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German Pages 1097 [1100] Year 2009
Josef Seifert Wahrheit und Person Vom Wesen der Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit De Veritate – Über die Wahrheit: 1
Realistische Phänomenologie: Philosophische Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago/Realist Phenomenology: Philosophical Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality of Liechtenstein and at the Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago Band IV/Volume IV
EDITORS Professor Juan-Miguel Palacios With Professor John F. Crosby and Professor Czesław Porębski ASSISTANT EDITORS Dr. Cheikh Mbacké Gueye Dr. Matyas Szálay EDITORIAL BOARD Professor Rocco Buttiglione, Rome, Italy Professor Martin Cajthaml, Olomouc, Czech Republic Professor Carlos Casanova, Santiago de Chile Professor Juan-José García Norro, Madrid, Spain Professor Balázs Mezei, Budapest, Hungary Professor Giovanni Reale, Milan, Italy Professor Rogelio Rovira, Madrid, Spain Professor Josef Seifert, Principality of Liechtenstein and Santiago de Chile Professor Tadeusz Styczeń, Lublin, Poland
Josef Seifert
Wahrheit und Person
Vom Wesen der Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit De Veritate – Über die Wahrheit: 1
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S. D. Prinz Nikolaus von und zu Liechtenstein, Botschafter des Fürstentums Liechtenstein in Brüssel und Präsident des Stiftungsrats der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der Pontificia Universidad Católica de Chile, herzlich gewidmet — in Freundschaft und Verbundenheit in dem Streben nach Wahrheit und ihrer Erkenntnis — mit dem Ausdruck tiefer Dankbarkeit für seine 25-jährige Freundschaft und treue Verbundenheit mit der IAP. Josef Seifert
INHALTSVERZEICHNIS
WAHRHEIT UND PERSON VOM WESEN DER SEINSWAHRHEIT, ERKENNTNISWAHRHEIT UND URTEILSWAHRHEIT
PROLEGOMENA DIE FRAGE NACH WESEN UND WERT DER WAHRHEIT ALS EINE PHILOSOPHISCHE GRUNDFRAGE ................................................................. 25 1. Die philosophische Frage nach der Wahrheit als eine Grundfrage der Philosophie……………………………………………………………..25
2. Die Objektivität des Wesens der Wahrheit und die Wissenschaftlichkeit philosophischer Erkenntnis der Wahrheit trotz mangelnden Konsenses unter den Vertretern diversester Wahrheitstheorien……………………………………………………... 29 2.1. Methodologische Schwierigkeiten und einige Mängel bisheriger Untersuchungen über die Wahrheit ...................................................... 32 2.2. Komplexität und Unendlichkeit des Wahrheitsproblems ...................... 37 2.3. Wille zur Wahrheit oder Wille zur Unwahrheit? Über die ethischen Bedingungen philosophischer Erkenntnis und die tiefste Wurzel des Dissenses in der Philosophie, selbst nach Realisierung ihrer höchsten wissenschaftlichen Form: Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, Haß der Wahrheit und Wille zur Unwahrheit ....................................... 39
3. Schlußbemerkungen über die Rolle der Wahrheit für menschliches Denken, Handeln und Leben und über fünf Grundbedeutungen von Wahrheit und die Aufgabe dieses Buches……………………………...49
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Inhaltsverzeichnis KAPITEL 1 DIE WAHRHEIT DES SEINS UND WESENS – „ONTOLOGISCHE WAHRHEIT“
I. SEINSWAHRHEIT „IN DEN DINGEN“ (INTRINSISCHER SINN VON ONTOLOGISCHER WAHRHEIT)................................................................. 61 1. Seinswahrheit als „wahrhaftes Sein des Seienden“ – Vier rein ontologische Bedeutungen des Axioms “ens et verum convertuntur” und eine Lehre vom ‚verum‘ als transcendentale in se……………….. 61 1.1. Das Wahre als mit dem Seienden identisch (allgemeinster rein ontologischer Sinn von „ontologischer Wahrheit“). „Die Wahrheit ist (einfach) das, was ist“ – die Unzurückführbarkeit der Seinswahrheit auf die ersten ontologischen Prinzipien, die aber notwendige Korrelate der „rein ontologischen Wahrheit“ im allgemeinsten (transzendentalen) Sinn sind: Kritiken der Kritiken des Begriffs der ontologischen Wahrheit.............................................. 61 1.2. Seinswahrheit als ontologische Autonomie aller wirklich und ideal Seienden und aller (auch fiktiver) Sachen und Sachverhalte, die in irgendeinem Sinne dem Bewußtsein gegenüber autonom sind und sogar Nichtseiendes (Negationen, negative Sachverhalte) einschließen – eine erste allgemeinste und transzendentale Grundbedeutung von „ontologischer Wahrheit“ sowie ihre immense Abstufung und die verschiedenen Begriffe ontologischer Wahrheit unter diesem Gesichtspunkt ........................................................................................ 70 1.3. Ontologische Wahrheit als Wirklichsein: als actualitas rei und als „Ungetrenntheit des Daseins vom Seienden“ oder von „Sein und Wesen“ – Fünf Seinsmodi als allen Kategorien vorausliegende Verschiedenheiten der Seinsform und weiterer grundlegender Sinn der „rein ontologischen Wahrheit“ des Wirklichseins, sowie Grade dieser ontologischen Wahrheit je nach dem Rang des Realseins ............................................................................................... 75 1.4. Ontologische Wahrheit als Ursache und Fundament der Urteilswahrheit (dritte spezifische Grundbedeutung ontologischer Wahrheit): Das Seiende und die Sachverhalte sind wahr, weil sie das ontologische Fundament und Korrelat der Urteilswahrheit sind.... 86
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1.5. Ontologische Wahrheit als „Eigentlichkeit“ und als „Wesensentsprechung“ und Harmonie zwischen „einem Ding und seinem Logos“ – Ontologische Wahrheit im vierten spezifischen Sinn als Erfüllung der objektiven Wesensintention eines Dinges und vor allem des wahren Selbst ..................................... 94
2. Ein weiterer intrinsischer Sinn von „Ontologischer Wahrheit“: Das Gute als das Wahre – Ontologische Wahrheit als innere axiologische Eigenschaft und Rechtfertigung des Seins……………….96
II. ONTOLOGISCHE WAHRHEIT IN RELATIONEN DES SEIENDEN ZU ETWAS ANDERE ............................................................................................ . 103 1. Ontologische Wahrheit als Sinn und Verstehbarkeit: innere, doch zugleich –als „Geistoffenheit“ – relationale Eigenschaft des Seins… 103 1.1. Ontologische Wahrheit im allgemeinen als Intelligibilität des Seins: Zu einer personalistischen und platonischen Dimension der Seinswahrheit ................................................................................104 1.2. Die Seinswahrheit als „transzendentale Intelligibilität“ allen Seins: Zur thomasischen Interpretation der „ontologischen Wahrheit“ als einer implizite „personalistischen Metaphysik“ ..........107 1.3. Ontologische Wahrheit als Intelligibilität nichtnotwendiger sinnvoller Wesen: Rationalität und Intelligibilität in den empirischen Wissenschaften ...............................................................115 1.4. Ontologische Wahrheit als die „einleuchtende innere Wahrheit“ des Wesensnotwendigen, Einsichtigen ...............................................117 1.5. Die Grenzen der Einteilung der Seinswahrheit der Erkennbarkeit und ihre Verbindung mit der ontologischen Wahrheit in den vorhergehenden Bedeutungen .............................................................120 1.6. Der Vorteil des Begriffs der ontologischen Wahrheit als Erkennbarkeit und Einsehbarkeit anstatt der Identifizierung von Wahrheit mit dem autonomen Sein und der Wirklichkeit selber .......121 1.7. Die Unerschöpflichkeit der ontologischen Wahrheit und die Endlichkeit des menschlichen Geistes ................................................122
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2. Ontologische Wahrheit als Entsprechung zwischen Wesen und Erscheinung des Seienden……………………………………………. 124
3. Ontologische Wahrheit als Entsprechung (Adaequatio) zwischen Ding und einem transzendenten Maß………………………………....127 3.1. Wahrheit als ontologische Entsprechung zwischen einem Ding und einem transzendenten Maß...........................................................127 3.2. Seinswahrheit als Entsprechung zwischen einem Seienden und seiner Idee (seinem transzendenten Eidos) – das erste ‚transzendente Maß‘ ............................................................................128 3.3. Wahrheit des Seins als Angleichung an die göttlichen Ideen ..............134 3.3.1. Die platonischen eide als göttliche Ideen……………………………. 136 3.3.2. Augustinus und Thomas platonischer als Platon: individuelle Ideen...138
3.4. Wahrheit des Seins und des Lebens als Verähnlichung mit Gott: ontologische als sittliche Wahrheit ..................................................... 140
III. ONTOLOGISCHE WAHRHEIT „ÜBER DEN DINGEN“ ALS INNERE WAHRHEIT DER EIDE UND DER IDEEN SELBST UND ALS INNERE WAHRHEIT DES ABSOLUTEN GÖTTLICHEN SEINS ................................ 142 1. Seinswahrheit als innere Wahrheit der ewigen Ideen (Wesenheiten) selbst…………………………………………………. 142
2. Innere Wahrheit als höchste Form innerer Sinnhaftigkeit und Wesensnotwendigkeit…………………………………………………147
3. Innere Wahrheit als Richtmaß der „Annäherung“ der Dinge an die Idee – Ontologische Wahrheit der “causa exemplaris” als Quelle der Wahrheit des “exemplatum” als “adaequatio rei ad intellectum” (ad ideam)………………………………………………. 147
4. „Innere Wahrheit“ als höchste Intelligibilität und als höchstes Kriterium der Erkenntnis und Beweis des „in sich selber Seins“ dessen, was jene höchste innere Wahrheit besitzt…………………… 148
5. „Innere Wahrheit“ als wahre Unendlichkeit des Seins, der Intelligibilität und des Guten sowie der realen Existenz: „Ontologische Wahrheit“ im Sinne der reinen Vollkommenheiten in ihrer unendlichen Gestalt – als innere Wahrheit des Absoluten
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Göttlichen Seins selber, einer höchsten ontologischen Wahrheit, die allein Gott zukommt und die Er IST……………………………...149
IV. DIE BEDEUTUNG DER ONTOLOGISCHEN WAHRHEIT FÜR DIE ETHIK: DIE HÖCHSTE WAHRHEIT DES SEINS ALS SITTLICHE WAHRHEIT UND ALS “VERITAS VITAE” ................................................................ 153 1. Die intrinsische ontologische Wahrheit, vor allem als Aktualität des Wirklichen verstanden, im Verhältnis zur Moral…………………153
2. Die Wahrheit des Seins im Sittlichen als höhere Intelligibilität und Transparenz des Seins………………………………………….... 155
3. Die ontologische Wahrheit des sittlich Guten als axiologische – als Wertwahrheit………………………………………………………156
4. Die ontologische Wahrheit als „Entsprechung“ im sittlich Guten……157
5. Die höchste Erfüllung der ontologischen Wahrheit jenseits aller „Entsprechung“ im absoluten sittlich Guten…………………………. 158
KAPITEL 2 WAHRHEIT DES ERKENNENS 1. Einleitende Worte über Erkenntniswahrheit als eigenständiges und faszinierendes Ur-Phänomen, dessen Untersuchung und weitere phänomenologische Erhellung insbesondere angesichts seiner Fehlinterpretationen nötig sind………………………………………. 159
2. Ontologische Wahrheit und Erkenntnis: das Prinzip der Intelligibilität des Seins als ontologische Grundlage der Erkenntniswahrheit…………………………………………………... 166 2.1. Die transzendentale ontologische Wahrheit aller Seinsmodi als Bedingung und Quelle der Erkenntniswahrheit und die Gründe für die partielle Unanwendbarkeit des Satzes von der Intelligibilität allen Seins auf manche rein intentionale und menschenerzeugte logische Gebilde ..................................................................................166 2.2. Die Rolle der ersten ontologischen Prinzipien für die Intelligibilität und Erkennbarkeit allen Seins.............................................................175
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3. Exkurs über die verschiedenen Arten von ‘Adaequatio’ (Angemessenheit) im Reich der ontologischen Wahrheit und der Erkenntniswahrheit……………………………………………………178 3.1. Adaequatio als Entsprechungen nicht-personaler und nicht wesenhaft personaler Art und personbezogene Momente in nicht-personalen Formen der Entsprechung .......................................184 3.2. Adaequatio als Entsprechung zwischen etwas nicht (wesenhaft) Personalem und der Person .................................................................190 3.3. Personale Adaequatio als Adaequari ...................................................191 3.4. Die Entsprechung geistiger, aber nicht selber personaler Gebilde mit der Wirklichkeit als Gegenstand des nächsten Kapitels ...............191
4. Die Wahrheit der Erkenntnis als Adäquation sui generis und als mehr denn Adäquation: „Erkenntniswahrheit als selbsttranszendierendes“ – ‚etwas in dem Begreifen, daß es ist oder nicht ist, und was und wie es ist, und weil es ist oder nicht ist, weil es das ist, was es ist, und nichts anderes, und weil es so ist, wie es ist und nicht anders‘……………............................................... 192
5. Was ist der Träger der Erkenntniswahrheit – Sinneswahrnehmung, Wesenserfassung (simplex comprehensio), Sachverhaltserkenntnis, Begriffsbildung, Überzeugung oder Urteilsakt?................................... 201 5.1. Sinneswahrnehmung und Erkenntniswahrheit ....................................202 5.2. Begriffsbildung, Definition, Erkenntnis und Urteilsakt als mögliche Träger der Wahrheit ............................................................................208 5.3. Wahrheit des Urteilsaktes oder des Urteilsinhalts? .............................211
6. Erkenntnisakte als Träger der Erkenntniswahrheit und die verschiedenen Abstufungen und Gegensätze der Erkenntniswahrheit…………………………………………………...216 6.1. Erkenntniswahrheit als solche und die Wahrheit der Erkenntnisakte im engeren Sinn (evidente und unbezweifelbare Erkenntnis) als der eindeutigste, unendlich abgestufte, Träger der Erkenntniswahrheit .............................................................................216 6.2. Verschiedene Vollkommenheiten und Gesichtspunkte der Abstufung der Erkenntniswahrheit .....................................................221
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6.2.1. Nach dem Gegenstand der Erkenntnis………………………………. 221 6.2.1.1. Stufen der Erkenntniswahrheit hinsichtlich der Autonomie des erkannten Seins: Von der Erkenntnis von Erscheinungen zur Erkenntnis des Dings an sich – ein wesentlicher Gesichtspunkt für Erkenntniswahrheit und ihre Abstufung………………………………………………….. 221 6.2.1.2. Wahrheit der Erkenntnis nach dem Grad der Verstehbarkeit ihres Gegenstands………...……………….. 225 6.2.1.3. Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit je nach dem Wert ihres Gegenstandes……………………………... 226 6.2.2. Nach den inneren Eigenschaften der Erkenntnis und deren Relation zu ihrem Gegenstand………………………………………………….226 6.2.2.1. Evidenz……………………………………………………... 226 6.2.2.2. Klarheit…………………………………………………… 228 6.2.2.3. Vollständigkeit……………………………………………. 228 6.2.2.4. Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit nach der Tiefe der Erkenntnis……………………………………… 229 6.2.2.5. Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit gemäß der Unmittelbarkeit einer Erkenntnis………………………… 230
6.3. Erkenntniswahrheit kraft der rezeptiven Transzendenz des Erkennens und ihres Zugangs zu den Dingen an sich und ihre Gegensätze: Irrtum, prinzipielle Unerkennbarkeit (wie Kant sie vom Ding an sich behauptete), und tatsächliche partielle Verborgenheit vor dem menschlichen Geist .......................................231 6.4. Die Anerkennung der Erkenntniswahrheit verlangt eine Beseitigung einiger Verwechslungen und Äquivokationen von ‚Subjekt‘, ‚subjektiv‘ und anderer ...............................................236 6.5. Erkenntniswahrheit als erkennende Aktualisierung der Wahrheit des Urteils (der ‚logischen Wahrheit‘) ................................239 6.6. Erkenntniswahrheit als Erfüllung der ontologischen Wahrheit und als A-letheia. Verborgenheit des Seins als dritter Gegensatz zur Erkenntniswahrheit .......................................................................239 6.7. Unverzichtbarer Adäquationsbegriff und A-letheia im Kontext der Erkenntniswahrheit .............................................................................243
7. Einige Resultate der Untersuchungen über Erkenntniswahrheit…….. 244 7.1. Erkenntniswahrheit als Wahrheit in einem einzigartigen Sinn ...........245
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Inhaltsverzeichnis 7.2. Die Besonderheit der Erkenntniswahrheit im Licht der ‚rezeptiven Transzendenz‘ des Erkennens .............................................................245 7.3. Differenzierung der Erkenntniswahrheit je nach den Arten und Stufen des Erkennens ...................................................................246
8. Die absolute Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit……………… 247 KAPITEL 3 DIE LOGISCHE WAHRHEIT ODER URTEILSWAHRHEIT – ZUM WESEN DER LOGIK, DER WAHRHEIT SOWIE DER ROLLE UND MODIFIKATION VON WAHRHEITSANSPRÜCHEN IN DEN VERSCHIEDENEN ARTEN VON URTEILEN, SCHLÜSSEN UND BEWEISEN 1. Das Problem der Urteilswahrheit als Gegenstand einer rein philosophischen Logik – Eine mathematisierend-symbolische Logik als außerphilosophische Disziplin, die bedeutende Fortschritte erzielt hat, aber unter zwei Bedingungen als philosophischer Rückschritt wissenschaftlicher Logik zu erachten ist……………………………................................................ 251
2. Von Wesen und Wahrheit des Urteils………………………………...264 2.1. Was ist Träger der Urteilswahrheit? Über den Unterschied zwischen Urteilsakten und dem Urteil als objektiver logischer Entität ..................................................................................265 2.1.1. Individuelle Verschiedenheit der Urteilsakte gegenüber Allgemeinheit und Einheit der objektiven ‚Urteile‘…………………………………. 266 2.1.2. Verschiedenheit des immanenten Inhalts des Urteilsaktes vom objektiven logischen Urteil…………………………………………... 267 2.1.3. Das Urteil ist eine komplexe, aus Begriffen bestehende Bedeutungseinheit, die über ihre Bedeutung hinaus auch Funktionen erfüllt, der Akt des Urteils nicht………………………… 268 2.1.4. Der Urteilsakt (Behauptungsakt) wird von innen her bewußt vollzogen und besitzt viele weitere Prädikate, die dem logischen Urteil notwendig fehlen…………………………………. 270
2.2. Vom Unterschied zwischen Wort und Begriff, Urteil und Satz ....…..272 2.3. Vom Unterschied zwischen Begriffen und Sachen – Urteilen und Sachverhalten ......................................................................................274
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3. Sachverhalt und Urteil……………………………………………….. 276 3.1. Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs.............................................276 3.2. Was also ist ein Sachverhalt? Innere Wesensmerkmale von Sachverhalten ......................................................................................281 3.2.1. Eine einfache oder nur eine disjunktive Kurzformel für die formalontologische Seinsform des Sachverhalts?........................................... 281 3.2.2. Sachverhalte enthalten Gegenstände und Attribute, bestehen aber nicht aus diesen. Die „Transzendenz“ des Sachverhalts gegenüber dem Ding und dessen Prädikaten………………………... 283 3.2.3. Sachverhalte bestehen weder aus Begriffen noch aus Worten………. 284 3.2.4. Sachverhalte behaupten nichts und können nicht wahr oder falsch sein. Daher unterscheiden sie sich wesenhaft von Urteilen und Sätzen….........................................................................................285 3.2.5. Der Unterschied zwischen Urteilen und Sachverhalten ergibt sich auch aus deren weiterem Merkmal, unabhängig von Urteilen bestehen und gleichgut Gegenstand anderer Gedanken- und Aktarten sein zu können……………………………………………... 285 3.2.6. Sachverhalte zerfallen ebenso notwendig in positive und negative wie kategorische Urteile zwangsläufig positive oder negative Qualität haben………………………………………………………. 286 3.2.7. Alle Dinge, deren Attribute, sowie alle Sachverhalte begründen neue Sachverhalte bzw. sind in Sachverhalte niedrigerer oder höherer Ordnung eingebunden: Nichts ist jenseits von Sachverhalten………………………………………………………… 286 3.2.8. Die notwendige Unendlichkeit der Anzahl von Sachverhalten………287 3.2.9. Die Daseinsform von Sachverhalten: Sachverhalte bestehen und existieren nicht……………………………………………………….. 289 3.2.10. Sachverhalte können zeitlich und zeitlos, notwendig und kontingent, real und fiktiv sein und an allen Seinsmodi in bestimmtem Maß teilhaben: eine Kritik an Meinongs und Reinachs These der Zeitlosigkeit aller Sachverhalte (Objektive)…...…........... 294 3.2.11. Alle Sachverhalte, die das ontische Fundament der Wahrheit von Urteilen sind und diese in gewissem objektivem Sinn ‚wahr machen‘, bestehen ‚an sich‘ im weiteren Sinn und besitzen eine ontische Autonomie gegenüber dem Urteil, unterscheiden sich deshalb von den nicht tatsächlich bestehenden und rein intentionalen Sachverhalten, die Gegenstand von irrigen Meinungen und falschen Urteilen sind……………………………... 296
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Inhaltsverzeichnis 3.2.12. Sachverhalte sind keine Relationen…………………………………296
3.3. Trägerschaft anderer Prädikate durch Sachverhalte ............................305 3.3.1. Sachverhalte als Träger von Modalitäten……………………………. 305 3.3.2. Sachverhalte als Träger anderer Eigenschaften………………………305
3.4. Äußere logische und ontische Wesensmerkmale und Relationen innerhalb der Sachverhalte ..................................................................306 3.4.1. Relation des einander Einschließen…………………………………..306 3.4.2. Grund-Folge…………………………………………………………. 307 3.4.3. Sachverhalte stehen in der Relation kontradiktorischer Gegensätze zueinander……………………………………………………………. 311 3.4.4. Sachverhalte unterliegen dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten in seinem ontischen Sinn…………………………………….. 311 3.4.5. Sachverhalte als Gegenstand bestimmter und niemals anderer affektiver Antworten und als Träger bestimmter Werte und Unwerte……………………………………………………………… 312 3.4.6. Äußere Relationen von Sachverhalten zur Sprache, logischen Gedankengebilden, Denkakten, Willensakten und affektiven Antworten……………………………………………………………. 313 3.4.6.1. Sprachliche Ausdrucksweisen, die auf Sachverhalte hinweisen…………………………………………………. 313 3.4.6.2. Logische Gedankeninhalte, die sich notwendig oder häufig auf Sachverhalte beziehen: Urteile, Fragen, u.a…... 314 3.4.6.3. Beziehung zwischen Sachverhalt, Denkakten, Frageakten und intellektuellen Antworten……………………………. 314 3.4.6.4. Die verschiedene Eigenart jener Sachverhalte, die Akten des Wollens, Handelns und Hoffens entsprechen……….. 320 3.4.6.5. Sachverhalt und Fühlen…………………………………... 320 3.4.7. Alle dargelegten Argumente ersetzen nicht das direkte intellektuelle Erschauen des unreduzierbaren Datums der Sachverhalte…………... 321
4. Der Sachverhalt als Gegenstand des Urteils und dessen Wahrheit…...321
5. Die sogenannte Modalität des Urteils und die durch verschiedene Urteilsmodalitäten bedingten Abwandlungen des Wahrheitsanspruchs von Urteilen und deren Auswirkungen auf die Logik der Schlüsse…………………………………………………… 328 5.1. Logische gegenüber ontischen Modalitäten: ihre Verschiedenheit und einige grundlegende Beziehungen zwischen ihnen .....................328
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5.2. Welche ontischen Modalitäten (verschiedene Seinsmodalitäten und Seinsweisen) müssen wir unterscheiden? ....................................340 5.3. Logische Modalitäten: ihre Unabhängigkeit von ontischen Modalitäten trotz der ontologischen Fundierung der Logik ...............344 5.4. Epistemische Modalitäten und epistemische Begründungsmodalitäten ....................................................................349 5.5. Einige Verwechslungen in der modernen Modallogik ........................355 5.6. Ethische Modalitäten ...........................................................................358 5.7. Zeitliche Modalitäten ...........................................................................358 5.8. Doxastische Modalitäten ......................................................................359 5.9. Rein psychische Modalitäten und ihr Verhältnis zu logischen, epistemischen und ontischen Modalitäten ..........................................359 5.10. Die Gefahr der Verwechslung der verschiedenen Arten von Modalität und vielfache Wechselbeziehungen zwischen ihnen – Eine eingehende Klärung dieser Unterschiede würde eine rein philosophische Fundierung einer Revolution und Vertiefung der formalen und materialen modalen Logik ermöglichen .....................360
6. Wahrheitsanspruch und Wahrheit des Urteils entsprechend der ‚Quantität‘ des Urteils………………………………………………... 364
7. Modifikation des Wahrheitsanspruchs des Urteils entsprechend der Qualität der Urteile……………………………………………………368
8. Die Modifikation des Wahrheitsanspruchs gemäß den ‚Relationen‘ des Urteils (kategorischen, hypothetischen, konjunkten und disjunktiven Urteilen)…………………………………………………369
9. Logische Relationen zwischen verschiedenen wahren Urteilen, der Unterschied zwischen Schluß und Beweis hinsichtlich ihres Wahrheits- und Begründungsanspruchs…………………………….. 387 9.1. Die im Schluß enthaltenen Urteile und ihre Wahrheitsansprüche .......387 9.2. Der Anspruch auf Gültigkeit (Folgerichtigkeit), der ein weiteres Urteil einschließt, das einen Anspruch auf Wahrheit erhebt ..............388
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Inhaltsverzeichnis 9.3. Der Anspruch auf einen Wahrheitszusammenhang zwischen Wahrheit der Prämissen und der Konklusion und seine Verschiedenheit vom Anspruch auf Gültigkeit ..................................389 9.4. Der Anspruch auf einen Begründungszusammenhang ........................389 9.5. Der Unterschied zwischen gültigem Schluß, der Erfüllung seines Wahrheits- und Begründungszusammenhangs und Beweis ...............390
KAPITEL 4 DAS EWIGE UND VOLLKOMMENE SEIN DER URTEILSWAHRHEIT UND DIE PERSON EINE PLATONISCH-AUGUSTINISCHE UND PERSONALISTISCHE METAPHYSIK DES ONTOLOGISCHEN STATUS DER URTEILSWAHRHEIT 1. Abhängigkeit und zugleich Unabhängigkeit der Existenz der Urteilswahrheit vom personalen Geist – Ein Paradox?.........................393
2. Argumente für die vom Menschen unabhängige Existenz der Wahrheit und Antwort auf Einwände………………………………... 401 2.1. Universale Einheit und Identität der Wahrheit ....................................402 2.2. Zeitlosigkeit der Wahrheit ...................................................................406 2.3. Ein an Reinach orientierter Einwand. Wahrheit, Sachverhalt und die Wirklichkeit der ‚bloß möglichen‘ Wahrheit .........................409 2.4. Die ‚logische Einheit‘ der Urteilswahrheit und die Unendlichkeit der Wahrheitsimplikationen jedes wahren Urteils ..............................415 2.5. Unhaltbarkeit einer bruchstückhaften Existenz der Wahrheit .............420 2.6. Die Wahrheit als „das Ganze“ kann nicht vom menschlichen Denken abhängen ................................................................................420 2.7. Irrtum ohne Wahrheit unmöglich ........................................................423 2.8. Die Unvollkommenheit der menschlichen Fassung und Formulierung wahrer Urteile schließt aus, daß ‚die Wahrheit‘ nur durch den menschlichen Geist besteht..........................................424
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2.9. In welchen menschlichen Gedanken soll Wahrheit zu bestehen beginnen? Die Unmöglichkeit einer vernünftigen Antwort auf diese Frage erweist die Gegenthese als unhaltbar ..............................427 2.10. ‚Sprachanalytische‘ Argumente bekräftigen die Erkenntnis, daß der Bestand von Wahrheit nicht von menschlichen Urteilen abhängt ................................................................................................431
3. Direkte Einsicht in die Transzendenz ‚der Wahrheit selbst‘ gegenüber ihrer ‚Verkörperung‘ in menschlichen Urteilen und ihrer weiteren Wesenseigenschaften als Ziel aller ‚dialektischen Argumente‘…………………………………………………………... 434
4. Antwort auf Einwände………………………………………………. 440 4.1. Der erste Einwand: Alles, was wir von zeitlosen und von menschlichen Gedanken unabhängigen Wahrheiten gesagt hätten, gelte auch von zeitlosen Falschheiten – eine Art reductio ad absurdum oder wenigstens Einschränkung der positiven Bedeutung unserer Argumentation für das zeitlose Bestehen der Wahrheit ..............................................................................................440 4.2. Widerlegung der Einwände gegen die ‚Wirklichkeit möglicher wahrer Urteile‘ aus der ‚Unwirklichkeit‘ bzw. dem ganz anderen ontologischen Status und Bezug zur Wirklichkeit ‚möglicher falscher Urteile‘...................................................................................446 4.3. Ein weiterer Einwand: Wenn die eben vorgetragene Position richtig wäre, so wären vom Menschen gefällte Urteile nicht mehr wahr und Wahrheit würde sich durch ihre radikale Transzendenz und Jenseitigkeit völlig getrennt von menschlichen Urteilen in einem intelligiben Kosmos befinden, was den Menschengeist ganz von der Wahrheit abschneiden würde ........................................450
5. Vom Wert der Wahrheit: ein weiteres axiologisches Argument für den unvergleichlichen ontischen Status der Urteilswahrheit gegenüber jenem der Falschheit……………………………………… 452
6. Der Einwand, unsere These der trotz ihrer idealen Existenz bestehenden Einbettung der Urteilswahrheit in die wirkliche Welt personaler Akte stelle einen Rückfall in einen überholten
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Platonismus, in den Psychologismus oder sogar eine unüberzeugende Mischung beider dar – Guter und schlechter Platonismus sowie sechs verschiedene Bedeutungen von Psychologismus………………………………………………………. 455
7. Schluß-Ausblicke…………………………………………………….. 460
KAPITEL 5 „ICH BIN DIE WAHRHEIT“ – IST DIE WAHRHEIT EINE PERSON?
1. Ein Mensch als die Wahrheit ? – Ein grotesker und blasphemischer Anspruch……………………………………………………………... 462
2. Kann überhaupt eine Person, selbst eine göttliche, die (Urteils) Wahrheit sein?.......................................................................................467
3. Michel Henry’s rein spekulative, gnostische und pantheistische Interpretation des Satzes „Ich bin die Wahrheit“…………………….. 469 3.1. Jeder bloße Mensch sei Sohn Gottes und dürfe daher von sich sagen, er sei die Wahrheit ...................................................................471 3.2. Es gelte daher nicht von Gott allein, daß er die Wahrheit sei, sondern auch von uns, allerdings nur weil wir letztlich mit Gott und dem einzig Absoluten, mit dem Leben selber, identisch seien ....474 3.3. Die Aussage eines Menschen, er sei die Wahrheit, ergäbe also für jeden Menschen Sinn.....................................................................475 3.4. Die Aussage des Menschen Jesus „Ich bin die Wahrheit“ dürften wir nicht nur in einem religiösen Glauben annehmen, sondern es gäbe eine rein philosophische Einsicht in sie .................................475
4. Gott allein kann von sich sagen „Ich bin die Wahrheit“ – Eine von jener Henrys völlig verschiedene Interpretation…………… 477 4.1. „Ich Bin die Wahrheit“ im Sinne der Erkenntniswahrheit ..................477 4.1.1. Vollständigkeit………………………………………………………. 478 4.1.2. Erkennen der Unendlichkeit, Unmittelbarkeit, restlose Tiefe, unfehlbare Gewißheit und weitere Vollkommenheiten der Erkenntniswahrheit in ihrer reinen Form…………………………….. 481
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4.1.3. Zusammenfallen von Sein und Erkennen: Ich bin die Wahrheit……. 483
4.2. „Ich Bin die Wahrheit“ im Sinne der ontologischen Wahrheit ...........486 4.3. „Ich bin die Wahrheit“ als Aussage über die Identität der logischen Wahrheit mit Gott – die Wahrheit als Person und der „Veritas-Beweis“ für Gottes Existenz aus der logischen Wahrheit....489 4.4. Konklusion: Gott ist in jeder Hinsicht die Wahrheit selbst .................492
“Quid enim fortius desiderat anima quam veritatem?” „Denn was ersehnt die Seele heftiger als die Wahrheit?“ Augustinus, In iohannis ev. Tr. CXXIV “Je désirais vaquer seulement à la recherche de la vérité” „Ich wollte allein der Erforschung der Wahrheit nachgehen“. René Descartes, Discours de la Méthode, IV.
PROLEGOMENA DIE FRAGE NACH WESEN UND WERT DER WAHRHEIT ALS EINE PHILOSOPHISCHE GRUNDFRAGE
1. Die philosophische Frage nach der Wahrheit als eine Grundfrage der Philosophie Wenn wir Augustins Wort, das wir als Motto dieses Buches gewählt haben, „Wonach sehnt sich die Seele mehr als nach der Wahrheit?“1 hören, wird uns sogleich klar, daß sich diese Sehnsucht nicht bloß auf die Wahrheit bestimmter Urteile über triviale Inhalte richten kann, sondern daß hier Wahrheit in einem gesamthaften und tiefen Sinne gemeint sein muß. Und in einem solchen umfassenden Sinne möchten wir die Frage danach, was Wahrheit ist, in diesem Buch stellen und soweit als möglich zu beantworten suchen. „Was ist Wahrheit?“ ist eine der grundlegendsten Fragen der Philosophie. Daß sie grundlegend ist, erkennt man daraus, daß ihre Bedeutung innerhalb eines philosophischen Ganzen so ausschlaggebend ist, daß sich die verschiedenen Philosophien in besonderem Maße an diesem Punkte unterscheiden, wie sie Wahrheit verstehen. Man könnte die ganze Geschichte der Philosophie und alle großen Systeme derselben danach klassifizieren, welches Wahrheitsverständnis ihnen zugrundeliegt. Über die Frage „Was ist Wahrheit?“ können wir scheinbar Gegensätzliches aussagen: sie ist zugleich eine erste und eine letzte, zugleich eine einfachste und eine schwierigste, eine elementarste und eine komplexeste, eine schlichteste und eine tiefste Frage. Daß die Frage nach Wahrheit eine der ersten Fragen ist, erhellt schon daraus, daß jeder Gedanke und jeder Satz sie bereits voraussetzt; zugleich ist sie eine letzte Frage, da sie, indem sie sich auf Urteile, Erkenntnis, Sprache, Kunst, auf Leben und Moral, auf das Sein als solches und auf das absolute Sein bezieht, ein so weites Feld umspannt, daß sie erst am Ende aller Philosophie ihre rechtmäßige Stelle zu haben scheint; sie ist auch 1
Augustinus, Io. Ev. Tr. 26:5.
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noch in einem ganz anderen Sinne eine ‚letzte‘ Frage: ihr Gegenstand schließt die äußerste und höchste Sphäre des Seins, des Wesens sowie des Geistigen ein, jene letzte Ebene des Seins und des Geistes, über die hinaus man nicht mehr gehen und fragen kann. Die Frage nach der Wahrheit ist einfach, elementar und schlicht, weil ein jeder von uns tagtäglich die Ausdrücke ‚wahr‘ und ‚falsch‘ verwendet und dabei offenbar ein Vorverständnis der Bedeutung dieser Worte und der mit ihnen bezeichneten Gegenstände besitzt. In diesem Sinne weiß jedes Kind, was Wahrheit ist und es erfordert keinerlei besonderes Raffinement des Denkens oder Erfahrens, um zu verstehen, was wir mit Wahrheit meinen. Wie Augustinus von der Zeit sagt, wissen wir alle, was die Zeit ist, solange uns niemand danach fragt. Dasselbe gilt auch von der Wahrheit. Daher sind auch jene prätentiösen Wahrheitstheorien, die – wie jene Heideggers – implizieren, daß sie uns zuallererst erschließen, was Wahrheit ist und erweisen wollen, daß sie ganz etwas anderes sei als was die abendländische Geistesgeschichte unter ihr schon immer verstanden hat, von vornherein verdächtig. Wir müssen von der einfachen Gegebenheit ausgehen, die jedem Kind bekannt ist. Diese Urgegebenheit möchten wir zur philosophischen prise de conscience bringen und nicht irgendeinen sensationellen neuen Sinn des Wortes ‚Wahrheit‘ entdecken. Zugleich aber stimmen wir Augustinus zu, wenn er von der Zeit gleichfalls sagt, wir wüßten zwar alle, was sie ist, solange wir nicht nach ihr gefragt werden, wir wüßten aber nicht mehr, was sie ist, sobald wir nach ihr gefragt würden. Dieser Ausspruch über die Schwierigkeit der philosophischen Frage nach der Zeit gilt in analogem Sinne auch von der Wahrheit, obwohl diese nicht in demselben Sinne mysteriös ist wie die Zeit.2 Dennoch ist auch die Wahrheit, denkt man tiefer über sie nach, rätselhaft und die Frage nach ihr überaus komplex. Denn so leicht, ja unvermeidlich es ist, ein gewisses Vorverständnis dessen, was Wahrheit ist, zu gewinnen, so schwierig ist es, das, was Wahrheit ihrem Wesen nach und in der überwältigenden Fülle ihrer Aspekte ist, auf den Begriff zu 2
Vgl. dazu Augustinus, Confessiones, xi, 1 ff. J. Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica (Milano: Vita e Pensiero, 1989), Kap. 10.
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bringen. Die philosophische Frage „Was ist Wahrheit?“ ist in der Tat überaus schwer zu beantworten, was man nicht zuletzt daraus erkennen kann, daß die verschiedensten Philosophien und Wahrheitstheorien noch nicht in der Lage waren, die zahlreichen und vielschichtigen Bedeutungen von ‚Wahrheit‘ klar in ihrer Verschiedenheit und gegenseitigen Verknüpfung darzustellen. Ja die bedeutendsten Philosophen haben oft obskure, unklare und der Kritik offenstehende Erklärungsversuche des elementarsten Wesens von Wahrheit gegeben, das sie doch in jedem Urteil und in jeder Erkenntnis voraussetzen. Mehr noch: Erst daß die Frage nach der Wahrheit so komplex und ihre Beantwortung so schwierig ist, scheint das Faktum erklären zu können, warum es unter Philosophen so radikale Meinungsverschiedenheiten über das Wesen der Wahrheit selbst gibt. Dies tritt deutlich hervor, auch wenn wir nur die Urteilswahrheit ins Auge fassen und die ontologische Wahrheit sowie die Erkenntniswahrheit außer Acht lassen. Manche sehen die Urteilswahrheit in der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, andere nur in dem, was dem Urteil eines mit Evidenz Urteilenden entspricht. Es fehlt auch nicht an Theorien, die Wahrheit bloß in innerer Kohärenz oder logischer Schlüssigkeit sehen. Wieder andere erblicken ihr Wesen gar nur in der Übereinstimmung einer Meinung mit dem Konsens der Majorität, in Nützlichkeit usf. Viele Philosophen und Studenten der Philosophie meinen angesichts der Meinungsverschiedenheiten von Philosophen in fast allen Fragen, inklusive dem, was Philosophie und Wahrheit seien, daß es keine wissenschaftliche bzw. wohl begründete, objektive philosophische Erkenntnis gebe und daß in unserem Falle feststehe, daß die Antwort auf die Frage, was Wahrheit ist, nur eine Ansichtssache, Ergebnis einer Definition oder Theorie sei. Wahrheit über Wahrheit könne man nicht erkennen. Schon in der Antike war ja der Mangel an Konsens als eine Quelle der pyrrhonischen Skepsis und Verzweiflung an aller Wahrheit erschienen. Edmund Husserl erklärt diese Tatsache eines mangelnden Konsenses über zentrale Fragen der Philosophie in seinem Aufsatz „Philosophie als strenge Wissenschaft“ nicht durch ein Nichtvorhandensein der Wahrheit, sondern dahingehend, daß die Philosophie noch nicht den ihr eigenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erfülle und eine geeignete Methode und die systematische wissenschaftliche Anwendung derselben erreicht habe.
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Ergänzend zu dieser Aussage, und entgegen einer solchen Erklärung des Dissenses über Wahrheit, wenn sie als hinreichend angesehen wird, versuchte ich, in einem Aufsatz3 zu zeigen, daß Philosophie zwar noch nicht vollkommen genug, aber doch eindeutig den Anspruch, Wissenschaft und sogar eine strenge Wissenschaft zu sein, erfüllen kann, ohne daß deshalb schon ein allgemeiner Konsens in der Philosophie erreicht sein müßte. Um die Situation der Philosophie, die objektive und wissenschaftliche Erkenntnis erreichen kann, ohne daß ihre Ergebnisse Gegenstand eines breiten oder gar universalen Konsenses unter Philosophen sein müßten, zu erklären, wäre es einerseits nötig, den Charakter wahrer Philosophie als strenger und auf evidenter Erkenntnis beruhender Wissenschaft nachzuweisen. (Das wurde von verschiedenen Philosophen unternommen und von verschiedenen Autoren anderswo versucht und kann hier nicht ausgeführt werden.4) 3
4
Vgl. Josef Seifert, „Phänomenologie und Philosophie als strenge Wissenschaft. Zur Grundlegung einer realistischen phänomenologischen Methode – in kritischem Dialog mit Edmund Husserls Ideen über die Philosophie als strenge Wissenschaft,“ «ɮɢɥɨɫɨɮɢɹ ɤɚɤ ɫɬɪɨɝɚɹ ɧɚɭɤɚ» (Russisch) Logos3 9 (1997), 54-76, “Filosofie jako pĜísná vČda. K založení realistické fenomenologické metody – v kritickém dialogu s Husserlovou ideou filosofie jako prísné vČdy,” (tschechisch) pĜeklad, úvod a bibliografie Martin Cajthaml, (Prague: Vydala KĜestanská akademie ěím, svazek, edice Studium, 1998), S. 14-51. Vgl. etwa Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917), S. 531-550. Vgl. ebenfalls Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London: Routledge, 1991), ch. 4. Außer in dem erwähnten Aufsatz versuchte ich, dies zu zeigen in Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism (London: Routledge, 1987); Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, zweite und erweiterte Auflage (Salzburg: Universitätsverlag A. Pustet, 1976); Sein und Wesen. Philosophie und Realistische Phänomenologie/Philosophy and Realist Phenomenology. Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/Studies of the International Academy of Philosophy in the Principality Liechtenstein, (Hrsg./Ed.), Rocco Buttiglione and Josef Seifert, Band/Vol. 3 (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996). In Auseinandersetzung mit dem ethischen Skeptizismus und Nonkognivismus auf Grund des Dissenses der Philoso-
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Andererseits müßte verständlich gemacht werden, an welche besonderen Bedingungen der Konsens in philosophicis geknüpft ist, wodurch es verständlich wird, daß philosophische Erkenntnis selbst im Falle ihrer rigoros-wissenschaftlichen Methode und deren strenger Anwendung, sowie evidenter, unbezweifelbarer Erkenntnis, nicht Gegenstand universalen Konsenses ist. Hinsichtlich dieser zweiten Aufgabe möchte ich eine kurze Erklärung geben, die es meines Erachtens verständlich macht, warum auch die einleuchtendsten und präzisesten philosophischen Analysen nicht auf allgemeinen oder breiten philosophischen Konsens zählen dürfen. Das ist für alle Philosophie höchst relevant, ganz besonders aber für eine philosophische Behandlung des Wahrheitsproblems selbst. 2. Die Objektivität des Wesens der Wahrheit und die Wissenschaftlichkeit philosophischer Erkenntnis der Wahrheit trotz mangelnden Konsenses unter den Vertretern diversester Wahrheitstheorien Die mehr oder minder schweren Mängel in den meisten bisherigen Philosophien der Wahrheit und in vielen Wahrheitstheorien sowie das Fehlen eines Konsenses über sie haben – neben den allgemeinen Wurzeln der Irrtümer und dem Phänomen, das Balduin Schwarz als „objektiven Schein“ bezeichnet hat5 – insbesondere drei Ursachen, eine methodolo-
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phen ging ich ein in Josef Seifert, „Zur Begründung ethischer Normen. Einwände auf Edgar Morschers Position. Ein Diskussionsbeitrag“, in: Vom Wahren und vom Guten, Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Balduin Schwarz (Salzburg: St.Peter Verlag, 1983). „Und dennoch: Ethik ist Episteme, nicht blosse Doxa. Über die wissenschaftliche Begründbarkeit und Überprüfbarkeit ethischer Sätze und Normen. Erwiderung auf Edgar Morscher’s Antwort“, in: ebd. Vgl. Balduin Schwarz, Das Problem des Irrtums in der Philosophie (Münster, Aschaffenburg, 1934). (Neuauflage in Vorbereitung). Vgl. auch Immanuel Kant, Logik (1800), Einleitung, B VII: Denn es wird niemand zugeben, daß er ohne irgend einen Schein der Wahrheit geirrt habe, der vielleicht auch einen Scharfsinnigern hätte täuschen können, weil es hierbei auf subjective Gründe ankommt.
Balduin Schwarz unterscheidet viele Arten und Quellen des „objektiven Scheins“ sowie psychologische und andere Wurzeln von Irrtümern in Analysen, die hier
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gische, eine in der Schwierigkeit der Sache gelegene, und eine moralische. Der mangelnde Konsens hinsichtlich der philosophischen Bestimmung der Wahrheit hat sicher, wie Edmund Husserl richtig bemerkt, eine Ursache in einer noch nicht erreichten letzten Klarheit hinsichtlich der Methode philosophischer Untersuchungen über die Wahrheit und deren rigoroser Anwendung.6 Ja mehr als die Vertreter anderer Wissenschaften geben Philosophen oft die abenteuerlichsten und unsolidesten Behauptungen von sich, blüht in der Philosophie der Dilettantismus, und findet man in ihr häufig ein methodologisch gesehen mangelhaftes Vorgehen. Selbst große Denker, die tiefe Einsichten in die Natur der Wahrheit gewinnen, gehen oft zu aphoristisch, zu wenig systematisch und differenziert vor und verwechseln auf diese Weise Teilaspekte, Folgen oder Bedingungen der Wahrheit mit deren Wesen oder mit dem Ganzen der Wahrheit. Die erste dieser Ursachen mangelnder Übereinstimmung der Philosophen über die Natur der Wahrheit läßt sich durch eine immer präzisere Wesensanalyse der Wahrheit beseitigen. Dieses Buch versteht sich als einen Versuch einer rigorosen philosophischen Untersuchung über die Wahrheit und damit auch als einen Schritt auf dem langwierigen, doch nötigen Weg zu einer Verbesserung der von Husserl angeprangerten Unwissenschaftlichkeit der Methodologie der Philosophie und ihrer Anwendung auf das Gebiet der Philosophie der Wahrheit selbst. Und hinsichtlich dieser Quelle mangelnden Konsenses ist es keineswegs ausgeschlossen, schwere Fehler und erhebliche Grenzen des Verständnisses der philosophischen Methode bei bisherigen Philosophen, auch bei Husserl selbst, zu überwinden und eine strengere Wissenschaftlichkeit philosophischer Wahrheitsforschung anzustreben und zu erreichen. Eine zweite Ursache für den mangelnden philosophischen Konsens (im
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anwendbar wären. Vgl. meineWürdigung, aber partielle Kritik des Begriffs des objektiven Scheins, wenn Schwarz den Irrtum fast wie ein rein rezeptives Erkennen dieses Scheins darstellt, in Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, I. Teil, Kap. 3. Vgl. Edmund Husserl, „Philosophie als strenge Wissenschaft“, in: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911-1921), Hrsg. Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, Husserliana Bd. XXV (Dordrecht/Boston/Lancaster: M. Nijhoff, 1987), S. 3-62. Vgl. auch Josef Seifert, „Phänomenologie und Philosophie als strenge Wissenschaft“, zit.
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Gegensatz zu dem breiten Konsens in den Einzelwissenschaften), nämlich die Unermeßlichlichkeit und Unausschöpfbarkeit des gegenständlichen Feldes philosophischer Forschung, liegt tiefer, wird in allen Jahrhunderten zu Resten an Unklarheit und mangelnder Gesamtkonzeption der Wahrheit führen und schließt wohl eine vollendete Philosophie der Wahrheit, eine vollkommene Erkenntnis, oder gar ein vollständiges abgeschlossenes System,7 das ein niemals erreichtes Ideal bleibt, aus. Obwohl aus der Unermeßlichkeit und Tiefe des Gegenstandes der Philosophie, die es verbieten, daß der Philosoph jemals schlechthin alle Dimensionen dessen, was Wahrheit ist, umfassend zu begreifen vermag, nicht eo ipso ein Mangel an Konsens resultieren muß, so hängt dieser doch eng mit der Immensität des Gegenstands der Philosophie zusammen. Denn sobald bruchstückhafte und unvollständige Erkenntnisse verabsolutiert und falsch verallgemeinert oder verschiedene Dinge, auf die sich der Wahrheitsbegriff bezieht, verwechselt werden, kommen Irrtümer zustande und diese, nicht die unvollständigen Erkenntnisse als solche, streiten gegen einander. Je umfassender und vollkommener das philosophische Wahrheitsverständnis wird und all die von verschiedenen Denkern gesehenen Telaspekte berücksichtigt und zugleich richtig einzuordnen vermag, desto mehr läßt sich aber auch diese zweite Quelle mangelnder Übereinstimmung überwinden. Die dritte Ursache hingegen, die moralischen Quellen von Sophismen und Irrtümern sowie die moralischen Fehlhaltungen, welche die wohl entscheidendsten Hindernisse adäquater philosophischer Erkenntnis bilden, würden meines Erachtens auch dann zu heftigsten Widersprüchen in den Wahrheitstheorien führen, wenn es Philosophen gelänge, die klarstmögliche Untersuchung zum Wahrheitsproblem vorzulegen.8 7
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Wir verstehen den Systembegriff hier nicht in dem besonderen Sinne des deutschen Idealismus und insbesondere Fichtes und Hegels, wo impliziert wird, man könne aus einem einzigen Prinzip die gesamte Wirklichkeit „ableiten“, sondern in dem Sinne der Frucht einer systematischen Erkenntnis der Dinge von einem menschengemäßen Grad der Vollständigkeit. Auch Thomas von Aquin spricht gleich im Prolog einer wichtigen Quaestio des Sentenzenkommentars von dieser entscheidenden moralischen Bedingung der Wahrheitsfindung: Inquirentium autem conditionem in prima parte describit tripliciter: primo quantum ad ipsorum puritatem, quae necessaria est ad tantae veritatis contemplationem;
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Erforschen wir diese drei Ursachen mangelnden Konsenses eingehender und beantworten wir die Frage, warum dieselben als solche nicht gültige Gründe sind, an der Wissenschaftlichkeit und Gewißheit philosophischer Erkenntnis zu zweifeln. 2.1. Methodologische Schwierigkeiten und einige Mängel bisheriger Untersuchungen über die Wahrheit
Die Komplexität und zugleich einleuchtende Natur der Wahrheit verlangen zu ihrer Erforschung eine methodische und systematische Rückkehr zu den Sachen selbst, zu den verschiedenen Gegebenheiten, auf die wir mit dem Wort Wahrheit abzielen und die es im einzelnen in aller Reinheit herauszuarbeiten gilt. Einer solchen Methode der Rückkehr zu den Sachen selber, die allen Formen des Reduktionismus, der Versimplifizierung usf. widersteht, stehen viele mögliche methodologische Fehler und Vorurteile entgegen, die häufig dazu führen, das Wesen der Wahrheit zu verkürzen und zu verfälschen, was dann auch, und mit gutem Grund, eine allgemeine Akzeptanz solcher falscher Theorien verhindern kann.9 Die Schwierigkeiten, die einer schlichten, aber rigorosen Rückkehr zu den Phänomenen und einer diesen angemessenen philosophischen Methode im Weg stehen, stellen folglich das erste zu bewältigende Hindernis für eine adäquate Erfassung des Wesens von Wahrheit dar. Diese Schwierigkeiten sind besonderer und schwer zu überwindender Art – trotz einer größeren Schlichtheit und ‚Leichtigkeit‘ einer echt philosophischen Methode im Verhältnis zu vielen anderen wissenschaftlichen Methoden. Doch sind, wie Adolf Reinach gezeigt hat, wenige Dinge so schwer wie ein schlichtes und in einem tieferen Wortsinn einfaches Erkennen der Gegebenheiten, vor allem der letzten Urgegebenheiten, die sich nicht durch Anderes erklären lassen, sondern nur von ihnen selbst her aufzuklären sind. Goethe formuliert in seinen die phänomenologische Methode entscheidend inspirierenden Einsichten in Urphänomene, die er so nennt, weil sie letzte 9
Thomas von Aquin, In I Sententiarum, d. 2, q. 1, Pr. Zu dieser Methode und zu ihren Hindernissen vgl. Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, S. 531-550; Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?; Balduin Schwarz, Das Problem des Irrtums in der Philosophie, Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap. 1.
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Gegebenheiten sind,10 die Unfähigkeit der meisten Menschen, eine solche angemessene Methode zu ihrer Erkenntnis zu finden: Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt immer noch das Uebel, daß man es nicht als ein solches anerkennen will, daß wir hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Gränze des Schauens eingestehen sollten.11 Es erweist sich als kolossal schwierig für die Menschen, in philosophischem Staunen jene Methode einfachen genauen Hinblickens und rigoroser Analyse zu gebrauchen, die diese Gegebenheiten aufklärt, anstatt sie wegzuerklären oder zu verfehlen. In seinen Gesprächen mit Eckermann gibt Goethe dazu wertvolle Hinweise: Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ... ist das Erstaunen, und wenn das Urphänomen ihn in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist.12 Der Naturforscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit dastehen, der Philosoph nehme sie in seine Region auf...13
Diese Grundmethode der Philosophie erfordert eine besondere und seltene Gabe, ein sich Freimachenkönnen für die Phänomene, ein unerbittliches sie Anblicken und in sie Eindringen, das eine Genauigkeit geistiger Wahrnehmung, ein Höchstmaß an aktiver Rezeptivität und zugleich ein im Fragen phantasiereiches, an Beispielen lernendes und kühnes Denken erfordert, wie ebenfalls Goethe bemerkt hat: Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu 10
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Farbenlehre, ebd., Nr. 175, Bd. 37, S. 67: „Wir nennen sie Urphänomene, weil nichts in der Erscheinung über ihnen liegt...“ J.W. von Goethe, Farbenlehre, II. Abtheilung, Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Goethes Gespräche mit Eckermann, S. 448. Goethe, Farbenlehre, ebd., Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Vgl. Goethe, Gespräche mit Eckermann, ebd., S. 639.
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Prolegomena erkennen und damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet.14
Sachferne und damit ein Verfehlen einer dem Anschauen gemäßen Methode, wie Goethe bewundernswert formuliert, sind Gefahren, die den Philosophen wesentlich mehr bedrohen und die philosophische Methode schwerer handhabbar machen als die Methoden in anderen Disziplinen und Wissenschaften: Vom Philosophen glauben wir Dank zu verdienen, daß wir gesucht die Phänomene bis zu ihren Urquellen zu verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind, und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt...15
In dieser Hinsicht könnte man sogar einen Vergleich echter Philosophie und großer Kunst ziehen, in der es letztlich auch um ein Erschauen und Realisieren intuitiv gegebener letzter Gegebenheiten handelt.16 Zitieren wir noch einmal Goethe: Er soll sich eine Methode bilden, die dem Anschauen gemäß ist; er soll sich hüten, das Anschauen in Begriffe, den Begriff in Worte zu verwandeln, und mit diesen Worten, als wären’s Gegenstände, umzugehen und zu verfahren ... Kann dagegen der Physiker zur Erkenntniß desjenigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt haben, so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm; ... denn er [der Philosoph] nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes, das bei ihm nun ein erstes wird.17 14 15 16
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Gespräche mit Eckermann, ebd., S. 639. Vgl. auch ebd., S. 432, 514, 567, 591. Farbenlehre, ebd., Bd. 37, S. 9. Auch Thomas von Aquin nimmt eine unmittelbare intellektuelle Wesens-Schau als Ideal der Erkenntnis an, das er allerdings primär Gott und den Engeln zuschreibt, das aber in weniger vollkommener Form auch der menschlichen Erkenntnis eigen ist. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, Iia IIae, q. 49, a. 5, RA 2. Farbenlehre, ebd., V. Abtheilung, Nr. 716, 720, Bd. 37, S. 232-233. Vgl. ebd., Nr. 175, Bd. 37, S. 67. Vgl. auch Farbenlehre, ebd., Nr. 177, Bd. 37, S. 68. Vgl. auch Goethe, Nachträge zur Farbenlehre, ebd., Bd. 40, S. 423-425, sowie Goethes Artikel „Über den Granit“, und besonders die von Hans Leisegang in Goethes Denken zitierte Stelle, S. 90. Vgl. auch Farbenlehre, ebd., Bd. 37, Nr.
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Dieses ‚Erste‘ des Urphänomens der Wahrheit zu sehen erlaubt es nicht, Methoden zu verwenden, die wegen ihrer rein formal-symbolischen Sprache und aller ihrer ‚formalistischen‘ Komplikation, wie mathematische Formeln, von den Sachen selbst, von den letzten Urgegebenheiten, entfernt bleiben und leicht zu einem Reduktionismus oder einem Verfehlen der Identität und Eigentümlichkeiten ‚der Sachen selber‘ führen. Als hätte Goethe das Überwuchern solcher an der Mathematik und symbolischen Logik orientierten Methoden in der analytischen Philosophie gekannt, schreibt er: Mathematische Formeln lassen sich in vielen Fällen sehr bequem und glücklich anwenden; aber es bleibt ihnen immer etwas Steifes und Ungelenkes, und wir fühlen bald ihre Unzulänglichkeit, weil wir, selbst in Elementarfällen, sehr früh ein Incommensurables gewahr werden...18
Und Goethe fügt über die Versuche, an mathematischen und mathematisierenden Methoden orientierte Vorgangsweisen zur Erklärung von Urgegebenheiten wie des Lebens zu verwenden, hinzu: „Sie verwandeln das Lebendige in ein Todtes.“19 Dies gilt im weiteren Sinne nicht nur für das Urphänomen des Lebens, sondern für das innerlich ‚Lebendige‘ sämtlicher unreduzierbarer Urphänomene. Sie werden in ein Totes verwandelt, wenn man ihnen und ihren inneren Prinzipien nicht gerecht wird, sondern sie reduziert oder auf andere Weise verfälscht. Es handelt sich hier um das Aufklären letzter elementarer Gegebenheiten, die bei ungeeigneter Methode nur verdunkelt werden: und wie oft wird ... das Elementare durch ein Abgeleitetes mehr zugedeckt, und verdunkelt, als aufgehellt und näher gebracht.20
Durch diese tiefsinnigen Bemerkungen Goethes über eine den Urphänomenen wie der Wahrheit angemessene Methode wird deutlich, wie schwer die Philosophie ist und wie leicht daher auch die sorgfältigsten und
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754, S. 247. Farbenlehre, ebd., Bd. 37, Nr. 752, S. 246. Ebd., 752, S. 246. Ebd., 754, S. 247.
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zuverlässigsten philosophisch-phänomenologischen Ergebnisse von Philosophen verfehlt werden können, weil sie diese primäre und besonders schwierige Methode der Philosophie vernachlässigen oder sogar ihre Notwendigkeit übersehen, wie dies meines Erachtens von weiten Teilen der analytischen Philosophie gilt, besonders von den an Wittgensteins viel unphänomenologischerem Tractatus orientierten formalistischen und axiomatischen, aber auch von Teilen traditioneller scholastischer Philosophie.21 Hingegen sind andere Teile der analytischen Philosophie, die sich eher an Wittgensteins Spätphilosophie orientieren, einer phänomenologischen Vorgangsweise viel näher,22 wenn sie auch die Sachen selbst teilweise noch radikaler verfehlen.23 Doch bestehen die Probleme einer angemessenen philosophischen Methode nicht ausschließlich in den Schwierigkeiten eines solchen ungeminderten Erschauens der Urphänomene, die in der Philosophie den besonderen Charakter in sich und absolut notwendiger Wesenheiten haben, in denen in höchst intelligibler Weise eine Fülle von nur unmittelbar erschaubaren Wesensmerkmalen und Sachverhalten gründen. Vielmehr verlangt eine exakte philosophische Methode auch die genaue, kritische und systematische Untersuchung ihres jeweiligen Gegenstands, dessen begriffliche und terminologische Fassung, zahlreiche Unterscheidungen von ihrem Gegenteil und von benachbarten Phänomenen, Beantwortung von Schwierigkeiten und Einwänden, eine Auflösung von anscheinend auftretenden Antinomien und Paradoxen, usf. Außer der systematischen Entfaltung der 21
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Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung (Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1963). In mancher Hinsicht phänomenologischer sind Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, wenn sie auch mit spielerischen Elementen und nicht wirklich philosophisch seriös untersuchten Begriffen wie sie etwa in der Idee und Wittgeins Terminologie der „Sprachspiele“ erscheinen. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen – Philosophical Investigations, trans. Elizabeth Anscombe (Oxford: Basil Blackwell, 1958). Die gilt etwa von Wittgensteins Ethik und Religionsphilosophie. Vgl. Josef Seifert, „Person, Religöser Glaube und Wahrheit. Philosophische Analysen und kritische Reflexionen über Ludwig Wittgensteins Religionsphilosophie“, in: Wilhelm Lütterfelds/Thomas Mohrs (Hrsg.), Globales Ethos. Wittgensteins Sprachspiele interkultureller Moral und Religion (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000), S. 176-204.
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Einsichten in unzurückführbare Gegebenheiten erfordert dies eine Reihe von Elementen und Mitteln, wie die Untersuchung der Merkmale und Gegensätze einer Gegebenheit, die korrekte Benutzung von Analogien, sowie methodologische Tricks und Hilfsmittel, die für alle Philosophie oder nur für bestimmte Teilbereiche der Philosophie nötig sind, wie den methodischen Zweifel, die Einklammerung realer Existenz, Gedankenexprimente, den negativen Test oder ähnliche methodologische Instrumente. Es ist klar, daß viele Denker an diesen Schwierigkeiten einer rigorosen philosophischen Methode, deren genaue Eigenart theoretisch tiefer zu erforschen hier nicht unsere Aufgabe ist, scheitern oder sich sogar deren Mühen ersparen möchten, indem sie auf ein intuitives Vorverständnis der Dinge oder gar auf bloße verbreitete Meinungen über sie rekurrieren, diese aber nicht sorgfältig und kritisch prüfen.24 2.2. Komplexität und Unendlichkeit des Wahrheitsproblems
Die besondere methodologische Problematik der Erforschung der Wahrheit hängt auch mit dem zweiten Hindernis zu einer adäquaten philosophischen Erfassung der Wahrheit zusammen, nämlich mit deren ungeheuer komplexer Natur, wie sie aus der folgenden Untersuchung erhellen wird und teilweise die häufigen Verwechslungen und Irrtümer erklärt, die sich in philosophischen Untersuchungen über die Wahrheit so oft einstellen. Der Klärung der verschiedenen Dimensionen und Bedeutungen von Wahrheit stehen also nicht ausschließlich methodologische Hindernisse entgegen, sondern diese Schwierigkeiten entspringen auch der Komplexität des Themas, das nicht nur menschliches Erkennen als unzulänglich dafür erweist, die ganze Welt dessen, was mit Wahrheit gemeint wird, in seiner Fülle umfassend zu begreifen (wobei sich echte philosophische Erkenntnis als, obzwar unvollständige, Erkenntnis der Wahrheit radikal vom Irrtum unterscheidet),25 sondern Philosophen auch 24
25
Vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves, zit., sowie meine demnächst erscheinende Schrift: Discurso sobre los métodos. Los métodos de la filosofía y la fenomenología realista (Madrid 2008); Discours des Méthodes. The Methods of Philosophy and Realist Phenomenology (Frankfurt / Paris / Ebikon / Lancaster / New Brunswick: Ontos-Verlag, 2009). Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, I, Kap. 3.
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häufig zu verkürzten und einseitigen Auffassungen der Natur der Wahrheit verleitet, damit es ihnen erspart bleibe, in den gewaltigen Abgrund ontologischer, epistemologischer und logischer Gegebenheiten und Problemstellungen einzugehen, ohne deren Erforschung eine den Sachen selbst entsprechende theoretische Erkenntnis der Wahrheit unmöglich ist. Die Umfassendheit des Wahrheitsproblems ergibt sich aus den vielfältigen Weisen, in denen das Sein und die Wirklichkeit selbst, menschliches Erkennen und schließlich das logische Urteil oder auch Personen ‚wahr‘ genannt werden können. Die Frage nach der Wahrheit ist tief und komplex auch deshalb, weil Wahrheit die Sphäre der Sätze, Urteile, des Lebens und des ganzen Seins mit umfaßt, ja nach einem Worte Hegels „das Ganze“ ist26 und bis hinein ins absolute Wesen Gottes reicht, der ‚die Wahrheit selbst‘ ist. (Daß hier die Existenz Gottes in einem philosophischen Werk vorausgesetzt wird, hat nicht darin seinen Grund, daß religiöser Glaube den Boden der Philosophie bilden soll, auch wenn wir seit den ersten Jahrhunderten nach Christus zahlreiche kostbare Schriften finden, deren Autoren aus philosophischen Einsichten und Glaubenserkenntnissen, aus fides und ratio, zugleich schöpfen, sondern vielmehr darin, daß die Existenz und viele Wesenseigenschaften Gott philosophisch und rein rational, wenn auch unvollkommen und unvollständig, erkennbar sind – zum Teil sogar aus dem Wesen der Wahrheit selbst, wie wir sehen werden.)27 Daher ergeben sich verständlicherweise nicht nur zahlreiche be26
Hegel deutet diesen Satz „Das Wahre ist das Ganze“ völlig anders als wir, indem er ihm den Sinn eines Werdens der Wahrheit in der Geschichte gibt: Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein. So widersprechend es scheinen mag, daß das Absolute wesentlich als Resultat zu begreifen sei, so stellt doch eine geringe Überlegung diesen Schein von Widerspruch zurecht. Der Anfang, das Prinzip oder das Absolute, wie es zuerst und unmittelbar ausgesprochen wird, ist nur das Allgemeine.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 21, Hegel-W Bd. 3, 24. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen Arguments (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996), zweite Aufl. 2000.
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greifliche, doch vermeidbare Verkürzungen und Verirrungen von Philosophen bei der Behandlung des Wahrheitsproblems, sondern auch so große Schwierigkeiten für eine angemessene philosophische Erkenntnis der Wahrheit, daß selbst die größten und unbezweifelbarsten Ergebnisse philosophischer Analyse immer neue Abgründe an Problemen eröffnen und mitunter zu Aporien und Schwierigkeiten führen, wegen denen viele Philosophen auch an jenen Ergebnissen zu zweifeln beginnen, hinsichtlich derer wir letzte philosophische Klarheit gewinnen können. Ein solches Bestreiten oder Bezweifeln von unbezweifelbaren Evidenzen auf Grund echter Aporien oder scheinbarer Antinomien aber kann nie berechtigt sein.28 2.3. Wille zur Wahrheit oder Wille zur Unwahrheit? Über die ethischen Bedingungen philosophischer Erkenntnis und die tiefste Wurzel des Dissenses in der Philosophie, selbst nach Realisierung ihrer höchsten wissenschaftlichen Form: Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, Haß der Wahrheit und Wille zur Unwahrheit
Das dritte – sittliche – Hindernis zu einem adäquaten Verständnis von Wahrheit hängt gleichfalls mit der objektiven Tiefe des Problems der Wahrheit zusammen, das auch auf der Seite des Subjekts eine tiefe, auf das Ganze des Seins und der Wirklichkeit gerichtete, echt philosophische Einstellung und unbedingte Liebe zur Wahrheit erfordert, die schwer zu erlangen sind, weil im Menschen zahllose Leidenschaften, Intentionen und Haltungen bestehen, die ihn eher zu Vorurteilen, Irrtümern und Blindheiten als zur Erkenntnis und Anerkennung der Wahrheit disponieren. Die existentielle Rolle der Wahrheit und damit die Abhängigkeit ihrer richtigen Erkenntnis von einem Freisein von derartigen moralischen Hindernissen philosophischer Erkenntnis leuchtet auch daraus ein, daß das ganze philosophische Denken und Leben eines Menschen entscheidend davon geprägt werden, welches Wahrheitsverständnis seinem Denken und Leben zugrundeliegt und wie er sich selber zur Wahrheit und zur Wahrheitsfrage stellt. Augustinus beschreibt in einem Text, wie schon Sokrates 28
Vgl. Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant (Freiburg/München: Karl Alber, 2001.)
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Prolegomena
in den ersten Abschnitten der Apologie,29 zwei entgegengesetzte Haltungen der Wahrheit gegenüber, die eine, in der man das tun und denken will, was die Wahrheit sagt, die andere, in der man die Wahrheit beherrschen möchte und will, daß sie einem sage, was man selbst, unabhängig von der Wahrheit, möchte.30 Thomas sagt einmal, daß sowohl derjenige, der nicht bereit ist, die Wahrheit zu lieben, wenn sie gegen ihn selbst Zeugnis gibt, als auch jener, der sie gegenüber demjenigen, der sie leugnet, aus falschem Irenismus nicht verteidigt, sich selber mehr als die Wahrheit liebe, da er die Selbstzufriedenheit oder den Frieden und die Ruhe mit anderen der Wahrheit vorziehe.31 Auch kann man seine Freunde oder seine Frau, wenngleich nicht in der wahren Ordnung und Hierarchie der Werte, mehr als die Wahrheit lieben, während man im Falle des anscheinenden Konflikts zwischen Freundesliebe oder ehelicher Liebe, besser gesagt im Falle, in dem die Wünsche des Freundes oder einer geliebten Person mit den Forderungen der Wahrheit in Konflikt treten, der Wahrheit den Vorzug geben soll, wie Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin hervorheben.32 29
Dort unterscheidet Sokrates zwei Arten von gewaltigen Rednern: denjenigen, dessen Beredtsamkeit imstande ist, die Tatsachen zu verdrehen, und jenen, der nur die Wahrheit sagt (Platon, die Apoligie des Sokrates, 17): Am meisten aber habe ich eins von ihnen bewundert unter dem Vielen, was sie gelogen, dieses, wo sie sagten, ihr müßtet euch wohl hüten, daß ihr nicht von mir getäuscht würdet, als der ich gar gewaltig wäre im Reden. Denn daß sie sich nicht schämen, sogleich von mir widerlegt zu werden durch die Tat, wenn ich mich nun auch im geringsten nicht gewaltig zeige im Reden, dieses dünkte mich ihr Unverschämtestes zu sein; wofern diese nicht etwa den gewaltig im Reden nennen, der die Wahrheit redet. Denn wenn sie dies meinen, möchte ich mich wohl dazu bekennen, ein Redner zu sein, der sich nicht mit ihnen vergleicht. Diese nämlich, wie ich behaupte, haben gar nichts Wahres geredet; ihr aber sollt von mir die ganze Wahrheit hören. Jedoch, ihr Athener, beim Zeus, Reden aus zierlich erlesenen Worten gefällig zusammengeschmückt und aufgeputzt, wie dieser ihre waren, keineswegs, sondern ganz schlicht werdet ihr mich reden hören in ungewählten Worten. Denn ich glaube, was ich sage, ist gerecht...
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31 32
Augustinus, Confessiones, X. 23; X. 26. Vgl. die Übersetzung von G. Graf von Hertling: Augustinus, Bekennntisse (Freiburg i.B.: Herder, 1922). Thomas von Aquin bezieht sich auf diesen Text in Catena Aurea in Joannem, cap. 3, lectio 7. Thomas von Aquin, Contra Impugnantes, pars 4, cap. 2, RA 5; ibid., cap. 3, RA 2. Vgl. Platon, Gorgias, 481-482. Vgl. auch Thomas von Aquin, Sententia Libri Ethicorum, Lectio 6, Nr. 3 ff.
Wesen und Wert der Wahrheit als eine philosophische Grundfrage
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Dieser Gegensatz im existentiellen Verhältnis zur Wahrheit setzt voraus und zeigt deshalb, daß die Frage nach der Wahrheit nicht eine neutrale ist, sondern gerade weil sie mit eminenten Werten und dem ganzen Leben verknüpft ist, eine bestimmte sittliche Einstellung verlangt, um sie angemessen zu stellen und zu beantworten, was es auch mit sich bringt, daß schon der Wahrheitsbegriff und noch viel mehr die Erkenntnis des Wertes und der ethischen Bedeutung der Wahrheit nicht losgelöst von einer bestimmten Grundhaltung erkennbar sind, in solcher Weise, daß die richtige Grundhaltung den Geist prädisponiert, die Natur der Wahrheit richtig zu erkennen, während die falsche Grundhaltung das Auge des Geistes gegenüber der objektiven Eigenart der Wahrheit, deren Begriff die Tendenz hat, unser ganzes Leben in einer uns oft unangenehmen Form zu beeinflussen, verdunkeln und den Wahrheitsbegriff verfälschen kann. Deshalb ist eine Ethik des Erkenntnis und intellektueller Akte, wie solcher der Zustimmung, in denen sich die Freiheit in mannigfaltiger Weise auswirkt, von grundlegender Bedeutung, um den Mangel an Konsens in der Philosophie nach allen Seiten hin zu verstehen.33 Gerade die absolut fundamentale Bedeutung und Rolle der Wahrheit für das ganze Leben, Denken, sittliche Handeln und künftige Schicksal der Person ist daher Grund für die Versuchung, diese lästige und unsere Willkür und Selbstherrlichkeit störende Wahrheit in der Theorie zu leugnen oder umzudeuten, und sie in der Praxis zu mißachten. Der beste Ort, diese Versuchung des Philosophen, die Wahrheit umzudeuten, festzustellen, ist die eigene Seele. Sowohl diese Versuchung, die Wahrheit umzudeuten, zu leugnen oder zu mißachten, als auch die schlechthin grundlegende Bedeutung der Wahrheit für alle Wissenschaft und für das ganze menschliche Leben und Handeln wird noch besser verständlich, wenn wir bedenken, daß jede menschliche Handlung sowie jedes vom Menschen gefällte Urteil, und jeder Gedanke überhaupt, notwendig Wahrheit voraussetzen. Da kein Gedanke völlig losgelöst von jedem Urteil möglich ist, setzt 33
Eine bewunderswert tiefsinige und klare Arbeit über eine solche Ethik der Zustimmung, außer der klassischen Schrift John Henry Cardinal Newmans, An Essay in Aid of A Grammar of Assent (Westminster, Md.: Christian Classics Inc., 1973), ist Paola Premoli De Marchis Buch, Etica dell’assenso (Milano: Franco Angeli, 2002).
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Prolegomena
doch schon jede Frage und jeder Zweifel Urteile und deren Wahrheitsansprüche voraus. Wie wir sehen werden, handelt es sich bei dieser Wahrheitsvoraussetzung primär um eine der vielen möglichen Bedeutungen von Wahrheit, die Urteilswahrheit. Alles menschliche Urteilen und Handeln ruht auf diesem Fundament der in ihm vorausgesetzten Wahrheit. Nicht zuletzt dadurch unterscheidet sich der Mensch vom Tier.34 Selbst die These, daß es keine Wahrheit gibt und alles erlaubt sei, oder daß der Mensch wie das Tier leben dürfe, setzt Wahrheit voraus. Denn wenn es nicht wirklich keine Wahrheit gibt und nicht tatsächlich „alles erlaubt ist“, dann bleibt ja die Rede, die Willkür im Handeln zu rechtfertigen sucht, unbegründet. Selbst der radikalste Skeptiker und Relativist, der die Ungebundenheit des Lebens durch irgendwelche vorgegebenen Ordnungen behauptet, beansprucht Wahrheit als Begründung für seine Position. Damit aber erkennt auch er noch Wahrheit als Richtlinie menschlichen Handelns an, indem er den Anspruch erhebt, sein Urteil, alles sei erlaubt, stimme mit dem tatsächlichen Erlaubtsein von allem überein. Ja er kann gar nicht umhin, diesen Wahrheitsanspruch zu stellen. Er kann diesen nämlich nicht durch einen subjektiven Akt ausschalten, weil er dem Urteil selbst kraft dessen logischer behauptender Struktur notwendig innewohnt. Gerade weil jedoch Wahrheit derart grundlegend ist, liegt die Versuchung nahe, sie umzudeuten, damit sie nicht mehr hindernd in die Flut unserer Leidenschaften eingreife und überall im menschlichen Leben die ernste Forderung erhebe, sich ihr im Urteilen und im Handeln, wo wir sie stets voraussetzen, in aller Aufrichtigkeit und Freiheit zu unterwerfen. Doch diese Quelle zahlloser Irrtümer und Umdeutungen der Wahrheit, ebenso origineller wie irriger Gedankenkonstrukte, sowie zahlreicher Sophistereien und Gedankenspielereien kann weder die Wesenheit der Wahrheit ändern noch die unbezweifelbare Evidenz aufheben, mit der wir ihnen entgegentreten dürfen und sollen. Die objektive Natur und Erkennbarkeit von Wahrheit zu bezweifeln, nur weil es praktische und unmoralische Gründe für die Umdeutung oder die Ablehnung der Erkennbarkeit der Wahrheit gibt, wäre höchst irational. 34
Vgl. Josef Seifert, „Wahrheit als Orientierungspunkt für menschliche Entscheidungen“, in: prima philosophia Bd. 7 (1994) H 3, S. 289-305.
