 Ebd., S. 209. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd. (kursiv von mir, L. M.). 55 Vgl. ebd., S. 209 – 210. Die Verf. stellt eine umfangreiche Liste derartiger Dichotomien vor. 56 Ebd., S. 210. 57 Vgl. ebd. 48 L.
Die »Judenfrage« in den Schwarzen Heften
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»Wird der Jude losgelassen, wird er als null und nichtig verurteilt, so hat es der Philosoph beschlossen«58. Von daher kommt gerade die bestimmte Bedeutung der komplizierten These des »metaphysischen Antisemitismus« her, die die Verfasserin Heidegger zuschreibt. Die »wirklichen Juden« werden durch drei Abstraktheiten ersetzt: 1. Der Jude an sich (= der Jude); 2. La quidditas bzw. »Washeit« des Juden (= das Jüdische); 3. Das von seiner »Geschichte« ausgehöhlte Judentum (= das Judentum). Es sei besser, von einem »metaphysischen« als von einem »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« zu sprechen, wie beim Herausgeber der Schwarzen Hefte, Peter Trawny, dessen These sie schon geprüft habe. Drei Gründe dafür werden von Donatella Di Cesare angegeben. Zunächst schwäche das Adjektiv »seinsgeschichtlich« durch seinen »esoterischen Ton« und die »mystische Aura«, die davon ausstrahlt, die Brutalität der »diskriminierenden Geste« ab, die Heidegger gegenüber den Juden macht. Zweitens, und dieser Grund ist wesentlicher, könnte die Bezugnahme auf die Heideggersche »Seinsgeschichte« dazu führen, seine Position für isoliert zu halten, wohingegen der Antisemitismus weit über diese Grenzen hinausreicht. Drittens: wenn auch die »Geschichte des Seins« die Landschaft ist, in der die Gestalt des Juden auftaucht, so sei es der Grund dafür, daß dieser in den Überlegungen Heideggers von dieser Geschichte ausgestoßen wird, weil Heidegger bei der »Bestimmung« des Juden auf dem Boden der Metaphysik bleibt59. Die Betonung der These eines metaphysischen Antisemitismus ermöglicht es der Verfasserin, Heideggers Stellungnahme zu diesem Thema und diejenige weiterer philosophischer und religiöser Denker – nicht nur der Vergangenheit – anzugleichen60. Hier sind aber deren Analysen auf diesem Weg nicht nachvollziehbar, die uns zu weit vom eigentlichen Thema abbringen würden. Damit bin ich nun bei der Formulierung einiger kritischer Betrachtungen über die Hauptthese der Autorin. Dieser These könnte man zwar entgegenhalten, wie recht sonderbar es wäre, daß Heidegger, nachdem er eine scharfe Kritik an der Metaphysik geübt hat, jedenfalls in deren geschichtlicher Wirklichkeit, diese Kritik gerade dann vergißt, als er sich mit der Judenfrage befaßt. Das ist aber nicht die Einwendung, die ich hier gegen Donatella Di Cesare erheben möchte. Meine Vorbehalte beziehen sich auf etwas anderes, und diese möchte ich in Form einer Frage ausdrücken: ob es als sicher gelten kann, daß Heidegger in seinen Erklärungen über die Juden deren »metaphysisches Wesen« ausdrücke, und zudem 58
Ebd. (kursiv von mir, L. M.) Vgl. ebd., S. 211. 60 Im zweiten Kapitel ihres Buches vermittelt die Verf. eine historische Übersicht über »Philosophie und Judenhaß« (vgl. ebd., S. 29 – 82). Die anschließende Entwicklung befaßt sich mit Heidegger und gliedert sich in zwei Teile, und zwar zur »Beziehung der Seinsfrage zur Judenfrage« (vgl. ebd., S. 83 – 220) und zur Beziehung Heideggers zur Judenfrage »nach Auschwitz« (vgl. ebd., S. 221 – 279). 59
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Epilog: Betrachtungen über den Antisemitismus
in einer negativen Bezeichnung ? Zwar geht es nicht ohne Bestimmung der Juden, und man darf sich auf seine Aussagen über die Juden in dieser oder jener Identifizierung berufen; daß er aber dabei das metaphysische Wesen der Juden behauptet – und nicht vielmehr die Klischeevorstellungen übernimmt, die in all diesen Jahren weitverbreitet waren – das scheint ja im Lichte der Beweisführungen der Verfasserin nicht gerade offensichtlich zu sein. Immerhin scheint es mir, daß das Gepräge des »metaphysischen Wesens« von Donatella Di Cesare den Heideggerschen Aussagen zugeschrieben wird. Das macht sie auch aufgrund von Betrachtungen, die 1932 von Waldemar Gurian in seinem Werk Um des Reiches Zukunft vorgebracht wurden61, dem sie den Ausdruck »metaphysischer Antisemitismus« entnahm. In der Tat sah Gurian im Antisemitismus, der seinerzeit im Nationalsozialismus gängig war, eine Zurückweisung des Juden, die »aus dem ganzen Sinne des Lebens«62 entsprang und wegen seiner umfassenden Tragweite als »metaphysisch« bezeichnet wurde. Der originelle Zug der von D. Di Cesare vorgebrachten Betrachtungen besteht darin, daß sie dem Syntagma »metaphysischer Antisemitismus« einen Sinn gibt, der die negative Bedeutung des Wortes »Metaphysik« durchbricht – d. h. eine Bedeutung, die bekanntermaßen in der neuzeitlichen Phillosohie sowie bei Heidegger vorherrschend ist. Allerdings haben wir gesehen, wie zumindest problematisch die Beweisführung dieser These ist. Da sie im Gegenteil die These für völlig berechtigt hält, nach der die Gestalt des metaphysischen Juden Heidegger als dessen eigenes Erzeugnis zuzuschreiben sei, hat D. Di Cesare diese These in einer weiteren, nachfolgenden Gliederung vertieft; damit will sie anzeigen, wie die »hierarchischen Gegenüberstellungen« der Metaphysik – auf die Heidegger in der Bestimmung des Juden zurückgreift, wenn er auch ein solches Verfahren prinzipiell kritisiert – zu höchst »theologischer« Herkunft seien. So will sie feststellen, im metaphysischen Antisemitismus walte noch kein Erbe des »christlichen Antijudaismus«, der »die ganze abendländische Metaphysik geprägt hat, ohne je anerkannt noch zurückgewiesen zu werden«63 und ihrer Ansicht nach »in einem vermeintlich säkularisierten Laizismus noch wirksam« sei64. Wie dem auch sei – und jetzt kommen wir auf Heidegger zurück – betrachtet die Verfasserin Heidegger als einen deutschen Philosophen, der von dieser »Schuld« befleckt sei, die er der Geschichte des Abendlandes zuschrieb, d. h. von der »Schuld 61 Walter Gerhart (Pseud. von W. Gurian), Um des Reiches Zukunft. Nationale Wiedergeburt oder politische Reaktion ?, Herder, Freiburg im Breisgau 1932. 62 Nach Gurian erwähnt D. Di Cesare einen weiteren Grund, um die Rede von einem metaphysischen Antisemitismus zu rechtfertigen: »darin liegt eine Betrachtungsweise des Juden als Gestalt, Erscheinung, Phänomen – wie von Gurian suggeriert – wovon das Wesen hinter, hinaus, meta zu suchen ist, also gerade durch das Verfahren, das in Heideggers Augen die Metaphysik kennzeichnet« (ebd., S. 213). 63 Ebd., S. 213. 64 Ebd.
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der Metaphysik«. So hätte Heidegger selbst den »philosophischen« Irrtum begangen, den er in seiner In-Frage-Stellung der Metaphysik Anderen zuschrieb65. So würde sich in Heideggers Aussagen über die Juden der Schiffbruch seines philosophischen Denkens vollziehen66. Diese These ist sicherlich suggestiv, aber meines Erachtens enthält sie eine starke Dosis an »Dramatisierung«, wie das bei Trawnys These auch der Fall ist. Die »philosophische« Begrifflichkeit erfordert – und daran wurde schon zu Beginn des vorliegenden Aufsatzes erinnert, daß uns Heidegger darüber sehr gut belehrt hat – daß alles, was zu einem philosophischen Diskurs gehört, nicht als ein »Vorhandenes« zu behandeln, sondern auf das zurückzuführen sei, was dessen Ursprung ausmacht. Das gilt auch, wenn man das Vorhaben hat, das philosophische Denken der Judenfrage bei Heidegger zu verstehen, sonst lauert immer die Gefahr von Kurzschlüssen. Am Schluß lautet meine eigene These, die in diesem Beitrag nur angedeutet werden konnte: Heidegger hat die Judenfrage im Zusammenhang mit seiner »Kritik an der Metaphysik« gedacht und demzufolge der einzigen Grundfrage, über die er bis zu seinem Ende nachdachte: im philosophischen Denken wie im alltäglichen Leben der Menschen, wie west das Seyn ?
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ebd. ebd.
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Epilog: Betrachtungen über den Antisemitismus
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Martin Heidegger war kein Antisemit Hermann Heidegger
Die Berichterstattung über meinen Vater Martin Heidegger hat sich verirrt. Er war kein Antisemit. Der angebliche Antisemitismus Martin Heideggers wird durch folgende Tatsachen widerlegt: 1. Die beste Jugendfreundin von Elfride Heidegger, die Halbjüdin Elisabeth Blochmann, wurde auch Freundin und Geliebte von Martin Heidegger und blieb Freundin des Ehepaars bis zu ihrem Tod. Bei ihrer Emigration 1933 bekam sie durch Heideggers Vermittlung eine Stelle in England. 2. Edmund Husserl, ein Jude, war von 1919 bis 1933 väterlicher Freund von Martin Heidegger. Ihm war von diesem Sein und Zeit gewidmet. Auf den vielen Fahrten von Marburg nach Todtnauberg und zurück übernachtete die Familie Heidegger jeweils in der Lorettostraße in Freiburg bei Husserls. Die Aufkündigung der Freundschaft geschah im Mai 1933 durch das Ehepaar Husserl, das erkannt hatte, daß Martin Heidegger nicht Husserls Phänomenologie fortführte, sondern eigene Denkwege ging. Martin Heidegger hatte als frisch gewählter Rektor als erste Maßnahme dafür gesorgt, daß die von seinem Vorgänger Professor Sauer durchgeführte Beurlaubung, die Beurlaubung der vier jüdischen Dozenten der Philosophischen Fakultät, mit badischem Regierungserlaß vom 28. April 1933 wieder aufgehoben wurde. Edmund Husserl bekam noch im Sommersemester 1933 über das Rektorat Heidegger auf dem Dienstweg die Mitteilung, daß er wieder lesen dürfe. 3. Der Halbjude Werner Brock blieb Assistent Heideggers bis September 1933, als er durch die Unterstützung Martin Heideggers eine Stelle in England bekam. – Solange Heidegger Rektor war, konnte der jüdische Professor und Klinikdirektor Thannhauser an der Universität gehalten werden. 4. Martin Heidegger verbot die von den Nationalsozialisten geplante Bücherverbrennung. Die Bücher Husserls blieben unangetastet im Philosophischen Seminar. 5. Die enge Freundschaft mit dem jüdischen Ehepaar Szilasi dauerte von 1919 bis zum Tod von Wilhelm Szilasi 1966 und wurde mit Lily Szilasi noch bis zu deren Tod weitergeführt. 6. Als sein jüdischer Schüler Karl Löwith, der in Marburg hin und wieder die Kinder Heideggers gehütet hatte, nach dem Krieg Martin Heidegger zum ersten Mal wiedersah, umarmte er seinen Lehrer und blieb ihm seither freundschaftlich verbunden.
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Martin Heidegger war kein Antisemit
7. Hannah Arendt, seine jüdische Schülerin und Geliebte aus Marburger Tagen, nahm von 1950 an wieder eine freundschaftliche Beziehung zu Heidegger auf. Sie besuchte das Ehepaar Heidegger im August 1975 zum letzten Mal, bevor sie im Dezember 1975 starb. 8. In den Schwarzen Heften sind Bemerkungen zum Judentum eher randständig und leiten sich ab aus der Kritik am neuzeitlichen Menschentum. Diese betrifft ebenso den römischen Katholizismus, den Amerikanismus und Bolschewismus, ferner Technik, Wissenschaft und Universität und nicht zuletzt den Nationalsozialismus. Anstatt sich von Verunglimpfung, Schlagworten und Begriffsungeheuern beirren zu lassen, möge sich der geneigte Leser von Heideggers Schriften selbst ein Urteil bilden.
Anhang Zur medienwirksamen Instrumentalisierung der Schwarzen Hefte in Italien Mit einigen Notizen aus einem unveröffentlichten Gespräch mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann versehen Claudia Gualdana Über die Schwarzen Hefte wurde viel in der italienischen Presse geschrieben. Dort hat die affaire Heidegger einen überraschenden Nachklang gefunden. Nie war eine noch ausbleibende Veröffentlichung der Anlaß zu so vielen Gerüchten gewesen. Tatsächlich wurden die von Peter Trawny herausgegebenen Schwarzen Hefte im Frühling 2014 in Deutschland beim Verlag Vittorio Klostermann veröffentlicht. Es ist zu vermuten, daß trotz des heftigen Ausbruchs eines Streites über die Schwarzen Hefte nur wenige Bücherwürmer sie gelesen haben: Philosophen, Germanisten, Intellektuelle, Übersetzer und einige besonders gebildete Zeitungsschreiber. Ein Teil der Hefte wurde erst Ende 2015 in italienischer Sprache zugänglich. Dadurch entstanden Zweideutigkeiten und Polemiken, wie wir sehen werden. Der Grund eines so großen äußerlichen Erfolges, obwohl noch keine italienische Übersetzung des Originaltextes der Schwarzen Hefte vorlag, liegt an einem im November 2014 erschienenen, schon zweimal nachgedruckten Buche: Heidegger e gli ebrei. I »Quaderni neri«1. Die Verfasserin, Donatella Di Cesare, ist eine Komparsin von Peter Trawny. Durch diese Person fand das italienische Publikum einen – indirekten – Zugang zu den Heften. Ordentliche Professorin für Theoretische Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom, dem alten von Papst Bonifacio VIII. gestifteten Athenäum, ist D. Di Cesare die letzte Schülerin von Hans-Georg Gadamer gewesen. Ihre Lehrtätigkeit wechselt sich mit einer intensiven Tätigkeit als Publizistin ab. Politisch ist sie links und bis vor kurzem war sie noch Mitarbeiterin der kommunistischen Tageszeitung Il manifesto, nun beschäftigt sie sich mit Philosophie im Corriere della Sera. Sie hat verschiedene Bücher geschrieben; es lohnt sich, die in den drei letzten Jahren erschienenen Bücher zu erwähnen, die kurz vor Heidegger e gli ebrei veröffentlicht wurden: Crimini contro l’ospitalità. Vita e violenza nei centri per gli stranieri2; 1
Bollati Boringhieri, Turin 2014. melangolo, Genua 2014 [Verbrechen gegen die Gastfreundlichkeit. Leben und Gewalt in den Unterbringungszentren für Ausländer]. 2 Il
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Anhang
Israele. Terra, ritorno, anarchia3; Se Auschwitz è nulla. Contro il negazioni smo4. So haben sich ihre Schwerpunkte in letzter Zeit verändert. Ihre rein philosophischen Forschungen wurden von Aufsätzen abgelöst, die sich nun an der Grenze zwischen Philosophie und Politik ansiedeln. Ihr politisches Engagement wird durch ihre Tätigkeit als Journalistin bezeugt. Sie kämpft für die Rechte der Einwanderer und deren Aufnahme ohne Diskriminierung; früher kämpfte sie auch für die Annahme eines Gesetzes gegen den Negationismus durch das Parlament. Heidegger e gli ebrei ist eine Prüfung der Geschichte des Antisemitismus in der deutschen Philosophie von Luther bis Heidegger, dessen Schwarze Hefte den Hauptteil und das Entschlüsselungsschema ausmachen. Beim Lesen des Buches von D. Di Cesare und der diesbezüglichen Artikel ist das Denken versucht davonzulaufen und der vom französischen Philosophen jüdischer Herkunft Alain Finkielkraut abgegebenen Erklärung beizutreten, anläßlich des Pariser Kolloquiums über die Schwarzen Hefte vom Frühling 2015 in der Bibliothèque Nationale de France (BNF): »Ich verabscheue einen solchen Philosemitismus, und erschrecke vor einem solchen Anti-Heideggerianismus«5. Wohl ist D. Di Cesare weit davon entfernt, den genialen Autor von Sein und Zeit abschreiben zu wollen, den sie eher für unentbehrlich hält, und dennoch hinterläßt die Inanspruchnahme des Antisemitismus als Entschlüsselungsschema der ganzen Philosophie Heideggers den Nachgeschmack einer ideologischen Leistung. Die Verfasserin tritt in Victor Farías’ Fußstapfen, d. h. in eine alte und berühmte Kontroverse, die 1987 mit diesem Autor begann und mit einem 2005 veröffentlichten Buch vom französischen Philosophen Emmanuel Faye wieder entfacht wurde. Wie ein Karstfluß tauchen die gegen Heidegger erhobenen Beschuldigungen von Antisemitismus und Nähe zum Naziregime wieder auf, die jedesmal von unterschiedlichen Autoren und Büchern herkommen. Von manchen Ausnahmen abgese-
Bollati Boringhieri, Turin 2014 [Israel. Erde, Rückkehr, Anarchie]. il melangolo, Genua 2012 [Als ob Auschwitz nichts wäre. Gegen den Negationismus]. 5 Friedrich-Wilhelm von Herrmann wurde von der Offenheit dieser Stellungnahme sehr beeindruckt und ist dafür seinem Autor dankbar. [Die Quelle dieses Zitats wurde nicht ausfindig gemacht. In der gedruckten Fassung seines Vortrags im Rahmen des erwähnten Kolloquiums sagt A. Finkielkraut: »Dieser Philosemitismus läßt mich vor Schreck erstarren, und jenem Heideggerianismus stimme ich nicht zu« (»Ce philosémitisme me glace et cet heideggerianisme n’est pas le mien«). Vgl. A. Finkielkraut, »Comment ne pas être heideggérien ?« [»Wie kann man kein Heideggerianer sein ?«], in der frz. Zeitschrift La Règle du jeu, Nr. 58/59, Paris 2015, S. 49.] Vgl. auch C. Gualdana, I Quaderni neri. Il figlio di Heidegger si ribella: »Papà ? Mai stato antisemita». Alla Milanesiana il libro di Trawny accusa il filosofo di razzismo. Ma l’erede e l’allievo von Herrmann ribaltano la tesi-scandalo [Die Schwarzen Hefte. Der Sohn des Philosophen lehnt sich auf: »Vati ? Nie Antisemit gewesen«. Auf der Mailänder Buchmesse wirft das Buch von Trawny dem Philosophen Rassismus vor. Der Erbe wie der Schüler von Herrmann stellen diese Anstoß erregende Annahme auf den Kopf ], in: Libero, 30. Juni 2015, Rom 2012. 3 4
Zur medienwirksamen Instrumentalisierung der Schwarzen Hefte in Italien
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hen, ist es also immer dieselbe Leier. Jedoch hat D. Di Cesare ein paar Änderungen in der Partitur vorgenommen. In ihrem Buch führt die Universitätsprofessorin einen neuen Begriff ein: den vermeintlichen »metaphysischen Antisemitismus« von Martin Heidegger, dessen Vorhandensein in den Schwarzen Heften ihres Erachtens unleugbar sei: »Mehrmals und in unterschiedlichen Kontexten spricht Heidegger in den Schwarzen Heften von den Juden, vom Judentum wie von der „Judenfrage“. Schwarz auf weiß steht von ihm geschrieben, diese Frage sei nicht „rassistisch“, sondern viel eher „metaphysisch“. […] Das ist gerade die Neuartigkeit der Schwarzen Hefte. Der Antisemitismus hat ein philosophisches Profil und schreibt sich in die Geschichte des Seins ein«6.
Mit dieser Stellungnahme zeigt die römische Philosophin ihre edle und tapfere Gesinnung – man muß ja nicht gleich Kopf und Kragen riskieren – und dennoch legt sie Notizen aus, als wären sie Abhandlungen. Indem sie vermerkt, daß die Notizen »mehrmals und in unterschiedlichen Kontexten« vom Judentum und von den Juden reden, läßt sie außer acht, daß unter den weiteren 1250 – ebenso schwarz auf weiß – gedruckten Seiten die kritischen Juden-bezogenen Textstellen insgesamt nur vierzehn an der Zahl sind, die weniger als vier Seiten füllen. D. Di Cesare fokussiert sich auf diese Textstellen und übersieht alles übrige in den Schwarzen Heften, die schon oder noch nicht veröffentlicht worden sind. Diesbezüglich sagt von Herrmann, dem der Gehalt aller Bände der Schwarzen Hefte bekannt ist, in den weiteren unveröffentlichten Heften seien »keine Juden-bezogenen Stellen zu finden«. In den Schwarzen Heften, die wegen der Farbe dieser Wachstuchhefte so und von ihrem Verfasser eher »Notizbücher« genannt wurden, übertrug der Philosoph die Überlegungen, die er z. T. nachts auf Notizblöcken niederschrieb; diese Notizblöcke lagen auf seinem Nachttisch, um fliegende Gedanken, die zu ihm kamen, flüchtig niederzuschreiben. Wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann es in einem der italienischen Tageszeitung Libero gewährten Interview erklärte, wurden diese Notizen am darauffolgenden Tag vom Philosophen ins Reine geschrieben. So gehören sie nicht zur systematischen philosophischen Spekulation. In den Schwarzen Heften flossen verschiedenartige Gedanken zusammen, die auch kurze und bündige Kommentare über Politik und Zeitgeschehnisse einschließen. Diese ausreichend belegte Tatsache wird von D. Di Cesare ganz außer acht gelassen, mit dem Vorwand, der Stil der Hefte sei der Schreibart von Nietzsche angenähert. Diese studiert sie, als wären sie Bestandteile von Abhandlungen, die sie dann mit großem Interpretationsspielraum liest: »Die Schwarzen Hefte sind weder Privatnotizen, noch ebensowenig Denktagebücher; sei es durch deren Stil, durch deren Gehalt oder schließlich im Vorhaben von deren Verfasser, sind sie philosophische Schriften«7.
6 7
D. Di Cesare, Heidegger e gli ebrei, S. 12. Ebd., S. 14.
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Dieser Annahme liegen aber nur die Unterstellungen von Donatella Di Cesare und Peter Trawny zugrunde. Wie wir sehen werden, beruht diese Annahme auf einer grundlosen Theorie. Die Philosophin stellt Fragen, während ihre Antworten auf keinen ausreichend belegten Tatsachen beruhen: »Ob die Schwarzen Hefte Heideggers sein philosophisches Testament sind ? Was für eine Rolle kommt ihnen in deren philosophishen Produktion zu ? Warum war deren Veröffentlichung erst nach derjenigen der noch unveröffentlichten seinsgeschichtlichen Abhandlungen geplant, die schon esoterisch genug sind ?«8.
Mit der Erklärung, letztlich, die Schwarzen Hefte seien »von einer geheimnisvollen Aura umgegeben«, segelt D. Di Cesare völlig im Kielwasser derjenigen, die seit Jahrzehnten über mutmaßliche Auslassungen und Verfälschungen grübelten und fantasierten. Das sind langatmige Zwangsvorstellungen über das vermeintlich gut behütete Geheimnis der Hefte, als hätten Heideggers Erben und Nachlaßverwalter alles unternommen, um deren Gehalt streng geheim zu halten und zu manipulieren. D. Di Cesare hat recht, als sie schreibt, der Philosoph aus Meßkirch habe kurz vor seinem Tode den Wunsch geäußert, sie seien erst nach der Veröffentlichung aller anderen Bände der Gesamtausgabe zu veröffentlichen. Nur sind ihre Schlußfolgerungen nicht nachweisbar. Sie zitiert Hermann Heidegger, den Sohn des Philosophen, dem zufolge die Hefte bis dahin »geheim bleiben sollten, „doppelt sekretiert“«9, »niemand dürfe sie lesen, noch davon Kenntnis erhalten«10. Nach D. Di Cesare »wurde Heideggers Wunsch nur zum Teil erfüllt. Die Verzögerung bei der Ausgabe der anderen Schriften hat den Nachlaßverwalter dazu geführt, das Erscheinen der Schwarzen Hefte zu beschleunigen«11. Als D. Di Cesare diese Zeilen schrieb, hatte Friedrich-Wilhelm von Herrmann – der letzte noch lebende Schüler Heideggers, sein Privatassistent in Heideggers letzten Lebensjahren und zudem von Heidegger selbst schriftlich beauftragt, die Gesamtausgabe seiner Schriften beim Verlag Klostermann philosophisch zu beaufsichtigen – sein mehrjähriges Schweigen noch nicht gebrochen. Dieses Schweigen brach er erst im letzten Frühling, als er auf Peter Trawnys redaktionelle Werbeaktion reagierte; den Herausgeber der Schwarzen Hefte hatte er nur empfohlen, »die Publikation zu übernehmen«. Über die Art und Weise, wie der deutsche Herausgeber damit handelte, war für von Herrmann ein Skandal: diese sei »verfälschend, verleumdend und durchaus falsch«. Falsch ist auch die Behauptung, Heideggers testamentarische Bestimmungen seien nur zum Teil beachtet worden. Wie von Herrmann im Interview schreibt, hatte der Philosoph in seinem Testament festgelegt, die Schwarzen Hefte seien erst nach der Publikation seiner syste8 Ebd. 9 Ebd. 10
Ebd., S. 13.