Wesen und Wert der Wahrheit als eine philosophische Grundfrage
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Augustinus spricht in dem oben bereits angesprochenen Text von der Möglichkeit des Menschen, zwei radikal verschiedenen Motiven Raum zu geben, einem Willen, der sich der Wahrheit unterordnen und das tun will, was sie ihm sagt, und einem Willen, der sich von Wahrheit loslösen will, der diese aber dennoch notwendig beanspruchen muß, sobald er sein Tun zu rechtfertigen sucht. Augustinus spricht in diesem zweiten Fall von einem Unterjochenwollen der Wahrheit. Hier der Text: ... auf die Frage, ob sie es vorziehen, sich an der Wahrheit zu erfreuen oder an dem Irrtum, werden mir alle ebenso zuversichtlich antworten, sie zögen die Freude an der Wahrheit vor, wie sie ohne zu zögern erklären werden, daß sie glückselig sein wollen. Denn glückseliges Leben ist Freude an der Wahrheit35 ... alle wollen sich an der Wahrheit freuen. Ich habe viele kennengelernt, die gerne täuschten, keinen, der gerne getäuscht wurde... Denn auch diese lieben sie, da sie ja nicht getäuscht werden wollen:... Warum also freuen sie sich trotzdem nicht an ihr? Warum ... gilt des Dichters Wort: Wahrheit erzeugt Haß? Warum ist dein Gesandter den Menschen zum Feind geworden, als er ihnen die Wahrheit predigte, wo sie doch das glückselige Leben lieben, das nichts anderes ist als Freude an der Wahrheit? Bringt vielleicht die Liebe zur Wahrheit es mit sich, daß, wer etwas anderes liebt, wünscht, das, was er liebt, solle die Wahrheit sein, und weil er nicht in Täuschung befangen sein möchte, sich auch nicht überführen lassen will, daß er im Irrtum ist? Dann hassen sie also die Wahrheit um des Gegenstandes willen, den sie an Stelle der Wahrheit lieben. Sie lieben ihren Glanz und hassen ihre Vorwürfe. Da sie nicht getäuscht werden wollen, wohl aber täuschen wollen, so lieben sie die Wahrheit, wenn sie sich ihnen kundmacht, hassen sie aber wenn, was sie selbst sind, von ihr kundgemacht wird. Sie aber vergilt ihnen, und da sie nicht von ihr entdeckt sein wollten, entdeckt sie sie wider Willen, selbst aber entdeckt sie sich ihnen nicht. So, ja so verhält es sich mit dem Menschengeist: schlaff und blind, ohne Sitte und Zucht, will er sich verbergen, aber ihm soll nichts verborgen bleiben. Aber er erreicht das Gegenteil, indem nicht er der Wahrheit, wohl aber diese ihm verborgen 35
Trotz seiner fundamentalen Umdeutung der Wahrheit im Sinne einer transzendentalphilosophischen Kohärenztheorie der Wahrheit hat Johann Gottlieb Fichte dies schön ausgesprochen: Niemand will irren, und jeder Irrende hält seinen Irrthum für Wahrheit.
Johann Gottlieb Fichte, Vermischte Schriften und Aufsätze (1786-1811), „Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit“, VIII342.
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Prolegomena bleibt. O Wahrheit, du bist überall und für alle gegenwärtig, die dich um Rat fragen, und du beantwortest allen die verschiedenen Fragen zugleich. Du antwortest deutlich, aber nicht alle hören deutlich. Alle fragen dich, worüber sie Rat haben wollen, aber nicht immer hören sie, was sie hören wollen. Der ist dein bester Diener, dem nicht so sehr daran gelegen ist, von dir zu hören, was er selber will, als vielmehr das zu wollen, was er von dir hört. 36
In diesem Text schildert Augustinus zwei einander entgegengesetzte Haltungen gegenüber der Wahrheit: Die eine möchte von der Wahrheit nur das hören, was sie selber will. Sie will etwas, strebt etwas an, was sie anstelle der Wahrheit liebt: Macht, Reichtum, Lust. etc. Deshalb anerkennt sie die Wahrheit nur insofern diese bereits vorherbestimmten und festgehaltenen Zielen dient. Diese Haltung nimmt Wahrheit zwar in Anspruch, aber selektiv und utilitär: Sie ist selektiv, insofern sie Wahrheit nur in dem Maß anerkennt, in dem diese die eigenen vorher gesetzten Ziele bestätigt. In dieser Haltung betrachtet der Mensch die Wahrheit mit Scheuklappen und erkennt keine mit seinen Zielen nicht zusammenhängenden oder ihnen gar widersprechenden Wahrheiten an. Ja diese selektive Wahrheitsliebe schlägt leicht in Haß der Wahrheit um, denn die Wahrheit kann letzten Endes nur ganz und als ganzes geliebt werden oder gar nicht. Deshalb wird ein in dieser selektiven „Wahrheitsliebe“ verharrender Mensch eine solche Wahrheit, die seinen vorgegebenen Zielen widerspricht, nicht nur nicht lieben, sondern sogar hassen. Utilitär ist die von Augustinus beschriebene Wahrheitsbeziehung, weil Wahrheit auf ihre Funktion der Förderung bestimmter an Stelle der Wahrheit geliebter Ziele reduziert wird. Sie wird nicht als solche und um ihrer selbst willen geliebt, sondern wegen ihrer Nützlichkeit zur Erreichung vorgesetzter Zwecke. Diese Haltung kann dann eine eigene utilitär-pragmatische Wahrheitstheorie gebären, die das, was ursprünglich als eine Fehlhaltung gegenüber der Wahrheit auftritt, nun zur Wahrheitstheorie erhebt. Letzten Endes ist die von Augustinus beschriebene Haltung viel 36
Augustinus, Bekenntnisse X. 23: X. 26. Übers. G. Graf von Hertling (Freiburg i.B.: Herder, 1922).
Wesen und Wert der Wahrheit als eine philosophische Grundfrage
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schlimmer als daß sie durch Selektivität und utilitäres in Dienst Nehmen der Wahrheit hinreichend erfaßt werden könnte. Sie zielt auf eine Unterwerfung der Wahrheit unter den Menschen ab: die Wahrheit soll nicht nur partiell betrachtet und von uns in Dienst genommen werden: sie soll nun auch inhaltlich davon abhängen, was wir wünschen. Wir wollen Wahrheit machen, schaffen, sie uns selber unterwerfen, sodaß sie nur das zu sagen hätte, was wir von ihr wünschen. Aus diesem Streben nach schlechthinniger Eigenmächtigkeit folgt dann auch der Haß gegen die Wahrheit, wo sie sich gegen unsere Ziele richtet. Wir können etwas anderes an die Stelle des Wahren und in sich Guten setzen und deshalb für Bedeutung und Wert der Wahrheit und des objektiv Guten erblinden. Aus dem ungeordneten Streben nach Lust folgt ebenso Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit oder sogar Haß ihr gegenüber wie aus Stolz und dem dämonischen Willen zur Macht, der ebenfalls zum Haß gegen Wahrheit führen kann. Augustinus stellt dieser Haltung zur Wahrheit eine ganz andere, nämlich die authentische Liebe zur Wahrheit, gegenüber. In ihr verwurzelt, liebt der Mensch nicht etwas anderes anstelle der Wahrheit, sondern diese selbst. Er will nicht die Wahrheit sich selbst unterwerfen, sondern sich selbst der Wahrheit. Er will nicht die Wahrheit dem Menschen dienstbar machen, sondern faßt umgekehrt den Menschen als Diener der Wahrheit auf. Er will nicht tun, was Sokrates und Platon dem Sophisten zuschreiben, nämlich die Wahrheit wie eine sklavische Puppe das sagen zu lassen, was er selber hören will. Vielmehr will der diese adäquate Haltung einnehmende Mensch das wollen, was er von der Wahrheit hört anstatt das von ihr hören zu wollen, was er selbst unabhängig von ihr will, was dann entweder zur gleichgültigen Ausschaltung oder zum Verbergen, Ausschmücken und Umdeuten der Wahrheit führt.37 Durch die kurze Schilderung dieser beiden Grundmöglichkeiten des Menschen wird deutlich, daß die Wahrheit, so unvermeidbar sie auch für jedes rationale Urteil und jede vernünftige Entscheidung, für die wir Rechenschaft ablegen können, vorausgesetzt wird, doch keineswegs in dem Sinne unvermeidlich Richtmaß menschlichen Denkens oder Handelns 37
In witziger Manier verspottet Nestroy eine solche so weit verbreitete Haltung in einem wenig bekannten Text aus seiner Couplet-Sammlung.
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Prolegomena
ist, daß wir uns wirklich immer oder gar notwendig nach ihr zu richten bräuchten. Es muß vielmehr auf allen Gebieten als die ethische Grundentscheidung und wirkliche Fundamentaloption des Menschen angesehen werden, ob er die Wahrheit zum Richtmaß seines Lebens machen oder ob er vor ihr fliehen, oder gar sie hassen will. Diese Grundentscheidung des Menschen angesichts der Wahrheit kann auch in Form der Alternative ausgedrückt werden, ob der Einzelne die jedem Menschen zur Rationalität nötigen Wahrheitsansprüche in den Dienst der Lüge stellen und „Wahrheit“ sich selbst unterwerfen will, oder ob er sie suchen, sie lieben, und sein Leben und Handeln unter ihre Leitung stellen und sich selber ihr unterwerfen will. Aus dem bisher Gesagten ergeben sich radikal verschiedene Typen des Willens zur Unwahrheit, bzw. drei Arten und Stufen der Radikalität, in denen sich dieser Wille zur Unwahrheit äußern und dabei auch zu theoretischen Wahrheitsbegriffen oder Wahrheitstheorien führen kann, die einen solchen Willen zur Unwahrheit ausdrücken. 1. Die erste Stufe des „Willens zur Unwahrheit“ besteht einfach in einer mehr oder minder großen Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheitsfrage. Dabei sieht der Mensch ganz davon ab, was die Wahrheit über eine Sache verlangt und beschäftigt sich nur mit seinem besonderen Ziel, meist seiner Lust und Befriedigung, auf welchem Gebiete auch immer, aber vielleicht auch mit einem tieferen Teilbereich des eigenen oder auch fremden Glücks. Was Wahrheit ist oder für sein Leben impliziert, schaltet er gleichsam aus dem Bereich seiner Interessen aus, vielleicht nicht ausdrücklich, aber doch wenigstens implizit. Diese Gleichgültigkeit ist jedoch, wie Hildebrand in seinem Werk Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis zeigte, nicht einfach ein Ausfall jeglicher Stellungnahme, sondern vielmehr eine negative „Stellungnahme der Gleichgültigkeit“, der Mißachtung und Verachtung der Wahrheit.38 Diese kann sich in ausdrücklichen Gedanken 38
Vgl. Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine Untersuchung über ethische Strukturprobleme (München: Bruckmann, 1918); 3., durchgesehene Auflage (Vallendar-Schönstatt: Patris Verlag, 1982). Vgl. auch Josef Seifert, „Grundhaltung, Tugend und Handlung als ein Grundproblem der Ethik. Würdigung der Entdeckung der sittlichen Grundhaltung durch Dietrich von Hildebrand und kritische Untersuchung der Lehre von der ‚Fundamentaloption‘ innerhalb der ‚rein teleologischen‘ Begründung der Ethik,“ in: Clemens Breuer
Wesen und Wert der Wahrheit als eine philosophische Grundfrage
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oder Worten Luft machen oder rein implizit durch die begierliche Grundhaltung bedingt sein. 2. Eine zweite Möglichkeit ist eine Stellungnahme des Hasses respektive der Ablehnung, in der der Mensch nicht bloß gleichgültig gegenüber der Wahrheit ist und auf sie nur mit stumpfem Desinteresse reagiert, sondern sie ausdrücklich ablehnt. Von diesem Haß der Wahrheit spricht Augustinus. Es ist möglich, daß insbesondere der stolze und dämonisch hochmütige Mensch die Wahrheit schlechthin haßt, daß er ihr ihre Autonomie und Macht neidet, daß er ihre Überlegenheit und Souveränität nicht anerkennen will. Selbst beim weniger hochmütigen Menschen trifft es oft zu, daß er die Wahrheit zumindest dann haßt, wenn sie ihren Ruf an ihn richtet und in Konflikt mit dem tritt, was er an ihrer Stelle liebt. Ganz besonders wird er die Wahrheit hassen, wenn sie ihm Vorwürfe macht und das Übel seiner eigenen Einstellung offenbart, wenn sie, wie Augustinus sagt, „ihn selbst offenbart“. 3. Drittens ist der Wille zur Unwahrheit in seiner schlimmsten Form vorhanden, wenn er sich als prinzipieller Wille zur Täuschung, zur Verdrehung der Wahrheit, zur Umwertung aller Werte oder als reiner Wille zur Lüge offenbart. Denn ein so verstandener Wille zur Macht haßt die Wahrheit nicht bloß und erkennt sie auch nicht einmal in seiner Auflehnung gegen sie an. Vielmehr will er sie sich selber unterwerfen, untertan machen und eine eigene Antiwahrheit schaffen. Vielleicht findet dieser Wille seinen ungeschminktesten Ausdruck in einem Nietzsche-Wort gegen den Willen zur Wahrheit und einem Gedicht über den Jägergott aus dem Zarathustra,39 in dem der Mensch die Aufforderung, sich der in Gott verkörperten Wahrheit ganz hinzugeben, mit dem Aufschrei „ergib …. Mir dich!“ beantwortet, oder im Wort Zarathustras: Aber daß ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also gibt es keine Götter.
39
(Hrsg.), Ethik der Tugenden. Menschliche Grundhaltungen als unverzichtbarer Bestandteil moralischen Handelns. Festschrift für Joachim Piegsa zum 70. Geburtstag, 311-360. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, IV, Der Zauberer 1. In: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. K. Schlechta (München: C. Hanser, 1966), Band. II, S. 491-494.
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Prolegomena Wohl zog ich den Schluß: nun aber zieht er mich.40
So wird Nietzsches Philosophie und fiktionalistische oder auch pragmatisch-vitalistische Theorie der Wahrheit, der gemäß Wahrheit nur ist, was dem Wollen zur Macht oder dem Leben dient und Wahrheit gar nicht einen grundlegenden Wert darstellt, zutiefst durch seine Grundhaltung bestimmt, die an die Stelle der Suche nach Wahrheit einen Willen zur Macht setzt. Wir sehen also, wie sehr die philosophischen Antworten auf die Frage nach dem Wesen der Wahrheit und die Philosophie überhaupt an tiefster Stelle deshalb keinen Konsens finden, weil diese Erkenntnisse an moralische Bedingungen geknüpft sind, die viele Philosophen nicht erfüllen mögen. Auch Scheler hat auf diese moralische Dimension und Voraussetzung der Philosophie eindringlich hingewiesen.41 Wir sind davon ausgegangen, daß der Mangel an Konsens ein Grund dafür ist, die Wissenschaftlichkeit der Philosophie oder sogar die Existenz von Wahrheit überhaupt und ihre philosophische Erkennbarkeit zu bezweifeln. Daß dieser Grund skeptischen Zweifels unbegründet ist, geht nicht nur aus der Einsicht in die moralischen Bedingungen der Philosophie hervor, die es mit sich bringen, daß selbst die einleuchtendste Darlegung und Erkenntnis des Wesens der Wahrheit abgelehnt und durch falsche und absurde Wahrheitstheorien ersetzt werden kann. Es geht noch deutlicher aus dem Nachweis hervor, daß selbst die radikalste Bezweiflung und Leugnung von Wahrheit, wie wir sie bei Friedrich Nietzsche finden, immer noch Wahrheit und viele echte Einsichten in ihr Wesen voraussetzt. Deshalb sind ein radikaler Skeptizismus oder Relativismus in Form eines universalen Zweifels oder einer Verwerfung oder Relativierung der Wahrheit keine gültigen Schlüsse aus dem mangelnden universalen Konsens in der Philosophie, weil jeder solcher Skeptizismus oder Relativismus schon wieder unbezweifelbare und absolute Wahrheit voraussetzt. 40 41
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, „Auf den glückseligen Inseln“. Vgl. Max Scheler, „Vom Wesen der Philosophie. Der philosophische Aufschwung und die moralischen Vorbedingungen“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen (Erkenntnislehre und Metaphysik), Schriften aus dem Nachlass Band II, herausgegeben mit einem Anhang von Manfred S. Frings (Bern: Francke Verlag, 1979), S. 61-99.
Wesen und Wert der Wahrheit als eine philosophische Grundfrage
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3. Schlußbemerkungen über die Rolle der Wahrheit für menschliches Denken, Handeln und Leben und über fünf Grundbedeutungen von Wahrheit und die Aufgabe dieses Buches Kehren wir zu jenen schlichteren und nur mittelbar so dramatischen Fragen zurück, die Gegenstand unserer Untersuchungen sein werden: Was meinen wir mit Wahrheit und was ist sie? Und wie läßt sich ihr Wesen erkennen und Erkenntniswahrheit begründen? Wir möchten diese Fragen hier nur knapp skizzieren und erst im folgenden in ihrer Allgemeinheit stellen und zu beantworten suchen. Von Wahrheit kann in ganz verschiedenen Bedeutungen gesprochen werden. Fünf Grundbedeutungen von Wahrheit, von denen insbesondere die ersten drei uns im folgenden beschäftigen sollen,42 sind gewiß nicht erschöpfend, aber sie decken doch die wichtigsten Grunddimensionen, die man als Wahrheit bezeichnen kann: 1. Ontologische Wahrheit oder Wahrheit des Seins; 2. die Wahrheit des Erkennens, die nicht mit Urteilswahrheit zusammenfällt. 3. Urteilswahrheit, auch logische Wahrheit genannt. („Logische Wahrheit“ ist dabei der weitere Begriff, weil wir nicht ausschließlich die Urteilswahrheit als logische Wahrheit bezeichnen können, sondern etwa auch von der Wahrheit der Definitionen oder Begriffe sprechen können);43 4. Wahrheit des Lebens und insbesondere sittliche Wahrheit;44 5. Wahrheit der Kunst Im folgenden sollen die ersten drei dieser Bedeutungen und Dimensio42
43
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In deren Kontext wird auch von den anderen Bedeutungen der Wahrheit die Rede sein. In diesem weiteren Sinne fallen auch die Wahrheit der Theorien oder Modelle in den Bereich der Urteilswahrheit und können im Sinne der folgenden Erörterungen nicht von ihm getrennt werden, wie Menne vorschlägt. Vgl. Albert Menne, “What is truth?”, Ratio (Juni 1974), 16, 68-75. Der Ausdruck Wahrheit des Lebens (veritas vitae) kommt in unzähligen Variationen in der mittelalterlichen philosophischen Literatur vor, etwa bei Thomas von Aquin, Bonaventura und Duns Scotus. Vgl. etwa Thomas von Aquin In Libros Sent., In IV Sent., d. 46, q. 1, a. 1C, RA 3.
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Prolegomena
nen von Wahrheit in systematischer Form erforscht werden, im Folgeband Der Streit um die Wahrheit insbesondere die dritte, und zwar in kritischem Dialog mit zeitgenössischen Wahrheitstheorien und in dem Bewußtsein, daß es nicht darum geht, für irgendeine Wahrheitstheorie Partei zu ergreifen oder gar eine bloße Wahrheitstheorie zu konstruieren, sondern die Wahrheit über die Wahrheit, das wahre Wesen der Wahrheit, zu erkennen so wie es wirklich ist, was im vorliegenden Buch in friedlicher, schlicht systematischer Weise geschehen soll, im Folgeband Der Streit um die Wahrheit hingegen in einer durch das Feuer der Gigantomachie, die um die Wahrheit tobt, durchgehenden dialektischen Weise, welche das Wesen der Wahrheit in der scharfen Auseinandersetzung mit jener großen Überzahl von Theorien herauszuarbeiten sucht, welche dieses objektive Wesen der Wahrheit leugnen, verfälschen, umdeuten, oder in einer Weise positiv ausdeuten, welche äußerlich bleibt und ihm nicht gerecht wird. Daß es über das Wesen der Wahrheit Wahrheit gibt, daß wir das Wesen der Wahrheit in rigorosen wissenschaftlichen philosophischen Erkenntnissen erfassen und nicht nur in subjektiven Meinungen anzielen oder gar nur nach eigenem Gutdünken konstruieren können, läßt sich nicht durch verbale Behauptungen, sondern nur durch die geistige Tat einer präzisen und kritischen Analyse dessen nachweisen, was Wahrheit ist, kraft deren der Charakter der Philosophie als einer strengen, ja als der strengsten Wissenschaft, die sich auf unbezweifelbar wahre Evidenzen stützt, hervortritt. Von einer solchen sachlichen Untersuchung der Wahrheit her wird sich sowohl zeigen, daß es unerläßlich ist, den exakten und zugleich überaus vielfältigen Sinn der Seinswahrheit und der Wahrheit des Erkenntnisaktes sowie des logischen objektiven Urteils neu herauszuarbeiten, um das Mirandum der Wahrheit mit neuer Frische und Präzision zu fassen, als auch, daß eine solche neue und streng phänomenologische Untersuchung über die Wahrheit keineswegs zu einer radikal neuen und nie dagewesenen Wahrheitsauffassung oder Verwerfung der klassischen Korrespondenzoder Adäquationstheorie der Wahrheit als einem Irrweg oder einer Verfälschung des ursprünglichen Wesens der Wahrheit führt, wie Heidegger meinte. Vielmehr zeigt eine solche Untersuchung und neue Herausarbeitung der eigentümlichen „Entsprechung“ zwischen intellectus und res, zwischen Geist und Sein, Urteil und Sachverhalt, daß die Adäquationslehre
Wesen und Wert der Wahrheit als eine philosophische Grundfrage
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der Wahrheit keineswegs überholt ist, sondern sich im kritischen Eingehen auf die gültigen Einsichten, die in modernen Wahrheitstheorien stecken, ganz neu in ihrer unentthronbaren und überall, sogar in ihrer Leugnung, vorausgesetzten Bedeutung erweist. Diese vielschichtige und verschieden geartete adaequatio der Wahrheit muß jedoch aufgeklärt und neu erforscht werden, damit die wahre Auffassung dessen, was Wahrheit ist, nicht deshalb verworfen werde, weil sie unzureichend und irreführend dargestellt und begründet wurde. Obwohl wir die Frage nach der Wahrheit des Urteils, die Aussagewahrheit, in das Zentrum der Reflexionen dieser Prolegomena gestellt haben und im Folgeband Der Streit um die Wahrheit fast ausschließlich behandeln werden, so erschöpft die Urteilswahrheit doch keineswegs den Sinn von Wahrheit oder das, was zu Recht ‚Wahrheit‘ genannt wird. Wir werden zeigen, daß die Erkenntnis in einem ganz anderen Sinne wahr ist als das logische Urteilsgebilde und daß dieser erkenntnisspezifische Sinn von Wahrheit in sich und für alle Bereiche der Philosophie und Wissenschaft von absolut grundlegender Bedeutung ist. Auch liegt aller Urteilswahrheit und adaequatio, so fundamental ihre Bedeutung auch ist, ein noch ursprünglicherer Sinn von Wahrheit – der der Wahrheit des Seins selber – zugrunde, dem wir uns wegen dieses seines alle Urteils- und Erkenntniswahrheit erst begründenden Charakters auch als erstes zuwenden möchten. Ja wir fühlen uns insbesondere dazu gehalten, durch eine neue Untersuchung neben der Wahrheit des Urteils und der Wahrheit des Erkennens diese „Wahrheit des Seins“, sowie die letzte Beziehung zwischen Wahrheit und Person, zu erhellen und durch eine phänomenologische Rückkehr zu den Sachen selbst aufzuklären.
KAPITEL 1 DIE WAHRHEIT DES SEINS UND WESENS – „ONTOLOGISCHE WAHRHEIT“ XE. !Ara tò Âlhjðinòn ÓntwV Òn lægwn? JÐEAI. ¿OútwV. FREMDER: Und meinst du unter dem Wahren das im eigentlichen Sinne Seiende?45 THEAITETOS: So meine ich es. Platon, Sophistes 240 b. “Omnes enim de veritate significationis loquuntur; veritatem vero quae est in rerum essentia, pauci considerant.” „Über die Wahrheit der Aussage reden alle. Wenige aber denken über die Wahrheit nach, die im Wesen der Dinge liegt.“ Anselm von Canterbury, Dialog über die Wahrheit, Kap. ix.
Wenden wir uns denn im Lichte dieser programmatisch unserem Kapitel vorangestellten Zitate als erstes dem heute so wenig beachteten, aber fundamentalen Problem der Wahrheit des Seins oder der Wahrheit der Dinge zu, dessen grundlegende Bedeutung insbesondere Platon und Thomas von Aquin erkannt haben und zu dem diese Denker tiefe Einsichten gewannen, welche der gegenwärtigen philosophischen Welt nicht länger fehlen sollten und als wichtige Teile der philosopia perennis, und damit der heute ebenso wie immer wahren Philosophie, wieder bewußt gemacht, aber zugleich neu erobert werden müssen. Es findet sich seit Jahrhunderten fast keine neuere Untersuchung zu diesem Problem außer Heideggers Philosophie der Wahrheit, die jedoch ohne klare Unterscheidungen von Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit spricht und auf die wir wiederholt hinweisen und in Der Streit um die Wahrheit in einem eigenen Kapitel kritisch eingehen werden. 45
Der Ausdruck ÓntwV Òn ist schwer zu übersetzen. Man könnte, mit Schleiermacher diese platonische Wendung als „das wirklich Seiende“ übersetzen. Ich habe es vorgezogen, diesen eigentlich „das seiend Seiende“ bedeutenden Ausdruck als „das im eigentlichen Sinne Seiende“ zu übersetzen, da das, was wir wirklich nennen, nur Teil davon und auch nicht primär das ist, was Platon darunter versteht.
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KAPITEL 1
Nahezu sämtliche Abhandlungen über das Wahrheitsproblem sehen von der ontologischen Wahrheit ab, und selbst jene, die diese, oft nur in Form eines Postskriptums, behandeln, sprechen meist nur von der ontologischen Frage des Seins der (Urteils-)Wahrheit, der wir ein eigenes Kapitel widmen werden, nicht aber von der Wahrheit des Seins.46 Platon und Thomas von Aquin sind jene Denker, denen wir uns, wenngleich in verschiedenen Teilen dieses Kapitels, hinsichtlich dieses Themas in erster Linie verpflichtet fühlen, da wir ihnen wichtige Erkenntnisse verdanken.47 Im Sinne einer umfassenden philosophischen Erkenntnis, die 46
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Vgl. etwa Heinz-Dieter Heckmann, Was ist Wahrheit? Eine systematisch-kritische Untersuchung philosophischer Wahrheitsmodelle (Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1981), S. 188 ff. Die ausführliche Berücksichtigung Thomas von Aquins in diesem Kapitel hat auch den akzidentellen Grund, daß Teile dieses Kapitels auf eine Einleitung zurückgehen, die ich für eine damals geplante und inzwischen längst verwirklichte italienische Ausgabe der thomasischen Quaestiones disputatae de veritate vorbereitete. Da sich meine Arbeit allzulang hinzog, dachte der Herausgeber, ich hätte meine Zusage vergessen und, ohne mich weiter zu verständigen und mir eine Frist zu setzen (es war mir vordem gesagt worden, es gäbe keine Frist für die Fertigstellung der Einleitung), publizierte er den Band vor der Fertigstellung meiner Einführung, die zu einem kleinen Büchlein angewachsen war. Ich verdanke jedoch dieser Einladung eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Denken des Aquinaten als ich sie sonst in Angriff genommen hätte. Nachdem mich ein ganz andersartiger Grund, nämlich die heftigen Attacken „existentialistischer Thomisten“ und Anhänger Gilsons an der University of Dallas auf meinen, und jeden phänomenologischen, „Essentialismus“ zu jenen Forschungen gezwungen hatten, die mich, neben dem Studium des Hauptwerks von Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins in: Edith Steins Werke, Bd. II, Hrsg. L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986) zu einer tieferen Beschäftigung mit der thomasischen Philosophie der Existenz führten, welche in Sein und Wesen ihre Frucht brachten, motivierte mich die Einladung, eine Einleitung zur Publikation von De veritate zu schreiben, zu jener Begegnung einer phänomenologischen Philosophie der Wahrheit mit jener Thomas von Aquins, die eine wichtige Wurzel des gegenwärtigen Kapitels ist und die ich schon durch meine vorhergehende Beschäftigung mit Edith Steins Übersetzung der thomasischen Schrift über die Wahrheit begonnen hatte. In die folgenden Ausführungen über die ontologische Wahrheit brachte ich einen guten Teil der mich sehr inspierenden Arbeit über De veritate in Zusammenhang mit einer rein systematischen Erforschung des Wesens der
Die Wahrheit des Seins und Wesens – „Ontologische Wahrheit“
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immer auch ein volles Einbeziehen der Erkenntnisse unserer Vorgänger verlangt, versuche ich jedoch, auch die wichtigen aristotelischen Beiträge sowie die großen Intuitionen Augustins und anderer Denker der platonischaugustinischen Tradition, die ich ebenfalls für unverzichtbare Beiträge zur Erforschung der Wahrheit des Seins halte, voll einzubeziehen und zu zeigen, daß eine Erforschung der Wahrheit des Seins allen früheren Beiträgen voll Rechnung tragen und zugleich aus dem eigenen Sachkontakt heraus weitergehen muß. In diesem Sinne ist sicher die Wahrheit „das Ganze.“ Doch kann eine solche Synthese der Ergebnisse von einander ergänzenden und vielleicht sogar in ihren Grundlinien gegensätzlichen Philosophien und Denkschulen nur dann gelingen, wenn man zu den Sachen selbst zurückkehrt und nichts Anderes im Auge hat, als allen Gegebenheiten, die sich vom Sein selber her zeigen, und all dem Wahren, das von jedem Philosophen, der über die Wahrheit philosophiert hat, gesehen wurde, gerecht zu werden, nicht um einer Synthese, sondern um des symphonischen Charakters der Wahrheit willen.48 In diesem Sinne verstehe man ontologischen Wahrheit und freue mich (in großer Dankbarkeit für die vielen Einsichten und Unterscheidungen, die aus dieser Beschäftigung mit Thomas positiv inspiriert oder dialektisch kritisch motiviert wurden), einen Teil der Philosophie Thomas von Aquins zu würdigen, den ich, neben seiner Philosophie über Sein und Wesen, für den vielleicht tiefsinnigsten und originellsten in seinem Werk halte: seine Philosophie der Wahrheit des Seins. Doch wie bereits gesagt, ist das Ziel dieses Kapitels in keiner Weise eine Darstellung seiner Gedanken, sondern eine genaue Erforschung der Sachen selbst, ganz im Sinne der Bestimmung der Aufgabe des Philosophen durch den Aquinaten selber: Thomas Aquinas, De Coelo et Mundo, I, 22, no 9: Studium philosophiae non est ad hoc quod sciatur quod homines senserint, sed qualiter se habeat veritas rerum. Das Studium der Philosoph zielt nicht darauf ab zu wissen, was die Meinungen der Menschen waren, sondern wie sich die Wahrheit der Dinge verhält. 48
Vgl. Hans Urs von Baltasar, Die Wahrheit ist symphonisch (Einsiedeln: Johannes Verlag, 1972); Truth Is Symphonic (San Francisco: Ignatius Press, 1987); Vgl. Die hochphilosophische Einleitung zu dem klassischen theologischen werk des HegelSchülers Johann Adam Möhler, Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnisschriften, hrsg., eingel. u. komm. v. Josef Rupert Geiselmann (Köln & Olten:
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die folgenden Ausführungen über die vielen Bedeutungen und Urgegebenheiten, auf welche der Ausdruck „Wahrheit des Seins“ abzielt und über die hinaus wir neben dem schon eroberten Gebieten der Erkenntnis über die Wahrheit noch viele weitere hinzugewinnen sollten. Dabei soll neben den intrinsischen Bedeutungen oder Formen ontologischer Wahrheit besonders die grundlegende Rolle der „Wahrheit des Seins“ als Fundament der Wahrheit der Erkenntnis und der klassischen Adäquationstheorie der Wahrheit herausgearbeitet und durch eine phänomenologische Rückkehr zu den Sachen selbst neu geklärt werden. Von einer solchen sachlichen Untersuchung der Seinswahrheit her soll dann in den darauffolgenden Kapiteln auch gezeigt werden, daß die Adäquationslehre der Wahrheit weder als Theorie der Erkenntniswahrheit noch als eine der logischen Wahrheit, noch die Suche nach deren ontologischem Fundament, überholt sind, sondern daß sich vielmehr im kritischen Eingehen auf die gültigen Einsichten, die in alten und modernen Beiträgen zu einer Philosophie der Wahrheit stecken, Wahrheit in ihrem ontologischen Sinne und im Sinne der klassischen Adäquationslehre ganz neu in ihrer Bedeutung und auch in ihrem Potential zur Kritik alternativer moderner Wahrheitstheorien erweist. Zugleich wird deutlich werden, daß die hergebrachten Ausdrücke der Korrespondenz und Adäquation eine ungeheure Vielfalt grundlegend verschiedener Gegebenheiten verbergen, die einer ganz neuen philosophischen Erforschung bedürfen und daß es in keiner Weise genügt, Begriffe wie „Unverborgenheit“, „Entbergung“ oder „Entdeckendsein des Daseins“ der Wahrheit als Richtigkeit entgegenzusetzen oder gar diese in ihrer Bedeutung herabzusetzen, um der Fülle der grundlegend verschiedenen Dinge gerecht zu werden, die wir Wahrheit nennen. “Omne ens est verum”, „jedes Seiende ist wahr“, oder “omnis res est vera et nulla res est falsa”49, „jedes Ding ist wahr und kein Ding ist
49
Verlag Jakob Hegner, 1958). Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, Ia Pars, Q. 16, a. 2, co. Vgl. Auch Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1, a. 10, co.
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falsch“, lehrten die mittelalterlichen Philosophen, und von Platon und Aristoteles an über Franz Brentano bis zur Gegenwart hat man auch vom „Seienden als dem Wahren“ sowie von dem „wahrhaft Seienden“ oder sogar vom „wahrsten Sein“ gesprochen.50 Man nennt diese Wahrheit der Dinge auch „ontologische Wahrheit“ und versteht unter diesem Begriff sehr Verschiedenes, was es sorgfältig auseinanderzuhalten gilt. „Ontologische Wahrheit“ ist gewiß ein Begriff, der, wie Josef Pieper in seinem Buch Wahrheit der Dinge hervorhebt,51 heutzutage nicht ohne weiteres, ja fast gar nicht mehr verständlich ist – was tatsächlich auf eine Mehrzahl zeitgenössischer Philosophen zutrifft, auch wenn es neben Heidegger eine Reihe von anderen Denkern gibt, die die Idee einer Seins50
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So etwa Platon, Theaitetos 186 ff.; Vgl. auch ders., Philebos 58 a, und 59, wo von dem „wahrhaft Seienden“ die Rede ist, sowie zahlreiche andere Stellen, etwa Phaidon 63, wo von den „wahrhaft weisen“ Männern, aber auch den „wahrhaft philosophischen“ usf. die Rede ist, oder ebd., 67 a; Ebd., 109 e-110a ist vom „wahren Himmel“, dem „wahren Licht“ und der „wahren Erde“ die Rede. Im Unterschied zu Aristoteles spricht Platon ungezählte Male von der Wahrheit des Seins und dem „wahrhaft Seienden“. In Timaios 39 e ist von dem „wahrhaft Seienden Lebendigen“ die Rede; im Phaidros 247 wird vom „wahrhaft seienden Wesen“, und vom „wahrhaft Seienden“ gesprochen, ebd. 248 einfach vom „Wahrhaften“, im Sophistes 234 vom „wahren Wesen“, und während Platon gewöhnlich das „wahrhaft Seiende“ nicht mit dem wirklich und lebendig seienden identifiziert, tut er dies im Sophistes, 248 c – 249 a. Auch Aristoteles sagt in seiner Metaphysik, am Schluß von Buch 2, 1, daß „das, was abgeleitete Wahrheiten wahr macht, ist am wahrsten. Deshalb müssen die Prinzipien ewiger Dinge immer wahr sein (denn sie sind nicht nur manchmal wahr, noch gibt es eine Ursache ihres Seins, sondern sie sind die Ursache des Seins anderer Dinge), sodaß wie jedes Seiende hinsichtlich seines Seins ist, so ist es auch hinsichtlich seiner Wahrheit.“ (meine Hervorhebung und Übersetzung). Franz Brentano im dritten Kapitel seiner Schrift Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (Freiburg i.B., 1862; Neudruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1960). Vgl. auch David Farrell Krell, “On the manifold meaning of alétheia: Brentano, Aristotle, Heidegger,” Research in Phenomenology 5: 77-94 (1975). Siehe Josef Pieper, Das Seiende und das Sein; ders., Wahrheit der Dinge. Eine Untersuchung zur Anthropologie des Hochmittelalters (München, 19664). Vgl. auch H. Knittermeyer, Der Terminus transzendental in seiner historischen Entwicklung bis zu Kant. Siehe zur Einführung des Transzendentalienbegriffs und vor allem der reinen Vollkommenheit und der Entwicklung ihrer Erforschung bei Duns Scotus auch J. Seifert, Essere e persona, Kap. 5.
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KAPITEL 1
wahrheit weiterhin verteidigen, wenngleich sie untereinander sehr verschiedene Begriffe derselben haben.52 Doch ist tatsächlich der Begriff der ontologischen Wahrheit dem heutigen Menschen nicht mehr verständlich? Vielleicht gilt dies von einem theoretischen Begriff der Seinswahrheit, doch gilt es keineswegs von einem vorphilosophischen Verständnis derselben. Wenn man bedenkt, was dieser Begriff eigentlich aussagen möchte, ist er nicht so unverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen möchte. Dabei geht es im folgenden zunächst um den Versuch eines Aufweises der grundlegenden und nicht abgeleiteten Bedeutungen von Wahrheit, die im Begriff der Seinswahrheit bzw. ontologischen Wahrheit stecken. In diesem Zusammenhang unterscheidet sich noch ein positiver Sinn von Seinswahrheit von dem wichtigen, aber abgeleiteten Sinn von Wahrheit der Dinge, den Pieper als den einzigen zu bewahren scheint,53 und nach dem die Wahrheit der Dinge einfach darin bestünde, daß dieselben, wie übrigens auch das tatsächlich nicht-Seiende bzw., phänomenologisch präziser ausgedrückt, negative Sachverhalte, Gegenstand wahrer Urteile und Aussagen werden können. ‚Seinswahrheit‘ wäre dann nichts weiter als die Tatsache, daß alle ‚logische‘ Wahrheit, d.h. alle Wahrheit von Urteilen, sich auf Seiendes im weitesten Sinne bezieht, und daß dieses also die Voraussetzung für Wahrheit bildet, wie Thomas in De veritate sagt. Wollte man nur ein solches Verständnis ontologischer Wahrheit beibehalten, wäre das Seiende – jedenfalls nach Piepers Meinung, der wir widersprechen werden – nur in einem abgeleiteten und sekundären, nicht in einem formellen und ursprünglichen Sinne wahr. Dabei gilt es zu bedenken, daß wahre Urteile sich auch auf Nichtseiendes, also auf tatsächlich nicht seiende Dinge, beziehen können oder, wie Adolf Reinach in „Zur Theorie des negativen Urteils“ präziser ausführt, auf „negative Sachverhalte“.54 Wir 52
53 54
Vgl. etwa E. N. Platis, „Die Prolegomena zur Metaphysik von Panayotis Kanellopoulos,“ Philosophia (Athen), (1985-86), 15-16, 30-107. Siehe J. Pieper, Wahrheit der Dinge, ebd. Diesen Gedanken finden wir in anderer Form auch bei Thomas von Aquin in De ente et essentia, wo Thomas ausdrücklich betont, daß vom Sein in zwei Grundbedeutungen gesprochen werden kann, einmal in dem Sinne, in dem es in die 10 Kategorien als oberste Seinsweisen zerfalle, ein anderes Mal in jenem Sinne, in dem es jedem wahren Urteil entspreche und auch Privationen und (ontische)
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werden im dritten Kapitel sehen, daß ohne eine sorgfältige Analyse und Herausarbeitung der Seinsform der Sachverhalte keine überzeugende Antwort auf die vielen Kritiken der Korrespondenztheorie (Adäquationstheorie) der Wahrheit möglich ist. So zentral wichtig dieser Sinn von Seinswahrheit auch ist, so dünkt er uns doch nicht der einzige und wichtigste. Diesen erblicken wir vielmehr in einem inneren Gehalt des Seienden und des Seins, der uns das ens selber als wahres erschließt. Doch wird dies deutlicher hervortreten, wenn wir im folgenden sieben tief verschiedene Grundbedeutungen von ontologischer Wahrheit unterscheiden, innerhalb derer wir noch eine Reihe weiterer Unterscheidungen treffen müssen, um von dieser differenzierten Sicht der Dinge aus dann zur inneren Einheit und den Verbindungen der verschiedenen Dimensionen und Arten ontologischer Wahrheit vordringen zu können.55 Was also ist diese Wahrheit des Seins selber? Auf diese Frage werden wir im folgenden eingehen und in ihrer Beantwortung darzulegen suchen, daß auch in diesem rein ontologischen Sinn der Wahrheit noch einmal ein allgemeinster und im klassischen und mittelalterlichen Sinne „transzen-
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Negationen (also so etwas wie „negative Sachverhalte“) umfasse. Derselbe Gedanke, daß wahre Urteile sich oft auf Nichtseiendes beziehe, liegt, wie wir sehen werden, Brentanos Kritik an der klassischen Adäquationslehre zugrunde und scheint ihm die These zu bestätigen, daß Wahrheit nicht als Übereinstimmung zwischen Urteil und Sein definiert werden darf. Wenn man von seinem Relativismus und seiner Homo Mensura These absieht, hat auch der antike Sophist Protagoras denselben umfassenden Seinsbegriff im Auge, wenn er sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, „der seienden, daß sie sind und der nicht seienden, daß sie nicht sind“. In dem unter Anführungszeichen gesetzten Teil des protagoräischen Satzes weist derselbe genau darauf hin, worauf wahre Urteile sich beziehen und daß ihre Wahrheit darin besteht, daß sie von dem, was ist, sagen, daß es ist und von dem, was nicht ist, daß es nicht ist. Siehe dazu auch Platon, Theaitetos und Sophistes. Ganz ähnlich bestimmt Aristoteles die Wahrheit im Organon. Thomas von Aquin spricht von der Wahrheit in dreifachem Sinne: als einer Eigenschaft der Dinge selbst, dem Fundament der Wahrheit der Aussage, als der Übereinstimmung zwischen Sein und Intellekt, worin formell die ratio veri, das Wesen der Urteilswahrheit, liege, und schließlich als Wirkung von Wahrheit. So erkennt Thomas auch in der Wahrheit des Seins selbst einen wichtigen Sinn von Wahrheit.
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dentaler“ Begriff und mehrere sehr verschiedene spezielle Bedeutungen von ontologischer Wahrheit zu unterscheiden sind. Unter „transzendental“ sind hier zunächst jene Proprietäten und Prinzipien gemeint, die allem Seienden im weitesten Sinne und als solchem zukommen.56 Während jedoch eine wichtige, von Thomas übernommene Unterscheidung das verum (das Wahre) als ein relationales transcendentale, also als wesenhaft relationale Eigenschaft alles Seienden bezeichnet und den intrinsischen Transzendentalien wie dem ens (dem Seienden) selber oder der res, dem Wesen, gegenüberstellt, versuche ich zunächst zu zeigen, daß in einigen ihrer Bedeutungen die ontologische Wahrheit, das verum, auch das Seiende in sich selber kennzeichnet. Ich werde also zunächst die intrinsischen Eigenschaften des Seins untersuchen, die man als ihre Wahrheit bezeichnen kann.
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Wir werden sehen, daß die dritte Grundbedeutung von ontologischer Wahrheit ebenfalls eine „transzendentale“ Eigenschaft des Seins ist, die wesenhaft relational und daher ganz anders geartet ist als die innere transzendentale Wahrheit des Seins.
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I. SEINSWAHRHEIT „IN DEN DINGEN“ (INTRINSISCHER SINN VON ONTOLOGISCHER WAHRHEIT)
1. Seinswahrheit als „wahrhaftes Sein des Seienden“ – Vier rein ontologische Bedeutungen des Axioms “ens et verum convertuntur” und eine Lehre vom ‚verum‘ als transcendentale in se
Res... quae est aliquid positivum extra animam, habet aliquid in se, unde vera dici possit. Das Seiende,... das etwas Positives jenseits der Seele ist, besitzt in sich etwas, weswegen es wahr genannt werden kann. Thomas von Aquin, De veritate Q.I a.5
1.1. Das Wahre als mit dem Seienden identisch (allgemeinster rein ontologischer Sinn von „ontologischer Wahrheit“). „Die Wahrheit ist (einfach) das, was ist“ – die Unzurückführbarkeit der Seinswahrheit auf die ersten ontologischen Prinzipien, die aber notwendige Korrelate der „rein ontologischen Wahrheit“ im allgemeinsten (transzendentalen) Sinn sind: Kritiken der Kritiken des Begriffs der ontologischen Wahrheit „Die Wahrheit ist (einfach) das, was ist.“ Augustinus, Soliloquia, Kap. 5.
In seinem magistralen Werk Quaestiones disputatae de veritate bezieht sich Thomas von Aquin zunächst auf eine Definition von „ontologischer Wahrheit“, die Augustins Soliloquien entstammt, die sich aber gleichfalls in Avicenna’s (Ibn SƯnƗ’s) Metaphysik findet und die Josef Pieper sehr hart kritisiert.57 Thomas von Aquin führt sie gleich zu Beginn von De veritate 57
Vgl. Augstinus, Soliloquia; Avicenna (Ibn SƯnƗ), Metafisica. La scienza delle cose divine. Testo arabe di fronte, testo latino in nota, dreisprachige Ausgabe (arabisch, lateinisch, italienisch), hrsg. Und übers.v. V. Olga Lizzini, Vorwort von Pasquale Porro, Il Pensiero occidentale, Dirett. Giovanni Reale, in Zusammenarbeit mit dem Platon-Institut der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein (Milano: Bompiani, 2002). Siehe J. Pieper, Wahrheit der Dinge, a.a.O., Kap. iv, 1, S. 75 ff. Er gewinnt dieser Definition ihren positiven Sinn nicht ab, obwohl er selbst Thomas’ Interpretation derselben zitiert.
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an: „Die Wahrheit ist (einfach) das, was ist.“58 Avicenna (Ibn SƯnƗ) definiert: „Die Wahrheit eines jeden Dinges ist eine Eigentümlichkeit seines Seins (proprietas sui esse) und dessen, was ist“. 59 Thomas von Aquin läßt diese Definition als gültige Definition zu, sagt aber, daß sie nicht eigentlich die ratio der Wahrheit ausdrücke, daß sie nicht eigentlich das, was wahr ist, selbst definiere oder bestimme, sondern daß sie sich vielmehr auf den Gegenstand des Wahren, vor allem des wahren Urteils, beziehe und also die ontologische Grundlage der Wahrheit anziele. Hier liegt ein Begriff von Seinswahrheit zugrunde, der eigentlich nur die Wahrheit der Aussage als ratio der Wahrheit anerkennt, aber dem Sein insofern Wahrheit zuschreibt, als es Grundlage der Wahrheit der Aussage ist, Ermöglichungsgrund der Urteilswahrheit. Wie wir sehen werden, versteht aber Thomas von Aquin selbst die ontologische Wahrheit der Dinge noch in anderen Weisen. Während damit bei Thomas ein berechtigter Sinn zugelassen wird, in dem die Wahrheit der Dinge als Fundament der Urteilswahrheit behauptet werden darf, übt Thomas Hobbes mit vielen anderen Denkern pauschale Kritik an dieser Wahrheitsdefinition, wenn er sagt, Veritas enim in dicto, non in re consistit (denn Wahrheit liegt in der Aussage, nicht im Ding), und den Begriff der ontologischen Wahrheit als pueril und müßig abweist,60 wobei er sich freilich auf gewisse Texte von Aristoteles oder Thomas von Aquin berufen könnte.61 Ähnliches gilt von Spinoza,62 wenn 58
Augustinus, Soliloquia, Kap. 5. Der volle Text Thomas von Aquins unterstreicht die in der augustinischen Formulierung liegende Gleichsetzung des Wahren mit dem Seienden noch ausdrücklicher (Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, Q. 1, a. 1.): Augustinus in libro Soliloqui dicit quod verum est id quod est. Sed id quod est nihil est nisi ens; ergo verum significat omnino idem quod ens. Verum est id quod est.
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Siehe Avicenna, Metaphysik, VIII, 6; Metafisica. La scienza delle cose divine. Siehe T. Hobbes, Logica III, 7. Aristoteles sagt, das Wahre und Falsche bestehe nicht in den Dingen und Thomas kommentiert diese Stelle zustimmend. Thomas von Aquin, In Libros Metaphysicorum, Lib. 6, Lectio 4, 1 ff.; 14. Könne man dennoch manchmal Dinge wahr oder falsch nennen, so sei dies nur im Hinblick auf das Urteil, das sie nahelegen, möglich. Hier vergißt Thomas m.E. viele der Einsichten in den Sinn ontologischer Wahrheit, die er an anderer Stelle gewinnt z.B. auch jene, die er in seinem Kommentar über den Liber de causis
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dieser auch die objektive Intelligibilität der Wesen anerkennt. Auch Kant weist den Begriff der ontologischen Wahrheit als steril und tautologisch zurück, indem er ihn überdies vierfach mißversteht:63 (1) Einmal verwechselt Kant das „omne ens est verum“ (alles Seiende ist wahr) mit dem Satz der Identität: „Jedes Seiende ist mit sich selbst identisch“. In Wirklichkeit aber ist der Satz der Identität jeden Dinges mit sich, der freilich eines der Grundprinzipien des Seins und damit auch der Seinswahrheit ist, dennoch ganz verschieden von dem Satze, daß jedes Seiende wahr ist, also ontologische Wahrheit besitze – in ihren ganz verschiedenen und noch zu untersuchenden Bedeutungen.
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gewinnt: Thomas von Aquin, In librum de causis, Prooemium. Dort erscheint also gerade, übrigens auch im Sinne der aristotelischen Aussage, jedes Ding verhalte sich zur Wahrheit ebenso wie zum Sein, gerade den Seienden in einem primären Sinne Wahrheit zugesprochen zu werden, wobei freilich die Bedeutung des Wortes Wahrheit eine ganz andere ist. Es ist eine Teilaufgabe des vorliegenden Buches, diese nicht in echten systematischen Einklang gebrachten und scheinbar widersprüchlichen Behauptungen von Aristoteles und Thomas hinsichtlich der echten, in ihnen enthaltenen Einsichten zu untersuchen und in einer systematischen Philosophie der Wahrheit zusammenzuführen. Siehe B. Spinoza, De uno, vero et bono, I, 6. Immanuel Kant, Vorlesungen über die Metaphysik (Pölitz) PM 42: PM42 Es ist eine alte scholastische Lehre: quodlibet ens est unum, verum, bonum seu perfectum. 1) Ein jedes Ding ist einig; 2) Ein jedes Ding ist wahr. Dem Dinge Wahrheit beizulegen, ist wider den Redegebrauch;
Vgl. ders., Kritik der reinen Vernunft, B 113: Diese trägt der unter den Scholastikern so berufene Satz vor: quodlibet ens est unum, verum, bonum. Ob nun zwar der Gebrauch dieses Princips in Absicht auf die Folgerungen (die lauter tautologische Sätze gaben) sehr kümmerlich ausfiel, so daß man es auch in neueren Zeiten beinahe nur ehrenhalber in der Metaphysik aufzustellen pflegt, so verdient doch ein Gedanke, der sich so lange Zeit erhalten hat, so leer er auch zu sein scheint, immer eine Untersuchung seines Ursprungs und berechtigt zur Vermuthung, daß er in irgend einer Verstandesregel seinen Grund habe, der nur, wie es oft geschieht, falsch gedolmetscht worden.
Vgl. Immanuel Kant, Vorlesungen über die Metaphysik (Pölitz) PM 42 ff. Vgl. dazu ferner ders., Nova dilucidatio I389 ff., K16-17, sowie ders., Logik, IX, 52-53, sowie J. Pieper, Wahrheit der Dinge, a.a.O., Kap. 1, S. 19, und Anm. 19, S. 118.
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(2) Sodann hält Kant den Satz der Identität für analytisch.64 Als Grundgesetz aber, das die Wahrheit analytischer Urteile erst begründet, kann das Identitätsprinzip nicht selber analytisch bzw. tautologisch sein. Denn analytische Sätze können nur durch ihren Bezug zum Identitätsprinzip, über das sie nicht hinausgehen und in dem sie gründen, als analytisch definiert werden. Gerade aus diesem Grunde, daß das Identitätsprinzip den Bezugspunkt zur Rede von analytischen Urteilen ausmacht, kann es nicht selber analytisch sein, wenn die Definition nicht zirkulär sein soll. Die Analytizität des Identitätsprinzips anzunehmen ist aber nicht nur deshalb ein Irrtum, weil das Identitätsprinzip – als allen tautologischen Urteilen, die nur durch ihren Bezug zu diesem Identitätsprinzip analytische Urteile sind, zugrundeliegendes Prinzip – nicht selber analytisch sein kann. Beim Identitätsprinzip handelt es sich vielmehr auch evidentermaßen um einen sachhaltigen Satz, der keineswegs bloß aus einer (ohnehin unmöglichen) begrifflichen Definition von „Sein“, sondern aus dessen von seinem Begriff ganz verschiedenen Wesen folgt und deshalb nicht analytisch ist. Gerade daraus nämlich folgt die Analytizität und der hohle, tautologische Charakter von analytischen Sätzen, daß man unter dem Anschein von etwas Neuem nur diesen Satz wieder und wieder anwendet: „Greise (d.h. als alt definierte Männer) sind notwendig alt“, „blau ist blau“, usf. Dieser Satz selber jedoch, daß jedes Seiende, gleich welcher Kategorie, mit sich identisch sein muß, also „es selber (und nichts anderes) ist“, ist keineswegs nur seine eigene tautologische Anwendung, sondern formuliert ein grundlegendes Seinsprinzip. Das Identitätsprinzip im ontologischen Sinne trifft im übrigen nicht schlechtweg in jeder Hinsicht auf alle Seinsmodi zu, woraus erneut der nicht-tautologische Charakter des Identitätsprinzips hervortritt: Denn weder der Satz vom Widerspruch noch der von der Identität und schon gar nicht der vom ausgeschlossenen Dritten können in ihrem strikten Sinne auf die rein intentionalen Gegenständlichkeiten und insbesondere 64
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 408: 3) Der Satz der Identität meiner selbst bei allem Mannigfaltigen, dessen ich mir bewußt bin, ist ein eben so wohl in den Begriffen selbst liegender, mithin analytischer Satz;
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die abgeleiteten rein intentionalen, rein gedachten Gegenstände, angewendet werden. Denn diese rein intentionalen Gegenstände, etwa in absurder Dichtung, oder auch schon bei Homer (nach dem Prinzip „nonnumquam dormit Homerus“, ein geflügeltes Wort, das meint, daß in Homers Ilias schon gestorbene Helden gleichzeitig wieder leben bzw. als lebend beschrieben werden) erlauben die Anwendung der ersten ontologischen Prinzipien des Seins nicht. Zunächst schon deshalb nicht, weil rein intentionale Gegenstände nicht durchwegs bestimmt sind und deshalb etwa Shakespeares Hamlet weder Schinken noch nicht Schinken zum Frühstück gegessen hat, weil Shakespeare, von dem das Sein Hamlets bestimmt ist bzw. der Text des Stücks, darüber schweigt.65 Auch kann jemand innerhalb der rein gedachten und begrifflich konstruierten Gegenstände den Begriff eines „viereckigen Kreises“ bilden, der weder mit sich identisch ist noch tatsächlich bestehen kann noch dem Widerspruchsprinzip gehorcht (weil er nicht viereckig ist, wenn er ein Kreis ist) – aber eben deswegen ausschließlich ein armseliges und ‚rein von Gnaden des Gedachtwerdens lebendes‘ ‚rein intentionales Sein‘ besitzt und niemals in die Welt des wirklichen oder des eigentlichen idealen Seins eintreten kann. Zwar ist es wahr, daß als Seiende bzw. als tatsächliche Gegenstände des Bewußtseins betrachtet, auch die rein intentionalen Gegenstände den ersten Seinsprinzipien unterworfen sind, und etwa entweder bestimmte intentionale Gegenstände sind oder nicht sind, entweder diesen Inhalt haben oder nicht. Jedoch können rein intentionale Gegenstände in ihrem Inhalt bzw. in den in ihnen vermeinten und oft widersprüchlichen „Sachverhalten“ und in anderer Weise in den in sich unbestimmten Aspekten oder „Unbestimmtheitsstellen“, die sie aufweisen, jenseits jenes Reiches des Seins liegen, auf das sich die obersten Seinsprinzipien anwenden lassen und so kann etwa der viereckige Kreis zugleich viereckig und nicht viereckig, rund und nicht rund sein, weder ein Frühstück Hamlets mit oder ohne Ei sein, etc. Insofern allerdings rein intentionale Gegenstände wiederum als in sich widersprüchlich erkannt werden, wendet sich das Widerspruchsprinzip doch wieder auf sie 65
Die von Ingarden in seinem Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft (Halle: Max Niemeyer, 1931), 3. Aufl., 1972 eingehend analysierten „Unbestimmtheitsstellen“ in den rein intentionalen Gegenständlichkeiten im literarischen Kunswerk haben bedeutende Auswirkungen auf die Logik.
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an und besagt, daß solche Gegenstände absurd und unmöglich, aus dem Reich des Wirklichen, Möglichen und Sinnvollen ausgeschlossen sind, usf.66 Die Tatsache ferner, daß dieses schlechthin universale Gesetz, daß jedes wirkliche oder authentisch ideale oder mögliche Seiende mit sich identisch ist, je nach der Natur des Seienden nur analog gilt und ganz verschieden angewendet werden muß, zeigt, daß es sich keineswegs um eine hohle Definitionsfrage bzw. um deren logische Implikation handelt. Es gilt nämlich das ontologische Identitätsprinzip für das zeitliche Seiende, das Plotin das „niemals mit sich identische Sein“ nennt, nur im selben Augenblick vollständig, nicht zu verschiedenen Zeiten, während zeitlose Gebilde wie Zahlen immer (zeitlos) mit sich identisch sind. Es kann ferner nur ein reales Seiendes, das eine individuelle und einmalige Identität besitzt, in neuem und wirklicherem Sinn mit sich identisch sein. Und innerhalb des realen Seienden kann nur ein substantielles und personales Subjekt in jenem grundlegend neuen Sinn mit sich identisch genannt werden, den wir „persönliche Identität“ nennen. Angesichts ihrer Zeitlichkeit, der Vergänglichkeit ihres Bewußtseinsstroms und der Wandelbarkeit ihrer Willensentschlüsse ist aber auch eine reale menschliche Person nur unvollkommen mit sich selber identisch. Nur ein ewig gegenwärtiges Seiendes kann volle Identität mit sich selber besitzen und die Ewigkeit Gottes wird von Plotin sogar durch diese vollkommene Identität definiert.67 Auch solche gewaltigen Abstufungen, ja jeweils ganz verschiedene Ordnungen und Dimensionen von Identität beweisen, daß dieses Prinzip keineswegs nur in einer Begriffsdefinition von Sein, sondern aus dessen von unseren Definitionen unabhängigem Wesen hervorgeht bzw. in der Natur der Sachen selber gründet.68 66
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Vgl. Josef Seifert, “El papel de las irrealidades para los principios de contradicción y de razón sufficiente”, Ibáñez-Martín, J.A. (coord.), Realidad e irrealidad. Estudios en homenaje al Profesor Antonio Millán-Puelles (Madrid: RIALP, 2001), S. 119-152. Vgl. Plotin, Über Ewigkeit und Zeit, Enneade III, 7. Übers., eingel. u. komm. von W. Beierwaltes (Frankfurt/M., 1967). Vgl. auch Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 10. Siehe dazu D. von Hildebrand, Was ist Philosophie?, a.a.O., Kap. 4. Siehe auch J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, Teil II, Kap. 2. Siehe auch F. Wenisch,
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(3) Drittens verwechselt Kant den ontologischen Satz der Identität mit dem logischen.69 Der sachhaltige Charakter des ontologischen Identitätsprinzips ergibt sich aber gerade auch aus dessen völliger Verschiedenheit vom logischen Satz der Identität, der zwar im ontologischen gründet, aber von diesem sehr verschieden ist. Während nämlich das ontologische Identitätsprinzip die Selbigkeit, das mit sich selber Identischsein jedes Seienden (zumindest im selben Augenblick) aussagt und deshalb gar nicht von der Wahrheit von Urteilen handelt, besagt das „logische Prinzip der Identität“, daß Urteile einer besonderen Art (affirmative Urteile der Identifikation, in denen Subjekt- und Prädikatbegriff identisch sind [wie „ein Mensch ist ein Mensch“] – oder hinsichtlich ihrer Struktur und begrifflichen Form von Subjekt- und Prädikatsbegriffen entsprechend modifizierte Urteile der Attribution, in denen die im Prädikatsbegriff dem Subjekt zugesprochene Eigenschaft bereits in der Definition des Subjektbegriffs enthalten ist wie „Alle Junggesellen [=alle unverheirateten Männer] sind unverheiratet“) notwendig wahr sind. Um den Unterschied zwischen logischem und ontologischem Identitätssatz zu begründen, muß dessen sachliche Verschiedenheit verstanden werden, worin sich wieder der nicht-analytische (nicht-tautologische) Charakter des Identitätsprinzips erweist. Denn der logische Satz der Identität hat nicht die Form „A ist A“,
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“Insight and Necessity”, a.a.O. Vgl. Immanuel Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze (1764), II294: Alle wahre Urtheile müssen entweder bejahend oder verneinend sein. Weil die Form einer jeden Bejahung darin besteht, daß etwas als ein Merkmal von einem Dinge, d.i. als einerlei mit dem Merkmale eines Dinges, vorgestellt werde, so ist ein jedes bejahende Urtheil wahr, wenn das Prädicat mit dem Subjecte identisch ist. Und da die Form einer jeden Verneinung darin besteht, daß etwas einem Dinge als widerstreitend vorgestellt werde, so ist ein verneinendes Urtheil wahr, wenn das Prädicat dem Subjecte widerspricht. Der Satz also, der das Wesen einer jeden Bejahung ausdrückt und mithin die oberste Formel aller bejahenden Urtheile enthält, heißt: Einem jeden Subjecte kommt ein Prädicat zu, welches ihm identisch ist. Dieses ist der Satz der Identität. Und da der Satz, welcher das Wesen aller Verneinung ausdrückt: keinem Subjecte kommt ein Prädicat zu, welches ihm widerspricht, der Satz des Widerspruchs ist, so ist dieser die erste Formel aller verneinenden Urtheile. Beide zusammen machen die oberste und allgemeine Grundsätze im formalen Verstande von der ganzen menschlichen Vernunft aus. Und hierin haben die meisten geirrt, daß sie dem Satz des Widerspruchs den Rang in Ansehung aller Wahrheiten eingeräumt haben, den er doch nur in Betracht der verneinenden hat. Es ist aber ein jeder Satz unerweislich, der unmittelbar unter einem dieser obersten Grundsätze gedacht wird, aber nicht anders gedacht werden kann.
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wie der ontologische Satz der Identität, der dadurch den Anschein der Analytizät erweckt (obgleich er dennoch nicht tautologisch ist, wie wir gesehen haben); vielmehr spricht der logische Satz der Identität von der Wahrheit aller Sätze einer bestimmten logischen Struktur, weshalb Prädikats- und Subjektsbegriff in ihm ganz verschieden sind, und macht überdies einige Voraussetzungen, welche ihn jedes Verdachts auf seinen tautologischen Charakter entheben.70 (4) Viertens nimmt Kant an, die notwendige Wahrheit des Identitätsprinzips folge einfach aus der vermeintlichen Tatsache, daß alle tautologischen und analytischen Sätze notwendig wahr seien. Nun ist zwar das Identitätsprinzip notwendig von allem realen Seienden und von allen wirklichen Sachverhalten sowie von allen idealen Wesenheiten sowie, in anderem Sinne, von allen möglichen Welten (Möglichkeiten) wahr, nicht aber von allen rein intentionalen Gegenständen und von allen begrifflichen und logischen Gebilden oder von allen unmöglichen Konstrukten. Von all diesen gilt das Identitätsprinzip nicht (oder nur, sofern auch diese Dinge als widerspruchsfreie ‚Seiende‘ genommen werden und ein ‚etwas‘ sind, nämlich etwa ein widerspruchsvoller Begriff oder rein intentionaler Gegenstand, nicht aber von dem in ihnen gemeinten absurden Gegenstand). Die Schlußfolgerung, daß das Identitätsprinzip und seine notwendige Wahrheit nicht daraus folgen können, daß dieses ein analytischer Satz sei, dürfen wir auch daraus ziehen, daß die notwendige Wahrheit des Identitätsprinzips nicht aus einer Definition und der rein logischen Struktur des Satzes der Identität erkannt werden kann, da analytisch-tautologische Sätze auch unter Umständen aus falschen oder widerspruchsvollen Definitionen gebildet werden und deshalb notwendig falsch sein können. Weil also nicht 70
Vgl. das beste Buch einer wirklich philosophischen Logik überhaupt (und eines der wenigen derartigen Werke der jüngeren Zeit, in der eine mathematisierende symbolische Logik, die – samt ihren Anwendungen – wenig mit Philosophie zu tun hat, die philosophische Logik weitgehend verdrängt hat): Alexander Pfänder, Logik, 4. Auflage, herausgegeben und eingeleitet v. Mariano Crespo. Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein. Universitätsverlag C. Winter Heidelberg Hrsg. v. Rocco Buttiglione und Josef Seifert, Philosophie und Realistische Phänomenologie, Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/, Bd. 10, (Heidelberg: Universitätsverlag Carl Winter, 2000).
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alle analytischen Sätze wahr sind, kann die notwendige Wahrheit des Identitätssatzes nicht daraus abgeleitet werden, daß es angeblich ein analytischer Satz ist. Ein viereckiger Kreis etwa ist nicht viereckig, weil, wenn er ein Kreis wäre, er gar nicht viereckig sein könnte und umgekehrt ist er auch nicht rund, wenn er doch viereckig sein soll. Um daher die Wahrheit des Identitätsprinzips einzusehen, ist ein Blick jenseits eines reinen logischen Formalismus in das rein ontologische und sachhaltige Identitätsgesetz und seinen Anwendungsbereich (nicht widersprüchlicher Gegenstände und Seiender aller Art) vonnöten. Kehren wir aber wieder zur bereits angesprochenen vielfältigen Kritik am Begriff einer „Seinswahrheit“ zurück, die neben der Kantischen auch viele andere Formen annimmt, in denen dem Begriff der ontologischen Wahrheit ein nutzloser, rein tautologischer, unbrauchbarer, oder bloß repetitiver Charakter zugesprochen wird. Man muß in scharfem Gegensatz zu einer derartigen Zurückweisung der Idee der ontologischen Wahrheit betonen, daß der Begriff der ontologischen Wahrheit nicht nur in der ihrem Range nach klassisch zu nennenden mittelalterlichen Philosophie ein wichtiger Wahrheitsbegriff, sondern auch ein uns durchaus geläufiger und überhaupt ein kaum verzichtbarer, vor allem aber ein von der Wahrheit selber geforderter Begriff ist. Um dies zu erkennen, können wir von einer gleichermaßen phänomenologischen und sprachanalytischen Beobachtung ausgehen.71 Auch heutzutage sagen wir oft: „Ist dieser Mensch, über den Ihr eine erhitzte Debatte führt, ein wahrer Mensch oder nur eine Romanfigur?“ oder: „Ist das eine wahre oder nur eine erfundene Begebenheit?“, oder, wie dies in dem Film Princess Bride eine zentrale Rolle spielt, „Ist das eine wahre Liebe? True Love?“. Und indem wir hier den Ausdruck „wahr“ verwenden, meinen wir natürlich nicht die Wahrheit eines Urteils, sondern wir meinen die Begebenheit, die Sache, die Liebe selbst, haben also einen Sinn von „Seinswahrheit“ im Auge. Dieser erste Begriff von ontologischer Wahrheit leidet vielleicht unter 71
Vgl. zu diesem Verständnis der Sprachanalyse für die Phänomenologie Balduin Schwarz, “The role of linguistic analysis in error analysis”, in: Proceedings of the American Catholic Philosophical Association 34 (1960), S. 127-132.
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dem Gebrechen, das Thomas von Aquin anführt, daß er nämlich noch nicht die ratio des Wahren bezeichnet, daß er nicht eigentlich das Besondere, das die Wahrheit vom Sein unterscheidet, geistig ins Auge faßt. Dennoch ist auch dieser Begriff von Wahrheit unverzichtbar. Indem wir nämlich von der Wahrheit des Seins sprechen, indem wir etwas, was ist, wahr nennen, werden wir nicht Opfer nichtssagender oder tautologischer Reden, wie Hobbes oder Kant meinen, noch ist er so unvernünftig wie eine bloße Wiederholung oder ein bloßes anderes Wort für „Sein“. Der nichttautologische Sinn dieser Wahrheitsdefinition leuchtet deutlicher ein, wenn wir uns fragen, was eigentlich mit diesem „Wahren“, das mit dem Seienden identifiziert wird, gemeint sein kann, und wenn wir in Beantwortung dieser Frage neben der allgemeinsten transzendentalen weitere spezielle Bedeutungen von Seinswahrheit erkennen bzw. unterscheiden. 1.2. Seinswahrheit als ontologische Autonomie aller wirklich und ideal Seienden und aller (auch fiktiver) Sachen und Sachverhalte, die in irgendeinem Sinne dem Bewußtsein gegenüber autonom sind und sogar Nichtseiendes (Negationen, negative Sachverhalte) einschließen – eine erste allgemeinste und transzendentale Grundbedeutung von „ontologischer Wahrheit“ sowie ihre immense Abstufung und die verschiedenen Begriffe ontologischer Wahrheit unter diesem Gesichtspunkt Verum mihi videtur id quod est. Wahr scheint mir das zu sein, was ist. Augustinus, Soliloquia, II, 5.
Eine Unterscheidung Thomas von Aquins in De ente et essentia, der zufolge man zwei Bedeutungen von Sein unterscheiden müsse: erstens das Seiende, das in die zehn Kategorien zerfalle, das reale Seiende, und zweitens alles, was wahren Urteilen, die sich offenkundig auch auf Privationen und „wirklich Nichtseiendes“ beziehen können, entspricht, führt uns auf diesen ersten Sinn von dem Seienden immanenter (innerer) ontologischer Wahrheit.72 Dieser Sinn von „ontologischer Wahrheit“ meint 72
Vgl. Thomas von Aquin, De ente et essentia, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), Bd. 3, S. 583-587, cap. 1 (erste Seite).
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etwas, das zwar auch eine Konsequenz der Wirklichkeit, der „actualitas rei“, sein kann, oft aber Folge eines vom Wirklichkeitscharakter verschiedenen Seinsmodus, wie des idealen Seins von Zahlen, des logischen Seins von Begriffen, der möglichen Welten oder sogar der rein intentionalen Gegenständlichkeiten, insofern sie eindeutig bestimmt sind, ist: nämlich eine elementare innere Autonomie und Unabhängigkeit gegenüber dem menschlichen Geist, die wir in ihrer schwächsten Form sogar in rein intentionalen Gegenständen wie den im Roman Don Quijote festgelegten Unterhaltungen zwischen Don Quijote und Sancho Pansa und des ersteren Kampf mit den Windmühlen finden, da diese von Cervantes einmal festgelegten rein intentionalen Gegenstände unserem Urteil gegenüber autonom sind, weshalb wir in der Literaturwissenschaft Wahres ebenso wie Falsches über die im Roman entworfene Welt sagen können). Diese Autonomie alles Seienden gegenüber menschlicher Subjektivität und in bestimmtem und jeweils zu differenzierendem Sinne ein Eigensein und eine daraus erwachsende Seinsautonomie gegenüber jedem willkürlichen Denken und Urteilen kann in der Tat als Seinswahrheit bezeichnet werden. Durch diese Wahrheit des Seins unterscheiden sich alle tatsächlich bestehenden Sachverhalte und alles Seiende, gleich welchen Seinsmodus und gleich welcher Kategorie, vom Gegenstand irriger Urteile. Dabei handelt es sich bei jener Autonomie des Seins, die wir hier meinen und die auch eine ontologische Bedingung jeder wahren Aussage ist, noch um ein sehr allgemeines Phänomen, um eine oft nur sehr schwache, doch zugleich allumfassende Autonomie des Seins, der dann viele weitere und stärkere Formen der Autonomie des Seins und Unabhängigkeit vom Subjekt als spezifische Formen und Ausprägungen dieser Autonomie gegenübergestellt werden können, und zwar in solcher Weise, daß im Lichte der höheren Arten der Autonomie des Seins die niedrigeren als Heteronomie erscheinen müssen. Wenn wir etwa das „Ding an sich“ als das in sich selber Seiende von Erscheinungen und diese von einem bloßen Schein oder auch von rein vorgestellten oder geträumten Gegenständen und Sachverhalten abgrenzen, wird klar, daß im Verhältnis zur ontologischen Autonomie des Dings an sich Erscheinungen und erst recht rein Vgl. auch Thomas von Aquin, De ente et essentia, dt. Übersetzung Horst Seidl (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1988).
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intentionale Gegenstände keine Autonomie besitzen.73 Dennoch, so ungeheuer abgestuft die Seinsautonomie auch ist, ja so viele radikal verschiedene Arten der Seinsautonomie es auch gibt, so besitzt das Seiende doch in allen seinen Modi eine gewisse allgemeinste ontische Autonomie, die man als Wahrheit ihres Seins bezeichnen kann. Eine erste Stufe dieser ontischen Autonomie finden wir schon in rein intentionalen Gegenständen, insofern diese tatsächlich, wenn auch nur „von Gnaden“ unseres Bewußtseins, existieren. Auch rein geträumte Gebilde können Gegenstand wahrer wie falscher Urteile sein. Habe ich etwa einen schrecklichen Traum über den Tod meines Sohnes gehabt und erzähle diesem, ich hätte etwas Schönes oder auf sein langes glückliches Leben Bezogenes über ihn geträumt, lüge ich und verletze die Wahrheit, weil ich jenem schwachen Sein und jener „Wahrheit des wirklich Geträumten“ widerspreche. Erscheinungen wie die Farben und Töne in der realen Welt, obwohl auch sie vom menschlichen Subjekt als solchem abhängig sind, besitzen dennoch eine größere Autonomie als bloß geträumte Gegenstände. Reale oder abstrakte Möglichkeiten, mögliche Welten im Gegensatz zu Unmöglichkeiten, ideale Wesenheiten von Gerechtigkeit oder Liebe, vor allem aber real existierende Dinge oder Menschen, besitzen eine jeweils andere und stärkere Seinsautonomie bis hin zu einer totalen Unabhängigkeit von sämtlichen intentionalen bewußten Akten von Menschen, die sich auf sie beziehen. Man kann, angesichts der vielen Arten und Stufen ontischer Autonomie, die jeweils höhere Stufe derselben als ‚wahres Sein‘ bezeichnen und diese dann der niedrigeren als nicht oder weniger wahrem Sein gegenüberstellen. So etwa besitzt der Gegenstand eines Traums, eine elementare ontische Autonomie gegenüber unserem willkürlichen Urteilen, die man als sein wahres Sein dem Objekt von Lügen über eigene oder fremde Träume, wie wir sie in infamer Form in Jagos Lügen über Cassios Träume in Shakespeares Othello und Verdis gleichnamiger Oper finden,74 entgegensetzen kann. Auch wenn das wirklich Geträumte unbestreitbar eine gewisse ontische Autonomie besitzt, welche wir etwa dem infam erlogenen Traum 73
74
Vgl. die ausführliche Erörterung der Erkennbarkeit und der verschiedenen Bedeutungen von „Ding an sich“ in Josef Seifert, Back to Things in Themselves; ders., Erkenntnis objektiver Wahrheit2; ders., Sein und Wesen. See William Shakespeare, Othello, Act 3, Scene 3.
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entgegensetzen, so können wir andererseits dem bloß Geträumten andere Seinsmodi gegenüberstellen, im Vergleich zu denen die Traumwelten selber kein wahres Sein besitzen. So etwa sage ich meiner Tochter, wenn sie sich über den Inhalt meines Traums über sie entsetzt: „Ich habe doch das alles, daß Du auf ein Baby schlecht aufgepaßt hast, so daß dieses hernach über einen Abgrund gestürzt ist, nur geträumt. Das war doch keine wahre Wirklichkeit.“ Die Wahrheit des von Träumen unabhängigen Seins wird hier also dem Gegenstand von Träumen gegenübergestellt, die diese höhere Autonomie der Wirklichkeit nicht besitzen. Auf diese Weise besitzen selbst Fiktionen und Gegenstände von Phantasien, und rein intentionale Gegenstände zwar eine erste Stufe ontischer Autonomie, die es erlaubt, ihr wahres Sein vom Gegenstand von Lügen, schlechtem Gedächtnis oder Irrtümern zu unterscheiden, aber im Vergleich zu höheren Arten ontischen Eigenseins besitzen sie kein wahres Sein. Gegenstände von Illusionen und Irrtümern, wenn man sie nicht als wirkliche intentionale Gegenstände solcher Akte erkennt, was sie objektiv sind, sondern wenn man sie so ins Auge faßt, wie der Irrende und einem Schein Erliegende sie vermeint, besitzen hingegen keinerlei ontische Autonomie, nicht einmal deren unterste Stufe.75 Die Autonomie als Wahrheit des Seins besteht also in zahlreichen Modi und Abstufungen: vom allerrealsten Sein, dem wahrsten Sein in diesem Sinne (dem Âlhjðæstaton/alethestaton), bis hinunter zu jener schwachen Seinsautonomie der Art, welche selbst eine einmal konstituierte rein intentionale Gegenständlichkeit oder eine Möglichkeit besitzt. Es gibt eine gewisse „Wahrheit“ des Inhalts des Shakespeare-Stücks Hamlet, der sich vom Inhalt des Othello unterscheidet. Diese Autonomie und dieses „an sich Bestehen“ im weitesten (und angesichts seiner Abhängigkeit vom Künstler gleichsam relativen) Sinne dieses Ausdrucks ist der Grund, aus dem wir auch wahre und falsche Aussagen über das bestehende 75
Thomas von Aquin spricht davon etwa in Compendium theologiae, lb. 1, cap. 207, zwar in einem rein thelogischen Zusammenhang, doch ist dieser von hohem philosophischen Interesse, da das Beispiel einen philosophisch erkennbaren und relevanten Sinn hat: Dicere ergo christum veram carnem non habuisse, nec huiusmodi in veritate, sed solum in phantasia eum fuisse perpessum, est christo imponere falsitatem.
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Theaterstück machen können. Aus diesem weit ausgedehnten Reich von Seienden verschiedenster Modi, die alle ihre je eigene, bescheidene oder starke Seinsautonomie besitzen, ist nur der Gegenstand einer reinen Illusion oder eines Irrtums ausgegrenzt. Er besitzt als solcher keinerlei ontische Autonomie. Als einmal konstituierter intentionaler Gegenstand des Irrtums (also als wirklich intentionaler Gegenstand eines Aktes des Irrens) besitzt allerdings auch dieser eine gewisse Seinsautonomie, die es uns erlaubt, einen bestimmten Irrtum, nicht einen anderen, und dessen rein intentionalen Gegenstand, dem Werk eines Philosophen und diesem selbst, keinem anderen, zuzuschreiben. Aber qua Gegenstand des Irrtums, qua Objekt irrigen Meinens als solchem, besitzt der in keinem Sinne wirklich bestehende und rein subjektiv vermeinte Sachverhalt keine ontische Autonomie und damit keine Seinswahrheit – selbst nicht im weitesten Sinne, der hier unser Thema ist. Unter den weitesten und transzendentalen Sinn der Seinswahrheit fallen alle Seienden und Sachverhalte, die in irgendeinem Sinne jene Autonomie gegenüber dem Subjekt besitzen, die nötig ist, um direkt (als Sachverhalte) oder indirekt (als Gegenstände, die in Sachverhalte eingehen) Gegenstand wahrer oder falscher Urteile sein zu können. Ontologische Wahrheit in ihrem umfassendsten, rein ontologischen Sinne, meint aber nicht das Grundlage-der-Wahrheit-von-Aussagen-Sein selber, sondern jene Seinsautonomie, welche die Bedingung und das Fundament dafür bildet. In diesem Sinne darf nicht nur alles, was in irgendeinem Sinne wirkliche Existenz besitzt, sondern dürfen sogar Negationen und negative Sachverhalte als seiend bezeichnet werden. Also scheinbar auch das, was tatsächlich kein esse besitzt, oder, wie die Phänomenologen sagen würden, das Bestehen des negativen Sachverhalts, „daß X wirklich nicht ist“, kann nicht nur gemäß der Einsichten einer Phänomenologie der negativen Sachverhalte,76 sondern auch nach Thomas als seiend in jenem weiten Sinne bezeichnet werden, in dem das Sein Grundlage der Wahrheit ist. Man dürfte vielleicht Thomas im Anschluß an die Ontologie der Urteilskorrelate von Conrad-Martius deuten und sagen, daß auch das „reine Sach76
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, in: Sämtliche Werke. Texktritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917), S. 95-140.
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verhaltssein“ ein esse darstelle; dieses ist jedoch gewiß vom esse realer Substanzen und ihrer Eigenschaften scharf zu unterscheiden.77 Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die bemerkenswerte Aussage von Thomas, der sagt, daß der Bereich der Wahrheit sogar weiter reiche als der des Seins, weil auch über das Nichtseiende Wahrheit bestehen könne. In gewisser Hinsicht ist dies wieder ein nicht so leicht mit der zentralen Stellung der ratio der Wahrheit als Übereinstimmung mit dem Sein und auch mit den Aussagen über die ontologische Wahrheit als „Ungetrenntheit von Wesen und Dasein“ versöhnbarer Satz, der meines Erachtens jedoch gar keinen wirklichen Widerspruch zu diesen anderen Aussagen bedeutet, sondern vielmehr ein interessantes neues Element hinzufügt. Damit aber gelangen wir schon zu einer weiteren Dimension der ontologischen Wahrheit, die einem Dinge in sich selber zukommt, seinem Wirklichsein, wobei wir eine Fülle bereits angesprochener anderer Stufen und Arten ontischer Autonomie überspringen bzw. hier nicht näher untersuchen. 1.3. Ontologische Wahrheit als Wirklichsein: als actualitas rei und als „Ungetrenntheit des Daseins vom Seienden“ oder von „Sein und Wesen“ – Fünf Seinsmodi als allen Kategorien vorausliegende Verschiedenheiten der Seinsform und weiterer grundlegender Sinn der „rein ontologischen Wahrheit“ des Wirklichseins, sowie Grade dieser ontologischen Wahrheit je nach dem Rang des Realseins esse enim est actualitas omnis rei, …. Das Sein nämlich ist die Wirklichkeit (Aktualität) jedes Dinges… Ipsa actualitas rei est quoddam lumen ipsius. Die Wirklichkeit eines Dinges selbst ist gewissermaßen ein Licht desselben. Thomas von Aquin, Comm. in Liber de Causis, I, 6.
Man kann die augustinische Definition der Seinswahrheit aber auch in einem eingeschränkteren Sinne verstehen, der sich nicht auf alle Seiende und Sachverhalte überhaupt bezieht, sondern nur auf das im prägnanten Wortsinne Wirkliche und dann dieses Wirkliche wahr nennen. Dabei hat 77
Siehe H. Conrad-Martius, Das Sein, a.a.O.
76
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man dasselbe gerade in seiner Verschiedenheit von vier weiteren Seinsmodi im Auge. Seinsmodi nenne ich jene Grundformen des Seins, deren Verschiedenheiten von einander allgemeinerer Natur sind als die kategorialen Verschiedenheiten wie jene zwischen Substanz und Akzidenz, da diese zwar primär innerhalb des realen Seienden bestehen, aber auch innerhalb der anderen Seinsmodi ihre Stelle haben: 1. Die Urform des Seins ist zweifellos das reale Sein, dem allein eigentliche Wirklichkeit zukommt, das, was Thomas von Aquin den actus essendi im präzisen Sinne nennt und das Aristoteles in der Substanz, dem in sich selber stehenden Seienden, der Urform des realen Seienden, kulminieren sieht, da alle anderen Seinskategorien (Seinsformen) wie Quantität, Qualität, etc. als reale Seiende erst in diesem Urseienden der Substanz fundiert sein und ihren letzten Halt finden können. Es ist jedoch einsichtig, daß nicht die Substanz als solche, sondern erst die Person, und in einem ganz neuen Sinne die absolute Person, das Sein im eigentlichen Sinne darstellt.78 2. Von realen Seienden unterscheiden sich die idealen Gegenstände, Wesenheiten, Ideen, Formen, etc., deren Zeitlosigkeit Platon bewog, sie für das eigentlich Seiende zu halten, denen aber, als Ideen oder eide von etwas deren eigentliche Verwirklichungsform fehlt. Der wirkliche Mensch ist eben der real existierende, lebendige Mensch und nicht die Idee des Menschen, auch wenn das ideale Sein durch seine Zeitlosigkeit und Intelligibilität über die realen Seienden hinausragt. 3. Verschieden von dem realen und dem idealen Seienden, wenngleich in mancher Hinsicht ein Teil des Idealen, sind die möglichen Welten, alle jene Seienden, die real sein könnten, aber nicht real sind. Sie sind, im Vergleich zum realen Seienden, ein Nichts und unterscheiden sich von den ewig zeitlosen und idealen Wesenheiten dadurch, daß jene als ideale nicht real existieren können, sondern ihre eigene ideale Seinsform haben, während die möglichen Welten real sein und werden können. 4. Die rein intentionalen Gegenstände, wie jene von Träumen und Halluzinationen, leben nur von Gnaden bewußter intentionaler Akte, sind rein intentionale Gegenstände und hängen in ihrem Sein von Akten oder als abgeleitete rein intentionale Gegenstände von Bedeutungsgebilden 78
Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 8-15.
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literarischer und anderer Kunstwerke ab; ihr Sein ist in gewissem Sinne ihr Wahrgenommenwerden, ihr Gedacht- oder Vorgestelltsein, eine armselige Seinsform ganz im Gegensatz zu den realen Akten des sich Vorstellens und Denkens, etc., die voll real sind. 5. Schließlich gibt es noch das ens und esse logicum, d.h. das Sein rein logischer Gebilde der Begriffe sowie der Bedeutungseinheiten höherer Ordnung und ganzheitlicher Art wie das Urteil, die Frage etc., die aus Begriffen gebildet sind, welche, selbst wenn man mit dem Husserl der Logischen Untersuchungen die reine Idealität der Bedeutungen annimmt, doch von anderen idealen Wesenheiten ganz verschieden und dem Geist zugeordnet sind und innerhalb von denen es auch konfuse, verworrene, und von Grund auf verkehrte Begriffe gibt, denen ideale Seinsform zuzuschreiben unangemessen erscheint und die wohl tatsächlich von Menschen gemacht und in ihren Hirnen ausgekocht zu sein scheinen.79 Wenn man nun das wirklich Seiende, welches das Sein in seiner eigentlichsten Form und Aktualität bezeichnet, als das wahre Sein bezeichnet, versteht man die Definition des hl. Augustinus80: „Das Wahre ist das, was ist“; und Avicennas81: „Die Wahrheit eines jeden Dinges ist die Eigentümlichkeit seines Seins (proprietas sui esse) und dessen, was ist“ im Sinne der Wirklichkeit gerade im Unterschied zu allen anderen Seinsmodi und insbesondere zum Sein aller rein intentionalen Gegenständlichkeiten wie der Objekte eines Dramas oder eines Traums, aller Möglichkeiten, aller rein negativen Sachverhalte, etc., die im ersten grundlegenden intrinsischen Sinn von ontologischer Wahrheit inbegriffen sind. In dieser Weise deutet wohl Thomas von Aquin die erwähnte augustinische Definition, wenn er bemerkt, andere Autoren hätten gesagt, alles, was esse besitze, sei deshalb auch wahr. Also verleihe das Sein (oder das 79
80 81
Der Sinn, in dem man auch hier von einer gewissen Idealität der Bedeutungseinheiten sprechen kann, ist Gegenstand meiner schriftlichen Debatte mit Mark Roberts. Vgl. Mark Roberts, “Timeless Truths and Timeless Falsities”, Aletheia, (1994), 6: 266-279, und Josef Seifert, “Are There Timeless Falsities? On the Difference between Truth and Falsity with Respect to the Ideal Existence of Meaning-Units. A Reply to Mark Roberts”, Aletheia VI (Theory of Knowledge and Ethics) (1993-1994), S. 280-320. Augustinus, Soliloquia, Kap. V. Siehe Avicenna, Metaphysik XI, 2.
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Dasein, die Existenz) einer Sache Wahrheit in diesem Sinn, wobei man auf jene einzigartige und archetypische Seinsform abzielt, die wir Wirklichkeit nennen und die wir dem materiellen Kosmos, Pflanzen, Tieren, Menschen, Engeln oder, in einem gänzlich neuen und vollkommenen Sinne, Gott zuschreiben.82 Und wie sie ein Ding zu einem aktuell wirklichen macht, so verleiht sie ihm Vollkommenheit und wahrhaftes Sein: Unde patet quod hoc quod dico esse est actualitas omnium actuum, et propter hoc est perfectio omnium perfectionum.83 Daraus geht hervor, daß das, was ich das Sein (esse) nenne, die Aktualität aller Akte ist und deshalb ist es die Vollkommenheit der Vollkommenheiten. quia esse est actualitas omnis formae vel naturae, non enim bonitas vel humanitas significatur in actu, nisi prout significamus eam esse.84 Denn das Sein ist die Aktualität jeder Form oder Natur, denn auch Güte und Menschheit werden nicht in ihrer Aktualität bezeichnet, wenn wir nicht aussagen, daß sie sind.
Ontologische Wahrheit, wie sie alles Wirkliche kennzeichnet, könnte man mit Thomas auch anders beschreiben und sagen: „Das Wahre ist die Ungeteiltheit des Seins und dessen was ist“ (indivisio esse et eius quod est).85 In diesem Sinne wird das Zusammensein von Wesen und Dasein oder von Dasein (esse) und Seiendem (id quod est) als Wahrheit bezeichnet. Man könnte etwas deshalb ontologisch gesehen „wahr“ nennen, weil 82
83 84 85
Ich kann hier keine eingehende Untersuchung des Wirklichseins geben. Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 2. Thomas von Aquin, Quaestiones Disputatae Q. 7, a. 2, RA 9. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, Q. 3, a. 4, co. Vgl. Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, co: Quaedam [definitio veritatis] autem datur de veritate secundum quod habet fundamentum in re, sicut illa Augustini: verum est id quod est; et alia magistralis: verum est indivisio esse et ejus quod est;
Vgl. auch den Text in Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, q. 1, a. 1, co.
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es wirklich ist in irgendeinem Sinn und weil in ihm das Dasein dem, was es ist, nicht fehlt, und es eben deshalb das wahre Ding ist. Während also rein mögliche Welten und die in ihnen gründenden Sachverhalte im ersten Sinne von ontologischer Wahrheit wahr sind und auch Gegenstand wahrer oder falscher Urteile sein können, unterscheiden sie sich von dieser zweiten Bedeutung von ontologischer Wahrheit, ja bilden einen bestimmten Gegensatz zu ihr. Dabei sieht Thomas das Fundament der Wahrheit weniger im Sein als reiner Wesenheit (quidditas), von der er sagt, daß sich auf diese die „Definition“ beziehe, die nicht im eigentlichen Sinne wahr oder falsch sei, sondern auf das reale Seiende, das esse besitzt.86 Thomas scheint dies allerdings nur von der intrinsischen Seinswahrheit und der ontologischen Wahrheit als Fundament wahrer Urteile, nicht aber von der Seinswahrheit als Intelligibilität zu sagen, von der wir noch sprechen werden und die er primär auf das Wesen bezieht.87 Auch spricht er etwa von der „veritas humanae naturae“ und meint damit öfters nur, was tatsächlich zur Natur (zum Wesen) des Menschen gehört, bzw. auch das, was deren Wirklichkeit ausmacht.88 An anderer Stelle spricht er auch in ähnlichem Sinne von der „veritas rei“.89 Häufig hingegen sagt Thomas, Definitionen, die gerade dem reinen Wesen der Dinge entsprechen, könnten nicht im strengen Sinne wahr sein.90 Es scheinen für diese Meinung Thomas von Aquins drei Gründe ausschlaggebend zu sein: (1) weil die Definition nur die Bedeutung eines Begriffs entfalte und kein eigentliches Urteil darstelle, (2) weil Thomas dem Wesen keine so volle Autonomie gegenüber dem Geist zuerkennt wie 86 87 88
89
90
Vgl. Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, co. Vgl. Thomas von Aquin In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, RA 2. Vgl. etwa Thomas von Aquin, Quodlibeta 8, q. 3, Prologus, wo wiederholt in diesem Sinne von der Wahrheit der menschlichen Natur die Rede ist. Vgl. auch Thomas von Aquin, Compendium theologiae, lb. 1, cap. 209, wo er die fundamentale Bedeutung dieses Sinnes von ontologischer Wahrheit für den Glauben hervorhebt. Vgl. etwa Thomas von Aquin, Super decretalem, Nr. 1, wo er allerdings mit diesem Ausdruck die Wahrheit der Wirklichkeit des Leibes Christi im Gegensatz zu einer rein symbolischen zeichenhaften und deshalb unwirklichen (unwahren) Präsenz des Leibes Christi meint (Super decretalem, Nr. 1). Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, Q. I, a. 3, co.
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dem existierenden Seienden, und (3) weil nur das existierende Seiende im vollen Sinne real und deshalb Wahrheit begründend sei. (Ad 1): Der erste Grund ist aber nur für Wortdefinitionen (Definitionen von Wortbedeutungen), und auch hier nur teilweise, nicht aber für Sachdefinitionen zutreffend, da diese ein Wesen kennzeichnen wollen und dieses, insbesondere das notwendige Wesen eines Dinges, ebensosehr Gegenstand wahrer und falscher Urteile sein kann wie ein existierendes Ding. Die Definition, insofern sie nicht nur eine begriffliche Bedeutung entfaltet, sondern das Wesen einer Sache aussprechen will und in diesem Sinne eine Realdefinition oder Sach- bzw. Wesensdefinition ist, stellt ein Urteil über dieses Wesen dar, das wahr sein kann, wobei allerdings die Definition als solche, sofern sie nur aussagt, welche Sache gemeint wird, auch eine Wortdefinition oder besser Begriffsdefinition genannt, und die Definition als Urteil über das Wesen einer Sache, also jene Sachdefinition, von der wir sagen können, sie sei wahr, noch unterschieden werden müssen, sodaß Thomas recht behält, wenn er sich nur auf jene Definition, die aussagt, welche Sache gemeint ist, und nicht auf jene, die das Wesen der Sache selber meint, bezieht. (Ad 2): Der zweite Grund trifft höchstens auf jene Fälle zu, in denen eine reine quidditas auch einer Chimäre zukommen kann, die weder in der realen Welt noch in der Welt ewiger idealer eide (eÍdh) ein objektives Fundament besitzt. In diesem Sinne können wir Thomas zustimmen, nicht aber wenn von den Wesen einer realen Spezies oder eines realen Genus die Rede ist, und erst recht nicht, wenn wir von einer absolut notwendigen Wesenheit urteilen, die ein aller Subjektivität gegenüber absolut autonomes Maß der Wahrheit darstellt. (Ad 3): Nur der dritte Grund für die These Thomas von Aquins, daß nämlich das wirklich Seiende allein volle Aktualität des Seins besitzt, macht es allerdings richtig zu behaupten, daß das esse rei als der Grund seiner eigentlichsten Wirklichkeit auch die tiefste Quelle seiner ontologischen Wahrheit darstelle.91 Was aber ist das Wirkliche, dem wir in einzigartigem Sinne ontologische Wahrheit zuschreiben? Zu sagen, worin das Urphänomen des Wirklichseins besteht ist schwer, 91
Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, zit., Kap. 2.
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so überzeugend auch die Aussage Thomas von Aquins, die Wahrheit des Seins sei die Ungetrenntheit des Daseins vom Wesen, auf das Urphänomen des Wirklichen gegenüber dem bloß Möglichen und Fiktiven hinweist; dieses aber durch etwas anderes zu definieren, ist ausgeschlossen, eben weil es sich hier um ein nicht zurückführbares Phänomen, um eine Urgegebenheit handelt; es ließe sich ja auch auf Möglichkeiten oder ideale Wesenheiten der Satz anwenden, daß ihr Dasein von ihrem Wesen ungetrennt sei. Um deshalb zu verstehen, daß unwirkliche oder fiktive Gegenstände bewußter Akte, die ja auch in bestimmtem Sinne existieren, nicht wirklich und in diesem Sinne nicht wahr sind, muß man schon wirkliches Sein gegenüber rein intentionaler Existenz der Gegenstände intentionaler Akte und die Unterschiede zwischen realem und idealem oder möglichem Sein erfaßt haben, die die fundamentale und unzurückführbare Gegebenheit des Wirklichseins mehr voraussetzen als erklären. Edmund Husserl und nach ihm Martin Heidegger haben versucht, das Wirklichsein durch den Bezug zur Zeit hinreichend zu bestimmen. Alles Sein in der Zeit sei wirklich und alles Wirkliche zeitlich. Doch läßt sich die erste These keinesfalls halten, wenn man bedenkt, daß auch rein intentionale Gegenstände, z.B. die fiktiven Gegenstände des literarischen Kunstwerks, die Ingarden abgeleitete rein intentionale Gegenstände nennt, zeitlich sind, ohne deshalb real zu sein. Auch im Roman oder in der fiktiven Welt eines Theaterstücks und seiner Aufführung gibt es frühere und spätere Handlungen, sodaß auch die fiktive und unwirkliche Welt in einer – wirklichen oder unwirklichen – Zeitfolge steht. So folgen halluzinierte Gegenstände eines Schizophrenen und auch die intentionalen Gegenstände intentionaler Akte des Lesens eines Romans einander in der realen Zeit, während die Zeitenfolge eines Ablaufes in einem Roman selber zur rein intentionalen Gegenständlichkeit der fiktiven Welt gehört. In Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita z.B. ist Margarita erst die Geliebte des Meisters, dann erst trifft sie den als ordinärer Mann auftretenden Dämon Asasello, reibt sich später mit seiner Schönheits-Creme ein, wird danach zur Hexe und reitet auf dem Besen durch die Lüfte, trifft schließlich Satan und tanzt noch später auf Satans Ball, usf. Also kann man die Zeitlichkeit sowohl in wirklichen als auch in unwirklichen Gegenständen finden und ist nicht nur das Wirkliche zeitlich. Betrachten wir die Umkehrung dieser These, alles Zeitliche sei auch
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wirklich, also die universale Behauptung, die das Wirkliche zum Subjekt und Zeitlichkeit zum Prädikat eines Allgemeinurteils macht, d.h. die These vertritt, alles Wirkliche sei auch zeitlich. Abgesehen davon daß diese These a priori die atheistische oder wenigstens die prozesstheologische Voraussetzung macht, daß es keinen ewigen wirklichen Gott gibt, widerspricht sie der unschwer zu vollziehenden Einsicht, daß gerade in der Zeitlichkeit menschlichen Lebens ein ungeheurer Mangel an Realität liegt. Denn – wie Augustinus bemerkt – ist das Sein-in-der-Zeit nur, indem es sich auf das Nichts, auf das Nichtsein des Vergangenseins zubewegt, das ein nicht-mehr-Sein darstellt, und auch die Zukunft ist ein Noch-nicht. So enthält das zeitliche Seiende in Zukunft und Vergangenheit ein relatives Nichtsein und selbst die Aktualität zeitlichen Gegenwärtigseins ist durch die Flüchtigkeit der Zeit eher ein Übergang zum Nichtsein als etwas im eigentlichsten Sinne Reales. Wie könnte uns aber die relative Unwirklichkeit des zeitlichen Seienden einleuchten, wenn wir nicht zwischen dem Wesen des Wirklichen und dem Wesen des Seins in der Zeit unterschieden?92 Nicht viel besser ergeht es uns mit dem Versuch, das Wirkliche als das zu bestimmen, was Widerstand leistet gegenüber unserem Wollen, Handeln, Begehren oder auch gegenüber unseren Sinnen, vor allem dem Tastsinn. Wenn auch Kant und Scheler dieses Kriterium mit Recht als ein wichtiges Kennzeichnen der Unabhängigkeit der Wirklichkeit von unserem Geist auffassen, so sind doch ideale Wesensgesetze, wie die Mathematik sie erforscht, ebenfalls unabhängig von unseren Wünschen, aber deshalb noch nicht real, da sie jener Urform des Aktuellseins oder Aktualseins entbehren, die wirkliche Leiden, Personen, Tiere, Berge usf. kennzeichnet. Auch der Gegenstand einer hartnäckigen Halluzination eines Wahnsinnigen oder Schizophrenen, wie er eindrucksvoll in dem Film A Beautiful Mind über den genialen schizophrenen Nobelpreisträger John Nash dargestellt wird, leistet dessen Willen Widerstand und geht nicht weg, ist aber desungeachtet irreal. Gleichfalls sind die abgeleiteten rein intentionalen Gegenstände, etwa literarische Charaktere wie Homers Odysseus, von unserer Willkür unab92
Zu diesem Unterschied vgl. Plotins Enneade III, 7 Über Ewigkeit und Zeit; vgl. auch J. Seifert, Essere e persona, Kap. 10.
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hängig, aber deshalb nicht realer als jene Gegenstände willkürlicher Vorstellung, an die Kant und Scheler denken, wenn sie das Unwirkliche als das bezeichnen, was unserer Willkür untersteht und keinen Widerstand leistet, wenn wir es anders haben wollen und das wir im fiat der Imagination nach Vergnügen ändern können, wie dies der Fall ist, wenn wir unseren Kindern ein spontan und frei erfundenes Märchen erzählen, das es vor unserer Erzählung nicht „gab,“ im Gegensatz etwa zum Fall, in dem wir Ihnen erzählen, was in Homers Odyssee von Odysseus und Penelope und deren Handlungen berichtet wird und die nicht von unseren intentionalen Akten oder unserer Willkür abhängen, sodaß wir bei einer Literaturprüfung durchfallen werden, wenn wir die Unabhängigkeit der Gestalten und Taten der homerischen Epen von unserer Willkür nicht einsehen und beachten. Wenn das wirklich Seiende das wahre Seiende ist, dann ist der Begriff „wahr“ fast gleichbedeutend mit „wirklich“. Was wir mit der Frage „Ist es wahr?“ meinen, ist dann: „Ist es in der wirklichen Wirklichkeit so?“ So sehr man die Aussage, das Wirkliche sei wahr, mit Hobbes für eine müßige und leere Aussage erklären mag, so ist es doch keine solche. Vielmehr ist die Wahrheit des Seins des Wirklichen Gegenstand einer Einsicht, die alles eher als eine leere Wiederholung oder gar eine Tautologie ist. Daß das wirklich Seiende (im Gegensatz zu rein intentionalen Gegenständen, zu rein idealem Seiendem, zu möglichen Welten oder zu rein begrifflichsprachlichem Seiendem) im eigentlichsten und wahrsten Sinn seiend und deshalb das wahrste Sein ist, ist eine Grundeinsicht, die Aristoteles im Gegensatz zu Platon gewinnt und die phänomenologisch aufgeklärt werden kann und muß.93 Alles Wirkliche ist in diesem Sinn wahr. Man kann aber in dem genannten Wortsinn von „ontologischer Wahrheit“ ein Seiendes nicht ausschließlich auf Grund der bloßen 93
Vgl. Roman Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt. Bd. I, Existentialontologie (Tübingen: Niemeyer, 1964), Bd. II, 1, Formalontologie, 1. Teil (Tübingen, 1965); ders., On the Motives which led Husserl to Transcendental Idealism; ders., „Die vier Begriffe der Transzendenz und das Problem des Idealismus in Husserl.“ Vgl. auch Josef Seifert, Sein und Wesen, zit., Kap. 2; ders., Ritornare a Platone. Im Anhang eine unveröffentlichte Schrift Adolf Reinachs, hrsg., Vorwort und übers. Von Giuseppe Girgenti. Collana Temi metafisici e problemi del pensiero antico. Studi e testi, vol. 81, (Milano: Vita e Pensiero, 2000).
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formalen Tatsache seiner Existenz, oder sogar seiner realen Existenz, die ein Sandkörnchen oder auch seine Gestalt ebensogut wie eine Person besitzt, wahr nennen, so als gäbe es innerhalb des Realseins keine weiteren Abstufungen und sei alles im selben, univoken Sinne real, sondern erst in jenem Maße, in dem es wirklich ist und real existiert, und sich als solches sowohl von rein intentionalen Gegenständen als auch von möglichen Welten, als auch von idealen Gegenständen unterscheidet, obwohl auch diese einen je verschiedenen Grad der Aktualität besitzen. Und sogar innerhalb des real existierenden Seienden gibt es unendliche Abstufung der Realität zwischen einer Seifenblase und dem absoluten Sein, sodaß sich auch die Wahrheit des Realeins als unendlich differenziert und abgestuft erweist. Je nach der Sphäre des Seins, von der die Rede ist, unterliegt auch dieser zweite Begriff der „ontologischen Wahrheit“ vielen Abwandlungen und je nach dem verwendeten Wirklichkeitsbegriff hat auch dieser Sinn von ontologischer Wahrheit viele Bedeutungen, die den Graden und Stufen des Wirklichseins oder des wahrhaften Seienden,94 das noch innerhalb des Grundcharakters des Realen weiter differenziert werden muß, entsprechen. Das lebendige Sein und vor allem das Personsein sind in einem Sinne „wahres Sein“, in dem bloße Dinge „nicht wahrhaft“, ja ein Nichts sind, und das ewige Sein ist in einem Sinne wahr, in dem das zeitliche, historische nicht wahr ist, sosehr daß im Verhältnis zum höchsten Realen alles andere Wirkliche eine Art Nichts ist.95 94
95
Also des ÓntwV Òn (ontoos on) oder des kýrioV ªn (kyrioos on). Vgl. Platon, Sophistes 240 b; ders., Politeia 583a., 585d. Aristoteles, Metaphysik, in: Aristoteles. Die Lehrschriften, hrsg., übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 21961); vgl. dazu Giovanni Reale, The Concept of “First Philosophy” and the Unity of the Metaphysics of Aristotle (New York, 1980). Diese Einsicht fehlt übrigens Platon keineswegs, auch wenn man seine Ideen als rein ideales Sein deutet, was nicht unbedingt korrekt ist. Vgl. zu einer alternativen Interpretation Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections”, zit. In Timaios 39 e ist von dem „wahrhaft Seienden Lebendigen“ die Rede; vgl. auch die oben bereits zitierte Stelle Sophistes, 248 c – 249 a. Man kann an dieser Stelle auch viele Stellen in der Metaphysik von Aristoteles anführen, in denen dieser das eigentlich seiende als Geist, als nóhsiV no®sewV (noesis noeseos/ Erkenntnis der Erkenntnis) und ewig-lebende Substanz beschreibt. Vgl.
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Das wahrste Sein könnte also von diesem Begriff von ontologischer Wahrheit aus gesehen dasjenige Seiende genannt werden, das den höchsten der gradus entis einnimmt und im vollsten Sinn die Urgegebenheit realer Existenz besitzt. Wenn wir Grade des Seins annehmen (wie dies übrigens auch Thomas von Aquin in einer vielleicht noch mehr vom Neuplatonismus als von Aristoteles beeinflußten Richtung seines Philosophierens tut),96 können wir sagen, daß z.B. die Substanz wahrer ist als die bloßen Akzidenzien oder daß eine Person mehr an Realität besitzt als ein Stein, daß daher die Person ein „wahreres Seiendes“ ist als ein Ding. Oder man könnte sagen, daß das absolute und schlechthin reale Sein „das wahrste Sein“ ist.97 Hier würde man den eigentlichen Grund für die ontische Wahrheit des Seins in der Wirklichkeit, und zwar im nicht total abstrahierendtranzendental-genommenen „Realsein“, sondern im jeweiligen Grade seines Realseins, sowie im Grad der Ungetrenntheit von Sein und Wesen erkennen. In diesem Licht ist auch etwa das notwendig daseiende Sein unvergleichlich wahrhafter seiend als das nicht-notwendige, kontingente; es ist das wahrste, ja in gewissem Sinne das einzig wahrhafte Sein.98 So wird in dieser Fassung der „ontologischen Wahrheit“ der jeweilige Grad des Realseins eines Dinges als Grundlage für die jeweilige Stufe von dessen Wahrsein genommen. Dementsprechend könnte man sagen: „In dem Maß, in dem etwas Aktualität oder Realität des Seins besitzt, in
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gleichfalls Josef Seifert, Essere e persona, a.a.O., Kap. 9, sowie ders., What is Life? On the Originality, Irreducibility and Value of Life. Value Inquiry Book Series (VIBS), ed. by Robert Ginsberg, vol 51/Central European Value Studies (CEVS), ed. by H.G. Callaway (Amsterdam: Rodopi, 1997). Damit ist keineswegs geleugnet, daß auch Aristoteles die Idee der Grade des Wirklichseins kennt und diese eine zentrale Rolle in seiner Metaphysik spielen. Siehe Seifert, Essere e persona, a.a.O., Kap. 8. Auch diesen Gedanken finden wir bei Hilarius und bei Thomas von Aquin, In Libros Sententiarum, In I Sententiarum, d. 8, q. 3, a. 3, ex: Esse enim creaturae non est aliquid per se subsistens, immo est actus subsistentis; sed in deo suum esse est ipse deus subsistens: et ideo dicit, quod est subsistens veritas.
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Vgl. Anselm von Canterbury (Aosta., Proslogion und Ad Proslogion, in: Anselm of Canterbury (Aosta., S. Anselmi Opera omnia, Franciscus Salesius Schmitt (Hg.), 2 Bde. (Stuttgart-Bad-Cannstatt: Friedrich Frommann/Günter Holzboog, 1968), Bd. I, S. 89-139, Kap. 3, S. 103, 6-9.
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ebendemselben Maße ist es auch wahr.“99 Und deshalb ist das absolute Sein die Wahrheit selbst, wie Thomas von Aquin formuliert.100 1.4. Ontologische Wahrheit als Ursache und Fundament der Urteilswahrheit (dritte spezifische Grundbedeutung ontologischer Wahrheit): Das Seiende und die Sachverhalte sind wahr, weil sie das ontologische Fundament und Korrelat der Urteilswahrheit sind
Man kann das Seiende in jedem erdenklichen Sinn, und dann keineswegs nur das Wirkliche, sondern jedweden Sachverhalt, der das Richtmaß wahrer Aussagen bildet, also auch wirklich bestehende Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, jedoch auch aus einem ganz anderen Grund wahr nennen: nämlich weil das Seiende der (Urteils-)Wahrheit ordnungsgemäß vorausgeht als das, worin das Wahre begründet ist. In De veritate sagt Thomas von Aquin: Wenn die Wahrheit in der Übereinstimmung besteht, so kann sie im Prinzip in drei Weisen gefaßt werden, deren erste sie nach dem benennt, was der Wahrheit ordnungsgemäß vorausgeht und worin das Wahre begründet ist.101
Nur weil das Seiende selber ist, was es ist, und damit auch eine bestimmte Unabhängigkeit von menschlicher Subjektivität und von 99
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101
Dieser Satz, zu dem uns eine phänomenologische Untersuchung der Sachverhalte führt, steht fast buchstäblich bei Aristoteles und – unabhängig von ihm – bei Augustinus. Siehe Aristoteles, Metaphysik A’ 2.993 b 30 ff: „So wie sich jedes Ding zum Sein verhält, so verhält es sich zur Wahrheit“ (In dem Maße, in dem ein jedes Ding seiend ist, in dem Maße ist es auch wahr.) Siehe Augustinus, De vera religione, xxxvi: „Das Wahre ist in dem Maße wahr, in dem es ist.“ Vgl. Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, co. Vgl. auch Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1, a. 1, RA 5. Thomas von Aquin, De veritate, Quaestio I, Artikel 1. Das ist für unseren Zusammenhang der Kernsatz von Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1, a. 1, co.
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menschlichem Urteilen besitzt, und auch weil es den „ersten Seinsprinzipien“ untersteht, kann es alle anderen Formen der Wahrheit geben, denen die Seinswahrheit logisch vorhergeht. Insofern wird das Seiende wahr genannt, wie Thomas von Aquin hervorhebt, weil es Fundament und Ursache aller anderen Formen von Wahrheit des Erkennens und des Urteils ist.102 Und diese These Thomas von Aquins ist vollkommen evident in ihrer Wahrheit. Denn es könnte durchaus keine Wahrheit des Urteils geben ohne die zugrundeliegende Wahrheit des Seins, und auch ohne jene Wahrheit, die ihm wegen seiner Geistoffenheit und Intelligibilität zukommt und auf die wir noch ausführlich zurückkommen werden. Obwohl aber die ratio entis der ratio veri vorhergeht, reicht im Hinblick auf die Tatsache, daß das reine Sachverhaltssein, welches das Fundament aller Urteilswahrheit bildet, auch alle möglichen und fiktiven und nicht seienden Dinge und Sachverhalte mit umfaßt bzw. hinsichtlich ihrer besteht, die veritas weiter als das aktuelle Sein, weil sie sich auch auf alle nichtseienden und alle möglichen Dinge beziehen kann. Also ist die Wahrheit in gewisser Hinsicht unermeßlicher als das Sein, weil sie auch über das Nichtseiende besteht: „Etwas kann dem Wahren zugehören, ohne im Bereich des Seienden zu sein“, wie Thomas formuliert. Hier könnte man wieder das, was in De ente et essentia über privatio und negatio gesagt wird, mit einbeziehen. Formal kann das Seiende so weit gefaßt werden, daß es das Wahre und das Nichtseiende mitumfaßt, sofern auch das objektiv Nichtseiende in dem Sinne wahrhaft ist, daß es vom richtig erkennenden Geist als solches erfaßt wird.103 Auch in De veritate zitiert Thomas Aristoteles in diesem Sinne und beruft sich dabei auch auf 102
103
Vgl. Thomas von Aquin, In Libros Sententiarum, In I Sententiarum, d. 2, q. 1, a. 3, ra. 5. Dieser weitere ontologische Seinsbegriff als die Totalität dessen, was wegen seiner Autonomie Gegenstand wahrer Aussagen werden kann, entspricht wohl auch dem Versuch des mexikanischen Philosophen Agustin Basave, in der „habencia“, d.h. in allem, was es in irgendeinem Sinne ‚gibt‘, was in irgendeinem Sinne ‚der Fall ist‘, einen weiteren Begriff als den des Seins als Fundament der Metaphysik zu finden. Vgl. Agustin Basave, Tratado de Metafísica. Teoría de la Habencia. (Mexico D.F.: Ed. Limusa, 1982), sowie Josef Seifert, “Agustin Basave, an Important Philosopher of our Times” in Homenje al Dr. Agustin Fernandez Basave del Valle (Monterrey: Universidad Regiomontana, 1984).
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Avicenna: Darum sagt der Philosoph: Die Negation oder Privation des Seienden werde in einem Sinne seiend genannt.... Darum sagt auch Avicenna am Anfang seiner Metaphysik, es könne nur vom Seienden eine Aussage (enuntiatio) gemacht werden, weil das, worüber ein Satz (propositio) gebildet werde, notwendig unter der Erkenntnis befaßt sein müsse. Daraus wird deutlich, daß alles Wahre in gewissem Sinne ein Seiendes sein muß.104
Man darf in diesen Stellen bei Thomas von Aquin, und deren eigenständiger Entwicklung in der ersten Phase der Wahrheitsphilosophie Franz Brentanos (1889) einen Ansatzpunkt für die spätere phänomenologische Philosophie der Sachverhalte finden. Man kann nicht umhin zu sagen, daß auch Thomas an diesen Stellen so etwas wie negative Sachverhalte annimmt, nämlich, daß es „irgend etwas ist, daß etwas nicht ist und nicht besteht“. Auch dieser negative Sachverhalt „ist etwas“ – allerdings in einem radikal vom Wirklichsein verschiedenen Sinne. Denn was nicht ist, und auch ein negativer Sachverhalt, ein wirklich bestehender Sachverhalt über Möglichkeiten (über mögliche Sachverhalte oder Seiende), oder ein möglicher Sachverhalt, ist nicht ein reales Seiendes, und darum hat Thomas diesen Sinn von Sein gerade vom (realen) Seienden, wie es in die Kategorien zerfällt, unterschieden. Dennoch „gibt es etwas“, dem die wahren Urteile über das Nichtsein entsprechen. Und insofern eben auch wahre Urteile über Mögliches und Nichtseiendes existieren, muß man als Korrelat und Bedingung dieser wahren Urteile irgend etwas Seiendes, obwohl dieses nicht eine res oder ein existierendes Ding ist, annehmen. Es scheint mir, daß Thomas an diesem Punkte in außerordentlich feinem Sachkontakt – und mithilfe der von Irmingard Habbel und anderen genauer untersuchten Begriffe wie der ‘dispositio rei’105 – sehr nahe an die 104
105
Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. I, a. 1, RA 7. Vgl. Avicenna, Metaphysik, I, 6. Vgl. Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei Thomas von Aquin (Regensburg, 1960). Vgl. auch Kevin Mulligan (Ed.), Speech Act and Sachverhalt (Dordrecht: Martinus Nijhoff, 1989), sowie Barry
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phänomenologische Unterscheidung zwischen dem Sein von Dingen, bzw. existierenden Dingen, und dem Bestehen von Sachverhalten kommt und daß er, wie zuvor schon Aristoteles, den er in diesem Kontext zitiert, gleichfalls unter dem Begriff des „Seins der Negationen“ auch negative Sachverhalte annimmt: Auch die Wahrheit des Satzes, „daß etwas wirklich nicht ist“, ist ontologisch im Sein (im weitesten Sinne des Wortes) begründet. Und insofern liegt auch in der privatio „ein Sein in irgendeinem Sinn“ und besteht auch hier ein negativer Sachverhalt. Deshalb kann übrigens auch hier das Urteil aufgrund einer adaequatio wahr genannt werden, wenngleich nicht im Sinne einer adaequatio an eine res106 im Sinne einer wirklichen Sache, eines eigentlich Seienden. Aber es gibt auch hier etwas, dem der Geist entspricht, und zwar, wie ich es deuten würde, negative Sachverhalte: „Daß etwas nicht ist“, ist auch irgend etwas und wahre Urteile können mit diesem Etwas, mit diesen tatsächlich bestehenden negativen Sachverhalten, übereinstimmen. Auch diese Bedeutung von ontologischer Wahrheit als Autonomie des Seins und Smith, “Logic and the Sachverhalt”, in: The Monist 72 (1972), S. 53-69. Vgl. auch Thomas von Aquin, De veritate, Q. 1, a. 1. Es ist vielleicht weit hergeholt, in diesen und ähnlichen Texten über den Begriff der “dispositio rei” den Sachverhaltsbegriff der Phänomenologen, das „a-Seineines-B“, vorgebildet sehen zu wollen. Thomas scheint mit diesem Ausdruck jeden Zustand und jede dauernde Seinsbedingung zu meinen, so etwa in Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 2, a. 12, RA4. Dennoch hat Habbel zweifellos recht, wenn sie in manchen Texten, die denselben Ausdruck (der dispositio rei) verwenden, eine Art Vorwegnahme des Sachverhaltsbegriffs erblickt. Thomas von Aquin, Quaestiones Disputatae de Virtutibus, Q. 2, a.9, RA 1. Vielleicht das stärkste Argument für Habbels These ist der Text (Thomas von Aquin, In Libros Metaphysicorum, Buch IX, lectio 11, Nr. 3): Unde manifestum est, quod dispositio rei est causa veritatis in opinione et oratione. 106
Vgl. die klassische Wahrheitsdefinition bei Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, co. Zu einem weiteren Spektrum von Einsichten und Unterscheidungen, welche die volle Entdeckung der Sachverhalte vorbereiten, vgl. Barry Smith, “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69; ders., “On the Cognition of States of Affairs”, in: K. Mulligan (Ed.), Speech Act and Sachverhalt, S. 189-225.
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des Seienden im Verhältnis zum urteilenden Bewußtsein, die ein radikaler Relativismus leugnet, aber immer noch voraussetzt, kann noch in einem doppelten Sinne gemeint sein: In einem ersten Sinne kommt sie ausschließlich den Dingen zu, die mehr als nur rein intentionale Gegenstände des Bewußtseins sind, die also mehr sind als Gegenstände von Träumen, als primäre oder auch als abgeleitete rein intentionale Gegenstände, wie Roman Ingarden sie unterscheidet.107 Zweitens kann man aber auch Gegenständen von Träumen oder literarischen Gestalten, insofern sie einmal konkretisiert und aktualisiert sind, ein gewisses Sein an sich im weiteren Sinne und jene Autonomie, die für den Unterschied zwischen wahren und falschen Aussagen vorausgesetzt ist, zuschreiben. Auch über Traumgebilde und literarische Kunstwerke und die in ihnen dargestellten abgeleiteten rein intentionalen Gegenständlichkeiten wie König Lear von Shakespeare können wir ja wahre und falsche Aussagen machen. Es geht nicht an, mit Pieper zu behaupten, daß dieser ontologische Wahrheitsbegriff als Autonomie des Seins bei Thomas nur ein ganz abgeleiteter, sekundärer sei. Denn an bedeutsamer Stelle sagt Thomas, das Seiende sei in primärerem Sinne wahr als die Übereinstimmung des Geistes mit ihm. In diesem Kontext ist es interessant zu bemerken, daß, während Thomas gesagt hatte, daß die eigentliche ratio des Wahren in der Übereinstimmung des Urteils mit dem Seienden liegt, also primär – und das wiederholt er auch später – in dem Urteil und sekundär in der Definition und erst in dritter Linie in den Dingen bestehe,108 sagt er andererseits umgekehrt in De veritate, daß im primären Sinn das Seiende wahr sei. Er bemerkt nämlich, so wie die Ursache des Seins im höchsten Grad seiend ist, so sei auch das, was die Ursache der Wahrheit von anderem ist, in höchstem Grade wahr. Und deshalb macht Thomas auch die Aussage, daß das im höchsten Grad Seiende das im höchsten Grad Wahre sei. Also behauptet er, daß, insofern das Seiende die Ursache von Wahrheit ist, es auch im höchsten Sinne wahr ist. Es steht diese Äußerung mit der 107 108
Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 3. Aufl., 1972. Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, Q. 1, art. 4, co.
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vorhergehenden über die ratio veritatis, in welcher die Übereinstimmung zwischen Geist und Sein und daher nicht das Seiende als wahr begriffen wird,109 in einem gewissen Spannungsverhältnis. Es besteht jedoch kein Widerspruch zwischen beiden Aussagen, weil dort die Urteilswahrheit, hier die ontologische Wahrheit oder das Sein selbst, wenn auch vielleicht das Sein in seiner Offenheit auf Geist hin, als die grundlegendere Form der Wahrheit begriffen wird als die Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung. Die beiden Aussagen Thomas von Aquins erweisen sich auch durch eine andere tief personalistische Einsicht des Aquinaten in ihrer inneren Verbindung: Es folge nicht nur auf der einen Seite der Idee nach das Wahre dem Seienden, sondern das Sein finde auf der anderen Seite erst im Erkanntwerden durch den Geist seine Vollendung, ja es sei dazu „geboren“, erkannt zu werden.110 Und daran schließt organisch der Gedanke an, der primäre Sinn von Wahrheit liege in der Seinswahrheit. Wenn wir den Satz Thomas’, ratio veri sequitur rationem entis, erwägen, dann behauptet Thomas meines Erachtens mit Recht, daß (zumindest in gewisser Hinsicht, die nicht in Widerspruch, aber in gewisser Spannung zu der Aussage steht, daß die ratio veritatis primär in der Übereinstimmung eines Geistes mit der Wirklichkeit liege), insofern das Seiende der Urgrund der Wahrheit und ihrer Möglichkeit ist, das Seiende in noch fundamentalerem, höherem Sinne wahr ist, eben weil die ratio veri der ratio entis folge (sequitur). Da nämlich das, was Ursache des Seins von anderem ist, im höchsten Grade seiend ist, so ist auch das, was Ursache der Wahrheit von anderem 109
110
Dem enspricht auch die berühmte Wahrheitsdefinition Anselms, in: Anselm, De veritate, xi, S. Anselmi Opera omnia, (Hrsg.) Franciscus Salesius Schmitt, 2 Vol. (Stuttgart-Bad-Cannstatt: Friedrich Frommann/Günter Holzboog, 1968), Volume 1 S. 190-191. Anselm betrachtet diese Definition offenbar als korrekte Definition aller möglichen Formen der Wahrheit inklusive der Gerechtigkeit in : Anselm: Volume 1 p. 191-192. Thomas von Aquin faßt, wie Anselm selber, diese Definition nicht nur als Definition der Urteilswahrheit, sondern auch der ontologischen Wahrheit und überhaupt als universalste Definition der Wahrheit auffaßt, die deren sämtliche Bedeutungen decke: Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, co. Vgl. Thomas von Aquin, De natura generis, cap. 3.
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ist, im höchsten Grade wahr; der Philosoph schließt, daß der ordnungsmäßige Platz (ordo) einer Sache im Sein und in der Wahrheit derselbe ist; in dem Sinne natürlich, daß dort, wo sich das im höchsten Grade Seiende findet, auch das im höchsten Grade Wahre zu finden ist. Und das ist nicht darum so, weil das Seiende und das Wahre ihrer Idee nach dasselbe sind (ratione idem), sondern, weil etwas entsprechend dem, was es vom Seinsbestand in sich hat (ex hoc quod aliquid habet de entitate), dazu geschaffen ist, mit dem erkennenden Geist übereinzustimmen; und so folgt der Idee nach das Wahre dem Seienden (ratio veri sequitur rationem entis). Auch sagt Thomas: Wo etwas von einem Gegenstand früher als von einem andern ausgesagt wird, da muß nicht notwendig der Gegenstand, dem das gemeinsame Prädikat früher zugesprochen wird, Ursache des andern sein, sondern jenes ist die Ursache, in dem sich zuerst die Idee (ratio) jenes Gemeinsamen vollständig vorfindet. So wird das Gesunde zum Beispiel zunächst von dem Lebewesen ausgesagt, in dem sich zuerst die Idee der Gesundheit in Vollkommenheit findet, obwohl die Medizin als die Gesundheit bewirkend gesund genannt wird. Und so muß auch das Wahre, wenn es von mehreren Dingen früher und später ausgesagt wird, von dem früher ausgesagt werden, in dem sich die Idee der Wahrheit in Vollkommenheit findet. Den Abschluß einer jeden Bewegung nun bildet ihr Ziel.111
In diesem Text deutet Thomas die Vereinbarkeit seiner verschiedenen Aussagen über Wahrheit wieder ganz im Hinblick auf die Urteilswahrheit. Die Dinge werden wahr genannt in Hinsicht auf das, worin sich die ratio veri vollständig oder vollkommen findet, nämlich im Urteil oder im Geist. Ja, Thomas fügt noch einen dritten Gedanken zur Begründung seiner Aussage, daß das Sein selber im vornehmlichen Sinne wahr sei, hinzu: die urtümliche Anlage des Seins auf Erkenntnis und auf Wahrheit. Denn er sagt, daß zwar das Seiende und das Wahre nicht ihrer ratio oder ihrer Idee nach dasselbe sind, aber insofern etwas Seinsbestand in sich habe (ex hoc quod aliquid habet de entitate), sei es dazu geschaffen oder dazu geeignet, ja dazu bestimmt (natum), mit dem erkennenden Geist übereinzustimmen. Noch eine weitere vierte Einsicht in die ontologische Wahrheit des 111
De veritate, Q. I, a. 2, c.
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Seins ist hier verborgen: Geistsein und Erkennen stelle die höchste Form des Seins und dessen eigentlichsten Grund dar, eine vom Deutschen Idealismus verabsolutierte und umgedeutete Wahrheit, die auch ein Element jeder echt personalistischen Metaphysik ist. Gehen wir zu den Sachen selbst zurück, um die anscheinenden Widersprüche in den verschiedenen thomasischen Aussagen als keine echten Widersprüche zu erkennen. Wir haben schon gesehen: Thomas sagt einmal, daß das Seiende als Ursache der Wahrheit im höheren Sinne wahr ist, dann sagt er aber auch wieder, daß die ratio veri primär im Urteil liege. Diese beiden Aussagen können evidenterweise nicht beide in derselben Hinsicht gelten. Man muß daher im Blick auf die Sache Wahrheit selber diese beiden Aussagen in ihrem inneren Spannungsverhältnis und ihrer Ergänzung im Blick behalten, um zu erkennen, daß beide wahr sind und einander nicht widersprechen: Der Charakter des Seins als „truthmaker“112 erlaubt es uns tatsächlich, es im primären Sinn des Fundaments von Wahrheit wahr zu nennen,113 während zugleich die vom Realsein verschiedene ratio des Wahren in der Urteilswahrheit betont werden kann. Ja das Sein ist von Natur aus dazu bestimmt, Gegenstand von Erkenntnissen und auch von wahren Urteilen zu werden und in dieser Unverborgenheit und Wahrheit der das Seiende umfassenden geistigen Erkenntnis und des darauf folgenden Urteils erst den eigentlichsten Sinn auch seiner ontologischen Wahrheit zu entfalten. In diesem Gedanken sind alle drei erwähnten Aussagen von Thomas in von den Sachen selbst her verständlicher Weise verbunden.
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Siehe dazu Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers”. Smith und Mulligan meinen mit dem Begriff des “truth makers” nicht eine irgendwie geartete Produktion der Wahrheit, sondern vielmehr jene Abhängigkeit, kraft deren wahre Urteile und Sätze ein ontologisches Fundament voraussetzen, das sie wahr macht bzw. für ihre Wahrheit verantwortlich ist, so etwas wie Sachverhalte oder einen Weltzustand. Auch in seinem Aristoteles-Kommentar, In libros de gener. Et corrupt., lib. 1, lectio 8, 7, hebt Thomas mit Aristoteles dies hervor, daß ohne Wahrheit des Seins alle andere Wahrheit ohne Fundament wäre.
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1.5. Ontologische Wahrheit als „Eigentlichkeit“ und als „Wesensentsprechung“ und Harmonie zwischen „einem Ding und seinem Logos“ – Ontologische Wahrheit im vierten spezifischen Sinn als Erfüllung der objektiven Wesensintention eines Dinges und vor allem des wahren Selbst
„Ontologische Wahrheit“ kann auch als Entsprechung zwischen „Ding und seinem immanenten Wesen“ verstanden werden. Wahrheit in diesem Sinne ist zunächst einfach Wesensgemäßheit und Eigentlichkeit – noch in einem wertneutralen Sinne. (Wir werden im Lichte des folgenden Abschnittes sehen, daß diese Bedeutung ontologischer Wahrheit sich erst im Reich des Wertvollen in ihrer eigentlichen Bedeutung entfaltet.) Ontologische Wahrheit könnte man in dieser Betrachtung zunächst als die Entsprechung einer Sache ihrem eigentlichen Wesen oder als „Wesensgemäßheit“ eines Dinges bezeichnen. Dieser Sinn von ontologischer Wahrheit lag wohl auch Napoleons Bemerkung nach seiner Begegnung mit Goethe zugrunde: “Voilà un homme!” Eine Vorstufe dieser Wahrheit als Wesensgemäßheit, die noch wertneutral ist, ist die Eigentlichkeit der Verwirklichung eines Wesens, wie sie ebensowohl im Guten wie im Schlechten vorkommt.114 Es ist das Phänomen, das Martin Heidegger als „Eigentlichkeit“ bezeichnet und sowohl der Liebe als auch dem Hasse zuspricht. So sprechen wir von einem eigentlichen Haß, von einer wahrhaftigen Gemeinheit oder einer „wahren Gemeinheit“ und unterscheiden diese von einer nicht voll intendierten, uneigentlichen oder rein konventionellen. Auch Platon spricht in diesem Sinne von ontologischer Wahrheit, etwa vom „wahrhaften Sophisten“.115 Ontologische Wahrheit heißt hier eine Entsprechung einer Sache ihrem eigentlichen Wesen oder die „Wesensgemäßheit“ eines Dinges. Wahr bedeutet hier eine bestimmte Erfüllung der Idee oder des Wesens einer Sache. In diesem Sinne definiert auch Albertus Magnus die Wahrheit 114
115
So nennt Heidegger Liebe und Haß zwei gleichursprüngliche Formen der Eigentlichkeit. Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche (Bd. I und II). Feullingen, Günther Neske 1961. Ganz zu Ende des Sophistes 268 sagt er etwa: wer von diesem Geschlecht und Blute den wahrhaften Sophisten abstammen läßt, der wird, wie es scheint, das richtigste sagen. THEAITETOS: Auf alle Weise gewiß.
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als Relation der Dinge zu ihrer ratio formalis.116 So ließe sich wahre von falscher Liebe und in einem analogen Sinn auch echtes von falschem Gold und sogar bei negativen Phänomenen ein „wahrer“ oder „wahrhafter Haß“ von einem uneigentlichen unterscheiden. Auch Avicennas Definition der Wahrheit als jene „Eigentümlichkeit eines Seins, die für es festgesetzt wurde“, kann in diesem Sinne der Wesensgemäßheit gedeutet werden.117 Von Wahrheit in diesem Sinne, ebensowenig wie von ontologischer Wahrheit im Sinne der höheren Stufen der Intelligibilität, denen das Absurde und Sinnwidrige, oder den höheren Stufen des Wertvollseins, denen das Böse entgegensteht, kann keineswegs mit Pieper und Thomas gesagt werden, sie habe keinen Gegensatz der Falschheit und es gelte, „Jedes Seiende ist wahr und kein Ding ist falsch“.118 Auch bedeutet hier „ontologische Falschheit“ nicht jenes Phänomen, das Thomas zuläßt, nämlich bloß eine Relation zu unserem „für Falschhalten“, sondern vielmehr einen objektiven Gegensatz zum Logos und Wesen einer Sache, also eine Eigenschaft, die ihr ganz unabhängig von unserem Urteil zukommt. Diese ontologische Wahrheit als Wesensgemäßheit entfaltet sich in einer ganz neuen Dimension nur in der Sphäre des Wertvollen. Die ontologische Wahrheit als Wesensgemäßheit erfüllt sich nämlich nicht in dem neutralen Sinne der Wesensentsprechung oder Heideggerschen Eigentlichkeit, sondern erst im Axiologischen, wie wir im nächsten Abschnitt noch besser sehen werden. So sprechen wir von einem wahren Kunstwerk, einer wahren Freundschaft oder wahren Liebe. Man könnte ontologische Wahrheit in diesem Sinne als Verwirklichung dessen fassen, 116
Siehe Albertus Magnus, Summa de bono I, 4, 1. Siehe auch Kühle, „Die Lehre Alberts des Großen von den Tranzendentalien“, S. 139. Vgl. auch J. Pieper, op. cit., Kap. iv. 117 Vgl. Avicenna, Metafisica. La scienza delle cose divine, S. 808; Met., VIII, 6: “Veritas enim cuiusque rei est proprietas sui esse quod stabilitum est ei”. 118
“Omnis res est vera et nulla res est falsa”. Siehe auch J. Piepers u.E. falsche Meinung, die er in Wahrheit der Dinge, ebd., Kap. ii, 1, mit diesem Gedanken Thomas von Aquins verbindet: Unser Urteil kann wahr oder falsch sein; die Dinge hingegen sind immer und ausschließlich wahr, niemals falsch.
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was in der werthaften Wesensintention eines Dinges liegt. So könnte man sagen, ein Freund sei in dem Maße ein wahrer Freund, in dem er das, was Freundschaft überhaupt ist, in dem er das Wesen der Freundschaft in seinem Leben verwirklicht. Ein nicht wahrer Freund wäre einer, der zwar ein Freund ist, aber das, was wirklich Freundschaft ist, nur sehr unvollständig und sehr unvollkommen verkörpert. Ein falscher Freund wäre demnach einer, der in ausdrücklichem Widerspruch zu dem steht, was in der inneren Natur von Freundschaft liegt. Hier sehen wir, wie die ontologische Wahrheit als Wesensgemäßheit nicht nur in dem neutralen Sinne der Heideggerschen Eigentlichkeit verstanden werden darf. Erst dann leuchtet der enge Bezug zwischen der ontologischen Wahrheit im Sinne des Guten und im Sinne der Wesensgemäßheit und Entsprechung ein. Wir werden auch sehen, daß dieser Sinn ontologischer Wahrheit als „Wesensgemäßheit“ nicht ausschließlich einen intrinsischen Sinn von Seinswahrheit ausmacht, sondern auch eine der Bedeutungen von ontologischer Wahrheit als Entsprechung zwischen einem Seienden und einem ihm selber transzendenten Maß einschließt. Obwohl auch die axiologische Dimension zu den intrinsischen ontologischen Dimensionen der Wahrheit zu rechnen und deren erwähnte fünfte Form ist, halte ich es für gerechtfertigt, sie nicht unter dem gegenwärtigen Punkt f) als Erfüllung der Wesensintention eines Dinges und nicht einmal nur als Punkt g) dieses Abschnittes über intrinsische ontologische Wahrheit, sondern als eine eigene Art und Bedeutung ontologischer Wahrheit zu behandeln. 2. Ein weiterer intrinsischer Sinn von „Ontologischer Wahrheit“: Das Gute als das Wahre – Ontologische Wahrheit als innere axiologische Eigenschaft und Rechtfertigung des Seins In einem neuen Sinn von ontologischer Wahrheit, der der dritten andernorts unterschiedenen Seinsdimension entspricht,119 wird das Wahrsein im ontologischen Sinn nicht einfach dem Verstehbaren und erst recht nicht dem Realen als solchem zugesprochen, sondern nur dem Eigent119
Siehe J. Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von Sein“, cit.
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lichen, Wesensgemäßen und Idealen, und an tiefster Stelle nur dem Guten – dem, was Werte trägt.120 Wert verstehen wir dabei in erster Linie als die in sich selber ruhende positive Bedeutsamkeit eines Seienden, als die objektive Kostbarkeit von etwas, die dieses nicht nur für jemanden, für den es angenehm oder sogar objektiv gut ist, sondern in sich selber positiv bedeutsam macht und aus der Sphäre des Indifferenten und Neutralen heraushebt. Wenn wir das Gute in seinem allgemeinsten Sinne nehmen, so bedeutet es nicht bloß die Herausgehobenheit von etwas aus dem Neutralen, Indifferenten, was auch die Übel kennzeichnet, sondern (im Gegensatz zum Schlechten) ein Herausgehobensein von etwas aus der Sphäre des Neutralen durch seine positive Bedeutsamkeit. Doch innerhalb des Guten, das auch Gegenstand eines Begehrens121 oder einer Liebe im weitesten Sinne, wie Brentano ihn verwendet,122 ist, finden wir noch grundsätzlich verschiedene Formen eines solchen Herausgehobenseins durch positive Bedeutsamkeit, grundsätzlich verschiedene Arten positiver Bedeutsamkeit, deren klare und für alle Ethik grundlegende Unterscheidung wir Dietrich von Hildebrand verdanken:123 a. Etwas kann nur rein relativ und subjektiv positiv bedeutsam sein, in Abhängigkeit von unserer subjektiven Lust oder Unlust, von unserem Geschmack. Auch dabei kann es sich um ein legitim subjektiv Befriedigendes oder Angenehmes handeln, das aber vom jeweiligen subjektiven Geschmack eines Menschen, von dem, was ihm schmeckt oder nicht schmeckt, abhängt, wie dem einen Parmesan-Käse wunderbar schmeckt, dem andern gar nicht. Es kann aber auch eine noch rein subjektivere 120
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Auch in diesem Sinne spricht Platon oft vom Wahren, z.B. von der „wahren Schönheit“, der „wahren Liebe zur wahren Philosophie“ (Politeia 6. 499), etc. Vgl. auch Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, in: Giovanni Reale and Samuel Scolnikov (Ed.), New Images of Plato. Dialogues on the Idea of the Good (Sankt Augustin: Academia Verlag, 2002), S. 407-424. Etwa in dem Sinne, in dem das scholatische dictum: “bonum est quod omnes desiderant” gemeint ist. Vgl. Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, eingel. U. hrsg. v. Oskar Kraus, unv. Nachdr. der 4. Aufl. (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1955). Dietrich von Hildebrand, Ethik, in: Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke, Band II (Stuttgart: Kohlhammer, 1973), Kap. 1-11; 17-18.
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positive Bedeutsamkeit sein, die uns anzieht, wenn diese nämlich im Widerspruch zur objektiven Bedeutsamkeit eines Seienden steht. In diesem Sinne mag etwa sogar das Leid des Andern, das objektiv eine Antwort des Mitleids fordert, dem Schadenfrohen oder Sadisten Quelle der Lust sein. b) Auch vom legitimen subjektiv Befriedigenden unterscheidet sich das objektive Gut für eine Person. Dieses wendet sich zwar auch an eine Person, ist für diese ein Gut, ein Geschenk (und schließt alles legitim Lustvolle ein, das zugleich ein objektives Gut ist), aber es besitzt den Charakter eines objektiven Gutes, im wahren Interesse der Person liegenden Etwas. Es fördert die Person, ist ein Gut für sie in einem viel tieferen Sinne. Dennoch bezieht es sich auf jenes einzigartige individuelle Zentrum dieser Person, für die es ein Gut ist, wie etwa eine große Liebe zu mir oder mein Geliebtwerden, oder mein ewiges Heil, objektive Güter und Geschenke für mich sind. Die Bedeutsamkeit, die wir hier im Auge haben, besteht nicht für jedermann. Das Geliebtwerden von einer Frau kann etwa für den einen Mann, den sie liebt, ein großes Geschenk sein, für einen anderen, der sie ebenfalls liebt, aber durch ihre Liebe zum ersten verliert, ein objektives Leid oder Übel: „Watt dim inen sin Uhl, is dem andren sin Nachtigall!“, wie das Sprichwort sagt. Und selbst das höchste Gut für eine Person, ihr ewiges Heil, ist für andere, die dieses Gut nicht erlangen, nicht in gleicher Weise ein objektives Gut, auch wenn auf Grund der Transzendenz der Liebe das Gut für eine andere Person, die jemand liebt, direkt oder indirekt auch ein objektives Geschenk für den Liebenden wird.124 c) Im Unterschied zu diesen beiden Arten positiver Bedeutsamkeit besteht eine dritte und die allergrundlegendste, die deshalb an erster Stelle genannt werden sollte, in einem in-sich-selber-positiv-bedeutsam-Sein, in einem Gutsein einer Sache, die nicht nur für jemanden besteht, sondern ein Seiendes in sich selber positiv bedeutsam macht. Diese in sich ruhende Bedeutsamkeit des Schönen, Wahren, Guten, Gerechten, der Personwürde, ist nicht nur für jemanden, sondern in sich selber gut. Diese Bedeutsamkeit ist, in scharfem Gegensatz zum rein subjektiv Befriedigenden, nicht relativ auf ein Subjekt, nicht einmal relational wie das objektive Gut für die 124
Vgl. die scharfsinnige Analyse dieses Sachverhalts in Dietrich von Hildebrand, Das Wesen der Liebe; Dietrich von Hildebrand. Gesammelte Werke III (Regensburg: J. Habbel, 1971), Kap. 7.
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Person. Dieses in sich Bedeutsame verdient eine Wertantwort, eine Antwort um seiner selbst willen, eine Hingabe des Subjekts. Die Liebe zu ihm oder Freude über es ist „als richtig charakterisiert“, wie Brentano sagt, ohne die Natur dieser „Richtigkeit“ richtig zu begreifen.125 Wir konsumieren es nicht, benutzen es nicht,126 sondern ordnen uns dem in sich Guten unter, geben uns an es hin, bejahen es um seiner selbst willen. Das in sich Wertvolle richtet auch eine Forderung nach einer angemessenen Antwort an uns, es lädt uns nicht bloß ein oder verführt uns gar bloß. Es wendet sich an unsere Freiheit und entthront diese nicht, indem es uns einlullt oder fesselt wie etwas rein subjektiv Befriedigendes. Es ist ferner Quelle wahren Glücks, gerade weil seine Bedeutsamkeit sich nicht darin erschöpft, Mittel für unser Glück zu sein.127 Für uns geht es aber um einen weiteren Aspekt von all diesem, nämlich um die innere Gutheit des Seienden als Wahrheit. Auch diese Bedeutung von ontologischer Wahrheit ist von eminenter Bedeutung, ja wir erblicken in der „Wertwahrheit“ sogar die eigentlichste Seinswahrheit. Denn wenn wir z.B. auf den Neid blicken, der einen Menschen zerfrißt, oder die Eifersucht eines Othello betrachten, der Desdemona ermordet, so besitzen sowohl der Neid als auch die Eifersucht wahrhafte Realität.128 Die Übel des 125
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Franz Brentano verdanken wir diese Idee der „als richtig charakterisierten Liebe“ und des „als richtig charakterisierten Hasses“, welche Idee die der angemessenen Wertantwort vorwegnimmt, allerdings ohne jede klare Einsicht, daß das Gute keineswegs darauf reduziert werden kann, Gegenstand einer als richtig charakterisierten Liebe zu sein, sondern im Gegenteil die Erkenntnis des inneren objektiven Wertes der Sache erst die angemessene Antwort begründen und erklären kann, warum die Antwort richtig und angemessen, gebührend ist. Wird dies weggelassen, wie bei Brentano, bricht nur der Gedanke der „als richtig charakterisierten Liebe“, der ja der Wert ihres Gegenstands vorhergehen muß, der erst ihre Richtigkeit begründen kann, sondern erfolgt ein radikaler Rückfall Brentanos in den Psychologismus, Wertagnostizismus und Wertrelativismus, die er gerade überwinden wollte. Vgl. Juan-Miguel Palacios, “Estudio preliminar de: Franz Brentano, El origen del conocimiento moral,” Traducción de Manuel García Morente (Madrid: Tecnos, 2002) S. XI-XXX. Karol Wojtyáa hat in Amour et Responsabilité (Paris, 1978) gezeigt, wie das “se jouir de” sowohl das rein subjektiv Lustvolle als auch ein Benutzen bedeutet. Vgl. Dietrich von Hildebrand, Ethik, Kap. 1-7; 17-18. In De veritate, Quaestio I, sagt Thomas übrigens in zumindest scheinbarem Widerspruch zu seiner Deutung des malum, der gemäss das Übel gar keine
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Neides oder der Eifersucht sind sowohl real als sie auch ein hohes Maß an Verstehbarkeit besitzen, wenn auch gewiß nicht das höchste, da in ihnen – im Vergleich etwa zur Verstehbarkeit der Liebe – eigenartige Widersprüche des Denkens und der Leidenschaften und merkwürdige dunkle Seiten bestehen. Dennoch kann man nicht zu recht bestreiten, daß das Phänomen des Neides Gegenstand einer philosophischen Analyse werden kann, ja daß man hunderte Seiten mit einer Analyse der Wurzeln und Gründe, sowie der Eigenart des Neides, seiner Motivation, Wurzeln und Ziele sowie der aus Neid geborenen Wünsche füllen könnte, sodaß man dem Neid (sogar innerhalb der dritten unterschiedenen Kategorie wesensnotwendiger Sachverhalte) einen hohen Grad von Intelligibilität nicht wird absprechen dürfen. Man mag zwar sagen, daß diese Intelligibilität des Neides keine ursprüngliche ist, sondern gleichsam von der Intelligibilität des Guten zehrt, daß sie daher nicht gleichrangig neben der ontologischen Wahrheit des Wertvollen stehe. Dennoch kann man Phänomenen wie Neid und Eifersucht ontologische Wahrheit weder im ersten noch im zweiten Sinn ganz absprechen. Was man ihnen jedoch entschieden absprechen muß, ist die ontologische Wahrheit in einem weiteren Sinn, der wohl der tiefste ist. In diesem Sinne von „ontologischer Wahrheit“ ist letztlich nur das Werthafte und Gute wahr. Mit welcher Berechtigung, so könnte man jedoch einwerfen, wird hier dem Übel ontologische Wahrheit abgesprochen, haben wir doch den Übeln ontologische Wahrheit im Sinne der Realität zuerkannt? Man muß auf diesen Einwand erwidern, daß wahr in unserem dritten grundsätzlich verschiedenen Zusammenhang nicht nur Erkennbarsein, erst recht nicht nur Wirklichsein, sondern daß „wahr“ hier vielmehr die raison d’être und die positive Erfüllung einer Sache bezeichnet. Das allein wäre wahr in diesem Sinn, was die Rechtfertigung des eigenen Seins durch seinen Wert in sich trägt und seine Berufung und seinen Wert erfüllt, das Seinsollende. In einem solchen Verständnis könnte man in der Tat sagen „ens et verum et bonum convertuntur“, nicht in einem reduktionistischen Sinne, sondern Existenz hat, daß der Ehebruch etwas Böses, ein Übel ist, aber real existiere und daher in dem ersten Sinn von ontologischer Wahrheit von Augustinus: verum est id quod est, etwas Wahres, d.h. etwas Wirkliches ist.
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in jener Weise, daß erst das Gute, weil es in sich selber kostbar ist oder objektiv für eine Person gut ist, und weil es dem Seienden seine innere Rechtfertigung verleiht, wahres Sein ist. In diesem Sinn ist das Wahre das Gute: das Wahre ist das, was durch sein Sein, sowohl durch sein Dasein als auch durch sein Wesen, wertvoll und folglich in seinem Sein bestätigt ist. Wahr in diesem vierten Sinne ist jenes Sein, das, bildlich gesprochen, „inthronisiert“ ist129 und auf dem Thron „des Rechts“ oder der Berechtigung „sitzt“. Das Wahre in diesem Sinn ist das, von dem es gut ist, daß es ist und das dadurch sein Wesen, seine Aufgabe, seine ideale Berufung erfüllt. Das Wahre in diesem Sinn ist also nicht bloß ein Faktum, es fällt nicht mit dem Wirklichen, sondern nur mit dem Vernünftigen zusammen, wie wir das bekannte Hegelwort „Alles Wirkliche ist vernünftig“ kritisch abwandeln können. Wahr in diesem Sinne ist also beileibe nicht alles, was wirklich ist, sondern nur das, was nicht bloß ist, sondern was „zugleich ist und sein soll“. Vom „wahren“ Sein in diesem Sinne gilt, daß es zugleich gut ist, daß es ist. Dieses im axiologischen Wortsinn wahre, also das gute Sein, umfaßt neben seinem grundlegendsten Reich, dem in sich selber Wertvollen, auch alle objektiven Güter für Personen und auch alles legitim Angenehme und Lustvolle, das zu diesen gehört und über deren Wesen und Beziehung wir Dietrich von Hildebrand eine detaillierteste und feinste Analyse verdanken, auf die ich hier nur verweisen, die ich aber hier nicht weiter ausführen kann.130 Auch dieser Begriff von Seinswahrheit läßt unzählige Stufen zu. Etwas ist in dieser Wortbedeutung von „ontologischer Wahrheit“ um so wahrer, 129
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Dieser Begriff spielt in einer anderen, mehr der „subjektiven Seite“ der Bejahung der objektiven Kostbarkeit und ihres Ausdehnens auf noch nicht festgestellte Bereiche in D. von Hildebrands Philosophie der Liebe eine Rolle. Siehe D. von Hildebrand, Das Wesen der Liebe, Kap. 3. Siehe auch J. Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘“, cit. Vgl. Dietrich von Hildebrand, Ethik, Kap. 1-7; Kap. 1-14; 17-18; 29. Ders., Das Wesen der Liebe; 2e Aufl., italienisch-deutsch (Milano: Pompiani, 2003), Kap. 1, 5, 7. Vgl. auch Fritz Wenisch, Die Objektivität der Werte (Regensburg: Josef Habbel Verlag, 1973), sowie Josef Seifert, „Wert und Wertantwort. Hildebrands Beitrag zur Ethik“, in: Prima Philosophia, Sonderheft 1, 1990.