11 Ebd.
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matischen Abhandlungen zu veröffentlichen, ohne die sie unverständlich blieben. Demzufolge sind die Bedenken von D. Di Cesare grundlos: die Verzögerung bei der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte liege so nur in der Absicht, Heideggers Testamentbestimmungen zu beachten. Das Buch von D. Di Cesare Heidegger e gli ebrei ist ein verführerisches Buch, dem dennoch Voraussetzungen zugrundeliegen, die ebensowenig stichhaltig als berechtigt sind, und zwar aufgrund von Notizen, die Heidegger aus theoretischen Gründen wegen ihrer Knappheit, ihres manchmal privaten Charakters und Anspruchslosigkeit aus Systematizität als literarischen Nachlaß betrachtete. Dahingegen erhebt D. Di Cesare die Schwarzen Hefte zum Grundwerk, sie nimmt sie zum Maßstab der großen Abhandlungen und dennoch legt sie nur einen winzigen Teil der Hefte aus, als wäre er gerade der Schlüssel nicht nur zu diesen, sondern ebensosehr zum gesamten Gedankenbau des Verfassers von »Sein und Zeit«. Sie hat freilich das Denken Heideggers ausgehöhlt, um es in eine Metaphysik des Antisemitismus zu verwandeln. Als die Verfasserin zu den Zeitungen übergeht, löst sich die Medienwirksamkeit aus. Während einiger Monate hat der sog. »metaphysische Antisemitismus« Schlagzeilen der italienischen Presse gemacht. Heidegger e gli ebrei hat eine Diskussion hervorgebracht, die die Erwartungen der römischen Verfasserin weit übertrafen. Um es bei dem bewenden zu lassen, was sie selbst erklärte oder schrieb, ist festzumachen, daß sie die These ihres Buches übernimmt und unterwegs neue Elemente hinzufügt. Deren Eröffnungsrede in der Presse zu den Schwarzen Heften geht der Publikation von Heidegger e gli ebrei voran, fast von einem Jahr: Sie geht auf Dezember 2013 zurück. Einige Monate vor der Veröffentlichung der ersten Hefte in Deutschland nimmt schon D. Di Cesare deren Inhalt gedanklich vorweg. Antonio Gnoli kommt es zu, sie für la Repubblica12 zu interviewen. Bei dieser Gelegenheit macht die Philosophin noch keine Anspielung auf den metaphysischen Antisemitismus, aber wohl bläht sie schon mit fester Zurückweiseung die Tragweite der 33 – statt 34, wie von Herrmann behauptet – Hefte auf, indem »nach dem Lesen dieser Schriften war ich sehr entsetzt […]. Ganz spontan trat ich dann sofort vom Amt der Vizepräsidentin [der Heidegger Gesellschaft] zurück«.
Selbstverständlich geht es um den Antisemitismus der Hefte im Interview – und wie könnte es anders sein ? Allerdings, und wenn auch die Erklärungen der Interviewerin sich auf die judenbezogenen Textstellen konzentriert, ist der Fehdehandschuh der philosophischen Herausforderung noch nicht geworfen. Politische und philosophische Themen werden allgemein angeschnitten. Aber nicht nur das. Läßt man es bei dem bewenden, was D. Di Cesare ihrem Gesprächspartner Gnoli mitteilt, glänzen doch zwei Hefte durch Abwesenheit – und zwar diejenigen, die in den Jahren 1931 – 32 und 1945 – 46 geschrieben wurden. Konkret sind es die Notizen, die Heidegger kurz vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus und dann zur Zeit der Niederlage Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkrieges niederschrieb. 12 Vgl. A. Gnoli, Martin Heidegger, nei quaderni neri gli appunti segreti contro gli ebrei. Le posizioni antisemite dell’autore di »Essere e tempo« svelate dai taccuini ancora inediti che Repubblica ha potuto vedere in anteprima, in: la Repubblica, 18. Dezember 2013, S. 52 – 53.
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Ihr zufolge: »Beim Verlag Klostermann heißt es, Heidegger habe diese zwei Hefte ausgeliehen, die ihm nie zurückgegeben wurden. Deswegen haben sie auf ihrer Website geschrieben, wer noch im Besitz dieser zwei Hefte wäre, sei ersucht, sie dem Sohn Hermann Heidegger zurückzugeben. Das sieht aus wie eine Farce«.
Von Belang ist von Herrmanns erläuternde Stellungnahme darüber, die alle Zweifel ausräumt: »Heft 1945 – 46 ist aufgefunden und veröffentlicht. Zu 1931 – 32: „Im Anhang von GA 66 S.419 ff. „Beilage zu Wunsch und Wille (Über die Bewahrung des Versuchten)“ nennt Heidegger auf S. 424 „Überlegungen und Winke Heft II– IV – V“, d. h. die bis 1937/38 vorhandenen Hefte; er erwähnt aber nicht Heft I, was für mich besagt, daß er Heft I selbst ausgeschieden hat, vermutlich, weil der Inhalt dieses Heftes noch nicht mit dem seinsgeschichtlichen Denken begann, das erst mit Heft II einsetzt.Dahinter steht vermutlich die Entscheidung Heideggers, seine ‚Notizbücher‘ nur dem zweiten Ausarbeitungsweg der Seinsfrage, also dem seinsgeschichtlichen Weg, zu widmen. Für das Jahr 1931 plante Heidegger noch eine Umarbeitung von „Sein und Zeit“, in der er den Sachverhalt von „Sein und Zeit“ zurückgründen wollte in den ursprünglicheren Sachverhalt von ‚Sein und Freiheit‘. Dieses Vorhaben könnte von Heidegger in Heft I eingetragen worden sein. Der ursprünglichere Sachverhalt von ‚Sein und Freiheit‘ sollte aber den transzendentalen Ansatz von „Sein und Zeit“ beibehalten. Doch ganz kurz darauf, noch im Verlauf desselben Jahres 1931, stößt Heidegger zum seinsgeschichtlichen Ansatz der Seinsfrage vor, mit dem er den vorangegangenen Gedankenschritt von ‚Sein und Freiheit‘ und damit die Überarbeitung von „Sein und Zeit“ in diesem Sinne für die dritte Auflage aufgegeben hat«.
So können wir Gnolis Aussagen erwägen, als er immer noch behauptet, Hermann Heidegger, der Sohn des Philosophen, sei ein »Hüter des Tempels«, nämlich der Werke seines Vaters und »der Verdacht bestehe, daß diese zwei Hefte „durch den Heiligen Geist“ verschwanden«. In Wahrheit fehlt nur das erste Heft, das im Testament auch nicht erwähnt wurde. Die Hefte, worauf die römische Philosophin sich bezieht, sind tatsächlich vorhanden. So gerät D. Di Cesare in einen Widerspruch. In Heidegger e gli ebrei behauptet sie, diese Schriften, die einen Zeitraum von etwa vierzig Jahren im Leben des Denkers abdecken, nämlich von 1930 bis 1976, nicht dreißig, sondern 34 an der Zahl seien und nur fehle das auf 1930 zurückgehende Notizbuch der Überlegungen I. Abgesehen davon, daß sie verlorene und wiedergefundene Hefte verwechseln, scheinen Gnoli und D. Di Cesare zu vermuten, sie seien willentlich versteckt. »Man braucht nicht besonders klug zu sein, um zu verstehen, daß deren Inhalt höchstwahrscheinlich die kompromittierendsten Gedanken des Philosophen über die Judenfrage einschließen«. Im Zeitungsartikel tauchen weiter unbegründete Äußerungen auf. Falsch ist die Behauptung, die Gesamtausgabe sei der Austilgung einiger Äußerungen unterworfen. Gnoli beruft sich auf die »berühmten editorischen Diktate« von Hermann Heidegger, dem Sohn des Philosophen. Dann zitiert er Friedrich-Wilhelm
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von Herrmann, dem es zukam, als letztem Schüler und Assistenten von Heidegger »die Veröffentlichung dieser seltsamen Schwarzen Hefte« zu verhindern. Im Interview werden die üblichen jetzt berühmten Zwangsvorstellungen ausgesprochen, die die Erben und Nachlaßverwalter von Martin Heidegger anschuldigen. Die Heidegger-Kritiker unterstellen immer wieder eine Unterschlagung von unleugbaren Beweisen zu dessen Antisemitismus und Zustimmung zum Nationalsozialismus, deren Preisgabe auf eine unübersehbare Zukunft verschoben wäre. Diese Zwangsvorstellung diene dazu, die Irrlichter der journalistischen Polemiken anzufachen. Den Erben Heideggers und von Herrmann sind weder Unterschlagungen noch Manipulierungen zuzuschreiben. Sie haben nur im Rahmen des Möglichen versucht, dem letzten Willen Heideggers, wie er in seinem Testament stand, nachzukommen. Auf die Hefte kommt die Professorin erst im folgenden Jahr zurück, und zwar in den Spalten ihrer neuen Lieblingszeitung, des Corriere della Sera. Der erste Zeitungsartikel von D. Di Cesare über Heidegger geht auf November 2014 zurück, am darauffolgenden Tag erscheint ihr eigenes Buch, wovon sie damit eine Kostprobe gibt. Der Titel ihres Artikels paßt sich der jetzt zur Sensationspresse gewordenen italienische Tagespresse an. Sie fügt sich unfreiwillig: sie weiß Bescheid, es ist eine redaktionelle Sitte, daß der Titel nicht vom Verfasser, sondern von einer Redaktionspolitik abhängt und so von einem journalistischen Stil, der mehr auf Sensationen als auf das Wesentliche abzielt. Wie dem auch sei, wirft D. Di Cesare unter dem Titel L’ultimo segreto (nero) di Heidegger [»Das letzte (schwarze) Geheimnis Heideggers«] den Fehdehandschuh des Streites über die Schwarzen Hefte in der ersten Tageszeitung der italienischen Presse. Ihr Artikel hat dasselbe Ziel wie ihr Buch: den Nachweis dafür zu erbringen, Heidegger habe eine durchaus antisemitische Philosophie ausgearbeitet, und die Zurückweisung des Judentums sei der eigentliche Kern seines ganzen Denksystems. Ihre Anfangsworte greifen auf das Vorwort von Heidegger e gli ebrei zurück13: die Verfasserin zitiert ihre eigene Schrift ohne Quellenangabe. Dann werden manche Mutmaßungen zur Sprache vorgebracht. Z. B. sei noch zu beweisen, daß die Veröffentlichung der Notizbücher »von Heidegger als eine Art Krönung seines Gesamtwerkes beabsichtigt worden sei«. Darüber ist von Herrmanns Stellungnahme klipp und klar: Ganz und gar falsch: die Notizbücher begleiten den Hauptweg der Ausarbeitung der großen Manuskripte und nehmen vielfach kritisch, modifizierend und ergänzend zu den schon verfaßten Manuskripten Stellung, so daß diese Stellungnahmen nur nachvollzogen und verstanden werden können, wenn jene Manuskripte schon zuvor veröffentlicht sind. Allein aus diesem Verständnisgrund müssen die ‘Notizbücher’ die Gesamtausgabe abschließen. Die ‘Notizbücher’ haben keinen eigenen Werkcharakter.
Dann zitiert D. Di Cesare die »Anmerkungen« des Philosophen vom folgenden Tag des 22. Juni 1941, als »Hitler zum Angriff nach Osten überging«, und 13 Dies., Heidegger e gli ebrei, S. VII: »Die Schwarzen Hefte ähneln dem Logbuch eines Schiffsbruchs, der durch die Nacht der Welt hindurchgeht, von tiefen philosophischen Einsichten und gewaltigen eschatologischen Visionen beleuchtet«.
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dabei führt sie das Große Los ihres Aufsatzes: die politische und vor allem »theoretische« Annäherung von nationalsozialistischer Diktatur und Martin Heidegger. Dabei greift sie auch unberechtigterweise auf die Ansichten von Emmanuel Faye zurück, der 2005 ein Buch veröffentlichte, in dem er versucht, Heideggers Verantwortung nachzuweisen, dessen Ansichten sie sich aneignet. Seltsam ist das Zitat eines Auszugs aus einem Text von 1941, dessen unangenehm antisemitischer Ton nur schwer überhört werden mag, aber immer noch ohne Quellenangabe: »Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern«.
Nach von Herrmann müsse diese Textstelle richtig interpretiert werden, und zwar mit Bezugnahme darauf: Hier stellt Heidegger nur eine Ungerechtigkeit fest: Während im Ersten Weltkrieg die jüdischen Mitbürger selbstverständlich mit an der Front kämpften und Edmund Husserl seinen geliebten Sohn Wolfgang durch Tod an der Front verloren hat, ist es im Zweiten Weltkrieg jüdischen Mitbürgern untersagt gewesen, sich an den Kriegshandlungen zu beteiligen.
Eine gewisse Ungenauigkeit bezüglich der Quellenangaben gehört zum Stil von D. Di Cesare, die Auszüge aus den Schriften Heideggers aus deren Zusammenhang reißt und aus all diesen Teilen ein philosophisch-politisches Puzzle ohne geistiges Band zusammenfaßt, das nur ihren derzeitigen Einfällen entspricht. D. Di Cesare schlägt vor, eine öffentliche Debatte durch neue Studiengänge, Gespräche am runden Tisch, Kolloquien zu eröffnen, Vereine und engere Arbeitskreise zu stiften. Heidegger will sie nicht ausschalten, und sie verurteilt jenen, der ihn ausschalten will, denn so wäre die ganze Kontinentalphilosophie über Bord geworfen. Schlimmer noch: »damit wäre die Frage der Verantwortung der Philosophen gegenüber der Vernichtung umgangen«14. Heideggers Werke und Notizen gelten eigentlich nicht an sich, sondern nur insofern, als sie die »Schuld Heideggers« bezeugen, wie sie in den vierzehn Juden-bezogenen Textstellen der Hefte ausgeprägt sind, indem er die Seinsvergessenheit den Juden zugeschrieben habe. Mit anderen Worten sei Heidegger bloß funktionell unumgänglich in der Übernahme der »Judenfrage« der abendländischen Geschichte: »Im Nicht-sein des Juden klingt schon die Vernichtung mit. Die Arbeit der Henker in der bürokratischen Organisation der Lager war es, die Metapher der Philosophen wortwörtlich zu nehmen«15.
Im Februar 2015 kommt die Verfasserin auf dieses Argument zurück16. Da will sie das Erscheinen der Hefte vorwegnehmen, die im Band 97 (Anmerkungen I – V) 14
Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. 16 Vgl. dies., Heidegger: »Gli ebrei si sono autoannientati«. Nei nuovi »Quaderni neri« del filosofo l’interpretazione choc della Shoah [Heidegger: »Die Juden haben sich selbst vernichtet«. Heideggers prägnante Interpretation der Shoa in den neuen »Schwarzen Heften« des Philosophen], in: Corriere della Sera, 8. Februar 2015, S. 10 – 11. 15
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der Gesamtausgabe von Peter Trawny beim Verlag Klostermann gesammelt und herausgegeben wurden. Der betreffende Band deckt die Zeitspanne zwischen 1942 und 1948 ab und schließt das entscheidende Heft der Jahre 1945/46 ein, das, wie in der Inhaltsangabe erklärt wird, »als verloren galt und im letzten Frühling wiedergefunden wurde«. Den »philosophischen Antisemitismus« läßt D. Di Cesare provisorisch auf sich beruhen und geht auf ein historisches Geschehnis über, dessen Furchtbarkeit unvergleichbar ist, nämlich die Shoa, die als »philosophisch« betrachtet werden soll. Unter den 560 Seiten, die in Deutschland veröffentlicht wurden, hat sie etwa zehn Zeilen auserkoren, die von Heidegger 1942 und 1945 niedergeschrieben wurden. Sie fokussiert sich auf eine Stelle von 1942, wo geschrieben steht: »Diese [= die Judenschaft] ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung«17; darauf folgt: »Wenn erst das wesenhaft „Jüdische“ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht«18. Nach 1945– fährt D. Di Cesare fort – beklagt sich der Autor von »Sein und Zeit« darüber, wie die Deutschen »„das Fremde“ verherrlichen und nachmachen«19, über deren »politisches Unvermögen«, »die Gründlichkeit, mit welcher sie auch die krassesten Irrtümer begehen« – all dies, wie üblich, ohne Quellenangaben. Demzufolge schreibt sie über eine Textstelle, in der bezeugt wird, wie Heidegger vermutlich auch emotional reagierte, als die Aliierten gegen die Achsenmächte Flugblätter auf das besiegte und gedemütigte Deutschland abwarfen. So lautet dieses »lange Zitat von Heidegger, worüber sich diskutieren läßt: »Wäre z. B. die Verkennung dieses Geschickes – das uns ja nicht selbst gehörte, wäre das Niederhalten im Weltwollen – aus dem Geschick gedacht, nicht eine noch wesentlichere „Schuld“ und eine „Kollektivschuld“, deren Größe gar nicht – im Wesen nicht einmal am Greuelhaften der „Gaskammern“ gemessen werden könnte –; eine Schuld – unheimlicher denn alle öffentlich „anprangerbaren“ „Verbrechen“ – die gewiß künftig keiner je entschuldigen dürfte. Ahnt „man“, daß jetzt schon das deutsche Volk und Land ein einziges Kz ist – wie es „die Welt“ allerdings noch nie „gesehen“ hat und das „die Welt“ auch nicht sehen will – dieses Nicht-wollen noch wollender als unsere Willenlosigkeit gegen die Verwilderung des Nationalsozialismus«20.
Freilich ist eine ungewöhnliche Härte in dieser Textstelle spürbar. Beim Kommentar dieser Zeilen ist der Vergleich des Denkers naheliegend mit einer anderen »verdammten Seele«, dem Juristen und Philosophen Carl Schmitt, der als Deutscher sich nur momentan geschlagen gab. Dann kommt die Übertreibung: diese aus ihrem Kontext herausgerissenen und ohne Quellenangaben zitierten bedauerlichen Zeilen werden in unerwartetem Ausmaß von D. Di Cesare aufgebläht: »Heidegger glaubt nicht, es wäre alles vorbei – da der »Höhepunkt der Selbstvernichtung« noch nicht erreicht wurde. Deutschland hat noch eine Zukunft vor sich, wie ein I [29], GA 97, S. 20]. I [30], GA 97, S. 20]. 19 [Überlegungen X, § 59 [120], GA 95, S. 339]. 20 [Anmerkungen I [151], GA 97, S. 99 – 100]. 17 [Anmerkungen
18 [Anmerkungen
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vom deutschen Volk geführtes Europa. Dann sind es Fragen über Fragen. Ob Heidegger an ein Viertes Reich dachte ? Warum denn hat er Mitte der 70er Jahre die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte geplant ? Was erwartet er von Europa, in dem wir Heutigen jetzt leben ?«21.
So wird die Vermutung nahegelegt, daß Heidegger, wie ein Hellseher (nicht umsonst hatten ihn seine Studenten »den Zauberer von Meßkirch« genannt), in den 40er Jahren ein vereinigtes Europa unter der Vorherrschaft Deutschlands befürwortet hätte. Von der Philosophie gehen wir dann in die politische Fiktion über, wobei alte spukende Vorstellungen wieder auftauchen, die von mutmaßlichen Enthüllungen abhängen: solange viele Schriften noch unveröffentlicht sind, die noch niemand gelesen hat, dürften wohl endlose Hypothesen aufgestellt werden. Die Verfasserin betont, die Schwarzen Hefte seien nicht als historische Dokumente zu bezeichnen, weil sie »denjenigen Schriften des Philosophen zugehören, die mit den übrigen Werken eng verbunden sind«. Eine seltsame Bezeichnung ist es freilich, da sie in ihrem Buch mehrmals geschrieben hat, sie seien nicht nur mit den übrigen Werken Heideggers verbunden, wenn sie auch »philosophische Schriften sind, sei es durch deren Stil, deren Inhalt oder schließlich in der Ansicht des Verfassers«. Es ist – noch einmal – bemerkenswert, daß sie deren un-systematischen Stil durch eine Annäherung an denjenigen Nietzsches als berechtigt ansieht. »Heidegger redet in der ersten Person, ohne Vorbehalt, ganz unverblümt, mit dem Blick in die Zukunft«22. Am Schluß kommt ihr Aufsatz auf die Notwendigkeit zurück, das gesamte Denken Heideggers wieder zur Diskussion zu stellen: »Wohl wäre es sicherlich einfacher […] die Schwarzen Hefte beiseitezulassen. Aber Heid egger selbst hat es verboten. So dürfen wir z. B. die Forderung begreifen, »Sein und Zeit« wiederzulesen – wie im Diskurs des jungen israelischen Philosophen Cédric CohenSkalli auf der Pariser Tagung in der Hinsicht eines Vergleichs zwischen Heidegger und Walter Benjamin. Damit soll aber nicht, wie manche es behaupten mögen, Heidegger geächtet und verbannt werden; vielmehr geht es darum, daß wir uns mit der Komplexität von dessen Überlegungen ganz offen und kritisch konfrontieren. Das könnte auch eine Gelegenheit sein für die Philosophie, den Abgrund der Shoa zu denken«23.
Von derartigen Behauptungen distanziert sich von Herrmann noch einmal und warnt davor, es komme nichts Gutes dabei heraus: »Es ist ein Grundirrtum aller Buch- und Zeitungsautoren zu meinen, daß Heideggers politische Äußerungen jeglicher Art, die allein zum Bereich des Ontischen gehören, in irgendeiner Weise in sein ontologisches Seinsgeschichtliches Denken eingegangen sind. Das Ontische bleibt streng geschieden vom Ontologischen. Wer bisher in seiner Heid egger-Lektüre der ca. 90 Bände der Gesamtausgabe auf keine antisemitischen Spuren gestoßen ist, der wird auch bei einer zweiten Lektüre derartige Spuren nicht finden. Der seinsgeschichtliche Begriff ‘Abgrund’ ist ein rein ontologischer Begriff, der Zweifaches 21 Ebd. 22
Ebd., S. 15. Heidegger: »Gli ebrei si sono autoannientati«, S. 11.
23 Dies.,
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besagt: 1) das Ausbleiben eines gründenden Wahrheitsgrundes und 2) das Aufsteigen eines solchen gründenden Grundes aus dem bisherigen Wegbleiben. Dieser ontologische Begriff des Abgrundes kann mit dem Abgrund des politisch-menschlich Bösen in keiner Weise erfaßt werden«.
Demungeachtet sei Heidegger, nach D. Di Cesare, »auf die Überlegungen einer ganzen Reihe von internationalen Tagungen angewiesen«, wodurch dessen Werk in neuer Hinsicht zur Diskussion zu stellen ist, deren Neuigkeit von D. Di Cesare bestimmt wird. Am nächsten Tag spinnt sie ihren Gedanken in einem Zeitungsartikel weiter, wo sie die Philosophen dazu auffordert, an einer Auseinandersetzung über den Antisemitismus und die Shoa teilzunehmen 24, und zwar »über den Gegensatz der Befürworter und Gegner hinaus«, wie der Untertitel zuvorkommend verkündet. Nach Di Cesare ist es erforderlich, »die Seiten Heideggers aufmerksam zu studieren und die Shoa neu zu betrachten. Die Shoa ist ja keine nur historische, sondern auch eine philosophische Frage, darin wird auch Philosophie direkt verwickelt. In dieser Hinsicht ist Heidegger freilich nur ein Vorwand und eine Nebensache, wie sie es mit einer ziemlich dunklen Interpretation bestätigt: »Nach Auschwitz denken, heißt sich einer autistischen Syntax entziehen, nicht auf dem Weg zu einer abstrakten Freiheit, sondern eher zu einer Befreiung, die wie diejenige des Exodus im Zweiten Buch Mose sich nur mit dem Nächsten vollzieht«. Übrigens kommt sie darauf, die dann bevorstehende Publikation von weiteren von Peter Trawny herausgegebenen Heften in Deutschland zu verkünden; das Buch von Peter Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung25, deren italienische Übersetzung dann auch gedruckt ist, kann sie nicht genug loben, und sie vermerkt, das betreffende Buch wurde schon zweimal nachgedruckt. Dann läßt sie sich auf eine Polemik mit Günter Figal ein, der als Präsident der Martin Heidegger Gesellschaft von seinem Amt zurücktrat, wie mit Emmanuel Faye, da die Frage keine politische, sondern eine philosophische Frage ist, »weder auf ein biographisches Detail noch auf einen „politischen“ Irrtum« komme es an. Deswegen solle auch Gianni Vattimo erwidert werden: was Heidegger in seinen Schwarzen Heften schreibt, sei »nicht als Lehre zu disqualifizieren, auch nicht von der Philosophie zu trennen. In der Zukunft wird es für jede kritische Studie nicht mehr möglich sein, so zu tun, als ob dieses Werk nicht vorhanden wäre«. Gegen Heidegger und dessen mutmaßlichen Antisemitismus jagt ein Angriff den anderen, wenn auch der Corriere della Sera die Reaktionen auf D. Di Cesa24 Vgl. dies., Shoah, ecco l’anno zero di Heidegger. Dopo i »Quaderni neri« la pubblicazione dei testi dove lo sterminio degli ebrei è definito un »autoannientamento« segna una svolta. Che rilancia la necessità di interrogare a fondo il pensiero del filosofo, senza dividersi tra fan e avversari [Shoa als „Jahr Null“ für Heidegger. Nach den „Schwarzen Heften“ stellt die Veröffentlichung der Texte, wo die Judenvernichtung als „Selbstvernichtung“ bezeichnet wird, einen Wendepunkt dar. Dadurch wird es dringend, das Denken des Philosophen von Grund aus zu befragen, über den Gegensatz der Befürworter und Gegner hinaus], in: Corriere della Sera, 9. Februar 2015, S. 28. 25 P. Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Klostermann, Frankfurt a. M. 20153.
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res Schreiben jederzeit pünktlich meldet. Am 30. März wird in einem Artikel von Antonio Carioti die Information ausgegeben, die aufgrund der zwei Monate früher auch an Günter Figal gerichteten Kritiken keineswegs voraussehbar war: Di Cesare folgt seinem Beispiel und tritt vom ihrem Amt als Vizepräsidentin der Martin Heidegger Gesellschaft zurück. Sie kritisiert deren Provinzialismus: »Er hat die Entscheidung getroffen, nach Heideggers Heimatstadt Meßkirch zurückzukehren. Das ist keine nur metaphorische Geste, sondern eine provinzielle Sich auf sich selbst Zurückziehen im Gegensatz zur internationalen Öffnung, die ich für notwendig halte«.
Drei Monate später – dann sind Streitereien und Klatsch vorbei – ist es immer noch Carioti, die Stiftung des Internationalen Martin-Heidegger-Kreises mitzuteilen, nach dem Willen von Trawny und Di Cesare, die diese Stiftung so für berechtigt halten: »Die [Martin] Heidegger Gesellschaft hat eine starre innere Struktur, die den intellektuellen Austausch nicht begünstigt. Unsere Absicht ist es hingegen, ein offenes Institut zu gründen, in das alle Forscher eintreten können, und zwar ohne vorher festgelegte Rangordnung«.
So sind wir nahe am Ziel: Studien fördern, und ihnen freien Lauf geben, wenn man auch nur der persönlichen Interpretation von Di Cesare zustimmt, die Heideg gers Denken aufgrund eines vermeintlichen Antisemitismus deutet. Erst im Monat Mai desselben Jahres kommt die römische Philosophin auf dasselbe Thema wieder zurück, in einem dem Verfall der deutschen Philosophie gewidmeten Zeitungsartikel26. Dort beklagt sie die Abschaffung des Lehrstuhls Heideggers an der Universität Freiburg wegen der Anstoß erregenden Schwarzen Hefte und kritisiert die zunehmende Bedeutung bzw. wachsende Macht der Sprachphilosophie sowie den berühmten Markus Gabriel, den sie für nicht besonders glänzend hält. Worauf dieser erwiderte27: »Die Dame hat zuviel Heidegger gelesen, und meint, er sei in Deutschland überall wirksam. In Wahrheit ist dieser aber – so fährt Gabriel fort – als Denker schon überholt: dessen Schwarze Hefte zeigen, daß er in Stereotypen denkt«. Alles in allem will Gabriel sich vom ideologisch-theoretischen Streit abseits halten, der in allen italienischen Tageszeitungen sich leicht steigert. In der Zeitspanne, die zwischen Di Cesares Interview in la Repubblica und Gabriels Antwort und vernichtender Bemerkung abgelaufen ist, haben viele Kommentatoren in einer Art Kollektivempörung viel Tinte verspritzt. Am 9. Februar wird von Carioti die Publikation des vierten Bandes der Schwarzen Hefte in 26 Vgl. D. Di Cesare, La filosofia tedesca è morta. Dopo 300 anni. Le cause del declino: la politica culturale di Berlino e la »sbornia analitica«, in: Corriere della Sera, 10. Mai 2015, S. 15. 27 Vgl. M. Gabriel, Heidegger non conta più e la filosofia in Germania è ricca (non solo di idee). Markus Gabriel replica alle osservazioni di Donatella Di Cesare: mai prima sono stati spesi tanti soldi per le scienze dello spirito, ins It. übersetzt von A. Iadicicco, in: Corriere della Sera, 17. Mai 2015, S. 28.
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Deutschland als Band 97 der Gesamtausgabe28 angekündigt. Auf der Website des Corriere29 wird eine Erklärung von Gianni Vattimo aufgenommen, die dieser der Agenzia Nazionale Stampa Associata [ANSA]30 übergeben hat, wonach es ungerecht sei, Heidegger als »Apologeten der Vernichtung zu beurteilen«. Ein paar Tage nach der Veröffentlichung der italienischen Übersetzung des Buches von Trawny wird über eine Tagung an der Universität Vita-Salute San-Raffaele31 berichtet, in der die Vortragenden u. a. Donatella Di Cesare und die Phänomenologin Roberta De Monticelli heißen. Im Corriere wird viel Tinte über den derzeitigen »kulturellen Skandal« verschmiert, von bekannten und weniger bekannten Schreibfedern stammend. Wiederum sitzt Heidegger auf der Anklagebank. Tausende Seiten scheinen hinter den 14 Textstellen zu verschwinden, die von der »intellektuellen« Öffentlichkeit angeklagt werden; man möchte meinen, daß dieser verschwindend geringe Teil der Notizbücher plötzlich den Inbegriff seiner Philosophie ausmache. Die querelle über die Hefte fängt in der Tat, lange vor Di Cesare und Ranieri Polese an, eine historische Figur der Tageszeitung der via Solferino32. Polese berichtet über den medienwirksamen Rummel in Deutschland anläßlich der Publikation der ersten Lieferung der Hefte33, die er ein wenig eingehender erforscht. Er zitiert seinen Kollegen Jürgen Kaube, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf Heideg gers Zustimmung zum Nationalsozialismus zur Zeit seines Freiburger Rektorats (1933 – 1934) zurückkommt, sowie auf dessen spätere Enttäuschung und Abkehr, weil »die „Neuzeit“ durch diese Bewegung nicht „überwunden“, sondern umgekehrt „vollendet“ und dem „Amerikanismus“ ausgeliefert werde«34. Polese folgt Kaube unkritisch, ohne dessen Einstellung zu bezweifeln. Allerdings ist Jürgen Kaubes Vorgehensweise von Herrmann bekannt: »Jürgen Kaube ist Journalist im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der sich ganz auf die Äußerungen Peter Trawnys verlässt ohne eigene Heidegger-Lektüre«.
Während unserer weiteren Untersuchung erscheint eine Menge prominenter Namen. Im Vordergrund steht der Schriftsteller, Humanist, Bühnenautor und vornehme Übersetzer Guido Ceronetti, der in seinem Zeitungsartikel Heidegger an28 Vgl. A. Carioti, I taccuini postumi contengono la giustificazione dell’antisemitismo, in: Corriere della Sera, 9. Februar 2015, S. 28. 29 Vgl. C. Severino, Lo »choc« va in rete. Ma Vattimo lo difende, in: Corriere della Sera, 9 Februar 2015, S. 28. 30 [Nationale Multimediale Nachrichtenagentur der italienischen Presse. Übers.] 31 Vgl. Giornata di studio su Heidegger al San Raffaele, in: Corriere della Sera, Mailänder Ausgabe, 24. Februar 2015, S. 40. 32 [Solferinostr. ist die in Italien bekannte Anschrift des Hauptsitzes des Corriere della Sera. Übers.] 33 Vgl. R. Polese, Heidegger, antisemita e vero nazista. Pubblicati i »Quaderni neri« del filosofo, che comprendono gli anni 1931 – 41. Confessioni che non lasciano dubbi. Deluso dal regime, lo accusò di »americanismo«, in: Corriere della Sera, 14. März 2014, S. 47. 34 Ebd.
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tisemita. Cancella Spinoza35 auf eine Hyperbolé zurückgreift. Mit ein paar Zeilen schaltet Ceronetti die Hefte aus und konzentriert sich einzig und allein – ob das nur ironisch gemeint oder echt vermutet ist, weiß man nicht – auf das Fehlen von Baruch Spinoza in den Werken Martin Heideggers: »dem „armen einsamen Juden“ aus dem Haag sind wir zu sehr zu Dank verpflichtet, als daß wir ihn mit irgendeiner ideologisch antisemitischen Dummheit verleugnen könnten«. So wäre Heidegger in der Tat nicht so genial (den »lese ich und versuche ihn seit etwa vierzig Jahren zu verstehen«); es steht aber fest, daß die antisemitischen Behauptungen seines Erachtens einer fehlenden Verehrung von Spinoza zuzuschreiben sind. Die Äußerungen von Ceronetti werden in den genaueren Angaben von F.-W. von Herrmann dementiert: »Dies ist unwahr. Siehe GA Band 23 „Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant“, in dem nach den Abschnitten zu Thomas von Aquin und Descartes der ebenso lange Dritte Abschnitt über Baruch de Spinoza 36 folgt. In diesem Abschnitt 37 wird das Hauptwerk Spinozas „Ethik“ vollständig würdigend durchgesprochen«.
Konsequent ist die Journalistin Livia Profeti, die sich zugleich auf Nationalsozialismus und Philosophie spezialisierte. Ihr zufolge ist die Publikation der Hefte »für die internationale Forschung keine Überraschung gewesen«, sofern die ganze Angelegenheit der Verwicklung des deutschen Denkers in den Nationalsozialismus, die als Gerücht in die Welt gesetzt wurde, keine neuen Erkenntnisse hinzufügt: »Seit 2005 hat die Arbeit von Emmanuel Faye […] den „Fall Heidegger“ von der Ebene des Zugeständnisses zum Dritten Reich auf diejenige seines Denkens gerückt«38.
Mit der Ankündigung einer Tagung in Siegen (Nordrhein-Westfalen) im Frühling 2015 kommt die Verfasserin auf die – ihr zufolge – erstrangige Rolle von Faye in seiner Forschung über den angeblichen Antisemitismus bei Heidegger zu sprechen. Wie Profeti es indirekt vorweggenommen hatte, greift der Franzose mit einem Zeitungsartikel ein, dessen Titel unzutreffend und dennoch mit seiner persönlichen Meinung über den deutschen Denker übereinstimmt: Heidegger Prophet des IV. Reichs39. Als Verfasser von »Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie« hat Faye zehn Jahre vor Di Cesare die Hypothese einer Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus und dem Heideggerschen 35 Vgl. G. Ceronetti, Heidegger antisemita. Cancella Spinoza [Heidegger Antisemit. Er macht Spinoza zunichte], in: Corriere della Sera, 8. Dezember 2014, S. 37. 36 Vgl. M. Heidegger, Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant, in: Gesamtausgabe, Bd. 23, Abt. 2: Vorlesungen 1919 – 1944, hrsg. v. H. Vetter, Klostermann, Frankfurt a. M. 2006. 37 Vgl. ebd., S. 145 – 166. 38 L. Profeti, Heidegger razzista perché teorizza la diseguaglianza, in: Corriere della Sera, 27. Dezember 2014, S. 41. 39 Vgl. E. Faye, Heidegger profeta del IV Reich. L’antisemitismo è insito nella sua opera. Sperava nel ritorno del dominio tedesco, in: Corriere della Sera 23. Februar 2015, S. 26.
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Denksystem aufgestellt. Hier behauptet er, die Schwarzen Hefte seien überflüssig, um das heimliche Einverständnis des Verfassers von »Sein und Zeit« mit dem Nazismus nachzuweisen. Will sagen, daß er die Polemik als bloße Stilübung disqualifiziert, die von Trawny und Di Cesare ausgelöst wurde: in Wirklichkeit hätten diese gar keine Entdeckung gemacht. Er bezieht sich auf einen Brief Heideggers von 1916 an seine Braut Elfride, in dem der Philosoph »die wachsende Verjudung des deutschen Geisteslebens und unserer Universitäten« beklagt. So lägen viele frühere Dokumente vor, aufgrund derer er den »ontologischen Negationismus« theorisiert hätte. Von Bedeutung ist hingegen die Untersuchung von Emanuele Severino, die sich von der gleichbleibenden alten Leier wesentlich unterscheidet. Dem Buch von D. Di Cesare Heidegger e gli ebrei werden nur ein paar Zeilen gewidmet: »Zum Glück […] dürfen die Schwarzen Hefte beiseite gelassen werden, ohne daß viele andere seiner [Heideggers] Werke dasselbe Schicksal wie sie erleiden, und zwar Werke, die ihn als einen der größten Denker des 20. Jahrhunderts auszeichnen. Der Vorschlag, das Gesamtwerk im Lichte dieser Hefte (mit schwarzem Einband) nachzulesen, ist ganz und gar willkürlich«40.
Dann distanziert sich Severino zu seiner Verteidigung von der These von Giacomo Marramao, dem von Di Cesare zitierten Verfasser von Dopo il leviatano41, der ihn als »die italienische Fassung oder Variante der Philosophie Heideggers« zu Unrecht bezeichnet habe. Als erster großer Ankläger von Heidegger hatte es Victor Farías auch übertrieben, als er ihm vorwarf, »in gefährlicher Nähe zu Hitler zu stehen«. Es ist leicht verständlich, daß der Philosoph außerhalb einer Polemik stehen will, in der er verleumdet wird. Zuerst erscheint in Brescia, der nach Mailand zweitgrößten Stadt der Lombardei, auf der Rückseite der Brescianer Regionalausgabe des Corriere della Sera und dann im Avvenire der sehr gut dokumentierte Artikel von Ilario Bertoletti42, in dem er die drei »Fragen« bzw. »Notwendigkeiten« abbaut, die von Di Cesare formuliert worden waren. Unnütz wäre eine Geschichte des Antisemitismus, weil sie schon geschrieben wurde, und zwar »vom Brescianer Geschichtsphilosophen 40 Vgl. E. Severino, No, non sono la variante di Heidegger. I »Quaderni neri« hanno svelato l’antisemitismo e riaperto un caso. Qui Severino replica alle tesi di Giacomo Marramao e Victor Farías, in: Corriere della Sera, 25. Januar 2015, S. 6 – 7. 41 Vgl. G. Marramao, Dopo il leviatano, Bollati Boringhieri, Turin 2013. 42 Vgl. I. Bertoletti, Heidegger, la Norimberga del pensiero. Il caso: La pubblicazione dei »Tacuini neri« di Heidegger ha riacceso il dibattito sul filo-nazismo e sull’antisemitismo del filosofo tedesco. Sull’antisemitismo e la filosofia ha scritto un’opera fondamentale il bresciano Francesco Tomasoni (»La modernità e la fine della storia«). Sulla recezione della Shoah nel pensiero cristiano ed ebraico è un riferimento il libro scritto da Massimo Giuliani per la Morcelliana. Una biografia aggiornata di Heidegger è quella appena pubblicata da Vincenzo Costa per l’editrice La Scuola, in: »archiviostorico.corriere.it«, 15. Februar 2015, und unter dem Titel Heidegger, essere e colpa. Perché bisogna dire no a »una Norimberga filosofica«, in: Avvenire, 15. Februar 2015, S. 27.
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Francesco Tomasoni43 bezüglich der Periode von Kant bis zu den Junghegelianern, in einem Buch von 1999 […], das eben beim Verlag Kluwer Academic Publishers ins Englische übersetzt wurde«. Überflüssig sei es auch, »über das philosophische und theologische Wesen der Shoa« nachzudenken, weil das bei Adorno schon der Fall ist, geschweige denn »über die theologische Seite der Frage, die schon in den Werken von Jürgen Moltmann und Johann Baptist Metz erforscht wurde, die in Italien beim Verlag Queriniana (Brescia) veröffentlicht wurden«. Was die Schwarzen Hefte betrifft, fährt Bertoletti fort, der sie richtiger »Notizbücher« nennt, »gingen zwei italienische Bücher demjenigen von Di Cesare voran: Heidegger von Vincenzo Costa und I Quaderni neri di Heidegger von Adriano Fabris«44. Nicht alle Kommentatoren sind so gewissenhaft wie die bis jetzt erwähnten Philosophen. Auf der Website »corriere.it« erschien die empörte Untersuchung von Richard Wolin45, ‘Distinguished Professor’ für Geschichte und politische Wissenschaft am Graduate Center der City University von New York, deren »Diskussion« von Massimo Adinolfi in der Zeitung Il Mattino von Neapel als »besonders doof« (particolarmente cretina) bezeichnet wurde. Kurz gesagt: Wolin spricht Heidegger den status eines Philosophen ab, weil es ihm an »philosophischer Integrität« mangele – zum x. Mal wird auf einen dunklen Ausdruck zurückgegriffen. Er kritisiert Di Cesare: Sie sei dessen schuldig, Heidegger als Denker zu ehren, d. h. einen »blassen Antisemiten«, der »unheimliche Kräfte« verwandt habe, um »die Gräuel des Nationalsozialismus herunterzuspielen«. So faßt er einen bekannten, in Die Zeit erschienenen Artikel von Adam Soboczynski46 zusammen, der sozusagen der Inbegriff aller jener Zwangsvorstellungen ist, die der Denker hervorgerufen habe. Der fantasielose amerikanische Professor verschiebt die Entdeckung von Dokumenten, die Heidegger auf seine Verantwortungen festnageln würden, in eine unbestimmte Zukunft; so gehört er zu denen, die seit Jahrzehnten das grundlose Gerücht von Verstecktem verbreiten. So wird der Debatte im Corriere della Sera ein Ende gesetzt. Neuere Elemente werden erst im Laufe des Sommers mitgeteilt. Bemerkenswert ist es, wie diese manchmal zu einer Debatte für und wider Di Cesare wurden. Das Eingreifen von Wolin, das, wie gesagt, von Adinolfi in Il Mattino von Neapel ins Lächerliche gezogen wurde, gibt uns die Gelegenheit, unsere Reise durch die italienische Presse vom Süden aus zu beginnen. Die vorliegenden Analysen 43 Vgl. F. Tomasoni, La modernità e il fine della storia. Il dibattito sull’ebraismo da Kant ai giovani hegeliani, Morcelliana, Brescia 1999. 44 Der Genauigkeit halber handelt es sich um: V. Costa, Heidegger, La Scuola, Brescia 2013 und: A. Fabris (Hrsg.), Metafisica e antisemitismo. I Quaderni neri di Heidegger tra filosofia e politica [Metaphysik und Antisemitismus. Heideggers Schwarze Hefte zwischen Philosophie und Politik], ETS, Pisa 2014. 45 Vgl. R. Wolin, Addio Heidegger! Il dibattito dopo la pubblicazione dei »Quaderni neri« e le tracce di antisemitismo rimettono in discussione il posto che il tedesco occupa nella storia della filosofia, ins It. übersetzt von L. Lunardi, in: »corriere.it«, 17. April 2015. 46 Vgl. A. Soboczynski, »Was heißt „N.soz“?«, in: Die Zeit, 26. März 2015.
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sind gelegentlich didaktisch, der Kürze wegen mußten wir uns jedoch auf die wichtigsten Texte beschränken. Didaktisch müssen wir auch sein, sei es, um die Irreführungen dieses oder jenes allzu ideologischen Journalismus zu entlarven, sei es, um diejenigen zu kennzeichnen, die um jeden Preis Aufsehen erregen, auf das Niveau ungestützter Behauptungen absinken sowie auf unfruchtbare Beleidigungen zurückgreifen. Bei Adinolfi ist es nicht der Fall, der sich nicht davon abbringen läßt, gelegentlich zu sticheln, und dabei der heutzutage neuesten Mode folgt, aber ein Mann von Bildung ist. So spöttelt er über den amerikanischen »distinguished und empörten professor, demzufolge der status des (wenn auch großen) Philosophen mit antisemitischen Vorurteilen unverträglich ist. Wenn jemals Spuren von Antisemitismus bei – sagen wir mal – Hegel, Nietzsche oder Frege zu finden wären, dann würden wir demzufolge in die Verlegenheit gebracht werden, sie unter mittelmäßige Denker herunterzustufen, damit unsere Bibliotheken ihre Ruhe haben«47.
Die Affäre um die Schwarzen Hefte wird mit Aufmerksamkeit verfolgt: Il Mattino distanziert sich von Di Cesare, aber nicht von den Anklagen gegen Heidegger. Vor Adinolfi griffen der liberale Philosoph Corrado Ocone, Anhänger von Benedetto Croce48, sich auf ihn berufend, und der Schriftsteller und Journalist Guido Caserza49 in die Debatte ein. Der historische Wert der Hefte wird von Ocone heruntergespielt; die Unterstellungen der neueren Kritiker seien schon veraltet. Er überträgt den Verriß der Rektoratsrede durch Benedetto Croce im Jahr 1934 in seiner Zeitschrift La Critica, in der dieser ohne Bedenken von Rassismus spricht. So gibt es nichts Neues unter der Sonne: die Schatten haben sich seit längerer Zeit vermehrt, die über Heidegger schweben, und nicht selten aufgrund völlig unangebrachter Beschuldigungen. Diese Untersuchung ist oder besser wäre einwandfrei, wenn der Verfasser sich nicht in einem historischen Datum geirrt hätte: »im Jahr 1939, vom Regime isoliert (nicht sich ins Abseits gestellt habend)«, sagt Ocone, und damit wird übergangen, daß der Philosoph schon 1934 von seinem Amt als Rektor aus Mißbilligung des Regimes zurücktrat und sich dann auch vom Regime gelöst hatte, wie der Freiburger Vorlesung des Wintersemesters 1933/34 »Vom Wesen der Wahrheit« zu entnehmen ist, die 2001 im Band 36/37 der Gesamtausgabe veröffentlicht wurde50, aus der Heideggers Entfernung vom Nationalsozialismus – und nicht umgekehrt – klar hervorgeht. So wird es durch Prof. von Herrmann bestätigt: »Ja, Heidegger hat das Rektorat nach 10 Monaten abgegeben aus Abneigung gegen den Nationalsozialismus. Die darauf folgende Isolation des Regimes hat er ertragen.« M. Adinolfi, Perché il filosofo guida senza patente, S. 55. Vgl. C. Ocone, Quando Croce accusava Heidegger. »Razzista e servile«, in: Il Mattino, 11. Februar 2015, S. 15. 49 Vgl. G. Caserza, Heidegger: gli ebrei si sono »autoannientati«. Inedite note choc dei »Quaderni neri« riaprono il dibattito sull’antisemitismo del filosofo tedesco, in: Il Mattino, 9. Februar 2015, S. 14. 50 M. Heidegger, Sein und Wahrheit, in: Gesamtausgabe, Bd. 36/37, hrsg. v. H. Tietjen, Klostermann, Frankfurt a. M. 2001. 47
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Caserza konzentriert sich hingegen auf die Publikation der Schwarzen Hefte in Deutschland, um daraufhin Emanuele Severino und Gianni Vattimo anzupöbeln. Diesen beiden Autoren zufolge, wie schon gesagt, sind die Schwarzen Hefte ungenügend, um Heidegger als »Apologeten der Vernichtung« anzuprangern: »in diesen Seiten sprechen keine zureichenden Gründe dafür, daß er es gewesen wäre« – so Vattimo; »die Thematik der Seinsvergessenheit steht in keinem Zusammenhang mit dem Antisemitismus«, so Severino51, als er auf manche Erklärungen des Corriere zurückkommt. Über Neapel kehren wir nach Rom zurück, der Heimatstadt der zweiten italienischen Tageszeitung, la Repubblica. Im Gegensatz zum aggressiven Ton von Gnoli werden gelindere Saiten von la Repubblica angeschlagen. Die Affäre wird dem italienischen Philosophen und Akademiker Maurizio Ferraris anvertraut, der über die einheimischen Streitigkeiten hinaus Günter Figal interviewt52. Über die jetzt berühmten fraglichen vierzehn Juden-bezogenen Textstellen empört, ist Figal von seinem Amt als Präsident der Martin-Heidegger-Gesellschaft zurückgetreten. Offensichtlich hatte er die Bücher nicht gelesen, dafür aber dasjenige von Faye, das Heideggers Antisemitismus nachweisen wollte. Das Gespräch erfolgt im bunten Wechsel philosophischer Fragen und schon allgemeinerer Antworten. Figal getraut sich, ohne jeglichen Zweifel zu sagen, Heidegger hätte wohl gewußt, »was seinen jüdischen Kollegen, Studenten und Landsleuten geschehe«, da die Freiburger Alte Synagoge, die 1938 in Brand gesetzt wurde, in der Nähe der Universität stand. Wiederum wird hier außer acht gelassen, daß der Professor Heidegger sich damals schon vom Regime entfernt hatte, das ihn seinerseits streng überwachte. Diesbezüglich ist von Herrmanns Distanz zu den Theorien von Figal unübertrefflich deutlich: »Figal ist keine verläßliche Stimme. Er denunziert das ganze seinsgeschichtliche Denken, indem er es als ideologisch begründet definiert. Figal ist nur ein gründlicher Kenner der Philosophie von „Sein und Zeit“, aber nicht des seinsgeschichtlichen Denkens. Philosophisch hat Figal nicht die nötigen Mittel, Martin Heidegger richtig einzuschätzen«.
Dazu unterschätzt Figal die tickende Zeitbombe dieser Schriften (Heideggers Entschluß, »die Publikation der Schwarzen Hefte zu verzögern, kann auf vielerlei Gründe zurückgeführt werden«). Seiner Meinung nach haben die Hefte einen »Privatcharakter« und durch die antisemitischen Äußerungen werde »nur ein [gegen die Juden gehegter] klischeehafter Groll zur Sprache gebracht«. Tatsächlich distanziert er sich von der Linie von Trawny und Di Cesare; demzufolge sei der Begriff »metaphysischer Antisemitismus« ein bloßes Hirngespinst. La Repubblica sieht sich dazu gezwungen, eine lästig gewordene Streiterei wieder in den Griff zu bekommen. Diese wird in die Rubrik Leserbriefe versetzt, in der der bekannte 51
s. oben Fußnote 40. Vgl. M. Ferraris – G. Figal, »Nei Quaderni neri di tenebra la maledizione di Heidegger«. I testi antisemiti, le polemiche su un’eredità scomoda: confronto tra Ferraris e Günter Figal, in: la Repubblica, 4. April 2015, S. 56. 52
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Journalist Corrado Augias dreimal das Thema angeht53 und die Thesen von Di Cesare bestätigt. La Repubblica ist »lau« in der Auseinandersetzung mit dem Fall Heidegger, auch deswegen, weil sie die Berichterstattung über die ganze Angelegenheit ihrer »besseren Hälfte«, der Zeitschrift l’Espresso überläßt. Die von Mondadori di Segrate herausgegebene konkurrierende Wochenzeitschrift Panorama hat die Frage mit einem Kurzinterview von Alessandra Iadicicco in der online-Edition54 schnell abgeurteilt, wohingegen l’Espresso den Chefredakteur seiner Rubrik Kultur Wlodek Goldkorn und Gianni Vattimo in die vorderste Front rückt. Goldkorn diskutiert über den »metaphysischen Antisemitismus« in einem Gespräch mit Di Cesare, in dem er daran erinnert, wobei er seine Gesprächspartnerin paraphrasiert, ohne von ihr zu stark abzuweichen, daß Heideggers Philosophie »funktionsgerecht« sei, »weil sie die Katastrophe des Abendlandes bestätigt«. Diese Annahme übertrifft jegliche Vorstellung: antisemitische Andeutungen sind höchstens nur den Heften zuzuschreiben, die erst jetzt ans Tageslicht kommen. So wird diesbezüglich von Herrmanns Mißbilligung mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: »Die Aussage Goldkorns ist strikt zurückzuweisen. Judenkritische Sätze gibt es in der Gesamtausgabe und damit im denkerischen Werk Martin Heideggers nicht. Die wenigen judenkritischen Sätze finden sich nur in wenigen ‹Notizbüchern›, deren Kontext bei Heidegger die Kritik am rationalen Denken der Moderne ist und gerade mehrheitlich Nichtjuden einschließt. Wer Heidegger wirklich versteht, weiß, dass Heideggers Denken gegen den drohenden Untergang des Abendlandes und gegen den Nihilismus ankämpft«.