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in je höherem Maße es wertvoll und Träger des Guten ist. In diesem dritten Sinn ist etwa ein wahrer Mensch jemand, der ein “Ecce homo” im philosophischen Sinne deshalb berechtigt erscheinen läßt, weil er das Wertvollste im Menschsein verwirklicht. In ähnlicher Weise ist eine wahre Freundschaft in diesem Sinne eine, die die der Freundschaft eigenen Werte realisiert.131 Dieser fundamentale Sinn der Wahrheit als das Gute ist besonders eng mit einem weiteren verknüpft. Ontologische Wahrheit, so verstanden, ist nicht mehr eine rein innere Eigenschaft, sondern eine Entsprechung, aber eine Entsprechung besonderer Art zwischen Idee und Wesen. Um dies besser zu verstehen, müssen wir weiter ausholen und die verschiedenen weiteren Formen ontologischer Wahrheit, die in Entsprechungen bestehen, erforschen.
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Auf eine andere zentrale Bedeutung der ontologischen Wahrheit als innerer Wahrheit der Dinge werden wir noch zurückkommen.
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II. ONTOLOGISCHE WAHRHEIT IN RELATIONEN DES SEIENDEN ZU ETWAS ANDEREM
1. Ontologische Wahrheit als Sinn und Verstehbarkeit: innere, doch zugleich –als „Geistoffenheit“ – relationale Eigenschaft des Seins Verum importat ordinem quemdam entis ad intellectum; verum habet ordinem ad cognitionem. Das Wahre bringt eine gewisse Hinordnung des Seienden auf den Intellekt mit sich; das Wahre besitzt eine Zuordnung auf Erkenntnis. Thomas von Aquin, De Natura Generis, ii; Summa Theol. Q.16 a.3 Ens non potest intelligi sine vero, quia ens non potest intelligi sine hoc, quod correspondeat vel adaequetur intellectui Das Seiende kann nicht ohne das Wahre verstanden werden, weil das Seiende nicht ohne dieses verstanden werden kann, daß es dem Geist entspreche oder sich ihm angemessen erweise. Thomas von Aquin, De Ver. I, I ad 3. In ipsa operatione intellectus ... completur relatio adaequationis, in qua consistit ratio veritatis In der Tätigkeit des Verstandes ...wird die Relation der Adäquation erfüllt, in der das Wesen (ratio) der Wahrheit besteht Thomas von Aquin, In Sent., I, d. 19, 5, 1. Verum enim addit supra ens rationem cognoscibilis Das Wahre fügt dem Seienden die Beziehung des Erkennbarseins hinzu Thomas von Aquin, De natura generis 2.
Man könnte bei der näheren Bestimmung des „durch sein Sein Wahren“ auch eine ganz andere Richtung einschlagen und sagen, daß es nicht einfach das Realsein, das Wirklichsein als solches oder ein anderer der erwähnten Aspekte der intrinsischen Eigenschaften des Seienden ist, was seine ontologische Wahrheit ausmacht, wie wenn wir etwa wahre Begebenheiten von erfundenen unterscheiden (dann ist es in der Tat dieses Realsein selber, das mit dem Wahrsein gemeint ist), sondern daß die Wahrheit eines Dinges durch eine Relation zwischen ihm und etwas Anderem konstituiert wird, also eine relationale Eigenschaft des Seienden – nicht in se, sondern ad aliud (nicht in sich, sondern auf etwas Anderes hin) – ist, wie auch Thomas von Aquin die transzendentale Proprietät aller Seienden, ihren Charakter als verum, bestimmt. Die erste Relation, die sich
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hier empfiehlt, und die alles Seiende wenigstens potentiell auszeichnet, ist diejenige auf einen erkennenden Geist, die wir in gewisser Weise schon in der Bestimmung der Seinswahrheit als Fundament wahrer Aussagen berührt haben. Im Sinne dieser anderen Richtung das zu verstehen, was Seinswahrheit bedeutet, könnte man ontologische Wahrheit vornehmlich dahingehend bestimmen, daß etwas in dem Maße wahr ist, in dem es intelligibel ist. Ein Seiendes ist demnach wahr in dem Maße, in dem es nicht einfach wirklich, sondern erkennbar ist. Wahr in diesem Sinne wäre ein Seiendes in dem Maße, in dem es sich – wenigstens potentiell – dem Geiste durch seine Intelligibilität und Erkennbarkeit in seinem Sinn erschließt. 1.1. Ontologische Wahrheit im allgemeinen als Intelligibilität des Seins: Zu einer personalistischen und platonischen Dimension der Seinswahrheit
Diese ontologische Wahrheit als Intelligibilität kann dann zunächst im weitesten Sinn verstanden werden. Wahr drückt dann eine Eigenschaft alles Seienden aus, die sich ohne dessen Bezug auf den Geist nicht fassen läßt und sich im Erkanntwerden vollendet, die aber, wie Pieper mit Recht bemerkt,132 nicht im tatsächlichen Erkanntsein besteht. Wohl aber gehört zur ontologischen Wahrheit in diesem Sinn wesensmäßig, daß die Formen sowie das Dasein der Dinge auch von einem andern, nämlich dem Geist, geistig gehabt werden oder wenigstens gehabt werden können.133 Dann wäre also nicht das Wirklichsein als solches, sondern eine ganz andere Dimension des Seins,134 nämlich dessen Intelligibilität, die Ursache des „Wahrseins“ eines Dinges. Dies ist eine wesentlich andere Bedeutung von „ontologischer Wahrheit“ als der Grad seiner Wirklichkeit. Es kann nämlich etwas viel intelligibler sein, das viel weniger real ist. So sind z.B. ein Konzentrationslager oder ein Haufen von Menschen, die sich in einer Großstadt durch eine Untergrundbahn drängen, real; sie sind viel realer als die Gestalten von Shakespeares King Lear, denn keine dieser Gestalten lebt wirklich, keine hat Fleisch und Blut, keine denkt real. Die in einem 132 133
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Wahrheit, a.a.O., Kap. II, 3, S. 38 ff. Zum besonderen Modus dieses Habens siehe J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2. Siehe Josef Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘“, S. 301-331.
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literarischen Kunstwerk dargestellten Gegenständlichkeiten sind nicht wirklich; sie gehören der Welt der Fiktion an. Vom Standpunkt der „Ungetrenntheit“ des Seins vom Wesen aus wären also die Menschen in einer Untergrundbahn weitaus ‚wahrer‘. Und doch sind die Gestalten des Shakespeare-Stücks viel intelligibler, es gibt eine viel größere sinnvolle Einheit, in der diese Figuren zueinander stehen als diejenige, in der ein zufällig zusammengewürfelter Haufen von Menschen in einer U-Bahn zu einander stehen. Dies zu erwägen dient nicht nur dem Verständnis, daß – allgemein gesprochen – Intelligibilität des Seins eine ganz andere Dimension ontologischer Wahrheit ist als die bisher erörterten intrinsischen Dimensionen ontologischer Wahrheit und speziell als das Realsein. Vielmehr lenkt diese Überlegung unseren Blick auf die Tatsache, daß das transzendentale verum ein analoger Begriff bzw. eine analoge Gegebenheit ist, die keineswegs allen Seienden im selben Maße zukommt, sondern unendlich vielen Abstufungen unterliegt und außerdem grundsätzlich verschiedene Formen besitzt. Man könnte also das Wahrsein nicht auf das Realsein beziehen, sondern vielmehr auf das Intelligibelsein, auf das Einleuchtendsein und in diesem Sinne wäre das wahrste Sein dasjenige Sein, das am meisten dem Erkennen Nahrung gibt und das objektiv einen Sinn besitzt, der ein reiches, vielfältiges, komplexes Erkennen erlaubt. Dann könnte die wahrste Welt eine rein mögliche, aber ideale und höchst intelligible sein. In jenem anderen thomasischen Sinn von ontologischer Wahrheit hingegen, der durch das reale esse bestimmt ist, wären die realen Menschen in der U-Bahn viel „wahrer“ als die Shakespeare-Gestalten wie Lear oder Cordelia, sogar im Gegensatz zu den höchsten reinen Ideen. Die jeweils verschiedene Gewichtung dieser zwei grundsätzlichen Bedeutungen von ontologischer Wahrheit, so könnte man sagen, unterscheiden Platon von Aristoteles. Aristoteles sieht das Sein im primären Sinne (tò òn kurioos) in erster Linie im realen Sein. Deshalb sagt er, Sein im eigentlichen Sinn heiße die Substanz, das, was in sich selber steht: und zwar nicht die allgemeine Substanz, nicht das allgemeine Wesen von Substanz oder das allgemeine Wesen einer Spezies (die „zweite Substanz“/deutera ousia., sondern dieser Ochs oder dieser Mensch (die
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prote ousia…) Auch sagt Aristoteles aus dem nämlichen Grund, das Sein135 der Akzidenzien oder das „Wahrheit-sein“ gehöre nicht zum Gegenstand der Wissenschaft vom (eigentlich) Seienden, der Metaphysik. Also ist das Reale für ihn das wahre Sein. Für Platon hingegen, woran allerdings auch Aristoteles’ Abhandlungen über Kontemplation und die dianoetischen Tugenden noch lebhaft erinnern,136 ist das wahre Sein primär und vor allem das intelligible Sein, das Sein der Ideen, das Sein der eide, das, was auf Grund seiner hohen Intelligibilität dem Geist Nahrung gibt. Platon entwirft im Phaidros das große Bild, daß die Seelen auf ihren Wagen und auf ihren Flügeln, die ihnen durch den Anblick der Schönheit wachsen, aufsteigen zum Himmel der Ideen und daß dort – auf den ewigen Gefilden der intelligiblen eide – sich die Nahrung der Seele befinde. Und eben deshalb strebten die Seelen mit so großer Macht dahin, weil sie dort ihre Nahrung fänden.137 Unter 135
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Die „erste Substanz“ (protee ousia. deuten wir hier nicht im Sinne der „absoluten Substanz“, sondern im Sinne des konkreten Einzeldings. Siehe zu den verschiedenen Bedeutungen von „erster Substanz“ G. Reale, The Concept of “First Philosophy” and the Unity of the Metaphysics of Aristotle; und J. Seifert, Essere e persona, cit., Kap. 8. Siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik, X, vii, 1177 a ff. Vgl. Platon, Phaedrus, 246 e: Das Göttliche nämlich ist das Schöne, Weise, Gute und was dem ähnlich ist. Hiervon also nährt sich und wächst vornehmlich das Gefieder der Seele, durch //I83// das Mißgestaltete aber, das Böse und was sonst jenem entgegengesetzt ist, zehrt es ab und vergeht.
Und ebd., 247-248: Da nun Gottes Verstand sich von unvermischter Vernunft und Wissenschaft nährt, wie auch jeder Seele, welche soll, was ihr gebührt, aufnehmen: so freuen sie sich, das wahrhaft Seiende wieder einmal zu erblicken, und nähren sich an Beschauung des Wahren, und lassen sich wohlsein, bis der Umschwung sie wieder an die vorige Stelle zurückgebracht. //I84// In diesem Umlauf nun erblicken sie die Gerechtigkeit selbst, die Besonnenheit und die Wissenschaft, nicht die, welche eine Entstehung hat, noch welche wieder eine andere ist, für jedes andere von den Dingen, die wir wirkliche nennen, sondern die in dem, was wahrhaft ist, befindliche wahrhafte Wissenschaft, und so auch von dem andern das wahrhaft Seiende erblickt die Seele, und wenn sie sich daran erquickt hat, taucht sie wieder in das Innere des Himmels und kehrt nach Hause zurück. Ist sie dort angekommen: so stellt der Führer die Rosse zur Krippe, wirft ihnen Ambrosia vor und tränkt sie dazu mit Nektar. | Dieses nun ist der ||S248|| Götter Lebensweise. Von den andern Seelen aber konnten einige, welche am besten dem Gotte folgten und ihr nachahmten, das Haupt des Führers hinausstrecken in den äußeren Ort, und so den Umschwung mit vollenden.
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dieser „Nahrung“ versteht Platon wohl vor allem das Einleuchtende, das Intelligible, das Erkennbare, das in diesen ewigen Urbildern enthalten ist. Man kann Platon so deuten, daß er weniger die Realität, sondern viel mehr die Intelligibilität als die Wahrheit des Seins ansehe. Dann wäre das verum oder die ontologische Wahrheit nicht sosehr die Realität oder der Grad der Wirklichkeit, sondern viel mehr die Verstehbarkeit und der Grad der Einleuchtendheit.138 Etwas wäre um so wahrer, je mehr es durch seinen inneren Sinn und durch die Differenziertheit und Fülle seines Sinnes erkennbar, verstehbar, einleuchtend ist.139 Auch wenn man Platon in seiner Hierarchisierung des Seins nicht folgen möchte, so liegt unzweifelhaft im Intelligibelsein eine wesentliche Dimension ontologischer Wahrheit. 1.2. Die Seinswahrheit als „transzendentale Intelligibilität“ allen Seins: Zur thomasischen Interpretation der „ontologischen Wahrheit“ als einer implizite „personalistischen Metaphysik“
Innerhalb dieses Sinnes von „wahr“, d.h. innerhalb der Verstehbarkeit des Seins, gibt es, wie erwähnt, zahlreiche Abstufungen. Diese reichen von der untersten Stufe der Erkennbarkeit, die alles Seiende überhaupt besitzt, bis zur höchsten Stufe der einsichtigen Verstehbarkeit. Man könnte zunächst die Seinswahrheit in dem transzendentalen Sinne des verum deuten, d.h. man könnte sagen, schlechthin alles, was ist, ist auch erkennbar und deshalb wahr. Es ist schlechthin einsichtig, daß es nichts geben kann, das wäre und Sein besäße, aber das zugleich prinzipiell für keinen Intellekt verstehbar wäre. Es kann gewiß vieles geben und gibt es, das kein Mensch verstehen kann, aber nichts das nicht ein entsprechend erkenntnisreicher Geist erkennen könnte. So könnte man auch Thomas von Aquins Verständnis der ontologischen Wahrheit deuten, wenn er sagt: 138
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Vgl. Duns Scotus, Commentaria Oxoniensa ad IV libros Magistri Sententiarum, I, d, 3,1 und 2, 7, n. 364; ibidem, VI, q. III, n. 5; Commentaria Oxoniensia, I, d. 3, Ie 2, 7, n. 364; ibidem, I, d. 3, 3, 5, n. 395). Siehe auch Pieper, op. cit., Kap. iv, S. 73 ff., 131 ff. So schreibt auch Thomas in Summa contra Gentiles, 4, 11,1. Siehe auch Disp. Met. 8,7, n.7.
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Das Ding aber wird nur wahr genannt, sofern es mit dem erkennenden Geist in Übereinstimmung ist. Darum findet sich das Wahre sekundär (posterius) in den Dingen, primär aber (per prius) im erkennenden Geist...Das erste Verhältnis (comparatio) des Seienden zum erkennenden Geist besteht also darin, daß das Seiende dem erkennenden Geist entspricht. Dies Entsprechen aber wird als Übereinstimmung der Sache und der Erkenntnis (adaequatio rei et intellectus) bezeichnet; und darin bestimmt sich formaliter die Idee des Wahren (in hoc formaliter ratio veri perficitur). Das also ist es, was das Wahre noch zum Seienden hinzufügt, nämlich die Gleichförmigkeit (conformitas) oder Übereinstimmung der Sache und des erkennenden Geistes; auf diese Gleichförmigkeit folgt, wie gesagt, das Erkennen der Sache. So geht also der Seinsbestand der Sache dem Bereich der Wahrheit voraus (entitas rei praecedit rationem veritatis), das Erkennen (cognitio) aber ist eine Auswirkung der Wahrheit (quidam veritatis effectus).140
Wenn es nämlich ein Seiendes gibt, zeigt Thomas, das auf alles Seiende bezogen ist, zu dem alles Seiende, und zwar sowohl alles andere Seiende als auch es selbst, eine Relation hat, dann kann man nicht nur die jedem Seienden an sich (in se) zukommenden Prädikate, sondern auch eine solche Relation als ein Merkmal alles Seienden schlechthin bezeichnen. Thomas sagt ferner, wobei er einer aristotelischen Erkenntnis folgt,141 das, was einen Bezug zu allem Seienden überhaupt habe, „aber (ist) die Seele, die gewissermaßen alles ist“.142 Und er fügt hinzu: „Jedes Seiende ist nämlich dem göttlichen Intellekt angeglichen; und es kann sich dem menschlichen Verstand angleichen und umgekehrt.“143 140
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Thomas von Aquin, De veritate I, 1, c. Die Übersetzung, die wegen der phänomenologischen Frische und Anschaulichkeit, mit der sie den thomasischen Text interpretiert, hier zugrundegelegt wurde, stammt von Edith Stein, Edith Steins Werke (Louvain/Freiburg: Herder, 1952), Bd III, S. 11. Aristoteles, De Anima III, 4. Ebd. Siehe auch Aristoteles, De Anima, III, 5. Thomas, De veritate I, a 2, va 1 : “Omne enim ens est adaequatum intellectui divino, et potens adaequare sibi intellectum humanum et a converso.”
Das scheint mir allerdings in anderer Hinsicht ein bedenklicher Satz zu sein, weil er zu implizieren scheint, daß überhaupt kein Sein prinzipiell jenseits der Reichweite des menschlichen Intellekts liegen könne, was mit der Endlichkeit des
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Ich würde die Wahrheit dieses Satzes dahingehend verstehen, daß der Geist zwar keineswegs – wie der Text in seinem buchstäblichen Sinne genommen aussagt – „alles ist“, aber daß alles Seiende prinzipiell dem Intellekt gegenüber „offen steht“ und prinzipiell verstehbar sein muß. Wir können einsehen, daß es ein schlechthin unverstehbares, ein schlechthin nicht intelligibles Sein, nicht geben kann.144 Ja noch mehr, wie Pieper sagt, „spricht sich das Sein in seinem innersten Kern Geist gegenüber aus“ und „sind Sein und Geist für einander“.145 In diesem Sinne ist eine Metaphysik des transzendentalen verum eine personalistische Metaphysik, in der bei aller in sich ruhenden Realität und Sinnhaftigkeit der Dinge diese doch ein „für jemand Dasein“ einschließen, wie Söhngen sagt.146 Prägnant wird diese Geistzugeordnetheit des Seins auch von Hilarius so formuliert: „Das Wahre ist sich manifestierendes und erklärendes Sein“.147 Das transzendentale verum als Erkennbarkeit allen Seins ist eine allgemeinste Proprietät alles Seienden und Seins, als Intelligibilität aller Dinge und jeden Seins überhaupt, verstanden. Wie aber können wir eine solche Erkenntnis der Erkennbarkeit allen Seins erlangen? Setzen wir, oder setzt die mittelalterliche Philosophie bei einer derartigen Behauptung nicht notwendig sowohl eine universale Seinserkenntnis der Dinge an sich als auch die Existenz Gottes voraus, da der menschliche Intellekt doch keineswegs alles Sein zu erkennen vermag? Können wir aber ohne Annahme Gottes a priori wissen, daß auch all jenes Seiende, das sich unserem erkennenden Blick entzieht, erkennbar sein muß
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menschlichen Intellekts kaum zu vereinbaren ist. Wir werden auf diese schwierige Frage der Philosophie und zugleich der Thomas-Interpretation noch zurückkommen. Auf alle Fälle geht Thomas hier auf Aristoteles zurück, der sagt, die Seele oder der Geist sei das, was zu allem Seienden überhaupt in Bezug stehen kann, was, wie Aristoteles sagt, „potentiell alles ist“. Siehe dazu E. Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins, S. 263 ff., 273 ff. Siehe J. Pieper, Wahrheit der Dinge, op. cit., Kap. iii, 4, S. 67 ff. Siehe G. Söhngen, Sein und Gegenstand. Das scholastische Axiom ‘ens et verum convertuntur’ als Fundament metaphysischer und theologischer Spekulation, S. 115. “Verum est manifestativum et declarativum esse”. Siehe Thomas von Aquin, De veritate I, 1.
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und nicht widersprüchlich, absurd, durch und durch unerkennbar sein kann? In Antwort auf diese Frage drängt sich die Erkenntnis auf, daß die intrinsische Erkennbarkeit allen Seins und damit auch seine Zuordnung auf Erkanntsein erfassen läßt, ohne daß dabei schon die Erkenntnis Gottes vorausgesetzt zu werden bräuchte. Eher könnte umgekehrt die Einsicht in die wesensnotwendige Erkennbarkeit allen Seins Ausgangspunkt eines Arguments für die Existenz Gottes bilden. Denn daß alles Sein und Wesen, alle Form, ja auch alle Möglichkeiten prinzipiell auf Grund ihres Seinscharakters selbst erkennbar sind, was man auch als Prinzip der Verstehbarkeit (der Intelligibilität) bezeichnen könnte (omne ens est intelligibile), leuchtet unmittelbar aus den allgemeinsten Wesenseigenschaften des Seins ein. Freilich setzt diese Erkenntnis voraus, daß wir das allgemeinste Wesen des Seins überhaupt zu erfassen vermögen und in ihm seine notwendige Geistoffenheit vorfinden. Dabei setzen wir diese Intelligibilität des Seienden nicht blind voraus, sondern finden sie im allgemeinsten Wesen des Seins einleuchtend begründet. Wir erfassen: alles Sein, Seiendes jeder Art und Natur, ja auch die Aktualität seines Daseins, seines Esse, ist erkennbar, intelligibel. Zum Charakter der Intelligibilität allen Seins und seiner oben erörterten Rolle als Fundament aller Wahrheit des Erkennens und Urteils gehört in besonderer Weise, daß das Seiende nicht in sich selber unbestimmt sein kann, sondern daß alles Seiende etwas ist, sowohl in sich selber und sich dadurch vom unintelligiblen Nichts unterscheidet (aliquid) als auch ein von anderem Unterschiedenes, ein aliquid im Sinne eines aliud quid, ist. Deshalb ist auch alles Seiende notwendig durch das Identitätsprinzip (jedes Seiende ist – zumindest zur selben Zeit – mit sich identisch, ist es selber, A=A) bestimmt. Denn dem Sein könnte weder selber Wahrheit zugeschrieben werden noch könnte es erkennbar und in wahren Aussagen erreichbar sein, wenn nicht jedes Seiende mit sich selber identisch wäre (ontologisches Identitätsprinzip). Sonst, wenn es zugleich nicht es selber wäre oder auch nur sein könnte, würde ihm alle Intelligibilität fehlen. Das Seiende ist aber auch erkennbar, weil es durch das Widerspruchsprinzip bestimmt wird und weil nichts zugleich und im selben Sinne, sowie
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in derselben Hinsicht, sein und nicht sein kann.148 Wenn es nicht wahr wäre, daß nichts zugleich und im selben Sinne sein und nicht sein, und daß kein Sachverhalt zugleich und im selben Sinne bestehen und nicht bestehen kann (ontologisches Widerspruchsprinzip), und daß deshalb das Sein niemals widersprüchlich sein kann, könnte es ebenfalls weder eine Wahrheit des Seins noch eine solche des Erkennens und des Urteils geben. Würde nicht alles Seiende evidenterweise unter dem Gesetz des Widerspruchsprinzips stehen, wäre es in sich absurd und widersprüchlich, aber infolgedessen auch radikal unerkennbar. So aber, wie nichts Seiendes diesem Prinzip widersprechen kann, so ist auch alles Seiende notwendig erkennbar und verstehbar. Und wie die Wahrheit des Widerspruchsprinzips mit letzter Evidenz erkannt werden kann, so kann auch die teilweise darauf aufbauende Wahrheit des Prinzips der Intelligibilität allen Seins erkannt werden. Denn nur weil zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte einander ausschließen, also das ontologische Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs ein striktes Gesetz allen Seins ist, ist es auch notwendig wahr, daß das logische Widerspruchsprinzip gilt, das besagt, daß zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile (die eben zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte behaupten) nicht beide zugleich wahr sein können. Und nur weil das Identitätsprinzip gilt, ist jene Selbigkeit aller Dinge garantiert, die unter anderem das der Logik vorgängige Prinzip der Wahrheit analytischer Urteile darstellt. Daß diese notwendigen ontologischen und die korrespondierenden ersten logischen Prinzipien weder Tautologien noch bloße subjektive psychologische Denknotwendigkeiten sind, kann an diesem Ort nicht eingehend nachgewiesen werden.149 Die schlechthin fundamentale 148
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In dieser Hinsicht ist Aristoteles durch die Untersuchungen des Buches K seiner Metaphysik, in dem das Widerspruchsprinzip eingehend entfaltet wird, jener Philosoph, der einen entscheidenden Grund des Charakters der Intelligibilität des Seins entdeckte. Vgl. dazu, neben Alexander Pfänders Logik und der Einführung Mariano Crespos, ebd., auch Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, aus dem Engl. übers. v. Fritz Wenisch, in: Hildebrand, Gesammelte Werke, Bd. I (Regensburg/Stuttgart: Habbel/Kohlhammer, 1976); vgl. auch Fritz Wenisch, “Insight and Objective Necessity – A Demonstration of the Existence of Propositions Which Are
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Bedeutung der ontologischen Wahrheit und Struktur der Dinge als Fundament der Erkenntnis- und der Urteilswahrheit sei jedoch hier betont.150 Um erkennbar zu sein, muß ferner alles Seiende durch das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten bestimmt sein. Denn wenn es nicht nur in sich unbestimmte Möglichkeiten, auf die das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten nicht zutrifft, sondern etwas tatsächlich Seiendes oder Wesenhaftes geben könnte, das im selben Sinne weder wäre noch nicht wäre (was vom Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten ausgeschlossen wird), so wären ebenfalls zumindest weite Bereiche ontologischer Wahrheit und Urteilsund Erkenntniswahrheit dahin und könnte es sein, daß von zwei kontradiktorischen Sachverhalten keiner bestünde. Damit bestünde aber ebenfalls eine entscheidende Dimension der Intelligibilität des Seins nicht. Noch ein weiteres erstes Seinsprinzip, auf das insbesondere G. W. Leibniz Gewicht legte, von dem die Intelligibilität und Erkennbarkeit des Seins entscheidend abhängt, ist das Prinzip vom zureichenden Grunde. Dieses ebenfalls absolut evidente Prinzip besagt, daß es nichts geben kann, ohne daß sowohl dafür, daß es ist als auch dafür, wie es ist (für sein Sein und sein Wesen) ein zureichender Grund dafür besteht, daß es ist, anstatt nicht zu sein, und daß es so ist, wie es ist, anstatt anders zu sein.151 Dabei kann dieser zureichende Grund sowohl in einem Seienden selbst liegen, wie beim absoluten Sein, als auch außer ihm wie dies jedenfalls bei allem kontingenten realen Seienden hinsichtlich seiner Exitenz der Fall ist. Dieses einen Grund Haben Müssen, diese Tatsache, daß es niemals sein kann, daß etwas völlig grundlos ist, trägt ebenfalls entscheidend zur
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Simultaneously Informative and Necessarily True?”, Aletheia 4 (1988), S. 107197, sowie Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, und ders., Josef Seifert, Back to Things in Themselves. Vgl. auch Barry Smith, “Brentano and Marty: An Inquiry into Being and Truth in Mind”, in: Meaning and Metaphysics, Mulligan, Kevin (ed), Dordrecht: Kluwer, 1990). In ihrem interessanten Artikel “Pyrrhonian Indeterminacy: A Pragmatic Interpretation”, Apeiron, (1993), 26 (2), 77-95, hat darauf auch Priscilla Sakezles hingewiesen, indem sie das in sich unbestimmte und widersprüchliche Seinsverständnis von Protagoras, also dessen Leugnung einer „ontologischen Wahrheit“, als Quelle seiner Leugnung der Urteilswahrheit und der Wahrheit und Möglichkeit der Erkenntnis auffaßt. Vgl. zum Ausschluß einer Reihe falscher Deutungen dieses Prinzips bei Leibniz Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 11.
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Erkennbarkeit und Intelligibilität des Seienden bei. Ohne dieses Prinzip wäre das Seiende nur sehr unvollkommen intelligibel und verstehbar, weil die Frage, „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?“ dann ganz ohne Antwort bleiben könnte. Mit anderen Worten genügt die bloße Erkennbarkeit des Faktums der Existenz sowie des Wasseins und Wieseins der Dinge nicht, um sie intelligibel sein zu lassen. Auch die Erkennbarkeit des Grundes, warum sie sind, gehört zu ihrer Intelligibilität. Aus diesen vier obersten ontologischen Prinzipien folgen entsprechende oberste logische Prinzipien, die in ihnen gründen und auf die wir erst im Zusammenhang der Diskussion der logischen Wahrheit eingehen werden. Die obersten ontologischen und logischen Prinzipien, von denen die Wahrheit der Dinge als Fundament der Urteilswahrheit abhängt, zeigen sich unserem Geist in ihrer letzten inneren Notwendigkeit, die Kriterium ihrer selbst ist und uns Gewißheit und absolute Evidenz des Erkennens ermöglicht. Wir erfassen hier das So-sein-Müssen und Nicht-anders-seinKönnen dieser Gesetze, die in unserer und in jeder möglichen Welt bestehen müssen: nirgends kann etwa dasselbe demselben zukommen und nicht zukommen, kann derselbe Mensch zugleich leben und nicht leben, usf. Zugleich geht aus der Wahrheit des ontologischen Grundprinzips vom Widerspruch hervor, daß nichts zugleich sein und nichtsein kann, und daß deshalb von einem Paar kontradiktorischer Urteile nicht beide wahr sein können. So wie alle ersten Prinzipien der Logik die ontologischen ersten Prinzipien voraussetzen,152 so setzt auch die ontologische Wahrheit und die Urteilswahrheit diese Prinzipien voraus.153 Diese allgemein und abstrakt formulierte Wahrheit als transzendentale Erkennbarkeit allen Seins reicht jedoch von der niedrigsten Stufe der bloßen Feststellbarkeit bis zu den höchsten Stufen der Einsichtigkeit. Dies hängt mit zwei weiteren entscheidenden Fundamenten der Intelligibilität 152
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Dies hat insbesondere Alexander Pfänder nachgewiesen. Vgl. Alexander Pfänder, Logik4. Ich baue hier ganz auf der aristotelischen Grundlage aus Buch IV (Gamma) der Metaphysik, sowie auf weiteren Studien dieser Sachverhalte auf. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Text der ersten und zweiten Auflage, Bd I: Prolegomena zu einer reinen Logik, hrsg.v. E. Holenstein, Husserliana, Bd. xviii (Den Haag: M. Nijhoff, 1975). Vgl. neben der Logik Alexander Pfänders auch Josef Seifert, Essere e persona, zit., Kap. 5.
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allen Seins und damit seiner Wahrheit und Geistoffenheit zusammen, mit seinem Charakter als res, als etwas, das ein Wesen hat, und seinem Charakter als unum, als etwas innerlich Geeintem. Es handelt sich dabei um zwei sogenannte transzendentale Seinsbestimmungen. Diese klassische, auf die Antike zurückreichende und im Mittelalter wesentlich weiter entfaltete Transzendentalienlehre,154 die auch in der realistischen Phänomenologie weiter entwickelt wurde,155 stellt eine Grundlage der Erkenntnis der Intelligibilität des Seins dar. Und innerhalb der Transzendentalien sind es in besonderer Weise jene der Wesenhaftigkeit (res) und der Einheit (unum), die hier von entscheidender Bedeutung sind. Denn in jenem Maße, in dem ein Seiendes ein innerlich geeintes Wesen besitzt, ist es auch erkennbar und verstehbar. Und diese innere Einheit des Seins hat, anders als die formalen ontologischen Tatsachen, daß etwas ist oder so und so bestimmt ist, auf die sich das Widerspruchsprinzip bezieht, unendlich viele Abstufungen und begründet daher Intelligibilität und darin fundierte Seinswahrheit in einem unendlich abgestuften Sinne.156 Man kann von Dingen sprechen, die in einem viel höheren Sinn intelligibel, in einem höheren Maß verstehbar sind als andere. Sie verkörpern nicht einfach die formale Tatsache der Intelli154
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Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1. Vgl. auch Alan Wolter, The Transcendentals and their Function in the Metaphysics of Duns Scotus (St. Bonaventure, New York: Franciscan Institute Publications, 1946). Vgl. Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins; Josef Seifert, Sein und Wesen; ders., Essere e persona, cit., Kap. 5. Damit soll nicht geleugnet sein, daß sich in gewissem Maße auch der Gegensatz und die Unverträglichkeit zwischen Sein und Nichtsein, die als solche formalen Tatsachen keine Stufen haben, sowie deren Unverträglichkeit, auf verschiedenen Ebenen der Radikalität bewegen können, was vor allem angesichts eines ewig aus sich Seienden, das überhaupt nicht nicht sein kann und deshalb einen völllig anderen und radikaleren Gegensatz zum Nichtsein bildet, weshalb Anselm es “tu es verissime omnium” nennt, deutlich hervortritt. Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion und Ad Proslogion, in: Anselm of Canterbury (Aosta., S. Anselmi Opera omnia, Franciscus Salesius Schmitt (Hg.), 2 Bde. (Stuttgart-Bad-Cannstatt: Friedrich Frommann/Günter Holzboog, 1968), Bd. I, S. 89-139; vgl. auch Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2, Kap. 1-2, 11.
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gibilität im allgemeinsten Sinn oder die unterste Stufe der Verstehbarkeit. Im formalsten und allgemeinsten Sinn ist gewiß jedes Seiende erkennbar, so wie wir auch jeden Dreck und jeden Mist – im buchstäblichen und im übertragenen Sinne – und jede törichte Rede einfach feststellen und in diesem Sinn (im Gegensatz zum Widersinnigen oder dem total Unbegreiflichen, dem man verständnislos gegenübersteht) „erkennen“ können. Aber wir müssen Intelligibilität im Sinne der formalsten Eigenschaft prinzipieller Verstehbarkeit und erst recht im Sinne der untersten und niedrigsten Stufe der Erkennbarkeit von deren höheren Stufen unterscheiden. Mit dem Gesagten sollte nicht behauptet werden, daß die formalste Tatsache des Verständlichseins, die sich ja auf alle Fälle der Erkennbarkeit, inklusive der höchsten Stufen des Einsichtigseins, bezieht, und die unterste Stufe der Erkennbarkeit, die bloße äußere Feststellbarkeit, identisch seien. Nur trifft die abstrakteste und formalste Bedeutung des ens als verum selbst auf diese unterste Stufe der Verstehbarkeit zu. Ausschließlich diese letztere aber, und nicht die abstrakteste Tatsache des Verstehbarseins als solchen (und von dessen konkreter Form abstrahierend), bezeichnen wir als erste und unterste Stufe der Verstehbarkeit. Wenden wir uns nun den insbesondere im Charakter des Seienden als res und als unum und den darin begründeten möglichen Stufen innerer Einheit zu. 1.3. Ontologische Wahrheit als Intelligibilität nichtnotwendiger sinnvoller Wesen: Rationalität und Intelligibilität in den empirischen Wissenschaften
In einem von der allgemeinsten Erkennbarkeit allen Seienden, auch des zufälligsten, dessen Elemente nur von außen her durch ein Band reiner Faktizität zusammengehalten werden, prinzipiell verschiedenen und höheren Sinn von Erkennbarkeit schreiben wir diese etwa den verschiedenen Pflanzen- und Tierarten oder den Gestirnen und deren Bahnen zu. Wenn wir den Gegenstandsbereich irgendeiner empirischen Wissenschaft (außer der Mathematik, anderer apriorischer Wissenschaften wie gewisser apriorischer Teile der Physik oder Mereologie, und vor allem der Philosophie) im Auge haben, so treffen wir hier auf einen viel höheren Grad von Intelligibilität. Wir sprechen dann von einem echten Verstehenkönnen, von einem Begreifenkönnen, nicht nur von einem platten Feststellen irgendeiner völlig dunklen und uneinsichtigen Tatsache – dies gilt sogar in
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gewissem Maß von der Geschichte, die konkrete menschliche und oft sehr unverständliche Wirklichkeiten betrachtet, die aber dennoch einen gewissen Grad der Verstehbarkeit besitzen, wenn auch keineswegs den höchsten, den Giambattista Vico ihnen zuschreibt; in Wirklichkeit ist die Natur von den meisten Gesichtspunkten aus viel intelligibler als die Geschichte und insofern Kunstwerke und andere Produkte menschlicher Schöpfung hohe Verstehbarkeit besitzen, ist dies nicht die Folge des in den meisten seiner Bedeutungen falschen Vico’schen verum-factum Prinzips der Fall.157 Und in diesem Sinn, in dem etwa ein Kunstwerk, der menschliche Körper oder auch die Gestirne verstehbar sind, sprechen wir von ontologischer Wahrheit als Intelligibelsein in einem viel höheren Maß als wenn wir von der allgemeinsten Verstehbarkeit allen Seienden reden, das natürlich seinerseits wieder unendlich abgestuft ist. Nach seinem jeweiligen Maß an Verstehbarkeit nennen wir ein Ding im eigentlicheren oder weniger eigentlichen Sinne wahr. Wir sagen, diese Gegenstände sind im eigentlichen Sinn verstehbar, wir können sie nicht bloß feststellen, sondern verstehen. Deshalb sind sie nicht bloße Fakten, sondern sie sind wahr, wobei dieses Wort eine neue Bedeutung gewinnt. „Wahr“ heißt hier das höhere Maß an Verstehbarkeit, Intelligibilität. Es ist diese Eigenschaft, die erst wissenschaftliche Erforschung von etwas sinnvoll macht, weil ein Seiendes auf Grund seiner sinnvollen inneren Einheit, seiner Strukturierung und Gestaltqualitäten, seiner Teilhabe an allgemeinen Wesensformen und Gesetzlichkeiten, in höherer Weise verstehbar und wissenschaftlichen Erkenntnisformen gegenüber zugänglich wird. Aber auch diese zweite Stufe der Einleuchtendheit ist nicht die höchste Stufe ontologischer Wahrheit im Sinne der Intelligibilität. Diese wird auf einer wiederum völlig neuen Ebene erst in den notwendigen Wesenheiten erreicht.
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Vgl. Josef Seifert, „Versteht der Mensch das von ihm selbst Gemachte besser als das nicht von ihm Geschaffene? Kritische Reflexionen über Giambattista Vicos Verum-Factum-Prinzip“, in: Studi italo-tedeschi/Deutsch-Italienische Studien XVII, Giambattista Vico (1668-1744), S. 53-90.
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1.4. Ontologische Wahrheit als die „einleuchtende innere Wahrheit“ des Wesensnotwendigen, Einsichtigen
Eine grundsätzlich neue Stufe innerer Wesenseinheit finden wir nämlich dort, wo die verschiedenen Eigenschaften und Momente einer Sache so tief innerlich geeint sind, daß sie ohne einander gar nicht sein könnten. Hier begegnen wir jener inneren Wesenseinheit, die absolut notwendige Wesenssachverhalte (Wesensgesetze) grundlegt.158 Solcherart ist das Wesen des Seins als solchen und der in ihm gründenden obersten ontologischen Prinzipien, die wir eben besprachen. Solcherart ist das Wesen der Zahlen und der in ihnen liegenden notwendigen Gesetze. Solcherart ist auch das Wesen des moralisch Guten und des unlösbaren Bandes, das dieses mit jenem einzigartigen sittlichen Sollen, mit Freiheit, mit Verantwortung, mit Verdienst und Schuld usf. verbindet. Solcherart ist das Wesen der Person und der Liebe, in denen unzählige notwendige und höchst intelligible Sachverhalte gründen. Erst solche notwendige Wesenheiten und Wesenssachverhalte sind in einem dritten Sinne der zweiten Grundbedeutung von ontologischer Wahrheit wahr. Sie sind nämlich diejenigen Gegenstände, die nicht bloß verständlich sind, sondern die schlechthin in ihrer Wesensnotwendigkeit dem Geist einleuchten, die wir also durch Einsicht oder Beweis in ihrem Nichtandersseinkönnen erfassen. Sie sind die verstehbarsten, die intelligibelsten Dinge. In ihrem Fall erreicht die „Wahrheit des Seins“ als das Verstehbar- und Einsehbarsein eine prinzipiell neue und höhere Stufe. Wir sprechen also hier von Verstehbarkeit des Seins im Sinne der Einsichtigkeit und wir können sagen, nur das ist das wahre Sein, nur das sind die wahren Gegenstände, die nicht bloß so sind, aber auch anders sein könnten, sondern die so sein müssen und deren innere Notwendigkeit gleichsam ein Licht ist, das den 158
Vgl. dazu Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, S. 531-550. Zu einer Unterscheidung des Wesensnotwendigen vom nicht Wesensnotwendigen und den ihrer Soseinsheinheit nach kontingenten Einheiten vgl. Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, sowie What is Philosophy?/Che cos’è la filosofia? (bylingual 4th ed.: engl./ital.), Collana: Testi a fronte n. 46 (Milano: Pompiano, 2001), (with Saggio introduttivo von Paola Premoli De Marchi and Saggio integrativo by Josef Seifert), sowie Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1, sowie ders., Ritornare a Platone.
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Intellekt, wenn er diese Notwendigkeit erfaßt, trägt. Notwendige Wesensgesetze sind deshalb, wie die deutsche Sprache sagt, „einleuchtend“, sie sind einsichtig, evident. Auf Grund ihrer Evidenz wird erst auf ihrem Niveau die prinzipiell höchste Stufe rational erfaßbarer Einsichtigkeit erreicht. So besteht neben der Verstehbarkeit jedes Dinges, auch des zufälligsten, eine höhere Verstehbarkeit, die einen größeren Sinn voraussetzt und Wesensnotwendigkeit, höchst einleuchtende Intelligibilität der notwendigen Wesenheiten, von denen alle Mathematik, Logik und Philosophie abhängt. Doch ist auch diese Einteilung nicht ausreichend, um die Fülle von Unterschieden zu fassen, die innerhalb des Intelligiblen oder Einsehbaren bestehen, das nicht nur von der untersten Stufe der bloßen Wahrnehmbarkeit oder Feststellbarkeit, und in diesem Sinn der Erkennbarkeit, bis hinauf zu den höchsten Stufen des Einleuchtendseins und des Intelligibelund Verstehbarseins reicht, sondern auch noch viele weitere Unterschiede in der Art seiner Verstehbarkeit aufweist. Denn selbstverständlich liegen auch noch innerhalb der evidenten und wesensnotwendigen Gesetze ungeheure Abstufungen verschiedenster Art vor. Es gibt viel reichere, intelligiblere notwendige Wesenheiten – etwa das Wesen der Person – als andere wie das Wesen der Farbe Orange oder des Punktes. Ja es gibt sogar innerhalb der nicht notwendigen Wesenheiten viel tiefere, viel unerschöpflichere Gebilde, etwa eine konkrete Person, als innerhalb formaler notwendiger Wesenheiten, etwa mathematischer, von denen Schopenhauer sagt, daß sie zwar absolut evident sind, uns aber nichts an ihnen liegt. Jedenfalls, wie wir als Ergebnis der vorausgegangenen Untersuchungen festhalten, muß man innerhalb der ontologischen Wahrheit der Erkennbarkeit eine ungeheure Abstufung anerkennen, die einerseits in einer Art quantitativer Richtung eines immer „mehr verstehbar Seins“, andererseits in eine qualitative Richtung inneren Reichtums der Intelligibilität geht. In einem allgemeinsten transzendentalen Sinn ist alles Seiende wahr und verstehbar, aber innerhalb dieses transzendentalen abstrakten Wahrseins159 159
Im Sinne der univoken, aber abstrahierenden Begriffe des Seins und der Transzendentalien, die Duns Scotus den notiones propriae entgegensetzt. Siehe
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gibt es ungeheuer viele Abstufungen: Von der untersten Stufe bloßer Feststellbarkeit und Wahrnehmbarkeit an bis hinauf zu den höchsten Formen des verstehbaren, einleuchtenden, einsichtigen Seins gibt es viele Grade der Intelligibilität. Auch sind manche Wesensinhalte arme, dünne „Formen“, wie etwa mathematische notwendige Wesenheiten und Gesetze. In schärfstem Gegensatz zu deren mit Dürftigkeit gepaarten präzisen Strukturen stehen qualitativ und inhaltlich „reiche“ Wesen und Gegenstände wie Liebe, Person, Sittlichkeit, Dankbarkeit, Erkenntnis oder Freiheit bis hinauf zum absoluten Sein. Wenn sich die Philosophie objektiver Wesensgesetze und Wesenheiten auf logische und formal-ontologische Zusammenhänge beschränken möchte, um die viel inhaltlicheren Wesenheiten wie Zeit, Zeitlichkeit, Person, Freiheit, Sittlichkeit, Liebe usf. auszuschließen, verliert sie ihr Interesse und wird existentiell unanziehend; außerdem verkennt sie die unermeßliche Sphäre intelligibler Gegenstände philosophischer Erkenntnis.160 Auch begegnen wir innerhalb der Gegenstände einer Philosophie der Religion einer ganz anderen Form reicher, aber geheimnisvoller Intelligibilität, welche diese Dimension der ontologischen Wahrheit auf ihren höchsten qualitativen Stufen in Form unerfindbarer Wesenheiten besitzt, entweder im Sinne absolut einsichtiger, aber zugleich geheimnisvoll tiefer notwendiger Wesenheiten wie derjenigen des Heiligen, oder einer ganz besonderen Art: die einleuchtenden Wesenheiten der erhabensten religiösen Akte und Tugenden, wie der Demut, der Anbetung oder der Gottesliebe, besitzen einerseits eine evidente innere Struktur und einen erhabenen Wert, andererseits verleihen erst Inhalte, die nur durch religiöse Akte des Glaubens voll erfaßt und angenommen werden können, diesen wesenhaft und in der Vernunft einleuchtender Weise erhabenen Akte ihr vernünftiges Fundament.161
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dazu Seifert, Essere e persona, cit., Kap. 5. Dies scheint mir eine Gefahr der von Barry Smith, Kevin Mulligan, u.a. mitbegründeten Manchester Schule des phänomenologischen Realismus zu sein. Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Sonderauflage (Munich: Verlag C.H. Beck, 1962); Max Scheler, „Probleme der Religion“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, 5. Aufl. (Bern und München: Francke Verlag, 1968), S. 101-354. Vgl. Auch Josef Seifert, “L’Homme aurait-il pu avoir inventé Dieu? Réflexions sur la non-inventabilité de Dieu et son rapport avec la foi” in : Atheism and Dialogue
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1.5. Die Grenzen der Einteilung der Seinswahrheit der Erkennbarkeit und ihre Verbindung mit der ontologischen Wahrheit in den vorhergehenden Bedeutungen
Hier gilt es allerdings hinzuzufügen, daß die von mir vorgeschlagene Einteilung der Grade und Arten der Intelligibilität und Verstehbarkeit der Dinge keineswegs die einzige ist. Nicht nur besitzen alle Arten der Wesenserkenntnis auch ihrerseits einen Bezug zur urtümlichen Intelligibilität des realen Seins, des ens und des esse, in deren Licht allein wir überhaupt erst die meisten „Wesenspläne“ (eide) erkennen können, da ja z.B. nur wirkliche Personen eben Personen sind, nur wirkliches Erkennen tatsächliches Erkennen ist usf. und also das Wesenswas des Personseins oder Erkennens verwirklichen.162 Nicht nur gibt es ferner einen Fall, in dem die Notwendigkeit des Wesens und Daseins zusammenfällt.163 Vielmehr gibt es auch einen Reichtum der Intelligibilität etwa in Personen, deren Akten und Schicksalen, oder in musikalischen Kunstwerken, die zwar kontingent sind, im Vergleich mit denen jedoch manche notwendige Wesenheiten, wie die mathematischen, logischen usf. nur eine überaus „dünne“ Intelligibilität aufweisen. Deshalb können in vielen Fällen Dichtungen oder musikalische Kompositionen und andere Kunstwerke oder auch individuelle Persönlichkeiten, oder gar die freien Taten Gottes, ohne wesensnotwendig zu sein, doch eine reichere und tiefere Intelligibilität besitzen als notwendige Wesenheiten. Eine umfassendere Philosophie der Seinswahrheit in ihrer zweiten Grundbedeutung als Erkennbarkeit des Seins müßte also auf die verschiedenen Abstufungen der Intelligibilität eingehen, auf deren Existenz wir nur stellvertretend durch die Bezugnahme auf wenige grundsätzlich verschie-
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XXIII-1 (Città del Vaticano: Segretario per i non Credenti 1988), sowie ders., Essere e persona, ch. 14-15; ders., Gott als Gottesbeweis2; ders., “Scheler on Repentance”, in: Max Scheler, John Crosby (Ed.) American Catholic Philosophical Quarterly, 79, 1 (Winter 2005), 183-202, sowie die philosophischen Teile von Dietrich von Hildebrand, Die Umgestaltung in Christus. Über christliche Grundhaltung. 5. Aufl. (St. Ottilien: Eos Verlag, 1988), Kap. 2, S. 30-38. Siehe dazu J. Seifert, “Essence and Existence”, Kap. 1. Siehe dazu J. Seifert, „Kant und Brentano gegen Anselm und Descartes. Reflexionen über das ontologische Argument“, S. 3-30.
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dene Formen einer solchen Abstufung hingewiesen haben, vor allem durch Hinweis auf die Linie, die von bloßen Fakten über sinnerfüllte Wesen zu den notwendigen Wesenheiten führt.164 Wenn es Gott gibt, so gibt es über alle Abstufungen der Erkennbarkeit hinaus ein Sein, in welchem die beiden bisher unterschiedenen prinzipiell verschiedenen Grundbedeutungen von ontologischer Wahrheit, Realsein und Intelligibelsein, sich im höchsten denkbaren Maße gegenseitig durchdringen. In einem höchst wahren Seienden müssen notwendiges Wesen und notwendiges Dasein eins sein. Es ist also sowohl vom Standpunkt der Realität als auch von dem der Intelligibilität aus im höchsten Sinne wahr.165 1.6. Der Vorteil des Begriffs der ontologischen Wahrheit als Erkennbarkeit und Einsehbarkeit anstatt der Identifizierung von Wahrheit mit dem autonomen Sein und der Wirklichkeit selber
Gegenüber der ersten Grundbedeutung von ontologischer Wahrheit, deren Identifizierung mit dem Realsein, besitzt der zweite grundsätzliche Sinn von ontologischer Wahrheit einen grundlegenden Vorteil. Er schließt nämlich, im Gegensatz zum ersten, das Besondere der Wahrheit ein, das was Thomas als ratio veri bezeichnet, nämlich ihren Geistbezug oder ihren Bezug zu der prinzipiellen und eigentümlichen Sphäre des Erkennens, und indirekt des auf dieses gestützten Urteilens, die gegenüber dem Sein als solchem ein eigenes Wesen besitzen, das sich keineswegs in allem Seienden oder allem realen Seienden findet.166 Dennoch wäre es eine falsche Verengung des reichen Begriffs der Seinswahrheit, wenn man von der ersten Grundbedeutung von Seinswahrheit ganz absehen wollte. Dies gilt erst recht von einer weiteren Bedeutung von Seinswahrheit, die uns zum eigentlichen Kern der ontologischen Wahrheit führt.
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Siehe dazu vor allem D. von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. 4; übers. F. Wenisch, Was ist Philosophie?, S. 63 ff. Vgl. zur Rolle dieser höchsten Verstehbarkeit der absoluten Wesenheit Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2, bes. Kap. 2; 6-11. Siehe insbesondere Thomas von Aquin, De Ver., Q. 1, a. 2-3.
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1.7. Die Unerschöpflichkeit der ontologischen Wahrheit und die Endlichkeit des menschlichen Geistes Solem etsi non videat oculus nycticoracis, videt tamen eum oculus aquilae Während das Auge der Nachteule die Sonne nicht sieht, sieht sie doch das Auge des Adlers Thomas von Aquin, Comm. in Metaphys. Arist., 2, 1, n. 286167
Eine philosophische Grundfrage, in deren Beantwortung sich Subjektivismus und Idealismus vom Realismus scharf unterscheiden, betrifft die ontologische Wahrheit im zweiten Sinne der Intelligibilität des Seins (1.3) in Hinsicht auf ihr Verhältnis zum menschlichen Geist. Es erhebt sich nämlich die Frage, ob die evidentermaßen jedem Seienden zukommende Wahrheit eine Zuordnung des Seienden zum endlichen oder zu einem absoluten Geiste ist. Pieper interpretiert viele Thomasstellen,168 aus denen hervorgeht, daß der Aquinate annahm, daß alles Sein potentiell vom menschlichen Geist erkannt werden könne, wenn dieser Bezug zum menschlichen Geist auch, im Gegensatz zur Beziehung der Dinge auf den göttlichen Intellekt, durch die sie ihr Sein empfangen, akzidentell für das Sein der Dinge selbst bleibe. Auch schloß Thomas keineswegs aus, sondern behauptete im Gegenteil, daß diese ontologische Wahrheit als in sich selber dem Seienden eigentümliche Offenheit des Seins gegenüber dem Geist und Erkennen zugleich mit einer unendlichen Transzendenz der Intelligibilität und des Lichtes des Seins gegenüber dem menschlichen und jedem endlichen Intellekte einhergehe.169 Innerhalb dieser Thesen können wir noch verschiedene Thesen und Fragen unterscheiden: a. Sicherlich, die Dinge können sein und viele Dinge sind, obwohl kein Mensch sie erkennt. Jede realistische Metaphysik wird dies anerkennen.170 b) Es ist zweifellos so, daß die Intelligibilität der Dinge die Erkenntniskraft des Menschen übersteigt. Dies gilt sogar für so einfache Dinge wie 167 168 169 170
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, zit., Buch II, 1. Siehe J. Pieper, op. cit., Kap. iii, 2; iii, 3. Vgl. Thomas von Aquin, Compendium theologiae, lb. 1, cap. 106. Siehe J. Seifert, Back to Things in Themselves. Dort wird der Versuch unternommen, diesen Realismus philosophisch zu begründen.
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für das Schachspiel, das gewissermaßen unendliche Dimensionen besitzt, die unser Erkennen übersteigen.171 Die Wahrheit des Seins ist für den Menschen ein „unaustrinkbares Licht“, wie Pieper formuliert, und gerade die am höchsten intelligiblen Dinge sind für unseren Verstand in gewissem Sinn die dunkelsten, da das unendliche Sein mehr als alle endlichen Seienden die Kraft des menschlichen Erkennens, es zu erfassen, übersteigt, ja über diese unsere Erkenntniskraft unendlich hinausragt. Hier läßt sich ein gültiger Sinn der via negativa anwenden: das Nichterkannte des Seins übersteigt für den Menschen alles Erkannte.172 c) Die in gewissem Sinne gleichwohl bestehende Zugeordnetheit des menschlichen Geistes auf alles Erkennbare wird dabei keineswegs in Abrede gestellt. Eine Fähigkeit des Erfassens des Unendlichen ist dem Menschen wesenseigen, ja konstituiert ihn mit als Person und macht Metaphysik überhaupt erst möglich.173 d) Doch folgt daraus zwar, daß alles Sein ein allgemeines potentielles Erkennbarsein des Seins für den menschlichen Geist kennzeichnet, keineswegs jedoch, daß alle Dimensionen der ontologischen Wahrheit dem endlichen Geist zugänglich wären. Sie übersteigen vielmehr unendlich die Fassungskraft des endlichen Verstandes und, sollte dies mit seiner Formulierung geleugnet sein, wäre die These Thomas von Aquins, daß alles Sein und alle Wahrheit potentiell vom menschlichen Geist erkannt werden 171
172
Vgl. J. Seifert, Schachphilosophie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989), Kap. 1, S. 14 ff. Darauf legt besonders die sokratische Weisheit des „Wissens des eigenen Nichtwissens“ wert, die Sokrates so definiert: Es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein, und mit diesem Orakel dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts, und offenbar nicht dies vom Sokrates zu sagen, sondern nur mich zum Beispiel erwählend, sich meines Namens zu bedienen, wie wenn er sagte: Unter euch, ihr Menschen, ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt.
173
Platon, Apologie, 23 a f. Auch Aristoteles betont das ungeheure Hinausreichen des Seins über alle menschliche Erkenntnis, die gleich der Nachteule die Sonne des Seins und das in sich Intelligibelste nicht deutlich zu schauen vermag, in Metaphysik, Buch II, 1. Siehe dazu die von J. Pieper (op. cit. Kap. v) zitierten Thomas-Stellen aus Summa Theologica I, Q. 77, e.3 ad 4; I, Q. 8, a. 1, c. Siehe auch J. Seifert, Essere e persona, Kap. 6, 9-15.
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KAPITEL 1
könnten, falsch, ja dämonisch, wie Gadamer zu Recht den Anspruch bezeichnet, die Dinge an sich in jenem Sinne zu erkennen, wie sie in sich in der Vollständigkeit aller ihrer intelligiblen Aspekte sind.174 Thomas drückt diesen Sachverhalt an verschiedensten Stellen ganz klar als etwas aus, was eine niemals aufhörende und in der Begrenztheit unseres Geistes liegende Grenze jedes endlichen Verstehens ist.175 Für Bonaventura findet für diesen Sachverhalt das schöne Bild, daß der Mensch zwar das Unendliche nicht teilweise, sondern ganz erkennt, es aber doch allseitig sein Erkennen übersteigt, ähnlich wie die Sonne sich in einem kleinen Wasser oder Spiegel ganz spiegelt, aber doch in sich selber die Fläche des Wassers immens übertrifft.176 2. Ontologische Wahrheit als Entsprechung zwischen Wesen und Erscheinung des Seienden Thomas legt die mit der Erkenntnis bzw. Erkennbarkeit der Wahrheit verbundene ontologische Wahrheit, bezüglich deren Begriffs er auf Anselm verweist, noch in einem ganz anderen Sinne aus. Er deutet sie nicht nur als ein absolutes Phänomen der Erkennbarkeit oder auch der Entsprechung zwischen Sein und göttlicher Idee (worauf wir zurückkommen werden), sondern sieht sie auch in einem besonderen Verhältnis zwischen Seiendem und menschlichem Verstand gründen. Noch spezifischer gesagt, geht es dabei um ein besonderes Verhältnis zwischen Erscheinung und Wesen eines Seienden im Hinblick auf einen begrenzten, und noch präziser, auf den menschlichen, Geist, weil der endliche Geist und vor allem der Mensch allein, auf Grund seiner leib-seelischen Natur, 174
175 176
Allerdings darf dieses Urteil keineswegs auf den Anspruch ausgedehnt werden, mit dem der philosophische Realismus steht und fällt, nämlich etwas vom Sein und Wesen der Dinge, wie sie in sich – unabhängig davon Objekt menschlichen Denkens zu sein – sind, zu erkennen. Zu den verschiedenen Bedeutungen von „Ding an sich“ und zu Gadamers These vgl. Seifert, Back to Things in Themselves, cit., S. 227-231. Vgl. Thomas von Aquin, Compendium theologiae, lb. 1, cap. 216. Siehe Étienne Gilson, Die Philosophie des hl. Bonaventura, 2. Aufl. (Köln: Hegener, 1960); vgl. auch Josef Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit“.
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gewisser Täuschungen als Täter oder Opfer fähig ist. Thomas erblickt diese Wahrheit des Seins primär darin, daß eine Sache so erscheint wie sie ist und daß sie deshalb den Menschen zur richtigen Meinung über sie selbst führt. Daher erblickt der Aquinate folgerichtig die entsprechende Falschheit darin, daß die Diskrepanz zwischen Wesen und Erscheinung den ihr begegnenden Menschen irreführt und geneigt macht, etwas Falsches über sie zu glauben, etwa daß sie Gold sei, während sie in Wirklichkeit Katzengold ist. Erst recht besteht dieses Phänomen ontologischer Wahrheit, das im Unterschied zu anderen Bedeutungen ontologischer Wahrheit auch einen Gegensatz ontologischer Falschheit kennt, in der Sphäre der Personen, die durch Wort und Ausdruck wahre oder falsche Erscheinungen erwecken können. Hier können wir wahre Frömmigkeit, die so erscheint, wie sie ist, und die falsche prätendierte Frömmigkeit eines Tartuffe, klar unterscheiden. Für Gott gebe es diese Art der Wahrheit und Falschheit nicht, da Er das wahre Wesen der Dinge kennt und sich nicht täuschen läßt. Thomas deutet mit diesen Gedanken auf einen wichtigen und gültigen Sinn von „ontologischer Wahrheit“, den wir hier nicht weiter behandeln, weil es sich dabei nicht eigentlich um einen weiteren Sinn von ontologischer Wahrheit oder ontologischer Falschheit handelt. Vielmehr hat Thomas hier das erkenntnistheoretisch relevante Phänomen eines „objektiven Scheins“ im Auge, der den Menschen zu Irrtümern führt und über den Balduin Schwarz in seinem Buch über den Irrtum in der Philosophie eindrucksvolle Analysen vorgelegt hat.177 Gewiß gibt es das von Thomas angezielte Phänomen wirklich und analysiert er es korrekt: Und es ist klar, daß jedes beliebige Ding im Vergleich mit dem göttlichen Verstand wahr ist, wie Anselm im Buch über die Wahrheit (Kapitel 7, 8, 11 und 12) sagt. Also ist Wahrheit in allem Seienden, denn es ist hier, was es in der höchsten Wahrheit ist. Darum kann im Vergleich mit dem göttlichen Verstand kein Ding falsch sein; aber im Vergleich mit dem menschlichen Verstand findet sich bisweilen eine Ungleichheit des Dinges und der Erkenntnis, die gewissermaßen vom Dinge selbst verursacht wird; denn das Ding ruft durch das, was von ihm nach außen in Erscheinung tritt, eine Kenntnis seiner in der Seele hervor, denn unsere Erkenntnis nimmt ihren 177
Siehe dazu auch J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, Teil I, Kap.3. Dort werden mögliche Mißverständnisse des Begriffs des objektiven Scheins untersucht.
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KAPITEL 1 Anfang von den Sinnen, deren natürliches Objekt (per se objectum) die sinnlichen Qualitäten sind; darum heißt es im I. Buch über die Seele (Kom. 2), daß die Akzidenzien viel zur Erkenntnis dessen, was etwas ist, beitragen; wenn darum an irgend einem Dinge sinnliche Qualitäten in Erscheinung treten, die auf eine Natur hinweisen, welche ihnen nicht zu Grunde liegt, so sagt man, daß dieses Ding falsch sei; so sagt der Philosoph (Metaphysik VI, 5 Kom. 34 und 4 Kom. 37), falsch sei das, was dazu angetan sei, entweder so zu scheinen, wie es nicht sei, oder als das, was es nicht sei; z.B. falsches Gold, an dem äußerlich die Farbe des Goldes und andere derartige Accidentien in Erscheinung treten, während doch innerlich nicht die Natur des Goldes zu Grunde liegt. Und doch ist das Ding nicht in der Weise Ursache der Falschheit in der Seele, als ob es notwendig Falschheit erzeugte; denn Wahrheit und Falschheit haben ihr Dasein vornehmlich im Urteil der Seele; sofern aber die Seele über die Dinge urteilt, leidet sie nicht von den Dingen, sondern ist vielmehr in gewisser Weise tätig. Darum heißt das Ding nicht falsch, weil es immer eine falsche Beurteilung hervorruft, sondern, weil es dazu angetan ist, sie durch das, was von ihm in Erscheinung tritt, hervorzurufen. Da jedoch, wie gesagt (a 5 u. 8), der Vergleich des Dinges mit dem göttlichen Verstand der wesentliche ist, so heißt es im Hinblick auf ihn an sich wahr; doch der Vergleich mit dem menschlichen Verstand, hinsichtlich dessen es nicht absolut wahr heißt, ist zufällig und so ist, schlechthin (simpliciter) gesprochen, jedes Ding wahr und keines falsch; aber in gewisser Hinsicht (secundum quid), nämlich im Verhältnis zu unserer Erkenntnis, heißen manche Dinge falsch.178
Dabei kann man noch einmal das objektive Verhältnis zwischen Erscheinung und Sein einer Sache von der Eigenschaft der Sache, eine falsche Meinung zu erwecken, abgrenzen. Das erste Verhältnis besteht absolut. In diesem Sinne erkennt auch, ja gerade Gott, das wahre oder unwahre Verhältnis zwischen Sein und Erscheinung einer Sache. Die Eigenschaft eines Seienden hingegen, auf Grund seiner irreführenden Erscheinung eine falsche Meinung über sich zu erwecken, gilt nur im Hinblick auf den endlichen Geist. Wie wir sehen werden, darf man unter ontologischer Wahrheit im Sinne des wahren Freundes nicht bloß die Verborgenheit oder Unverborgenheit oder auch nicht die bloße Klarheit der Erscheinung als Zeichen oder Manifestation des Wesens einer Sache 178
Siehe Thomas von Aquin, De veritate, Q. I, a. 10.
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verstehen.179 Vielmehr gibt es eine objektive ontologische Wahrheit oder auch Unwahrheit, die im Erfüllen oder Abweichen eines Dinges von seiner Wesensintention liegt. In dieser Hinsicht besteht das Wahrsein oder Falschsein eines Dinges ganz objektiv, in sich, gleichermaßen vor Gott und vor dem Menschen, ja noch ungleich deutlicher vor einem allwissenden Wesen, in bezug auf das Thomas zu Recht den „objektiven Schein“ ausschließt. So lassen sich für die ontologische Wahrheit und Falschheit im Sinne der Entsprechung zwischen einem Seienden und seinem wahren Wesen oder seiner göttlichen Idee der obige Thomas-Text und die darin zitierte Aussage Anselms, der behauptet, vor Gott seien alle Dinge wahr und keines falsch, nicht halten; hingegen trifft Thomas in der zitierten Stelle sehr richtig jene ontologische Wahrheit und Falschheit, die darin besteht, daß die Erscheinung des Dinges dazu angetan ist, eine falsche Meinung über sich in uns zu erzeugen, was natürlich für ein allwissendes Wesen nicht gilt.180 3. Ontologische Wahrheit als Entsprechung (Adaequatio) zwischen Ding und einem transzendenten Maß 3.1. Wahrheit als ontologische Entsprechung zwischen einem Ding und einem transzendenten Maß
Die vorhin erörterte Dimension der ontologischen Wahrheit, hinsichtlich derer man ein Seiendes als solches nur in dem Ausmaß als wahr bezeichnen kann, in dem es gut ist, führt uns organisch zu einem weiteren Sinn von „ontologischer Wahrheit“: einer Korrespondenz im ontologischen, nicht bloß im gnoseologischen Sinne. Die hier gemeinte ontologische Wahrheit ist nicht einfach ein Merkmal des Seienden selbst, auch nicht seine innere Intelligibilität, sondern vielmehr eine Eigenschaft, die ein Ding kraft seiner Entsprechung zu etwas, also im Verhältnis zu etwas anderem, besitzt. Und zwar geht es hier um eine wirkliche Entsprechung, nicht mehr um eine potentielle wie bei der Erkennbarkeit des Seins. Dabei besteht diese Seinswahrheit nicht etwa einfach in der realen epistemolo179
180
Vgl. dazu die interessanten Ausführungen über die Wahrheit des Seins in Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 7. Siehe Thomas von Aquin, De veritate, Q. I, a. 10, eben im Text zitiert.
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KAPITEL 1
gischen Beziehung des Dinges zum wirklichen Erkanntsein von einem Geist. Das hier gemeinte „einem Maß Entsprechen“ kann unmöglich einfach auf ein Erkanntsein als solches reduziert werden, da ja auch alle ontologisch gesprochen unwahren, d.h. von ihrer Idee abweichenden Dinge, erkannt werden können. Vielmehr geht es um eine Übereinstimmung mit einem dem Ding transzendenten und von Erkenntnis als solcher ganz verschiedenem „idealen Maß“ bzw. Wesensmaß. Seinswahrheit gehört dann einem Ding nicht einfach in sich an, wie seine Realität oder auch sein Wert, sondern liegt in seiner Entsprechung zu etwas anderem. Doch was ist dieses Andere? 3.2. Seinswahrheit als Entsprechung zwischen einem Seienden und seiner Idee (seinem transzendenten Eidos) – das erste ‚transzendente Maß‘
Innerhalb dieser weiteren Grundbedeutung von ontologischer Wahrheit liegt eine erste Bedeutung von ontologischer Wahrheit dort vor, wo die Angleichung an das Wesen nicht nur im Sinne einer Entsprechung des Dings mit seiner eigenen inneren Wesensform, sondern als eine Angleichung an eine der Sache selbst transzendente Idee oder Wesensform im Sinne der platonischen eide gedacht wird. Die Tatsache, daß wir die hier intendierte Wesensentsprechung meist nur im Hinblick auf Wertträger wie Kunstwerke, Freundschaft oder Liebe aussagen, ist nicht zufällig, sosehr auch Martin Heidegger in Liebe und Haß „gleich ursprüngliche Formen der Eigentlichkeit“ erblickt.181 Denn letzten Endes ist nicht der seine Idee erfüllende Haß oder die eigentliche Grobheit wahr zu nennen, sondern nur das eigentliche Gute. So sprechen wir etwa von wahrer Freundschaft und von falscher Freundschaft, von wahrer Liebe und von falscher Liebe. Und wenn wir wahre falscher Liebe, wahre Freundschaft falscher Freundschaft gegenüberstellen, dann meinen wir nicht eine Entsprechung zu unserem Erkennen, sondern haben eine Annäherung der Wirklichkeit an die Idee im Sinne eines sinnerfüllten oder sogar eines notwendigen und in unvergleichlicher Weise intelligiblen Wesensplanes, der dem Ding entsprechenden Wesenheit, im Auge. Ein wahrer Mensch ist einer, in dem Berufung und 181
Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche (Bd. I und II). Feullingen, Günther Neske 1961.
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Wert des Menschseins ihre Erfüllung finden, von dem im eigentlichen Sinne gilt: ecce homo,182 eine wahre Gerechtigkeit oder Liebe sind solche, die ihrer zutiefst werthaften Wesenheit konform sind.183 Die Wahrheit des Lebens in diesem Sinne liegt also in einer Angleichung des Lebens an das Gesollte, Gute, an seine „wahre Wesenheit“ oder „Idee“, an das „Ideal“.184 Wenn wir hier von „Idee“ reden, meinen wir nicht bloß irgendeine subjektive Idee. Vielmehr sind für diesen Begriff ontologischer Wahrheit objektive Wesen, Wesenheiten oder Soseinseinheiten vorausgesetzt, deren Sinn und innere Einheit keineswegs bloß von ihrem faktischen Zusammen182
183
Thomas von Aquin verwendet den Ausdruck “veritas humanae naturae” sehr oft, manchmal im hier vorliegenden Sinne, den er auch als “perfectio humanae naturae” bezeichnet (vgl. In Libros Sent., In IV Sent., d. 44, a. 2 D, co), andere Male in jenem der Wirklichkeit der menschlichen Natur (etwa jener Jesu Christi). Unter der Wahrheit des Seins und des Lebens in diesem Sinne versteht auch Thomas eine Angleichung des Seins an das rechte Maß, das er “recta ratio” oder “rectum intellectum” nennt. Vgl. etwa Thomas von Aquin In Libros Sent., In IV Sent., d. 46, q. 1, a. 1C, RA 3: Prout vero actiones nostrae comparantur ad intellectum ut regulatum ad regulam, sic secundum quod intellectus rectus est regula actionum, est veritas vitae; secundum vero quod est regula aequalitatis constitutae in rebus, est veritas justitiae.
Vgl. Thomas von Aquin, In Libros Sent., In IV Sent., d. 46, q. 1, a. 1C, co: Et quia veritatis ratio consistit in adaequatione rerum ad intellectum; inde est quod nomen veritatis transfertur ad significandum adaequationem operum justitiae ad rationes justitiae; et haec est veritas quam dicimus justitiae veritatem; et secundum hoc ipsa justitia idem quod veritas est; sed tamen justitia dicitur secundum aequalitatem exterius constitutam; sed veritas dicitur secundum commensurationem exterioris aequalitatis ad rationes quae sunt in mente; et secundum hoc veritas et justitia eodem intellectu in deo accipiuntur.
Diese Wahrheit des Lebens versteht Thomas auch als ein Leben, das auf dem Fundament der erkannten Wahrheit beruht und in dem man Gott in jener Weise verehrt, die ihn in seiner Wahrheit erkennt. Vgl. Thomas von Aquin, Summa Contra Gentiles, L. 1, cap. 20, 36: Huic autem veritati demonstratae concordat divina auctoritas. Dicitur enim Ioan. 4-24: spiritus est deus, et eos qui eum adorant, in spiritu et veritate adorare oportet. 184
In diesem Sinne faßt die auch Thomas von Aquin auf, wenn er in Summa Theologica I, q. 16, a. 4, RA 3 sagt: Veritas autem vitae dicitur particulariter, secundum quod homo in vita sua implet illud ad quod ordinatur per intellectum divinum, sicut etiam dictum est veritatem esse in ceteris rebus.
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KAPITEL 1
gedachtsein oder ihrem Erkanntsein durch uns oder selbst durch den göttlichen Geist abhängen.185 Das bloße Erkennbarsein und sogar das tatsächliche Erkanntsein, selbst durch Gott, oder gar das einer rein subjektiven Idee, die wir uns von einer Sache machen, Entsprechen eines Dinges kann diese Wahrheit keineswegs konstituieren. Daß eine Frau dem Wunschtraum ihres Mannes entspricht oder umgekehrt, macht Mann oder Frau keineswegs in diesem ontologischen Sinne „wahr“. Daher erscheint es uns als eine falsche Psychologisierung der „ontologischen Wahrheit“ in dem Sinne der Entsprechung der Dinge mit ihren Ideen, wenn diese von Josef Pieper186 und Thomas von Aquin187 hinsichtlich des praktischen Intellekts bloß mit den Erkenntnissen oder auch den Ideen im Geist des Künstlers oder Schöpfers188 identifiziert werden, wobei wir ja alles erkennen können, auch was ganz von seiner „wahren Wesenheit“ oder Idee abweicht. Daß ein Gebäude oder ein Theaterstück der subjektiven Idee des Künstlers entspricht, macht es keineswegs zu einem wahren Kunstwerk, wenn diese Idee nicht dem Guten und der wahren Wesenheit der Kunst überhaupt und des individuellen Kunstwerks entspricht, einer Wahrheit, die von Sinnprinzipien und idealen Regeln bestimmt ist, welche keineswegs hinreichend beschrieben sind, wenn man sie als Idee des Künstlers bezeichnet. Bei genauerer Betrachtung zeigt es sich allerdings, daß viele Texte von Thomas andere Interpretationen offenlassen. Diese Texte kann man so interpretieren, daß sie „göttliche Ideen“ im Sinne der wahren und wertmäßig bestimmten eide und Formen annehmen; wenn die wahren Dinge aber diesen wahren Ideen „entsprechen“, so läßt sich dies keineswegs auf eine bloße Übereinstimmung mit Erkenntnis reduzieren: und so werden die künstlich und künstlerisch hervorgebrachten Dinge durch 185 186
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Vgl. dazu Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1. Siehe J. Pieper, Wahrheit der Dinge, a.a.O., II, 6/7, S. 46-48. Eine gewisse Korrektur dieser Konzeption findet sich in vielen augustinischen Stellen Thomas von Aquins und deren Interpretation durch Pieper. Ebd., Kap. iii, 1 ff., S. 57 ff. Bei Thomas kommt der Ausdruck „Wahrheit der Dinge“ (etwa „in rei veritate“) sehr häufig vor. Wenn es sich um den göttlichen Schöpfer handelt, fällt diese Idee des Schöpfes freilich mit der wahren Wesenheit des Dinges zusammen.