Gehen wir aber über das Warngeschrei der Verleumder Heideggers hinweg, die ihm historische Verantwortungen zuschreiben aufgrund einer ständigen Verwechslung der philosophischen und der, andererseits, ideologischen, politischen und gar historischen Ebene. In ihrem Bekenntnis-Interview wiederholt Di Cesare ihre Thesen, in denen sie Faye weiter ignoriert: sie sei darüber erstaunt, daß bis jetzt noch niemand das Einverständnis des Denkers mit dem Nationalsozialismus ernst in Erwägung zog, »außer einigen Polemiken, wurde es für eine Art „Seitensprung“ gehalten (so Gadamer)«55 – schreibt Goldkorn. Dieser macht einen Fehler, indem er die Studien von Faye als banale »Polemiken« herunterstuft. Die Rolle der römischen Philosophin übertreibt Goldkorn, die er aufs Podest hebt, und läßt willentlich die scharfen Heidegger-Kritiker aus, die lange vor ihr ihre Stimmen erhoben haben. Goldkorn verhindert dennoch das Schlimmste, indem er das von
53 Vgl. C. Augias, La versione di Heidegger, in: la Repubblica (12. Februar 2015), S. 32; Le responsabilità della filosofia, in: la Repubblica (17. Februar 2015), S. 28; Heidegger, lo sterminio e il destino, in: la Repubblica 20. Februar 2015, S. 34. 54 A. Iadicicco, Fantasmi della memoria fra Heidegger e Celan. L’antisemitismo del filosofo torna sotto i riflettori. Mentre arrivano i suoi Quaderni neri ed esce un libro su un incontro impossibile, in: Panorama, 27. Januar 2014. 55 Nach von Herrmann ist »Gadamers Urteil vollkommen richtig und zuverlässig«.
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Adriano Fabris56 herausgegebene Buch Metafisica e antisemitismo zitiert, das auch einen Beitrag von Trawny einschließt. Diese Gelegenheit wird aber von Di Cesare beim Schopf ergriffen, damit sie sich als Nicht-nur-Mitläuferin absetzen kann: »Trawny entgeht die Kontinuität des deutschen philosophischen Denkens, das in Heid egger mündet. Übrigens hat bis jetzt niemand die Geschichte des Antisemitismus in der abendländischen Philosophie geschrieben, es wäre doch an der Zeit, sie zu schreiben«.
Unbegründet ist auch diese Äußerung: diesbezüglich wurde Di Cesare von Bertoletti dementiert, der in einem schon zitierten Artikel des Avvenire erklärt, ein Buch über die Geschichte des Antisemitismus gäbe es schon. Dann fährt Di Cesare mit dem abgedroschenen Diskurs fort: »Ohne Heideggersche Kategorien wie „Fabrikation von Leichnamen“, „Beherrschung durch die Technik“ und dergeichen bleibt Auschwitz dem Denken unzugänglich. Und die Welt ebenso unverständlich«.
Der Kurs wird von Gianni Vattimo verändert. In der nächsten Woche »erklärt« Vattimo im l’Espresso, der Philosoph sei »unentbehrlich«57; »bezüglich der Schwarzen Hefte von Martin Heidegger ist vielleicht die äußere Geschichte interessanter als der philosophische Inhalt«. Damit deutet er auf die »ent-cesar-ierte«58 (»decesariana«) Lektüre der Hefte hin, die sie »als ein Zeugnis der Epoche beleuchte, in der ein entscheidender Teil der Kultur des 20. Jahrhunderts wiederaufgenommen wird«. Abseits vom Spannungsfeld des für oder wider Heidegger zieht er es vor, dessen Denken wiederaufzunehmen – das in der querelle untergegangen ist. Soll denn Heidegger die Absolution erteilt werden ? Ja und nein. Ja in dem Sinne, daß die Geschichte der Philosophie ohne ihn nicht auskommen kann. Nein in dem Sinne, daß er der Versuchung erlag – welcher Versuchung ? –, »derjenigen der späteren Einsicht des 18. Jahrhunderts, auch schon bei Hölderlin bezeugt, wonach Deutschland […] ein neues vorsokratisches Griechenland sein könnte«. Und so wurde er zu einem verhängnisvollen Irrtum verführt: »Denken, daß dieses neue Griechenland das Deutschland von Hitler sein könnte«. Nach von Herrmann ist eine derartige Angleichung nicht nur kühn und riskant, sondern ebenso ist sie durch nichts zu rechtfertigen: »Zutreffend ist, daß Heidegger im Anschluss an Friedrich Hölderlin in seinem Denken des anderen Anfangs die Zukunft des Abendlandes in einem Anschluß an das vorsokratische Griechenland denkt. Niemals hat dieser Gedanke mit Hitler etwas zu tun. Jene Behauptung von Vattimo ist eine boshafte Verfälschung des Denkens Martin Heideggers.« 56
S. oben, Fußnote 44. G. Vattimo, Heidegger antisemita indispensabile. Un grande filosofo e un pensiero sotto accusa. Vattimo risponde all’intervista sui „Quaderni neri“ pubblicata nel numéro scorso, in: l’Espresso, 11. Dezember 2014, S. 109. 58 [Das Wort „decesariana“ ist offensichtlich ein Wortspiel zwischen „[D]i Cesare“ und „[Iulius] Caesar“, auf italienisch auch „Cesare“ genannt. So wird uns von Gianni Vattimo zu verstehen gegeben, daß eine Lektüre der Hefte ohne „Cäsarismus“, nicht mehr „kaiserlich“ gesinnt, auch möglich ist, und vielleicht auch, daß D. Di Cesare eine „imperialistische“ Figur in der Interpretation von Heidegger in Italien geworden ist. Übers.] 57 Vgl.
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Mit soviel Ideologie gewürzt rückte die Philosophie auf einen scheinbar günstigeren Boden, denjenigen der Verlagsgruppe L’Espresso. MicroMega, die alle zwei Monate erscheinende links angehauchte (von Paolo Flores d’Arcais geleitete) Zeitschrift hat eine Sonderausgabe dem »Fall« gewidmet, in der verschiedenartige Aufsätze veröffentlicht wurden. Hier sei über diejenigen berichtet, die im März 2015 erschienen. Flores d’Arcais verläßt sich auf den größten Spezialisten des mutmaßlichen Nationalsozialismus Heideggers, auf keinen anderen als Emmanuel Faye59, auf den schon erwähnten Richard Wolin60 sowie auf Stefano Azzarà61, einen akademischen Forscher an der Universität Urbino. Die These von Azzarà läßt sich in ein paar Zeilen zusammenfassen: Politik sei der interessanteste Teil der Philosophie Heideggers, und eben deswegen ist er zu verwerfen. »Anspruchsvoll, dazu äußerst reaktionär – so waren die Erwartungen, die Heidegger auf den Nationalsozialismus gründete62«. Übrigens, fährt er fort, seien der Nationalsozialismus und dessen Philosophie in »völliger Übereinstimmung«. »Die Feindseligkeit gegenüber der Demokratie und dem Gleichheitsprinzip, die Verneinung des allgemein menschlichen Gattungswesens, die Theorie und praktische Umsetzung der kolonialen Vernichtung – alles, was aus dem Nazismus den letzten und stärksten konterrevolutionären Meinungstrend der Neuzeit macht«. Nach Azzarà wurde wohl der Philosoph vom Nationalsozialismus enttäuscht, aber in dem Sinne, daß »seine großen Hoffnungen auf einer Radikalisierung der Bewegung beruhten«63.
Darauf hat von Herrmann unverzüglich reagiert: »Azzarà irrt gewaltig. Das Interessanteste an Heideggers Philosophie ist vielmehr sein reines ontologisches Denken, das er zwischen 1932 und 1944 in seinen sieben großen Abhandlungen zur Geschichte des Seins verfasst hat. Dieser Hauptweg seines Denkens in dem genannten Zeitraum ist in jedem einzelnen Gedankenschritt völlig frei von politischen Ideen und politischen Zielen und enthält nicht einen einzigen Juden-kritischen Satz. Diese Einsicht kann allerdings nur derjenige gewinnen, der sich der Mühe unterzieht, diese sieben Abhandlungen im ganzen gründlichst zu lesen. Auch privat hatte Heidegger keinerlei konterrevolutionäre Gedanken«.
Übrigens zeigt Azzarà ein geringes Vertrauen in die Untersuchungen von Di Cesare, weil wegen »Fehlens an Hinweisen auf Biologismus in den Texten«64 sich das Delikt des Nationalsozialismus nur schwer Heidegger zuschreiben läßt. Der Vollständigkeit halber ist noch hinzuzufügen, daß Azzarà etwas Falsches erklärt, indem er schreibt, Heidegger habe »sicherlich die Juden nicht geliebt und war auch 59 Vgl. E. Faye, Essere e svastica. Heidegger, l’antisemitismo, l’affermazione dell’essenza tedesca, l’autoannientamento del nemico, in: Ital. übers. von P. Godani, in: MicroMega 2 (2015), S. 98 – 115. 60 Vgl. R. Wolin, La coerenza filosofica del nazismo di Heidegger, ins It. übers. v. E. Piromalli, in: Micromega 2 (2015), S. 126 – 142. 61 Vgl. S. G. Azzarà, Heidegger „innocente“: un esorcismo della sinistra postmoderna, in: MicroMega 2 (2015), S. 116 – 125. 62 Ebd., S. 123. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 121.
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dazu bereit, sie zu diskriminieren«65, womit Azzarà seine Unkenntnis des Lebensweges Heideggers beweist. Auch hier will von Herrmann auf eine Tatsache hinweisen, von der es kein Zurück mehr gibt: »In der Tat lehnt Heidegger jeglichen Rassismus und Biologismus grundsätzlich ab, wie es in seinem Gesamtwerk offensichtlich ist. Heidegger hatte sehr viele jüdische Schüler, die auch seine Freunde waren. Auch seine Familie hatte viele Bekanntschaften mit Juden. So kam eine Diskriminierung von Juden für ihn überhaupt nicht in Frage«.
Jetzt kommt Richard Wolin an die Reihe, dem wir schon im Corriere in einer unangenehmen Situation begegneten. Ihm begegnen wir so wieder, aber diesmal hat er gelindere Saiten aufgezogen, obwohl er im Wesentlichen sich selbst treu bleibt. Er begeht einen Fehler in der Zählung der Hefte, die von ihm irrtümlicherweise auf 33 (statt 34) beschränkt werden, und fängt wieder damit an, seine zwanghaften Beschuldigungen gegen Hermann Heidegger und Friedrich-Wilhelm von Herrmann zu erheben, die Jahrzehnte hindurch das Vorhandensein der Schwarzen Hefte verborgen« hätten66. Wolins Diskurs klingt genauso wie derjenige von Azzarà: Heidegger sei nicht vorzeigbar, sondern verwerflich, weil »die harte Kritik an der Vernunft, an der Subjektivität, an der modernen Technik und am Verfall der abendländischen Kultur zur selben Sichtweise auf die Welt gehören […], die der Vernunft, der Demokratie und dem Individualismus ablehnend gegenüber steht«67.
Es lohnt sich, bei dem zu verweilen, was von Herrmann dazu sagt: damit hilft er uns, Heideggers Entwurf wie die richtige Einordnung der Notizbücher besser zu verstehen: »Für Heideggers Denken reicht die überlieferte Definition der Vernunft des Menschen nicht aus; deshalb bedarf es für ihn, wie wir es in seinem Denken finden, einer Erweiterung des Vernunftbegriffes. So entwirft er einen ursprünglicheren Begriff von Vernunft, die daseinsgemäße vorwissenschaftliche Vernunft und die hermeneutisch-phänomenologische wissenschaftliche Vernunft. Weil Heidegger seit „Sein und Zeit“ und auch im seinsgeschichtlichen Denken das Selbstsein des Menschen denkt, geht der Vorwurf, er sei gegen Individualismus, fehl. Da Begriff und Sache der Demokratie eine Schöpfung des antiken Griechenlands sind, denkt Heidegger nicht gegen die Demokratie als solche, sondern nur gegen ihre Verfallsform, in der Heidegger die Vermassung der Menschen und dadurch den Verlust ihres Selbstseins (Subjektivität) beklagt. Heidegger denkt nicht gegen die moderne Technik als solche an, sondern analysiert in prophetischer Weise die Gefahren ihrer zerstörerischen Folgen. Man denke an einen der berühmtesten Schüler Heideggers, Hans Jonas, Jude, der das berühmte Buch über die Verantwortung im modernen Zeitalter geschrieben hat, das auf Heideggers Denken zurückgeht. Ebenso denkt Heidegger nicht an die Überwindung der westlichen Zivilisation, sondern nur an die Überwindung der mit ihr verbundenen Gefahren.
65
Ebd., S. 118. R. Wolin, La coerenza filosofica del nazismo di Heidegger, S. 126. 67 Ebd., S. 133. 66
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Nun zu den 34 Schwarzen Heften: Wie alle unveröffentlichten Manuskripte Martin Heideggers erst öffentlich zugänglich werden sollten durch ihre Veröffentlichung in der Gesamtausgabe, ebenso sollten nach Heideggers Testament seine schwarzen Wachstuchhefte erst nach Abschluß der Gesamtausgabe veröffentlicht und dadurch zugänglich gemacht werden. Diese ‚Notizbücher‘ sollten nach Heideggers Festlegung allein deshalb den Abschluß bilden, weil sich ihr philosophischer Inhalt weitgehend als Ergänzung auf die vorher erschienenen Bände der Gesamtausgabe bezieht. Allerdings ist die HeideggerGesamtausgabe auch ohne die ‚Notizbücher‘ voll verständlich. Der politische Inhalt der ‚Notizbücher‘ hat allerdings überhaupt keinen sachlichen Bezug zum rein philosophischen Gehalt der voraufgehenden Bände der Gesamtausgabe«.
Wenn wir zu Wolin zurückkehren, bleibt nichts anderes übrig, als dessen schwere Kritiken an Heidegger zu verzeichnen, die es verdienen, einer philosophischen und nicht einer ideologischen Kritik unterzogen zu werden. Der Zauberer von Meßkirch sei »vom Bolschewismus, vom Nationalsozialismus und von den „abscheulichen Aktionen“ des „Weltjudentums“ ›besessen‹ gewesen« 68; dessen politische Überzeugungen seien als »skandalös«69 zu verwerfen; die Schwarzen Hefte – und hier sind wir im Gebiet der fiction – »dokumentieren die Ausarbeitung einer umfangreichen ‘geheimen Lehre’, die der Philosoph in der Einsamkeit seiner Hütte im Schwarzwald festlegte«70: Heidegger hat »Der Untergang des Abendlandes« von Oswald Spengler gelesen und schreibt in den Schwarzen Heften: »Ich habe keinen Beweis gefunden, der nachwiese, daß Spengler sich geirrt hat.«71; eine schwerwiegende Schuld soll das sein, weil das betreffende Buch von Spengler »eine wahnsinnige Interpretation des europäischen Unterganges enthält«72. So wäre »Heideggers Fundamentalontologie gründlich und hoffnungslos ideologisch«73 Und so wäre diese Fundamentalontologie etwa mit der Art und Weise vergleichbar, wie Wolin sie liest, der gar kein Philosoph ist und, wie gewohnt, die Ebenen durcheinanderbringt. Nur steht fest, daß er Heideggers geistige Umkehr im Jahre 1934 totschweigt, als dieser von seinem Amt als Rektor in Freiburg zurücktrat und sich vom Nationalsozialismus entfernte. von Herrmanns Erklärungen stumpfen die Waffen derjenigen ab, die Heidegger als zu eng mit dem Nationalsozialismus verbunden verurteilen: 68
Ebd., S. 127.
69 Ebd. 70
Ebd., S. 128. S. 131. [Wie gewohnt ohne Quellenangabe, und zwar aus gutem Grund. Im 36. Abschnitt der Überlegungen VIII wird wohl Oswald Spengler erwähnt und diskutiert (Überlegungen VII – XI (Schwarze Hefte 1938/39) Gesamtausgabe, Band 95, S. 137 – 140). Auf der Seite 140 dieses Bandes steht geschrieben: »[…] ist es gerade verkehrt, zu meinen, mit gelehrten Widerlegungen Spengler „erledigen“ zu können; er ist nicht zu erledigen, solange nicht der Bereich der Besinnung auf Nietzsches Denken vorverlegt wird […]« (kursiv von mir). Daraus geht eindeutig hervor, daß R. Wolin den Sinn dieser Textstelle bewußt verfälscht. Übers.] 72 Ebd. 73 Ebd., S. 133. 71 Ebd.,
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»Es gehört zum Wesen sowohl der nationalsozialistischen wie auch der kommunistischen Diktatur, daß ein Parteimitglied niemals die Parteimitgliedschaft aufgeben kann, ohne nicht dadurch verfolgt zu werden. Ein Austritt aus der Partei gilt als Opposition gegen das Regime und führt zur Verhaftung. Als Heidegger vorzeitig das Rektorat niederlegte aus Ablehnung des Nationalsozialismus, mußte auch er aus den genannten Gründen bis zum Ende des Regimes in der Partei bleiben. Daher wurde seine geistige Umkehr nicht offensichtlich«.
Dahingegen ist der Aufsatz von Emmanuel Faye, dem großen Ankläger von Heidegger, für den die Hefte gar keine Zeitbombe sind, besser belegt. »Man brauchte nicht die Publikation der Hefte abzuwarten, um dessen gewahr zu werden«74. Wessen ? Der Tatsache, daß Heideggers Antisemitismus »seit längerer Zeit aufgrund vieler Zeugnisse, Briefe und eigenhändiger Texte gut dokumentiert«75 sei. Das hier Angedeutete vertieft Faye im Corriere. Pedantisch prüft er Heideggers Briefe: den Brief an dessen Braut Elfride vom 16. Oktober 1916, denjenigen an Victor Schwœrer von 1929, den Ausschlußbrief bezüglich des jüdischen Philosophen Richard Hönigswald aus der Universität München, um nicht auch noch zu sprechen von seiner Lesart der Vorlesung im Wintersemester 1933 – 34 »Vom Wesen der Wahrheit« oder der nicht gehaltenen Vorlesung von 1941 – 42 über »Nietzsches Metaphysik«. – Die medienwirksame von Trawny und Di Cesare ausgeheckte affaire spielt Faye herunter, und er schreibt schwarz auf weiß, daß beide gerade nicht das Pulver erfunden haben. Zunächst handle es sich nicht um Antisemitismus: wie von den Nationalsozialisten werden auch von Heidegger angegriffen »nicht nur der Liberalismus, sondern auch das „katholische System“, das in München noch vorherrschend gewesen wäre […]. Es ist nicht erstaunlich, daß Heidegger in der Vorlesung des Sommersemesters 1932 das „jüdische Christentum“ angreift, das das griechische Denken verändert und verfälscht haben soll«76.
Sein j’accuse77 gilt dem deutschen Herausgeber der Hefte und dessen italienischer Mitläuferin: »Man möchte meinen, daß Peter Trawny […] und Donatella Di Cesare einige Auszüge aus dem Band 97 der Jahre 1942 – 1948 vor deren Publikation enthüllten, und dazu provozierende Meinungsäußerungen hinzufügten. Heideggers beunruhigendste Behauptungen werden uns so dargestellt, als wären sie „die Gelegenheit [für die Philosophie], die Shoa in ihrem Abgrund zu denken“78, erwidert er auf einen Artikel von Di Cesare, der im Corriere erschien79. Der römischen Philosophin nach sei Heidegger unentbehrlich, um die Shoa zu verstehen, Vgl. E. Faye, Essere e svastica, S. 98. Ebd., S. 100. 76 Ebd., S. 102. 77 [Bezieht sich auf den Titel des offenen Briefs, den der Dreyfus verteidigende französische Schriftsteller Émile Zola an den Präsidenten der Republik während der Dreyfus-Affäre schrieb (“ich klage an“), wie er im Titelblatt der frz. Tageszeitung l’Aurore am 13. Januar 1898 erschien. In der Rolle eines Staatsanwalts klagt Zola leitende Beamten an, die Drahtzieher eines Komplotts zu sein. Übers.] 78 Ebd., S. 107 – 108. 79 Vgl. D. Di Cesare, Heidegger: gli ebrei si sono autoannientati. 74
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»als könnte das Heideggersche Thema der Selbstvernichtung des jüdischen Volkes ein erläuternder Beitrag dazu sein […]. Wenn man diesen zwei Autoren folgt, dann würde das philosophische Denken zur Geisel der schlimmsten Behauptungen des Verfassers der Schwarzen Hefte werden«80.
Hier ist endlich der Raum für eine Debatte, der sich merkwürdigerweise Trawny und Di Cesare entziehen. Rom ist auch die Stadt der katholischen Tageszeitungen. L’Osservatore Romano läßt es bei einer Besprechung bewenden, wohingegen Avvenire der vexata quaestio der Notizbücher Raum einräumt. Die Vatikan-Tageszeitung verläßt sich auf Cristiana Dobner81, die Heidegger e gli ebrei bespricht und sich mit den Thesen von Di Cesare zufrieden gibt: »Die Auffassung der Geschichte als Geschick und die Übernahme eines Gemeinschaftsprinzips ebnen den Weg für ein Führerprinzip«; dennoch hebt Dobner die Kontinuität von Faye zu Di Cesare hervor und weist darauf hin, daß die Lektüre der Hefte der Jahre 1941 bis 1969 noch abzuwarten sei. Warum denn nur bis dahin ? Dieses seltsame Datum verrät nur, daß Dobner nicht sehr gut informiert ist, nämlich über die Zeitspanne der Abfassung der Schwarzen Hefte. Das, was Dobner schreibt, vermutlich nur aufgrund des Buches von Di Cesare als einziger Quelle, macht von Herrmann völlig ratlos: »Wie weit Cristiana Dobner das Schrifttum Martin Heideggers je gelesen hat, möge dahingestellt bleiben. Jedenfalls weiß weder sie noch Donatella Di Cesare, daß Heideggers seinsgeschichtlicher Begriff des Geschickes direkt auf den Vorsokratiker Parmenides zurückgeht, der im Fragment 8 seines Lehrgedichtes von der Moira spricht, auf die sich Heidegger bezieht. Das schickende Geschick der Wahrheit des Seins hat nichts mit einem Prinzip der Gemeinschaft zu tun, sondern ist ein rein ontologischer Begriff, so wie die göttliche Fügung ein rein theologischer Begriff ist. Ebensowenig hat der Begriff des Geschickes, also der altgriechischen Moira, irgendetwas mit einem Führerprinzip zu tun. Derartige Behauptungen der Frau Di Cesare und der Rezensentin verraten eine philosophische Ahnungslosigkeit. Die übrigen schwarzen Wachstuchhefte von 1941 bis 1976, nicht ’69!!, enthalten selbst nach Mitteilung von Peter Trawny keinerlei weitere Juden-bezogene Äußerungen«.
Die Tageszeitung des italienischen Bischofsamts Avvenire haben wir schon erwähnt, und zwar bezüglich des Artikels von Bertoletti, worauf der Journalist Edoardo Castagna in einer zweistimmigen „Debatte“ erwidert; dieser ist auch der Autor von Ariani. Origine, storia e redenzione di un mito che ha insanguinato il Novecento.82 Dieser tritt für die These von Di Cesare ein und bemerkt, »der systematische Antisemitismus des Denkers« sei in den Heften bezeugt. Das Thema ist E. Faye, Essere e svastica, S. 108. C. Dobner, Un antisemitismo metafisico, in: L’Osservatore Romano, 3. März 2015, S. 5. 82 Vgl. E. Castagna, Ariani. Origine, storia e redenzione di un mito che ha insanguinato il Novecento [Arier. Ursprünge, Geschichte und Erlösung eines Mythos, wodurch das 20. Jahrhundert in Feuer und Blut versank], Medusa, Mailand 2012. 80
81 Vgl.
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schon Castagna im November angegangen, in einem Kurzartikel83, in dem er für die These des »metaphysischen Antisemitismus« bei Di Cesare wie für diejenige des »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« bei Trawny eintritt, in Richtung einer totalen Verurteilung von Heidegger. Er folgt der verbreiteten öffentlichen Meinung, wonach Heidegger nie aus der NSDAP ausgetreten sei, demzufolge betreffe »die ganze Polemik die philosophische Tragweite seines eigenen Nationalsozialismus«84, dessen Knoten die »philosophische« Tragweite der Shoa ist. Eine derartige Lektüre ist aber nicht einwandfrei und muß aufgrund konkreter Tatsachen und Einwände bestritten werden, die dem breiten Publikum entgehen mögen. Darauf erwiderte von Herrmann mit einer Antwort, die auch ein Zeugnis ist, das hier sorgfältig wiedergegeben wird: »Die Autoren der Zeitschrift Avvenire irren mit Donatella Di Cesare und Peter Trawny in kaum zu überbietender Weise. Die wenigen Juden-kritischen Bemerkungen der großen deutschen christlichen Philosophen Kant, Fichte und Hegel folgen keinem metaphysischen Antisemitismus, sondern ihre Äußerungen haben, wenn überhaupt, nur den Charakter eines christlichen Antijudaismus. Selbst der zum Christentum konvertierten Edith Stein ist dieser Gedanke nicht fremd, wenn sie auf dem Wege zur Deportation ihrer Schwester gegenüber äußert: „Komm, wir gehen für unser Volk“. Aber auch für Heidegger ist der Begriff des metaphysischen Antisemitismus, den Di Cesare gebraucht, völlig verfehlt, da seine Juden-bezogenen Textstellen keinen Antisemitismus darstellen, sondern lediglich eine Einbeziehung des Finanz- und Wirtschaftsjudentums in seine Kritik an der Moderne mit ihrem rechnenden Denken. Ebenso gibt es bei Heidegger keinen seinsgeschichtlichen Antisemitismus, wie Peter Trawny fälschlich behauptet, weil das seinsgeschichtliche Denken überhaupt nichts mit einem Antisemitismus zu tun hat. Wie oben schon erwähnt, können nur Menschen, die keinerlei Diktatur erlebt haben, die naive Meinung vertreten, Heidegger habe nach Rücktritt vom Rektorat nach zehn Monaten aus innerer Abkehr vom Nationalsozialismus die Parteimitgliedschaft auch äußerlich niederlegen können. Ohne sein eigenes Leben und das seiner Familie zu riskieren, ist das unter solchen Umständen nicht möglich. Ich selber bin in einem regimekritischen Pfarrhaus in der Nazizeit aufgewachsen – die Gestapo bewachte jede Predigt meines Vaters – und habe diese Konfliktsituationen bei Anderen wiederholt erlebt.«
Castagna zitiert Friedrich-Wilhelm von Herrmann, nach welchem – so Castagna – die Schwarzen Hefte »völlig belanglos« wären, wie sie auch Jean-Pierre Faye85 erwähnt. von Herrmann hat so etwas aber nie gesagt, und darauf reagiert er mit folgenden Worten:
83 Vgl. desselben Verf., Il nazismo filosofico di Heidegger, in: Avvenire, 13. November 2014, S. 23. 84 Ebd. 85 [Jean-Pierre Faye (geboren 1925) ist der Vater von Emmanuel Faye. In Frankreich ist er auch als Heidegger-Kritiker bekannt. Übers.]
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»Jean-Pierre Faye ist mir unbekannt. In der Tat, aus meiner umfassenden Kenntnis des denkerischen Gesamtwerkes Martin Heideggers ist es mir möglich, die Feststellung zu treffen, daß der Inhalt der Schwarzen Wachstuchhefte zum Verständnis des denkerischen Werkes Heideggers verzichtbar ist. Denn die ‚Notizbücher‘ gehen in ihren rein philosophischen Teilen nicht über den Gedankengehalt von Heideggers Gesamtwerk hinaus. Heideggers Denken hat man nur dann erfaßt, wenn man die Bände der Gesamtausgabe, die den neun Bänden der ‚Notizbücher‘ vorausgehen, ernsthaft studiert hat, genauso wie man Kants oder Hegels Denken nur dann beherrscht, wenn man deren Hauptwerke aufs Gründlichste durchgearbeitet hat. Die hier und da aufgetauchte Meinung, daß Heideggers Abhandlungen, Vorlesungen und Vorträge im Lichte der ‚Notizbücher‘ neu gelesen und verstanden werden könnten, ist eine absolut irrige Meinung. Vielmehr verhält es sich umgekehrt. Was die ‚Notizbücher‘ an philosophischen Gedanken enthalten, ist zureichend nur durch die Kenntnis der Abhandlungen und Vorlesungen zu verstehen. Die Schwarzen Wachstuchhefte sind den Schriften des Hauptdenkweges nur nach- und untergeordnet. Der Satz ist von Castagna falsch zitiert: Ich habe in einer unveröffentlichten Stellungnahme zu den Schwarzen Heften geäußert, daß diese sogar im ganzen für das zureichende Verständnis des denkerischen Werkes Martin Heideggers verzichtbar sind«.
Aus einem anderen Holz geschnitzt ist Adriano Fabris’ Eingreifen, der Moralphilosophie an der Universität Pisa lehrt und dessen Aufsatz über die Schwarzen Hefte86 demjenigen von Di Cesare voranging, aber kein so großes Aufsehen erregte. In seinem literarischen Artikel87, in dem er zugleich Aristoteles und Wittgenstein zitiert, wird im Lichte der vierzehn (14) fraglichen Textstellen der Hefte Heidegger vorgeworfen, er sei dem damaligen Geschehen gegenüber blind geblieben. Dennoch will er den Denker weder ausschalten noch verunstalten. Wenn es auch stimme, daß die beanstandeten Textstellen »das philosophische Denken zu einer bloßen Ideologie herabsetzen«, solle dennoch »das Grundthema der Aufgabe und der Verantwortung der philosophischen Forschung« befragt werden. Im Artikel von Massimo De Angelis88 finden wir einen zukunftsorientierten, langatmigen Text über Heidegger als Denker, um ihn dann mit ein paar Zeilen als nicht vorzeigbar zu verbannen. Heideggers Antisemitismus vergleicht er mit dem von Nietzsche, dessen Zielscheibe stattdessen das Christentum war. Er zitiert Heideggers »Holzwege«89, in dem die »Vollendung des Nihilismus« als unvermeidlich thematisiert wird. Aber, erklärt er, »Heidegger ist kein Apostel des Antisemitismus. Den hat er gedacht (nicht aber entworfen), wie er auch den Nationalsozialismus gedacht hat. Beide hat er nicht als Wahnsinn 86 Vgl. A. Fabris, Heidegger. L’ambiguità della decisione tra filosofia e politica, in: Metafisica e antisemitismo, S. 109 – 128. 87 Vgl. desselben Verf., Quell’odiosa »cecità« di Martin Heidegger, in: Avvenire, 10. Februar 2015, S. 21. 88 Vgl. M. De Angelis, Heidegger, l’antisemitismo e la lezione di Nietzsche, in: Avvenire, 17. April 2015, S. 13. 89 M. Heidegger, Holzwege, Gesamtausgabe Bd. 5, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klo stermann, Frankfurt a. M. 1977.
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sondern als Krankheit gedacht, als philosophische Tragödie des mit dem Tode Gottes entstandenen Europas, die dann „psychoanalytisch“ aufs jüdische Volk übertragen wurde«.
Alles in allem ist Avvenire die einzige Zeitung außer dem Corriere, in dem die Schwarzen Hefte einen großen Erfolg gehabt haben. Bemerkenswert ist die Publikation eines Auszugs aus dem Band Cento anni di filosofia90 von Giovanni Reale und Dario Antiseri. Dieser Auszug91 berichtet unverblümt von den Hauptmomenten der Zustimmung von Heidegger zum Nationalsozialismus und auch u. a. von einem Brief an Karl Jaspers von 1933 wie vom »Anruf an die Studentenbewegung« desselben Jahres. Kehren wir aber auf Massimo De Angelis zurück, der im Vorjahr eine Besprechung von Heidegger e gli ebrei in Il Foglio veröffentlicht hatte92. Wenn die These des metaphysischen Antisemitismus vorstellbar ist, so ist es hingegen »problematisch und beunruhigend, darüber hinwegzutäuschen, daß Parmenides und Abraham unvereinbar sind, und damit die Wurzeln des europäischen Geistes«. Die Einsicht, der Antisemitismus sei der Eckpfeiler des Denkens von Heidegger, baut er ab: »Der Eckpfeiler der Schwarzen Hefte ist er auch nicht, in denen die Begriffe wie „Jude“ und „Judentum“ vierzehn Mal vorkommen«. Die von Giuliano Ferrara gegründete Tageszeitung Il Foglio interessiert sich für das Buch von Di Cesare. Dem widmet er einen zweiten von Angiolo Bandinelli93 verfaßten Artikel, der Dokumente aus dem »Friedhof der Zeitungsausschnitte zum Thema Antisemitismus bei Heidegger« ausgräbt – und dabei gar einen Artikel aus der Feder von André Glucksmann in einer Nummer des Corriere des Jahrganges 1987 wiedergefunden hat – im Versuch, die Kontroverse zusammenzufassen, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte. In Bandinellis Augen ist die von Di Cesare ausgeführte Analyse »eines Syndroms, das sich durch das gesamte deutsche Denken seit Luther hindurchzieht« von erheblicher Bedeutung; ihm falle es schwer, über »das peinliche Schweigen« der anderen Rezensenten hinwegzusehen, die dieses Syndrom ignoriert haben und sich vor allem auf Heidegger konzentrierten. Vom Verfasser von »Sein und Zeit« ist im Artikel viel die Rede, aber nur als abschließende Synthese der langen Geschichte des Antisemitismus in Deutschland. So wird Heideg ger nicht freigesprochen. Allerdings werden dessen Lebensbedingungen in den weiteren »irrationalen, nihilistischen« Kontext der Kultur und der Philosophie des 20. Jahrhunderts eingeordnet. Vgl. G. Reale – D. Antiseri, Cento anni di filosofia, vol. 1, La Scuola, Brescia 2015. Vgl. ders., Heidegger senza senso di colpa. Il caso: Continua a far discutere la scelta del grande filosofo tedesco a favore di Hitler e del nazismo. Non ebbe mai pentimenti e a nulla servì il tentativo di Karl Jaspers di ottenere da lui una »ritrattazione«, in: Avvenire, 26. Februar 2015, S. 24. 92 Vgl. M. De Angelis, L’antisemitismo metafisico di Heidegger rivelato nei suoi »Quaderni neri«, in: Il Foglio, 2. Dezember 2014, S. 2. 93 Vgl. A. Bandinelli, Il crematorio di Heidegger. Antisemita e nichilista, il filosofo tedesco ha plasmato la cultura irrazionale del Novecento. E l’ombra della sua filosofia ancora si allunga sulla Germania di oggi, in: Il Foglio, 27. Februar 2015, S. IV. 90 91
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Eine Stimme, die anders klang, war wohl in Il Fatto Quotidiano zu hören, der sich auf die Feder von Marco Dolcetta94 verließ. Di Cesare vermied und damit auch innere Spannungen über die Hefte auf der italienischen Halbinsel. Dozent für Philosophie an der École des hautes études en sciences sociales von Paris verlagert Dolcetta das Schwergewicht in Frankreich, zur Zeit, in der die Publikation der von Trawny herausgegebenen Hefte bevorstand. Er befragt seinen Kollegen Alain Badiou der École Normale Supérieure, der die ganze querelle ganz lächerlich findet: »Nieder mit denjenigen, die sich in der Reinigung der Philosophie als Chefs aufspielen; in Sachen Politik mag Einer in seinem Leben eine gute oder schlechte Wahl getroffen haben, demzufolge wird dessen Größe als Philosoph nicht für ungültig erklärt und der Philosophie selbst ist die politische Richtung gleichgültig«.
Die auch links angehauchte Zeitung Il Garantista ist gar nicht der gleichen Meinung wie Alain Badiou. Dort finden wir Corrado Ocone wieder, der eine enthusiastische Besprechung95 des Buches von Di Cesare veröffentlicht hat: »ein Nachschlagewerk zum Thema ist es und wird auch bleiben«; auch deswegen, weil es »das erste Buch« sei, »das den Heften Rechnung trägt«. Wie andere Kommentatoren ignoriert Ocone das von Adriano Fabris edierte und hier schon erwähnte Buch Metafisica e antisemitismo. I Quaderni neri di Heidegger tra filosofia e politica. Falsch ist aber, Heidegger habe die Hefte »als Krönung seines Gesamtwerkes« betrachtet – jene bestimmt Ocone als eine Art Potpourri bzw. bunte Mischung (Zibaldone96). Dieser riskanten Bestimmung gegenüber sagt von Herrmann: »Die Notizbücher sind gemäß ihrem Charakter Hefte, in die Heidegger von Zeit zu Zeit die seine Arbeit begleitenden philosophischen Gedanken eingetragen hat. Zusammengehalten werden alle philosophischen Gedanken in den Notizbüchern durch das dahinterstehende philosophische Werk, auf das sich die Notizen alle beziehen«.
Im Februar kommt Il Garantista zum eigentlichen Thema zurück und zitiert Auszüge aus einem berühmten Briefwechsel zwischen Heidegger und seinem hochgeschätzten ehemaligen Schüler Herbert Marcuse. Es handelt sich um drei Briefe, von denen zwei von Marcuse stammen, und von Herrmann bestätigt es: »Weitere Briefe dieser Korrespondenz zwischen Heidegger und Marcuse sind bisher nicht bekannt«.
M. Dolcetta, Heidegger l’antisemita in Francia, in: il Fatto Quotidiano, 8. November 2014, S. 18. 95 Vgl. C. Ocone, Basta scuse, Heidegger era antisemita. Il documentato e coraggioso saggio di Donatella Di Cesare pone la parola fine al dibattito. Oggi viene presentato a Villa Mirafiori (Roma, 14: 30). Con l’autrice Gaetano Lettieri, Giacomo Marramao e Paolo Vinci, in: Il Garantista, 18. November 2014, S. 15. 96 [Das (vermutlich mit zabaione etymologisch verwandte) italienische Wort zibaldone ruft in der italienischen Kultur das Denktagebuch (1817 – 1832) von Giacomo Leopardi auf, das unter dem Titel Zibaldone di pensieri veröffentlicht wurde. Heutzutage nennt das Wort meistens eine bunte Mischung, ein unzusammenhängendes Ganzes, ein Prévert würdiges „Inventar“ bzw. Bestandsverzeichnis. Übers.] 94 Vgl.
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In Rom finden wir Massimo Adinolfi im Messagero wieder. Über die dann brandaktuelle Angelegenheit erschienen zwei Artikel aus seiner Feder97. Der erste Artikel bezieht sich auf das Buch der römischen Philosophin, die etwas übertrieben als »zu den größten Spezialisten des Denkens von Heidegger« zu verzeichnen wäre. Nach Adinolfi ist die Veröffentlichung der Hefte im Rahmen der Gesamtausgabe dem Philosophen selbst zuzuschreiben; ob Heidegger in ihnen eine »nicht nur biographische« Tragweite erkannte, diese Frage bleibe dahingestellt. Nach von Herrmann entging doch Adinolfi ein wichtiger Punkt: »Weil Heidegger in dem Zeitraum von 1931 – 1976 immer wieder ergänzende und auch selbstkritische Gedanken zu seinen veröffentlichten und auch noch nicht veröffentlichten Manuskripten in seine ‘Notizbücher’ eingetragen hat, wollte er diese gesammelten Ergänzungen und Selbstkritiken in seiner Gesamtausgabe nicht missen und deshalb an deren Ende veröffentlicht wissen«.
In seinem zweiten Artikel konzentriert sich Adinolfi eher auf die dann in Deutschland bevorstehende Publikation der Schwarzen Hefte, die im Band 97 versammelt werden. Er erwähnt Gottlob Frege, einen der Väter der Logik im 20. Jahrhundert und zugleich einen notorischen Antisemit, der von derartigen Angriffen verschont blieb, und erklärt, die Angelegenheit der Hefte sei schwieriger und demzufolge sei es nicht erlaubt, »daraus übereilt zu folgern, Heidegger sei nicht der große Philosoph gewesen, für den er gehalten wird, wenn er auch Nationalsozialist war«. Hier wird Heideggers Loslösung vom Nationalsozialismus immer noch außer acht gelassen, und zwar auf Kosten der Wahrheit. Nach von Herrmann verfügen wir insbesondere im Band 97 über neue Elemente, woraus es sich ergibt, daß Heideggers vermeintliche Zustimmung zum Nationalsozialismus eine bloße Verleumdung ist. Sie würden von den Texten Heideggers widerlegt. So sei der Band 97 der Gesamtausgabe nach von Herrmann »Ein schlagender Beweis dafür, dass Heidegger sich vom Nationalsozialismus, diesen verurteilend, gelöst hat, sind die drei Textstellen aus GA 97: 1) das unverantwortliche Unwesen, mit dem Hitler in Europa umhertobte (S. 250) 2) der verbrecherische Wahnsinn Hitlers (S.444) 3) das verbrecherische Wesen Hitlers (S. 460) Aus den historisch-kritischen Analysen von Alfieri bezüglich dieses Bandes 97 ergibt sich, daß Heidegger eine ganz klare und eindeutige Haltung demgegenüber einnahm«.
Hinaufgehend auf der Karte der italienischen Presse nehmen wir jetzt die Richtung Genua98. Dort eschien in Il Secolo XIX ein Interview von Donatella Di Cesare. In der Inhaltsangabe wird nachgeplappert: »Die Dame, die Heideggers schwarze 97 Vgl. M. Adinolfi, Nazismo e antisemitismo, tutte le colpe di Heidegger, in: Il Messaggero, 4. Januar 2015, S. 20; desselben Verf., Heidegger l’antisemita e i conti aperti con la storia, il filosofo non fu solo colpevole di silenzio sul nazismo, per lui la Shoah fu l’»autoannientamento degli ebrei«, ebd., 9. Februar 2015, S. 19. 98 Vgl. A. Plebe, Viviamo ancora all’ombra di Auschwitz. Oggi a Genova la studiosa che ha svelato i Quaderni neri del filosofo Heidegger, in: Il Secolo XIX, 24. Februar 2015, S. 39.
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Seele ans Licht gebracht hat«. Es ist bekannt, daß der Spezialistin schon Trawny, Faye und eine Menge von Heidegger-Kritikern seit dreißig Jahren vorangingen. Der Artikel ist insofern bemerkenswert, als Di Cesare, kurz vor der Vorstellung ihres Buches im Herzoglichen Palast, sich nicht darauf beschränkt, ihre bis zum Überdruß wiederholten Thesen noch einmal zu wiederholen. Im Durcheinanderbringen der politischen und der philosophischen Ebene schwenkt sie die Fahne des linksradikalen Aktionismus. Sie fürchtet das Wiederauftauchen des Rassismus und stolpert über brandaktuelle Themen: »Wir befinden uns in einer sehr beunruhigenden Phase, weil Phänomene wiederauftauchen, die uns große Sorgen machen sollten. Wir Heutigen leben noch im Schatten von Auschwitz«. Zudem: »Einer der Hauptzüge der nationalsozialistischen Denkweise besteht darin, daß „man beschließen dürfe, mit wem man zusammenleben will“, und heutzutage taucht wie zufällig das Thema wieder auf, das Zusammenleben beruhe auf einer Wahl. Ich denke dabei an das Hauptthema Einwanderung, natürlich auch an die Internierungslager«. In dieser Hinsicht scheint die Forderung, Heidegger »erneut zu prüfen«, äußerst politisch zu sein, oder besser gesagt ein Vorwand für den politischen Aktionismus. Lächerlich und falsch ist freilich der Ausdruck »Internierungslager«: so etwas gibt es nicht in Italien. Auf den strittigen Punkt zurückkommend ist auch auf eine weitere Besprechung hinzuweisen, und zwar unter der Feder von Simone Regazzoni99, der Di Cesare in einer Art »goldener Mitte« unterbringt zwischen den anklagenden Übertreibungen von Faye und den Unterschätzungen von François Fédier in der Verteidigung von Heidegger – zwei Haltungen, die »dadurch beschränkt sind, daß sie das Thema Heidegger und Nationalsozialismus nicht philosophisch denken«. La Stampa von Turin hat die Angelegenheit der Hefte der Übersetzerin der italienischen Ausgabe, Alessandra Iadicicco, anvertraut. Damit befaßt sich die Germanistin zunächst in einem Artikel mit der Rezeption der Hefte in Frankreich100, dann in einem Artikel des Feuilletons101 über Heidegger e gli ebrei. Dieser ist besonnen, das Buch von Di Cesare wird positiv besprochen. In jenem gesellt sie sich dagegen zu Trawny und Di Cesare mit Hinweis auf »äußerst philosophische Betrachtungen, ausgesprochene und philosophisch begründete antisemitische Behauptungen«; ein »Denktagebuch« sei es, das Heidegger als »Krönung seines Gesamtwerkes« postum zu veröffentlichen geplant habe; so kommen die üblichen Äußerungen zurück, die auf keinen weder dokumentarischen noch philosophischen Beweisen be99 Vgl. S. Regazzoni, Le rivelazioni dei »Quaderni neri«, Heidegger il nazista, l’essere o l’ebreo. La studiosa Donatella Di Cesare indaga nel suo nuovo saggio di prossima uscita sull’antisemitismo metafisico del filosofo, in: Il Secolo XIX, 10. November 2014, S. 10. 100 Vgl. A. Iadicicco, Heidegger e gli ebrei, tutto quello che avreste voluto sapere. Preceduti da un crescendo di polemiche, ecco i Quaderni neri che il filosofo destinò alla pubblicazione postuma: tra argomentazioni ontologiche e odiosi stereotipi, in: La Stampa, 1. März 2014, S. 29. 101 Vgl. derselben Verf., Da Lutero a Heidegger le radice filosofiche dell’antisemitismo, in: La Stampa, 16. Dezember 2014, S. 35.
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ruhen. Iadicicco hat die Stirn, auf improvisierte Ausdrücke zurückzugreifen, und distanziert sich noch einmal von von Herrmann: »Keiner der philosophischen Gedanken in den Schwarzen Heften ist in irgendeiner Weise antisemitisch begründet. Das ist entweder ein totales Missverständnis aus Unkenntnis oder eine böswillige Verleumdung Heideggers. Das rechnende Denken der Moderne bezieht sich gerade nicht nur auf das jüdische Denken, sondern auf das neuzeitliche Denken im ganzen«.
Gehen wir doch auf Iadicicco zurück. Der Ton ihres Schlußteils ist bissig, dazu auch „farbig“, als sie den Skandal erwähnt, den die Hefte in Frankreich verursacht haben, wovon in Italien kaum die Rede war: erzählt wird der Protest von BernardHenri Lévy im Kino von Saint-Germain-des-Prés102 gegen die Publikation der Schwarzen Hefte; in dessen Fußstapfen traten sofort »Pariser Intellektuelle, deren Namen nicht angegeben werden, die sich dafür engagierten, »Druck auf die Erben und den deutschen Verleger des Philosophen auszuüben, damit so belastende Texte nicht veröffentlicht würden«. Hätte Heidegger das erfahren können, dann hätte er vermutlich darüber gelacht. Auf diese Pariser Geschehnisse hat von Herrmann so reagiert: »Hätte ich von dieser französischen Protestaktion gegen die Veröffentlichung der Schwarzen Wachstuchhefte gewußt, so hätte ich mich als Hauptmitarbeiter der Gesamtausgabe mit Vehemenz diesem Protest angeschlossen. Jedoch habe ich mich meinerseits gegen das Vorhaben der Veröffentlichung der ‚Notizbücher‘ bei der familiären Nachlaßverwaltung und beim Verlag Klostermann mit Heftigkeit eingesetzt, jedoch ohne jeden Erfolg«.
In Mailand wird doch ein anderer Ton angeschlagen, wo die von allen Kommentatoren angenommene und verbreitete Version zu wackeln beginnt. Il Sole 24 Ore verläßt sich auf die Fachkenntnis der Phänomenologin Roberta De Monticelli103, Edmund Husserl getreu, die über rührende Textstellen ihres Meisters berichtet und keinen Hehl daraus macht, daß sie Heidegger nicht sehr schätzt. De Monticelli erwähnt das Buch von Di Cesare, erinnert auch daran, daß diesem dasjenige von Faye voranging, dennoch schaut sie woanders hin. Sie kritisiert das mehrjährige Schweigen derjenigen, die »nicht nur Heideggers Nationalsozialismus, sondern auch dessen gründliche logische und begriffliche Verantwortungslosigkeit in seinem Sprachgebrauch ignoriert haben«. Dazu noch: »Ich wüßte keinen schlimmeren Verrat an Sokrates als denjenigen, der von der Philosophie (nicht nur von Heidegger) im 20. Jahrhundert begangen wurde und dem Antisemitismus zuzuschreiben ist«. Darauf von Herrmann: »Das, was die Philosophin De Monticelli Heideggers Gebrauch der Sprache zum Vorwurf macht, ist keine logische und begriffliche Verantwortungslosigkeit, sondern viel102 [Saint-Germain-des-Prés ist ein Pariser Stadtviertel im 6. Arrondissement. Das 6. ist ein schicker intellektueller Pariser Stadtteil. Übers.] 103 Vgl. R. De Monticelli, I traditori di Socrate, in: Il Sole 24 Ore, 28. Dezember 2014, S. 22.
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mehr der schöpferische Umgang Heideggers mit der Sprache, vergleichbar etwa mit Meister Eckhart oder auch Hegel«.
Im Mailänder redaktionellen parterre ist leider auch zu bedauern, daß ein Beitrag unter einem Pseudonym geschrieben wurde104. Der Verfasser, ein gewisser Ishmael, basiert auf Heidegger e gli ebrei: dieses Buch nennt er »ein großes Buch«, aber so sehr treibt es ihn, Heidegger zu beleidigen, daß er es bald verläßt. Auf den österreichischen Schriftsteller und Zeitungsschreiber Thomas Bernhard greift er zurück, der zum folgenden, wenig schmeichelhaften Portrait von Heidegger beitrug: »ein Voralpenschwachdenker […], ein urdeutscher Philosophiewiederkäuer, eine unablässig trächtige Philosophiekuh, die […] Jahrzehnte lang ihre koketten Fladen gelassen hat im Schwarzwald«105. Ishmael stützt sich auf die Textstelle der »aufgeblasenen Notizbücher«, wo vom Zauberer von Meßkirch geschrieben worden wäre, »die Shoa sei „die Selbstvernichtung der Juden“«. Aufgrund der textlichen Gegebenheiten der Gesamtausgabe von Heidegger und der Schwarzen Hefte distanziert sich von Herrmann von einer derartigen Behauptung, die von dem von den Erklärungen der Di Cesare ausgehenden Journalisten Ishmael wieder auf den Tisch gebracht wurde: »Es ist inakzeptabel, daß so leicht auf derartige Interpretationen in den Tageszeitungen zurückgegriffen wird. Deswegen bin ich um so mehr überzeugt, daß Heideggers Schwarze Hefte, und insbesondere der Band 97, noch nicht mit zureichender Strenge durchgearbeitet wurden«.