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ihre Hinordnung auf unseren Verstand (Geist) wahr genannt. Es wird nämlich ein Haus wahr genannt, das Ähnlichkeit mit jener Form erlangt, die im Geist des Künstlers ist... Und in ähnlicher Weise werden die Naturdinge wahr genannt, insofern sie die Ähnlichkeit jener Formen annehmen, die im göttlichen Geist sind.189
Wenn diese Formen nichts wären als die Idee und die Erkenntnis des Künstlers, müßten wirklich alle Dinge wahr sein, wie Pieper im Anschluß an Thomas behauptet. Wenn jedoch die Ideen und Formen etwas in sich Sinnvolles, Geeintes oder gar Notwendiges sind, dann sind sie ein Maß, von dem sich die Dinge in der Tat, soweit notwendige Wesensgesetze nicht automatisch und notwendig in jedem Seienden realisiert werden wie das Widerspruchsprinzip, entfernen können, wie wir das im ethischen und künstlerischen Bereich finden.190 Im Hinblick auf sinnvolle Naturen oder notwendige Wesenheiten als Fundament notwendiger Sollensgesetze und Ideale gibt es daher sehr wohl Falschheit der Dinge, unwahre Liebe etc. und dann bedeutet die Übereinstimmung mit der Idee viel mehr als Übereinstimmung mit der Erkenntnis des Schöpfers, eine Übereinstimmung, die ja hinsichtlich der göttlichen Schöpfung für alle Dinge und auch alle Erzeugnisse und Taten geschaffener Personen zutrifft und es daher nicht gestatten würde, ontologisch wahre falschen Dingen gegenüberzustellen.191 189
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Siehe Thomas von Aquin, Summa Theologica I, Q. 16, a 1. Vgl. auch ders., Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1, a. 2, co. Dabei ist interessant, daß Christian Wolff und Baumgarten behaupten, die ontologische Wahrheit bestehe im Gegensatz der Dinge zur Unordnung des Traumes und in ihrem den Prinzipien vom Widerspruch und zureichendem Grund Gehorchen, worauf Pieper (ebd., Kap. ii, 5, S. 43 ff.) allzu kritisch eingeht. Denn in der Tag liegt im Realen und sogar im Möglichen, insoferne es diesen Prinzipien gehorcht, ein innerer Sinn. Die wirklichen Seienden erfüllen damit, daß sie im Einklang mit diesen universalen Prinzipien stehen, eine innere objektive Bedingung für Sinn, die freilich das reiche Phänomen ontologischer Wahrheit niemals erschöpfen kann. Dies erkennen übrigens auch Thomas von Aquin und J. Pieper dort an, wo sie von der „göttlichen Kunst“ und den Urbildern sprechen, sowie von deren Nachahmung der göttlichen und unendlich sinnvollen Wesenheit. Von daher müßte Thomas
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KAPITEL 1
Daher meint man mit „Wahrheit“ die Entsprechung zwischen einem Ding, bzw. seinem realen, konkreten Wesen und seiner Idee oder, wie man es auch ausdrücken kann, den Grad der Teilhabe eines Dinges an dem vollen Sinn und Inhalt seines ewigen Wesensplanes.192 Diese Bedeutung von wahr ist eine, die von Platon an in der Philosophie der ontologischen Wahrheit eine große Rolle spielt. Auch bei Thomas und überhaupt in der ganzen mittelalterlichen Theologie läßt sich dieser Sinn von Wahrheit als Gemäßheit der Idee, als Grad der Annäherung zwischen dem einzelnen Ding und dem, was in dessen Wesen angelegt ist, das es zu haben beansprucht oder das es voller verwirklichen sollte, nachweisen. Das „Gemessensein“ einer Sache durch ihren Wesenslogos bzw., wenn man die notwendigen und intelligiblen eide als göttliche Ideen betrachtet, durch den göttlichen Geist, ist viel mehr als bloß ihr Erkanntsein durch Gott, und besteht vielmehr in dem Empfangen ihres Maßes von ihrem wahren Wesen, von ihrem objektiven Logos inklusive der intelligiblen Wesenheit und der notwendigen rationes über dieses Wesen. (1) Je objektiver, intelligibler und notwendiger ein Wesen ist und (2) je mehr eine Abweichung von seiner Wesensintention möglich ist, wie in höchstem Maß bei einem freien Wesen, im Sittlichen oder in der Kunst, desto mehr gibt es auch Falschheit als objektiven Gegensatz zu dieser ontologischen Wahrheit. In vielen modernen Philosophien, in denen die Subjektunabhängigkeit des Wesens oder irgendwelcher Urbilder und idealer Formen fallengelassen wird, wie von Hume und Kant an bis hin zum Marxismus oder zu Sartre, in zahlreichen Denkern der analytischen Philosophie und vielen anderen, muß auch diese Bedeutung von ontologischer Wahrheit, als logische Konsequenz aus solchen Philosophien, fallengelassen werden. Freilich dürfen wir nicht übersehen, daß Kant in seinen ethischen Schriften und auch in der Kritik der reinen Vernunft in vielfacher Hinsicht von der Notwendigkeit einer Angleichung menschlichen Tuns und Seins an das absolute Ideal und die Idee der Heiligkeit spricht und so diesen Sinn von
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auch den Gegensatz zu ontologischer Wahrheit, nämlich ontologische Falschheit, anerkennen. Siehe J. Pieper, ebd. Kap. ii, 8, S. 49 ff. Vgl. auch Thomas von Aquin, Summa Theologica I, q. 14, 1. 12, RA 3. Siehe auch die tiefsinnigen Logos-Spekulationen Bonaventuras in In Sent. I, d. 31, 2, 2. Hex. I, 13. Zu den Gründen dieses Terminus vgl. mein Sein und Wesen, Kap. 1.
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Exemplarität und ontologischer Wahrheit voraussetzt, so etwa in der Kritik der reinen Vernunft, obwohl diese dort kein tragfähiges philosophisches Fundament mehr besitzt.193 Vor allem in der Ethik Kants, in der dieser vom Fortschritt des Sittlichen in Richtung auf Heiligkeit und völlige Angemessenheit menschlichen Wollens an den göttlichen Willen spricht und darauf sogar ein Argument für die Unsterblichkeit der Seele als Postulat der reinen praktischen Vernunft aufbaut, liegt diese Bedeutung von ontologischer Wahrheit zugrunde. Doch hindern solche – trotz seiner Grundgedanken, die die Gültigkeit dieser Einsichten eigentlich ausschließen, gewonnenen – Einsichten Kants in diesen Sinn von ontologischer Wahrheit nicht, daß Kants Philosophie theoretisch keinen Platz für diese Dimension ontologischer Wahrheit läßt oder gar dieselbe theoretisch zu begründen vermag, da sie jede in sich notwendigen Wesenheiten und Formen, die nicht bloß vom Subjekt konstituiert sind, ausschließt. Wahrheit als reine Wesensgemäßheit und Angleichung an das Ideal setzt nicht notwendig die platonische Einsicht in transzendente eide oder gar in die Existenz göttlicher Ideen voraus, um als solche erkannt zu werden. Der hier gemeinte Sinn von ontologischer Wahrheit könnte auch in einer rein aristotelischen Philosophie von Potenz und Akt, von Wesensanlagen und ihrer Erfüllung, von Logos oder Berufung der menschlichen Natur oder von einem aristotelischen immanenten Verständnis der eide begründet werden, weil auch hier eine in je verschiedenem Maße objektive Natur und Wesenheit einer Sache angenommen wird, welcher die Dinge mehr oder weniger entsprechen können. Dennoch meine ich, daß die hier gemeinte Dimension ontologischer Wahrheit, ihrer Entsprechung einer ihr selbst transzendenten Wesenheit, eines Wesensplanes, eigentlich erst begriffen werden kann, wenn man mit Platon die Welt des idealen Seins und der ewigen Wesenheiten entdeckt.194 Diese Ideen als Maß der ontologischen Wahrheit der Dinge im Sinne Platons sind ein durch und durch transzendentes Maß dieser Wahrheit, welche die Dinge nur in dem Maß erreichen, in dem sie den Sinngehalt der eide, der rationes aeternae, verwirklichen. 193 194
Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 596 f. Vgl. auch Josef Seifert, Ritornare a Platone, sowie ders., “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, S. 407-424.
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Dabei handelt es sich hier um eine Entsprechung, die man nicht eigentlich als Ähnlichkeit bezeichnen kann, wenngleich dies hier mehr zutrifft als im Falle der Erkenntniswahrheit, wie wir sehen werden. Der konkrete Mensch, die lebendige Person, ist nicht einer Idee oder Wesenheit ähnlich, die weder lebt noch frei noch Person ist. Vielmehr liegt diese ontologische Wahrheit in einer besondersartigen Erfüllung des in der Idee als Wesensplan Angelegten, in einer Verwirklichung von etwas, wofür oder wovon die ewige Wesenheit Idee ist. 3.3. Wahrheit des Seins als Angleichung an die göttlichen Ideen
Gerade in diesem Punkte finden wir in den ersten Anfängen mittelalterlicher und bei den letzten Vertretern antiker Philosophie eine Revolution. Vom Mittel- und Neuplatonismus und vor allem von Philon und Augustinus’ einflußreicher Schrift De Ideis195 werden jene Ideen, denen ein Seiendes entsprechen soll, um wahr zu sein, nicht mehr als bloße ewige abstrakte Formen, als „platonische Ideen“, sondern als „göttliche Ideen“, als ewige Wesensformen der Dinge im göttlichen Geist, gedeutet. So ist ein Seiendes in dem Maße wahr, in dem es seiner gottgegebenen Aufgabe und Berufung, seiner göttlichen Idee, der Idee, die ein personaler Gott von ihm hat, treu ist. Diese göttlichen Ideen sind aber gleich verschieden von bloßer Erkenntnis Gottes wie die platonischen Ideen. Denn Gott hat auch Erkenntnis aller wirklichen und möglichen Abweichungen von diesen wahren göttlichen Ideen.196 Dieser Begriff der ontologischen Wahrheit findet sich, 195
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Siehe Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, Qu. 46, De ideis, in: Eligius Dekkers, ed., Clavis patrum latinorum (C. Beyaert, Brugis – M. Nijhoff, Hagae Comitis, 1961), PL XL. Von großem philosophischen Interesse in diesem Zusammenhang ist Katharina von Genuas theologischer Traktat über das Fegefeuer, der auf Visionen dieser faszinierenden Heiligen zurückgeht. Siehe Saint Catherine of Genoa, Treatise on Purgatory. The Dialogue (New York: Sheed and Ward, 1946). In unserem rein philosophischen Zusammenhang sehen wir in einer Art von epoché von der Glaubenswahrheit ab, die Katharina beschreibt (und an der der Autor und manche seiner Leser festhalten werden) und halten eine von Glaubensinhalten unabhängige philosophische Erkenntnis fest, die darin auch demjenigen aufleuchtet, der an die tatsächliche Existenz des Fegefeuers nicht glaubt. In Katharinas Schilderung leuchtet der evidente Unterschied zwischen göttlicher Idee (eidos und Idee in
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ungeachtet der eben zitierten, sie gnoseologisch versubjektivierenden Thomas-Stellen, eindeutig bei Thomas von Aquin im Gedanken des Empfangens der Dinge ihres Maßes aus der göttlichen Idee, auch wenn Thomas in dem vollen Text der folgenden Stelle einige andere Bedeutungen von ontologischer Wahrheit wie die zwischen Sein und Erscheinung liegende, mit dieser zu vermengen scheint und das ewige Maß der ontologischen Seinswahrheit als Entsprechung fälschlich mit der göttlichen Erkenntnis zu identifizieren scheint, die ja ebenso die ontologisch wahren wie die falschen Dinge und personalen Akte, die von der Idee abweichen, erkennt:197
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Gottes Geist) und göttlicher Erkenntnis auf. Denn dort wird beschrieben, daß die Leiden des jenseitigen Reinigungsortes gerade darin bestehen, daß der Seele ihre Sünden und deren Kontrast mit der reinen göttlichen Idee der eigenen Person auf dem Hintergrund seiner unendlichen Heiligkeit klarwerden und daß die Seele selbst danach verlangt, daß diese ideale göttliche Idee der eigenen Person verwirklicht werde. Dabei erkennt Gott beides vollkommen: diese wahre je einzigartige Idee einer Person und deren Abweichung von dieser Idee, deren volles Maß der Abweichung von ihrem reinen Wesen Gott der Seele aus Liebe erst allmählich enthüllt. Dies zeigt den radikalen Unterschied zwischen wahrer göttlicher Idee und bloßer göttlicher Erkenntnis der tatsächlichen Natur der Dinge. Etwa wenn er a.a.O., schreibt: ... aber die theoretische Erkenntnis ist, weil sie von den Dingen empfängt, gewissermaßen von den Dingen selbst bewegt, und so leihen ihr die Dinge ihr Maß (mensurant ipsum). Daraus erhellt, daß die Dinge der Natur, von denen unser Verstand sein Wissen empfängt, unserem Verstand ihr Maß verleihen (Metaphysik X, Komm. 9); sie aber haben ihr Maß vom göttlichen Geist (sunt mensuratae ab intellectu divino), in dem alles Geschaffene ist, wie alles durch den Menschengeist Hervorgebrachte (artificiata. im Geist des Künstlers. So ist also der göttliche Geist maßgebend, nicht maßempfangend, das Naturding aber maßgebend und maßempfangend; unser Geist dagegen ist maßempfangend und nicht den Naturdingen gegenüber, sondern nur den durch menschliche Kunst geschaffenen Dingen (res artificiales) gegenüber maßgebend. Das Naturding ist also zwischen erkennende Geister hineingestellt (constituta. und wird entsprechend der Übereinstimmung mit beiden wahr genannt…. Entsprechend der Übereinstimmung mit dem menschlichen Geist aber wird es wahr genannt, sofern es geeignet ist, von sich aus eine richtige Beurteilung zu begründen (in quantum nata est de se formare veram aestimationem), so wie im Gegensatz dazu die Dinge falsch genannt werden, welche geeignet sind etwas zu scheinen, was sie nicht sind, oder anders zu scheinen, als sie sind (Metaphysik V, Komm. 34). In der ersten Bedeutung aber wohnt die Wahrheit [der Sache] eher inne als in der zweiten (prima ... ratio veritatis per prius inest rei quam secunda), denn die Angemessenheit an den göttlichen Geist ist früher als die an den menschlichen; darum würden die Dinge, auch wenn es keinen menschlichen Geist gäbe, doch wahr genannt werden in der Hinordnung auf den göttlichen Geist.
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KAPITEL 1
Entsprechend der Übereinstimmung mit dem göttlichen Geist aber wird es wahr genannt, sofern es das erfüllt, wozu es durch den göttlichen Geist bestimmt ist (ordinata).198 So interpretiert Thomas von Aquin auch gewiß zu Recht die erwähnte Wahrheitsdefinition Avicennas, wenn er schreibt: Ein Ding wird wahr genannt, wenn es die Wirklichkeit der eigenen Natur realisiert; deshalb sagt Avicenna in seiner Metaphysik, daß die „Wahrheit eines Dinges die Seinseigentümlichkeit jedes Dinges ist, die diesem bestimmt wurde“, … in dem Maß, in dem es seine eigene Wesensratio, die im göttlichen Geist liegt, nachahmt.199 3.3.1. Die platonischen eide als göttliche Ideen
Wir haben schon die Definition der Wahrheit als adaequatio zwischen Intellekt und Ding kennengelernt. Diese „Angleichung“ kann in zweierlei Richtung erfolgen. Sie kann, wie Thomas sagt, Anpassung des Intellektes an die Sache sein. Dann geht es um die Wahrheit der Erkenntnis oder des Urteils. Wahrheit als „Angleichung“ kann aber auch in umgekehrter Richtung erfolgen und die Anpassung der Dinge an den Geist, oder besser an die rationalen Urbilder der Dinge meinen. Ontologische Wahrheit in diesem Sinne wurde nicht nur in Entsprechung der Dinge an ihre eide und Ideen betrachtet, sondern Augustinus hat in dem Werk De Ideis (der Quaestio 46 der 83 Quaestiones über verschiedene Gegenstände)200 eine kurze Abhandlung verfaßt, die für das ganze 198
199
200
Anselm, Über die Wahrheit; Augustin, Über die wahre Religion. Siehe Thomas von Aquin, De veritate, Q. I, a. 1; Übers. Edith Stein, a.a.O., S. 14/15. Siehe Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, I, 60. Siehe gleichfalls Duns Scotus: “Veritas est conformitas exemplaris ad exemplata”. Collationes seu Disputationes Subtilissimae, Opera ommnia, t. III, 19, 1. Zitiert nach J. Pieper, op. cit., Kap. iv, Anm. 24. De diversis quaestionibus LXXXIII, Qu. 46, De ideis, in: Eligius Dekkers, ed., Clavis patrum latinorum (C. Beyaert, Brugis - M. Nijhoff, Hagae Comitis, 1961), PL XL. Ich habe in einem Aufsatz über Platon vorgeschlagen, bei Platon eine Identifizierung der Idee des Guten mit Gott (dem Demiurgen) anzunehmen und habe eine Reihe von Argument dieser (einstmals schon von Zeller vertretenen) Interpretation entwickelt. Vgl. Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sumtotal of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”,
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Mittelalter entscheidend wurde. Augustinus lobt Platon, weil die philosophische Entdeckung der Ideen eine der größten Entdeckungen der Philosophie und eine der wichtigsten Dinge überhaupt für die Philosophie sei. Augustinus tadelt Platon aber, weil dieser den Irrtum begangen habe, diese Ideen und eÍdh (eide) außerhalb des göttlichen Geistes zu setzen. Damit hätte er den Demiurgen, den „Vater und Schöpfer des Weltalls“, wie Platon ihn im Timaios bezeichnet, also Gott, unter die Ideen gesetzt und diese ewigen Ideen und Urbilder außerhalb des göttlichen Geistes als dessen eigenes Richtmaß aufgestellt. Durch eine solche Ideenlehre aber hätte Platon Gott verendlicht und hätte die eide (Formen) in ihrem letzten Grund als göttliche Ideen nicht erkannt. Da diese eide oder Wesenheiten, so sagt Augustinus, unveränderlich und notwendig sind, dürfen wir sie nicht zwischen Gott und die Welt oder über Gott setzen, sondern müssen sie vielmehr als göttliche Ideen betrachten, da Gott allein ewig sein kann und nichts Ewiges und absolut Unveränderliches außer ihm allein ist.201 Durch diese augustinische Erklärung der platonischen Ideen hat das Mittelalter die ontologische Wahrheit nicht bloß als Grad der Entsprechung einer Sache mit ihrer Idee und ihrem Urbild aufgefaßt, sondern auch als den Grad ihrer Entsprechung mit dem göttlichen Intellekt, ja mit Gott selber, verstanden. Die Ideen selbst werden bei Thomas und Bonaventura – trotz feinerer Unterschiede zwischen beiden Positionen, die wir hier nicht beachten – als das „göttliche Wesen selbst, insofern es von der Kreatur nachahmbar ist“ oder auch als die ewigen Ideen, die Gott von der geschaffenen Welt und ihren Wesenheiten hat, verstanden. Der göttliche Intellekt darf dabei nicht bloß als ein unendlicher Intellekt aufgefaßt werden, der alles Tatsächliche weiß und alles erkennt, wie er von Thomas von Aquin dort aufgefaßt zu werden scheint, wo er sagt, alle Dinge seien im Verhältnis zum göttlichen Geiste wahr.202 Vielmehr ist der
201
202
S. 407-424. Auf diese Interpretation Platons und auf die Frage ihrer Berechtigung haben Gaiser und Krämer als Begründer der Tübinger Platon-Schule sowie G. Reale neues Licht geworfen, indem sie den ungeschriebenen Lehren Platons und seiner Theorie der Prinzipien und idealen Zahlen nachgegangen sind. Vgl. G. Reale, Verso una nuova interpretazione die Platone, Kap. 15 ff. De veritate, Q. I, a. 10.
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KAPITEL 1
göttliche Intellekt, wie schon der nous bei Plotin, der „Ort der ewigen, unwandelbaren und notwendigen Ideen“, denen die Dinge und vor allem die Personen entsprechen, aber von denen sie auch in vielerlei Hinsicht abweichen können. Daher ist ontologische Wahrheit in diesem Sinn dann in der mittelalterlichen Philosophie seit Augustinus so begriffen worden, daß sie den Grad der Entsprechung eines Dinges an die Idee, die Gott von diesem Ding hat, oder an das ewige Urbild, das in Gottes Geist von diesem Ding lebt, darstellt. Falschheit des Dinges bestünde dann in der Abweichung desselben von seiner göttlichen Idee, Bestimmung und Berufung. Thomas setzt diese Wahrheit, bezüglich deren Begriffs er auf Anselm verweist, und die ja eine unendliche Abstufung kennt (obwohl er von ihr auch im Verhältnis zum menschlichen Verstand, etwa zu den Ideen im Geist eines Künstlers, spricht) vor allem in ein Verhältnis zum göttlichen Verstand, wie wir gesehen haben, betont dabei aber, daß selbst ein Seiendes, dem diese Wahrheit fehlt oder das sie nicht vollkommen verkörpert, nicht schlechthin falsch genannt werden kann, wohl aus dem doppelten Grunde, daß ihm (1) andere Dimensionen ontologischer Wahrheit sehr wohl zukommen können und daß (2) die vollendete ontologische Wahrheit in diesem Sinne wohl keinem endlichen Ding zukommen kann, da sie ein von uns niemals bis zur Vollendung realisierbares Ideal ist.203 Ontologische Wahrheit im zweiten grundsätzlichen Sinn ist dann letzten Endes der Grad des dem Sinn Entsprechens, der vom personalen Gott seit Ewigkeit erkannt wird und den Dingen verliehen worden ist (stabilitum est, wie Avicenna sagt). 3.3.2. Augustinus und Thomas platonischer als Platon: individuelle Ideen
Nicht nur Augustinus, sondern auch Thomas von Aquin ist noch „platonischer“ als Platon in dem Sinne, daß Platon Ideen von den allgemeinen Wesen, aber höchstens mit Vorbehalt und wohl eher gar nicht Ideen von den Einzeldingen annimmt, währenddem Thomas von Aquin, 203
Siehe Thomas von Aquin, De veritate, Q. I, a. 10: Es wäre auch nicht richtig, darum alle Dinge falsch zu nennen, weil alle Dinge hinter dem zurückbleiben, wozu sie bestimmt sind.
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wie auch Augustinus, Ideen von jedem einzelnen Ding annehmen, vor allem göttliche und ewige Ideen von jeder einzelnen Person. In diesem Sinn wird die ontologische Wahrheit, etwa von Johannes Damascenus und Beda, auch auf jedes Individuum angewandt, so daß jedem Individuum eine eigene unwiederholbare göttliche Idee entspricht und daher die Annäherung und die ontologische Wahrheit jedes Menschen nicht nur seine Entsprechung der allgemeinen Idee des Menschen überhaupt oder der Gerechtigkeit überhaupt gegenüber ist, sondern vielmehr gleichfalls die Annäherung an die je ureigene und unwiederholbare Berufung und Idee, die er selber realisieren soll. In diesem Sinn fügen Augustinus und Thomas der platonischen Auffassung eine viel individuellere Konzeption der ewigen Ideen hinzu. Im Gegensatz zu Platons Beschränkung der göttlichen Ideen auf allgemeine und ewige Urbilder treten in der augustinischen und thomasischen Version neben universellen rationes aeternae in Gott, die nur kraft ihrer universellen Gestaltung auch alle einzelnen Individuen miteinschließen, die Ideen individueller Dinge und vor allem, und in gänzlich neuem Sinne, individueller Personen. Dieser Gedanke wird später in einem positiven Ansatz Hegels über Allgemeinerkenntnis und vor allem im polnischen Personalismus große Bedeutung gewinnen.204 Sie prägt allgemein die christliche Spiritualität, wo immer sie die ewige und jeweils ganz persönliche Liebe Gottes zu jeder Person hervorhebt. Die ontologische Wahrheit als eine Entsprechung dieses Seienden, vor allem der einzigartigen und je einzigen Person, einer ganz und gar individuellen Wesensidee, die zugleich eine mit ewiger Liebe Gottes seit Ewigkeit gedachte und wunderbare Wert-Idee der Person ist, stellt einen alle platonischen Vorstellungen ontologischer Wahrheit hinter sich lassenden, personalistischen und ebenso gewaltigen wie neuen Begriff ontologischer Wahrheit dar.
204
Vgl. Karol Wojtyáa, The Acting Person (Boston: Reidel, 1979); cf. auch “the corrected text, authorized by the author” (unpublished), (official copy), Bibliothek der internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, Schibbogga 7 B-C, Bendern, Liechtenstein; vgl. auch Josef Seifert, “Karol Cardinal Karol Wojtyáa (Pope John Paul II) as Philosopher and the Cracow/Lublin School of Philosophy” in: Aletheia II (1981), S. 130-199.
140
KAPITEL 1
3.4. Wahrheit des Seins und des Lebens als Verähnlichung mit Gott: ontologische als sittliche Wahrheit
Ontologische Wahrheit kann man dann schließlich nicht nur als Grad der Entsprechung des Seins oder Tuns eines Dinges oder einer Person im Verhältnis zu der ewigen göttlichen Idee seines Wesens oder seiner Individualität, einer Entsprechung, die wir nicht als Ähnlichkeit, sondern als Erfüllung der Idee bezeichnet haben, sondern als Gottebenbildlichkeit und als „Verähnlichung mit Gott“ deuten, so wie sie Platon im Theaitetos als Ziel allen menschlichen Gerechtigkeitsstrebens faßt. Die „Verähnlichung mit Gott“205 wird dort zum höchsten sittlichen und metaphysischen Ziel des Menschen erklärt.206 Freilich setzt eine philosophische Verteidigung dieses tiefsten Punktes der ontologischen Wahrheit voraus, daß die Existenz und fundamentalen Vollkommenheiten Gottes vom menschlichen Verstand, von der „natürlichen“ Vernunft, erkannt werden können. Daß dem so ist, kann ich hier nicht begründen, aber habe einer solchen Begründung philosophischer Gotteserkenntnis eine Reihe von Schriften gewidmet.207 Und wenn man die Existenz Gottes als Gegenstand philosophischer Erkenntnis anerkennt, folgt, daß der tiefste Sinn ontologischer Wahrheit eine Entsprechung zwischen Seiendem und Gott ist. Dabei können ganz verschiedene Stufen und Arten der Gottähnlichkeit unterschieden werden, die das Mittelalter mit verschiedenen Ausdrücken bezeichnete. So unterschied man zwischen den „Schatten“ (umbra) Gottes, die eine Gottähnlichkeit auch innerhalb der materiellen Welt, etwa des Meeres und Himmelsgewölbes, darstellen, und den „Spuren“ Gottes, die den Pflanzen und Tieren eine gewisse höhere ontologische Wahrheit im Sinne ihrer 205 206
207
Vgl. Plato, Theaitetos, 176 b. Siehe Platon, Theaitetos, 176 a ff. Siehe auch J. Seifert, Essere e persona, cit., Kap. ix. Vgl. Josef Seifert, a.a.O., Kap. 10-15; ders., Gott als Gottesbeweis; ders. „Die natürliche Gotteserkenntnis als menschlicher Zugang zu Gott,“ in: Franz Breid (Ed.), Der Eine und Dreifaltige Gott als Hoffnung des Menschen zur Jahrtausendwende (Steyr: Ennsthaler Verlag, 2001), 9-102 und andere, etwa „Kant und Brentano gegen Anselm und Descartes. Reflexionen über das ontologische Argument“ in: Theologia (Athens 1985), 3-30.
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Gottähnlichkeit verleihen. Davon unterscheidet sich wesentlich der Charakter der geistigen Person als „Imago Dei“, als Ebenbild Gottes. Und doch erwirbt auch die Person wahre Gottähnlichkeit und damit höchste ontologische Wahrheit ihres Seins erst durch die similitudo, die sich durch ihre Tugenden und sittlich-religiösen Werte konstituiert. Erst diese Vollkommenheit ist wirklich Gottähnlichkeit, ja eine gewisse Einswerdung mit Gott und „Vergöttlichung“, wie sie natürlich den Abgrund zwischen endlicher und unendlicher Person niemals aufhebt, aber dennoch eine wahre und tiefe Gottähnlichkeit begründet, wie sie der geistigen Person entspricht, die nur durch Liebe und rechten Gebrauch ihrer Freiheit208 wirklich Gott ähnlich wird. Denn wenn sie ihre Freiheit mißbraucht, wird die endliche Person in gewisser Weise viel radikaler der Gottähnlichkeit beraubt als die vestigia oder sogar die „Schatten“ Gottes in der Natur. Bei diesem Sinn der ontologischen Wahrheit geht es nicht nur um eine Verähnlichung mit einer göttlichen Idee, sondern um eine Gottähnlichkeit, wie sie im Mittelalter als similitudo Dei bezeichnet wurde. Gottes innere Lichtfülle und Wahrheit selber ist – im Lichte dieses sublimsten Verständnisses ontologischer Wahrheit – das tiefste Maß der ontologischen Wahrheit und das endliche Seiende ist wahr in dem Maß, in dem es eine Ähnlichkeit mit Gott besitzt. Der eigentlichste Sinn der ontologischen Wahrheit als „Entsprechung“ besteht also in der Gottähnlichkeit.
208
Und nach dem christlichen Glauben zugleich auch nur durch göttliche geschenkhafte Gnade.
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KAPITEL 1
III. ONTOLOGISCHE WAHRHEIT „ÜBER DEN DINGEN“ ALS INNERE WAHRHEIT DER EIDE UND DER IDEEN SELBST UND ALS INNERE WAHRHEIT DES ABSOLUTEN GÖTTLICHEN SEINS Veritas est qua ostenditur id quod est. Augustinus, De Vera Religione, xxxvi In libro illius lucis quae veritas dicitur. Bonaventura209
„Entsprechung“ oder „Verähnlichung“ mit ewigen Ideen oder mit Gott aber können nicht den tiefsten Punkt ontologischer Wahrheit erreichen.210 Ontologische Wahrheit auf Grund einer ontologischen Entsprechung zwischen Ding und Idee kann nicht die endgültige Form der ontologischen Wahrheit ausmachen, sosehr sie auch in mancher Hinsicht die ontologische Wahrheit als Intelligibilität und sogar die intrinsische (in ihnen selber liegende) ontologische Wahrheit auf Grund seines eigenen Seins und Wesens in endlichen Seienden an Bedeutung übertrifft. 1. Seinswahrheit als innere Wahrheit der ewigen Ideen (Wesenheiten) selbst Die Übereinstimmung der existierenden Einzeldinge mit ihren idealen Wesenheiten, Wesensplänen und göttlichen Ideen, oder mit Gott selbst, kann jedoch nur dann Grund der ontologischen Wahrheit der Dinge sein, wenn diese Ideen und die letzten Urbilder und Wesenheiten selbst jene Eigenschaft besitzen, die wir als innere ontologische Wahrheit bezeichnen möchten. Wir können von ontologischer Wahrheit in einem tiefsten Sinn sprechen, in welchem diese nicht mehr in einer Entsprechung zwischen dem einzelnen Ding und seinem Wesen, seinem eidos oder seiner von Gott 209
210
Ein Augustinus-Zitat Bonaventuras, das sich in dem für unser Thema höchst aufschlußreichen Sermo (IV): Christus Unus Omnium Magister (8), Bonaventura, Doctoris Seraphici S. Bonaventurae Opera omnia, edita studio et cura PP. Collegii a S. Bonaventura, ad Claras Aquas (Quarracchi) ex Typographia Collegii S. Bonaventura, 10 volumina (1882-1902), vol. V 569 findet. In diesem Punkte stimme ich mit Heidegger überein, sosehr ich viele andere Aspekte seiner Wahrheitstheorie für falsch halte.
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gewollten und erkannten Wesenheit oder mit Gott liegt, sondern in der inneren Wahrheit dieser Wesenheiten und Paradigmata, und im höchsten Sinne in der inneren Wahrheit Gottes selbst, der im höchsten Sinne die Wahrheit ist (weshalb der Anspruch Christi, die Wahrheit zu sein entweder Wahnsinn oder Ärgernis erregende Blasphemie ist, … oder Er ist wirklich Gott und Mensch zugleich, worauf wir in Kapitel 5 zurückkommen werden.) Die Wahrheit des Urseins und Urbildes, aber auch die Wahrheit der ewigen Wesenheiten und Ideen kann nicht wiederum in einer Entsprechung liegen. Wenn man von der Wahrheit der Liebe und Freundschaft selbst spricht, dann meint man nicht, daß die Wesenheit der Liebe ihrer Idee entspricht, wie dies von einer konkreten menschlichen Liebe oder Freundschaft gilt. Vielmehr sind jene „Gegenstände“, jene reinen eide und notwendigen Wesenheiten, insofern sie in sich selbst sinnerfüllt, intelligibel und absolut notwendig sind, in einem höheren Sinn ontologisch wahr. Damit ist nicht nur gemeint, daß ihr ideales Sein von ihrem Wesen unabtrennbar ist und sie also notwendig existieren (ideale Existenz besitzen) und eine indivisio ihres idealen esse von dem, was sie sind, besteht. Damit ist ferner nicht nur ihre wesenhafte ontische Autonomie gegenüber jedem menschlichen Intellekt gemeint und nicht einmal, daß sie sich nie ändern oder falsch werden können. Damit ist nicht nur die Beherrschung der kontingenten Welt durch ihr „Gesetz“ gemeint, dem sich kein Einzelding entziehen kann, das ihnen entsprechen und gehorchen muß. Manchen notwendigen Wesensgesetzen, wie dem Widerspruchsgesetze oder der notwendigen Vorausgesetztheit der Freiheit für moralische Werte muß jedes Seiende, das unter sie fällt, gehorchen. Andere, die die Welt nicht notwendig de facto beherrschen, etwa alle normativen Wesensgesetze wie daß ein Mensch Opfer eines Orkans nicht bestehlen soll, sollte jeder Mensch notwendig befolgen. Wenn wir jedoch von der inneren Wahrheit der Wesenheiten reden, ist all dies nicht gemeint. Vielmehr besagt die höchste innere Wahrheit der notwendigen Wesenheiten, daß diese in sich eine Klarheit, Intelligibilität und Fülle an Verstehbarkeit und Einsehbarkeit besitzen, daß sie die causa exemplaris und letzte Quelle aller anderen Wahrheit der Dinge und aller Erkenntnis und deshalb in einem eminenteren und höheren Sinne selber wahr sind. Und es ist diese innere Wahrheit, vornehmlich die Wahrheit der in sich
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KAPITEL 1
notwendigen und im höchsten Sinne intelligiblen Wesenheiten und Wesensgesetze, die sich von der Seinswahrheit aller kontingenten und konkreten Dinge unterscheidet, weil sie in keiner Weise mehr in einer Entsprechung liegt, sondern Ziel, Urbild, und Maß aller Wahrheit der Entsprechung mit ihnen sind. In dieser höheren inneren Wahrheit der ewigen notwendigen Wesensformen erst finden wir dann auch das letzte und nicht mehr selber gemessene Maß der ontologischen Wahrheit der Dinge, insofern diese in dem Maße wahr sind, als sie jene Wesenheiten möglichst rein verkörpern bzw. an ihnen in sehr verschiedenen Weisen teilhaben. Allein von dieser höheren und rein inneren Wahrheit, die Pieper nicht als solche von der Intelligibilität der realen kontingenten Dinge abhebt, sagt Augustinus in einem doppelten Sinne, daß sie iniudicabilis sei und daß wir in ihrem Licht über alles andere urteilen, sie selbst aber weder im Licht von irgend etwas anderem kritisch beurteilt werden noch ein Kriterium außerhalb ihrer selbst für die Wahrheit unserer Erkenntnis von ihnen besitzen, weil sie selber das äußerste Wahrheitskriterium sind, hinter das wir niemals zurückgehen können. Vielleicht ist es noch mehr dieses Merkmal ihrer Intelligibilität als jenes der Notwendigkeit, zusammen mit dem Wegfallen einer Entsprechung im Verhältnis zu etwas anderem, also dieses „eine letzte Quelle aller Intelligibilität Sein“, was diese höhere Form nicht nur intrinsischer, sondern rein innerer ontologischer Wahrheit, die wir hier im Auge haben, auszeichnet. Es ist die hier gemeinte innere Wahrheit jene der rationes aeternae, und zwar ganz gleichgültig, ob deren Sinnfülle und Intelligibilität dem menschlichen Verstehen wesensnotwendiger Zusammenhänge zugänglich und daher evidens quoad nos ist, oder ob ihre Intelligibilität nur von einem höheren oder gar nur dem höchsten Intellekt tatsächlich erkannt werden kann und deshalb nur quoad se evident ist. In dem letzteren Falle kann unser Auge der Nachteule das Licht ihrer inneren Wahrheit nicht schauen, sondern kann sie nur vom Auge des Adlers erschaut werden. Dann ist ihre Sinnfülle und Intelligibilität ein für den Menschengeist „unaustrinkbares Licht“, welches nur in jener Wahrheit der rationes aeternae aufgezeichnet ist, das Bonaventura als „das Buch jenes Lichtes, das Wahrheit genannt wird“, (“liber illius lucis quae veritas dicitur”) bezeichnet.
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Die ontologische Wahrheit in diesem Sinne transzendiert also sowohl die Erkennbarkeit durch den menschlichen Geist als auch die Wahrheit der kontingenten Dinge, welche in einer Entsprechung mit diesen notwendigen Wesenheiten liegt. Vielmehr ist diese höchste Wahrheit „über dem menschlichen Geist“ und „über den Dingen“, jenseits aller Entsprechung, und doch ist sie von entscheidender und letztbegründender Bedeutung für alle Seienden und für alle Erkenntnis. Es ist die Wahrheit des Maßes und eine Quelle der ontologischen Wahrheit aller Seienden. Zugleich ist diese innere Wahrheit der notwendigen Wesenheiten auch letzte Quelle aller menschlichen und aller Erkenntnis überhaupt. Denn diese innere Wahrheit der Wesenheiten selber ist es, von der Augustinus sagt, daß es in ihrem Licht erst sei, daß wir Licht erkennen und daß sie uns alle Dinge erst zeige. Denn wir können nichts erkennen, ohne zugleich das Licht mancher wesensnotwendiger Wesenheiten und Sachverhalte wie des Widerspruchsprinzips und ungezählter anderer zu erkennen.211 Die notwendigen Wesenheiten selbst sind überdies in ihrer inneren Sinnhaftigkeit wahr, d.h. einleuchtend im höchsten Grad der ontologischen Wahrheit im Sinne der Intelligibilität. Da sie aber diese Intelligibilität nicht mehr aus einer anderen Quelle außer ihnen schöpfen, wie dies alle endlichen Dinge und Wesen tun, sondern in und aus ihrer eigenen inneren notwendigen Wesenheit selber, sind sie, als Quelle und Maß aller Intelligibilität, auch in höherem Sinne wahr und zugleich die letzte Quelle und das letzte Maß aller anderen Arten von ontologischer Wahrheit im Sinne der Intelligibilität der Dinge. Sie werden nicht zuletzt aus diesem zusätzlichen Grund, daß sie nicht nur in höherem Maß intelligibel und einsichtig sondern auch nicht mehr selber wegen einer ÔrjðóthV (orthotes) und Beziehung zu einem anderen Maß intelligibel sind, sondern Quelle und Maß aller anderen Intelligibilität sind, ontologisch wahr genannt. Man könnte weiters bei diesem ihrem Bezug zum erkennenden Geist 211
Und da Augustinus sagt, daß diese notwendigen und höchst intelligiblen Wesenheiten nur in Gott sein können, weil nichts ewig sein kann außer Ihm, liegt in ihrer Erkenntnis auch, wie Augustinus hervorhebt, eine rein natürliche Illumination, die nichts mit Gnade und Offenbarung zu tun hat, sondern an welcher sogar der Teufel, der gewisse notwendige Wahrheiten erkennt, teilhat. Es handelt sich hier um eine rein natürliche und folgerichtig aus der Natur der Objekte objektiver apriorischer Erkenntnis abgeleitete “illuminatio” durch Gott.
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KAPITEL 1
verweilen und hinzufügen, daß wir diese letzte Wahrheit, diese innere Wahrheit, auch deshalb wahr nennen, weil sie ein letztes inneres Kriterium für ihre eigene Wirklichkeit und für ihre nicht vom Menschengeist Erfundenheit sind, bzw. in ihrer Einsichtigkeit enthalten. Auch dieser Gedanke, daß in den notwendigen Wesenheiten nicht nur der höchste Sinn ontologischer Wahrheit, sondern auch das oberste und letzte Evidenzkriterium liegt, findet sich von der antiken Philosophie, insbesondere von Platon und Aristoteles, an bis zur gegenwärtigen Philosophie.212 Diese erhabene Form innerer Wahrheit ist auch das letzte Kriterium der Transzendenz der eide gegenüber dem menschlichen Geist. Die inneren intelligiblen Wesensnotwendigkeiten sind als höchstes Kriterium der eigenen Objektivität auch höchstes Kennzeichen der Unerfundenheit, ja der Unerfindbarkeit der Wahrheit. Wenn wir etwa bei Augustinus in seiner Widerlegung der Skepsis, oder bei Bonaventura in seiner Abhandlung über die Unfehlbarkeit der Erkenntnis notwendiger Wahrheiten (infallibilitas) lesen, so werden wir darauf aufmerksam, daß die innere Wahrheit, die innere Notwendigkeit dieser Wesenheiten, das höchste Kriterium für ihre Wirklichkeit und dafür ist, daß wir Wesenheiten wie die der Zahlen, der Gerechtigkeit, der Person nicht erfunden haben können. Die Notwendigkeit und die mit dieser verknüpfte innere Intelligibilität werden nicht nur deshalb wahr genannt, weil sie das Maß des Sinnes für die ontologische Wahrheit in den anderen Bedeutungen ist, sondern auch, weil sie in sich selber ein Kriterium für eine dem Subjekt gegenüber unabhängige Seinssphäre und für deren Unerfindbarkeit darstellt. Augustinus spricht in diesem Zusammenhang von der iniudicabilitas, von der Unmöglichkeit, ein weiteres Kriterium zu finden für Wirklichkeit und Wahrheit außer der inneren Wahrheit und Evidenz dieser notwendigen Zusammenhänge selbst. Und indem er von der iniudicabilitas, von der Nichtbeurteilbarkeit im Licht eines anderen Kriteriums, also von der letzten Begründung jedes Wahrheitskriteriums überhaupt spricht, zielt er auf ontologische Wahrheit in dem jetzt erörterten Sinn innerer Wahrheit ab, die nicht in einer Entsprechung mit etwas ihnen Äußerem, Fremden, darstellt. Auch Spinoza mit seinem Satz, daß die Wahrheit das Kriterium ihrer 212
Siehe in Aristoteles besonders Metaphysik, Buch IV; und Zweite Analytik.
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selbst und des Falschen sei (verum est index ipsius et falsi), zielt auf diese höchste ontologische und erst infolge ihrer letzten inneren ontologischen Wahrheit erkenntnismäßige Wahrheit ab. In diesem Satz Spinozas ist gewiß diese innere Wahrheit der einsichtigen Wesenheiten und Wesenssachverhalte gemeint, die dann als Folge ihrer inneren ontologischen Wahrheit auch höchstes und oberstes Maß evidenter Erkenntnis ist. Auch darin, daß sie nicht mehr einem anderen Maß und Kriterium unterliegen, sondern selbst ein solches letztes Erkenntniskriterium sind, liegt eine Folge ihrer innersten, höchst sinnvollen Wahrheit und Notwendigkeit, vor allem wenn sie den Charakter letzter und aus nichts anderem ableitbarer Notwendigkeit besitzen. Nicht von einem Stuhl oder irgendeinem Ding, das wir durch Beobachtung verifizieren müssen, ist hier die Rede, sondern von der einleuchtenden Wahrheit jener Dinge, die durch ihre innere Notwendigkeit und Wahrheit, wenn der Geist sie erfaßt, Kriterium ihrer eigenen Wirklichkeit und Kriterium dafür sind, daß sie nicht vom menschlichen Geist erfunden sind. Man könnte auch diese „innere Wahrheit“ noch einmal nach drei Richtungen bestimmen: 2. Innere Wahrheit als höchste Form innerer Sinnhaftigkeit und Wesensnotwendigkeit Auf diese Bedeutung der ontologischen Wahrheit sind wir schon eingegangen und haben drei wesentlich verschiedene Stufen innerer Einheit und die notwendigen Wesenheiten als höchsten Fall innerer sinnvoller Einheit unterschieden. 3. Innere Wahrheit als Richtmaß der „Annäherung“ der Dinge an die Idee – Ontologische Wahrheit der “causa exemplaris” als Quelle der Wahrheit des “exemplatum” als “adaequatio rei ad intellectum” (ad ideam) Zweitens könnte man diese innere Wahrheit als das letzte und höchste Maß für die Wahrheit als Annäherung der Wirklichkeit an die Idee oder
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KAPITEL 1
das Wesen bestimmen. Als Maß dieser Wahrheit derjenigen Dinge, die den eide und Ideen entsprechen, müssen aber diese notwendigen eide und die höchst sinnvollen Ideen selber in noch eminenterem Sinne wahr genannt werden als jene Dinge, die an ihnen teilhaben, wie wir gesehen haben. Nicht der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern die ewigen Ideen und Wesenheiten.213 4. „Innere Wahrheit“ als höchste Intelligibilität und als höchstes Kriterium der Erkenntnis und Beweis des „in sich selber Seins“ dessen, was jene höchste innere Wahrheit besitzt Ut cum veritas quæ est in rerum existentia sit effectum summæ veritatis, ipsa quoque causa est veritatis quæ cogitationis est, et eius quæ est in propositione So wie die Wahrheit des Seins der Dinge die Frucht der höchsten Wahrheit ist, so ist sie zugleich auch die Ursache jener Wahrheit, die dem Erkennen eigen ist und jener, die sich im Urteil findet Anselm von Canterbury
214
Diese „innere Wahrheit“ ist also auch Höhepunkt der ontologischen Wahrheit in dem Sinn von Intelligibilität und damit auch einzigartiges Maß, Urform und Urquelle aller Verstehbarkeit und Einleuchtendheit der Dinge, wobei man freilich innerhalb der notwendigen Wesenheiten und in ihnen gründenden Sachverhalte noch einmal zwischen den letzten Prinzipien und Urphänomenen und den notwendig aus ihnen folgenden und sich ergebenden notwendigen Wahrheiten unterscheiden muß, wie dies besonders auf dem Gebiet der Logik und Mathematik hervortritt. Daher könnte man diese Urform ontologischer „innerer Wahrheit“, vor allem jene der letzten Urgegebenheiten, auch in dem Sinne bestimmen, daß diese in ihrer höchsten Stufe eine innere Unerfindbarkeit und ein Kriterium dafür einschließen, daß das, was in diesem dritten Sinne wahr ist, nicht 213
214
Und auch weil diese, wie schon Platon sagt, der Gott das höchste Maß nennt, in Gott sein müssen, ist Gott dieses höchste Maß. Vgl. Platon, Nomoi 4.716c. Vgl. auch Platon, Theaitetos, 168 d ff.; 170d; 176 b-c; 178 b. Anselm, De veritate, x, Opera, v. 1, p. 190.
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bloß Fiktion, nicht bloß Erfindung, nicht falsch oder vom Menschengeist oder irgendeiner anderen Vernunft bloß „entworfen“ sein kann, sondern in sich selber etwas ist. Mit anderen Worten treten wir hier mit den objektiven und einleuchtenden Dingen an sich in Berührung, deren Sein unmöglich von menschlicher Subjektivität und Geschichtlichkeit abhängen kann. 5. „Innere Wahrheit“ als wahre Unendlichkeit des Seins, der Intelligibilität und des Guten sowie der realen Existenz: „Ontologische Wahrheit“ im Sinne der reinen Vollkommenheiten in ihrer unendlichen Gestalt – als innere Wahrheit des Absoluten Göttlichen Seins selber, einer höchsten ontologischen Wahrheit, die allein Gott zukommt und die Er IST 215
“Gott nun dürfte wohl vornehmlich das Maß aller Dinge für uns sein“ Und alles was ist außer Dir allein, kann auch als nicht seiend gedacht werden. Du allein bist deshalb der Wahrste aller Seienden und hast deshalb am allermeisten Sein: denn was immer sonst noch ist, ist nicht so wahrhaft, und hat deshalb weniger Sein. Anselm von Canterbury, Proslogion III, S. 103, 6–9: Et quidem quidquid est aliud praeter te solum, potest cogitari non esse. Solus igitur verissime omnium, et ideo maximum omnium habes esse: quia quidquid aliud est non sic vere, et idcirco minus habet esse.
Es gibt noch einen weiteren und allerhöchsten Sinn von „ontologischer Wahrheit“, der uns aufgeht, wenn wir sagen, die endlichen Seienden und auch ihre notwendigen Wesenheiten (der Zahlen, der Bewegung, der Zeit usf.) seien nicht das „wahrste Sein“: Die idealen notwendigen Wesenheiten sind nicht das wahrste Sein, weil sie nicht real existieren, sondern nur ideales Sein besitzen, während das wahrste Sein auch im höchsten Sinne real sein muß. Die allein Gott zukommende ontologische Wahrheit schließt auch jenes einzige notwendige reale Dasein bzw. das letzte Zusammenfallen von Sein und Wesen ein, weshalb allein Gott wahrhaft IST, worauf in erster Linie 215
Platon, Die Gesetze, IV 716 c-d: Gott nun dürfte wohl vornehmlich das Maß aller Dinge für uns sein, und weit mehr als so ein Mensch, wie dies einige wollen.
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KAPITEL 1
Anselm abzielt, wenn er sagt, Gott allein sei „der Wahrste von allen,“ dessen Nichtsein unmöglich und nicht einmal denkbar sei. Gott allein ist der Wahrste in diesem Sinne, weil er allein die Fülle der Wirklichkeit, in welcher Sein und Wesen untrennbar eins sind, ist, jenes einzige Wesen unter allen, das so notwendig und voll real ist, daß es nicht nicht-sein kann (ja für den, der “secundum quod res est” denkt, nicht einmal als nichtseiend gedacht werden kann, wie Anselm sagt: wenn jemand dasjenige, was wir Gott nennen, in seiner einzigartigen Wesenheit, zu welcher das reale Dasein genauso notwendig gehört wie alle übrigen Eigenschaften, als solches betrachtet und in seiner Wahrheit erkennt, kann er seine Nichtexistenz nicht einmal mehr denken). Steine, Meere, Gebirge, räumliche Bewegung, ja selbst lebendige Wesen wie Tannen, Katzen und Schweine, sind nicht das wahre Sein, weil sie – obgleich mit Leben beseelt – wesenhaft begrenzt sind. Und nicht einmal der Mensch – trotz seiner Vernunft und gewaltigen Würde und Werthöhe einer gewissen Unendlichkeitsdimension – ist der wahrhaft Seiende, weil auch er in seiner Vergänglichkeit und Zeitlichkeit eher derjenige ist, der nicht wahrhaft ist, als der wahrhaft Seiende. Alle die genannten Naturen sind wesenhaft, ihrer Natur nach, endlich und begrenzt; und auch ihre ewigen notwendigen Wesenheiten wie jene der Farben, der mathematischen Objekte oder sogar menschlicher Akte, sind ferner nicht das wahrhafteste Sein, weil nicht nur ihre Wirklichkeit, sondern auch sie selber als ideale Wesenheiten wesenhaft begrenzt und endlich sind. Gott hingegen ist unendlich, was auf das engste mit dem verbunden ist, dem wir uns jetzt zuwenden. Gott allein ist ferner der Wahrste, weil er der Beste, ja das Gute selber ist und alle reinen Vollkommenheiten in ihrer unendlichen Form verkörpert. Nur jene Attribute, die wenigstens potentiell unendlich und zwar unendlich vollkommen sind, die also in einem genau zu reflektierenden Sinne „transzendental“ sind, weil sie reine Vollkommenheiten sind,216 wären in diesem Sinne ontologisch wahr, was allerdings weder 216
Nur sie sind in jenem Sinne ‚transzendental‘, in dem man die ontologische Wahrheit der schlechthinnigen Vollkommenheiten auch als transzendentale Wahrheit bezeichnen kann. Diese auf die mittelalterliche Philosophie zurückgehende Bedeutung von ‚Transzendentalität‘ unterscheidet sich radikal von der subjektivistischen kantischen Bedeutung dieses Terminus, die das Transzendentale
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bedeutet, daß alle wesenhaft begrenzten Naturen und Seienden auch falsch seien, noch bestreitet, daß diese reinen Vollkommenheiten auch in ihnen, obgleich in endlicher Form, existieren. Dennoch besitzen endliche Verkörperungen reiner Vollkommenheiten nicht die volle Wahrheit des Seins, sind nicht ein ÂlhjðinvV Ón (alethinos on: ein wahrhaft Seiendes) in jenem Sinne, in dem die reinen Vollkommenheiten nur wahrhaft als „sie selber“ und wahrhaft seiend in Gott bestehen, weil sie allein in Ihm unendlich und voll sie selbst sind: unendliches Sein und Leben, unendlicher Geist, unendliche Erkenntnis, Weisheit, Freiheit, Macht, Güte, Gerechtigkeit.217 Diese ihrer Natur nach der Unendlichkeit fähigen reinen Vollkommenheiten sind nicht das am wahrhaftigsten Seiende, solange sie in begrenzter Form existieren wie menschliche endliche Freiheit, Macht, Sein und Leben, Gerechtigkeit und Güte. Erst die unendliche Verkörperung dieser reinen Vollkommenheiten ist daher das wahrhaftige Sein in diesem Sinne. Nur Gott ist in diesem Sinne der wahrhaft Seiende. Nur unendliche Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit selbst, die wahrhafte Gerechtigkeit, nur unendliche Weisheit wahrhaft Weisheit usf. In diesem Sinne der Seinswahrheit kann man erst recht nicht sagen, jedes Seiende sei wahr und das ontologische verum sei eine Eigenschaft, die transzendental in jenem Sinne sei, daß sie allen Seienden schlechthin zugesprochen werden könne. Vielmehr kommt ontologische Wahrheit in diesem Sinne nur den reinen Vollkommenheiten in ihrer unendlichen Fülle und Gestalt
217
in Gegensatz zum Transzendenten und in Gegensatz zu dem vom menschlichen Subjekt Unabhängigen stellt. Das metaphysische gesehen Transzendentale verhält sich gerade umgekehrt: Das Transzendentale im Sinne der reinen Vollkommenheiten ist das Wahre zugleich wegen der Vollkommenheit des Wertes, die in ihm liegt, und wegen seiner totalen Transzendenz und Unabhängigkeit vom menschlichen Bewußtsein. Im übrigen verwendet hier Pieper den thomasischen Begriff der Transzendentalität, der sich auf alle Seienden erstreckt, statt dem anselmischskotistischen, nach dem die Tranzendentalien nur von allen Einschränkungen frei sein müssen und deshalb ebenso solche reinen Vollkommenheiten umfassen, die nicht allen Seienden gemeinsam sind wie Personalität oder Erkenntnis. In diesem tieferen Sinn von „transzendental“ sind alle Arten von Transzendentalien ontologisch wahr, nicht nur die transzendentalen Seinseigenschaften, die allen Dingen gemeinsam sind. Siehe dazu Seifert, Essere e persona, Kap. 5. Sie alle und viele andere sind nicht wesenhaft endlich und begrenzt. Deshalb nennen wir sie reine Vollkommenheiten.
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KAPITEL 1
zu: Das wahrste Sein ist daher einzig Gott, der allein alle reinen Vollkommenheiten verkörpert. Die ontologische Wahrheit, die Gott allein besitzt, ist auch ein letztes Zusammenfallen und ein absoluter Höhepunkt aller unterschiedenen Arten ontologischer Wahrheit: Nur im absoluten göttlichen Sein kulminieren alle Vollkommenheiten des real Seienden, das allein deshalb die Wahrheit selber und Fundament aller Erkenntnis- und Urteilswahrheit ist; die Fülle der Intelligibilität und des Lichtes der Erkennbarkeit, die ein für jeden endlichen Geist „unaustrinkbares Licht“ ist; die Fülle und Quelle aller Werte und alles Seinsollenden, die wegen ihrer Wertfülle kein Maß mehr über sich hat, sondern in sich höchstes Maß ist, in der Gutheit und Wahrheit zusammenfallen. Nur in diesem umfassenden Sinne aller ontologischen (und aller übrigen) Wahrheit ist es berechtigt zu sagen, Gott sei „die Wahrheit“ und die Wahrheit selbst sei Person, eine Aussage, die etwa Thomas von Aquin ganz anders interpretiert218 als Michel Henry, der versucht, den personalen und lebendigen Charakter ganz vom Seinscharakter zu trennen, den er nur für das innerweltliche Seiende gelten lassen möchte, worauf wir im letzten Kapitel in einer kritischen Untersuchung zurückkommen werden.219 An diesem Höhepunkt der ontologischen Wahrheit erst bedeutet diese auch in keinem denkbaren Sinne dieses Wortes mehr die Entsprechung eines Seienden mit irgendeinem Maße außer ihm,220 sondern ein selber höchste Wahrheit Sein.221 218
219
220
221
Thomas von Aquin interpretiert die Wahrheit, die Gott ist, im Sinne der Worte “ego sum via, veritas et vita” (Joh. 14), in ähnlichem Sinne wie wir. Vgl. etwa Thomas von Aquin, Compendium theologiae, lb. 1, cap. 213. Vgl. auch Thomas von Aquin, Catena Aurea in Ioannem, cap. 1, lectio 17. Vgl. Thomas von Aquin, Principium Biblicum, pars 1. Vgl. Michel Henry, Ich bin die Wahrheit. Für eine Philosophie des Christentums (München: K. Alber, 1997), ein Werk, auf das wir im letzten Kapitel zurückkommen werden. Eine in mancher Hinsicht ähnliche Position vertritt Jean-Luc Marion, Dieu sans l’Être (Paris: Communio/FAYARD, 1982). Was etwa Bonaventura noch für alle notwendigen Wesenheiten außer Gott selbst annimmt, indem er diese als die ewigen logoi aller geschöpflichen Formen der Gottabbildbarkeit durch Geschöpfe bezeichnet, die in dem einen göttlichen Logos enthalten seien. Was für nach dem Glauben des Christen nicht ausschließt, daß es selbst innerhalb
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IV. DIE BEDEUTUNG DER ONTOLOGISCHEN WAHRHEIT FÜR DIE ETHIK: DIE HÖCHSTE WAHRHEIT DES SEINS ALS SITTLICHE WAHRHEIT UND ALS “VERITAS VITAE” Um unsere Ausführungen über die ontologische Wahrheit in einen konkreteren Rahmen zu stellen und in ihrer praktischen Bedeutung besser hervortreten zu lassen, betrachten wir ihre Bedeutung für die Ethik. 1. Die intrinsische ontologische Wahrheit, vor allem als Aktualität des Wirklichen verstanden, im Verhältnis zur Moral Wenn wir all die untersuchten Dimensionen ontologischer Wahrheit und nicht zuletzt auch die erörterte eigentümliche Aktualität des Wirklichen betrachten, erkennen wir, daß alle Arten ontologischer Wahrheit und insbesondere auch jene Ungeteiltheit des Wesens vom realen Dasein, die das Wirkliche gegenüber dem Chimärischen oder sogar gegenüber den idealen Wesenheiten auszeichnet, eine besondere und wichtige Rolle für die Ethik spielt. Die Moral ist ein privilegierter Ort, um den gewaltigen Unterschied zwischen Wirklichem und Unwirklichem einzusehen und den Sinn von Wahrheit des Seins zu erkennen, der allein im Wirklichen sich findet: i) Moralische Forderungen können sich nur an wirkliche Seiende richten, wie auch nur in ihnen die Qualitäten von gut und böse selbst existieren können. Denn unwirkliche Gegenstände und fiktive Personen eines Dramas können unmöglich wahre sittliche Werte tragen. Sie können nicht wirklich gut, gerecht, verzeihend sein. Die Merkmale des Sittlichen können niemals in der Tat und in der Wahrheit in fiktiven Gestalten bestehen. Auch Möglichkeiten oder ideale Gegenstände können nicht sittlich gut sein; nur reale Personen sind gut oder böse. der Trinität im höchsten Abbild des Vaters noch eine andere und absolute Wahrheit der Abbildlichkeit gibt, welche aber ganz anderer Natur ist als jene der unvollkommenen endlichen Seienden, welche in ganz anderem Sinne ein Maß ihrer Wahrheit außer ihnen selber besitzen. Doch liegt dieser Bereich thologischer christlicher Theologie jenseits der Aufgabe dieses Buches.
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KAPITEL 1
ii) Auch gehen die meisten sittlichen Forderungen von wirklichen Personen, die wir bejahen, lieben, denen wir helfen sollen, aus. Die ontologische Wahrheit im Sinne der Wirklichkeit und der Ungetrenntheit zwischen Wesen und Dasein liegt also auch im Ursprung und an der Quelle moralischer Imperative und in den Objekt-Personen, von denen moralische Forderungen ausgehen. Denn wenn auch imaginäre Objekte eines Dramas oder Romans oder bloße Möglichkeiten, die wir in der Phantasie betrachten, Gegenstände sittlich guter oder böser Zustimmung und Verwerfung sein können, so ist doch der eigentliche sittlich bedeutsame Gegenstand immer ein realer oder zu realisierender. Nur das wirklich Seiende hat, in seinen Werten und Unwerten, die Kraft, sittliche Forderungen wirksam zu begründen. Deshalb ist auch das wahre Seiende im Sinne des wirklich Seienden der einzige, oder jedenfalls der primäre Quellgrund sittlicher Imperative. iii) Das Sollen des Sittlichen, das kategorisch die Verwirklichung innerer Haltungen oder nach außen hin wirkender Taten fordert, enthält durch die wesenhafte Richtung auf die Realisierung innerer Akte und Haltungen sowie, in der Sphäre der Handlungen, in denen die Person außerhalb ihrer selbst liegende und durch sie zu verwirklichende Sachverhalte intendiert, auf die außerhalb der Person bestehende wirkliche Welt, wiederum eine weitere Dimension der Erkenntnis des immensen Unterschieds zwischen bloß möglichen, oder vorgestellten, und wirklichen Sachverhalten. Das Verstehen von deren Wirklichkeit ist sogar dort vorausgesetzt, wo wir eine Realisierung durch unsere Taten nur beabsichtigen und nicht erreichen.222 Auch die fruchtlose Handlung aber („freilich nicht etwa als 222
Dies bringt Kant im folgenden Text in einprägsamer Weise zum Ausdruck: Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat. Die
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ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind“), die trotz ihrer Fruchtlosigkeit „wie ein Juwel doch für sich selbst glänzt“, ist auf die Realisierung von Sachverhalten in der wirklichen Welt gerichtet und somit von dem Bewußtsein des unendlichen Unterschieds zwischen der wahren (wirklichen) Welt und der Welt rein intentionaler Gegenstände durchdrungen. 2. Die Wahrheit des Seins im Sittlichen als höhere Intelligibilität und Transparenz des Seins Fragen wir nach jener ontologischen Wahrheit, die in der Verstehbarkeit und Intelligibilität eines Seienden liegt, so besitzen die reinen idealen Wesenheiten der Gerechtigkeit, der Liebe usf. eine viel höhere Intelligibilität als alle realen menschlichen Akte und Taten endlicher Wesen. Diese Intelligibilität hat die größte Bedeutung für die Ethik. Diese kann ja niemals eine empirische Wissenschaft sein, die einfach die faktischen Handlungen der Menschen und deren Eigenschaften erforscht, die meistens nicht rein und nie vollkommen jene Wesenheiten moralischer Akte und Werte verwirklichen, die der Philosoph erschaut. Vielmehr wendet sich die Ethik nicht den empirisch wirklichen und oft gemischten, sondern jenen wahren idealen Wesenheiten sittlicher Träger, Akte und Qualitäten selbst zu, die durch ihre Notwendigkeit und höhere Einsichtigkeit mehr als durch ihre überlegene Realität hervorstechen; aber auch sie sind auf die wirkliche Welt bezogen: sie sind die Bedingung der Möglichkeit realer Dinge, die Quelle der ihnen möglichen Werte, und sie enthalten in ihren zeitlosen Wesenheiten die Gesetze für alle individuellen moralischen Handlungen und sind gleichsam rationes, Wesenspläne für die wirkliche sittliche Welt. Gerade nur deshalb weil die höhere Intelligibilität sie wahrer macht als die faktische Wirklichkeit, aber andererseits die real existierende Welt in Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werthe weder etwas zusetzen, noch abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung sein, um ihn im gemeinen Verkehr besser handhaben zu können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht gnug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um ihn Kennern zu empfehlen und seinen Werth zu bestimmen.
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe (Berlin: Walter de Gruyter & Co., 1968), Bd. IV .
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KAPITEL 1
einem anderen Sinne ontologisch wahrer ist als die ideale Welt, verlangt die rein ideale Wesenswahrheit des Sittlichen dessen Realisierung in der wirklichen Welt als Erfüllung der Sollensforderungen, die ausschließlich im real Seienden und in den wirklichen Taten und Haltungen verwirklicht werden können. Genau besehen setzen die Ethik und die sittliche Sollensforderung verschiedene Bedeutungen ontologischer Wahrheit voraus, und zwar: die Seinswahrheit im Sinne der Realität und der realen Existenz, die Intelligibilität und innere Notwendigkeit, sowie die Wahrheit der Erkenntnis; die Wahrheit des Urteils und die axiologische Wertwahrheit. Dieser müssen wir uns näher zuwenden. 3. Die ontologische Wahrheit des sittlich Guten als axiologische – als Wertwahrheit Betrachtet man die axiologische Dimension der Seinswahrheit als innerer Eigenschaft der Dinge, vor allem der realen Seienden, so kann man leicht einsehen, daß diese Dimension der ontologischen Wahrheit gerade im Lichte der moralischen Werte hervortritt. Denn gerade wegen der Verkörperung sittlicher Werte ist ein Mensch wahrhaft ein Mensch und ein wahrer Mensch; der Böse verfälscht das Sein der Person, er lebt in der Unwahrheit – gerade weil er böse ist. Das Sittliche selbst ist das Wahre. Ja die Grundthese, das Grundprinzip der Ethik, daß das sittlich Gute getan werden soll (bonum est faciendum) bezieht sich auf die axiologische Seinswahrheit, die gerade die Voraussetzung des sittlichen Sollens ist. Denn warum soll der Mensch das sittlich Gute tun und das sittlich Böse meiden, wenn nicht gerade im sittlich Guten das wahre, eigentliche Sein und im Bösen etwas liegt, das der raison d’être und der innersten axiologischen Dimension der Seinswahrheit entgegengesetzt ist? Dieser Bezug zwischen der Wahrheit des Seins im Sinne seiner Werthaftigkeit und der Ethik kommt auch in dem klassischen biblischen Satz zum Ausdruck, unsere sittliche Aufgabe bestünde darin, die „Wahrheit zu
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tun“.223 4. Die ontologische Wahrheit als „Entsprechung“ im sittlich Guten Betrachtet man die ontologische Wahrheit nicht mehr als innere Eigenschaft eines Seienden als solche, sondern als dessen einer Wesenheit und Idee Entsprechen, dann ist dieser Sinn der Wahrheit ebenfalls für die Ethik entscheidend. Nicht die Fakten, nicht die Statistik, nicht das, was alle oder die meisten oder auch nur irgendein Mensch tatsächlich tut, kann Maßstab des sittlich Guten und Bösen sein. Nicht die Wirklichkeit des Daseins konstituiert das im ethischen Sinne wahre Sein des Menschen, sondern allein der Grad der Entsprechung zwischen dem tatsächlichen Tun und Lassen eines Menschen mit den Gesetzen der eide, der notwendigen Wesenheiten und objektiven Ideen des sittlich Guten und der Tugenden. Nur die Angleichung des sittlichen Seins an die innere Wahrheit der Ideen ist Maß des Sittlichen. Und wenn das den Dingen transzendente Maß nicht nur in platonisch aufgefaßten rein idealen Formen (Ideen), ja nicht einmal nur in göttlichen Ideen, hinter denen gleichsam der personale Grunde des denkenden, wollenden, gebietenden und liebenden personalen Geistes steht, sondern als Gott selbst verstanden wird in dem Sinne, in dem Platon, gegen Protagoras, Gott das Maß aller Dinge nennt, dann tritt dieser Sinn von ontologischer Wahrheit wieder in besonderer Weise im Ethischen zutage. Denn wird das Maß ontologischer Wahrheit nach dem Maß und Grad der Gottähnlichkeit eines Dinges bestimmt, und nicht nach der puren Tatsächlichkeit, besitzt wiederum das sittliche Gute in der Person die höchste ontologische Wahrheit, weil es allein die tiefste Gottähnlichkeit, die similitudo Dei begründet, jene homoiosis theo, von der Platon sagt, nur Gerechtigkeit und Liebe zur Wahrheit könnten sie begründen.224 Der Empirismus der Verhaltensforschung, die sogar Rattenexperimente und Tierverhalten zum Ausgangspunkt für ethisches Sollen nimmt, wie
223
224
Vgl. dazu Thomas von Aquin, Catena Aurea in Joannem, cap. 3, lectio 7. Vgl. auch G. Elizabeth M. Anscombe, „Die Wahrheit Tun“, in: Aletheia. An International Yearbook of Philosophy VII 1995-2001 (2002). Platon, Theaitetos 176 b.
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KAPITEL 1
Konrad Lorenz und Wolfgang Wickler, oder von Eiff,225 verkennt diesen eigentlich ethischen Sinn der Wahrheit, der gerade nicht im bloßen Wirklichsein als solchem besteht, sondern in der Verwirklichung der wahren sittlichen Wesenheiten, in der Angleichung unserer Taten an einen diesen selbst transzendierenden Maßstab, der in der Verähnlichung mit Gott kulminiert. Auch in der Diskursethik und der Idee der Konsensfähigkeit als Maßstab des Sittlichen werden wir im Fortsetzungsband Der Streit um die Wahrheit eine derartige Verwirrung erkennen. Das wahre Sein im Ethischen ist also jenes wirkliche und in seinem Sein bestätigte wahre Sein, das seinem ewigen Ideal entspricht oder dieses selber in höchster Form verkörpert: das wahre Sein in seinem tiefsten Sinne ist das verkörperte Gute. 5. Die höchste Erfüllung der ontologischen Wahrheit jenseits aller „Entsprechung“ im absoluten sittlich Guten Wenn wir erkennen, daß sittliche Gutheit wesenhaft zu den reinen Vollkommenheiten gehört, dann sehen wir zugleich ein, daß sie ihre höchste Vollendung nicht im Sinne irgendeines Entsprechens einem Urbild oder einer Idee, sondern in der inneren Wahrheit dieses Urbildes selbst, letztlich aber allein in jenem im höchsten Sinne wahren Sein findet, das alle reinen Vollkommenheiten des Seins und des Wesens in unendlicher Form verkörpert. Diese höchste Form ontologischer Wahrheit des absoluten Wesens muß notwendig auch die höchste Verkörperung des sittlich Guten, die höchste Heiligkeit, sein. In diesem Sinne besteht die höchste ontologische Wahrheit des Seins im Guten, die höchste Wahrheit des Guten im sittlich Guten, beider aber im absoluten Gutsein Gottes.
225
Vgl. etwa Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse (Wien: Borotha-Schoeler, 1963); Wolfgang Wickler, „Ethologie und Ethik künstlicher Empfängnisregelung“, in: Sexualität und Geburtenkontrolle, hrsg. von Hans Göppert und Wolfgang Wickler, (Freiburg im Breisgau, 1970), S. 15-32; August Wilhelm von Eiff, Alfons Auer, Verantwortung für das menschliche Leben: Die Zeugung des Lebens, das ungeborene Leben, das verlöschende Leben (Düsseldorf: Patmos Verlag, 1991).
KAPITEL 2 WAHRHEIT DES ERKENNENS
eÎ gár t™V se Éroito: „!Ar) Éstin tiV, ¥ Gorgía, pístiV q»eud#V ka˜ Âlhjð®V?” fða™hV Án, äwV Êg¾ oÏmai. — GOR. Na™. — SW. T™ dæ? Êpist®mh Êstìn q»eud#V ka˜ Âlhjð®V? — GOR. OüdamvV. — SW. D²lon Ár) aÜ äóti oü taütón Êstin. — GOR. )Alhjð² lægeiV. SOKRATES: ... Wenn dich jemand fragte, gibt es wohl einen falschen Glauben und einen wahren? Das würdest du bejahen, denke ich? GORGIAS: Ja. SOKRATES: Wie? Auch eine falsche Erkenntnis und eine wahre? GORGIAS: Keineswegs. SOKRATES: Offenbar ist also nicht beides einerlei. GORGIAS: Du hast recht. 226
Platon
1. Einleitende Worte über Erkenntniswahrheit als eigenständiges und faszinierendes Ur-Phänomen, dessen Untersuchung und weitere phänomenologische Erhellung insbesondere angesichts seiner Fehlinterpretationen nötig sind Um dem Leser eine Vorausschau auf die Ergebnisse der in diesem Kapitel darzustellenden Analysen zu geben, wollen wir diese Resultate knapp darstellen, auch wenn wir damit dem Gang der Untersuchung vorausgreifen müssen und die entsprechenden philosophischen Begründungen unserer Thesen erst später im Text liefern können. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, daß es neben der Wahrheit des Seins und jener des Urteils eine ganz andersartige Wahrheit, nämlich die des Wahrnehmens, des Erkennens, des Verstehens und der Einsicht gibt.227 226 227
Platon, Gorgias 454c. Übers. Schleiermacher. Auch G.F.W. Hegel spricht, bei aller Vielfalt und Dunkelheit seines Wahrheits-
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KAPITEL 2
Erkenntniswahrheit ist ein Merkmal des Erfassens des Seienden, wie es tatsächlich erscheint, aber auch und vor allem, wie es wirklich und in sich ist. Es soll ferner als evident nachgewiesen werden, daß jede Täuschung und jeder Irrtum, denen diese Wahrheit fehlt, nur möglich sind, weil sie gleichfalls eine wahre Erkenntnis, die niemals falsch sein kann, voraussetzen. Es gibt also an der Wurzel alles Erkenntnislebens und sogar aller Irrtümer und falschen Meinungen echte Erkenntnisse, in denen sich das Seiende jedem bewußt lebenden Menschen so gibt wie es wirklich ist; und diese Erkenntnis ist nie falsch, sondern wahr, wie Augustinus bemerkt: Niemand kann wissen, was falsch ist. Gibst Du mir zu, daß niemand Falsches wissen kann? Aber selbstverständlich, sprach er. 228
Erkenntnis im eigentlichsten Sinne bringt uns ferner nicht ausschließlich mit Erscheinungen, sondern mit Seiendem, nicht bloß wie es uns erscheint, sondern so wie es in sich und an sich ist, in Berührung, worin die Erkenntniswahrheit im präzisesten Sinn des Wortes liegt. Es besteht ferner ein gewaltiger Unterschied zwischen einer Erkenntnis in einem weiteren Sinn, die eigentlich besser als eine richtige Meinung charakterisiert werden kann (weil sie, wie etwa unsere geographische und zu einem großen Teil unsere medizinische und sonstige naturwissenschaftliche und historische Erkenntnis, vom Vertrauen auf unsere Sinne, auf Bücher, Lehrer, Gelehrte, oder Forscher usf. getragen ist und daher nicht ‚reine‘ und evidente Erkenntnis ist), und Erkenntnis in dem engeren Sinn evidenter Erkenntnis. Die erstere ist nur im Sinne eines analytischen Urteils und auf Grund der Definition des Erkennens ‚immer wahr’ (einfach weil wir falsche geographische Urteile und falsche medizinische
228
begriffs, in diesem Sinne von Wahrheit, etwa wenn er von der „wahrsten Einsicht über sich selbst“ spricht. Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 585. (Erstdruck: Bamberg und Würzburg (Goebhardt) 1807. Der Text folgt bis S. 35 der von Hegel kurz vor seinem Tod begonnenen Revision. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 16253 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 399). Augustinus, Contra Academicos, III, 3, 5; PL, 32. Contra Academicos, Eligius Dekkers (Ed.), Clavis Patrum Latinorum [C.Beyaert, Brugis: M.Nijhoff, Hagae Comitis, 1961], Bd. LXIII.