Mailand ist auch die Stadt der konservativen Tageszeitungen Il Giornale und Libero. In einer derartigen Schlägerei scheinen sie plötzlich in einen Zufluchtsort für Dissidenten verwandelt. Il Giornale geht nur einmal den Fall an, den er einem alten »rechts stehenden« Routinier anvertraut, Marcello Veneziani106, der die ganze Angelegenheit anders ausrichtet. Nach einem Di Cesare gegebenen Schubs (dessen eigenes Buch ist von ihr herausgegeben) und einem wenig schmeichelhaften Porträt des Privatmenschen Heidegger (»der war sicherlich kein Held, weder im Mut noch in der Würde […], weder zur Zeit des Nationalsozialismus noch in der Nachkriegszeit«), geht er an die tragische Figur von Giovanni Gentile heran, dessen Zustimmung zum Faschismus ihn das Leben kostete. Nach Veneziani ist man zuvörderst gut beraten, eine Auskunft einzuholen; ihm zufolge sei der Antisemitismus, den man sich zutraut in den Schriften Heideggers zu finden, schon seit zwei Jahrtausenden im abendländischen Denken, und zwar auch in »vielen religiösen Konfessionen«. Wollen wir denn einen Prozeß für die gesamte theologisch-philo104 Vgl. Ishmael, Heidegger, il filosofo della stupidità impettita. C’era il dubbio ma, dopo aver letto estratti dei Diari 1942 – 48, ce n’è la certezza, in: Italia Oggi, 10. Februar 2015, S. 6. 105 [Vgl. T. Bernhard, Alte Meister, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1985. Übers.] 106 Vgl. M. Veneziani, Contro Heidegger una Norimberga che uccide il pensiero. Da trent’anni è un atto un processo al grande filosofo tedesco, imputato di antisemitismo. Accuse fondate, ma che cancellano il nocciolo della sua intera opera: l’opposizzione alla deriva nichilista della modernità, in: il Giornale, 27. Februar 2015, S. 27.
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sophische, abendländische Geschichte anstrengen ? Das ist aber nicht der strittige Punkt: die dreißigjährige Anklagerede gegen Heidegger mag uns dann weismachen, daß, »wer das Auftreten des Nihilismus und der Entwurzelung kritisiert, wie den Verlust des Seins und des Heiligen, der kämpfe gegen das (jüdische) Wesen der Neuzeit und schreibe sich in den verbrecherischen Lauf Heideggers und der Shoa ein«. Damit sollen diejenigen erledigt werden, die gegen den Strom denken – oder eine laizistische (nicht konfessionelle), wenn auch konservative Stellung einnehmen – und mit der lateinischen Neubildung reductio ad hitlerum107 bezeichnet werden dürften. Die Anklagen gegen Heidegger fügt Marcello Veneziani in deren Kontext ein: »Damit wohnen wir dem unheimlich Unausgesprochenen des Nürnberger Prozesses gegen Heidegger bei: die Zurückführung jeglichen Denkens des Seins auf Gewalt und Vernichtung, die Angleichung von Rassismus und Bodenständigkeit, die Kriminalisierung der Ontologie. So wird alles verkehrt: der Entwurzelung wohne eine Gewalttat inne, nicht aber der Bodenständigkeit«.
Libero folgt mit Aufmerksamkeit der »schwarzen Legende« der Notizbücher. Dort werden die Hefte schon seit Dezember 2013 abgehandelt, also drei Monate vor deren Publikation in Deutschland. Gianluca Veneziani108 berichtet von der französischen Debatte. Schließlich wird der tollen Mannschaft der Heidegger-Anhänger, zumindest dessen großen Abhandlungen, das Wort erteilt, die wohl wissen, was hier vorgeht. Hadrien France-Lanord, Mitherausgeber des Dictionnaire Martin Heidegger109, sind die Hefte »unangenehm«, daraus folge aber nicht, daß deren Verfasser Antisemit sei. Dann ist der Purist François Fédier dran; ihm zufolge seien die als antisemitisch angeprangerten 14 Juden-bezogenen Textstellen »auf die heftige Kritik an der Machenschaft, d. h. an der Herrschaft auf Machenschaft, Rechnung und Leistungsfähigkeit begründeten Technik zurückzuführen«. Dann erscheint Stéphane Zagdanski, der 2005 zur Zeit der Publikation des Buches von Faye, dem Corriere erklärt hatte: »Dieser erbärmliche Junge hat von der Unterstützung der nullsten medienwirksamen Belegschaft profitiert. Und so von den Handlangern des Journalismus – unter denjenigen,
107 [Der Begriff reductio ad hitlerum wurde 1951 vom deutschamerikanischen und ehemaligen Studenten Heideggers, dem Philosophen Leo Strauss (1899 – 1973) nach dem Vorbild der logischen reductio ad absurdum geprägt. Damit wird eine Art irreführende Schlußfolgerung bezeichnet, die jeglichen wenn auch belanglosen gemeinsamen Punkt mit Hitler als belastend verurteilt, und jede mögliche Zurückführung auf Hitler als Widerlegung gebraucht. Übers.] 108 Vgl. G. Veneziani, Guerra Francia-Germania per il filosofo antisemita. »Nouvel Observateur« pubblica inediti scritti heideggeriani contro gli ebrei. Sull’esegesi di »trappole del giudaismo« si azzuffano filologi delle due nazioni, in: Libero, 12. Dezember 2013, S. 31. 109 Vgl. P. Arjakovsky – F. Fédier – H. France-Lanord (Hrsg.), Le Dictionnaire Martin Heidegger, Cerf, Paris 2013.
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die Nietzsche schon Sklaven der Presse nannte – die aus krankhafter Freude mit dem Schwanz wedeln, sobald sie abwegiges Zeug über etwas verbreiten dürfen«.110
Mit diesem Marschgepäck wird also derjenige ausgestattet, der in diesem »abwegigen Zeug« nur Langeweile und Voreingenommenheit sieht, so auch, im übertragenen Sinn, wird das beschrieben, was Heidegger wegen der berüchtigten vierzehn Textstellen passierte. Zagdanski ist kurz und bündig: »Denjenigen gegenüber, die, wie Trawny, das Denken von Heidegger als durch den Antisemitismus kontaminiert einschätzen, müssen wir Front machen. Deren Interpretation ist wahnsinnig«.
Es ist nötig, darauf hinzuweisen, daß der als Antwort auf Faye abgefaßte Sammelband Heidegger à plus forte raison111 in italienischer Sprache nicht vorliegt. Veneziani versucht zur Beruhigung der Lage beizutragen: nicht alle Philosophen und Intellektuellen seien kampfbereit. Dessen Artikel kommt wie gerufen: wer von Martin Heidegger nichts wüßte und von ihm nur eine Ahnung hätte aufgrund der italienischen Tageszeitungen, liefe Gefahr, ihn mit einer Art Goebbels zu verwechseln. Libero kommt im folgenden Jahr auf den Fall zurück, und zwar anläßlich der Publikation des Buches von Di Cesare, mit einem Artikel von Adriano Scianca112. Der Journalist erteilt der Autorin die Absolution; ihm zufolge habe sie gelindere Saiten aufgezogen, nicht mehr wird der übertriebene Ton angeschlagen, der im Angreifen wie im Verteidigen bei den französischen Heideggerianern so üblich ist: »Die ganze Debatte ging immer von einer Zweideutigkeit aus, als ob Heidegger nur entweder Nazi oder Philosoph gewesen sei. Auf das entweder/oder sind wir angewiesen. Dennoch ist Heidegger (und nicht nur er) zugleich ein Nationalsozialist und ein Philosoph – das ist eine Tatsache«.
Auch Scianca, obwohl der Gegenpartei angehörend, verschweigt eine feststehende Tatsache, und zwar Heideggers Entfernung von der Partei ab 1934. So, was der Gesichtspunkt auch sein möge, wird nicht dafür gesorgt, Philosophie von der ideologischen Entgleisung zu retten. Scianca wiederholt die Thesen von Di Cesare: die Wörter »Jude«, »jüdisch« und »Judentum« kommen zwar nur 14 Mal vor in den 34 Heften im Verhältnis zu ungefähr tausend Seiten, desungeachtet sieht sie überall den Hinweis auf das, wenn auch unausgesprochene Wort Judentum, wie z. B. beim Heideggerschen Gebrauch der Wörter »Verwüstung« und »Entwurzelung«: 110 Vgl. F. Sessi, Heidegger »nazista«. Gli intellettuali vanno alla guerra, in: Corriere della Sera, 29. Juni 2005, S. 35. 111 [Vgl. Heidegger à plus forte raison, Fayard, Paris 2007. Diesem umfangreichen (536 S.) Sammelband haben beigetragen: Massimo Amato, Philippe Arjakovsky, Marcel Conche, Henri Crétella, Françoise Dastur, Pascal David, François Fédier, Hadrien France-Lanord, Matthieu Gallou, Gérard Guest und Alexandre Schild. Übers.] 112 Vgl. A. Scianca, Si può essere grandi filosofi anche da nazisti. I »Quaderni neri« di Martin Heidegger ne mostrano l’adesione convinta al nazionalsocialismo e le idee antisemite. Che non gli impedirono di diventare un pilastro del pensiero occidentale, in: Libero, 23. Dezember 2014, S. 24.
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»Demzufolge redet Heideger auch dann von den Juden, wenn er gerade nicht von den Juden spricht. Bei näherer Betrachtung ist jedoch eine derartige Schlußfolgerung eine willkürliche Beschwerde«.
Mit einem kurzen, aber beißenden Stück113 kommt Simone Paliaga auf das Thema zurück, womit er auf den Artikel von Di Cesare im Corriere von Februar 2015114 antwortet: vergeblich sei es, »einen metaphysischen oder seinsgeschichtlichen Antisemitismus herauszustellen«, bei Heidegger werde das Judentum »mit dem Liberalismus, dem Christentum, dem Bolschewismus und dem Amerikanismus in Verbindung gebracht, d. h. mit ebensovielen Erscheinungen dieser Metaphysik der Subjektivität, deren Anbeginn auf Platon zurückgeht«. Die ganze Neuzeit würde er gern wegwerfen, aber sich an die vierzehn fraglichen Textstellen festklammern, um sie neu zu gestalten, ist auch eine Instrumentalisierung. Jedem Leser, der die Publikation der Hefte als eine Medien-Angelegenheit betrachtet, wird vom Libero das Recht auf Antwort gewährt, und gerade in dessen Spalten werden die ersten Schritte auf dem Weg einer Verteidigung von Martin Heidegger getan. Nicht parteilich ist es gemeint, sondern im Sinne einer Bewahrung der Wahrheit, und zwar im Zusammenhang einer Berücksichtigung des Gesamtwerkes von Heidegger, wovon die Hefte nur einen geringen und nebensächlichen Teil ausmachen. Bahnbrechend ist der Philosoph Francesco Alfieri115, Professor für Phänomenologie der Religion an der Pontificia Universitas Lateranensis, Spezialist für Edith Stein und dazu Kenner der Phänomenologie Husserlscher Herkunft. Schließlich wird die von Trawny/Di Cesare ausgelöste letzte Phase der »Angelegenheit Heidegger« eingedämmt. Es erheben sich Stimmen genug, um den ideologisch-medienwirksamen Zank zu vertreiben, der den eigentlichen Sinn der Hefte und des Gesamtwerkes des Denkers aus dem Schwarzwald verunstaltet. Es ist nicht möglich, Heidegger völlig auszuschalten, wie Faye in Frankreich es tat, und auch nicht möglich, ihn »im Namen der laizistischen Meinungsfreiheit« zu retten, »wie Gianni Vattimo [in Italien] es tat« – so Alfieri. Und darin besteht auch nicht der strittige Punkt: »Solange die Bonzen der Kultur das Denken instrumentalisieren, wird nicht eben dadurch der Mythos der Ideologie gespeist ?«. Alfieri streut Salz in die Wunde: »Die Schwarzen Hefte sollen nicht dazu gebraucht werden, um Heidegger weder zu verurteilen noch zu retten, und ebensowenig um medienwirksame Erfolge zu erzielen«. Mit Alfieri wird Friedrich-Wilhelm von Herrmann das Wort erteilt, dem letzten Privatassistenten Heideggers in dessen letzten Jahren, Hauptmitarbeiter und Herausgeber der Gesamtausgabe beim Verlag Klostermann: in der Tat ist er die 113 Vgl. S. Paliaga, Gli errori di Heidegger sugli ebrei »annientati« e gli eccessi della stampa, in: Libero, 10. Februar 2015, S. 25. 114 Vgl. oben, Fußnote 16. 115 Vgl. F. Alfieri, L’Heidegger antisemita tirato di qua e di là. I »Quaderni neri« sono stati usati per condannare o assolvere il pensatore tedesco come han fatto Faye in Francia e Vattimo in Italia. E c’è anche chi vuole costruire sopra facili successi editoriali, in: Libero, 7. Mai 2015, S. 25.
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einzige weltweit anerkannte und unbestrittene Autorität in der Bewahrung und Interpretation des Denkens des Meisters. von Herrmann hat ein dreizehnjähriges Schweigen gebrochen116, um die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte anzuhalten und den Dilettantismus des Buches von Trawny anzuprangern, der Heideggers Denken verunstalte: »Von Trawny wird keine wahrhafte und echte Auslegung vorgeschlagen. Bei ihm ist keine hermeneutische Einsicht zu finden, die ernsthaft diskutiert werden dürfte, sondern nur grundlose Behauptungen ohne jeglichen Beweis«117.
In einem Brief an die Verfasserin dieser Zeilen bestätigte er, was Alfieri auch vorweggenommen hatte: »In den Schwarzen Heften wurden die Gedankensplitter und Gedankenzüge, die sich ab und zu einstellten, festgehalten. Von Heidegger wurden auch Gedanken in die Schwarzen Hefte eingetragen, die zu seinen persönlichen Ansichten, Auffassungen oder Überzeugungen gehören, und derzeitige Geschehnisse und Personen betreffen. Wenn sie auch in der Sprache des seinsgeschichtlichen Denkens redigiert wurden, gehören sie nicht zum reinen, systematisch gegliederten Denken Heideggers«.
Als die Debatte nachzulassen schien, erhielt Libero einen Brief des Sohns des Philosophen, Hermann Heidegger. Daraus seien einige vielsagende Auszüge zitiert: »Mein Vater war gegenüber dem Judentum kritisch eingestellt, er war aber überhaupt kein Antisemit. In den „Schwarzen Heften“ füllen die Juden-bezogenen Textstellen höchstens drei der 1250 Seiten aus […]. Mein Vater duldete keinen Judenhaß. In der Tat hat er sein ganzes Leben hindurch freundschaftliche Beziehungen zu vielen Juden gehabt«118.
Hermann Heidegger genügen ein paar Zeilen, um Licht in die Sache zu bringen: wohl tritt der Philosoph 1933 in die Partei ein, aber »zirka anderthalb Jahre später hat er es bedauert«, übrigens »hatte er gar keinen Auftrag in der Partei und nie hat er an einer Versammlung der Partei teilgenommen. Seinen Irrtum hat er erkannt«. Was Trawny betrifft, fügt er hinzu: »ihm hatte ich mein volles Vertrauen geschenkt, und demzufolge habe ich ihm die Herausgabe der „Schwarzen Hefte“ 116 Sein neuestes Interview hat Friedrich-Wilhelm von Herrmann Armando Torno gewährt: »Ma Heidegger non fu complice del nazismo«. Von Herrmann: accettò compromessi soltanto per salvare l’autonomia dell’università. Se avesse commesso colpe gravi l’allievo Gadamer le avrebbe denunciate. Il suo successore ? Mi pare proprio che non sia ancora apparso all’orizzonte [»Heidegger war doch kein Komplize beim Nationalsozialsmus«. Von Herrmann: Kompromisse hat er nur insofern geduldet, als sie die Selbstbehauptung der Universität zu retten halfen. Hätte er schwerwiegende Fehler begangen, dann wären diese Fehler von seinem Schüler Gadamer angeprangert worden. Wer sein Nachfolger sei ? M. E. zeichnet er sich nocht nicht am Horizont ab.], in: Corriere della Sera, 3. Juli 2002, S. 37. 117 Vgl. C . Gualdana, »Quaderni neri manipolati. Ora fermo la pubblicazione«, in: Libero, ebd. 118 H. Heidegger, La lettera esclusiva della famiglia. Noi gli ebrei li frequentavamo. »È vero: mio padre aderì al nazismo, ma se ne pentì subito e lo criticò«, ins Ital. übersetzt von F. Alfieri, in: Libero, 30. Juni 2015, S. 26.
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anvertraut. Dessen eigene Folgerungen haben mich enttäuscht«. Schließlich kommt eine Bemerkung, die keiner unter deren Lesern sich die Mühe gegeben hat zu registrieren: »In den Schwarzen Heften sind viele kritische Beobachtungen gegen den Nationalsozialismus zu finden«. So wurde ein neues Interview von von Herrmann und Alfieri erforderlich119. Dann stand die Publikation des Buches von Trawny120 bevor, und dabei sollen einige Erläuterungen gebracht werden; von Herrmann berichtet von seinen beruflichen Beziehungen zu Peter Trawny, den er in dessen erfolgloser Karriere unterstützte: »Peter Trawny hatte ich geholfen; da er bis zum heutigen Tag im Alter von 51 Jahren mit keiner bezahlten aktiven Professur ausgestattet ist, zugleich aber Ehefrau und Kind zu versorgen hat, habe ich der familiären Nachlaßverwaltung Martin Heideggers, Herrn Dr. Hermann Heidegger und seinem Sohn Rechtsanwalt Arnulf Heidegger, nachdem sie gegen Martin Heideggers und meinen Willen den Zeitpunkt des Erscheinens der Schwarzen Hefte vorgezogen haben, Peter Trawny als Herausgeber der insgesamt neun Bände der Schwarzen Wachstuchhefte empfohlen, um seine finanzielle Notlage zu mildern«.
Diese Situation habe aber Trawny ausgenutzt, um sich „die Judenfrage“ zwecks seiner Karriere zu eigen zu machen; dessen Buch sei »das Ergebnis einer mangelnden Genauigkeit und eines fehlenden Urteilsvermögens, das die vierzig folgenden Jahre des seinsgeschichtlichen Denkens von Heidegger mißversteht und desavouiert«. Andererseits habe er mit der Erklärung, »der vermeintliche Antisemitismus Heideggers sei der esoterische Hintergrund seines ganzen Denkens« nur gezeigt, »daß er vom Denken eines der größten Philosophen unserer Zeit nichts verstanden hat, und dazu hat er es verstellt und versucht, es herabzusetzen«. Dann kommt eine Art Resümee: »Trawnys Publikationen seit seiner Wende stoßen mich ab«. Das sind schwerwiegende Worte. Ebenso in der Beurteilung von Alfieri: »Um etwas in der Geschichte des Seins verstehen zu können, sollte man ein Hauptwerk von Heidegger kennen, die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), das Trawny offensichtlich nicht kennt: im entgegengesetzten Fall würde er schon wissen, daß Heideggers Denkweise keine antisemitische Denkweise ist, daß er die Juden nicht als Urheber einer Machenschaft betrachtet, eines rationalen Denkens, das sich der Seinsgeschichte in den Weg stellte. Die von ihm gezogenen Schlußfolgerungen ergeben sich nicht aus einer streng philologisch-auslegenden Verfahrensweise«.
Nach der plötzlichen Reaktion der Erben Heideggers wäre man fast darauf gefaßt gewesen, daß Aufsehen in der Presse erregt sei. Ganz im Gegenteil kehrte Stille ein. Die lautstarken Kommentatoren haben sich zurückgezogen, als wären sie von ihren überheblichen Kommentaren belastet: die Redaktionen schweigen. Es ist eine leichte Sache um die Entzündung von Polemiken, will man aber über die Tatsachen diskutieren, dann sind weitere Tatsachen in Betracht zu ziehen. So etwas geschieht, wenn Leute da sind, die über Tatsachen verfügen, und nicht darauf zie119 Vgl. C. Gualdana, I Quaderni neri. Il figlio si ribella: »Papà ? mai sato antisemita«. Alla Milenesiana il libro di Trawny accusa il filosofo di razzismo. Ma l’erede e l’allievo von Herrmann ribaltano la tesi-scandalo, in: Libero, ebd. 120 Vgl. P. Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung.
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len, von sich reden zu machen. Während die zwei von von Herrmann und Alfieri gewährten Interviews und Hermann Heideggers Brief weltweit verbreitet und auch in vielen Einzelheiten in Deutschland viel besprochen wurden121, haben in Italien nur zwei rechts angehauchte online-Zeitschriften unter der Feder von Matteo Persico und Renato de Robertis, bzw. »Intelletualedissidente.it«122 und »barbadillo. it«123, davon berichtet. Persico erwähnt das in den italienischen Medien betretene Schweigen gegenüber dem „Theatercoup“ um Heidegger: »„Skandalös“ sind nicht so sehr von Herrmanns Worte, die den lieben Meister verteidigen, als die Weise, wie die Zeitungen und zunächst die italienischen Zeitungen über diese Wenden berichtet haben: als Heidegger angegriffen und herabgesetzt wurde, hat das gesamte Nachrichtenwesen darüber berichtet. Als eine maßgebende Autorität wie von Herrmann, der von Heidegger selbst beauftragt wurde, dessen ganzen Nachlaß als Hauptmitarbeiter an der Gesamtausgabe zu überwachen, ein Interview gibt, das alle früher aufgestellten Hypothesen dementieren könnte, wird der Fall bis auf Libero als nicht mehr brandaktuell totgeschwiegen. Vermutlich paßt es den meisten, eine der größten Lügen des 20. Jahrhunderts auf eine bloße ideologische Dimension zurückzuführen, wie das beim Nationalsozialismus der Fall ist«.
Auf derselben Wellenlänge steht Renato de Robertis, der über ein ideologisches Treiben gar nicht erstaunt ist, das in der Nachkriegszeit schon gegen Nietzsche versucht wurde und zum Glück scheiterte: »Das ist es also: es ist üblich, das nicht links angehauchte Gemeingut zu verwüsten – so schreibt er – wie man sich dabei anstellen solle, das sagt er nicht. Es genügt, ein paar Sätze von Nietzsche oder von Heidegger herauszufischen, um in kategorischem Ton zu behaupten, alle Leute von rechts seien böse und antisemitisch. Vor fünfzig Jahren war der Kalte Krieg da, die Berliner Mauer und Lügen wurden überall herumerzählt. Von all dem bleiben heutzutage nur noch die Lügen. Die große Trommel wird geschlagen, um die geistige Leere (der Leute von links) auszufüllen. Aber jetzt geht es um die Wiederentdeckung der Hefte von Heidegger«.
In der wachsenden Wüste des Nachrichtenwesens erschien Peter Trawny, um sein Buch an der Mailänder Buchmesse bzw. auf dem von der Leiterin von Bompiani, dem italienischen Verlagshaus, Elisabetta Sgarbi organisierten Kirmes vorzustellen. Anläßlich dieser Begebenheit har er einen Artikel im Corriere geschrieben124, in dem er seine eigenen Thesen noch einmal vorbringt, wobei er peinlich vermeidet, auf den Begriff „seinsgeschichtlicher Antisemitismus“ zurückzugreifen, den er geprägt hat, und dennoch setzt er den Philosophen herab. Trawny über-
121 Man sehe z. B. den Artikel von M. Hesse, Mit Heidegger gegen Heidegger, in: Frankfurter Rundschau, 24. Juni 2015. 122 Vgl. M. Persico, Heidegger antisemita ? È solo un’operazione di marketing, in: »Intelletualedissidente.it«, 9. Juni 2015. 123 Vgl. R. de Robertis, Il caso. I quaderni neri di Heidegger manipolati: una falsificazione contro la cultura, in: »Barbadillo.it«, 12. Juli 2015. 124 Vgl. P. Trawny, Heidegger non va messo al bando ma il suo antisemitismo è innegabile, in: Corriere della Sera, 4. Juli 2015, S. 42.
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nimmt die Stellungnahmen von Faye und Di Cesare und versucht unbeholfen, sich gegen von Herrmanns Vorwürfe zu verteidigen: »ihm zufolge hätte ich Heidegger verleumdet, indem ich einige Textstellen als „antisemitisch“ bezeichnete, und zwar aus dem einzigen Grund, ich solle den medienwirksamen Wirbel mir zunutze gemacht haben. […] Aber so wird außer Acht gelassen, daß die Zurückhaltung gegenüber den Medien, mit dem Anprangern eines Kritikers verbunden, der nur nach Geld strebe, dazu führen könnte, auf einem gewissen Standpunkt als Vorabentscheidung zu beharren, der doch gelegentlich besprochen werden dürfte«.
Ohne zu eruieren, worin ein derartiger „Standpunkt als Vorabentscheidung“ besteht, übersieht Trawny, daß diese Besprechung schon – und ob ! – im Libero stattfand, den er klug genug nicht erwähnt, sei sie von von Herrmann oder von Alfieri. Im Schlußteil des betreffenden Artikels dramatisiert Trawny die ganze Sache, weist darauf hin, daß Di Cesare Angriffe von Neonazis erlitten hätte; deswegen sei »die Diskussion über Heideggers Schwarze Hefte keine bloße akademische Angelegenheit«. Damit bestätigt er aber den Verdacht, die „kulturelle“ Werbeaktion könne auch nur politisch gemeint sein. Darin ist nichts Philosophisches. Über den Inhalt seines Buches wird kaum oder gar nicht berichtet. Auf dessen seltsame Vorwegnahme wird von Antonio Carioti hingewiesen: Di Cesare und Trawny haben den Internationalen Kreis Martin Heidegger gestiftet, dessen Vorhaben darin besteht, »die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk des Philosophen in allen Universitäten der Welt zu begünstigen«125. Wie eine derartige Auseinandersetzung sich mit der Einsicht verträgt, die Hefte seien „keine bloße akademische Angelegenheit“, oder gar mit der verkündeten Eskorte von Di Cesare – das weiß der Kuckuck; bei der Vorstellung des Buches läßt sich die Zeitung durch Miska Ruggeri vertreten; ihm zufolge »war die Debatte nicht gerade berauschend«126. Di Cesare müsse wieder unter Eskorte leben: »in ihren den römischen Rechtsextremen unangenehmen Thesen hat sie erklärt, Heid eggers Antisemitismus hänge nicht davon ab, wie viele Textstellen fraglich sind, sondern von der Schwere (eine einzige antisemitische Textstelle genüge wohl, um dazu verpflichtet zu sein, die gesamte Philosphie Heideggers in Frage zu stellen)«127.