Wahrheit des Erkennens
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Meinungen nicht Erkenntnis nennen, auch wenn sie ganz gleichartige Akte sind wie echte geographische oder medizinische Erkenntnisse und ihre Angemessenheit an die Wirklichkeit ihnen gleichsam nur „von außen“ zukommt). Die zweite, die evidente Erkenntnis, hingegen ist ihrem Wesen nach, unabhängig von unseren Definitionen, immer wahr. Nur auf sie trifft die eingangs als Motto dieses Kapitels zitierte platonische Aussage voll zu: SOKRATES: Wie? Auch eine falsche Erkenntnis und eine wahre? GORGIAS: Keineswegs. SOKRATES: Offenbar ist also nicht beides einerlei.
Die Erkenntnis im eigentlichen und engeren Sinn ist nicht nur äußerlich (durch Übereinstimmung unserer Überzeugungen mit den Tatsachen) wahr, sondern ihrem inneren Wesen nach anderer Natur als ein Irrtum; sie allein besitzt daher Erkenntniswahrheit im strikten Sinn, wie wir zeigen wollen.229 Wir möchten ferner nachweisen, daß der Erkenntnis eine eigentümliche Form der Wahrheit zukommt, die sich zwar radikal von der Urteilswahrheit unterscheidet und eine besondere Form der Unverborgenheit des Seins und des Entdeckens impliziert, die aber nicht so dargestellt werden kann, wie Heidegger sie darstellt, als hätte sie nichts mit Übereinstimmung, assimilatio und adaequatio (ÔrjðóthV, Richtigkeit) gemein. Vielmehr ist diese Erkenntniswahrheit eine ganz besondere und irreduzible Form der ‚Übereinstimmung‘ und des Zusammentreffens zwischen dem Erkenntnisakt einerseits und dem, was ist und was der Fall ist (den Sachen und Sachverhalten) andererseits. Eine solche realistische Philosophie der Erkenntnis und ihrer Wahrheit, welche wir als ein einzigartiges, intentional-geistiges und rezeptives Zusammentreffen und Berührungsverhältnis zwischen Geist und Sein erkennen werden, beruht ferner nicht auf blinden Annahmen, auch nicht, wie viele fideistische Philosophen annehmen, auf einem religiösen oder rein philosophischen Glauben, wie zahlreiche andere Philosophen, vor 229
Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. I, a. 1, co.
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KAPITEL 2
allem von Karl Jaspers oder auch von Wolfgang Stegmüller inspirierte Denker gemeint haben.230 Wir wollen vielmehr die Existenz evidenter und wesenhaft wahrer Erkenntnis, und damit auch die unbezweifelbare Evidenz der Wahrheit einer realistischen Interpretation der Wahrheit des Erkennens, mit Hilfe rein philosophischer und rationaler Einsichten und Methoden aufweisen. Nur eine realistische Erkenntnistheorie, die das Erkennen nicht in ein Schaffen und Verändern von Gegenständen umdeutet, sondern ihren seinsentdeckenden und seinswahrnehmenden Grundzug anerkennt, kann ferner, so wollen wir zeigen, dem Urphänomen dieser Erkenntniswahrheit, einer wichtigen Form der Wahrheit, gerecht werden, ohne die dem Erkennen zukommende Wahrheit auf ganz andere Formen der Übereinstimmung und Entsprechung zurückführen. Und diese Erkenntniswahrheit wird von uns nicht, wie Stegmüller behauptete, unvermeidlich in einem letztlich blinden und unbegründbaren Urteil angenommen, sondern ist uns mit unbezweifelbarer Gewißheit in evidenter Erkenntnis gegeben, und zwar umso eindeutiger, je höher und absoluter der Evidenzgrad einer Erkenntnis ist. Evidenz (und die sie begleitende Gewißheit) aber ist nicht das einzige Merkmal, kraft dessen die Erkenntnis in vielen Graden der Vollkommenheit wahr sein kann. Auch die eng mit der Gewißheit verknüpfte Klarheit einer Erkenntnis bis hin zur reinsten und klarsten Einsicht unterliegt einer Stufenleiter von Steigerungen der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit. Ferner kann man einen andersartigen wichtigen Maßstab der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit seitens ihres Objekts in dem Grad der Verstehbarkeit und Einsichtigkeit der erkannten Gegenstände und Wahrheiten erblicken, bzw. einen Maßstab der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit anerkennen, der von der Vollkommenheit des Verstehens abhängt, den ihr Gegenstand erlaubt: je intelligibler ihr Gegenstand, 230
Vgl. etwa Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft (München: Piper, 1970), oder Karl Jaspers, Von der Wahrheit (München, R. Piper & Co, 1958). Stegmüller denkt mit Recht, daß jeder Beweis unmittelbare evidente Einsicht voraussetzt, deren versuchter Beweis nur zu einem Zirkelschluß führen kann, und daß jede Leugnung der Einsicht sie voraussetzt und deshalb widersprüchlich ist, er meint aber auch, daß letzten Endes aller sogenannten Erkenntnis ein blinder und unbegründbarer Glaube zugrunde liegt. Damit übersieht Stegmüller m.E. den elementarsten und wichtigsten Sinn von Erkenntniswahrheit.
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desto mehr und tiefere Wahrheit besitzt der Erkenntnisakt, der seinen einsichtigen Gegenstand erfaßt. In dieser Hinsicht gipfelt die Erkenntniswahrheit in der Einsicht in die durch sich selbst einleuchtenden notwendigen Wesenheiten und ewigen Wahrheiten. In einer anderen und nicht minder bedeutsamen Hinsicht (die mit der Vollkommenheit der Evidenz oder der Klarheit der Erkenntnis zusammentreffen, sich von dieser aber auch weit entfernen kann) ist eine gegebene Erkenntnis um so vollkommener, je vollständiger und umfassender sie ist. In einer weiteren und an sich von den anderen unabhängigen Richtung ist eine Erkenntnis um so vollkommener, je wichtiger, wertvoller und tiefer ihr Gegenstand ist und je tiefer sie in diesen eindringt. Durch unsere Analyse der besonderen Eigenart der Erkenntniswahrheit hoffen wir auch das Richtige in Heideggers Analysen der Wahrheit als Unverborgenheit und sogar in seiner aufs erste absurd anmutenden These, daß das Falsche oder andere Gegensätze zur Wahrheit dieser vorausgingen, herauszuarbeiten, indem wir Heideggers Erkenntnisse der Wahrheit von zahlreichen Annahmen zu trennen beabsichtigen, die wir für irrig halten. In der Erkenntnis, wenigstens in derjenigen im strengen Sinn, tritt das Seiende tatsächlich aus seiner ursprünglichen Verborgenheit vor dem menschlichen Geist heraus und liegt vor dem Erkennenden, in dem Maß, in dem es von ihm erkannt wird, unverborgen da. Bei aller Anerkennung dieses wesentlichen Beitrags Heideggers zum Verstehen der Erkenntniswahrheit wollen wir uns ganz von jenen Vermengungen verschiedener Probleme und vor allem von den subjektivistischen Elementen lösen, die die Heidegger’sche Philosophie der Wahrheit belasten und auf die wir noch in einem eigenen Kapitel im zweiten Band dieses Werks Über die Wahrheit ausführlich zurückkommen werden.231 Die damit angesprochene Verwirrung kann an dieser Stelle nur knapp gekennzeichnet werden. Sie entsteht fürs erste daraus, daß Heidegger mit der Unverborgenheit abwechselnd und in dunkler Sprache (a) die ontologische Wahrheit im Sinne der Erkennbarkeit des Seins, (b) eine Folge der Erkenntnis sowie (c) ein Element und (d) einen Grund von deren Wahrheit meint; und daß er ferner weder die Erkenntniswahrheit in ihrer Besonder231
Josef Seifert, Der Streit um die Wahrheit, Kap. 9-10.
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KAPITEL 2
heit weiter aufklärt noch sie scharf von anderen Dimensionen und Trägern der Wahrheit abgrenzt, sondern diese verschiedenen und gleichermaßen unerläßlichen Wahrheitsbegriffe vermengt und dann von einem „Wesenswandel“ der Wahrheit redet, der sich in Platons Höhlengleichnis ereignet haben soll (so als könnte ein philosophisches Werk das Wesen der Sachen selbst ändern, worin ich nichts als ein vielleicht intendiertes sophistisches Gedankenspiel mit ganz verschiedenen Wahrheitsbegriffen und deren mit einem historischen Wahrheitswandel verwechselte Vermengung erblicken kann). Den subjektivistischen Irrtum in Heidegger sehe ich zunächst in der Art, in welcher er die Urteilswahrheit als eine besondere Form der Übereinstimmung und deren zentrale Rolle herabsetzt und dabei ihrer Verwerfung nahekommt – sie gegen die a-letheia als Unverborgenheit ausspielend, ohne zu bedenken, daß er eben diese Wahrheit als adaequatio (Richtigkeit, orthótes) in jedem seiner eigenen Sätze voraussetzt. Ein Angriff gegen die Urteilswahrheit und Erkenntniswahrheit als adaequatio muß zu einem fatalen Subjektivismus führen, den ich in Heideggers Versuch erblicke, die offensichtlich auf einen Aspekt der Erkenntniswahrheit abzielende Unverborgenheit auf einen immanenten Zustand des Subjekts zu verlagern (das Entdeckendsein des Daseins), anstatt auch die Erkenntniswahrheit wesenhaft in einem besonderen Adäquations- und Entsprechungsverhältnis zwischen Sein und Erkennen zu erblicken. Trotz solcher im Verlauf unserer bevorstehenden Untersuchungen unumgänglicher Kritik an Heideggers Anschauungen liegt in seinem Gedanken der Wahrheit als Unverborgenheit immerhin eine gültige und wichtige Einsicht in das Wesen der Wahrheit, und zwar primär der Erkenntniswahrheit. Denn Wahrheit die Unverborgenheit des Seins zu nennen hat Sinn nur dort, so scheint es, wo man die Offenheit des Seins für den Geist, die Erkennbarkeit, noch eigentlicher aber, wo man jenes tatsächliche Unverborgensein des Seins vor einem personalen Akt, dem Erkenntnisakt, im Auge hat. Erkenntnis also bringt das Seiende aus dem Schleier der Verborgenheit und des Vergessens in die Unverborgenheit, in der das Sein vor dem geistigen Blick des Erkennenden offenliegt, und gerade deshalb kann die Erkenntnis selber wahr genannt werden. Zugleich aber bleibt das Seiende, wie weit auch immer es endliche Erkenntnis seiner Verborgenheit zu entreißen vermag, dem begrenzten Geist stets ein in seiner unendlichen Fülle Verborgenes; das Sein wird
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niemals ein uns restlos Unverborgenes werden.232 Daher ist das absolute Ideal der unendlich viele Abstufungen und Grade besitzenden Erkenntniswahrheit – das vollendete und restlose Erschauen und Erfassen dessen, was ist – ein Ideal vollkommener und allwissender Erkenntnis und damit vollendeter Erkenntniswahrheit, aber eben damit auch für den Menschen ein reines Ideal, das der Mensch niemals verwirklichen, ja dem er nicht einmal ernsthaft nachstreben kann, ohne in eine luziferische Haltung, wie Gadamer sich ausdrückt, oder zumindest in die pedantische, der eigenen Endlichkeit vergessende professorale Haltung zu verfallen, die Famulus Wagner in Goethes Faust verkörpert, wenn er sagt: Mit Eifer hab’ ich mich der Studien beflissen; Zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich alles wissen.233
Trotz ihrer wesenhaften menschlichen Unvollkommenheiten und Grenzen aber, und diese Einsicht unterscheidet die Anerkennung der Begrenztheit menschlichen Wissens und Erkennens radikal von jedem Skeptizismus, Agnostizismus und Relativismus,234 ist auch die unvollständige und unvollkommene Erkenntnis, deren der Mensch fähig ist, wie noch deutlicher werden soll, wahre Erkenntnis, und als solche ein das Subjekt transzendierender Akt, der das was ist, als solches erkennt und in seiner erkennenden Berührung mit dem Sein eine einzigartige und auf alle anderen Formen der Wahrheit unreduzierbare Erkenntniswahrheit besitzt, die von höchster Bedeutung und eine staunenswerte Leistung und zugleich Gabe des menschlichen Geistes ist. Auch unvollkommene und unvollständige menschliche Erkenntnis ist wahr und unterscheidet sich radikal von Irrtum. Wir müssen beides, die Größe und das Elend der Wahrheit 232
233
234
Auf die Dialektik zwischen Verborgenheit und Unverborgenheit in der menschlichen Beziehung zum Sein hat ja auch Heidegger immer wieder hingewiesen. Goethe: Faust. Eine Tragödie, S. 29. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 22633 (vgl. Goethe-HA Bd. 3, S. 26). Vgl. Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus. Philosophie und Realistische Phänomenologie, Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein. Hrsg. v. Rocco Buttiglione und Josef Seifert, Bd. XIV (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2003).
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menschlicher Erkenntnis, ihre grandeur und ihre misère, wie Pascal sich ausdrückt, im Auge behalten, um den Sachen selbst gerecht zu werden. Auf diese besondere Gegebenheit, jene Wahrheit, die der Erkenntnis als solcher eigen ist, richten wir nun unseren geistigen Blick. Was ist diese Wahrheit der Erkenntnis? Zu einer besseren Beantwortung dieser Frage betrachten wir zunächst eine enge Verbindung zwischen Erkenntniswahrheit und ontologischer Wahrheit. 2. Ontologische Wahrheit und Erkenntnis: das Prinzip der Intelligibilität des Seins als ontologische Grundlage der Erkenntniswahrheit 2.1. Die transzendentale ontologische Wahrheit aller Seinsmodi als Bedingung und Quelle der Erkenntniswahrheit und die Gründe für die partielle Unanwendbarkeit des Satzes von der Intelligibilität allen Seins auf manche rein intentionale und menschenerzeugte logische Gebilde
Schon beim Nachdenken über die allen Seienden innewohnende ontologische Wahrheit sind wir auf die Zuordnung alles Seienden auf den Geist, auf Erkanntwerden und damit auch auf eine besondere Art der Entsprechung von Sein und Geist gestoßen, die wir als Erkennbarkeit, als Intelligibilität oder auch als Offenheit alles Seienden gegenüber dem erkennenden Geist bezeichneten. Um die Wahrheit des Erkennens zu verstehen, müssen wir einige Hauptergebnisse dieser Untersuchungen in Errinerung zu rufen: Bei dem rerum transcendentale geht es nicht notwendig um eine Erkennbarkeit durch den menschlichen Intellekt, der zweifellos viele Dinge nicht weiß und nicht erkennt, und sie auch prinzipiell nicht erkennen kann, weil sie durch ihre unendliche Fülle und Vielfalt seine Erkenntniskraft übersteigen, sondern, wenngleich in jeweils abgestuftem und verschiedenem, analogem Sinne, um eine prinzipielle Offenheit aller seienden und möglichen Dinge gegenüber der Erkenntnis überhaupt. Unter dieses erkennbare Seiende fallen buchstäblich alle Seienden, inklusive aller idealen Gegenstände, aller möglichen Welten und logischen Entitäten (idealer Bedeutungsgebilde wie Begriffe, Urteile, etc.), ja unter es fallen (allerdings mit wichtigen Einschränkungen, auf die wir gleich zurück-
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kommen werden) sogar die „rein intentionalen Gegenstände“, die „reinen Objekte“, denen Roman Ingarden235 und Antonio Millán-Puelles tiefgründige Untersuchungen gewidmet haben.236 Wir sehen ein, daß es eine transzendentale Eigenschaft aller wirklichen und möglichen Seienden, und aller idealen Gegenstände ist, daß sie ihrer Natur nach erkennbar sind. Erkennbarkeit (verum) ist eine Seinsproprietät, die allen Seienden zukommt: jedes Seiende, inklusive aller negativer Sachverhalte und möglichen Welten, kann prinzipiell in den ihm angemessenen Gegebenheitsweisen dem Erkennen zugänglich werden. Dies ist, neben der allgemeinsten Bedeutung von Sein (verum est id quod est), diejenige Bedeutung der transzendentalen Wahrheit, die wirklich, in ihrem allgemeinsten Sinne, allen Seienden aller Seinsmodi überhaupt zukommt: das verum transcendentale, also eine Wahrheit allen Seins aller Kategorien. Wir begegnen hier aber nicht nur einer transzendentalen Seinsproprietät, dem verum transcendentale, sondern auch einem der ersten und allgemeinsten Seinsprinzipien und einem absolut universalen evidenten Sachverhalt: alle Seienden überhaupt sind intelligibel (erkennbar). Alle Seienden, alles Wirkliche und Ideale, alles Mögliche, ferner ideale logische Gebilde wie Begriffe und Gedanken, sowie (solange diese nicht mit der Wirklichkeit und idealen Wesenheiten in Konflikt treten oder konfuse Ausgeburten menschlicher oder dämonischer Geister sind, was ihre Erkennbarkeit einschränkt, ja sie in gewisser Weise anti-intelligibel und in sich unerkennbar macht) auch vom Menschen geformte Gegenstände von Phantasien und Träumen und rein intentionale Gegenstände 235 236
Vgl. vor allem Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Wenn ich auch meine, daß Millán-Puelles fälschlicherweise viele Arten von Seienden, wie ideale Gegenstände und Wesenheiten, zu diesen rein intentionalen Gegenständen (reinen Gegenständen) rechnet. Vgl. Antonio Millán-Puelles, Teoría del objeto puro, Colecciónes Cuestiones Fundamentales (Madrid: Ediciones RIALP, 1990). Ins Englische übersetzt von Jorge García-Gómez: The Theory of the Pure Object, hrsg. v. Josef Seifert in der Reihe „Philosophie und Realistische Phänomenologie. Studien der Internationalen Aakdemie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein“ (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1995), Bd. 2. Vgl. dagegen Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1, sowie mein Vorwort zum Buch von Antonio Millán-Puelles und meinen Aufsatz “El papel de las irrealidades para los principios de contradicción y de razón sufficiente”, S. 119-152.
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sowie Begriffe und Gedanken, also Seiende aller unterschiedenen Seinsmodi, sind prinzipiell verstehbar oder erkennbar. Alles Seiende ist erkennbar (wenn auch aktuell erkennbar nur für einen unendlichen Geist), so können wir das erwähnte Prinzip auch formulieren. Kein wirklich oder ideal Seiendes und nicht einmal ein Mögliches kann schlechthin und prinzipiell jenseits möglichen Erkanntwerdens liegen. Ähnlich wie einsichtigerweise jedes Seiende mit sich selber identisch ist und kein Seiendes zugleich sein und nicht sein kann, ist es, wenn man das reine Wesen von Sein und von Erkennen vor dem geistigen Blick behält, einsichtig, daß unmöglich etwas Seiendes prinzipiell unerkennbar sein kann. Und in diesem Sinne ist jedes Seiende im weitesten Sinne ontologisch wahr, weil es erkennbar ist, wie wir bereits im vorigen Kapitel erörtert haben. Freilich kann das Seiende im weitesten und umfassendsten Sinne – je nach seiner Art und seinem Wesen – viele Grade und Arten der Verstehbarkeit besitzen, die vom bloßen Festgestelltwerdenkönnen oder Beobachtetwerdenkönnen bis hin zur höchsten Einsichtigkeit und Evidenz reichen, aber dies hindert nicht, daß alles Seiende, wenigstens auf der niedrigsten Stufe, erkennbar ist. Diesen notwendigen Sachverhalt haben wir als „den Satz der Erkennbarkeit allen Seins“, oder besser als „das Prinzip der Intelligibilität des Seins“ bezeichnet. Dieses ist eines jener notwendigen Prinzipien, die sich auf alles Seiende schlechtweg, ja auf jedes einzelne seiner universaltranszendentalen Proprietäten und ontischen Bestandteile und Prinzipien, sowie auf alle Seinsmodi, Kategorien und auf alle Individuen erstrecken. Dabei gilt es zu bemerken, daß wir in der Einsicht in das Prinzip der Intelligibilität allen Seins unendlich weit über alle rein empirische menschliche kognitive Erfahrung hinausgehen. Denn für den Menschen ist nicht nur quantitativ der größte Teil der Seienden unbekannt, sondern er rührt in jedem einzelnen Fall seiner Erkenntnis an die Grenzen des menschlichen Verstehens, da nicht nur das unendliche göttliche Wesen, sondern auch jedes einzelne endliche Seiende, und sei es selbst das geringste, die menschliche Erkenntnisfähigkeit überragt, ja in gewissem Sinne quantitativ und qualitativ unendlich übersteigt. Denn die Erkenntnis unendlich vieler (formal-logisch und inhaltlich aus einem gegebenen Sachverhalt folgender) Sachverhalte und Momente sowie deren vollkom-
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menes Verstehen würden ja erfordern, daß wir alles in einem Ding Seiende und alle seine Relationen, Zukunft und Vergangenheit, und vor allem seine Beziehung zum absoluten Sein perfekt kennen und nicht in vielen Wirklichkeitsbereichen auf Sinneswahrnehmungen und deren Interpretation mit allen ihren Fehlerquellen, Vermutungen, Hypothesen, Meinungen, Annahmen der Richtigkeit historischer Quellen und Berichte über Experimente usf. angewiesen wären. Die Vollkommenheit einer allumfassenden Erkenntnis eines jeden Dinges, die es in seinem eigentlichsten Wesen und Sein und in seiner Einordnung in das Ganze des Seins erfaßt und seine letzten Ursachen und Hintergründe unfehlbar schaut, die Wahrheit als das Ganze, ist daher dem Menschen unerreichbar und ein absolutes System oder absolut umfassendes menschliches Wissen sind reine Idole der Philosophie, welche sich angesichts der Unendlichkeit des Erkennbaren und Wißbaren dem Menschengeist prinzipiell unerreichbar zeigen, weshalb sich selbst der größte Wissenschaftler und Denker immer den Geist des sokratischen Worts „ich weiß, daß ich nichts weiß“ bewahren sollte. Dennoch sehen wir ein, daß allein in einer solchen vollkommenen Erkenntnis die absolute umfassende Erkenntniswahrheit liegen kann, die man in diesem Sinne zu recht als „das Ganze“ bezeichnen kann.237 Erkenntniswahrheit ist aber nicht ausschließlich deren vollkommene Gestalt, sondern zeigt sich uns als etwas, das auch in der bescheidensten 237
Den Satz „die Wahrheit ist das Ganze“ verdanken wir Hegel, auch wenn wir dessen Interpretation dieses Satzes ganz ablehnen. Denn Hegel meint mit diesem Satz etwas sehr Verschiedenes, das ich in keiner Weise übernehmen möchte, nämlich ein sich in der Geschichte entwickelndes Absolutes, das auch alle Widersprüche als Teile des Wahren in sich enthält – etwas, was ich aus vielen Gründen für unmöglich und absurd halte, auch wenn das in allen Philosophien gesehene Wahre sicher Teil der ganzen Wahrheit ist: Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.
[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 21. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15689 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 24)].
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Erkenntnis vorhanden ist, jedoch eine unendliche Fülle von Abstufungen zuläßt, so wie ja auch im Reich der Sinneserkenntnis zwischen der totalen Unsichtbarkeit eines Dinges und seiner allseitigen und vollendeten Sichtbarkeit unter allen Aspekten unendlich viele Zwischenstufen liegen.238 In all diesen Einsichten in die besondere Natur der Erkenntniswahrheit aber ist uns deren Fundament in der ontologischen Wahrheit mitgegeben: nämlich daß absolut nichts schlechthin jenseits des potentiellen Erkanntwerdens durch einen Geist liegen kann, daß nichts an sich, bzw. für ein vollkommen angemessenes Verstehen, wie es in der Erkennbarkeit des Seins grundgelegt, ja von ihr zur angemessenen Erfüllung des Phänomens der Erkennbarkeit gefordert ist, schlechthin unerkennbar sein kann, was auch von einer atheistischen Metaphysik her, welche die Realexistenz einer absoluten Erkenntnis bestreitet, anerkannt werden kann, da auch sie die Idee einer vollkommenen Erkenntniswahrheit und der restlosen Offenbarkeit aller Dinge dem Geist klar fassen und deren Natur verstehen kann. Mit dieser Gegebenheit ontologischer Wahrheit aber berühren wir schon eine enge Beziehung der Seinswahrheit zur Erkenntniswahrheit: denn die ontologische Wahrheit in diesem Sinne erweist sich als zuinnerst auf die Wahrheit des Erkennens hingeordnet; sie kann sich erst in der Wahrheit des Erkennens vollenden. 239 Mit gewissen Einschränkungen, da wir hier nicht ausschließlich die intelligible Welt idealer Wesenheiten und rein logischer idealer Bedeutungen, sondern auch die Welt der von Menschen erzeugten und irrealen Gebilde betreten, gilt es auch von nur als intentionalen Gegenständen des Bewußtseins Vorgestelltem oder Gedachtem, von Fiktionen, Traumgegen238
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Oder: „liegen würden.“ Sogar der Atheist, der eine solche reale allumfassende Erkenntnis leugnet, kann deutlich einsehen, daß nur eine solche die schlechthinnige Erkenntniswahrheit besäße. Man könnte sogar aus dieser grundlegenden metaphysisch-erkenntnistheoretischen Einsicht in die Zuordnung allen erkennbaren Seins auf Geist und Verstehen auf die Existenz eines allerkennenden Geistes schließen wollen und etwas wie einen „Gottesbeweis aus der Intelligibilität des Seins“ entwickeln, wobei man neben der prinzipiellen Erkennbarkeit alles Seins auch den metaphysischen Widerspruch einer Welt begründen müßte, in der diese Erkennbarkeit alles Seins durch keine aktuelle Erkenntnis erfüllt wäre oder in der reine Vollkommenheiten wie Erkenntnis nicht in ihrer unendlichen Fülle wirklich wären. Das ist jedoch hier nicht unser Thema.
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ständen, sowie von den ganz anderen, rein begrifflichen, logischen Entitäten, daß sie erkennbar sind, außer von widerspruchsvollen oder absurden Gedankeninhalten und Objekten, deren Gegenstände aus dem Reich des realen und möglichen Seins radikal ausgeschlossen sind, wie viereckige Kreise, oder von verworrenen logischen Gedankengebilden, welche das Produkt von Verwechslungen sind oder von jenen, die, in einer noch grundsätzlicheren Form der Unintelligibilität, gegen die rein logische Grammatik verstoßen, deren Entdeckung einer der bedeutendsten Beiträge der Husserlschen Logischen Untersuchungen zur Sprachphilosophie und Logik war. Nur solche in sich unmögliche oder unbestimmte Gegenstände von Phantasien und Gedanken endlicher Geister, die in sich widersprüchlich oder das Produkt der Vermengung ganz verschiedener Gegebenheiten oder von anderen Verstößen gegen Logik und rein logische Grammatik sind, sind schlechthin unintelligibel und unerkennbar oder sogar anti-intelligibel. Genau genommen müßte auch diese These differenziert werden. Denn die ‚Teile‘ einer widersprüchlichen Idee wie eines viereckigen Kreises können erkannt werden; auch kann erkannt werden, worin die Idee der Synthese ihrer einander widersprechenden Momente besteht. Wir können zudem verstehen, daß und warum diese Momente mit einander unverträglich sind. Nicht hingegen können wir das in sich unmögliche Ding oder Produkt der Verstöße gegen eine rein logische Grammatik selbst verstehen, da dieses wegen seiner Unmöglichkeit auch contra-evident oder wegen seiner in sich logisch unsinnigen Gedankenkomposition unbegreifbar ist. In anderer Weise sind auch das Nichts und das totale Chaos unerkennbar, wobei das Nichts nicht anti-intelligibel ist, wie ein viereckiger Kreis, sondern einfach unintelligibel. Auch dieser Satz muß allerdings differenziert werden: Das Nichts als radikale oder partielle Negation des Seins besitzt eine indirekte Intelligibilität und kann deshalb Gegenstand philosophischer Forschung werden, wobei das „absolute Nichts“ eine so radikale Antithese und Negation des Seins ist, daß wir zugleich die Unmöglichkeit einsehen, daß absolut Nichts sei. Dennoch behält selbst diese auf eine absolute und in sich unmögliche Abwesenheit allen Seins hinweisende Idee des Nichts eine gewisse Intelligibilität. Doch ist dies eine rein negative Intelligibilität, die nicht nur von der positiven des Seins abhängt, wie alle Bedeutungen von „Nichts“, sondern die auch keinerlei
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Erkenntnis ihrer (nicht bestehenden) Möglichkeit zuläßt. Daher ist die Bedeutung des absoluten Nichts sehr verschieden von jenen Bedeutungen von ‚Nichts‘, die es sehr wohl in der Wirklichkeit geben kann wie die totale Abwesenheit alles realen innerweltlichen Seins oder des Seins einer bestimmten Person: „die Welt wurde aus dem Nichts geschaffen“ oder, „vor meiner Zeugung war ich nichts“ weisen keineswegs auf in sich unmögliche Abwesenheiten von Sein hin. Um deutlicher zu sehen, warum jene Seinssphären, die von menschlichem oder endlichem Denken und Phantasieren überhaupt abhängen, nur in eingeschränktem Sinne intelligibel oder sogar anti- und unintelligibel sein können, müssen wir uns kurz den Fundamenten der Erkennbarkeit des Seins zuwenden, welche notwendig oberste ontologische und logische Prinzipien voraussetzen, denen die Produkte menschlichen Denkens und Vorstellens widersprechen können, weshalb diese vom Reich des wirklichen und möglichen, und damit auch des intelligiblen Seins ausgeschlossen sein können. Doch müssen wir an dieser Stelle, um die vor uns liegende Problematik zu bewältigen, drei prinzipielle Unterscheidungen machen: (1) Erstens die Unterscheidung zwischen, in scholastischer Manier gesagt: a) in sich bestehender Unintelligibilität (quoad se), welche prinzipiell außerhalb des Anwendungsbereichs des Prinzips der Intelligibilität des Seins liegt, und b) der nur in Relation auf den Menschengeist oder auf andere endliche Geister bestehenden (Intelligibilität oder) Unintelligibilität (quoad nos). So fallen zum Beiepiel all jene rein intentionalen Gegenstände, in denen widersprüchliche Elemente verbunden werden wie im „viereckigen Kreis“, prinzipiell außerhalb der Sphäre der Intelligibilität des Seins. Hingegen bestehen auch andere, nur auf den Menschengeist und andere endliche Geister bezogenen Grenzen der Erkennbarkeit, von denen manche alles Sein dem totalen erkennenden Zugriff des Menschengeistes entziehen. (2) Zweitens die Unterscheidung zwischen a) all jenen Seinsbereichen (realen, idealen und möglichen), die in sich vollkommen bestimmt sind und deshalb weder außerhalb der prinzipiellen Erkennbarkeit quoad se liegen noch sich außerhalb des Bereichs der Anwendung des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten befinden können, und b) in sich unbestimmten „Seienden“, die weder durch die Unerkennbarkeit des Widersprüchlichen
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noch durch jene des Nichts, noch durch die derjenigen logischen Gebilde, welche die rein logische Grammatik verletzen, sondern durch eine andere Form von in sich bestehender Unerkennbarkeit gekennzeichnet sind. Und zwar hängt diese von einer ontologischen Unbestimmtheit und, noch spezifischer gesprochen, von einer besonderen ontologischen Unbestimmtheit der rein intentionalen Gegenstände aller oder jedenfalls der meisten menschlichen Akte, ab. Diese Unbestimmtheit kennzeichnet in erster Linie, wenngleich nicht ausschließlich, die „abgeleiteten“ rein intentionalen Gegenstände wie die Welt eines Romans oder Schauspiels. Diese Bemerkung führt uns auf unsere dritte Unterscheidung. (3) Drittens müssen wir nämlich die von Roman Ingarden durchgeführte Unterscheidung zwischen ursprünglichen und abgeleiteten rein intentionalen Akten machen. Die ersteren können wir etwa durch Traumgegenstände veranschaulichen; es sind solche intentionalen Gegenstände, die direkt in bewußten und gegenstandsgerichteten Akten einer Person gegeben oder vorgestellt etc. werden. Die abgeleiteten rein intentionalen Gegenstände hingegen lassen sich durch das Medium von sprachlich ausgedrückten Begriffen und Wortbedeutungen in der Literatur oder auch von in einem Gemälde dargestellten oder bloß skizzierten Personen und Sachverhalten veranschaulichen. Insbesondere diese abgeleiteten rein intentionalen Gegenstände nun, wenn auch nicht nur sie, sondern beispielweise auch alle durch Begriffe und Sprache hindurch angezielten Objekte bewußter Akte oder die Gegenstände unaufmerksamer Sinneswahrnehmungen und Beobachtungen, zeichnen sich wesenhaft und notwendig durch jene Unbestimmtheitsstellen aus, welche darin gründen, daß solche Gegenstände niemals vollkommen durchbestimmt oder in vollkommen durchgängiger Weise bestimmte Eigenschaften haben oder nicht haben können. Diese wesenhaften Grenzen der Intelligibilität rein intentionaler Objekte menschlicher bewußter Akte und insbesondere „abgeleiteter rein intentionaler Gegenstände“ gründen in deren von Roman Ingarden herausgearbeitetem, in sich nicht durchgehend bestimmtem Charakter, der seinerseits in den Unendlichkeiten von Eigenschaften und Relationen, die kein endlicher Geist vollkommen erkennen oder gedanklich fixieren kann, seine Quelle hat. Dazu kommt noch der schematische Charakter aller Allgemeinbegriffe, der es mit sich bringt, daß z.B. unter den Begriff „hellrot“
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unendlich viele Farbabschattungen fallen, die ich zwar bis zu einem gewissen Grad in der Wahrnehmung unterscheiden, nicht jedoch begrifflich festlegen kann. Ihre wesenhafte partielle Unbestimmtheit nun schließt die rein intentionalen Gegenstände menschlicher bewußter Akte und insbesondere die abgeleiteten rein intentionalen Gegenstände, von der Anwendbarkeit gewisser oberster und für die Erkennbarkeit des Seins vorausgesetzter Prinzipien wie desjenigen vom ausgeschlossenen Dritten aus. Im Gegensatz zur wirklichen Welt und auch zu möglichen Welten oder den rein intentionalen Gegenständen eines unendlichen Geistes, deren Inhalte bis in jede Einzelheit hinein einen bestimmten Charakter haben und „entweder so oder anders“ sein müssen bzw. (im letzteren Fall) können, besitzen die rein intentionalen Gegenstände menschlicher Akte des Vorstellens und Denkens in sich zahllose Unbestimmtheitsstellen. So ist es etwa, im Gegensatz zu historischen Ereignissen, deren Unbestimmtheit nur relativ zu unserem begrenzten Erkennen (quoad nos) besteht, in sich unbestimmt, ob Shakespeares Hamlet vor der Erscheinung des Geistes seines Vaters gefrühstückt hat oder nicht, weiche, harte oder überhaupt keine Eier gegessen hat, eine dunkelblaue oder hellbraune Bekleidung getragen hat usw. ad infinitum. Da also unendlich viele Stellen an den meisten ursprünglichen und an allen „abgeleiteten“ rein intentionalen Gegenständen, wie sie Gegenstand menschlicher Phantasie und literarischer Werke sind, in sich unbestimmt sind, ist es prinzipiell unbestimmt und unbestimmbar und deshalb auch unerkennbar, welche dieser Bestimmtheiten sie haben. Doch liegt diese weitgehende Unbestimmtheit rein intentionaler Gegenstände nicht an deren Charakter der Irrealität und Abhängigkeit von einem Bewußtsein als dessen Gegenstände als solchem. Vielmehr kann ein Geist, der unendlich viele Bestimmungen zeitlicher, räumlicher oder sonstiger Art erkennt, und nur ein solcher Geist, auch vollständig bestimmte Gegenstände der Phantasie konzipieren, ja alle möglichen Welten bis in ihre letzte Einzelheit vorstellen und erkennen.
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2.2. Die Rolle der ersten ontologischen Prinzipien für die Intelligibilität und Erkennbarkeit allen Seins
Die Rolle der ersten ontologischen Prinzipien für die Intelligibilität und Erkennbarkeit allen Seins hängt eng mit dessen ontologischer Sinnhaftigkeit zusammen, die ihrerseits zuallererst von den „ersten Prinzipien“ des Seins untrennbar ist, wie wir dies schon im ersten Kapitel eingehend erörtert haben. Wenden wir uns daher dem Zusammenhang zwischen der Intelligibilität des Seins und jenen obersten ontologischen Prinzipien zu, denen menschliche Vorstellungs- und Gedankenprodukte widersprechen oder jenseits derer sie liegen können. Jene obersten ontologischen Prinzipien, von denen selbst die unterste Stufe der Erkennbarkeit des Seins abhängt, sind in erster Linie die klassischen ontologischen Prinzipien der Identität, des Widerspruchs, des Ausgeschlossenen Dritten, und das Prinzip vom zureichenden Grund. Wenn nicht jedes Seiende – zumindest im selben Augenblick, und – im Falle höherer und substantiellerer Seiender auch über die gesamte Zeit seines Daseins oder Lebens hinweg – mit sich selber identisch wäre, würde jede Intelligibilität des Seins zusammenbrechen. Dasselbe gilt, wenn das Widerspruchsprinzip nicht gälte und dasselbe in derselben Hinsicht und gleichzeitig sein und nicht sein, derselbe Sachverhalt zugleich bestehen und nicht bestehen oder mit seinem kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhalt zusammenbestehen könnte. Wie wir gesehen haben, ist auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, demzufolge dasselbe in derselben Hinsicht und zur selben Zeit nur entweder sein oder nicht sein kann, wesentlich für die Konstituierung des Sinnes und der Erkennbarkeit des Seins. Ebenso hängt eine noch tiefere Dimension der Erkennbarkeit des Seins davon ab, daß das Prinzip vom zureichenden Grunde gilt und daß es deshalb unmöglich ist, daß die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, sowie die Frage, warum ein Ding oder eine Person ist anstatt nicht zu sein und warum etwas ist, was und wie es ist, anstatt anders zu sein, objektiv keine Antwort hätte, wobei dieser zureichende Grund von Leibniz fälschlicherweise mit einem notwendigen Grund identifiziert wurde. In Wirklichkeit kann der zureichende Grunde in einer äußeren Ursache oder im Innern eines impersonalen Seienden oder einer Person
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liegen, sei es in deren Natur, sei es in ihrer freien Entscheidung. Und gerade weil rein logische Gebilde wie Begriffe und Urteile, sofern sie von endlichen Geistern geschaffen sind, in sich widersprüchlich sein oder nicht nur zu verschiedenen Zeiten, sondern sogar gleichzeitig in widersprüchlicher Weise vorgestellt oder gedacht werden können, und weil rein intentionale Gegenstände in sich unbestimmt sein und sich deshalb der Geltung des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten entziehen können, sind rein intentionale Gegenstände ebenso wie rein logische Gebilde oft antiintelligibel oder unintelligibel und unterstehen die rein intentionalen Gegenstände und Seienden sowie die rein logischen Gebilde und die in ihnen gedanklich entworfenen Gegenstände nur insofern den obersten ontologischen und logischen Prinzipien, als sie diesen entweder entsprechen oder durch dieselben als widersprüchlich und unmöglich, oder als obskur oder sogar als unerkennbar erwiesen werden. Zu den ersten Seinsprinzipien gehört nun auch der schon erwähnte „Satz von der Erkennbarkeit des Seins“, der im transzendentalen verum (der ontologischen Wahrheit im Sinne der Erkennbarkeit alles Seienden) seine Wurzel hat.240 Dieses Prinzip der Intelligibilität des Seins aber ist nicht ebenso ursprünglich wie die eben genannten, sondern auf das engste mit diesen ersten Seinsprinzipien – dem Satz der Identität, dem Widerspruchsgesetz, sowie den Prinzipien vom ausgeschlossenen Dritten und vom zureichenden Grund – verknüpft und von ihnen abhängig. Diese betreffen nämlich allen Seienden zukommende Merkmale und allgemeinste Sachverhalte, die 240
Wie schon gesagt, geht die Anwendung dieses Satzes sogar in gewisser negativer Form über alles Seiende und alle Seinsmodi hinaus, da sogar rein negative Sachverhalte und in gewissem Sinne das Nichts in seinen radikal verschiedenen Bedeutungen erkennbar sind: (1) das ‚absolute Nichts‘, das einen unverzichtbaren Grenzbegriff zum Sein überhaupt darstellt und eine wichtige Funktion in den Prinzipien des Widerspruchs und des zureichenden Grundes besitzt, (2) das ‚Nichts als Gegensatz und Nichtsein aller endlichen Dinge‘, also jenes ‚Nichts, aus dem die Welt geschaffen wurde‘, (3) das ‚Nichts als Abwesenheit eines ganz bestimmten Seienden und als Gegensatz zu seiner Existenz‘ wie wenn ich sage: „Bevor ich wurde, war ich nichts,“ (4) das „relative Nichts“ im Vergleich zu einem höheren Seienden (in diesem Sinne ist ein lebloser Leichnam nichts im Vergleich zu einer Person), (5) das Nichts aller endlichen Seienden im Kontrast zum absoluten Sein, (6) das moralische Nichts des Bösen, usf.
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zugleich notwendige Bedingungen der Intelligibilität (des Erkanntwerdenkönnens) sind. Neben diesen vier sogenannten „ersten Seinsprinzipien“ und dem von ihnen abhängigen Prinzip der Intelligibilität des Seins entspricht auch einem jeden der sieben klassischen Transzendentalien, d.h. der grundlegendsten Merkmale jeden Seienden (ens/seiend, res/Wesen, unum/eines, aliquid/etwas, verum/wahr, bonum/gut und pulchrum/schön) zumindest ein erstes ontologisches Prinzip. Der transzendentalen „res”, dem Wesen, etwa entspricht nicht nur das wichtige Prinzip „Jedes Seiende muß ein Wesen (res) besitzen“,241 sondern auch der von Jean Hering formulierte „Satz vom Wesen“, der in der Form, die Jean Hering ihm gibt, auch eine der Bedeutungen des transcendentale aliquid (nämlich aliud quid, etwas im Unterschied von allem anderen) einschließt. Hering formuliert diesen noch weiter differenzierbaren Satz folgendermaßen: Jeder Gegenstand (welche seine Seinsart auch sein möge) hat Ein und nur Ein Wesen, welches als sein Wesen die Fülle der ihn konstituierenden Eigenart ausmacht ... Jedes Wesen ist seinem Sinne nach Wesen von etwas und zwar Wesen von diesem und keinem andern Etwas.242
Von dem Seienden qua Seiendem (ens) und dem Seienden als aliquid (aliud quid und non nihil) gelten ferner zunächst die Wesensgesetze, daß jedes Seiende etwas und nicht nichts, daß es etwas Eigenes und von anderem Verschiedenes ist, und viele andere Prinzipien, von denen die Erkennbarkeit alles Seienden anhängt. Nicht nur weil die hier erwähnten transzendentalen Seinsbestimmungen in verschiedenen Seienden nur analog und in vielfältigen Stufen der Vollkommenheit verwirklicht sind, sondern auch weil es noch zahlreiche andere Bedingungen und Grundlagen der niedrigeren oder höheren und 241
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Vgl. Josef Seifert, “Esse, Essence, and Infinity: a Dialogue with Existentialist Thomism”, in: The New Scholasticism, (Winter 1984), 84-98. Siehe Jean Hering, Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee, 2. Aufl., Hrsg. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, Reihe “Libelli”, 80, reprographischer Nachdruck aus: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 4, 1921, S. 495-543 (Darmstadt, 1968), S. 10 (497). Wie Hering selbst erläutert, beinhaltet dieser fundamentale Satz, daß jedes individuelle, real existierende Seiende „sein eigenes“ Wesen hat. Ibid., S. 11 (498).
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höchsten Intelligibilität gibt, wie wir gesehen haben, besteht ein unendliches Spektrum der Erkennbarkeit. Wird etwas Seiendes kraft seiner Intelligibilität erkannt, finden wir in dem Erkenntnisakt selber eine ganz andersartige Wahrheit, keine ontologische, sondern eine Erkenntniswahrheit, die eine besondere Form der adaequatio darstellt. Um jedoch die Eigenart der Erkenntniswahrheit und der spezifischen in ihr liegenden angemessenen Entsprechung (adaequatio) deutlicher in den Blick zu heben, muß zunächst noch eingehender gezeigt werden, daß der Begriff der adaequatio (Angemessenheit) in vielfacher Weise verstanden und auf die Bestimmung des Wesens der Wahrheit angewandt werden kann. Daher soll die Eigenart der in der Erkenntniswahrheit liegenden Entsprechung zunächst durch einen Exkurs über verschiedene Arten von Übereinstimmung oder Korrespondenz geklärt werden. 3. Exkurs über die verschiedenen Arten von ‘Adaequatio’ (Angemessenheit) im Reich der ontologischen Wahrheit und der Erkenntniswahrheit Wenn wir von der Erkenntniswahrheit sprechen, beziehen wir uns auf eine jener Bedeutungen von Wahrheit, die man als adaequatio, als ‚Entsprechung‘ bezeichnen kann. Nicht alle Bedeutungen von Wahrheit dürfen jedoch, wenn man den Dingen nicht Gewalt antun möchte, als adaequatio (Angemessenheit) angesehen werden, wie wir schon im vorigen Kapitel dargelegt haben, z.B. nicht die Bedeutung von ontologischer Wahrheit als Ungetrenntheit von Sein und Wesen oder als Wirklichkeit, wie wir diesen Sinn ontologischer Wahrheit beispielsweise bei einer Gegenüberstellung wahrer und erfundener Begebenheiten im Auge haben. Ja die tiefste Bedeutung von ontologischer Wahrheit, die innere Unerfindbarkeit und Sinnhaftigkeit des Seins – und damit auch die Wahrheit der höchsten Urbilder, die in archetypischer Form alle ontologische Wahrheit in sich besitzen – sowie die unendliche Fülle der Gerechtigkeit, die wir die wahre Gerechtigkeit nennen, gleich wie die unendliche Fülle des Guten und aller reinen Vollkommenheiten, die wir mit Platon das wahre ... (X), etwa das wahre Schöne oder das Schöne selbst (aütò d# kalòn) oder das wahre
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Gute selbst (das aütò Âgajðón) nennen können,243 liegen aller adaequatio voraus. Das Wahre heißt hier die vollendete ideale Gestalt oder Verwirklichungsform des Seins und reiner Vollkommenheiten und keineswegs eine adaequatio. Diese Dimensionen ontologischer Wahrheit sind zwar das Fundament aller jener Bereiche der Wahrheit, die auf einem Adäquationsverhältnis beruhen, aber besitzen ihre Wahrheit vor aller solchen Entsprechung, und ihre Wahrheit besteht auch nicht bloß darin, Fundament einer solchen zu sein. In diesem sehr begrenzten Sinne können wir deshalb auch Heidegger zustimmen, daß der Sinn von Wahrheit als adaequatio oder auch als Richtigkeit ein abgeleiteter ist und nicht zum Vergessen noch grundlegenderer Bedeutungen von Wahrheit führen darf.244 Dennoch bleibt der Begriff der adaequatio, was Heidegger grundsätzlich verkennt, ein Schlüsselbegriff für jede angemessene Wahrheitstheorie, besonders für jede Theorie der Urteilswahrheit sowie auch (obzwar in anderem Sinne) der Erkenntniswahrheit. Gerade aus diesem Grund müssen wir uns nun eingehender mit dem Gehalt und Gegenstand des Begriffs der adaequatio (auch ‚Korrespondenz‘, ‚Angemessenheit‘ oder ‚Entsprechung‘ genannt) oder assimilatio beschäftigen. Der Terminus adaequatio hat zumindest vier Grundbedeutungen: 1) Viele Bedeutungen von Wahrheit und von adaequatio bezeichnen überhaupt keine dem bewußten Leben des Geistes eigenen Übereinstimmungen oder Angleichungen, wie sie nur von Personen in Beziehung zu anderen Personen oder Dingen möglich sind. Im Vergleich mit personaler ‚Entsprechung‘ zwischen Akten und ihren Gegenständen bestehen im nicht-personalen und nicht bewußt vollzogenen Verhältnis von Dingen zu ihren Urbildern ‚Entsprechungen‘ in rein analoger und vollständig verschiedener Weise. Adaequatio zielt dann auf irgendein rein objektives, 243
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Vgl. den Text aus Platons Staat 6.507b, wo er vom Schönen und Guten selbst redet. Vgl. Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit (2. Auflage). Bern, Francke 1954; ders., Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967). Auf eine Kritik der Heideggerschen Lehre, die an diese an sich richtige Bemerkung anknüpft, werden wir in einem eigenen Kapitel über die existentialistische und die Heideggersche Wahrheitstheorie in Der Streit um die Wahrheit, zurückkommen.
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statisches angemessenes Entsprechen eines X einem Y, eine objektive Angemessenheit, Wesensentsprechung oder Ähnlichkeit, also auf eine jeweils besondere Art von Relation der Konformität, Angemessenheit, Entsprechung oder des Ähnlichseins ab. Kraft der jeweiligen Form solcher Entsprechung oder adaequatio können ein Ding, ein Photo, ein Seiendes oder auch eine Person in jeweils sehr verschiedenem, aber doch grundsätzlich gleichartigem Sinne ‚wahr‘ genannt werden, wobei ihre Wahrheit in einer Entsprechung liegt, welche gleichermaßen in Personen und Nichtpersonen möglich ist und also keinen spezifischen Personbezug hat, auch wenn sich diese Form der Entsprechung zwar in Personen ebenso wie in apersonalen Seienden finden kann, aber in Personen eine große Abwandlung und Vervollkommnung erfährt. Dazu gehört etwa das seinem Urbild Entsprechen, das innerhalb personalen Seins einen viel vollkommeneren Grad erreicht. Auch die unter diese erste Kategorie der adaequatio fallende Entsprechung oder Nichtentsprechung zwischen Sein bzw. Wesen zur wahren oder falschen Erscheinung erfährt in Personen, die der Schauspielerei fähig sind und einander täuschen können, eine radikale Abwandlung. 2) Adaequatio kann zweitens auf das Verhältnis von etwas nicht notwendig Personalem zu einer Person und ihren Akten abzielen. In diesem Sinn ist adaequatio keineswegs Eigenschaft einer Person, sondern liegt vielmehr im Verhältnis von etwas (wenigstens möglicherweise) Impersonalem zu einer Person. Der Terminus bezeichnet dann deren Verhältnis zu einer Person, ihren Vermögen oder Akten. Dies ist etwa der Fall der ontologischen Wahrheit als Erkennbarkeit. Die ontologische Wahrheit im Sinne des transzendentalen verum, der Erkennbarkeit allen Seins, ist nicht eine adaequatio in dem Sinne, den wir in personalen Akten finden, sondern eine bloße Zugeordnetheit des Seins gegenüber dem Geist. Sie ist eher die Bedingung der Möglichkeit einer adaequatio im personalen Sinne als selbst eine adaequatio; dennoch besteht sie in einer fundamentalen Hinordnung alles Seins auf einen personalen Geist, der allein sie in ihrer Intelligibilität und Erkennbarkeit auch tatsächlich erkennen kann; auch diese Entsprechung zwischen Sein und Geist könnte man als adaequatio oder assimilatio gelten lassen, wie Thomas von Aquin sie bezeichnet, wenn sie auch eher eine Zuordnung oder eine Hinordnung darstellt, wie man sie besser nennen sollte. Andere Bedeutungen der
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ontologischen Wahrheit, wie die Wahrheit als Angleichung der Dinge an ihre authentischen Wesen und Ideen sind hingegen viel mehr als nur Geistoffenheit. Ontologische Wahrheit in diesem Sinn ist auch in gewisser Hinsicht viel mehr als ein Erkanntwerdenkönnen, das ja auch allen perversen und ontologisch gesehen unwahren Dingen gegenüber möglich ist, die von ihrem Wesenslogos abfallen, obwohl diese Art der adaequatio nicht notwendig Personen voraussetzt, sondern der ersten Art der Entsprechung zugehört. 3) Der Ausdruck adaequatio kann drittens einen aktiven Sinn der deponentialen245 Form von adaequari oder der aktiven von einem se adaequare haben und ist in diesem Sinn ein Aspekt bzw. eine Eigenschaft eines personalen Aktes, einer Haltung oder einer Person selber zu etwas anderem, in erster Linie zu anderen Personen, oft aber auch zu nichtpersonalen Gütern oder Werten, wie die angemessene Wertantwort auf ein Kunstwerk. In diesem letzteren Fall zielt der Ausdruck adaequatio auf ein je nach seiner Form sehr verschiedenes, aktives Adäquatwerden und sich Angleichen einer Person im Verhältnis zu etwas Anderem ab, kennzeichnet also eine Person oder deren Akte im Verhältnis zu Dingen oder anderen Personen.246 Einer der einschneidendsten allgemeinen Unterschiede innerhalb der Welt der adaequationes ist jener zwischen einer solchen angemessenen Entsprechung bewußter personaler Akte im Verhältnis zu einem Gegen245
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Auf Latein und Griechisch gibt es die passive Form mit aktiver Bedeutung (Deponens). In diesem Sinne verwendet Thomas von Aquin den an sich der Form nach passiven Ausdruck adaequari, in dem im Lateinischen häufigen aktiven Bedeutung, wenn er schreibt: Noster enim intellectus cognitionem accipit a rebus, et ideo causa et mensura veritatis ipsius est esse rei: ex eo enim quod res est, vel non est, oratio dicitur vel vera vel falsa, secundum philosophum. Unde intellectus noster potest esse verus vel falsus, inquantum potest adaequari vel non adaequari.
Thomas von Aquin, Super ep. Ad Romanos, cap. 3, lectio l. Er verwendet aber auch die aktive Form “se adaequare”, etwa im folgenden Text: timor filialis non importat separationem sed magis subiectionem ad ipsum, separationem autem refugit a subiectione ipsius. Sed quodammodo separationem importat per hoc quod non praesumit se ei adaequare, sed ei se subiicit.
Thomas von Aquin, Summa Theol., II IIae, Q 19, a. 10, RA 3.
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stand oder einer anderen Person einerseits, und den rein objektiven Entsprechungen, Zuordnungen und Angemessenheiten, die nicht Eigenschaft personaler Akte sind, andererseits. Alle Fälle der ersteren Art von adaequatio schließen wesenhaft spezifisch personale Beziehungen ein, können nur von bewußten geistigen Akten oder ihren personalen Subjekten ausgesagt werden und besitzen jenen dynamischen aktiven Charakter des sich an etwas Anmessens, etwas Entsprechens oder zu ihm Stellungnehmens, der notwendig ein lebendiges und seiner selbst und der Welt bewußtes und angemessener Erkenntnisse und Antworten fähiges Subjekt voraussetzt. Diese spezifisch personale Entsprechung zwischen Geist und Seiendem kann man dem Urteilsakt, dem Erkenntnisakt, aber auch dem sittlichen Leben einer Person, die in ihrem Leben sittlichen Forderungen entspricht, zusprechen, wobei es auch hier noch zahlreiche Unterschiede gibt, vor allem jene zwischen einem rezeptiven Aufnehmen der Wirklichkeit, einem rezeptiven adaequari und einem aktiven Stellungnehmen und Antworten. 4) Viertens kann der Ausdruck ‚adaequatio‘ eine Entsprechung zwischen etwas nicht selber Personalem, das aber Werk einer Person oder eine der Person zugeordnete logische oder andersartige Sphäre ist, in der sich die Person ausdrückt oder äußert, wie die Sprache oder die Sphäre der logischen Bedeutungen und höheren Bedeutungseinheiten, zu einem Objekt oder Sachverhalt meinen. So können wir von der Angemessenheit der Sprache oder eines weltlichen oder geistlichen Kunstwerks an jene geistige Sphäre, die es zur Sprache bringen oder ausdrücken will, reden. Innerhalb dieses vierten Grundtypus der Übereinstimmung nimmt die adaequatio von Urteilsinhalten (objektiven Urteilen, insofern diese als rein logische Gebilde aus verschiedenen zu einer Einheit geordneten Mehrzahl von Begriffen und Bedeutungseinheiten bestehen und sich von bewußten Akten des Erkennens oder Meinens unterscheiden) und Sachverhalten eine besondere Stellung ein. Denn obwohl die objektiven Urteile (Sätze bzw. in diesen ausgedrückten Behauptungen) nicht selber Personen oder personale Akte sind, so sind sie doch als Bedeutungseinheiten so eng mit personalen Akten verknüpft und auf diese hingeordnet, daß es sich auch hier um eine der personalen Welt zugehörige Übereinstimmung zwischen Urteil und Sachverhalt handelt, auf die wir im nächsten Kapitel zurückkommen werden. Dennoch, da auch objektive Urteile, die in Sätzen ausgedrückt
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werden können, keine Personen sind, ist die ihnen mögliche Wahrheit als adaequatio völlig anderer Natur als jene des Erkenntnisaktes, welche der dritten Art von adaequatio zugehört. Selbst dort also, wo die Wahrheit eine adaequatio (Angemessenheit) ist, als welche man tatsächlich Wahrheit in vielen Bedeutungen bestimmen kann, ist sie nicht immer eine adaequatio intellectus et rei, wie es eine klassische Formulierung des Wesens von Wahrheit impliziert,247 in der übrigens sowohl die Bedeutung von intellectus als auch jene von res auf das genaueste zu klären sein werden, da beide Termini die verschiedensten Bedeutungen haben können, wie im folgenden Kapitel nachgewiesen werden soll. Wie sich dort zeigen wird, geht es bei der res im Falle der Urteilswahrheit auf der Objektseite keineswegs um Sachen oder Dinge als solche, sondern um jene eigentümlichen Gebilde, die wir in der Umgangssprache Fakten oder Tatsachen und in der Philosophie Sachverhalte nennen, die auch genau dem Objekt der lateinischen Konstruktion des ACI (accusativus cum infinitivo) entsprechen: daß etwas ist oder nicht ist, daß ein Ding so oder nicht so ist, daß jemand läuft oder nicht läuft, kommen wird oder nicht, usf. In jedem Urteil geht es um einen Sachverhalt, daß ein A b ist, oder präziser formuliert: „daß ein A b oder daß es nicht b ist“.248 Wie der Sinn von res im Falle der Urteilswahrheit nicht Sache, sondern Sachverhalt ist, so erweist sich auch jener von ‚intellectus‘, der im Falle der Urteilswahrheit der res adäquat entsprechen soll, nicht als intellektueller Akt des Urteilens, sondern als besonders geartetes Urteilsgebilde, die propositio, die eine logische Entität sui generis darstellt, welche weder mit dem Urteilsakt noch mit dem sprachlichen Satz zu verwechseln ist, sondern aus verschiedenen und verschiedenartigen Begriffen besteht, die 247
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Vgl. etwa Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, I, cap. 59, Nr. 2. Idem, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera Omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart/Bad Cannstadt: Frommann/Holzboog, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 1, art. 1, co. Eine genauere philosophische Analyse zeigt, daß diese disjunktive Formulierung dem allgemeinsten Wesen des Sachverhalts gerechter wird, wie wir im nächsten Kapitel nachweisen wollen, als die Reinachsche Formel, ein Sachverhalt sei seiner allgemeinsten Form nach ein „a-sein eines B“.
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Bedeutungen besitzen bzw. Bedeutungseinheiten sind und zudem verschiedene Funktionen ausüben können, wie besonders Alexander Pfänder gezeigt hat.249 So unterliegt der Sinn der Formel adaequatio rei et intellectus sowohl hinsichtlich der res und der intellectus genannten Gegebenheit, als auch hinsichtlich der Richtung der Beziehung in den drei personbezogenen Dimensionen und Bedeutungen von adaequatio wesentlichen Abwandlungen. 3.1. Adaequatio als Entsprechungen nicht-personaler und nicht wesenhaft personaler Art und personbezogene Momente in nicht-personalen Formen der Entsprechung
Schon im Rahmen der Diskussion der ontologischen Wahrheit sind wir ja, neben Formen ontologischer Wahrheit, die nichts mit Entsprechung zu tun haben, auch auf verschiedene Bedeutungen von Angemessenheit und adaequatio gestoßen: Harmonie zwischen Sein (Wesen) und Erscheinung, Wesensgemäßheit, Erkennbarkeit, Ideengemäßheit und Gottähnlichkeit; sie alle lassen sich als grundlegend verschiedene Aspekte oder fundamental verschiedene Formen der Grundidee einer angemessenen Relation oder wesentlichen Entsprechung – einer adaequatio oder assimilatio – deuten, wobei jede einzelne dieser Arten von Entsprechung und die ihnen jeweils zukommende ontologische Wahrheit ihr je einzigartiges und unzurückführbares Eigenwesen besitzt und grundlegende Unterschiede zu allen anderen aufweist. Diese Bedeutungen von Wahrheit weisen zwar auf eine Entsprechung (adaequatio) hin, nicht aber auf eine Entsprechung (adaequatio) zwischen Geist (intellectus) und Ding (res). So haben wir z.B. im Reiche der ontologischen Wahrheit einen mehrfachen Sinn von adaequatio kennengelernt, der zwar Entsprechung ist, aber kaum unmittelbar etwas mit einer Entsprechung von Ding und Geist zu tun hat. Die Eigentlichkeit bzw. die Wesensgemäßheit eines Seienden, wie wir ihr in der „wahren Gestalt eines Pferdes“, in wahrer Liebe oder wahrer Gerechtigkeit – im Gegensatz zu uneigentlichen Formen derselben – begegnen, ist nicht eine Entsprechung 249
Vgl. Alexander Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Logik, zit.
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zwischen einem Intellekt und einem Ding, sondern zwischen einem Ding (in letzterem Fall einer personalen Wirklichkeit bzw. Akten oder Haltungen einer Person) und der in ihm angelegten bzw. ihm immanenten Wesensform.250 Hier ist die Entsprechung bzw. adaequatio (Angemessenheit) eine zwischen einem konkreten Seienden und seiner Wesenheit oder einem ihm transzendenten „Eidos“. Zwar findet diese Form der orthótes und Übereinstimmung ihre höchste Anwendung im Reich endlicher Personen und kennt sogar, in dem Menschen und Engel als imago Dei oder in der similitudo Dei, ganz neue und wesenhaft personale Formen, aber dennoch bleibt der allgemeine Sinn einer adäquaten Entsprechung zwischen einem Seienden und seiner idealen Form eine Art von adaequatio, die nicht nur im Reich von Personen existiert. Ähnliches gilt auch für das angemessene Entsprechungsverhältnis zwischen dem Wesen eines Seienden und seiner Erscheinung, obwohl hier seitens der Wahrnehmung einer Erscheinung und für deren Konstitution und jene aller Aspekte derselben ein bewußt wahrnehmendes und personales Subjekt vorausgesetzt ist. Ferner findet auch diese Wahrheit der Erscheinung eines Seienden im Verhältnis zu ihrem Sein in Personen eine ganz neue Anwendung. Im Vergleich zu der Form, in denen Personen sich in täuschender und betrügerischer Weise anders darstellen können als sie wirklich sind, ist etwa falsches Gold nicht falsch zu nennen, ebenso wie auch die Wahrheit im Sinne des vollen Einklangs zwischen dem Außenaspekt und der inneren Wirklichkeit personalen Lebens in unvergleichlich höherer Form die Einheit zwischen Sein und Erscheinung besitzt als etwa wahres Gold. Dennoch ist die Adäquatheit zwischen Wesen und Erscheinung als solche nicht eine wesenhaft personale Relation oder Entsprechung, sondern eine Kategorie von Angemessenheitsverhältnis, wie es auch im impersonalen Seienden vorkommen kann. Was also ist die in diesen Formen ontologischer Wahrheit liegende Entsprechung? Auch hier haben wir ja noch verschiedene Phänomene abzugrenzen gehabt. Die ontologische Wahrheit als Wesensgemäßheit ist zunächst ein Entsprechen der Dinge ihren natürlichen Formen und spezi250
Auch der angemessene Ausdruck des Wesens eines Seienden in seiner Erscheinung etwa besteht zwischen Sein und Erscheinung derselben Sache oder Person, und nicht zwischen Sache und Geist.
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fischen Naturen, ihren Formprinzipien, teilweise indem sie sie (im Gegensatz zu Potentialitäten) wirklich (actualiter) verkörpern, teilweise indem sie sie (im Gegensatz zu allem Entgleisen und Abfallen von dem wahren eigenen Wesen) rein und mit einem gewissen Grad von Vollkommenheit verwirklichen. So ist die typische und noch mehr die schöne Form des Pferdekörpers auch dessen wahre Form. So liegt in jeder Erfüllung eines ‚Werde‘ der ‚Du bist‘ durch Erziehung und sogar durch biologische und psychische Entwicklung eine Steigerung der Wahrheit als Wesensgemäßheit, ein Ausgezeugtwerden eines vorher vielleicht nur im Keim oder in ersten Vorformen vorhandenen oder verwirklichten Wesens. Die Ausgeprägtheit eines Wesens und die Reinheit, mit der die in einem Ding schlummernde Form ausgeprägt ist, bestimmen seine ontologische Wahrheit in diesem Sinne. Wahrheit im Sinne einer Angemessenheit eines Dinges an eine ihm selbst transzendente Idee existiert aber nicht ausschließlich in deren Verhältnis zu zeitlosen Ideen und idealen Gesetzen des Schönen, sondern auch in einem rein menschlichen Bereich. In der Kunst und in jedweder Form der Praxis werden die Artefakte in analoger Weise durch den menschlichen Geist und die in ihm anwesenden und von ihm entworfenen oder intendierten Ideen „gemessen“, sagt Thomas. Er differenziert an dieser Stelle nicht zwischen rein subjektiven Ideen eines Künstlers, die auch häßlich sein können und den „wahren“, schönen und guten Ideen, die erst die künstlerische und die ontologische Wahrheit als Entsprechung zwischen einem Wesen und seinem Ideal ausmachen, ebensowenig wie zwischen Erkenntniswahrheit und der Wahrheit in der Kunst als sehr verschiedenen Arten von Entsprechung oder consonantia. Thomas bemerkt nur, daß sie alle in der göttlichen Wahrheit als „erster“ und höchster Wahrheit, die aber nicht mehr selber eine Angemessenheit sein kann, münden, wie er im Anschluß an Aristoteles bemerkt.251 Beim Vorliegen einer der folgenden Voraussetzungen allerdings schließen auch die Arten von adaequatio zwischen realem Wesen und 251
Vgl. den eindrucksvollen Thomas-Text aus Summa Contra Gentiles, l. 1, 62, 5, in dem sowohl die ontologische wie die künstlerische wie auch die Erkenntniswahrheit knapp gefaßt wird. Vgl. auch Thomas von Aquin, Sent. D. 38, q. 1, a. 1, RA 3.
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ewiger Wesenheit252 oder zwischen Idee und konkreter Wirklichkeit eine Entsprechung zwischen Sein und Geist ein, worauf wir im vorhergehenden Kapitel hingewiesen haben: Erstens dann, wenn man sie nicht nur als die Entsprechung eines Dinges mit dem ihm immanenten Wesen, mit seiner Entelechie oder inneren Natur, sondern mit seiner Idee, seinem eidos, der ihm transzendenten Form auffaßt. Während wohl niemand die ontologische Wahrheit des Löwen, der vollumfänglich ein Löwe ist und nicht wie ein halber Hund aussieht, oder eines Löwenbabys, in welchem die Löwenhaftigkeit noch ganz unausgebildet ist, als Angemessenheit zwischen Sein und Geist bezeichnen wird, ist die Übereinstimmung eines Dinges mit seiner transzendenten Idee, seinem Wesensplan – zumindest wenn man die Idee zwar nicht als personalen Geist bezeichnen, wohl aber als etwas objektiv Geistiges und dem Geist Zugeordnetes erkennt – als eine Entsprechung zwischen Ding und etwas Geistigem und daher dem Intellekt Verwandten anzusprechen. Denn auch das in diesem nicht-personalen Sinn „Geistige“ der Ideen oder reinen Wesensformen (eide und andere) könnte objektiv in einer Welt reiner Materie keine Stelle haben, da es so tief und wesenhaft einem personalen, erkennenden Geist zugeordnet ist, auch wenn wir (zwar nicht in der Kunst, aber in der Natur) solche „geistigen“ Gegenstände, Formen und Wesenheiten (Ideen) erkennen können, ohne ihre metaphysische Beziehung zu einem lebendigen personalen Geist zu begreifen. Zweitens kann man die Wesensgemäßheit zwischen Ding und Idee dann als Entsprechung zwischen Geist und Sein auffassen, wenn man im Sinne des mittleren und späten Neuplatonismus sowie der augustinisch geprägten Philosophie, die Wesensformen der Dinge nicht einfach als ewige, in sich ruhende geistige Formen im Sinne der platonischen eide, die der Demiurg („Schöpfer und Vater des Alls“) erkennt, begreift, sondern als göttliche Ideen, also als Ideen eines lebendigen Geistes und in einem lebendigen Geiste, wie mit gegenüber dem Neuplatonismus ganz neuer Entschiedenheit Augustinus die platonischen Ideen deutet.253 Dann kann man auch die 252
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In meinem Buch Sein und Wesen, Kap. 1, unterscheide ich wesentlich mehr Arten idealer Gebilde als hier, lasse diese feineren Unterscheidungen aber in diesem Zusammenhang der Einfachheit halber weg. Vgl. auch Josef Seifert, “Essence and Existence”, und ders., Ritornare a Platone. Augustinus, De diversis quaestionibus LXXXIII, Qu. 46, De ideis, in: Eligius
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ontologische Wesenswahrheit, das seinem eigenen und eigentlichen Wesen Entsprechen eines Dinges als adaequatio rei ad intellectum deuten, wobei der intellectus nicht den personalen Geist selber, sondern die ewige platonische Wesensform und das Ding das konkrete Seiende meint, das ihm entspricht und angemessen ist bzw. an dieser Idee „teilhat“. Dabei ist ontologische Wahrheit in dem exemplaristischen Sinn, wie wir gesehen haben, in noch tieferem Sinn ein Entsprechen der Dinge, eine adaequatio: nämlich nicht nur ein aktuelles Entsprechen dem ihnen innewohnenden und in ihnen vorher schlummernden Wesen, sondern ein sich Angleichen an ein ihnen selbst transzendentes Maß: ihr Urbild, ihr Ideal, ihr ‚reines‘ Wesen. Die ursprüngliche Wahrheit der Dinge selbst als Entsprechung läge also keineswegs in deren bloßer Angepaßtheit an die Erkenntnisfähigkeit oder an die aktuelle Erkenntnis eines Geistes, sondern an ein geistiges Richtmaß, das mehr als Erkenntnis sein muß, was schon daraus erhellt, daß ja auch die heuchlerischsten, verlogensten und unwahrsten Abirrungen der Dinge von ihren Idealen erkennbar sind und erkannt werden können, aber offenbar nicht schon deshalb wahr im grundsätzlichen ontologischen Sinne des ihrem Urbild Entsprechens sind. Freilich gäbe es da noch vieles sorgsam abzuklären: Inwieweit etwa ist diese adaequatio eine Teilhabe (mæjðexiV)254an der idealen Wesenheit, und was bedeutet dieser platonische Ausdruck der Teilhabe? Inwieweit stellt die wahre Liebe oder Gerechtigkeit weniger eine Teilhabe als eine Verkörperung dieser Wesenheiten dar? Inwieweit läßt sich diese Beziehung als Ähnlichkeit fassen oder ist vielmehr eine andere Art von Sinnbestimmtheit des Einzelnen durch die allgemeine Wesenheit, die sich keineswegs mit dem Begriff der Ähnlichkeit angemessen erfassen läßt? Bei dieser ontologischen Fassung der Wahrheit als adaequatio rei et intellectus oder rei ad intellectum, wird intellectus weder nur als erkennender Geist noch auch nur als menschlicher Intellekt verstanden, sondern entweder als platonisch gedachte ewige und notwendige Ideen und
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Dekkers, hrsg., Clavis patrum latinorum (C. Beyaert, Brugis – M. Nijhoff, Hagae Comitis, 1961), PL XL. Nur ein einziges Mal verwendet Platon den Ausdruck, nämlich im Parmenides, 132DE. Hingegen spricht er an zahlreichen Stellen, wenn auch oft in anderem Sinn, von metæcðein als Verb und deutet dieses Verhältnis meist als ein Ähnlichwerden.
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Urbilder oder als göttlicher Geist selbst, der diese Ideen in sich birgt, wie Augustinus lehrt, da nichts über unserem Geiste und ungeschaffen ist, was nicht „entweder Gott ist, oder in Gott“.255 Drittens dann, wenn diese Wesensgemäßheit eigentlich eine Entsprechung mit dem absoluten, göttlichen Geist selber ist. Die höchste Form dieser Art von ontologischer Wahrheit als das seinem Urbild Entsprechen ist die Gottähnlichkeit der Dinge. Der göttliche Geist selbst, sagt uns Thomas, und die sinnerfüllten eide, logoi und Ideen im göttlichen Intellekt, sind das letzte Richtmaß der Dinge, eine These, die schon Platon in seinem deus-mensura Satz256 dem homo-mensura Satz des Protagoras entgegensetzte. Gott, der in einem jenseits aller adaequatio liegenden, diese aber in sich einbegreifenden Weise die Wahrheit selbst ist, ist aber kein totes ideales und nur kraft seiner Sinnfülle innerlich wahres Sein, das nicht auch wirklich und deshalb ebenfalls als höchst reales ontologisch wahr wäre. Damit ist in Gott auch aus dem Grunde dieses Zusammenfallens all dieser Dimensionen sein Sein zugleich höchste Einheit, höchste ontologische Wahrheit, und absolute Erkenntniswahrheit (und Fülle aller Urteilswahrheit), in der sowohl die absolute adaequatio als Teil der absoluten Wahrheit, eben die Wahrheit als das schlechthin Ganze aller Erkenntniswahrheit, als auch die Fülle der ontologischen Wahrheit jenseits aller ‚adaequatio‘, doch als zuinnerst wahres Urbild derselben, eingeschlossen ist. 255
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Dieser Gedankengang hat auch einen Bezug auf den berühmten Veritas-Gottesbeweis Augustins; vgl. Augustinus, De Libero Arbitrio II, VI, 14 ff; bes. II, XV, 39. Vgl. auch H. Schulte, „Gotteserkenntnis und ‘Conversio’ bei Bonaventura“, Theologie und Philosophie (49. Jg. H 2/3 1974), S. 181 ff. Vgl. auch E. Gilson, a. a. O., S. 421-422. Auch J. F. Quinn, The Historical Constitution of St. Bonaventure’s Philosophy (Pontifical Institute of Medieval Studies, Toronto 1973), S. 555. Vgl. ebenfalls in Quinn Anm. 63 (ebd. S. 555). Vgl. auch Bonaventura, Quaestiones Disputatae de Scientia Christi (IV) V 18 15: Vgl. Platon, Die Gesetze, IV 716 c-d: Gott nun dürfte wohl vornehmlich das Maß aller Dinge für uns sein, und weit mehr als so ein Mensch, wie dies einige wollen. Wer also Gott wohlgefällig werden will, muß sich nach allen Kräften ihm möglichst gleich zu werden bemühen, S716d und wer von uns mäßig und besonnen ist, der ist eben hienach Gott wohlgefällig, denn er gleicht ihm; wer aber das Gegenteil, der ist ihm unähnlich und lebt im Widerstreit mit ihm und ist ihm verfeindet; und entsprechend verhält es sich auch mit allen anderen Tugenden und Lastern.
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Viertens dann, wenn die Person das Seiende ist, das in dieser Weise seinem wahren Wesen entspricht, wenn es also das personale Seiende ist, das seiner wahren Wesenheit entspricht. Der Umstand, daß es hier ein geistig-personales Seiendes ist, das seinem wahren Wesen entspricht, verwandelt die Natur dieser Entsprechung von innen. Fünftens dann, wenn sich diese ontologische Wahrheit als moralische Forderung an eine Person richtet, eine Dimension ontologisch-ethischer Wahrheit, die Platon in seinen Erklärungen der äomoíwsiV jðeÖ katà tò dynatón (der größtmöglichen Verähnlichung mit Gott) als höchstes moralisches Ideal des Lebens entfaltete, da wir Gott im tieferen Sinne nur durch Gerechtigkeit und andere Tugenden ähnlich werden können, wie Platon beobachtet.257 3.2. Adaequatio als Entsprechung zwischen etwas nicht (wesenhaft) Personalem und der Person
Eine derartige adaequatio intellectus et rei haben wir bisher in verschiedenen, keineswegs jedoch in allen Formen ontologischer Wahrheit kennengelernt, in welchen die Richtung des Entsprechungsverhältnisses vom Sein zum Geist hin verläuft, also als adaequatio rei ad intellectum gedeutet werden muß. Einige dieser Interpretationen, so die der Offenheit des Seins gegenüber dem Geist und die, daß das Seiende Grundlage und Gegenstand wahrer Aussagen und Erkenntnisse ist bzw. werden kann, läßt sich, eher denn als adaequatio, als eine reine Zuordnung der Dinge auf die Erkenntnis bzw. auf den Geist, also nur als eine Entsprechung im weiteren Sinn, genau genommen als Geistoffenheit des Seins deuten und nicht eigentlich als eine Angleichung. Auf diese Form der Entsprechung sind wir schon ausführlich in Kapitel 1 eingegangen. 257
Vgl. Platon, Theaitetos 176 a-b: diò ka˜ peirâsjðai cðr# Ênjðænde S176b Êkeîse fðeúgein äóti tácðista. fðyg# då äomoíwsiV jðeÖ katà tò dynatón: äomoíwsiV då d™kaion ka˜ äósion metà fðron®sewV genæsjðai. Deshalb muß man auch trachten, von hier S176b dorthin zu entfliehen aufs schleunigste. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott soweit als möglich; und diese Verähnlichung, daß man gerecht und fromm sei mit Einsicht.
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3.3. Personale Adaequatio als Adaequari
Sehr oft ist das Adäquatheitsverhältnis zwischen Geist und Sein aber tatsächlich eine adaequatio intellectus et rei, also eine Entsprechung zwischen einer Person bzw. ihren Akten und deren Gegenständen. Diese spezifisch personale Übereinstimmung kann verschiedenen Formen und Richtungen annehmen. Dort wo der Ausdruck adaequatio (intellectus et rei) eine irgendwie geartete dynamisch-personale Angleichung und nicht einfach eine objektive Zuordnung und Entsprechung meint, läßt sich ein anderer wichtiger Unterschied beobachten, welcher in den folgenden Fragen thematisiert wird: In welcher Richtung erfolgt diese Angleichung zwischen Geist und Sein? Geht sie vom Geist zum Seienden (ist sie also eine adaequatio intellectus ad rem), oder verläuft sie umgekehrt von diesem zum Geist hin? Ist sie also eine adaequatio rei ad intellectum? Gibt es also ganz verschiedene Richtungen innerhalb der adaequatio des Geistes an die Wirklichkeit, insbesondere eine rezeptive, in welcher die Bewegungsrichtung vom Seienden zum geistigen Akt hin verläuft und eine entgegengesetzte spontane, in der die Bewegung in umgekehrter Richtung erfolgt und in der sich der Geist meinend auf einen Gegenstand oder Sachverhalt bezieht oder sich an seinen Gegenstand wendet, auf ihn antwortet, ihm gegenüber eine Stellungnahme vollzieht, etc.? Und für unseren Zusammenhang noch wichtiger die Frage: Was ist die spezifische Richtung und Art der adaequatio, welche wir in der Erkenntnis und nur in ihr antreffen? Es ist jedenfalls eine besondere Form der adaequatio im dritten Sinne eines Entsprechens personaler Akte, der wir innerhalb der Erkenntniswahrheit begegnen. Auf deren spezifisches Wesen möchten wir nun eingehen. 3.4. Die Entsprechung geistiger, aber nicht selber personaler Gebilde mit der Wirklichkeit als Gegenstand des nächsten Kapitels
Hingegen lassen wir hier ganz jene andere, vierte Art der adaequatio zwischen geistigen und der Person zugeordneten, aber nicht selber personalen Entitäten wie dem Urteil aus, da diese Art der Entsprechung den Gegenstand der folgenden Kapitel bildet.
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4. Die Wahrheit der Erkenntnis als Adäquation sui generis und als mehr denn Adäquation: „Erkenntniswahrheit als selbsttranszendierendes“ – ‚etwas in dem Begreifen, daß es ist oder nicht ist, und was und wie es ist, und weil es ist oder nicht ist, weil es das ist, was es ist, und nichts anderes, und weil es so ist, wie es ist und nicht anders‘ Die Erkenntniswahrheit verlangt ein ganz besonderes epistemologisches Verständnis der Wahrheit als adaequari intellectus ad rem, das sich nicht auf die metaphysische oder ontologische Wahrheit bezieht, sondern auf jene Wahrheit, die im Geiste selber bzw. in seinem Erfassen des Seienden gleichsam ihren Sitz hat. Diese Wahrheit der Erkenntnis könnte, umgekehrt zur ontologischen adaequatio rei ad intellectum als adaequatio intellectus ad rem definiert werden. Doch bleiben alle diese schematischen Ausdrucksweisen völlig unzureichend, um das betreffende Phänomen richtig wiederzugeben, und bedürfen einer phänomenologischen Auslegung. Diese „Angleichung“ des Intellekts an die Dinge, die viel mehr als eine bloße „Angleichung“ ist, zielt nicht auf die Wahrheit der Dinge, sondern auf Wahrheit im Verstand, auf Wahrheit des Geistes oder im Geist, ab. Auch innerhalb der Wahrheitswelt in personalen Akten unterscheidet sich jedoch die Wahrheit der Erkenntnis von anderen Weisen und Dimensionen, in denen personale Akte wahr genannt werden können. Wenn ein Seiendes tatsächlich erkannt wird, ist nicht nur das Seiende selber wahr, weil es erkennbar ist, sondern darf man auch der Erkenntnis des Seienden Wahrheit in einem ganz neuen Sinn zusprechen. Das Entdecken oder Schauen des Seienden, wie es ist, ist wahr. In diesem Erfassen tritt das Seiende nicht nur in die Nähe des Geistes, entspricht nicht nur etwas im Subjekt, das dem Objekt ähnlich wäre, Gegenständen, wie alle Vorstellungen, denen zufolge Erkenntnis nur ein „Abbild“ der Wirklichkeit wäre, nahelegen.258 Edmund Husserl hat diese Bildertheorie bzw. Abbildtheorie der Erkenntnis in den Logischen Untersuchungen 258
Auch Thomas von Aquin legt diese irrige Idee nahe: “Veritas autem est, quod cognitio fit per similitudinem rei cognitae in cognoscente: oportet enim quod res cognita aliquo modo sit in cognoscente.” In Aristotelis de Anima Libro I, lectio 4, n.1.
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glänzend widerlegt, indem er zeigt, daß jede derartige Theorie sich selber widerspricht, da man ja um etwas als Bild zu erkennen, bereits ein Bewußtsein von dem haben muß, wovon es ein Bild ist. Daher würde jede Auffassung, welche die bewußte, intentionale Beziehung des Erkenntnisaktes zu seinem Gegenstand als Abbildverhältnis begreifen möchte, entweder zu einem unendlichen Regreß oder zu einem Selbstwiderspruch führen, da sie eine Erkenntnis dessen selber voraussetzen muß, wovon sie ein bloßes Abbild sein soll, und damit zu einer Zerstörung der Idee der Erkenntnis selber führen – oder aber die Erkenntnis ist eben nicht ein Abbild der Wirklichkeit, sondern steht zu dieser in einer ganz anderen, intentionalen und sich selber transzendierenden Relation. In Wirklichkeit fällt man bei jedem solchen Versuch verschiedenen falschen Körperbildern und Analogien zum Opfer, wie dem des Bewußtseins als einem Behälter oder Kasten, in den Inhalte hereinkommen müssen, oder dem eines Spiegels oder Bildes, welche einen außer ihnen liegenden Gegenstand bloß abbilden. Solche Analogien können jedoch weder der Intentionalität noch der Transzendenz des geistigen Erkennens gerecht werden. Dies führt auf den Irrtum des Psychologismus zurück, der letzten Endes alle Dinge und intentionalen Gegenstände des Bewußtseins, von denen ich ein Bewußtsein habe, auf „Inhalte“, auf meinem Bewußtsein immanente „Teile“, zurückführen möchte und bestenfalls den Geist wie einen Spiegel auffaßt, in dem selbstverständlich niemals der Gegenstand, sondern nur sein „Bild“ sein könne oder wie einen „Kasten“, der niemals etwas anderes zu umfassen vermöge, als was sich realiter in ihm befinde. So könne auch der Geist niemals sehen, was „jenseits“ seiner selbst ist, sondern nur „immanente Abbilder“ die in ihm seien. Um diejenige Vorstellung von Erkenntnis als „immanenten Gegenständen“ oder Bildern deutlich zu kennzeichnen und abzuweisen, gegen die wir hier ankämpfen, muß noch jene Äquivokation im „Bild-Begriff angedeutet werden, die Nicolai Hartmann in seiner Polemik gegen die Phänomenologie vorbringt. Man könnte nämlich mit Hartmann, so fragwürdig auch diese Terminologie sein mag, unter „Bild“ oder „bloßem Bewußtseinshalt“ intentionale Gegenstände verstehen, von denen wir Bewußtsein haben und die als solche gegenüber unserem Bewußtsein „transzendent“ sind, die aber keine reale Existenz besitzen, z.B. Traum-
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gegenstände.259 Auch solche bloße Gegenstände einer Halluzination könnte man mit einem gewissen Recht gegenüber den realen Gegenständen, von denen wir Bewußtsein haben, als „bloße Bewußtseinsinhalte“ bezeichnen. Doch gerade durch die Betrachtung eines solchen geträumten Gegenstandes, der keine reale transzendente Existenz besitzt, können wir die Falschheit der in unserem Zusammenhang bekämpften Auffassung dartun, nach der uns nur unserem Bewußtsein inexistente Inhalte bekannt seien. Gerade im Falle der Täuschung wird nicht nur die grundlegende Verschiedenheit zwischen unserem Vollzugsbewußtsein und den Gegenständen klar, von denen wir ein Bewußtsein haben, sondern auch die Unmöglichkeit der Auffassung der Erkenntnis als Bild der Wirklichkeit.260 Gerade hier wird deutlich, wie falsch und irreführend es ist, den Geist mit einem Spiegel und die Erkenntnis mit in ihm erscheinenden Abbildern zu vergleichen: Ein Haus, das ich in einem lebhaften Traum oder in einer Halluzination vor mir sehe, ist ebensowenig ein Teil meines bewußten Seins wie ein wirkliches Haus. Es hat zwar nur das armselige und geringste Sein des „Objektseins für meinen Geist“, es scheint nur mir zu sein. Aber deshalb ist es in keiner Weise eher ein Teil meines realen, bewußten Seins als ein wirkliches Haus, wiewohl eine falsche Plausibilität dies nahezulegen scheint. Das im Traum gesehene Haus besitzt zwar keine transzendente, reale Existenz, aber es ist doch wesenhaft „jenseits“ des bewußt vollzogenen Träumens, das zu meinem personalen, unkörperlichen Sein gehört und damit einer gänzlich anderen Seinsart angehört als sein Gegenstand: Das Haus zeigt sich mir in seiner materiellen Natur, einer bestimmten Ausdehnung, Gestalt, mit Zahlen angebbaren Proportionen von Länge, Höhe und Tiefe, mit bestimmten Farben usw. Keine einzige dieser Eigenschaften kommt meinem bewußten Akt zu; wie sehr ich ihn auch durchforschen mag, werde ich nie in ihm irgendeine Eigenschaft seines „bloß intentionalen“ Gegenstandes finden. In diesem Akt findet sich weder ein Haus noch das Bild eines Hauses, wie es sich in einem Spiegel finden 259
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N. Hartmann behauptet dann, wie gleich näher erläutert wird, daß niemals die Gegenstände als solche in ihrem realen Sein, sondern immer „bloß“ intentionale Gegenstände („Bilder“) uns gegeben sein können, daß also immer das Seiende vom intentionalen Gegenstand verschieden sei. Vgl. dazu den grundlegenden Abschnitt aus E. Husserls Logischen Untersuchungen. II, 1, V S. 372 ff.
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kann. Die Frage des Seins und Nichtseins des Hauses liegt ganz jenseits der realen Existenz meines bewußten Seins. Gerade die Tatsache, daß der Gegenstand, von dem ich Bewußtsein habe, nicht real ist, während mein bewußt vollzogenes Träumen voll real ist, beweist die Wahrheit, daß der Gegenstand meines „Bewußtseins von“ kein Teil oder Inhalt meines Bewußtseins ist. Denn das geträumte Haus existiert nicht in mir, sondern es existiert überhaupt nicht. Schon in der Subjekt-Objekt-Situation261 als solcher liegt also eine Vorstufe der Transzendenz des Erkennens, die prinzipielle Fähigkeit nämlich, bloß immanente Bewußtseinszustände (wie etwa Müdigkeit es ist) zu überschreiten und in intentionaler Weise an einem Gegenstand geistig teilzuhaben,262 der „jenseits“ meines bewußten Seins liegt. Dieses intentionale Bewußtsein von etwas, das ich nicht selbst bin, ist die Voraussetzung für jede Erkenntnis, in der ich geistig an der Wirklichkeit teilhabe. Denn die Gegenstände, Sachverhalte, Ereignisse und Personen, die ich erkenne, sind jenseits der Akte, in denen sie mir gegeben sind, sie existieren jenseits meines bewußten, personalen Seins. Ich kann sie daher nur berühren, wenn ich meine eigenen Bewußtseinszustände überschreiten kann, wenn ich nicht in mir gleichsam steckenbleibe, wie alles apersonale Sein „in sich steckt“. Ich kann nämlich klar einsehen: von all diesen Dingen habe ich ein Bewußtsein – und andererseits: all diese Wirklichkeiten sind von meinem bewußten Sein verschieden, sie liegen jenseits meiner Erkenntnisakte. Gerade der von Nikolai Hartmann angeführte Fall der Täuschung und 261
262
Es muß gesagt werden, daß diese Subjekt-Objekt-Situation in keiner Weise die Vorstellung nahelegen darf, als handle es sich dabei um „Objekte“ im Sinne von „Gegenständen“ als Gegensatz zur Person. Es handelt sich hier um eine radikal vom Dingbegriff verschiedene Gegebenheit: Personen sind uns gerade am allermeisten gegenüber. Die Subjekt-Objekt-Situation im hier gemeinten Sinn findet sich am charakteristischsten in dem Fall, in dem eine unverwechselbare, individuelle, lebendige, unvermischbare Person mir gegenübersteht. Gerade auf Grund der Eigenschaften, die eine Person von allen „Objekten“ im Sinne der Dinge unterscheidet, ist dies so. Manche Denker haben den „chosisme“ fälschlicherweise schon in der Anerkennung dieser Subjekt-Objekt-Situation sehen wollen. Die Subjekt-Objekt-Situation ist ausschließlich bei Personen und nicht bei Tieren zu finden.
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der bloßen oder reinen intentionalen Gegenstände, untersucht man ihn näher, zeigt, daß diese Täuschung und Verwechslung eines rein intentionalen mit einem wirklichen Gegenstand voraussetzt, daß die Erkenntnis auch Sachverhalte und Gegenstande zu erfassen vermag, die nicht nur rein intentionale Gegenstände sind, etwa die Sachverhalte, daß ich diese sehe und daß sie wirklichen ähnlich sehen. Wenn man daher das Sich-Selbst-Überschreiten im Erkennen auf das immanente Bewußtsein reduzieren will, stellt man ein falsches Dogma auf, das schon durch die Tatsache der intentionalen Akte, durch die Urgegebenheit der Subjekt-Objekt-Situation als solche widerlegt wird: Man behauptet, es sei weniger geheimnisvoll, daß wir uns unser selbst bewußt sind, als daß wir von anderem Seienden Bewußtsein haben. Man möchte ein unableitbares und irreduzierbares „Mirandum“ auf ein anderes, nicht weniger geheimnisvolles zurückführen.263 Den Vertretern dieses Dogmas des „Psychologismus“, dieser falschen Reduktion des Gegenstandsbewußtseins auf das Vollzugsbewußtsein bzw. Selbstbewußtsein hat Descartes, obwohl dieser selbst von dem hier bekämpften Vorurteil nicht frei ist, so geantwortet: Denn woher hast du das, daß alles, was der Geist denkt, in ihm selbst sein müsse? Wahrlich, wenn das der Fall wäre, dann müßte er, wenn er die Größe der Welt erkennt, auch sie in sich haben, und so wäre er nicht nur ausgedehnt, sondern an Ausdehnung noch größer als die Welt.264
Weder aber haben wir im Erkennen nur mit im Bewußtsein befindlichen Bildern zu tun noch nur mit rein intentionalen Gegenständen, die Nicolai Hartmann als Bilder in einem anderen Sinne bezeichnet. Vielmehr geht im sich selbst transzendierenden Erkenntnisakt das Subjekt in geistig empfangender Weise über sich selbst hinaus und erfaßt etwas, zumindest unvollständig, als was es ist, so wie es ist und weil es ist und so ist, wie es ist. In dem Erkenntnisakt wird der Erkenntnisgegenstand dem Subjekt ansichtig und die in ihm liegende Entsprechung läßt sich daher keineswegs als ein Abbildverhältnis erklären. Das Gesagte ließe sich noch tiefer entfalten, wenn man die grundsätzlich verschiedenen Weisen 263 264
Vgl. dazu What is philosophy?, S. 15 ff. R. Descartes, Meditationen, 5. Erwiderung (550).
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bewußter und erfahrungsmäßiger Seinsberührungen im intentional bewußten Erkennen von Objekten und im inneren Vollzugsbewußtsein unterscheiden würde, worauf wir hier nicht eingehen können.265 Indirekt wird durch das Erkennen, in dem uns deren Gegenstand aufgeht, auch die Verborgenheit vor dem Geist aller uns unbekannten Dinge überwunden. Man könnte hier an Martin Heideggers Formel der Wahrheit (a-letheia) als Unverborgenheit anknüpfen, wenn dieser Ausdruck bei Heidegger auch zu vage bleibt, weil er zwischen der ontologischen Wahrheit (im Sinne der Erkennbarkeit des Seins) und der Erkenntniswahrheit nicht differenziert. In diesem Sinne läßt sich die 265
Zur Idee des Vollzugsbewußtseins vgl.: Dietrich von Hildebrand, Die Idee der sittlichen Handlung, 2. Auflage (unveränderter reprographischer Nachdruck, zusammen mit der Habilitationsschrift „Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis“ Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969), S. 1-126, S. 8 ff.; Dietrich von Hildebrand, Moralia. Nachgelassenes Werk. Gesammelte Werke Band V. (Regensburg: Josef Habbel, 1980), S. 208 ff.; Dietrich von Hildebrand, Ästhetik. 1. Teil. Gesammelte Werke, Band V (Stuttgart: Kohlhammer, 1977), S. 32-40, 4957; Dietrich von Hildebrand, Ethik, S. 202 ff., 212, 242; Dietrich von Hildebrand, Ethics, 2nd edn (Chicago: Franciscan Herald Press, 1978), S. 191 ff.; Dietrich von Hildebrand, „Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt. Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen Hildebrands“ (Salzburg, Herbst 1964): ‚Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis‘“ : (7. und 8. Vorlesung), Aletheia 6/1993-1994 (1994), S. 2- 27; Dietrich von Hildebrand, Transformation in Christ. Our Path to Holiness. Reprint of 1948 (New Hampshire: Sophia Institute Press. 1989), ch. 4; Die Umgestaltung in Christus. Über christliche Grundhaltung, 5. Auflage in den Gesammelten Werken Band X, (Regensburg: Habbel, 1971), Kap. 4. Vgl. auch den ersten Teil von Karol Wojtyáa, The Acting Person; dazu den “corrected text, authorized by the author (unpublished), Bibliothek der internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, Schibbogga 7 B-C, Bendern;” (dt.) Person und Tat, mit einem Nachwort zur deutschen Ausgabe von A. Poltawski (Freiburg-Basel-Wien: Herder, 1981). Vgl. auch Josef Seifert, “Karol Cardinal Wojtyáa (Pope John Paul II) as Philosopher and the Cracow/Lublin School of Philosophy” in: Aletheia II (1981), pp. 130-199; ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism, 144 ff., 176 ff., 181-198, 249 ff., 286 ff., sowie die im Index von Josef Seifert, Back to Things in Themselves, unter ‘consciousness’, und ‘constitution’ angegebenen Stellen, ders., Leib und Seele. Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie (Salzburg: A. Pustet, 1973)., S. 45 ff.; ders., Erkenntnis objektiver Wahrheit2, 59 ff., 65 ff., 118 ff., 212 ff., 233 ff., 150 ff., 161 ff., 203 ff.
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Wahrheit der Erkenntnis nicht nur mit Martin Heidegger als prinzipielle Unverborgenheit des Seins (das wäre die ontologische Wahrheit in einer ihrer Grundbedeutungen), sondern als tatsächliche Unverborgenheit des Seins vor dem erkennenden Subjekt definieren. Diese Erkenntniswahrheit, die ein sich dem Verstand Erschließen des Seins voraussetzt, kommt aber nicht mehr, wie die Erkennbarkeit aller Dinge, dem Sein im Hinblick auf den Geist, sondern dem Erkennen selbst zu. Das Erkennen ist, wenn es überhaupt Erkenntnis ist, wahr, wie Platon sagt – während es gleichgut wahre und falsche Meinungen geben kann. Wahrheit der Erkenntnis kommt nicht dem Sein zu – und zwar auch nicht „im Hinblick auf den Intellekt“, wie Intelligibilität –, sondern dem Erkennen selber. Auch ist Wahrheit der Erkenntnis nicht ein potentieller Bezug zwischen allem Seienden und dem Verstehen, wie die ontologische Wahrheit der Erkennbarkeit. Vielmehr ist sie etwas Aktuelles, und zwar eine innere Eigenschaft des Erkennens, die dieses allerdings nur dann erlangt, wenn es tatsächlich seinen Gegenstand erfaßt. Wahrheit des Erkennens ist also, noch präziser, ein tatsächliches angemessenes Verhältnis des Erkennens als solchen zum erkannten Gegenstand. Dabei ist die Wahrheit des Erkennens nicht eigentlich selbst ein Verhältnis, sondern ein Merkmal des Erkennens, aber ebensowenig seine rein immanente Eigenschaft, sondern – um Thomas von Aquins Ausdrucksweise abzuwandeln – eine Eigenschaft des Erkennens ad aliud.266 Wahrheit kommt dem Erkennen in Relation auf etwas anderes zu, besteht also nicht in einem bloßen ‚Entdeckendsein‘ des Daseins (Menschen), wie Heidegger behauptet. Während aber die ontologische Wahrheit der Erkennbarkeit eine Eigenschaft des Seins im Verhältnis zum Erkennen ist, so ist umgekehrt die Wahrheit des Erkennens zwar eine Eigenschaft der Erkenntnis selbst, aber nur in deren Verhältnis zum erkannten Sein. Erkenntniswahrheit schließt daher ein besondersartiges Adäquationsverhältnis zwischen Geist und Sein ein. Sie besteht in einem ‚etwas in dem 266
Diese Bestimmung dient ihm in Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, Q. I, a. 1, als Kriterium der Abgrenzung zweier Typen transzendentaler Seinsbestimmungen: jener, die allem Seienden in se (in sich) zukommen, wie das Sein selber (ens), und jener, die ihm nur im Hinblick auf etwas anderes, nämlich den Geist, zukommen, wie die Wahrheit – als Intelligibilität verstanden – (das ens als verum).
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Begreifen, daß es ist oder nicht ist, und was und wie es ist oder nicht ist‘. Und im Gegensatz zu jeder bloßen faktischen Übereinstimmung oder jeder bloß faktischen und äußeren consonantia besteht die Erkenntniswahrheit auch in einem Erfassen des Seins als solchen, und „weil es ist oder nicht ist, weil es das ist, was es ist, und nichts anderes, und weil es so ist, wie es ist und nicht anders“. Erkenntniswahrheit also ist jene Eigenschaft der Erkenntnis, die man als erkennende Adäquation oder als ein Zusammentreffen des Erkenntnisaktes mit dem Sein bzw. mit den bestehenden Sachverhalten als solchen, mit dem, was tatsächlich ist oder nicht ist, bezeichnen kann. Ja Erkenntniswahrheit ist noch viel mehr: nämlich eine dem Entdecken dessen, was ist oder nicht ist oder noch besser dem geistigen Haben des Erkannten allein eigentümliche Entsprechung. Und deshalb ist das Erkennen durch eine nur ihm als solchem unmittelbar zukommende Adäquation charakterisiert. Mit dieser Bestimmung der Erkenntniswahrheit befreien wir den Heideggerschen Ausdruck des ‚Entdeckendseins des Daseins‘ (des Menschen) von seinen subjektivistischen Implikationen, die sich daraus ergeben, daß Heidegger das Entdeckendsein von jeder Adäquation loslösen möchte und damit auf eine Art immanenten Zustand bzw. auf eine Seinsweise des Subjekts ohne transzendenten Bezug auf das vom Erkennen unabhängig Seiende reduziert. Dabei unterscheidet sich die wesenhafte Erkenntniswahrheit auch scharf von der Wahrheit der richtigen Meinung, wie Platon so klar hervorhebt.267 267
Halten wir uns noch einmal den eingangs zitierten platonischen Text aus dem Gorgias vor Augen samt seiner Fortsetzung: SOKRATES: Dünkt dir dies nun einerlei, erkannt haben und geglaubt? Wissen durch Erkenntnis und Meinung? Oder verschieden? GORGIAS: Ich, o Sokrates, meine, es ist verschieden. SOKRATES: Und gar recht, meinst du. Du kannst es aber hieraus erkennen. Wenn dich jemand fragte, gibt es wohl einen falschen Glauben und einen wahren? Das würdest du bejahen, denke ich? GORGIAS: Ja. SOKRATES: Wie? Auch eine falsche Erkenntnis und eine wahre? GORGIAS: Keineswegs. SOKRATES: Offenbar ist also nicht beides einerlei. GORGIAS: Du hast recht.
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In einem weiteren Sinne von Erkenntnis, in dem wir auch das, was wir aus der Zeitung oder von unseren Lehrern erfahren, als erkannt bezeichnen, handelt es sich freilich bei dem Erkenntnis genannten Phänomen eher um eine richtige Meinung, die platonische orthé dóxa, und bei der Wahrheit des Erkennens um ein rein objektives Entsprechungsverhältnis zwischen dieser richtigen Überzeugung und dem Sachverhalt. Um den Unterschied zwischen Erkennen im eigentlichen Sinne und richtiger Meinung zu verstehen, müßte man sorgfältig den erkenntnistheoretisch höchst relevanten Unterschied zwischen Erkennen und zwei Bedeutungen von Überzeugung, von Überzeugung und Urteilsakt, und den Unterschied all dieser vom Urteil selber, dem aus Begriffen bestehenden Urteilsgebilde, der propositio, klären, was teilweise im nächsten Kapitel geschehen soll.268 Wenn man daher auch die Erkenntnis im weiteren Sinne (die von Elementen des richtigen Meinens untrennbar ist und auf diesen aufbaut) als „immer“ oder als „notwendig wahr“ erklärt, handelt es sich eher um eine definitorische Bestimmung der Erkenntnis als um deren Wesensbestimmtheit, etwa in dem Sinne: „Erkennen nennen wir nur dasjenige Meinen oder diejenigen auf Vertrauen und Meinen beruhenden Erkenntnisakte, die der Wirklichkeit entsprechen – im Gegensatz zu all jenen ganz gleichartigen Akten, die auf einem objektiv unbegründeten Meinen und Vertrauen beruhen und deshalb keine Erkenntnis sind, sondern Irrtümer darstellen.“ Wahrheit des Erkennens in diesem weiteren Sinne ist dann das einfache Zusammentreffen einer solchen korrekten Meinung, einer orthé dóxa, mit den Sachen selbst bzw. mit den bestehenden Sachverhalten. Im engeren Sinne von Erkennen hingegen ist ihre Wahrheit eine Wesenseigenschaft einer bestimmten Aktart, eben des Erkennens im rigorosen Sinn, und S454e SOKRATES: Doch aber sind sowohl die Wissenden überredet als die Glaubenden. GORGIAS: //II201// So ist es. SOKRATES: Willst du also, wir sollen zwei Arten der Überredung setzen, die eine, welche Glauben hervorbringt ohne Wissen, die andere aber, welche Erkenntnis? GORGIAS: Allerdings. 268
Vgl. dazu auch Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140; Alexander Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Alexander, Logik, zit., in: Logik (Tübingen: Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963); Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, Kap. 1-2; Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, Teil I, Kap. 3.
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gehört die Wahrheit dem Erkennen notwendig von seinem Wesen her zu. Dabei ist jedes Erkennen im strikten, engeren Sinn durch ein von allen Überzeugungen als solchen verschiedenes rezeptiv-intentionales Entdecken und ein sich selber Transzendieren hin zur erkannten Sache oder dem erkannten Sachverhalt ausgezeichnet. Nicht nur der Definition, sondern der Sache selbst nach gibt es dann kein echt erkennend-rezeptives und den Akt selbst transzendierendes Wirklichkeitsverhältnis, das objektiv nicht wahr sein könnte. Im rein empfangenden Wahrnehmen kann niemals ein Irrtum sein, wie auch Aristoteles hervorhebt, im Erkennen im Unterschied zur richtigen Meinung kann kein Irrtum bestehen, wie Platon bekräftigt. Und ein solches Erkennen ist notwendig für jeden Irrtum und für jede Täuschung schon vorausgesetzt, da kein Irrtum und keine Täuschung auch nur denkbar sind, in denen nichts so erkannt würde, wie es tatsächlich ist. Was aber ist genauer gesagt jenes Erkennen, dem Wahrheit wesenhaft zugehört? An diese wichtige Frage schließt eine zweite an: Gibt es in der weiten Sphäre von Akten, die wir Erkennen nennen können oder die innerhalb der Erkenntnissphäre ihren Platz haben, nur die Erkenntnis selber oder viele andere, die in jeweils verschiedenem Sinne wahr genannt werden können? 5. Was ist der Träger der Erkenntniswahrheit – Sinneswahrnehmung, Wesenserfassung (simplex comprehensio), Sachverhaltserkenntnis, Begriffsbildung, Überzeugung oder Urteilsakt? Man könnte innerhalb der Erkenntnissphäre die Sinneswahrnehmung oder auch die Akte der Wesenserfassung (simplex comprehensio) und der Sachverhaltserkenntnis, aber auch andere intellektuelle Akte und sogar theoretische Antworten auf die Erkenntnis wie Begriffsbildung, Überzeugung, Meinung, oder auch den Urteilsakt als Träger der Wahrheit bezeichnen. Je nach dem mit der Erkenntnisspäre verbundenen Akt, den man im Auge hat, tritt der Sinn von Wahrheit des Erkennens in sehr verschiedener Form auf.
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5.1. Sinneswahrnehmung und Erkenntniswahrheit
Gewiß kann man im Rahmen der Sinneswahrnehmung von wahr und falsch reden, vor allem wenn man jene innige Beziehung bedenkt, kraft deren die menschliche Sinneswahrnehmung von Anfang an von intellektuellen Dimensionen durchwirkt ist, die von unserer sinnenhaften Sachund Sachverhaltswahrnehmung nicht loszulösen sind. Jedes Wahrnehmen eines Gegenstands in seiner Form, als ein Individuum einer Gattung, jede sinnliche Erfassung eines Sachverhalts (wie des Liegens eines Buches auf einem Tisch), der ja in seiner geistigen ontischen Struktur und Wesensgestalt niemals unmittelbarer Gegenstand der Sinne selbst ist, sowie jedes Experiment, dessen Resultat ‚wahrgenommen‘ wird und das auf eine intellektuelle Frage antwortet, ist so eng mit Akten des Fragens und Verstehens verknüpft und von diesen begleitet, daß das, was mit den Sinnen wahrgenommen wird und das, was wir, ergänzend zur Sinneswahrnehmung, nur kraft eines Verstehens und einer Interpretation der Sinnesdaten im Licht intellektuell verstandener Kategorien und Wesenheiten, aber meist auch kraft eines gewissen Vertrauens in die Richtigkeit unserer Sinneswahrnehmung und einiger hypothetisch angenommener oder anderen geglaubter Sachverhalte und Gesetze, erfassen, nur künstlich von einander getrennt werden können. In diesem Sinne spricht Kant eine tiefe Wahrheit aus, wenn er sagt, Sinneswahrnehmungen (Anschauungen) ohne Begriffe (wir würden lieber sagen „ohne Begreifen“) seien blind.269 269
Kant fügt in Kritik der reinen Vernunft diesem Satz die These hinzu, die Begriffe ohne Sinneswahrnehmung seien leer. Aber diese These, vor allem da sie sich nicht auf Erfahrung überhaupt, sondern auf bloße Sinneswahrnehmung bezieht und leugnet, daß der Verstand irgendeiner unmittelbaren intellektuellen Anschauung fähig ist, welche These den radikalsten Gegensatz zu Husserls Analyse der „kategorialen Anschauung“, Schelers Philosophie der Wesensschau und Hildebrands Philosophie der Einsicht in notwendige Wesenheiten darstellt, ist überaus problematisch, ja kann als falsch erwiesen werden, da es unmittelbare Erfahrung geistiger Natur ebenso wie geistige unmittelbare Einsicht in allgemeine Wesenheiten gibt, auch wenn alle Erkenntnis auf eine ursprünglich gebende Erfahrung zurückgeht. Hier der Kantsche Text, Kritik der reinen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe (Berlin: Walter de Gruyter & Co., 1968), Bd. III, B 75: Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben
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Dies bleibt eine korrekte Einsicht, auch wenn man zur Überzeugung gelangt, daß Begriffe und Prinzipien, die nicht von einer Erkenntnis des Wesens der Dinge gespeist sind und in objektiv bestehenden Sachverhalten, sondern nur in den von Kant angenommenen subjektiven Synthesen wurzeln, die Wahrnehmung nur noch blinder machen würden als sie von Natur aus ohne Begriffe schon ist. Denn die Blindheit der Sinne kann nur durch wirkliches Verstehen und wahres Erkennen überwunden werden, nicht durch bloße immanente geistige Operationen und eine Art intellektuellen Leerlauf der Anwendung subjektiver Verstandeskategorien und – prinzipien, denen kein Sachkontakt zugrunde liegt und die nicht mit den Sachen selbst übereinstimmen, auf Erscheinungen. Hier zeigt sich erneut die absolut grundlegende Wahrheit der Erkenntnis als einmalige Form erkennend-rezeptiver Übereinstimmung und erkennenden Zusammentreffens des Geistes mit dem Sein, und es ist gerade diese, die durch Kants Philosophie radikal in Frage gestellt und geleugnet wird.270 Doch kehren wir zum Problem der Erkenntniswahrheit im Reich der Sinneswahrnehmung zurück. Ihre Wahrheit besitzt die Wahrnehmung nicht bloß durch den intellektuellen Erkenntnisbeitrag (der, wenn er nicht den Charakter rezeptiv geistigen Erfassens hätte, auch Irrtum sein oder zu ihm führen könnte), ohne den die Sinneswahrnehmung keine echte humane so nothwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen oder Fähigkeiten können auch ihre Functionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken.
270
Zur entgegengesetzten Auffassung kann man nicht nur Klassiker wie Platon, Plotin, Aristoteles, Augustinus u.a. zitieren, sondern auch Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd I: Prolegomena zu einer reinen Logik; Bd. II, 1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1. Teil, Bd. II, 2: Untersuchungen zur Phänomenologie und Erkenntnis, 2. Teil, hrsg.v. U. Panzer, Husserliana, Bd. xix, 1 und Bd. xix, 2 (Den Haag: Nijhoff, 1984), bes. ebd., II, vi; Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 5. Aufl. (Bern und München: Francke, 1966); Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, and Che cos’è la filosofia? (Zweispr. Ausgabe: engl./ital.) – Collana: Testi a fronte n. 46. 594 S. (Mit Saggio introduttivo von Paola Premoli De Marchi und Saggio integrativo von Josef Seifert), (Mailand: Compiano, 2001). Vgl. meine Kant-Kritik in diesem Punkt in Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, zit.
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Wahrnehmung wäre, sondern auch weil das Wahrnehmen eines Gegenstands und seiner sinnlich erfaßbaren Eigenschaften (Farbe, Ton usf.), so wie sie sind, durch die Sinne selbst bereits eine Wahrheit der Sinneswahrnehmung als solcher besitzt. Die Sinne als solche erschließen uns gewisse Erscheinungen, Eigenschaften und Gegebenheiten so wie sie sind, wenn auch nicht ohne das von der menschlichen Sinneswahrnehmung unlösbare, und wenigstens als Bemühung schon im Baby vorhandene geistige Erfassen,271 in welchem wir auch rein sinnliche Gegebenheiten wie Farben oder Töne als solche, sowie die Dinge (Substanzen), deren Eigenschaften die sinnlich wahrnehmbaren Gegebenheiten sind, und die kausalen Beziehungen, in denen sie stehen, begreifen. Hinsichtlich der über die reine sinnliche Wahrnehmung hinausgehenden Momente der Wahrnehmung (und des mit ihr verknüpften Verstehens und Interpretierens) bildet die Wahrheit der echten Sinneswahrnehmung einen Kontrast zur Falschheit der Sinnestäuschungen. Wenn ein Schizophrener Stimmen hört oder riesige Lastwagen sieht, die auf ihn zufahren, oder ein Träumender im Traum aufschreit, weil er sich von einem Fernlaster erdrückt wähnt, ohne daß es diese Stimmen oder den Lastwagen gäbe, so sind diese Erlebnisse, die uns etwas ganz anders zeigen und glauben machen als es in Wirklichkeit ist, in gewissem Sinne unwahr, auch wenn in dem rein sinnlichen Wahrnehmen des in ihm selbst gegebenen Wahrgenommenen kein Irrtum liegt und wir im Lichte faszinierender und echt phänomenologischer Beiträge Thomas von Aquins später erkennen werden, daß die Falschheit nur im uneigentlichen Sinne in der Sinneswahrnehmung als solcher bestehen kann, sondern eigentlich erst in den Momenten der Interpretation, Überzeugungen und Urteile liegt, die menschliche Sinneswahrnehmung, allerdings auf Grund von deren über das „rein“ in ihnen selber Wahrgenommene hinausweisenden Gestus, auszeichnet; ja solche Momente existieren schon in tierischen Wahrnehmungen, innerhalb deren durch Drogen bewirkte Halluzinationen, auf denen sich ein Tierverhalten 271
Ja Wilhelm von Humboldt glaubt sogar, daß es keine größere Intelligenzleistung gibt als diejenige, die das Kleinkind vollbringt, um von einem sprach-losen Zustand zum ersten Verstehen der Sprache überzugehen. Im Vergleich seien alle Leistungen der Intelligenz von Erwachsenen gering zu achten und deren Herabsehen auf Kinder sei ein versteckter Neid auf dieses dem ihren überlegene Verstehen der Kinder.
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aufbaut, und korrekte Wahrnehmungen unterschieden werden müssen. Trotz dieser notwendigen Differenzierungen ist die die halluzinatorische Wahrnehmung des Schizophrenen oder die Traumwahrnehmung eines Unfalls insofern falsch, als sie uns etwas als wirklich erscheinen läßt, was es nicht ist. Umgekehrt ist die Wahrnehmung des Autos, das uns in einem Unfall tatsächlich verletzt oder gar erdrückt, nur allzu wahr, weil wir hier nicht dem Schein eines als wirklich gegebenen Autos oder einer Gefährdung durch KGB oder CIA Agenten erliegen, wie John Nash in dem Film A Beautiful Mind (und in seinem Leben), sondern ein wirkliches Auto wahrnehmen, das uns tötet. In diesem Zusammenhang sind Thomas von Aquins Bemerkungen über die Sinneserkenntnis und deren Verhältnis zur Wahrheit ebenso faszinierend und sachnah wie weiterer phänomenologischer Aufklärung bedürftig. Insofern die Sinne selbst einfach das darstellen oder „abbilden“, sagt Thomas von Aquin, was ihnen gegeben ist, können sie nur in ähnlicher Weise wie jene Dinge und Erscheinungen selbst „falsch“ sein, die ihrem Wesen nicht entsprechen und die uns zu falschen Urteilen verführen. Interessant ist seine Ausdrucksweise: Wenn also, so sagt der Aquinate, der Gegenstand der Sinne, oder auch die Sinneswahrnehmung selber im Verhältnis zu ihrem Gegenstand, nur wie ein Objekt des Erkennens betrachtet wird, können die Sinneswahrnehmung und der durch sie wahrgenommene Gegenstand nur zur Falschheit Anlaß geben, nicht aber selbst falsch sein. Ein den Augen gebrochen erscheinendes Ruder im Wasser qua so erscheinendes ist nicht falsch, sondern nur das Urteil, es sei gebrochen. Allerdings müssen wir an dieser These des Aquinaten eine leise Kritik anbringen, die dahin geht, daß die Sinneswahrnehmung noch in einem anderen, tieferen und spezifischer auf Erkenntnis bezogenen Sinne wahr ist, nicht nur als wäre sie ein Ding, das nicht falsch sein kann, sondern insofern sie ein echtes Erschließen von etwas ist. Gerade als solches hat sie jene epistemologische Wahrheit des „etwas so Wahrnehmens wie es ist“, was als solches niemals falsch, sondern immer wahr ist, selbst wenn es sich um ein Wahrnehmen im Traum und in der durch Schizophrenie verursachten Halluzination handelt. Auch hier sind uns Bewegung, die Farbe Rot usf. gegeben und als solches wahr erkannt, wie diese sind. Es steckt aber gewiß, worauf Thomas aufmerksam macht, in der Sinneserscheinung als solcher auch eine über das direkt in ihr Wahr-
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genommene hinausgehende Botschaft über die Wirklichkeit. Und diese von der Sinneswahrnehmung als humaner Wahrnehmung untrennbare ‚Botschaft‘ kann der Wirklichkeit entsprechen wie bei der echten Wahrnehmung, oder im Mißverhältnis zu ihr stehen wie die halluzinatorische Wahrnehmung, und also wahr oder falsch sein. Thomas scheint mir dies auch dort zu sehen, wo er darüber spricht, in welchem Sinne die Sinneswahrnehmung dem Geist ähnlich und unähnlich sei. Denn er fügt dem Vergleich der Sinnesgegenstände mit bloßen Dingen eine weitere Einsicht hinzu, daß sich nämlich die Sinne gleichsam zwischen Geist und Dingen befänden: verglichen mit dem Geist seien sie Dinge, verglichen mit den Dingen Geist und Erkenntnis. Noch faszinierender und phänomenologisch relevanter ist die Bemerkung, daß auch insofern die Sinne und die in ihnen dargestellten Gegenstände wie Dinge betrachtet würden, so sei doch der Sinnesgegenstand niemals rein als solcher das wahrgenommene Ding, sondern enthielte immer einen Verweis auf einen Gegenstand jenseits seiner selbst (als Erscheinung oder phantasma betrachtet), was erst den Unterschied etwa zwischen echter Wahrnehmung eines kleinen Mädchens und der halluzinatorischen Wahrnehmung desselben Mädchens durch John Nash erklären kann, die ja beide als Wahrnehmungserlebnis ganz gleich sein können. Und in dieser Weise, sagt Thomas, könnten auch der Gegenstand der Sinne sowie die Sinneserkenntnis selber, und zwar auch in ihrer Betrachtung ‚als Ding‘, also als Objekt der Sinne, in einem besonderen Sinne wahr oder falsch sein – nämlich in ihrer richtigen oder unrichtigen Verweisung über sich selbst hinaus, in ihrem wahren oder falschen Anspruch hinsichtlich der ontologischen Beschaffenheit und Unabhängigkeit des Wahrgenommenen, wobei man hinzufügen könnte, daß ein solcher Unabhängigkeitsanspruch entweder im Wesen des wahrgenommenen Gegenstandes selbst oder aber in der besonderen Art der Gegebenheitsweise des durch die Sinne wahrgenommenen Gegenstandes (etwa eines kläffenden und beißenden Hundes, den wir sehen und hören, vielleicht auch fühlen) wurzelt. Insofern die Sinne dem Intellekt ähnlich sind, führt Thomas aus, und eine Art „ästimatives“ Urteil enthalten, oder auch in der sinnenhaften Phantasie Falsches wie Wahres vorgestellt werden kann, sind die Sinne gleichsam in Analogie zum Intellekt und zu dessen Urteilen wahr oder
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falsch, indem sie der Wirklichkeit gegenüber angemessen oder unangemessen sein können.272 Die Ausführungen des Aquinaten enthalten zweifellos vieles, was aus einem sehr phänomenologischen Zugang zu den Phänomenen geschöpft ist. Ohne Frage ist weder Wahrheit noch Falschheit einfach im Sinnesdatum als solchem, sofern es uns gegeben ist: „Wenn sie [die Sinnlichkeit] also dem Verstand gegenüber gestellt wird, sofern sie ein Ding ist, so gibt es auf keine Weise Falschheit in den Sinnen im Vergleich zum Verstand...“273 In der Sinnesgegebenheit eines gebrochenen Ruders als reinem Datum liegt keine Falschheit. Anders verhält es sich, wenn das Sinnesdatum in einer der Bedeutungen ontologischer Wahrheit und ontologischer Falschheit betrachtet wird, nämlich als Quelle wahrer oder falscher Urteile und wenn der Sinneseindruck uns etwas über die Dinge nahelegt, was nicht der Wirklichkeit entspricht, wenn also die Dinge anders aussehen als sie wirklich sind. Balduin Schwarz spricht in diesem Zusammenhang von einem ‚objektiven Schein‘,274 von einer Gegebenheit, die etwas nicht Seiendes nahelegt oder einen Sachverhalt glauben läßt, der nicht besteht. In diesem Sinne, „sofern sie nämlich eine richtige oder falsche Beurteilung im Verstande hervorrufen“, werden Dinge, aber auch besonders Sinneserscheinungen, wahr oder falsch genannt. In einer dritten Weise verstanden, sind die Sinne, sofern nicht ihre intentionalen Gegenstände, sondern vielmehr ihre eigene bewußte Tätigkeit – und zwar auch in ihrem Verhältnis zum Verstandesurteil – mit berücksichtigt wird, Sitz von Wahrheit und Falschheit. Auch wenn wir von den Urteilen absehen, die der Verstand auf Grund der Sinneswahrnehmungen und in engster Verbindung mit ihnen fällt, liegt in dem sich Zeigen der sinnenhaften Gegenstände, wie sie sind, eine erste Stufe der Erkenntniswahrheit, die wir noch genauer werden untersuchen müssen, und in ihrem die Dinge Zeigen, wie sie nicht sind, ein Moment der Falschheit.
272 273 274
Thomas, De veritate, ebd., Q I, a 1. Ebd. Balduin Schwarz, Das Problem des Irrtums in der Philosophie.
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5.2. Begriffsbildung, Definition, Erkenntnis und Urteilsakt als mögliche Träger der Wahrheit
Thomas von Aquin führt im Zusammenhang der Begriffs- und Urteilsbildung sowie der Frage, ob Definitionen wahr sein können, eine Fülle faszinierender und höchst phänomenologisch durchgeführter Unterscheidungen und Einsichten ein, auf die wir hier nur kurz hinweisen wollen. So unterscheidet er die Akte der Begriffsbildung und „Formung“ des Wesensbegriffs, dessen Bildung in der Definition kulminiere, von den eigentlichen Urteilsakten. Weder den Akt der Wesenserkenntnis und Definition, noch deren Ergebnis, den Begriff und die Definition selbst, betrachtet Thomas aber als eigentlichen Träger der Wahrheit: Wie das Wahre sich früher im Verstand findet als in den Dingen, so findet es sich auch früher in der zusammenfassenden und zergliedernden Verstandestätigkeit als in der Verstandestätigkeit, welche die Washeit der Dinge formt.275
Innerhalb der Definition müssen wir jedoch, wie wir kritisch hinzufügen möchten, noch die wichtige Unterscheidung zwischen einer sogenannten nominellen Definition (oder auch Begriffsdefinition, Wortdefinition) und einer Sachdefinition (Realdefinition) machen, zwischen denen ein gewaltiger Abgrund gähnt, der etwa in der Diskussion des ontologischen Gottesbeweises eine grundlegende Rolle spielt.276 Während wir in der letzteren Art der Definition auch ein Urteil eigener Art über ein Wesen erblicken und diesem Wahrheit oder Falschheit im vollen Sinne zuschreiben möchten, so sind gewiß der Begriff als solcher, und in gewisser Hinsicht auch die Definition, solange diese nämlich nicht ein Urteil über das Wesen einer Sache zum Ausdruck bringt, sondern entweder nur eine nominelle statt einer realen Definition oder nur ein zu prüfender Satz ist, ebenso wie der Akt des Definierens, noch nicht Träger von Wahrheit und 275 276
Siehe Thomas von Aquin, De veritate, Q I, a 3, c (Übers. E. Stein), a.a.O., S. 16. Brentano baut auf dieser Unterscheidung seine (m.E. unberechtigte) Kritik des ontologischen Gottesbeweises auf. Vgl. Franz Brentano, Vom Dasein Gottes, hrsg. A. Kastil (Hamburg: F. Meiner, 1980); ebenfalls Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2.
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Falschheit im vollen Sinne. Thomas führt einen interessanten, wenn auch für sich selber ungenügenden Grund hierfür an – daß nämlich erst im Urteilsakt das Eigene des Intellekts und dessen eigentümliche Tätigkeit, die dann mit dem Sein übereinstimmen könne, liege.277 Man kann freilich hier Mehreres fragen: Liegen nicht in Begriffsbildungen, in Definitionen von Wesen und erst 277
Denn die Idee des Wahren besteht in der Übereinstimmung des Dinges und der Erkenntnis; es stimmt aber nicht ein- und dasselbe mit sich überein, sondern es ist eine Gleichheit von Verschiedenem; darum findet sich dort zuerst die Idee der Wahrheit im Verstande verwirklicht (invenitur ratio veritatis in intellectu), wo der Verstand zuerst beginnt etwas Eigenes zu haben, was das Ding außerhalb der Seele nicht hat, sondern etwas, was ihm entspricht, so daß zwischen beiden Übereinstimmung angetroffen werden (attendi) kann. Der Verstand aber, der die Washeiten formt, hat nur ein Bild (similitudo) des Dinges, das außerhalb der Seele existiert, sowie die Sinnlichkeit, sofern sie die Spezies des sinnenfälligen Dinges (res sensibilis) aufnimmt; doch wenn der Verstand anfängt, über das wahrgenommene Ding zu urteilen, dann ist eben dieses sein Urteil etwas ihm Eigenes, was sich nicht draußen im Dinge findet. Wenn aber das, was draußen im Dinge ist, mit ihm übereinstimmt, dann heißt das Urteil wahr. Der Verstand urteilt aber dann über ein wahrgenommenes Ding, wenn er sagt, daß etwas ist oder nicht ist, und das ist Sache des zergliedernden und zusammenfassenden Verstandes; darum sagt auch der Philosoph (Metaphysik VI, T. 8), das Zusammenfassen und Zergliedern sei im Verstand und nicht in den Dingen. Und daher kommt es, daß die Wahrheit sich zuerst in der zusammenfassenden und zergliedernden Verstandestätigkeit findet; sekundär aber und nachfolgend (secundario et per posterius) wird vom Wahren auch bei der Definitionen bildenden Verstandestätigkeit gesprochen (in intellectu formante definitiones); darum heißt eine Definition wahr oder falsch, wo ein wahres oder falsches Zusammenfassen vorliegt (ratione compositionis verae vel falsae), letzteres dann nämlich, wenn sie als Definition für etwas aufgestellt wird, dessen Definition sie nicht ist, z.B. wenn die Definition des Kreises dem Dreieck zugewiesen wird; oder auch, wenn die Teile der Definition nicht zusammengefaßt werden können. Wenn z.B. die Definition eines empfindungslosen Lebewesens (rei animalis insensibilis) aufgestellt wird, so ist die darin enthaltene Zusammenfassung, daß nämlich ein Lebewesen empfindungslos sei, falsch. Und eine Definition wird nur mit Beziehung auf die Zusammenfassung (per ordinem ad compositionem) wahr oder falsch genannt, so wie das Ding nur mit Beziehung auf den Verstand wahr genannt wird. Siehe ebd., a 3 (Übers. E. Stein, a.a.O.), S. 16/17.
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KAPITEL 2
recht in definitorischen Urteilen über das Wesen einer Sache eigene Akte, von denen Wahrheit oder Falschheit ausgesagt werden kann? Gibt es nicht auch richtige und falsche Definitionen, korrekte und unkorrekte Begriffe, die diesen Akten entsprechen? Während aber diese Akte in ihrer eigentümlichen Setzung eines Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammentreffen können, müssen wir nicht in der von solchen Urteilen verschiedenen, aber ihnen entsprechenden Sachverhaltserkenntnissen, die den wahren – im Gegensatz zu den falschen – Urteilen zugrundeliegen, einen völlig anderen rezeptiven Akt erkennen, von dem erst Erkenntniswahrheit im eigentlichen Sinn ausgesagt wird,278 weil er von rezeptiver Transzendenz ist, was aber auf das Urteilen als solches nicht zutrifft? Ist es daher nicht unter den Akten innerhalb des kognitiven Lebens der Person insbesondere der Erkenntnisakt, der spezifisch wahr ist, nicht der spontane Akt des Urteilens? Ist es nicht der Akt des rezeptiv-entdeckenden Teilhabens am Sein, dasjenige Erkennen, das der “compositio” und “divisio” des Urteilens selbst erst ihr rationales Fundament verleiht und deshalb in einem primären Sinn Träger der Erkenntniswahrheit genannt zu werden verdient?279 278 279
Dies sagt auch Thomas von dem “habitus principiorum”. In diesem Sinne scheint auch Thomas der Sachverhalts- und der Gegenstandserkenntnis (Wesenserkenntnis) Wahrheit zuzuschreiben, z.B. im folgenden Text: Der Name des Verstandes (intellectus) ist davon hergenommen, daß er das Innerste des Dinges versteht; denn intelligere heißt gleichsam intus legere (innen lesen); die Sinne nämlich und die Einbildungskraft erfassen nur die äußeren Akzidentien; der Verstand allein dringt zum Wesen der Sache vor. Doch darüber hinaus betätigt sich (negotiatur) der Verstand auf Grund der erfaßten Wesenheiten der Dinge auf verschiedene Weise in Schlußverfahren und Forschung (ratiocinando et inquirendo). Der Name des erkennenden Geistes kann also auf doppelte Weise verstanden werden. Einmal nämlich nur im Verhältnis zu dem, wovon ihm zuerst der Name beigelegt wurde; und so sprechen wir in eigentlichem Sinne von Erkennen, wenn wir die Washeit der Dinge erfassen, oder wenn wir das erkennen, was dem Verstand sofort bekannt ist, wenn ihm die Washeiten der Dinge bekannt sind, wie die ersten Prinzipien, die wir erfassen, sobald wir die Termini erfassen; darum bezeichnet man den Verstand als den Habitus der Prinzipien (habitus principiorum). Die Washeit des Dinges aber ist das eigentliche Objekt des Verstandes; wie daher die sinnliche Auffassung der spezifischen Sinnesdaten immer wahr ist, so auch die geistige Erkenntnis in der Erfassung dessen, w a s etwas ist.
Siehe Thomas von Aquin, Über die Seele, III, Komm. 26; Ebd., a 12, corp. Vgl. auch John F. Crosby, “The Role of Receptivity in the Formation of Personality”, in Balduin Schwarz (Ed), Wahrheit, Wert, Sein (Regensburg: Verlag Josef Habbel,
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Ist ferner nicht die Aussage von Thomas, daß erst das Urteil (wobei der Urteilsakt nicht scharf vom Urteilsinhalt und auch nicht vom Akt der Sachverhaltserkenntnis abgegrenzt ist) wahr oder falsch sei, weil es den dem Intellekt eigenen Beitrag darstelle, ungenügend, weil etwa auch der Frageakt einen ganz eigenen Beitrag des Subjekts darstellt, ohne daß ihm deshalb Wahrheit oder Falschheit zukommen können? Muß daher nicht, auch um den spezifischen Sinn, in dem der Urteilsakt (und nicht nur das objektive logische Urteilsgebilde) als wahr bezeichnet werden kann, nicht bloß gesehen werden, daß im Urteilsakt ein Eigenbeitrag des Intellekts liegt, sondern auch das Spezifikum jenes ‚Eigenen‘ verstanden werden, um von Wahrheit sprechen zu können? Geht nicht ferner aus einer solchen Betrachtung des Urteilsaktes in seiner Verschiedenheit vom Erkenntnisakt hervor, daß der mentale Akt, dem in der Erkenntnissphäre primär Wahrheit zugesprochen werden sollte, die rezeptive Erkenntnis selber ist, auch wenn man dem adäquat urteilenden Urteilsakt gleichfalls und in einem anderen Sinne Wahrheit zusprechen kann und sogar seinem Inhalt, dem Urteil selbst, in einem fundamentalen und überaus präzisen Sinn, Wahrheit zusprechen muß. Müssen wir nicht ferner das Eigene der Erkenntnisakte, welche Sachverhalte erfassen, und die Thomas ganz ähnlich wie A. Reinach und D. von Hildebrand von der reinen Gegenstandserkenntnis abgrenzt,280 ganz von dem „Eigenen“ des Urteilsaktes, und dieses wieder scharf von dem objektiven Urteil im Sinne des aus Begriffen (Bedeutungseinheiten) bestehenden komplexen Gedankengebildes, das wir im nächsten Kapitel herausarbeiten werden, unterscheiden? 5.3. Wahrheit des Urteilsaktes oder des Urteilsinhalts?
Wenden wir uns innerhalb der Untersuchung der verschiedenen möglichen Kandidaten für den Platz eines Trägers der Wahrheit im Leben des Intellektes zunächst dem von der Tradition her naheliegendsten Akt zu, dem Urteilen, sowie der Identifizierung der Erkenntniswahrheit mit der
280
1972), 253-261. Siehe dazu auch J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, a.a.O., Kap. i-iii. Siehe D. von Hildebrand, Die Idee der sittlichen Handlung, a.a.O., Kap. i; A. Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“.
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KAPITEL 2
Wahrheit des Urteilens. Diese Wahrheit als Richtigkeit oder Angemessenheit des Denk- oder Urteilsaktes wurde traditionell – etwa bei Anselm von Canterbury und im Thomismus – als Adäquation des Urteilsaktes an die Wirklichkeit gedeutet. Dabei wurde diese Adäquation oder Richtigkeit noch eher äußerlich von der Erkenntnisweise her, in der sie uns gegeben ist, nämlich als „nur durch den Geist wahrnehmbare Richtigkeit“,281 bestimmt, was die genaue Eigenart dieser Adäquatio ganz unterbestimmt, ja fast völlig unbestimmt läßt, da es gänzlich verschiedene Arten von Adäquatio innerhalb jener Richtigkeiten gibt, die nur der Geist wahrzunehmen vermag.282 Wenn man diese allgemeinere Idee der Adäquation spezifischer als eine angemessene Beziehung zwischen Wirklichkeit bzw. wirklich bestehendem Sachverhalt und Urteilsakt sieht, so wäre der bewußte Akt des Behauptens, daß etwas sei oder so sei, oder daß es nicht sei oder nicht so sei, welche Thomas mit Aristoteles Akte des Trennens und Verbindens nennt, Träger der Wahrheit des Denkens, wobei kaum zwischen dem Akt der Sachverhaltserkenntnis und dem Behauptungsakt unterschieden wird, sodaß manches, was dort über das Urteil (nach der einfachen Gegenstandserkenntnis, simplex comprehensio, und vor der Schlußfolgerung, ratiocinatio, als zweite Operation des Intellekts genannt und daher sicher auch die Sachverhaltserkenntnis unter sich begreifend) gesagt wird, wohl eigentlich von der Sachverhaltserkenntnis gilt. Zweifelsohne kann der bewußte Akt des Urteilens in einer angemessenen oder unangemessenen Beziehung zu den geurteilten Sachverhalten stehen. Diese Beziehung der Angemessenheit oder Unangemessenheit des Behauptens, bzw., wie Anselm sagt, der cogitatio, im Verhältnis zu den Sachen wäre dann Träger der Wahrheit oder Falschheit des Urteilens. Aber ist es primär der Akt des Urteilens, der wahr oder falsch ist? Alexander Pfänder und Edmund Husserl haben implizite Kritik an dieser Deutung der Wahrheit geübt. Sie haben betont, und mit starken Gründen, daß es nicht, zumindest nicht primär, der Akt des Urteilens ist, 281 282
Anselm von Canterbury, De ver., Kap. 11. Vgl. Anselm von Canterbury, De veritate, cap. 3. Anselm von Canterbury, Anselm of Canterbury (Aosta., S. Anselmi Opera omnia, (Hrsg.) Franciscus Salesius Schmitt, 2 Vol. (Stuttgart-Bad-Cannstatt: Friedrich Frommann/Günter Holzboog, 1968), Volume 1, Page 180.
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der wahr oder falsch ist. Dieser existiert oder existiert nicht, ist wirklich oder nicht, etc.; in ihm werden wahre oder falsche Urteile gefällt, aber diese Urteile selbst sind ganz anderer Seinsart als personale Akte. Sie bestehen aus Begriffen, nicht die Akte; sie sind identisch dieselben, gleich welches Subjekt urteilt, nicht so die Akte. Nicht die individuell verschiedenen, bewußt vollzogenen Akte des Urteilens sind die eigentlichen Träger der Urteilswahrheit. Wir werden die Gründe für die Fassung wahrer und falscher Urteile als Bedeutungseinheiten, nicht als Akte, erforschen, wenn wir in den nächsten Kapiteln auf die Wahrheit des Urteils bzw. auf die logische Wahrheit zurückkommen. Die Phänomenologen des Datums „Urteilswahrheit“ haben also nicht dem Erkenntnisakt und auch nicht dem Urteilensakt, dem Thomas von Aquin an vielen Stellen primär und formaliter Wahrheit zuspricht, sie haben nicht dem „Akt der Vereinigung oder der Trennung“, als den Thomas mit Aristoteles das Urteil auffaßt, sondern einem objektiven Gebilde logischer Art, dem Urteile, das nicht individuell wie Urteilsakte ist, Wahrheit zugesprochen.283 Pfänder und Husserl, sowie viele andere Logiker und Phänomenologen haben also die Wahrheit, die mit dem Geist verknüpft ist, einem Träger zugesprochen, der nicht selbst ein Akt, sondern ein logisches Gebilde, eine ideale Bedeutungseinheit höherer Ordnung ist, oder besser, sie haben das Urteil als eine eigentümliche komplexe und Sachverhalte setzende bzw. behauptende Bedeutungseinheit oder objektive gedankliche Einheit aufgefaßt, wie wir im Anklang an Husserl, Pfänder und Meinong sagen können. Allerdings hat Husserl die Eigentümlichkeit dieser „objektiven Gedanken“ nicht klar gefaßt, wenn er sie als „Aktspezies“ von Akten des Meinens interpretiert. Dieser Aspekt der Logischen Untersuchungen kann immer noch als ein gewisser Psychologismus aufgefaßt werden. Im 283
Allerdings gibt es ebenfalls viele Thomas-Texte, in denen auch er das Urteil nicht als Akt, sondern als propositio, enunciatio und als ein vom Akt verschiedenes “ens rationis”, als Gedankending, faßt und diesem dann Wahrheit oder Falschheit zuspricht. Thomas spricht in über 900 Stellen von der propositio. Vgl. auch Anselm von Canterbury, De grammatico, iii: Ostende ergo in quo et hic et ibi tanta sit deceptio, ut cum et veræ propositiones et secundum naturam syllogismorum conexæ videantur, nulla tamen eorum conclusiones veritas tueatur.
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KAPITEL 2
Gegensatz dazu ist bei Thomas an manchen Stellen eine viel bessere Phänomenologie der propositio zu finden. Diese ganz neuartige Entität, die definitiv nicht eine Aktspezies ist, ist Träger von Wahrheit und Falschheit und über die genauere Natur dieser Urteile entbrannte eine weitere Debatte, der wir uns in den nächsten Kapiteln zuwenden werden. Obwohl wir uns in dieser Frage der phänomenologischen Logik des Urteils anschließen, ja sie in Beziehung auf das Phänomen der Urteilswahrheit noch schärfer vertreten werden als Husserl oder Pfänder, so darf man unseres Erachtens nicht leugnen, daß es einen guten Sinn ergibt, nicht eine rein logische Entität, die propositio, als alleinigen Träger der Wahrheit aufzufassen, sondern auch in einem gewissen Sinne Behauptungsakte und das Denken selbst wahr oder falsch zu nennen, bzw. in der Angemessenheit oder Unangemessenheit des Behauptungsaktes seine Wahrheit oder Falschheit zu erblicken. Eine Lehre, die ausschließlich den nicht personalen Bedeutungseinheiten als solchen und nicht personalen Akten Wahrheit zusprechen wollte, würde dem Verdikt Hegels verfallen, wenn dieser sagt: „Dagegen muß behauptet werden, daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann.“284 Wenn man 284
Man muß zugeben, daß dieses Hegelzitat im Zusammenhang betrachtet anders zu interpretieren ist und die dialektische Hegelsche Auffassung anzielt, nach der die Wahrheit nicht fein säuberlich vom Irrtum getrennt sein soll, sondern sogar dasselbe wahr und falsch sein oder werden kann: Das Wahre und Falsche gehört zu den bestimmten Gedanken, die bewegungslos für eigene Wesen gelten, deren eines drüben, das andere hüben ohne Gemeinschaft mit dem ändern isoliert und fest steht. Dagegen muß behauptet werden, daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben und so eingestrichen werden kann. Noch gibt es ein Falsches, sowenig es ein Böses gibt.
[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 41. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15709 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 40)]. Vgl. auch etwa den Text: Der Dogmatismus der Denkungsart im Wissen und im Studium der Philosophie ist nichts anderes als die Meinung, daß das Wahre in einem Satze, der ein festes Resultat ist oder auch der unmittelbar gewußt wird, bestehe.
[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 43. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15711 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 41)].
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bedenkt, daß das objektive, aus Begriffen bestehende Urteil so sehr auf den geistigen Akt des Behauptens hingeordnet ist, daß es nur in ihm tatsächlich gedacht und dadurch, als Inhalt oder sinngemäßes Korrelat des Urteilsaktes, gleichsam erst entsteht und zur Behauptung wird, leuchtet dieser Sinn von Wahrheit der cogitatio des Urteilenden ebenso ein wie wenn man sich klarmacht, daß die reinen Bedeutungseinheiten sozusagen ein totes, apersonales und nicht verstandenes Gebilde sind, solange sie nicht gedacht und im Behauptungsakt als solche erfaßt und geurteilt werden. Das objektive, aus Begriffen zusammengesetzte Urteil erhält sozusagen Leben und Kraft erst durch die Urteilsakte. Und wenn die cogitatio, der Behauptungsakt, das denkende Setzen des Urteils der Wirklichkeit gemäß urteilt, kann man sicher auch diesem Denken Wahrheit nicht absprechen. Vielleicht leuchtet dies noch deutlicher ein, wenn wir an den Irrtum denken, der ja nicht primär das objektive falsche Urteil ist, das wir mitunter Irrtum nennen, sondern das im falschen Meinen und Behaupten liegende Verfehlen dessen, was wirklich der Fall ist. Auch ein solches Verfehlen der Wirklichkeit in dem Akte, der Falsches glaubt und dann behauptet, besitzt eine diesem Akte selber eigene Falschheit. Obwohl dies deutlicher einleuchtet als die Wahrheit des richtigen Urteilens, können wir daraus doch schließen, daß auch umgekehrt das richtige Urteilen, der Akt, in dem ein wahres Urteil, dem eine wahre Überzeugung zugrunde liegt, gefällt wird, kraft seiner angemessenen Beziehung zu den Dingen Ort und Träger einer bestimmten Dimension der gnoseologischen Wahrheit genannt werden kann. Dasselbe gilt auch von den Überzeugungen selber. Trotz der wichtigen Beiträge zur Klärung des Wesens der Urteilswahrheit als Eigenschaft des Urteilsinhalts, also jenes ‚Urteils‘, das sich von Urteilsakten radikal unterscheidet, durch einige Phänomenologen müssen wir den Begriff der Wahrheit des Erkenntnis-, aber auch den des Urteilsaktes, als einen durchaus möglichen und sogar hochbedeutsamen Wahrheitsbegriff festhalten, der bei Thomas zu Recht eine wichtige Rolle spielt.
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6. Erkenntnisakte als Träger der Erkenntniswahrheit und die verschiedenen Abstufungen und Gegensätze der Erkenntniswahrheit 6.1. Erkenntniswahrheit als solche und die Wahrheit der Erkenntnisakte im engeren Sinn (evidente und unbezweifelbare Erkenntnis) als der eindeutigste, unendlich abgestufte, Träger der Erkenntniswahrheit
Kehren wir zum Erkennen im eigentlichen Sinne der rezeptiven Gegenstands- und Wesenserfassung und der Sachverhaltserkenntnis zurück. Denn zu ihm gehört „Erkenntniswahrheit“ primär.285 Ein Erkenntnisakt, und in erster Linie nicht der Akt des Urteilens, sondern der des rezeptiven Erkennens selbst, ist durch seine Offenheit und Entsprechung gegenüber dem Sein, und zwar in dem Maße seines tieferen Erfassens eines Objekts, wie es wirklich ist, d.h. in dessen wirklichem Sein und Wesen, wahr. Wenn es keine Erkenntnis, sondern nur Irrtum und das einem Schein Erliegen gäbe,286 gäbe es auch diese Erkenntniswahrheit nicht. Das aber ist wesensunmöglich, da es auch Irrtum ganz ohne Erkenntnis nicht gibt und jeder Irrtum und Zweifel Erkenntnis voraussetzt, wie Augustinus und Descartes in ihrer Analyse des Cogito gezeigt haben. Jeder Irrtum und jeder Schein setzt eine Reihe von Erkenntnissen voraus, die nicht selber Schein oder Irrtum sein können: z.B. muß wahr sein und erkannt werden, wie es ist, daß ich etwas sehe oder höre, damit Schein oder Irrtum, die durch das Gesehene oder Gehörte zu Stande kommen, überhaupt entstehen können. Und diese jedem Schein und Irrtum zugrundeliegenden Wahrnehmungen und Erkenntnisse sind wahr und manche von ihnen sind auch Erkenntnisse im engeren Sinne evidenter Erkenntnis. In einer bestimmten Hinsicht besitzt keine menschliche Erkenntnis die Erkenntniswahrheit in einem höheren Sinn als die im echten Sinne evidente Erkenntnis, d.h. als jene Erkenntnis, in der der Gegenstand, so wie er ist, mit einer unfehlbaren Gewißheit erfaßt wird und die ihn erfassende Erkenntnis selbst in einer Weise in ihrer Wahrheit erkannt wird, die jeden
285
286
Daß der Akt des Irrens (Überzeugung und Urteil, das sich von Erkenntnis loslöst) ganz anderer Natur ist als Erkenntnis im engeren Sinn, habe ich andernorts ausgeführt: in Erkenntnis objektiver Wahrheit2, Teil I, Kap. 3. Siehe auch J. Seifert, Back to Things in Themselves, zit.
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Zweifel ausschließt und von jedem Zweifel vorausgesetzt wird.287 Die Erkenntniswahrheit in jenem vollen Sinne, in welchem sie in einer evidenten und unbezweifelbaren Erkenntnis lebt, kann auch als unmittelbares Wissen um Wahrheit bezeichnet werden, wie Husserl dies tut: Zum Begriff der Erkenntnis gehört, daß sein Inhalt den Charakter der Wahrheit habe.288 Husserl bestimmt in seiner Kritik des zum Relativismus führenden Psychologismus, der logische Gesetze nur als psychologische Denkgesetze auffaßt, die Evidenz als ein unmittelbares Haben der Wahrheit und läßt in den Logischen Untersuchungen keinen Zweifel daran, daß diese Wahrheit absolut und in keiner Weise auf den Menschen relativ ist: Auch das ‚Ich bin‘ und ‚Ich erlebe dies und jenes‘ wäre eventuell falsch; gesetzt nämlich, daß ich so konstituiert wäre, diese Sätze auf Grund meiner spezifischen Konstitution verneinen zu müssen… Der wesentliche Kern 287
288
Vgl. dazu die ausführliche Entwicklung solcher unbezweifelbarer Erkenntnis im Cogito bei Dietrich von Hildebrand, „Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt“, Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen Hildebrands: „Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis“, Aletheia 6/1993-1994 (1994), 2- 27; vgl. ferner Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism, sowie Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1999). Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, zit., Kap. 7. Der volle Text lautet: Von psychologistischer Seite könnte jemand unserer Position entgegenhalten, daß wie alle Wahrheit, so auch die der logischen Gesetze in der Erkenntnis liegt, und daß die Erkenntnis als psychisches Erlebnis selbstredend psychologischen Gesetzen untersteht. Aber ohne hier die Frage erschöpfend zu erörtern, in welchem Sinne die Wahrheit in der Erkenntnis liegt, weise ich doch darauf hin, daß keine Änderung psychologischer Tatsächlichkeiten aus der Erkenntnis einen Irrtum, aus dem Irrtum eine Erkenntnis machen kann. Entstehen und Vergehen der Erkenntnisse als Phänomene hängt natürlich an psychologischen Bedingungen, so wie das Entstehen und Vergehen anderer psychischer Phänomene, z.B. der sinnlichen. Aber wie kein psychisches Geschehen es je erreichen kann, daß das Rot, das ich eben anschaue, statt einer Farbe vielmehr ein Ton, oder daß der tiefere von zwei Tönen der höhere sei; oder allgemeiner gesprochen, so wie alles, was in dem Allgemeinen des jeweiligen Erlebnisses liegt und gründet, über jede mögliche Änderung erhaben ist, weil alle Änderung die individuelle Einzelheit angeht, aber für das Begriffliche ohne Sinn ist: so gilt das Entsprechende auch für die ,Inhalte‘ der Erkenntnisakte. Zum Begriff der Erkenntnis gehört, daß sein Inhalt den Charakter der Wahrheit habe.