Dem Philosophen Gianni Vattimo zufolge hätte Heidegger »Stalin statt Hitler wählen mögen und dürfen«. »Blanker Unsinn« – bemerkt Ruggeri – weil Heidegger sich auf die Revolution und, aristokratisch, auf die Dichtung, auf seinen Lieblingsdichter Friedrich Hölderlin verließ, und gar nicht auf das Proletariat«. Trawny, seinerseits »hat behauptet, es sei gar nicht sinnlos, sich Gedanken darüber zu machen, ob die mit den »Protokollen der Weisen von Zion« vergleichbaren antisemitischen Textstellen nicht dazu führen müssen, vom gesamten Denken Heideggers
A. Carioti, Un nuovo »circolo« intitolato al filosofo, in: Corriere della Sera, ebd. Ruggeri, Heidegger impiccato a cinquanta righe. Trawny accusa il filosofo di »antisemitismo onto-storico« Sulla base di poche ambigue frasi in quasi 1.500 pagine, in: Libero, 7. Juli 2015, S. 27. 127 Ebd. 125
126 M.
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Abschied zu nehmen«, womit er gerade das verleugnet, was er bis dahin schriftlich zur Sprache gebracht hatte. Zur vorliegenden Presseschau ist nicht viel hinzuzufügen. Den Verleger des Libero Maurizio Belpietro hat ein Brief von Friedrich-Wilhelm von Herrmann128 erreicht, in dem mit Bezug auf den Begriff „Hampelmann“ bei Hannah Arendt, der Philosophin jüdischer Herkunft, die Schülerin und Liebhaberin von Martin Heid egger war, danach gefragt wird, wo die intellektuelle Würde aufhört: »Ob das überhaupt vorstellbar sei – schreiben von Herrmann und Alfieri – daß die Banalität einer Kultur gar nicht berücksichtigt wird, die Bescheid weiß, sie sei nicht imstande, etwas von Belang zu sagen, und dennoch die Massen mit grundlosen Annahmen überzeugen will ? In diesem Fall hat man sich gegen die Hampelmänner zu verteidigen, die die vornehmsten Szenen reservieren, um ihre Ware in Umlauf zu bringen, aber dessen ganz unbewußt – und gerade darüber sind wir empört – daß sie sich lächerlich machen«.
Trawnys Anwesenheit auf der italienischen Bühne hat keine nachhaltige Wirkung gehabt. Sein Buch blieb unbemerkt. Nur Vattimo129 berichtet über dessen „wertvolles“ Buch, womit »ein Umschlagen bezüglich der Schwarzen Hefte« insofern geschieht, als der Verfasser »mit großem Aufwand von manchmal verworrenen Argumenten« zeigt, es sei »nicht möglich, die „antisemitischen“ Seiten vom übrigen Werk abzusondern, als wären sie nur eine Art theoretischer Irrtum oder moralische Schuld«. Der ältere Philosoph will es allen recht machen und schließt so ab: »unserer Meinung nach – und aus Achtung vor dem alten Meister, aber auch mit der zugehörigen Distanz zu ihm – mögen und sollen all diese Schlacke und all diese Vorurteile von seinem noch lebendigen Erbe abgesondert werden«. So manövriert Vattimo, um seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Kasperletheater für oder wider Heidegger wieder zum Ausdruck zu bringen, zu dem man sich verleiten ließ. Vermutlich wäre die italienische Version des Streites über die Schwarzen Hefte hier beendet, wenn Emmanuel Faye in seinen Bemühungen nicht nachgelassen130 und von Herrmann wie Hermann Heidegger nicht beschuldigt hätte. Dann schließt sich der Kreis über die Protagonisten dieser internationalen Spannung, die auf ein paar mitten in der Nacht geschriebenen Zeilen sich fokussierte. Faye prangert den jetzt vorgehenden „Erbfolgekrieg“ zwischen den Heideggerianern an, die beauftragt wurden, die sogenannte Gesamtausgabe zu veröffentlichen. FriedrichWilhelm von Herrmann und Francesco Alfieri und, andererseits, das neuere, von Trawny gestiftete Martin-Heidegger-Institut von Wuppertal stehen sich gegenüber. Über das Martin-Heidegger-Institut wird von von Herrmann Folgendes berichtet, das öffentlich gemacht werden soll: 128 F.-W. von Herrmann/F. Alfieri, Lo studio dei »Quaderni neri« si è trasformato in un teatrino, in: Libero, 11. Juli 2015, S. 25. 129 Vgl. G. Vattimo, Il buco nero di Heidegger, Peter Trawny dimostra che è impossibilie isolare le pagine antisemite dei „Quaderni neri“ dall’opera complessiva, in: La Stampa, 25. Juli 2015, S. VI. 130 Vgl. E. Faye, Heidegger scelse Hitler e non cambiò mai idea, in: Corriere della Sera, 21. Juli 2015, S. 39.
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»Das vor wenigen Jahren am philosophischen Seminar der Wuppertaler Universität eingerichtete sogenannte „Heidegger-Institut“ besteht lediglich aus einem einzigen Raum mit Tisch und Stuhl, ohne Bibliothek, ohne eine bezahlte Professur und ohne eine offizielle Finanzierung. Dieses Institut wurde nur eingerichtet, damit der unbezahlte außerplanmässige Professor Trawny eine kleine Plattform für seine Arbeit hat. Ich selber wurde von Klaus Held und Peter Trawny darum gebeten, in Wuppertal einen Gründungsvortrag zu halten. Dieser Vortrag handelte über Heideggers Grundbegriff des Daseins, zunächst im fundamentalontologischen Denken von „Sein und Zeit“ und dann im seinsgeschichtlichen Denken der „Beiträge zur Philosophie“. Hätte ich auch nur geahnt, dass Peter Trawny kure Zeit später seine nationale und internationale Verurteilung des Denkens Martin Heideggers als „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ von dieser eingerichteten Plattform aus starten würde, hätte ich ihm niemals für seine Arbeit an diesem Institut mein philosophisches Geleit gegeben. Was Peter Trawny mit seiner Verwüstung der Landschaft des Heideggerschen Denkens sich geleistet hat, haben gerade viele philosophische Juden vorausgesehen. Durch sein an den Tag gelegtes Vorgehen hat Peter Trawny sich selbst aus der Gemeinschaft der ernsthaften akademischen Philosophen ausgeschlossen. Daß gerade Peter Trawny Heideggers Denken dennoch retten will, ist eine bloße Phrase von ihm, die an das Lächerliche grenzt«.
Nach Trawny solle dahingegen das Martin-Heidegger-Institut von Wuppertal die kritische Auseinandersetzung mit dem Philosophen begünstigen. Darüber spöttelt aber Faye: »Sehr ironisch dürfen wir sein gegenüber Trawnys Verhalten, als wäre er ein Herold der Denkfreiheit, die mit der Meinungsfreiheit untrennbar verbunden ist«; Trawny »hat erklärt, er wolle „Heidegger retten“, und von nun an ist er zum Vertreter der neuen offiziellen Apologetik geworden, wie sie vom Verleger der Gesamtausgabe von Heidegger, Vittorio Klostermann, gestattet und unterstützt wird.[…] Darin besteht die heutige Strategie: das Monopol auf eine Kritik haben, die freilich unter Kontrolle ist«. Von Faye werden auch angegriffen Hermann Heidegger, »der durch eine ganze Reihe von Zensuren berühmt wurde«, wie auch von Herrmann und Fédier, die »darauf beharren, die mehr als offenkundige Tatsache« des Antisemitismus von Heidgger »zu leugnen«. Der Todesstoß wird aber Trawny und Di Cesare versetzt, die »den vulgär nazistischen Charakter der Angriffe gegen „das Weltjudentum“« herunterspielen und Philosophie zu „treiben“ versuchen, sei es mittels des Begriffs eines „seinsgeschichtlichen Antisemitismus“ oder desjenigen eines „metaphysischen Antisemitismus“. Radikal ist diese Kritik: Faye ist dabei konsequent, indem er aufgrund seines eigenen – hier nicht übel gemeinten – „Moralismus“ den Erben Heideggers ihren Konservativismus vorwirft und die Annahme beider Manipulatoren verwirft, nämlich »jede mögliche moralische Verantwortung zurückzuweisen« und, wie das besonders bei Trawny der Fall wäre, »die argumentative Form der Philosophie« abzulehnen. In Emmanuel Fayes Augen solle Heidegger nicht als ein „großer Philosoph“ gelten. Ebensoviele geradlinige und verständliche Annahmen, die dennoch undenkbar sind. Nachdem Faye sich lautstark im Corriere äußerte, konnte Di Cesare nicht mehr schweigen. Demzufolge erscheint ein Artikel von ihr131, in dem sie auf das große 131 Vgl. D. Di Cesare, Il monito di Heidegger ai tedeschi »Non piegatevi alla democrazia«, in: Corriere della Sera, 31. Juli 2015, S. 41.
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internationale Aufsehen hinweist, das ihre Thesen über die Shoa hervorriefen und dem Verfasser von »Sein und Zeit« noch einmal vorwirft, er habe sich vom Nationalsozialismus nie gelöst: »Heidegger ermuntert die Deutschen dazu, sich selbst nicht zu verraten, sich dem Betrieb und der Weltdemokratie nicht zu unterwerfen«; davor warnt sie, als wäre jede Kritik an der Demokratie ein Delikt und nicht eher eine bloße Folge der vielbesungenen Denkfreiheit. Aus einem Gespräch mit von Herrmann über den Begriff Demokratie ergibt sich, Heidegger sei in dieser Hinsicht mit Platon vergleichbar: »Wie Platon in der Politeia entwickelt Heidegger ein freies Denken über den Staat als Institution. Dessen Kritik an der „Weltdemokratie“ ist keine Kritik an der griechischen Herstellung der Demokratie, sondern an der Verfallsform der ursprünglichen Demokratie zur Zeit der „Weltdemokratie“, die wiederum zum Instrument des allgemein rechnenden Denkens der Neuzeit wurde«.
Kommen wir aber auf den Artikel von Di Cesare im Corriere zurück, der in doppelter Hinsicht einen ernsthaften Ton anschlägt. Zunächst sei wohl zu merken, daß »das Adjektiv „metaphysisch“ darauf hinweist, wie tief der Antisemitismus ist, dem ein philosophischer Rang zugeschrieben wird«, aber dabei wird der Sinn des immer wieder vorkommenden und nie eruierten Ausdrucks „metaphysischer Antisemitismus“ noch einmal umgangen. Dann greift sie diejenigen an, die vortäuschen wollen, »Heideggers Antisemitismus sei nur auf einige belanglose Textstellen zurückzuführen«. Der Schlußteil ihres Artikels ist verleumderisch: »Darauf sind nicht nur von Herrmann und dessen Komplizen angewiesen. Nicht selten betreiben sie eine makabre Rechnung. Letztlich stimmen sie diesen Textstellen zu«. Uns werden aber die Namen der betreffenden „Komplizen“ nicht mitgeteilt – nur zu vermuten ist, daß Di Cesare sich hier auf Alfieri bezieht – und ebensowenig wird auf die Texte verwiesen, was eine besonders schwerwiegende Beschuldigung ist. So schließen wir die Presseschau ab bezüglich derjenigen, die sie ausgelöst haben. Dennoch bleibt eine Frage schwebend: warum denn die „makabre Rechnung“, die Di Cesare insofern bekämpfte, als sie sich auf das jüdische Volk bezöge, jetzt von Di Cesare gegen von Herrmann und dessen „Komplizen“ in Frage gestellt wird ? Nur deswegen, weil Di Cesare eine derartige Terminologie mit Recht bestreitet, die diejenige der Geschicklichkeit des Rechnens ist, und dennoch Anderen zuschreibt, wobei sie zu allem Überfluß das Adjektiv „makaber“ hinzufügt ? Wie ist ein Treiben einzuschätzen, wobei gerade das, was angefochten wird, auch als Waffe dient, worauf gelegentlich gegen die Gegner zurückgegriffen wird ? Am Schluß der vorliegenden Presseschau bleibt nur zu sagen, daß beim Lesen der Schriften von Di Cesare der Eindruck hinterlassen wird, Heidegger sei nicht derjenige, der auf die Wurzeln des griechischen Denkens zurückkam, um die Vorsokratiker wieder zu entdecken und das Seyn erneut zu denken, der unumgängliche Werke in der Geschichte der abendländischen Philosophie geschrieben hat, sondern statt dessen derjenige, der sein ganzes Leben hindurch nichts anderes getan hätte, als die Juden anzugreifen. Vergeblich ist es, daran zu erinnern, daß viele seiner Studenten Juden waren, daß er nie Politik betrieb, daß er die meiste
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Zeit seines Lebens in seiner Hütte im Schwarzwald verbrachte. Vielleicht soll aber um so mehr darauf hingewiesen werden, daß all diese von des öfteren oberflächlichen und übereilten Redakteuren verspritzte und verschwendete Tinte mich dazu gezwungen hat, sofern ich versuche, mich um die Wahrheit zu bemühen und Journalismus als einen ernsten und strengen Beruf auszuüben, mit dem vorliegenden Aufsatz Front zu machen. Dazu sei nur noch hinzugefügt: außer der Ankündigung von Vattimo und einer dem großen Philosophen gegenüber frechen Rezension in Italia Oggi132, diesem schon erwähnten Angriff, der der heftigste Angriff gegen Heidegger war, wurde das Buch von Trawny in Italien kaum besprochen.
Literatur Adinolfi, M., Nazismo e antisemitismo, tutte le colpe di Heidegger, in: »Il Messaggero«, 4. Januar 2015, S. 20. – Heidegger l’antisemita e i conti aperti con la storia, il filosofo non fu solo colpevole di silenzio sul nazismo, per lui la Shoah fu l’«autoannientamento degli ebrei», in: »Il Messaggero«, 9. Februar 2015, S. 19. – Perché il filosofo guida senza patente. L’antisemitismo di Heidegger non cancella la sua grandezza, in: »Il Mattino«, 19. April 2015, S. 55. Alfieri, F., L’Heidegger antisemita tirato di qua e di là. I »Quaderni neri« sono stati usati per condannare o assolvere il pensatore tedesco come han fatto Faye in Francia e Vattimo in Italia. E c’è anche chi vuole costruire sopra facili successi editoriali, in: »Libero«, 7. Mai 2015, S. 25. Arjakovsky, P./Fédier, F./France-Lanord, H. (Hrsg.), Le Dictionnaire Martin Heidegger, Cerf, Paris 2013. Augias, C., La versione di Heidegger, in: »la Repubblica«, 12. Februar 2015, S. 32. – Le responsabilità della filosofia, in: »la Repubblica«, 17. Februar 2015, S. 28. – Heidegger, lo sterminio e il destino, in: »la Repubblica«, 20. Februar 2015, S. 34. Azzarà, S.G., Heidegger „innocente“: un esorcismo della sinistra postmoderna, in: »MicroMega« 2(2015), S. 116 – 125. Bandinelli, A., Il crematorio di Heidegger. Antisemita e nichilista, il filosofo tedesco ha plasmato la cultura irrazionale del Novecento. E l’ombra della sua filosofia ancora si allunga sulla Germania di oggi, in: »Il Foglio«, 27. Februar 2015, S. IV. Bertoletti, I., Heidegger, la Norimberga del pensiero. Il caso: La pubblicazione dei »Taccuini neri« di Heidegger ha riacceso il dibattito sul filo-nazismo e sull’antisemitismo del filosofo tedesco. Sull’antisemitismo e la filosofia ha scritto un’opera fondamentale il bresciano Francesco Tomasoni (»La modernità e la fine della storia«»). Sulla recezione della Shoah nel pensiero cristiano ed ebraico è un riferimento il libro scritto da Massimo Giulani per la Morcelliana. Una biografia aggiornata di Heidegger è quel132 Vgl. D. Gabutti, Il filosofo tedesco Martin Heidegger non ha certo gasato nessun ebreo in vita sua ma, coi suoi scritti, ne ha sicuramente creato le premesse [Der deutsche Philosoph Martin Heidegger hat natürlich in seinem Leben keinen Juden vergast, aber mit seinen Schriften hat er wohl die Voraussetzungen dafür geschaffen], in: Italia Oggi, 11. August 2015, S. 12.
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la appena pubblicata da Vincenzo Costa per l’editrice La Scuola, in: »Corriere della Sera«, Brescianer Ausgabe, 15. Februar 2015, wie, unter dem Titel Heidegger, essere e colpa. Perché bisogna dire no a »una Norimberga filosofica«, in: »Avvenire«, 15. Februar 2015, S. 27. Carioti, A., I taccuini postumi contengono la giustificazione dell’antisemitismo, in: »Corriere della Sera«, 9. Februar 2015, S. 28. – È ancora polemica sulla Società Heidegger: »Siete provinciali«, in: »Corriere della Sera«, 30. März 2015, S. 29. – Un nuovo „circolo“ intitolato al filosofo, in: »Corriere della Sera«, 4. Juli 2015, S. 42. Caserza, G., Heidegger: gli ebrei si sono »autoannientati«. Inedite note choc dei »Quaderni neri« riaprono il dibattito sull’antisemitismo del filosofo tedesco, in: »Il Mattino«, 9. Februar 2015, S. 14. Castagna, E., Ariani. Origine, storia e redenzione di un mito che ha insanguinato il Novecento, Medusa, Mailand 2012. – Il nazismo filosofico di Heidegger, in: »Avvenire«, 13. November 2014, S. 23. – Ma fra la purezza dell’essere e la purezza ariana un nesso c’è, in: »Avvenire«, 15. Februar 2015, S. 27. Ceronetti, G., Heidegger antisemita. Cancella Spinoza, in: »Corriere della Sera«, 8. Dezember 2014, S. 37. Costa, V., Heidegger, La Scuola, Brescia 2013. De Angelis, M., L’antisemitismo metafisico di Heidegger rivelato nei suoi »Quaderni neri«, in: »Il Foglio«, 2. Dezember 2014, S. 2. – Heidegger, l’antisemitismo e la lezione di Nietzsche, in: »Avvenire«, 17. April 2015, S. 13. De Monticelli, R., I traditori di Socrate, in: »Il Sole 24 Ore«, 28. Dezember 2014, S. 22. Di Cesare, D., Se Auschwitz è nulla. Contro il negazionismo, il melangolo, Genua 2012. – Heidegger e gli ebrei. I »Quaderni neri«, Bollati Boringhieri, Turin 2014. – Israele. Terra, ritorno, anarchia, Bollati Boringhieri, Turin 2014. – Crimini contro l’ospitalità. Vita e violenza nei centri per gli stranieri, il melangolo, Genua 2014. – L’ultimo segreto (nero) di Heidegger. Nei »Quaderni« inediti un antisemitismo metafisico »L’ebraismo mondiale sradica i popoli dall’Essere«, in: »Corriere della Sera«, 2. November 2014, S. 6 – 7. – Heidegger: »Gli ebrei si sono autoannientati«. Nei nuovi »Quaderni neri« del filosofo l’interpretazione choc della Shoah, in: »Corriere della Sera«, 8. Februar 2015, S. 10 – 11. – Shoah, ecco l’anno zero di Heidegger. Dopo i »Quaderni neri« la pubblicazione dei testi dove lo sterminio degli ebrei è definito un »autoannientamento« segna una svolta. Che rilancia la necessità di interrogare a fondo il pensiero del filosofo, senza dividersi tra fan e avversari, in: »Corriere della Sera«, 9. Februar 2015, S. 28. – La filosofia tedesca è morta. Dopo 300 anni. Le cause del declino: la politica culturale di Berlino e la »sbornia analitica«, in: »Corriere della Sera«, 10. Mai 2015, S. 15. – Il monito di Heidegger ai tedeschi »Non piegatevi alla democrazia«, in: »Corriere della Sera«, 31. Juli 2015, S. 41. Dobner ,C., Un antisemitismo metafisico, in: »L’Osservatore Romano«, 3. März 2015, S. 5.
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Dolcetta, M., Heidegger l’antisemita in Francia, in: »il Fatto Quotidiano«, 8. November 2014, S. 18. Fabris, A. (Hrsg.), Metafisica e antisemitismo. I Quaderni neri di Heidegger tra filosofia e politica, ets, Pisa 2014. – Heidegger. L’ambiguità della decisione tra filosofia e politica, ebd., S. 109 – 128. – Quell’odiosa „cecità“ di Martin Heidegger, in: »Avvenire«, 10. Februar 2015, S. 21. Faye, E., Heidegger, L’introduction du nazisme dans la philosophie. Auteur des séminaires inédits de 1933 – 1935, Albin Michel, Paris 2005; deutsche Übersetzung: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Matthes & Seitz, Berlin 2014. – Heidegger profeta del IV Reich. L’antisemitismo è insito nella sua opera. Sperava nel ritorno del dominio tedesco, in: »Corriere della Sera«, 23. Februar 2015, S. 26. – Heidegger scelse Hitler e non cambiò mai idea, in: »Corriere della Sera«, 21. Juli 2015, S. 39. – Essere e svastica. Heidegger, l’antisemitismo, l’affermazione dell’essenza tedesca, l’auto-annientamento del nemico, tr. it. di P. Godani, in: »MicroMega« 2 (2015), S. 98 – 115. Ferraris, M./Figal, G., „Nei Quaderni neri di tenebra la maledizione di Heidegger“. I testi antisemiti, le polemiche su un’eredità scomoda: confronto tra Ferraris e Günter Figal, in: »la Repubblica«, 4. April 2015, S. 56. Gabriel, M., Heidegger non conta più e la filosofia in Germania è ricca (non solo di idee). Markus Gabriel replica alle osservazioni di Donatella Di Cesare: mai prima sono stati spesi tanti soldi per le scienze dello spirito, tr. it. di A. Iadicicco, in: »Corriere della Sera«, 17. Mai 2015, S. 28. Gabutti, D., Il filosofo tedesco Martin Heidegger non ha certo gasato nessun ebreo in vita sua ma, coi suoi scritti, ne ha sicuramente creato le premesse, in: »Italia Oggi«, 11. August 2015, S. 12. Gnoli, A., Martin Heidegger, nei quaderni neri gli appunti segreti contro gli ebrei. Le posizioni antisemite dell’autore di »Essere e tempo« svelate dai taccuini ancora inediti che Repubblica ha potuto vedere in anteprima, in: »la Repubblica«, 18. Dezember 2013, S. 52 – 53. Goldkorn, W., Filosofo nero. Antisemita. Non solo in politica, ma soprattutto come pensatore. Convinto che gli ebrei fossero il nulla. I quaderni di Heidegger inediti in Italia accendono la polemica, in: »l’Espresso«, 4. Dezember 2014, S. 82 – 85. Gualdana, C., »Quaderni neri manipolati. Ora fermo la pubblicazione«. Von Herrmann, coordinatore dell’opera omnia del grande filosofo tedesco, attacca il curatore Trawny: »La sua è un’operazione di marketing falsa e diffamatoria«, in: »Libero«, 28. Mai 2015, S. 23. – I Quaderni neri. Il figlio di Heidegger si ribella: »Papà? Mai stato antisemita«. Alla Milanesiana il libro di Trawny accusa il filosofo di razzismo. Ma l’erede e l’allievo von Herrmann ribaltano la tesi-scandalo, in: »Libero«, 30. Juni 2015, S. 26 – 27. Heidegger ,H., La lettera esclusiva della famiglia. Noi gli ebrei li frequentavamo. »È vero: mio padre aderì al nazismo, ma se ne pentì subito e lo criticò«, ital. Übers. v. F. Alfieri, in: »Libero«, 30. Juni 2015, S. 26. Heidegger, M., Holzwege, in: Gesamtausgabe Bd. 5, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klostermann, Frankfurt a. M. 1977.
Zur medienwirksamen Instrumentalisierung der Schwarzen Hefte in Italien
327
– Besinnung, in: Gesamtausgabe, Bd. 66, Abt. 3: Unveröffentlichte Abhandlungen. Vorträge – Gedachtes, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Klostermann, Frankfurt a. M. 1997. – Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant, in: Gesamtausgabe, Bd. 23, Abt. 2: Vorlesungen 1919 – 1944, hrsg. v. H. Vetter, Klostermann, Frankfurt a. M. 2006. – Sein und Wahrheit, in: Gesamtausgabe, Bde. 36/37, hrsg. v. H. Tietjen, Klostermann, Frankfurt a. M. 2001. Herrmann, F.-W. von, »Ma Heidegger non fu complice del nazismo«. Von Herrmann: accettò compromessi soltanto per salvare l’autonomia dell’università. Se avesse commesso colpe gravi l’allievo Gadamer le avrebbe denunciate. Il suo successore? Mi pare proprio che non sia ancora apparso all’orizzonte, in: »Corriere della Sera«, 3. Juli 2002, S. 37. Herrmann, F.-W. von/Alfieri, F., Lo studio dei »Quaderni neri« si è trasformato in un teatrino, in: »Libero«, 11. Juli 2015, S. 25. Hesse, M., Mit Heidegger gegen Heidegger, in: »Frankfurter Rundschau«, 24. Juni 2015. Iadicicco, A., Fantasmi della memoria fra Heidegger e Celan. L’antisemitismo del filosofo torna sotto i riflettori. Mentre arrivano i suoi Quaderni neri ed esce un libro su un incontro impossibile, in: »Panorama«, 27. Januar 2014. – Heidegger e gli ebrei, tutto quello che avreste voluto sapere. Preceduti da un crescendo di polemiche, ecco i Quaderni neri che il filosofo destinò alla pubblicazione postuma: tra argomentazioni ontologiche e odiosi stereotipi, in: »La Stampa«, 13. März 2014, S. 29. – Da Lutero a Heidegger le radici filosofiche dell’antisemitismo, in: »La Stampa«, 16. Dezember 2014, p. 35. Ishmael, Heidegger, il filosofo della stupidità impettita. C’era il dubbio ma, dopo aver letto estratti dei Diari 1942 – 48, ce n’è la certezza, in: »Italia Oggi«, 10. Februar 2015, p. 6. Marramao, G., Dopo il leviatano, Bollati Boringhieri, Turin 2013. Ocone, C., Basta scuse, Heidegger era antisemita. Il documentato e coraggioso saggio di Donatella Di Cesare pone la parola fine al dibattito. Oggi viene presentato a Villa Mirafiori (Roma, 14:30). Con l’autrice Gaetano Lettieri, Giacomo Marramao e Paolo Vinci, in: »Il Garantista«, 18. November 2014, S. 15. – Quando Croce accusava Heidegger. »Razzista e servile«, in: »Il Mattino«, 11. Februar 2015, S. 15. Paliaga, S., Gli errori di Heidegger sugli ebrei »annientati« e gli eccessi della stampa, in: »Libero«, 10. Februar 2015, S. 25. Persico, M., Heidegger antisemita? È solo un’operazione di marketing, in: »lntellettualedissidente.it«, 9. Juni 2015. Plebe, A., Viviamo ancora all’ombra di Auschwitz. Oggi a Genova la studiosa che ha svelato i Quaderni neri del filosofo Heidegger, in: »Il Secolo XIX«, 24. Februar 2015, S. 39. Polese, R., Heidegger, antisemita e vero nazista. Pubblicati i »Quaderni neri« del filosofo, che comprendono gli anni 1931 – 41. Confessioni che non lasciano dubbi. Deluso dal regime, lo accusò di »americanismo«, in: »Corriere della Sera«, 14. März 2014, S. 47. Profeti, L., Heidegger razzista perché teorizza la diseguaglianza, in: »Corriere della Sera«, 27. Dezember 2014, S. 41. Reale, G./Antiseri, D., Cento anni di filosofia, vol. 1, La Scuola, Brescia 2015. – Heidegger senza senso di colpa. Il caso: Continua a far discutere la scelta del grande filosofo tedesco a favore di Hitler e del nazismo. Non ebbe mai pentimenti e a nulla servì
328
Anhang
il tentativo di Karl Jaspers di ottenere da lui una »ritrattazione«, in: »Avvenire«, 26. Februar 2015, S. 24. Regazzoni, S., Le rivelazioni dei »Quaderni neri«, Heidegger il nazista, l’essere o l’ebreo. La studiosa Donatella Di Cesare indaga nel suo nuovo saggio di prossima uscita sull’antisemitismo metafisico del filosofo, in: »Il Secolo XIX«, 10. November 2014, S. 10. de Robertis, R., Il caso. I quaderni neri di Heidegger manipolati: una falsificazione contro la cultura, in: »Barbadillo.it«, 12. Juni 2015. Ruggeri, M., Heidegger impiccato a cinquanta righe. Trawny accusa il filosofo di »antisemitismo onto-storico« sulla base di poche ambigue frasi in quasi 1.500 pagine, in: »Libero«, 7. Juli 2015, S. 27. Scianca, A., Si può essere grandi filosofi anche da nazisti. I »Quaderni neri« di Martin Heidegger ne mostrano l’adesione convinta al nazionalsocialismo e le idee antisemite. Che non gli impedirono di diventare un pilastro del pensiero occidentale, in: »Libero«, 23. Dezember 2014, S. 24. Sessi, F., Heidegger »nazista«. Gli intellettuali vanno alla guerra, in: »Corriere della Sera«, 29. Juni 2005, S. 35. Severino, C., Lo »choc« va in rete. Ma Vattimo lo difende, in: »Corriere della Sera«, 9. Fe bruar 2015, S. 28. Severino, E., No, non sono la variante di Heidegger. I »Quaderni neri« hanno svelato l’antisemitismo e riaperto un caso. Qui Severino replica alle tesi di Giacomo Marramao e Victor Farías, in: »Corriere della Sera«, 25. Januar 2015, S. 6 – 7. Soboczynski, A., Was heißt „N.soz“?, in: »Die Zeit«, 26. März 2015. Tomasoni F., La modernità e il fine della storia. Il dibattito sull’ebraismo da Kant ai giovani hegeliani, Morcelliana, Brescia 1999. Trawny, P., Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Klostermann Frankfurt a. M. 20153. – Heidegger non va messo al bando ma il suo antisemitismo è innegabile, in: »Corriere della Sera«, 4. Juli 2015, S. 42. Vattimo, G., Heidegger antisemita indispensabile. Un grande filosofo e un pensiero sotto accusa. Vattimo risponde all’intervista sui „Quaderni neri“ pubblicata nel numero scorso, in: »L’Espresso«, 11. Dezember 2014, p. 109. – Il buco nero di Heidegger, Peter Trawny dimostra che è impossibile isolare le pagine antisemite dei „Quaderni“, dall’opera complessiva, in: »La Stampa«, 25. Juli 2015, p. vi. Veneziani, G., Guerra Francia-Germania per il filosofo antisemita. »Nouvel Observateur« pubblica inediti scritti heideggeriani contro gli ebrei. Sul- l’esegesi di »trappole del giudaismo« si azzuffano filologi delle due nazioni, in: »Libero«, 12. Dezember 2013, S. 31. Veneziani, M., Contro Heidegger una Norimberga che uccide il pensiero. Da trent’anni è in atto un processo al grande filosofo tedesco, imputato di antisemitismo. Accuse fondate, ma che cancellano il nocciolo della usa intera opera: l’opposizione alla deriva nichilista della modernità, in: »Il Giornale«, 27. Februar 2015, S. 27. Wolin, R., Addio Heidegger! Il dibattito dopo la pubblicazione dei »Quaderni Neri« e le tracce di antisemitismo rimettono in discussione il posto che il tedesco occupa nella storia della filosofia, ins Ital. übersetzt v. L. Lunardi, in: »corriere.it«, 17. April 2015. – La coerenza filosofica del nazismo di Heidegger, ins Ital. übersetzt v. E. Piromalli, in: »MicroMega« 2 (2015), S. 126 – 142.
Schriften von Martin Heidegger Schriften von Martin Heidegger
1. Werke Martin Heideggers Vom Geheimnis des Glockenturms, in: id., Aus der Erfahrung des Denkens, in: Gesamtausgabe, Bd. 13, Abt. 1: Veröffentliche Schriften 1910 – 1976, hrsg. v. H. Heidegger, Klostermann, Frankfurt a. M. 1983. Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, in: id., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, in: Gesamtausgabe, Bd. 16, Abt. 1: Veröffentlichte Schriften 1910 – 1976, hrsg. v. H. Heidegger, ebd., 2000, S. 107 – 117. Bemerkungen zu einigen Verleumdungen, die immer wieder kolportiert werden, in: id., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, S. 468 – 469. Die Grundprobleme der Phänomenologie, in: Gesamtausgabe, Bd. 24, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, ebd., 1975. Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, in: Gesamtausgabe, Bd. 29/30, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, ebd., 1992. Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, in: Gesamtausgabe, Bd. 31, hrsg. v. H. Tietjen, ebd., 1982. Vom Wesen der Wahrheit, in: id., Sein und Wahrheit, in: Gesamtausgabe, Bd. 36/37, hrsg. v. H. Tietjen, Klostermann, Frankfurt a. M. 2001, S. 81 – 264. Schelling. Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), in: Gesamtausgabe, Bd. 42, hrsg. v. I. Schüßler, ebd., 1988. Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, in: Gesamtausgabe, Bd. 63, hrsg. v. K. Bröcker-Oltmanns, ebd., 1988. Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: Gesamtausgabe, Bd. 65, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, ebd., 1989. Besinnung, in: Gesamtausgabe, Bd. 66, Abt. 3: Unveröffentlichte Abhandlungen. Vorträge – Gedachtes, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, ebd., 1997, S. 419 – 428. Metaphysik und Nihilismus, in: Gesamtausgabe, Bd. 67, Abt. 3: Unveröffentliche Abhandlungen, hrsg. v. H.-J. Friedrich, ebd., 1999, S. 4 – 174. Die Geschichte des Seyns, in: Gesamtausgabe, Bd. 69, hrsg. v. P. Trawny, ebd.,1998. Über den Anfang, in: Gesamtausgabe, Bd. 70, hrsg. v. P.-L. Coriando, ebd., 2005. Das Ereignis, in: Gesamtausgabe, Bd. 71, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, ebd., 2009. Die Stege des Anfangs (1944), in: Gesamtausgabe, Bd. 72, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, ebd. (in Vorbereitung). Überlegungen II – VI (Schwarze Hefte 1931 – 1938), in: Gesamtausgabe, Bd. 94, Abt. 4: Hinweise und Aufzeichnungen, hrsg. v. P. Trawny, ebd., 2014. Überlegungen VII – XI (Schwarze Hefte 1938/39), in: Gesamtausgabe, Bd. 95, Abt. 4: Hinweise und Aufzeichnungen, hrsg. v. P. Trawny, ebd., 2014.
330
Schriften von Martin Heidegger
Überlegungen XII – XV (Schwarze Hefte 1939 – 1941), in: Gesamtausgabe, Bd. 96, Abt. 4: Hinweise und Aufzeichnungen, hrsg. v. P. Trawny, ebd., 2014. Anmerkungen I – V (Schwarze Hefte 1942 – 1948), in: Gesamtausgabe, Bd. 97, Abt. 4: Hinweise und Aufzeichnungen, hrsg. v. P. Trawny, ebd., 2015. Was ist Metaphysik?, Klostermann, Frankfurt a. M. 200716. »Mein liebes Seelchen!«. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915 – 1970, hrsg. v. G. Heidegger, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. Écrits politiques 1933 – 1996, prés., tr. et notes par F. Fédier, Gallimard, Paris 1995.
2. Weitere Literaturhinweise Ales Bello, A./Alfieri, F. (Hrsg.), Edmund Husserl e Edith Stein. Due filosofi in dialogo (Filosofia, 62), Morcelliana, Brescia 2015. Brencio, F. (Hrsg.), La pietà del pensiero. Heidegger e i Quaderni neri, Aguaplano, Passignano s.T. 2015. Conrad-Martius, H., Phänomenologie und Spekulation, in: M.J. Langeveld (Hrsg.), Rencontre-Encounter-Begegnung. Festschrift für F.J.J. Buytendijk, Utrecht-Antwerpen 1957, S. 116 – 128; engl. Übersetzung Phenomenology and Speculation, in: »Philosophy Today« 3 (1959), S. 43 – 51. – Die transzendentale und die ontologische Phänomenologie, in: Ead., Schriften zur Philosophie. Gesammelte kleinere Schriften, hrsg. v. E. Avé-Lallemant, vol. III, Kösel, München 1963 – 1965, S. 385 – 402. Di Cesare, D., Heidegger e gli ebrei. I »Quaderni neri«, Bollati Boringhieri, Turin 2014. – Heidegger & Sons. Eredità e futuro di un filosofo, Bollati Boringhieri, Turin 2015. Fédier, F., Heidegger. Anatomie d’un scandale, Laffont, Paris 1988. – Regarder voir, Les Belles Lettres, Paris 1995. Iadicicco, A., Avvertenza della traduttrice, in: M. Heidegger, Quaderni neri 1938 – 1939 (Ri flessioni VII – XI), Bompiani, Mailand 2016, S. V – XII. Jonas, H., Wandlungen und Bestand. Vom Grunde der Verstehbarkeit des Geschichtlichen, in: V. Klostermann (Hrsg.), Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Klostermann, Frankfurt a. M. 1970. Herrmann, F.-W. von, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, Anton Hain, Meisenheim am Glan 1964. – Zeitlichkeit des Daseins und Zeit des Seins. Grundsätzliches zur Interpretation von Heideggers Zeit-Analysen, in: R. Berlinger/E. Fink (Hrsg.), Philosophische Perspektiven. Ein Jahrbuch, Bd. VI, Klostermann, Frankfurt a. M. 1972. Husserl, E., Briefe an Roman Ingarden. Mit Erläuterungen und Erinnerungen an Husserl (Phaenomenologica, 25), hrsg. v. R. Ingarden, Nijhoff, Den Haag 1968. – Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. W. Biemel, Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 6, Nijhoff, Den Haag 19762, S. 140. Kern, I., Einleitung des Herausgebers, in: E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter Teil: 1929 – 1935, in: Gesammelte Werke, Bd. XV, hrsg. v. i. Kern, Nijhoff, Den Haag 1973, S. XV – LXX.
Schriften von Martin Heidegger
331
Ott, H., Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Campus, Frankfurt a. M./New York 1988 (19922). Stein, E. Selbstbildnis in Briefen. II. Zweiter Teil: 1933 – 1942, Einleitung v. H.-B. Gerl-Falkovitz, Bearbeitung und Anmerkungen v. M.A. Neyer, 2. Auflage durchgesehen und überarbeitet v. H.-B. Gerl-Falkovitz (ESGA, 3), Herder, Freiburg/Basel/Wien 2006. – Selbstbildnis in Briefen. III. Briefe an Roman Ingarden, Einleitung v. H.-B. Gerl-Falko vitz, Bearbeitung und Anmerkungen v. M.A. Neyer, Fußnoten mitbearbeitet v. E. Avé-Lallemant (ESGA, 4), Herder, Freiburg/Basel/Wien 20052. – Potenz und Akt. Studien zu einer Philosophie des Seins, Eingeführt und bearbeitet v. H. R. Sepp (ESGA, 10), Herder, Freiburg/Basel/Wien 2005. – Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins, hrsg. v. L. Gelber u. R. Leuven (ESW, II), Herder, Löwen/Freiburg/Basel/Wien 1950, 19622, 19863. – Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins. Anhang: Martin Heideggers Existenzphilosophie – Die Seelenburg, eingeführt und bearbeitet v. A.U. Müller (ESGA, 11 – 12), Herder, Freiburg/Basel/Wien 2006. Trawny, P., Martin Heideggers Phänomenologie der Welt, Alber, Freiburg/München 1997. – Die Zeit der Dreieinigkeit. Untersuchungen zur Trinität bei Hegel und Schelling, Königshausen & Neumann, Würzburg 2002. – Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Klostermann, Frankfurt a. M. 20153. – Nachwort des Herausgebers, in: M. Heidegger, Überlegungen VII – XI (Schwarze Hefte 1938/39), ebd., S. 447 – 455. – Nachwort des Herausgebers, in: M. Heidegger, Überlegungen XII – XV (Schwarze Hefte 1939 – 1941), ebd., S. 277 – 285. Tugendhat, E., Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, de Gruyter, Berlin 1970. Vongehr, Th., »Der liebe Meister«. Edith Stein über Edmund und Malvine Husserl, in: D. Gottstein/H. R. Sepp [Hrsg.], Polis und Kosmos. Perspektiven einer Philosophie des Politischen und einer philosophischen Kosmologie. Eberhard Avé-Lallemant zum 80. Geburtstag, Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
Personenregister Personenregister
Adinolfi, M.
Bonifacio VIII. (Papst) 281
296 f., 310
Adorno, Th. W. 296
Brencio, F. 229 f.
Ales Bello, A.
Brock, W.
211
279
Alfieri, F. 17 – 25, 27, 30 – 32, 49 – 230, 211, 231 – 259, 310, 316 – 321, 323
Bröcker-Oltmanns, K. 44
Amato, M. 315
Bursztein, A.
Anaximander
Buytendijk, F. J. J.
Antiseri, D.
73 308
Arendt, H. 39, 225, 280, 321 Aristoteles
44, 48, 96, 214, 218, 307
Arjakovsky, P.
314 f.
Avé-Lallemant, E.
43
210, 233 f.
Azzarà, S. 301 f. Bachofen, J. J. Badiou, A.
Carioti, A.
292, 320
Caserza, G.
297 f. 305 – 307
Celan, P. 299 Ceronetti, G.
293 f.
Cohen-Skalli, C. 315
Coriando, P.-L.
84
dal Covolo, E.
Barmat, J.
Crétella, H. 315
151
Bäumler (Baeumler), A.
84
Beaufret, J. 246 Belpietro, M. 321 Benjamin, W. 290 189 113 243
Bernhard, Th. Bertoletti, I. Biemel, W.
313 295 f., 300, 305
230
Blochmann, E.
7
Cristin, R. 252
Barth, K. 133
Berlinger, R.
208 – 211
35, 227
Costa, V. 295 f.
309
Bergson, H.
290
Conrad-Martius, H.
Bandinelli, A. 308
Benz, W.
209
Caputo, J. D. 267
Conche, M.
Azzoni, G. 7, 12
106
267
Castagna, E.
Augias, C. 299 Augustinus von Hippo
Brunschvicg, L.
225, 279
Croce, B.
297
Dastur, F.
315
David, P. 315 De Angelis, M. 307 f. De Monticelli, R. Derrida, J.
293, 312
252 f.
Descartes, R.
48, 107, 124, 126, 129, 269
Di Cesare, D. 166, 170, 172, 229, 233, 234, 270, 273 – 276, 281 – 289, 291 – 301, 304 – 311, 313, 315 f., 320, 322 f. Dilthey, W.
113
Personenregister
333
Dobner, C. 305
Gerhart, W. siehe Gurian, W.
Dolcetta, M. 309
Gerl-Falkovitz, H.-B. 232 f.
Domarus, M. 150
Giuliani, M. 295
Dreyfus, A.
Glucksmann, A.
304
Eckhart, Meister Fabris, A.
313
269, 273, 296, 300, 307, 309
Fackenheim, E. L.
265
Farías, V. 24, 236 f., 245 – 247, 251, 256, 259, 282, 295 Faye, E. 246, 263 f., 282, 288, 291, 294, 298 f., 301, 304 f., 311 f., 314 – 316, 320 – 322, 346
Gnoli, A. Godani, P.
301
Goebbels, J.
220, 315
Goethe, J. W.
126
Goldkorn, W. 299 Gottstein, D. 234 Graml, H.
189 24, 273, 281 – 328, 282,
Faye, J. P. 306 f.
Gualdana, C. 317 f.
Fédier, F. 228 f., 245 – 247, 251, 311, 314 f., 322
Guest, H. 315 Gurian, W.
Fehér, I.
Haffner, S. 264
39
308
285 f., 298
276
Ferrara, G. 308
Hammerschlag, S. 267
Ferraris, M. 298
Hegel, G. W. F. 8, 20, 29, 38, 40, 47, 186, 216, 261, 265 f., 297, 306 f., 313
Fichte, J. G.
20, 48, 306
Figal, G.
228, 291 f., 298
Heidegger, Arnulf
Fink, E.
237, 243
Heidegger, Elfride siehe Petri, E.
25, 29, 318
Finkielkraut, A. 32, 282
Heidegger, Fritz 238, 244
Flores d’Arcais, P.
301
Heidegger, Gertrud 42
France-Lanord, H.
314 f.
Frege, F. L. G.
297, 310
Freud, S. 156, 162 Friedrich, H.-J. 35, 167 Frings, M. S. 265 Gabriel, M.
292
Gabutti, D.
324
Gadamer, H.-G. 24, 231, 236 f., 243, 245 – 259, 281, 299, 317 Gallou, M. 315 Geiger, M. 211 Gelber, L. 232 Gentile, G.
313
George, S. 115, 138, 161
Heidegger, Heinrich (Pfarrer) 238 f., 244 Heidegger, Hermann 29, 31, 70, 105, 183, 224 – 226, 279 – 280, 284, 286, 302, 317 – 319, 322 Heidegger, Martin passim Held, K. 29 Heraklit 8, 73 Herder, J. G.
126
Herrmann, F.-W. von 17 – 25, 17, 20, 26 – 48, 27, 33, 35, 46, 73, 121, 147, 214, 224, 226 f., 229, 231, 234 – 245, 247 – 250, 252, 254 – 258, 262, 282 f., 286 – 288, 290, 293 f., 297, 300 – 302, 306 f., 309 f., 313, 317 – 323 Herrmann, V. von
236
Personenregister
334
Hesse, M.
319
Levinas, E. 266 f.
Heyse, H.
82, 106, 116
Lévy, B.-H.
Hitler, A. 23 f., 32, 54, 61, 75, 80, 140, 150, 173 – 178, 181, 183, 185, 187, 189, 192, 195, 199, 204 – 206, 219, 228, 232, 251, 287, 295, 300, 308, 310, 314, 321 Hölderlin, J. Ch. F. 47, 85, 87, 91, 108, 122, 138, 157, 161, 225 – 227, 235, 300, 320 Honecker, M.
233
Hönigswald, R.
312
Litwinow, M. M. 156, 162 f. Löwith, K.
39, 279
Lunardi, L. 296 Luther, M.
282, 308
Lyotard, J.-F. 267 Mahnke, D.
259
Marcuse, H. 309
304
Margolis, J.
267
Husserl, E. 44, 48, 98, 158, 174, 176 f., 199, 201, 206 – 211, 230, 233 f., 241, 256, 259, 279, 312
Marramao, G. 295, 309
Husserl, M. 207, 234
Metz, J. B. 296
Iadicicco, A.
144, 298 f., 311 f.
Imhof, B. W. 234
Marx, K. 216 Messinese, L. 24, 261 – 278, 269 Moltmann, J. 296 Mussolini, B.
Ingarden, R. 208, 210 f., 233 Ishmael (Pseudonym, Journalist von „Italia Oggi“) 313 Jaspers, K. 106, 181, 225, 308 Jonas, H. 39, 302 Kant, I. 20, 48, 265 f., 268, 294, 296, 306 f.
174, 185
Nenon, Th. 199 Neyer, M. A. 233 Newton, I. 37 f. Nietzsche, F. W. 20, 40, 65, 84, 94, 100, 108, 125, 127, 156, 195, 161, 165 – 167, 176, 225 – 227, 235, 265 f., 283, 290, 297, 303 f., 307, 315, 319
Kaube, J. 293
Ocone, C. 297, 309
Kern, I.
Ott, H.
207
Kierkegaard, S. A.
44, 65, 195, 226
Klages, L. 69 Klostermann, V. 39, 224, 281 Kutisker, I. B.
151
259
Paliaga, S.
316
Parmenides von Elea Pascal, B.
106
Patterson, D.
165 – 268
Lacoue-Labarthe, Ph. 253
Paulus von Tarsus
Langeveld, M. J.
Persico, M.
Leibniz, G. W. von
209 37 f., 126, 259
Petri, E.
73, 308
43
319
23, 42, 235, 279, 295, 304
Lenin (Vladimir Il’ič Ul’janov) 214
Pfänder, A.
211
Leopardi, G. 309
Pflaumer, R.
Lettieri, G. 309
Piromalli, E. 301
Leuven, R. 232
Platon 186, 274, 316, 323
243
Personenregister Plebe, A.
310
Spinoza, B. de
Pöggeler, O. 48
Stein, E. 211, 231 – 234, 306, 316
294
Radek, K.
294
Stalin (Iosif Vissarionovič Džugašvili) 174 f., 187, 189, 219, 320
Polese, R. 293 Profeti, L.
335
Sternberger, D.
163
183
Strauss, L. 314
Reale, G. 308 Regazzoni, S. 311 Ricœur, P. 253
Szilasi, L. 279 Szilasi, W. 279
Rilke, R. M. 137 f., 161
Thomas von Aquin
de Robertis, R. 319
Tietjen, H.
Roche de la Torre, A. 273
Tillich, P.
Rockmore, T.
Tomasoni, F. 295 f.
268
Röhm, E. J. G.
247
Roosevelt, F. D. 174 Rosenberg, A.
176, 199
Roth, J. K. 265 Ruggeri, M.
320
Safranski, R. Sartre, J.-P.
264 246
Sauer, Professor
279
Schelling, F. W. J. 20, 29, 38, 122, 219, 221 Schild, A.
315
Schmitt, C.
315
Sepp, H. R. 199, 234 315
Severino, C. 293, 295, 298 Sgarbi, E. 319 Sheehan, T. Sieg, U.
Tugendhat, E. 241 Ulmer, K.
21, 41
Vattimo, G. 291, 293, 298 – 300, 316, 320 f., 324
Vinci, P.
294 309
Volpi, F. 224 – 226, 252 Vongehr, Th.
234
Vorsokratiker, Denker Wagner, R.
130
Weiß, H. 189
296
Wolin, R.
296, 301 – 303
Zagdanski, S.
Sokrates 312 303
73, 305, 323
Wittgenstein, L. 274, 307
264
Spengler, O.
Trawny, P. 28 – 32, 34 – 36, 41, 52, 103, 121, 148, 172 f., 223 f., 227, 235, 268 – 272, 275, 281 f., 284, 289, 291 – 293, 298, 300, 304 – 306, 311, 315 – 320, 322, 324
Welte, B. 238, 244
267
Soboczynski, A.
317
Vetter, H.
Schwœrer, V. 264, 304
Sessi, F.
Torno, A.
Veneziani, M. 313 f.
219
Schüßler, I. 37 f. Scianca, A.
34, 73, 297 183
Veneziani, G. 314
289
Schröter, M.
95, 294
Zola, É.
304
314 f.
Zu den Autoren Friedrich-Wilhelm von Herrmann ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Er war Assistent von Eugen Fink (von 1961 bis 1970) und letzter Privatassistent von Martin Heidegger (von 1972 bis 1976). Auf Wunsch Heideggers wurde er als wissenschaftlicher Hauptmitarbeiter an der ab 1975 in Gang gesetzten und noch fortlaufenden Gesamtausgabe seiner Schriften beauftragt. Von 1978 bis 2000 war er Inhaber der Professur für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Seine Monographien zeichnen Grundlinien in der Interpretation des Gesamtwerkes Heideggers, und darüber hinaus hat er Abhandlungen der Husserlschen Phänomenologie gewidmet sowie, im Laufe der Jahre, auch über Augustinus, Descartes und Leibniz. Unter dessen Publikationen: Die Selbstinterpretation Martin Heideggers (Hain 1964); beim Verlag Klostermann erschienen: Subjekt und Dasein. Interpretationen zu Sein und Zeit (32004), Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit (1992), Wege ins Ereignis. Zu Heideggers Beiträgen zur Philosophie (1994), Descartes’ Meditationen (2011); beim Verlag Duncker & Humblot: Leibniz. Metaphysik als Monadologie (2015). Francesco Alfieri ist Professor für Phänomenologie der Religion an der Pontificia Universitas Lateranensis (Staat Vatikanstadt). Er ist Chefsekretär von »Aqui nas«. Unter dessen Publikationen: Die Rezeption Edith Steins. Internationale Edith-Stein-Bibliographie 1942 – 2012 (Echter Verlag 2012); Pessoa humana e singularidade em Edith Stein. Uma nova fundação da antropologia filosofica (Perspectiva 2014); La presenza di Duns Scoto nel pensiero di Edith Stein. La questione dell’individualità (Morcelliana 2014; schon übersetzt auf Englisch: Springer 2015; Rumänisch: Ratio et Revelatio 2015; Portugiesisch: Perspectiva 2016).