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KAPITEL 2 dieses Einwandes besteht darin, daß der Relativismus auch in evidentem Widerstreit ist mit der Evidenz des unmittelbar anschaulichen Daseins.289
Auch von dem Haben der Wahrheit in evidenter Erkenntnis spricht Husserl in einer Weise, die das Wesen der Erkenntniswahrheit faßt: Evidenz ist vielmehr nichts anderes als das „Erlebnis“ der Wahrheit. … Das evidente Urteil aber ist ein Bewußtsein originärer Gegebenheit. Zu ihm verhält sich das nicht-evidente Urteil analog, wie sich die beliebige vorstellende Setzung eines Gegenstandes zu seiner adäquaten Wahrnehmung verhält. Das adäquat Wahrgenommene ist nicht bloß ein irgendwie Gemeintes, sondern, als was es gemeint ist, auch im Akte originär gegeben, d.h. als selbst gegenwärtig und restlos erfaßt... Die Analogie, die alle originär gebenden Erlebnisse verbindet, führt dann zu analogen Reden: man nennt die Evidenz ein Sehen, Einsehen, Erfassen des selbst gegebenen („wahren“) Sachverhalts bzw., in naheliegender Äquivokation, der Wahrheit.290
Jedoch hat Edmund Husserl gerade in diesem Punkte eine radikale Wende, die viel radikaler als die berühmte Heideggersche ‚Kehre‘ ist, erlebt. Er hat diesen Objektivismus vollständig verlassen und ist einem „transzendentalen Relativismus“ verfallen,291 und zwar schon 1905, indem er das evidente Erfassen von etwas, das nicht nur rein intentionaler Gegenstand sein kann, sondern in seinem vom Subjekt unabhängigen Sein an sich erfaßt wird, in Frage stellt, ja leugnet.292 289
290
291
292
Prolegomena, vii, § 36. Ich kann daher Elisabeth Ströker nicht zustimmen, wenn sie Evidenz bei Husserl, zumindest beim Husserl der Logischen Untersuchungen, auf einen bloßen Charakter im Subjekt, auf eine Erfüllung bestimmter Akte in anderen Akten, zurückführen will. Dies verkennt das Wesen der Evidenz und der Erkenntniswahrheit. Vgl. Elisabeth Ströker, „Husserls Evidenzprinzip: Sinn und Grenzen einer methodischen Norm der Phänomenologie als Wissenschaft“, Zeitschrift für philosophische Forschung (Jänner-März 1978), 32, 3-30. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, Prolegomena, Kap. 8, § 51, S. 193. Vgl. Walter Hoeres, Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie (Stuttgart: Kohlhammer, 1969); ders., “Critique of the Transcendental Metaphysics of Knowing, Phenomenology and Neo-Scholastic Transcendental Philosophy.” Aletheia (1978) I,1, 353-69. Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (Den Haag: Martinus Nijhoff,
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Damit verläßt Husserl, nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner in die Jahre zwischen den Logischen Untersuchungen und 1905 fallenden Kantstudien, seine in den Logischen Untersuchungen gewonnenen Einsichten. Je evidenter die Erkenntnis ist, desto wesenhafter ist sie wahr – ihrer Natur nach wahr und keineswegs bloß ihrem Gegenstande ähnlich. Dies gilt nicht für die Gewißheit im subjektiven Sinne, von der etwa Thomas von Aquin sehr scharfsinnig nachweist, daß sie nicht nur der Erkenntnis, sondern auch der Meinung, und sowohl dem wahren als auch dem falschen Glauben, zukommen kann.293 Denn jene Überzeugungen, die nicht eine reine Folge der Erkenntnis im engeren Sinne darstellen, sondern die sich gleichsam vom rezeptiven Erkenntnisakt verselbständigen und Zustim1950), S. 23, 81-84, Beilage II. Vgl. auch Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (The Hague: Martinus Nijhoff, 1950); sowie deren englische Übersetzung, The Idea of Phenomenology, transl. William P. Alston and George Nakhnikian (The Hague: Martinus Nijhoff, 1964); vgl. ebenfalls Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, I, Husserliana Bd. 3, ed. H. L. Van Breda, hrsg. v. W. Biemel (Den Haag, 1950). Es ist schwer zu begreifen, wie derselbe Denker, der diese Urform und Urbedingung bewußtseinsmäßiger Transzendenz in der erkennenden Selbstüberschreitung hin zur idealen und wirklichen Welt so klar gesehen hat und dadurch Wegweiser des Durchbruchs zu einer objektivistischen Philosophie wurde, die tiefere Transzendenz der Erkenntnis in seinem späteren Werk so radikal verfehlen konnte, daß er sogar schrieb: Transzendenz in jeder Form ist ein immanenter, innerhalb des ego sich konstituierender Seinscharakter. Jeder erdenkliche Sinn, jedes erdenkliche Sein, ob es immanent oder transzendent heißt, fällt in den Bereich der transzendentalen Subjektivität als der Sinn und Sein konstituierenden. Das Universum wahren Seins fassen zu wollen als etwas, das außerhalb des Universums möglichen Bewußtseins, möglicher Erkenntnis, möglicher Evidenz steht,... ist unsinnig. Wesensmäßig gehört beides zusammen, und wesensmäßig Zusammengehöriges ist auch konkret eins, eins in der absoluten einzigen Konkretion der transzendentalen Subjektivität.
293
Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. u. eingel. von S. Strasser, in: Husserliana: Gesammelte Werke E. Husserls, auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Louvain) unter der Leitung von H. L. Breda. (Den Haag, Nijhoff 1950 – 1962), Bd. 1, 1950, § 41. Vgl. meine Kritik dieser Anschauungen in Josef Seifert, „Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls Cartesianischen Meditationen. Die Aequivokationen im Ausdruck ‚transzendentales Ego‘ an der Basis jedes transzendentalen Idealismus.“ Salzburger Jahrbuch für Philosophie XIV, 1970. Vgl. Thomas von Aquin, Quodlibeta 6, q. 4, Prologus.
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mung zu etwas geben, was nicht im engeren Sinne des Wortes erkannt ist, können sehr wohl falsch sein, auch wenn sie von einer subjektiven Gewißheit geprägt sind.294 Es verbietet uns in der Tat nichts zu sagen, daß – in schroffem Gegensatz zu einem Akt des Irrens oder einem Akt falschen Behauptens, in dem der Geist von den Dingen selbst abweicht und der Intellekt etwas setzt, meint oder glaubt, was nicht so ist, wie er es meint – ein Erkenntnisakt, der, wenn er wirklich Erkenntnis ist, mit der Wirklichkeit übereinstimmt, wahr genannt zu werden verdient – eben kraft dieser erkenntnismäßigen Übereinstimmung, ja kraft der sich selbst überschreitenden erkennenden Berührung zwischen erkennendem Subjekt und Gegenstand. Dabei kann sowohl den Urteils- bzw. Behauptungsakten als auch, in noch eigentlicherem Sinne, den ihnen idealiter zugrundeliegenden Akten der Gegenstands- oder Sachverhaltserkenntnis, Wahrheit zugeschrieben werden. Wenn man die Erkenntnisakte in ihrem Unterschied zu Überzeugungen und Urteilen meint, kann man eine zusätzliche und noch stärkere Begründung für die Einführung des Begriffs Erkenntniswahrheit angeben, nämlich Platons Einsicht, daß zwar Überzeugungen wahr oder falsch, Erkenntnisse hingegen immer wahr sein müssen, wie Platon im Gorgias ausführt. Erkenntnis wird also von Platon, und auch von Descartes,295 wahr, und zwar „immer wahr“ genannt. Erkenntnis ist demnach nicht zufälligerweise oder manchmal wahr, sondern immer wahr, wie er sagt. Diese Wahrheit kommt, wie oben schon bemerkt, der Erkenntnis im weiteren Sinn, die durch viele Momente des Vertrauens und Glaubens geprägt ist, nur im Sinne einer Definition zu. Der evidenten Erkenntnis im engeren Sinne hingegen kommt diese Wahrheit ihrem Wesen nach und notwendig zu, und beileibe nicht im Sinne einer bloßen Definition und der daraus folgenden Wahrheit analytischer Urteile. Doch läßt sich das Problem der Erkenntniswahrheit noch auf vielen 294
295
Vgl. die hervorragende Arbeit von Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso, (Milano: Franco Angeli, 2002). René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, IV, 9. Aus der Ausgabe von 1641 (eigene deutsche Übersetzung). Vgl. René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, Oeuvres de Descartes, hrsg. V. Charles Adam & Paul Tannery, Bd. VII (Paris : J. Vrin, 1983).
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Ebenen fassen und erfordert eine entsprechend komplexe Behandlung. 6.2. Verschiedene Vollkommenheiten und Gesichtspunkte der Abstufung der Erkenntniswahrheit
Das objektive Urteilsgebilde ‚S ist P‘ kann nur entweder wahr oder falsch sein und diese Wahrheit kennt prinzipiell keine Grade der Wahrheit, auch wenn es auch hier zwar andersartige, doch nichtsdestoweniger analoge, Abstufungen zwischen einzelnen wahren Urteilen hinsichtlich ihrer Klarheit oder Verworrenheit, Vollständigkeit oder Unvollständigkeit, durch die sich ein bescheidenes begrenztes Urteil von dem Ganzen der Wahrheit unterscheidet, gibt, wie wir sehen werden. Dennoch kann das Urteil als solches nur entweder wahr oder nicht wahr sein. Es gibt kein Drittes und keine Grade und Stufen seiner Wahrheit, wenn es als ein ganz bestimmtes Urteil genommen wird. Die Erkenntniswahrheit hingegen kommt der Erkenntnis im strikten Sinne nicht entweder zu oder nicht, wie Wahrheit einem Urteil entweder zukommt oder nicht, sondern sie kommt ihm wesenhaft zu: Erkennen strictu sensu ist immer wahr. Doch kennt die Erkenntniswahrheit, ihrer Natur als Entdecken des Seins nach, unzählige Stufen der Vollkommenheit und auch Gradunterschiede, die in ganz verschiedene Richtung gehen und zwar einmal von Charakteristiken des Gegenstands der Erkenntnis, sodann auch von solchen des Erkennens selber abhängen. 6.2.1. Nach dem Gegenstand der Erkenntnis 6.2.1.1. Stufen der Erkenntniswahrheit hinsichtlich der Autonomie des erkannten Seins: Von der Erkenntnis von Erscheinungen zur Erkenntnis des Dings an sich – ein wesentlicher Gesichtspunkt für Erkenntniswahrheit und ihre Abstufung
Hinsichtlich ihres Gegenstandes hängt die Vollkommenheit der Wahrheit der Erkenntnis zunächst davon ab, welche Art der Subjektunabhängigkeit ihr Gegenstand besitzt: ob ein Erkennen nur eine Erscheinung oder das Ding an sich erfaßt. Daher wird auch je nach der Antwort auf die Frage, ob es Erkennen des Dings an sich, d.h. hier des Seienden, wie es in
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sich selber ist, oder ob es eine derartige Erkenntnis nicht gibt, wie Kant meint, die Wahrheit des Erkennens als Entsprechung zwischen Erkenntnisakt und Sein radikal verschieden gedeutet. Wenn alles Sein, dem in menschlicher Erkenntnis entsprochen wird, nur Erscheinung, Produkt oder rein intentionaler Gegenstand des Geistes wäre – was letztlich unmöglich ist, da jeder Schein, jede Erscheinung und jeder rein intentionale Gegenstand wieder ein Ansichsein und dessen Erkenntnis voraussetzen – würde „Erkenntniswahrheit“ etwas ganz anderes und unendlich viel Begrenzteres bedeuten als wenn das Sein gegenüber dem Geist, der es erkennt, an sich besteht. Ja wenn die erste Position – bei all ihrer Widersprüchlichkeit – radikal zu Ende gedacht wird, gäbe es gar keine Erkenntniswahrheit, da man unter dieser Voraussetzung auch Erscheinungen nicht als solche erkennen könnte. Denn dies ist nur möglich, wenn man auch Sachen und Sachverhalte, die in sich bestehen, erkennen kann. Daher ist es auch eine Bedingung jeder Wahrheitserkenntnis und jeder Erkenntniswahrheit, daß man, wenigstens im weiteren Sinn dieses Ausdrucks etwas „an sich“ Seiendes und die in diesem beschlossene Autonomie des Seins gegenüber dem Erkennen erkennen kann.296 Auch die Erscheinung und rein intentionalen Gegenstände könnte man nämlich gar nicht als solche erkennen, wenn man keinerlei Erkenntnis von etwas in sich selber Seienden besäße, mit dem man es kontrastiert. Erst wenn das Sein so erfaßt wird wie es ist, das Seiende an sich, wie es nicht bloß als Gegenstand von Denken, sondern wie es in sich selbst als Seiendes besteht und in sich konstituiert ist, und Erscheinungen als Erscheinungen, gibt es Erkenntniswahrheit im eigentlichen Sinne. Diese ist in ihren höheren Stufen untrennbar mit der rezeptiven Transzendenz des Erkennens im vollen Sinn verknüpft, welche auch das Erfassen der dem Sein in sich selber zukommenden Attribute verlangt. Jeder transzendentale Idealismus und jede „kritische Philosophie“ im Sinne Kants, aber auch jeder soziale oder historische Subjektivismus und Relativismus, leugnen Erkenntniswahrheit im tieferen Sinne der erkennenden Berührung des Geistes mit dem in sich selber Seienden im Sinne 296
Vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap. 1-5; ders., Essere e persona, Kap. ii-iv.
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dessen, was nicht bloß Erscheinung, sondern seinsautonom ist.297 Erkenntniswahrheit ginge unter dieser Voraussetzung verloren. Auch der späte Husserl, nach dem jedes erdenkliche Sein vom Subjekt konstituiert ist, ja der sogar (im Gegensatz zu Kant) die Idee des „Ansichseins“ für absurd hält, schließt diesen eigentlichsten Sinn der Erkenntniswahrheit als den Geist transzendierendes Erfassen eines an sich bestehenden Seins oder Wesens aus. Unter diesen Voraussetzungen einer Kant’schen Leugnung der Erkennbarkeit des Dings an sich oder der Leugnung der Existenz und Möglichkeit eines Dings an sich (bei Fichte und Husserl), gäbe es Erkenntniswahrheit einer Erkenntnis, die etwas objektiv und in sich Seiendes erfassen würde, Erkenntniswahrheit als Erreichen eines Ansichseins, nicht. Von Husserls radikal idealistischer Spätphilosophie aus würden zwar alle unterschiedenen Bedeutungen von Erkenntniswahrheit in gewissem Sinn innerhalb rein intentionaler Gegenständlichkeiten, die nach einer radikalen epoché aller transzendenter Seinsund Wesensgeltung übrig blieben, als „eingeklammerte“ weiter bestehen, aber letzten Endes wären nach dieser u.E. echter phänomenologischer Rückkehr zu den Sachen selbst radikal widersprechenden Husserlschen Theorie298 jedes An sich Sein inklusive des absoluten Seins selbst, und damit auch Wesenheiten, Ideen, das Wirkliche überhaupt, die Grade der Intelligibilität und des Wertes, etwa auch die ontologische Wahrheit als Entsprechung zwischen Freundschaft und Idee der Freundschaft, bloße noemata, die vom eigenen Bewußtsein abhingen und damit nicht in ihrem wahren, in sich bestehenden, Sein erkannt würden. Alle vom Deutschen Idealismus oder dem späten Husserl noch anerkannten Bedeutungen von Sein und ontologischer Wahrheit wären letzten Endes auf kein Richtmaß des an sich seienden Wirklichen oder der in sich bestehenden Wesenheiten mehr bezogen, die völlig unabhängig vom menschlichen Bewußtsein sind und bestehen und diesem gerade in ihrem An-sich-Sein oder ihrem in-sich-Bestehen gegeben sind. Von dem Maß, an dem alle Erkenntniswahrheit letztlich gemessen wird und dem sie adäquat entsprechen muß, um Wahrheit zu sein, könnte man nicht sagen, daß es etwas in sich selbst Wirkliches und Bestehendes wäre. Also müssen 297 298
Vgl. Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus. Vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves, zit.
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KAPITEL 2
der Deutsche Idealismus und Husserl, ebenso wie jede neurologische, psychologistische, ökonomische, soziologische oder linguistische Theorie der Konstitution allen Seins durch materielle oder lebendige Strukturen und Faktoren oder durch das Bewußtsein, wofern sie nicht überhaupt radikal leugnen, daß der Mensch Sein erkennen kann, doch, weil sie sowohl das Sein und die ontologische Wahrheit als auch die Erkenntniswahrheit, die nach ihnen nicht mehr auf dem Erfassen dessen beruhen kann, was in sich selber besteht, radikal umdeuten, und die „wahre Erkenntniswahrheit“, die im Erfassen autonom und in sich seiender Dinge, wie sie in sich selber sind, liegt, bestreiten. Um den Einwand gegen Erkenntniswahrheit oder um deren radikal immanentistische Deutung, der zufolge Erkenntnis nur mit ihren eigenen Produkten, die kein Sein in sich besitzen, erkenntnismäßig verbunden wäre, im Deutschen und in jedem ihm verwandten Idealismus zu überwinden, muß man klären, wieweit die Wahrheit des Erkennens reicht – ob sie nur die Entsprechung des erkennenden Aktes mit der Welt als „[Wille und] Vorstellung“, um mit Schopenhauer zu sprechen, ist, oder ob sie auch die Dinge, wie sie „in sich selbst“ bestehen, erreichen kann. Um die Erkenntniswahrheit in einer Erfassung des Seins und der Wahrheit des Seins selbst gründen zu können, die ihr einziges letztes Fundament sein kann, muß die Autonomie des Seins und die Existenz von Dingen an sich erwiesen werden, die nicht bloß noemata oder Vorstellungen eines Subjektes sind und die wir gleichwohl als solche erkennen können. Denn nur, wenn menschliches Erkennen – über alle Erscheinungen, fiktive Welten und rein intentionale Gegenstände, die die Welt bereichern, hinaus – auch etwas erkennen kann, wie es in sich selber ist, besitzt Erkenntnis tatsächlich Wahrheit, ja nur dann kann sie auch Erscheinungen und rein intentionale Gegenstände als solche erfassen.299 Daher müssen sowohl der Deutsche Idealismus mit allen seinen Folgewirkungen als auch alle Formen des vom Empirismus inspirierten Relativismus als Quelle einer eigentlichen Krise und Infragestellung, oder sogar Leugnung der Erkenntniswahrheit diagnostiziert werden.
299
Vgl. dazu D. von Hildebrand, Was ist Philosophie? cit; J. Seifert, Essere e persona, Kap. 1-4, cit.; ders. Back to Things in Themselves, cit.
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6.2.1.2. Wahrheit der Erkenntnis nach dem Grad der Verstehbarkeit ihres Gegenstands
In dem Grad der Verstehbarkeit und Einsichtigkeit der erkannten Gegenstände und Wahrheiten kann man noch einen andersartigen wichtigen Teil des Maßes der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit erblicken, der ebensowenig wie die Autonomie ihres Gegenstandes mit ihrer Evidenz zusammenfällt oder auch nur notwendig mit evidenter Erkenntnis verknüpft ist. Zwar hängen, wie wir sehen werden, einige der wichtigsten Formen evidenter Erkenntnis von der inneren Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der erkannten Gegenstände ab, worauf wir schon im letzten Kapitel eingegangen sind. Es gibt aber auch eine absolut unbezweifelbare Erkenntnis rein von außen feststellbarer Fakten wie daß ich jetzt Kopfschmerzen fühle oder daß ich überhaupt existiere. Beides sind kontingente Tatsachen, die zwar auf Grund unserer unmittelbaren und direkten inneren Erfahrung mit unbezweifelbarer Evidenz festgestellt und erkannt werden können, nicht aber ein hohes Maß an Intelligibilität und Einsehbarkeit besitzen. So erweist sich der Gesichtspunkt der einleuchtenden Verstehbarkeit erkannter Sachen und Sachverhalte als Quelle einer ganz neuen Vollkommenheit der Erkenntnis und ihrer Wahrheit, als ein Gesichtspunkt, der auf Evidenz unreduzierbar ist. In dieser Hinsicht gipfelt die Erkenntniswahrheit in der Einsicht in die durch sich selbst einleuchtenden notwendigen Wesenheiten und ewigen Wahrheiten, in deren Erkenntnis G. W. Leibniz den wichtigsten Grund des Unterschieds zwischen Mensch und Tier und das Fundament der Rationalität des Menschen erblickt hat und in denen die vielfachen Abstufungen und Grade der Intelligibilität, auf die wir im vorigen Kapitel kurz hingewiesen haben, kulminieren.300
300
Vgl. G. W. Leibniz, Monadologie, in: Leibniz, Die Hauptwerke, zusammengefaßt und übertragen von Gerhard Krüger (Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1958), und Leibniz, Die philosophischen Schriften, hrsg. v. C.J. Gerhardt (Hildesheim: G. Olms, 1965), in 7 Bänden. Vgl. Auch Brief von Leibniz an Tolomei 1. Vgl. Auch ders., VII Principes de la Nature et de la grace, fondés en Raison,VI 600-601. Ders., Essais de Theodicée, IIIe partie, VI358, 406.
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KAPITEL 2
6.2.1.3. Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit je nach dem Wert ihres Gegenstandes
In einer von den bisher erörterten verschiedenen und noch viel unabhängigeren Richtung ist eine Erkenntnis und ihre Wahrheit um so vollkommener, je bedeutsamer und vor allem je wertvoller301 ihr Gegenstand ist. In dieser Hinsicht ist die geringste Erkenntnis über die höchsten Dinge viel wertvoller und infolgedessen auch in einem tieferen Sinne “wahre Erkenntnis“ als selbst die umfassendste Erkenntnis über niedrigere Gegenstände. Aus diesem Gesichtspunkt heraus betrachtet ist auch die auf einem Glauben beruhende Erkenntnis (das Glaubenswissen) der höchsten und sublimsten Wahrheiten, obwohl sie andere Quellen der Erkenntniswahrheit nicht besitzt, mehr wert und in einem tieferen Sinne Besitz der wahren Erkenntnis als alle sonstigen Kenntnisse, auch wenn dieses Wissen nicht die Evidenz der Erkenntnis im engeren Sinne oder gleichermaßen intelligible Gegenstände besitzt wie mathematische Erkenntnisse,302 wie Thomas bemerkt. Man kann daher auch den Wert des Gegenstandes einer Erkenntnis, die Frage, wie vollkommen ihr Objekt ist, einen unabhängigen Maßstab für den Rang der Wahrheit einer Erkenntnis nennen, und zwar einen Maßstab, der bei Aristoteles und Thomas von Aquin und anderen antiken und mittelalterlichen Denkern wiederholt anerkannt, aber seit Descartes weitgehend nicht mehr angemessen gewürdigt wird. 6.2.2. Nach den inneren Eigenschaften der Erkenntnis und deren Relation zu ihrem Gegenstand 6.2.2.1. Evidenz
Betrachtet man die Erkenntnis selber in ihrer inneren Beschaffenheit und in der Beziehung ihres Subjekts zu ihrem Objekt, so erreicht die innere Wahrheit des Erkennens in einer ersten Hinsicht ihr höchstes Maß in der evidenten und zweifelsfreien, objektiv gewissen Erkenntnis, die jede 301
302
Die Begriffe der Bedeutsamkeit und des Wertes unterscheiden sich fundamental. Vgl. Dietrich von Hildebrand, Ethik, Kap. 1-3; 17-18. So schreibt Thomas von Aquin in Summa contra Gentiles, lib. 1, cap. 5.
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Ungewißheit überwindet und an der jeder Zweifel durch das objektive Licht evidenter Erkenntnis zerschellt.303 Evidente Erkenntnis, deren Gegenstand uns mit letzter Gewißheit gegeben ist, ist in einer gewissen Hinsicht allein eindeutige, reine Erkenntnis und nicht eine Art von Meinen oder Glauben, so bedeutsam und wertvoll auch diese, wenn sie wohl begründet sind, sein können. Auch innerhalb der Evidenz-Vollkommenheit jener Erkenntnis, die wir als Erkenntnis im engeren und eigentlichen Sinne bezeichneten, also in jener Hinsicht, in der die Erkenntniswahrheit von der Vollkommenheit der Evidenz der Erkenntnis abhängt, unterliegt sie unendlich vielen Graden und Abstufungen. Freilich besitzt die abstrakte Tatsache des Vorliegens evidenter Erkenntnis als solche, insofern sie den Prinzipien der Identität und des Ausgeschlossenen Dritten unterworfen ist, keine Gradabstufungen: entweder hat jemand unbezweifelbare und evidente Erkenntnis oder nicht. Wohl aber sind der Grad der Bewußtheit evidenter Erkenntnis, nicht zuletzt auch wegen ihrer Abhängigkeit von der Vollkommenheit der Klarheit des Erkenntnisaktes (angefangen von einer rein impliziten Evidenz bis hin zur ausdrücklichen, von der vorphilosophischen bis zur philosophischen, von der gedanklich und begrifflich unklar gefaßten und der 303
Diese Art von Erkenntniswahrheit im strengen Sinne, wie sie etwa evidenten Einsichten in wesensnotwendige Sachverhalte zukommt, drückt Dietrich von Hildebrand in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk so aus: These ‘necessary’ intelligible unities are so filled with ratio and with intelligibility that their objective validity no longer depends upon the act in which we grasp them. We saw before that if in a dream the such-being of a triangle, of red, or of willing were clearly and unequivocally given to me, the essence itself would not be merely dreamt... We must now advance still further. With respect to the evident states of fact, which are necessarily rooted in these essences, any possibility of an invalidation through a distortion, or insufficiency of our mind, is excluded. Here it would be senseless to say, ‘Perhaps all these states of facts are not valid, perhaps the insight that moral values presuppose a personal being as bearer is only due to a distortion of our intellect, such as craziness or idiocy’.... For the luminous intelligibility and rationality of such insights precisely proves that we are neither crazy nor idiots. Indeed the extreme form of insanity would be to affirm that dogs are just, or that stones are charitable, or that Mars both exists and does not exist.... The unities in which these necessary states of facts are grounded stand entirely on their own feet. All attempts to make these insights relative are dashed to pieces by the meaningfulness and power of the such-being in which they are rooted. If they are univocally and clearly given, they do not need any criterion for the integrity of the act that grasps them, but, on the contrary, they themselves justify the grasping act as not contaminated by error.
D. von Hildebrand, What is philosophy?, S. 115, 116. Vgl. auch a. a. O., S. 130, 131.
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KAPITEL 2
wegen Äquivokationen begrifflich unpräzise gegebenen zur klaren und präzisen Erkenntnis usf.) unzähligen Gradabstufungen unterworfen. 6.2.2.2. Klarheit
Gewißheit und Evidenz aber sind keineswegs die einzigen Merkmale, kraft deren und deren Perfektion entsprechend die Erkenntnis Wahrheit besitzt und in vielen Graden der Vollkommenheit wahr sein kann. Auch die eng mit der Gewißheit verknüpfte Klarheit und, damit eng verbunden, die Differenziertheit in der Erkenntnis unterschiedlicher Phänomene und Dinge bis hin zum reinsten und klarsten Erfassen der Sachen und Sachverhalte unterliegt einer unbegrenzten Stufenleiter von Steigerungen der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit. Jede reflexiv bewußte Erkenntnisgewißheit setzt zwar ein gewisses Maß an Klarheit voraus, aber es gibt deren unendlich viele Stufen; es war in erster Linie diese Vollkommenheit der Erkenntnis und ihrer Wahrheit, die Descartes in seinem Streben nach ideae clarae et distinctae suchte. Wie die Erkenntnisgewißheit und vor allem der Umfang unzweifelhafter Erkenntnis, so kann auch die jeweilige Klarheit, Differenziertheit und Deutlichkeit einer Erkenntnis in unzähligen Graden vorhanden sein bis hin zur alle Dinge und ihre Unterschiede mit letzter Klarheit schauenden Erkenntnis. 6.2.2.3. Vollständigkeit
Wieder in einer grundverschiedenen und sehr bedeutsamen Hinsicht aber ist eine Erkenntnis um so vollkommener wahr, je vollständiger und umfassender sie ist. Wenn Hegel die Wahrheit das Ganze nennt, ist es wohl genau diese Dimension der Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit, die im Grad ihrer Vollständigkeit liegt, die ihm vorschwebt. Der Grad der Vollständigkeit einer Erkenntnis kann zwar mit dem der Vollkommenheit ihrer Evidenz oder ihrer Klarheit verbunden sein, kann sich aber von diesen auch weit entfernen. So ist es möglich, daß jemand zum Beispiel eine ziemlich umfassende und erschöpfende Kenntnis eines Teiles der Geschichte besitzen und alle Details derselben auswendig kennen kann, ohne daß diese Erkenntnis, die er aus bloßem Hörensagen oder aus Büchern anderer Autoren geschöpft hat, irgendeinen Grad von Evidenz
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besäße. Seine Erkenntnis (im weiteren Sinn) kann aber große Vollständigkeit besitzen, woraus die Verschiedenheit dieser beiden Vollkommenheiten der Erkenntnis und der in ihnen gründenden Dimensionen ihrer Wahrheit deutlich hervortritt. Kennt jemand hingegen nur wenige Details und Fragmente einer evidenten Welt intelligibler Zusammenhänge, etwa nur einige euklidische Theoreme und nur wenige ihrer Beweise, so besitzt er nicht in demselben Sinn und Grad wahre mathematische Erkenntnis wie Euklid, dem diese Zusammenhänge viel vollständiger und in ihrem inneren Zusammenhang, der zu ihrer vollständigeren Erkenntnis gehört, bekannt waren. 6.2.2.4. Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit nach der Tiefe der Erkenntnis
Unter einem noch einmal sehr verschiedenen Gesichtspunkt hängt die Stufe der Wahrheit einer Erkenntnis davon ab, wie tief sie in ihren Gegenstand eindringt, was wiederum eine ganz neue Qualifikation von Erkenntnis darstellt, die nicht einfach von der Tiefe ihres Gegenstandes abhängt. Denn auch von den höchsten und sublimsten Gegenständen und Wahrheiten kann jemand eine oberflächliche Kenntnis besitzen, wobei diese Oberflächlichkeit entweder rein intellektuell oder in einer von ihren ethischen Bedingungen her bestimmten Weise „flach“ sein kann. Umgekehrt ist es kaum möglich, in einen trivialen Sachverhalt wie daß jemand statt zehn neun Eier auf dem Supermarkt gekauft hat, tief einzudringen. Die Tiefe der Erkenntnis setzt also auch eine bestimmte Beschaffenheit der Objekte der Erkenntnis, eine spezifische oder qualitative Tiefe oder zumindest eine reiche Intelligibilität des Gegenstands der Erkenntnis oder dessen hohen Wert (als notwendige, aber nicht als hinreichende Bedingungen) voraus. Nur in dem Maße, in dem sie in die objektive spezifische oder qualitative Tiefe ihres Gegenstandes eindringt, gewinnt die Erkenntnis selber Tiefe und erlangt sie jenen Charakter der Wahrheit der Erkenntnis, der von ihrer Tiefe abhängt.304 Dieser Gesichts304
Zu einer Analyse von sieben verschiedenen Bedeutungen von Tiefe, von denen insbesondere die spezifische und qualitative, sowie das Tiefgehen auch in unserem Zusammenhang relevant sind, vgl. Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine Untersuchung über ethische Strukturprobleme. Habilitationsschrift, vollständig abgedruckt in: Jahrbuch für Philosophie und
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punkt, der die Erkenntniswahrheit modifiziert, ist auch ganz verschieden von dem der Vollständigkeit, kann ja eine sehr vollständige Erkenntnis ebenso tief wie oberflächlich sein. So kann jemand eine sehr vollständige, aber flache Erkenntnis der Mathematik, der Gerechtigkeit oder der Kunstgeschichte besitzen, wobei freilich eine bestimmte Art der Unvollständigkeit durch den Mangel an Tiefe der Erkenntnis bedingt bleiben wird, sodaß das absolute Ideal der Vollständigkeit auch grenzenlose Tiefe einschließt, ohne daß dadurch der Unterschied beider aufgehoben würde. 6.2.2.5. Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit gemäß der Unmittelbarkeit einer Erkenntnis
Schließlich kann man die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit auch in dem Maß sehen, in dem sie unmittelbar und direkt ihren Gegenstand schaut und nicht auf unvollkommenere indirekte Modi des Erkennens durch Schlußfolgerungen und logische Argumente angewiesen ist. Das absolute Ideal der Erkenntnis bestünde darin, alles unmittelbar zu schauen, wie es ist (und natürlich auch alle Wahrheitszusammenhänge und logischen Beziehungen einzusehen, ohne auf deren durch das Fehlen einer unmittelbaren intellektuellen Anschauung nötige Anwendung in mittelbaren Schlüssen angewiesen zu sein, um einen Gegenstand und Sachverhalte zu erkennen). Nur eine derartige unmittelbare Schau ihres Gegenstandes kann eine Erkenntnis und deren Wahrheit schlechthin vollkommen machen.
phänomenologische Forschung, Band 5. Halle: Niemeyer. 1922. S. 462-602. Sonderdruck der Habilitationsschrift, ebd. 1921. Reprint Vols. 3-6 (1916-1923) 1989. Bad Feilnbach 2: Schmidt Periodicals; 2. Auflage (unveränderter reprographischer Nachdruck, zusammen mit der Dissertation Die Idee der sittlichen Handlung), hrsg. v. der Dietrich-von-Hildebrand-Gesellschaft (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969), S. 126-266; 3., durchgesehene Auflage (Vallendar-Schönstatt: Patris Verlag, 1982).
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6.3. Erkenntniswahrheit kraft der rezeptiven Transzendenz des Erkennens und ihres Zugangs zu den Dingen an sich und ihre Gegensätze: Irrtum, prinzipielle Unerkennbarkeit (wie Kant sie vom Ding an sich behauptete), und tatsächliche partielle Verborgenheit vor dem menschlichen Geist
Die Bedeutsamkeit der Erkenntniswahrheit geht besonders deutlich hervor, wenn wir den Kontrast des Erkennens zu seinen Gegensätzen im Auge behalten. Betrachten wir zunächst die allgemeinen Bedingungen dafür, daß Erkenntnis Wahrheit besitzen kann, und stellen dabei ihr und ihrer Wahrheit drei Gegensätze: des Irrtums, der Unerkennbarkeit und der einfachen Ignoranz (des Unwissens) entgegen: 1. Zunächst ist für die spezifische Wahrheit des Erkennens dessen Rezeptivität Voraussetzung, kraft deren die Richtung des Erkennens von dessen Gegenstand zum Erkenntnisakt verläuft und im erkannten Sein ihr Richtmaß hat: Erkennen ist wesenhaft wahr kraft dieser das Subjekt transzendierenden, rezeptiven Teilhabe am Sein, das sich dem erkennenden Geist erschließt. Diesen rezeptiven, empfangenden Grundgestus des Erkenntnisaktes hat Adolf Reinach mit überragender Klarheit herausgearbeitet und gezeigt, wie jede Deutung des Erkennens als ein Setzen, als ein Erzeugen, als ein spontanes geistiges Handeln das Urphänomen des Erkennens verfehlt: Welchen Sinn soll es haben, Erkenntnis zu definieren, sie umzudeuten und zurückzuführen, sich von ihr nach Möglichkeit zu [404] entfernen, um ihr dann etwas unterschieben zu können, was sie nicht ist? Wir reden ja alle von Erkennen und meinen etwas damit. Und wenn uns diese Meinung zu unbestimmt ist, dann können wir uns orientieren an irgendeinem Falle, in dem ein Erkennen vorliegt, ein sicheres und zweifelloses Erkennen, das unkomplizierteste, trivialste Beispiel ist gerade das beste. Denken Sie an den Fall, wo wir erkennen, daß ein Gefühl der Freude uns erfüllt, oder daß wir ein Rot sehen, oder daß Ton und Farbe verschieden sind oder etwas dgl. Auf die einzelnen Fälle des Erkennens und ihre Existenz kommt es auch hier nicht an, aber an ihnen erschauen wir, wie überall, das Was, das Wesen des Erkennens, das in einem Aufnehmen liegt, in einem Empfangen und sich zu eigen Machen eines sich Darbietenden. Auf dieses Wesen müssen wir zugehen, es müssen wir untersuchen; aber wir dürfen ihm nichts Fremdes unterschieben. Wir dürfen z.B. nicht sagen, daß das Erkennen in Wahrheit ein Bestimmen, ein Setzen oder etwas dgl. wäre, wir dürfen es
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KAPITEL 2 nicht, weil man wohl Farben auf Schwingungen zurückführen kann, aber nicht Wesenheiten auf andere Wesenheiten. Wohl gibt es so etwas wie Setzen oder Bestimmen, und auch sein Wesen muß aufgeklärt werden. Wir haben da das Urteil, speziell die Behauptung, als einen spontanen, punktuellen, setzenden Akt; und wir haben gewisse Behauptungen, die sich als bestimmende Setzungen erweisen, so die Behauptungen der Form A ist b. Aber indem wir uns ein Bestimmen, das wir vollziehen, seinem Wesen nach näherbringen, sehen wir doch klar, daß es nicht identisch ist mit dem Wesen des Erkennens, ja noch mehr, wir sehen, daß jede Bestimmung ihrem Wesen nach zurückweist auf ein Erkennen, von dem sie erst ihre Berechtigung und ihre Beglaubigung erhalten kann. Mag man sagen, daß Menschen keine Erkenntnisakte vollziehen können, sondern nur bestimmende Akte – das wäre eine kühne Behauptung, die sich gewiß nicht halten ließe, aber sie wäre in sich selbst nicht sinnlos. Sagt man aber, Erkenntnis sei in Wahrheit Bestimmung, so steht das auf genau derselben Stufe, als wenn man sagen wollte, Töne seien in Wahrheit Farben.305
Und mit ähnlicher Klarheit hat Dietrich von Hildebrand auf diesen rezeptiven Charakter des Erkennens hingewiesen, ohne dessen Verständnis die besondere Form der Erkenntniswahrheit nicht begriffen werden kann. Dabei hat er insbesondere gezeigt, daß das Erkennen, vor allem das Erfassen komplexer und tiefer Dinge, ein geistiges Mitgehen mit dem erkannten Gegenstand, eine hohe Form der Aktivität einschließt, die aber wesenhaft eine rezeptive Aktivität ist, also dem empfangenden Grundzug des Erkennens keineswegs widerstreitet.306 Der Erkenntnisakt ist also rezeptiv, aber keineswegs passiv! Rezeptivität darf hier ferner nicht im Sinne einer nur menschlichem endlichem Intellekt zukommenden Empfänglichkeit gegenüber zuvor nicht gekannten Inhalten verstanden werden, sondern im Sinne einer Erkenntnismetaphysik als Eigenschaft jedes Erkennens überhaupt: Rezeptivität wäre dann einfach jedes, auch das unvollkommenste, „Erfassen dessen, was ist, weil es ist und wie ist.“ Wäre das Erkennen selbst nicht ein Sehen dessen, 305
306
Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550, [403-404]. Vgl. Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. 1. Vgl. auch die deutsche Version dieses Buches: Was ist Philosophie?, Kap. 1, sowie das frühere deutsche Werk Hildebrands, Der Sinn philosophischen Fragens und Erkennens (Bonn: Peter Hanstein, 1950).
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was ist, weil und insofern es ist, wäre es nicht wahr. Daher verfehlt jede Umdeutung des Erkennens in ein Setzen, Konstituieren, Schaffen oder Ändern ihres Gegenstandes ihr Wesen und das Fundament ihrer Wahrheit. Es gäbe unter dieser Voraussetzung Erkenntniswahrheit einfach nicht, weil nichts erkennbar wäre. Zwei Gegensätze zur Wahrheit der Erkenntnis sind in diesem Kantschen Ansatz verborgen und werden von ihm nicht in ihrem Charakter des radikalen Gegensatzes zum Wesen des Erkennens und seiner Wahrheit verstanden: einmal das Nichterkennen, ja die Unmöglichkeit des Erkennens, weil der Geist nichts empfangen und so sehen könnte wie es ist und weil es ist, wie es ist. Sodann wäre ein von jedem empfangenden Seinsentdecken losgelöstes Erkennen (das in sich unmöglich ist) gar kein Erkennen, sondern ein nur zufällig mit der Wirklichkeit übereinstimmendes Meinen, d.h. ein Setzen und Behaupten von etwas, was nicht ist, von dessen Gegenstand wir nicht wissen, ob er ist oder der Fall ist oder ein Irrtum, wie wir sehen werden. Mit anderen Worten: statt der Erkenntniswahrheit hätten wir nun blinde Behauptungen und Meinungen, deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gänzlich unerkannt bliebe. Statt der Erkenntniswahrheit, die im Sehen dessen, was ist, gründet, hätten wir nur jene Blindheit, die dem Nichtsehen dessen, was ist, entspricht. Der zweite schon erwähnte Gegensatz zur Erkenntnis und ihrer Wahrheit, der aus einer Leugnung der Rezeptivität des Erkennens folgen würde, wäre der Irrtum. Denn wenn wir nichts so erkennen könnten, wie es objektiv ist, dann wäre jede Behauptung, daß sich etwas tatsächlich oder notwendig so oder so verhalte, möglicherweise ein Irrtum. Wenn ich z.B. das Kausalprinzip, demnach jede Veränderung eine Wirkursache haben muß, nur als subjektives Denkprinzip verstehe, dann ist die in ihm gemachte Aussage wirklich oder zumindest möglicherweise irrig. Wenn der Irrtum in einem Fürwahrhalten oder Glauben, oder aber im Behaupten von Sachverhalten, welche objektiv nicht bestehen, liegt, so könnte innerhalb eines Systems, welches die rezeptive Transzendenz des Erkennens leugnet und das Erkennen in eine konstituierende, schaffende, oder verändernde Tätigkeit umdeutet, jedes vermeintliche Erkennen eigentlich nur ein Irrtum oder rein zufällig wahr sein. Wenn man etwa mit Kant die Erklärung und Möglichkeit der synthetischen a priorischen Urteile nicht in der Erkenntnis notwendiger Wesenheiten und in diesen
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gründender Wesensgesetze erblickt, sondern in einer Denknotwendigkeit und Synthesis, die im Subjekt ihre Wurzel hat, so drücken diese synthetischen Urteile a priori keine Erkenntnis, welche Wahrheit besäße aus, sondern stellen Behauptungen von notwendigen Sachverhalten dar, welche möglicherweise gar nicht bestehen und wären also potentiell Irrtümer. 2. Zweitens verlangt die Wahrheit des Erkennens auch den Zugang zu dem Sein an sich der Dinge: Vielleicht läßt sich das große Gewicht der Wahrheit als Entsprechung der Erkenntnisakte selbst mit dem Sein, und im Tiefsten mit dem Sein der Dinge an sich, am besten erkennen, wenn wir die Deutung des Erkennens durch den Deutschen Idealismus oder andere Spielarten des Idealismus und verwandte subjektivistische oder agnostische Deutungen des Erkennens betrachten. Nach ihnen besteht Wahrheit des Erkennens als Übereinstimmung des Erkennens mit der Wirklichkeit letztlich überhaupt nicht.307 Die Bedeutsamkeit der Erkenntniswahrheit geht besonders deutlich hervor, wenn wir die kantische und ähnliche philosophische Positionen betrachten, denen zufolge die Erkenntnis eine Art immanenter Operation und Produktion sowie Anwendung von Begriffen darstellt, aber das Sein der Sachen selbst, die Wirklichkeit der Dinge an sich, niemals zu erreichen imstande ist. Derartige philosophische Positionen, die eine Erkenntnis der Dinge an sich leugnen, leugnen damit auch (in sich selbst widersprechender Weise) die authentische Wahrheit der Erkenntnis. Wäre das Erkennen von dem Ding an sich, dem in sich selber Seienden, abgeschnitten, wie Kant meint, würde es diese, wie auch der späte Husserl annimmt, selber konstituieren, ausschließlich durch das eigene Bewußtsein konstituierte und „rein intentionale“ Gegenstände erkennen, so wäre das Erkennen in einem tieferen Sinne nicht wahr. Wenn der Zugang zu einem „An sich“ geleugnet wird, wird zumindest die Wahrheit des Erkennens völlig anders gedeutet und immens eingeschränkt, d.h. sie kann nur noch als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als Erscheinungen oder als Konstituta, die ihrerseits wieder vom eigenen Geist abhängen, gedeutet werden. Wenn auch die logische Wahrheit des Urteils als Übereinstimmung des Urteils mit Sachverhalten, die ja auch 307
Siehe dazu J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, cit.; Back to Things in Themselves, cit.
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über die vom Menschen konstituierten oder geträumten Gegenstände besteht, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, in Kants System indirekt eine tiefgehende Umwandlung erfährt, so würde doch die Idee der Urteilswahrheit als adaequatio zwischen Urteil und Sachverhalt durch eine solche Theorie keinesfalls so wesentlich verändert, 308 wie diejenige der Erkenntniswahrheit. Denn während im Sinne der adaequatio des Urteils ganz objektiv wahre Urteile über nur geträumte oder uns erscheinende Gegenstände und Sachverhalte möglich sind, so wäre hingegen die Erkenntniswahrheit unter der Voraussetzung des Deutschen Idealismus bloß eine Übereinstimmung des Geistes mit seinen eigenen Vorstellungen und den von ihm selbst hervorgebrachten Erscheinungen, nicht aber mit einem Sein oder einer Wirklichkeit, die vom Geist selbst unabhängig besteht. Denn auch wenn es Erkenntniswahrheit im Verhältnis zu heteronomen Gegenständen, die ebenfalls ein gewisses, wenngleich sehr dürftiges Eigensein haben, wie die Gestalten der Dramen Shakespeares, über die wir Wahres erkennen und Falsches behaupten können, gibt, so erfüllt sich doch die ratio der Erkenntniswahrheit erst in ihrem Verhältnis zu solchen Gegenständen, die sich dem erkennenden Geist in ihrer an sich bestehenden Seinsautonomie erschließen, in der Erkenntnis der Dinge an sich, wie sie auch für alle Erscheinungen und Fiktionen vorausgesetzt sind. Wir erkennen all dies besser, wenn wir in dieser Hinsicht den Gegensatz zur Erkenntniswahrheit in der Unerkennbarkeit und der aus dieser hervorgehenden Unerkanntheit erblicken, in unserem Fall in der Unerkennbarkeit der Dinge an sich und der daraus folgenden Unerreichbarkeit der Erkenntniswahrheit über die Dinge an sich, deren Leugnung eine bestimmte Art des Agnostizimus darstellt, welche die Wahrheit des Erkennens radikal in Frage stellt. 3. Drittens setzt die Erkenntniswahrheit kognitive Transzendenz voraus, also die Fähigkeit, nicht nur immanente Inhalte und Ideen in einem monadisch gefaßten Geist ohne Türen und Fenster zu haben, die objektiv der wirklichen Welt entsprechen, sondern sich zu überschreiten und im Erkenntnisakt zu dem jenseits aller rein intentionalen Gegenstände bestehenden Sein und zu an sich bestehenden Sachverhalten (wie sie sogar 308
Siehe Juan-Miguel Palacios, El idealismo transcendental: Teoría de la Verdad.
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KAPITEL 2
von Schein und Erscheinung vorausgesetzt sind) zu gelangen, sie zu erreichen:309 Diese schlichte Gegebenheit der zum Wesen des Erkennens gehörigen rezeptiven Transzendenz und damit die Wahrheit des Erkennens wird auch beim späteren Husserl, und zwar schon wenige Jahre nach Erscheinen der 1. Auflage der Logischen Untersuchungen,310 in Frage gestellt, ja geleugnet.311 Husserls drückt radikale Skepsis gegenüber jeder möglichen Transzendenz des Erkennens zu einer Wirklichkeit, die in sich besteht, aus. Ja er behauptet sogar, es sei überhaupt ein Unsinn und ein Unding anzunehmen, wir könnten ein transzendentes an sich der Dinge erkennen. Denn wir können ja zweifellos immer nur durch unsere eigenen Akte und unser eigenes Erkennen Sein denken. Auch das „Ding an sich“ können wir nur mit unseren eigenen Denkakten denken. Daher sei ein jenseits der noemata oder der Objekte menschlichen Denkens, ein jenseits der intentionalen Gegenstände menschlichen Denkens bestehendes Sein ein Unfug. Mit dieser Behauptung bestreitet Husserl das Wesen, die Realität und das Fundament eigentlicher Erkenntnistranszendenz und Evidenz, und somit aller Erkenntniswahrheit. Auch hier ist es primär die aus der Unerkennbarkeit folgende Unerkanntheit des Seins an sich, wie es ist, welche den Gegensatz zur Erkenntniswahrheit bildet. 6.4. Die Anerkennung der Erkenntniswahrheit verlangt eine Beseitigung einiger Verwechslungen und Äquivokationen von ‚Subjekt‘, ‚subjektiv‘ und anderer
Wie anderswo ausführlich begründet wurde,312 ist diese Position jedoch 309 310
311
312
Dies ist meine Grundthese in Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2. 1905 in seinen Wiener Vorträgen über Phänomenologie, die dann als Buch Was ist Phänomenologie? erschienen sind. Siehe J. Seifert, Back to Things in Themselves, cit. Siehe auch Essere e persona, cit., Kap. ii-iv. Vgl. Josef Seifert, „Phänomenologie und Philosophie als strenge Wissenschaft. Zur Grundlegung einer realistischen phänomenologischen Methode – in kritischem Dialog mit Edmund Husserls Ideen über die Philosophie als strenge Wissenschaft,“ S. 14-51; ders., „Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls Cartesianischen Meditationen. Die Aequivokationen im Ausdruck ‚trans-
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nicht nur in sich widersprüchlich, sondern beruht auf einer Reihe von Verwechslungen grundverschiedener Bedeutungen von „Ding an sich“ und ihrer Erkenntnis, sowie von radikal verschiedenen Bedeutungen von „Subjektivität“. Husserls Verwerfung der Idee eines Erkennens der Dinge an sich ist, wie ich dort zu zeigen suchte, keineswegs kritisch durchdacht und außerdem widersprüchlich. Denn die Tatsache, daß wir tatsächlich nur durch unsere eigenen Erkenntnisakte Zugang zum Sein haben können und alle Erkenntnis in diesem Sinne ‚subjektiv‘ ist, darf in keiner Weise gleich von Anfang an mit der Unmöglichkeit identifiziert werden, in diesen Erkenntnisakten transzendierend, d.h. den Akt selbst zum Sein hin übersteigend, zu erkennen.313 Mit anderen Worten, ‚Subjektivität‘ im Sinne von bewußten personalen Akten als Steckenbleiben in rein intentionalen Gegenständen zu deuten verwechselt völlig verschiedene und in keiner Weise einander implizierende Begriffe. Im Gegenteil, Subjektivität im Sinne der Personalität und der Tatsache, daß alle personalen Akte auch bewußte Akte eines Subjekts sind, setzt notwendig voraus, daß dieses Subjekt auch eines Erkennens fähig ist, das kein Steckenbleiben im rein Subjektiven, in rein intentionalen Gegenständen ist. Denn auch jede Täuschung und jeder Irrum, sowie jedes erwachte rationale Bewußtsein überhaupt setzen notwendig einen solchen Sachkontakt und Wirklichkeitskontakt voraus. Ja es ist letzten Endes absurd, auf Grund der bloßen Subjektgebundenheit des Erkennens zu leugnen, daß der Mensch im Erkennen das Ansichsein der Dinge erreichen kann. Man müßte dann nämlich behaupten, daß auch ein allwissendes Wesen das Ansichsein der Dinge nicht erkennen könnte. Denn die Tatsache, daß überhaupt nur ein Geist, und zwar ausschließlich durch seine eigenen Akte, erkennen kann, gilt nicht nur für den Menschen. Es gilt vielmehr für jede, und daher auch für eine göttliche, Erkenntnis, daß sie nur Akt eines Subjekts (einer Person) sein kann. Es
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zendentales Ego‘ an der Basis jedes transzendentalen Idealismus“; ders., Back to Things in Themselves und Essere e persona, cit. Vgl. dazu die Aufklärung verschiedenster Bedeutungen von ‚subjektiv‘ und ‚objektiv‘ in Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, Kap. 5. Dasselbe hat auch Antonio Millán-Puelles gezeigt in Teoría del objeto puro, Colecciónes Cuestiones Fundamentales. Ins Englische übersetzt von Jorge García-Gómez: The Theory of the Pure Object.
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gehört also zur Idee jeder Erkenntnis, selbst des Allwissens und der unfehlbaren Erkenntnis, Akt eines Subjekts zu sein. Schon allein daraus ergibt sich die Absurdität der Behauptung, daß Erkennen, weil es ein Akt des Subjekts sei, nicht etwas erreichen könne, was nicht bloßer immanenter Gegenstand der Akte des Subjekts ist. Nicht nur die Falschheit, sondern die sonderbare Abwegigkeit und innere Widersprüchlichkeit des Irrtums der Behauptung, weil Erkenntnis ein Akt eines Subjektes sei, könne in ihr kein unabhängig vom Subjekt bestehendes Sein gegeben sein, folgt aber auch aus der erörterten Einsicht, daß jede Erscheinung und jeder Schein oder rein intentionale Gegenstand sowohl Sachverhalte, die nicht rein intentionale Gegenstände sind, als auch deren Erkenntnis voraussetzt. Wenn ich z.B. von einem hübschen Mädchen träume, so sind die Tatsache, daß ich sie (im Traum) sehe sowie unzählige konkrete Sachverhalte und meine eigenen Akte nicht bloße intentionale Gegenstände meines Traums, worauf ja bereits Augustinus in seinem si enim, fallor sum, Descartes und andere Denker hingewiesen haben.314 Daß ein philosophisches Genie und ein so ernsthaft nach Wahrheit und Evidenz strebender Denker wie Edmund Husserl, der das Cogito Argument so tief durchdacht und eine so fundamentale Kritik des psychologistischen Subjektivismus und Relativismus entwickelt hat, einem so leicht zu durchschauenden, auf der Äquivokation von „Subjektivität“ beruhenden Fehlschluß erlegen ist und zu einem so absolut grundlegenden Problem der Philosophie eine derart widersprüchliche Position eingenommen hat, bleibt mir unbegreiflich.315
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Vgl. Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1999). 315 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band I; ders., Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. u. eingel. von S. Strasser, in: Husserliana: Gesammelte Werke E. Husserls, auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Louvain) unter der Leitung von H. L. Breda. (Den Haag, Nijhoff 1950 – 1962), Bd. 1, 1950; vgl. Auch Josef Seifert, „Kritik am Relativismus und Immanentismus in E. Husserls Cartesianischen Meditationen. Die Aequivokationen im Ausdruck ‚transzendentales Ego‘ an der Basis jedes transzendentalen Idealismus.“
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6.5. Erkenntniswahrheit als erkennende Aktualisierung der Wahrheit des Urteils (der ‚logischen Wahrheit‘)
Wenn auch dieser Begriff der Erkenntniswahrheit nicht der präziseste und wichtigste Wahrheitsbegriff ist, der mit Wahrheit als adaequatio intellectus et rei gemeint wird, so darf man ihn doch keineswegs ganz verbannen, nicht zuletzt deshalb, weil die logische Wahrheit, von der wir später handeln werden, in ihrem Wesen auf erkennenden und urteilenden Geist hingeordnet ist, so daß, wenn wir sie völlig vom Geist selbst, also von den lebendigen Akten des Geistes, lösen und sie ausschließlich als eine „rein logische Entität“, die nicht selbst in Bezug zum erkennenden Geist steht, denken wollten, auch die Wahrheit des Urteils (logische Wahrheit) in ihrer eigenen Wesensbeschaffenheit, die in ihrer Zuordnung auf Geist mitbegründet ist, verkannt würde. Ja man sollte in der Erkenntniswahrheit eine besondere Aktualisierung der Wahrheit, und damit auch der logischen Wahrheit der Urteilsinhalte selbst im Geist, und zugleich eine einzigartige Entsprechung zwischen geistigem Akt und Wirklichkeit sehen. 6.6. Erkenntniswahrheit als Erfüllung der ontologischen Wahrheit und als Aletheia. Verborgenheit des Seins als dritter Gegensatz zur Erkenntniswahrheit
Erkenntniswahrheit ist in gewisser Weise auch die Erfüllung der ontologischen Wahrheit im Sinne der Offenheit des Seins gegenüber Geist. In dem Maße nämlich, in dem der Geist tatsächlich in das Sein eindringt und dieses sich ihm enthüllt, wird in der Erkenntniswahrheit auch die Seinswahrheit erst ‚aktualisiert‘. Die Erkenntniswahrheit ist, so betrachtet, die Erfüllung der ontologischen Wahrheit im Sinne der potentiellen Offenheit des Seins für Geist. Denn erst in der Erkenntniswahrheit tritt die tatsächliche Offenheit des Seins gegenüber dem Intellekt hervor, und in ihr erst finden wir die verwirklichte Offenheit des Intellekts für das Sein. Wie im Falle der ontologischen Wahrheit viele Stufen und Grade der Abstufung möglich sind, so verhält es sich auch mit der Erkenntniswahrheit. Mit jedem neuen Schritt der Erkenntnis, mit jeder weiteren
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Differenzierung, mit jedem tieferen Eindringen in das Sein wird die Erkenntnis in umfassenderem und höherem Sinn wahr sein. Sie wird sich dem Sein vollkommener angleichen und diesem in höherem Grad in jenem einzigartigen Sinn entsprechen, der die Wahrheit des Erkennens ausmacht. Es ist die Erkenntniswahrheit jene auf keine andere Form der adaequatio reduzierbare „Entsprechung“, die keineswegs die eines bloßen ähnlichen „Abbildes“ der Dinge im Geist ist, und auch nicht eine Assimilation oder ein noch so ideales und differenziert gedachtes „Ähnlichwerden des Geistes der erkannten Sache“ darstellt.316 Vielmehr ist Erkenntniswahrheit eine besondere adaequatio eines seinsentdeckenden, das Subjekt transzendierenden Aktes des Erkennens, der das Sein so vernimmt und begreift, wie es ist. Deshalb müssen wir eine bloße Ähnlichkeits-Korrespondenztheorie der Erkenntniswahrheit, wie sie unter anderen Marty entwirft, für unangemessen und ungenügend halten.317 Bei Marty finden wir zwar erfreulicherweise die Idee der adaequatio als wesentlich für Erkenntniswahrheit sowie auch die Einsicht, daß das Erkennen kein einfaches modifiziertes Abbild des erkannten Wirklichen ist, es fehlt jedoch die Einsicht, daß die Erkenntnisrelation grundverschieden von jeder bloßen idealen Ähnlichkeit ist und dem besonderen rezeptiv-transzendierenden Akt des Erkennens entspricht, der das Erkannte so sieht, wie es ist und es erkennend berührt und intentional an ihm teilnimmt. Erkenntnis ist „immer wahr“, wie Sokrates im Gorgias sagt, weil sie den erkannten Gegenstand nicht anders auffaßt als er ist, sondern so, wie er ist. Je nachdem wie vollkommen und erschöpfend oder unvollständig das Seiende erkannt wird, unterscheiden wir eine unendliche Abstufung von 316
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Vgl. zu den Meinungen von Aristoteles und Anton Marty, denen zufolge das Erkennen ein Ähnlichwerden, eine Assimilation zwischen Geist und erkanntem Gegenstand sei, Aristoteles, De anima, 418 a 2 ff.; vgl. auch Marty (U 406), sowie Barry Smith, “Brentano and Marty: An Inquiry into Being and Truth,” in: K. Mulligan (Ed.), Mind, Meaning and Metaphysics, S. 111-149, S. 134 ff. Ein Teil des einschlägigen Textes wird von Barry Smith (“Brentano and Marty: An Inquiry into Being and Truth,” zit., S. 135) so übersetzt: What really exists within us is not a peculiar, modified double of the real object, but only the real psychic process to which in certain circumstances there becomes attached as consequence an ideal similarity [emphasis mine, J.S.] with something other, existing independently of this process. (U 415 f.).
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„Graden“ und „Stufen“ der Erkenntniswahrheit, die in gewisser Weise als Stufen der „Unverborgenheit des Seins“ bezeichnet werden können. So ist das Ideal der Erkenntniswahrheit nur in jener Erkenntnis ganz erfüllt, die allem Sein schlechthin und in vollkommener Weise entspricht und „gerecht wird“. In diesem Sinn kann nur ein unendliches Erkennen die Wahrheit des Erkennens vollkommen besitzen. Menschlichem Intellekt steht das Sein ja nur begrenzt offen und für jeden endlichen Geist gilt, daß die Fülle des Seins ihm in zahlreichen Hinsichten verborgen ist. Von hier ergibt sich – bei aller von Friedländer318 aufgedeckten, etymologischen und noch mehr philosophischen Problematik von Heideggers Wahrheitsphilosophie – ein legitimes Anliegen Heideggers in der Übersetzung von Wahrheit als Unverborgenheit des Seins. In diesem Ausdruck sehen wir einen auf Erkenntniswahrheit bezogenen Sinn der ontologischen Wahrheit und, in anderem Sinne, deren Wahrheit selbst richtig bezeichnet, allerdings nur dann, wenn wir den Subjektivismus der Heidegger’schen existentialistischen Definition der Wahrheit als „Entdeckendsein des Daseins“ überwinden und die Erkenntniswahrheit als Unverborgenheit des autonomen Seins gegenüber der Erkenntnis verstehen. Damit gelangen wir zu einem weiteren Gegensatz zur Erkenntniswahrheit: Verborgenheit des Seins, seine Unerkanntheit. In der Tat ist das Sein dem menschlichen Geist in vieler Hinsicht verborgen, sodaß menschliches Erkennen der Fülle der Erkenntniswahrheit entbehrt. Doch darf daraus nicht geschlossen werden, daß die unvollständige Erkenntnis und die ihr entsprechende Verhülltheit und Verborgenheit des Seins mit Irrtum zu identifizieren sei, mit einem Verstelltsein oder einer Verfälschung des Seins. Gewiß birgt die Unvollständigkeit des Erkennens die Gefahr in sich, zu Irrtum zu führen, doch ist sie als solche in keiner Weise Irrtum. Im Gegenteil, „falsche Erkenntnis“ ist im Falle der Erkenntnis im engeren Sinn wesensunmöglich und widerspricht auch bei Erkenntnis im weiteren Sinn dem Begriff der Erkenntnis selbst. So können wir mit Platons Theaitetos und Gorgias sagen, es gäbe falsche Überzeugungen, aber keine falsche Erkenntnis. Alles Wahre der ihrem Wesen nach 318
Paul Friedländer, Platon (3 Bde.). Bd. 1: Eidos, Paideia, Dialogos. Bd. 2: Die platonischen Schriften, erste Periode. Bd. 3: Die platonischen Schriften, zweite und dritte Periode. Berlin 31964 (Bde. 1 und 2), Berlin 31975 (Bd. 3), S. 240.
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wahren Erkenntnis im engeren Sinn, in der dem Menschen das, was ist, wie es ist, zugänglich wird, ist in der allumfassenden Erkenntniswahrheit enthalten. Wenn sich uns etwas zeigt, was wirklich der Fall ist, kann Erkenntnis zwar unendlich vertieft und modifiziert, niemals aber durch die Fülle der Erkenntniswahrheit aufgehoben werden, während sie jedem Irrtum widerspricht. In diesem Sinn ist jede Erkenntniswahrheit absolut wahr und unaufhebbar wahr, so unvollständig die betreffende Erkenntnis auch ist. Erkenne ich, daß ich existiere und frei sowie verantwortlich für mein Handeln bin, so bleibt diese Erkenntnis unaufhebbar wahr und kann niemals durch all das unendlich Viele, das ich weiter über meine Existenz und ihre Ursachen sowie über Freiheit und Verantwortung erkennen kann, aufgehoben oder ungültig gemacht werden. Gegenüber der allumfassenden Erkenntnis und der höchsten Aktualisierung der gnoseologischen Wahrheit in ihr allerdings ist die menschliche Erkenntnis – nicht durch antithetischen Gegensatz wie Irrtum und Lüge, sondern im Sinne ihrer Begrenztheit – nicht (im vollen Sinn) wahr, weil sie nicht „die Wahrheit“ realisiert. Begrenztes Wissen ist dem An sich Seienden im Sinne der Fülle und Totalität des Seins, die nur die Erkenntnis und die Wahrheit umfaßt, nicht in schrankenloser Weise angemessen, sondern nur in analogem, begrenztem Sinn. Ihre Wahrheit hat menschliche Erkenntnis also weder darin, daß sie die (Erkenntnis)Wahrheit ist, noch darin, daß sie im Irrtum verbleibt, sondern darin, daß sie in menschlicher und begrenzter, doch innerhalb ihrer Grenzen angemessener Weise dem Sein, dem was ist, entspricht. In diesem Sinn hat auch Thomas in den oben zitierten Stellen aus De veritate I i, a 10 recht, in denen er sagt, kein Ding sei im Verhältnis zum göttlichen Intellekt, der die absolute Erkenntniswahrheit verkörpert, falsch, sondern nur im Verhältnis zum menschlichen Verstand, wenn es ihn zu einer falschen Meinung über sich verführe, die einen spezifischen Gegensatz zur Erkenntniswahrheit bildet. Von solcher „Falschheit“ als Gegenbegriff zur Wahrheit des Erkennens spricht übrigens auch Kant, nämlich dort, wo er Gott, Welt und Seele einerseits als Ideen bezeichnet, die eine transzendente Geltung beanspruchen, an die wir notwendig glauben, aber andererseits diesen Glauben als einem unvermeidlichen „transzendentalen Schein“ Erliegen brandmarkt, von dem uns die kritische Philosophie zu befreien habe. Damit setzt auch Kant Irrtum
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der Erkenntniswahrheit gegenüber, wenngleich er die Erkenntniswahrheit primär in einer negativen Wendung auf ein kritisches Durchschauen (Erkennen) der täuschenden Prätentionen der Vernunft auf Erkenntnis eingrenzt. Immerhin wird hiermit der Begriff der Erkenntniswahrheit an zentraler Stelle des Kant’schen Systems vorausgesetzt.319 Dasselbe gilt für seinen Begriff der „intellektuellen Anschauung“, der sich radikal von jenem Fichtes unterscheidet und ein dem Menschen nach Kant unzugängliches Anschauen der Dinge an sich meint. Auch wenn er dieses für dem Menschen unzugänglich hält, so setzt er doch – wiederum in widersprüchlicher Weise – voraus, daß wir die Erkenntniswahrheit einer solchen intellektuellen Anschauung und deren objektives Wesen verstehen. 6.7.
Unverzichtbarer Adäquationsbegriff und A-letheia im Kontext der Erkenntniswahrheit
Um dem Phänomen der Erkenntniswahrheit gerecht zu werden, sind neue Kategorie nötig. Soweit stimmen wir auch Martin Heidegger zu, wenn er der bloßen Adäquation, d.h. der Richtigkeit, gegenüber neue Kategorien fordert. Denn die Erkenntniswahrheit ist weder bloß Korrespondenz noch bloße Adäquation. Vielmehr gründet sie im bewußten und zugleich transzendierenden Erfassen der Wirklichkeit. Dennoch widersprechen wir Heidegger: Denn wenn die Wahrheit des Erkennens keine bloße Korrespondenz ist, so ist sie erst recht nicht ein immanenter Zustand des Subjekts, ein Entdeckendsein des Daseins ohne jede Adäquatio im 319
Ich habe den folgenden Text im Auge, in dem Kant die Idee einer intellektuellen Anschauung des Noumenon erfaßt, dieser Erkenntniswahrheit zusprechen würde, aber deren Möglichkeit leugnet: Verstehen wir aber darunter ein Object einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellectuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung.
Vgl. auch Johann Gottlieb Fichte, Die Thatsachen des Bewußtseins (1813). Bei Fichte bleibt es aber dubios, was eigentlich in seiner ganz von Kant bestimmten Philosophie intellektuelle Anschauung bedeuten kann. Letztlich bedeutet sie nur die Erkenntnis des Ich und seiner Setzungen, nicht eines an sich wirklichen Ich, sondern eines sich selber setzenden Ich; vgl. Johann Gottlieb Fichte, Über das Verhältnis der Logik zur Philosophie und transcendentalen Logik (1812).
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Verhältnis zur Wirklichkeit. Schon das Wort ‚Entdeckendsein‘, das Heidegger gebraucht, beweist dies und widerspricht seinem Versuch, das Entdeckendsein ganz losgelöst von jeder Idee der Adäquation zu denken, obwohl er gerade dies versucht.320 Denn Entdecken ist immer ein ‚etwas Entdecken‘, nicht ein Zustand des Entdeckens als solcher. Auch verlangt das Entdecken im eigentlichen Sinn immer eine gewisse Autonomie des entdeckten Gegenstands, seine Transzendenz gegenüber unserem Erkenntnisakt. Die Wahrheit des Erkennens ist also jenes Verhältnis des Erkennens zum Erkannten, in dem dieses jenem offensteht und sich so erschließt, wie es ist, wie es wirklich erscheint oder scheint, oder wie es an sich selbst ist. Erkenntniswahrheit schließt ferner nicht bloß potentielle Geöffnetheit, sondern tatsächliche Offenheit des Seins gegenüber dem Geist ein. 7. Einige Resultate der Untersuchungen über Erkenntniswahrheit Unsere allgemeinen Überlegungen über Erkenntniswahrheit fassen wir so zusammen: Man darf von einer Wahrheit des Erkennens sprechen. Mit der dem Erkennen zukommenden Wahrheit ist gemeint, daß das Erkennen vom Sein geformt ist: daß es mit dem Sein in Einklang steht, ja darüber hinaus, daß es dieses erkennend berührt, was bei weitem mehr als eine bloße Ähnlichkeit und ganz verschieden von einer solchen ist.321 Die 320
321
Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, zit.; ders., Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967). Darauf, daß dies unhaltbar ist und daß bei Platon aletheia beides ist: Unverborgenheit des Sein und Richtigkeit, hat Paul Friedländer hingewiesen in seinem Platon, cit., S. 240. Thomas erkennt diese Art der Wahrheit des Erkenntnisaktes selbst durchaus an, spricht aber etwas irreführenderweise von einer Ähnlichkeit zwischen Erkenntnis und Erkanntem. Vgl. Thomas von Aquin, De substantiis separatis, Kap. 16. Dabei denkt Thomas allerdings nicht an eine einfach Ähnlichkeit, wie sie etwa zwischen zwei Steinen und deren Formen besteht, sondern vielmehr an eine ganz verschiedenartige Entsprechung zwischen der Form im Ding (in unserem Falle im materiellen Ding) und der Form im Sinne einer “species intelligibilis”, einer intelligiblen und geistigen Form, die der Geist aus dem erkannten Ding abstrahiert hat: vgl. Thomas von Aquin, De substantiis separatis, cap. 16. Während dabei die Menschen nach Thomas die intelligiblen Formen aus den Sinnesdingen abstra-
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Erkenntniswahrheit ist eine einzigartige adaequatio des Intellekts, des erkennenden Geistes, an die Wirklichkeit. Erkenntniswahrheit ist nicht dem logischen Urteilsgebilde als solchem eigen, sondern vielmehr dem erkennenden Akt selbst. 7.1. Erkenntniswahrheit als Wahrheit in einem einzigartigen Sinn
Dem Erkennen können wir Wahrheit in einem Sinn zuschreiben, der unzertrennlich von seiner Rezeptivität und Transzendenz ist. Daher ist Erkenntniswahrheit Wahrheit in einem einzigartigen Sinne, der ganz sui generis ist. Diese Erkenntniswahrheit ist eine adaequatio, weil sie eine besondere Form von Adäquationsbeziehung zwischen Erkenntnisvermögen und Sein (res) einschließt. Angesichts des empfangenden Charakters der Erkenntnis kann deren Verhältnis zum erkannten Gegenstand als eine adaequatio intellectus ad rem beschrieben werden; wo res jeden Gegenstand bedeutet, der erkannt wird, und intellectus den Intellekt (Erkenntnisakt) und deren personales Subjekt bedeutet. Aber im Gegensatz zur im „ad rem“ suggerierten Richtung vom Subjekt zum Objekt liegt im Erkennen jene umgekehrte Richtung, in der sich die Sache dem Geist zeigt und erschließt. 7.2. Die Besonderheit der Erkenntniswahrheit im Licht der ‚rezeptiven Transzendenz‘ des Erkennens
Kraft der rezeptiven Transzendenz des Erkennens findet sich im Erkennen eine Wahrheit sui generis: nicht diejenige des Porträts, des Bildes, der Widerspiegelung, usw. Es ist zunächst die Wahrheit, die nur einem bewußten Akt kraft der besonderen Transzendenz seiner Intentionalität zukommen kann. Ja eine gewisse Transzendenz, die auch in der Erkenntniswahrheit als solcher per eminentiam liegt, ist schon in der Intentionalität vieler bewußter Akte und Erlebnisse enthalten. Diese enthalten etwas jenseits ihrer selbst, gehen über sich und die Immanenz hieren, erkennen sie die höheren Geister, die Engel, wenigstens deren höhere Chöre, entweder im Sinne Platons aus den Ideen (den ewigen Formen) oder aus Gott, während die species intelligibilis in Gott sein eigenes Wesen sei, aus dem er alles erkenne (Ibid., Kap. 16).
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bloßer Bewußtseinsinhalte hinaus. Erkenntniswahrheit als solche aber geht kraft der rezeptiven Transzendenz des Erkennens, die ein wesensnotwendiges Merkmal allen Erkennens und in einem neuen inneren Sinn des Erkennens im engeren Sinn ist, weit über die Vorform der Transzendenz in der Intentionalität selbst hinaus, die ja selbst dem größten Irrtum eigen ist. Diese nur dem Erkenntnisakt eigene Wahrheit kann nur verstanden werden, wenn das wirkliche erkennende Transzendieren und das rezeptive intentionale Verhältnis zwischen Erkenntnisvermögen und Gegenstand verstanden wird. Aletheia als Erkenntniswahrheit ist mehr als ein Entdeckendsein des Subjekts, sie ist ein Verhältnis zwischen der entdeckenden erkennenden Aktivität des Subjekts und dem Gegenstand bzw. dem, wie die Dinge wirklich sind; das Sein tritt kraft dieser Wahrheit des Erkennens aus seiner anfänglichen Verborgenheit heraus. Erkenntniswahrheit ist eine Eigenschaft des Erkennens, die diesem infolge ihres eigenartigen Verhältnisses zu ihrem Gegenstand zukommt, der ontologisch – oder zumindest insofern er oder etwas über ihn erkannt wird – unabhängig von dem Akt des Erkennens ist. Erkenntnis ist wahr, wenn sie erfaßt, daß ihr Gegenstand ist oder was und wie er ist, oder daß etwas nicht ist oder anders ist als von jemandem vermeint, usf. 7.3. Differenzierung der Erkenntniswahrheit je nach den Arten und Stufen des Erkennens
Diese Erkenntniswahrheit gehört den diversen Ebenen und Arten der Erkenntnis auf verschiedene Weise zu: dem Erkennen im engeren Sinn (wie es an der Wurzel allen Erkennens in Sinneswahrnehmung, Gegenstandserkenntnis und Sachverhaltserkenntnis) liegt, gehört Wahrheit per se, und kraft ihres Wesens zu (wesenhaft und von Natur aus, wie wir auch sagen können). Der Akt des Erkennens im engeren Sinne kann nicht irren oder falsch sein. Zum Erkennen im weiteren Sinn gehört Wahrheit per accidens und gleichsam von außen. Innerhalb beider können wir in verschiedenen Richtungen weitere Dimensionen von Erkenntniswahrheit und ganz verschiedene Gesichtspunkte unterscheiden, unter denen Erkenntnis wahr genannt werden kann:
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je nach ihrer Vollständigkeit, Klarheit, Deutlichkeit, Differenziertheit, Tiefe, usf. Im Unterschied zur Wahrheit des Urteils, zumindest des einzelnen Urteils,322 der wir uns im folgenden zuwenden möchten, besitzt die Erkenntniswahrheit unendlich viele Stufen und Grade der Vollkommenheit. Es ist in der Tat der Erkenntnisakt selbst, der in verschiedenen Hinsichten und Richtungen, aber auch in ganz verschiedenen Graden und Vollkommenheitsstufen, wahr sein kann – in dem Maße, in dem: a. das erkannte Sein Autonomie besitzt; b) der Gegenstand der Erkenntnis intelligibel (verstehbar) ist; c) ihr Gegenstand Wert besitzt; c) die Erkenntnis Evidenz besitzt; b) durch Klarheit ausgezeichnet ist; c) Vollständigkeit erreicht; d) tief in ihren Gegenstand eindringt, sei es in rein intellektueller Hinsicht, sei es in einer von moralischen Haltungen abhängigen Weise ethischer und anderer Werterkenntnis; e) ihren Gegenstand unmittelbar zu erkennen vermag. So darf und muß dem Erkennen in seiner Entsprechung zur Wirklichkeit und zu allen bestehenden Sachverhalten Wahrheit in einem ganz eigenständigen und bedeutsamen sowie differenzierten Sinn zugesprochen werden. Dabei hängt es von der Art der erkennenden Teilnahme und von der ontologischen Struktur und Seinsautonomie des Erkannten ab, in welchem Maße wir von Erkenntniswahrheit sprechen dürfen. 8. Die absolute Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit In allen genannten Hinsichten sind unendliche Dimensionen höherer und niedrigerer Vollkommenheiten der Erkenntnis und damit auch ihrer Wahrheit möglich – bis hin zur unendlichen Erkenntniswahrheit selber. Im Licht ihres absoluten Ideals (der Gewißheit, Vollständigkeit, 322
Innerhalb der Gesamtheit und Ordnung der Urteile finden wir analoge Abstufungen wie innerhalb der Erkenntniswahrheit.
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Klarheit, Tiefe, Unmittelbarkeit) wird auch klar, daß menschliche Erkenntnis, obwohl die Erkenntnis im engeren Sinne immer wahr und absolut ist, wie Platon sagt, nur in einem endlichen und begrenzten Ausmaß Erkenntniswahrheit erlangen kann. Menschliche Erkenntnis kann niemals die volle, unendliche Fülle der Erkenntniswahrheit in dem Sinne eines vollkommenen und alles bis ins letzte durchdringenden unmittelbaren Begreifens aller Dinge, wie sie in sich sind, also die „absolute Wahrheit“ in dem neuen Sinn als vollkommene Erkenntniswahrheit über das Ganze allen Seins in seiner Fülle und Tiefe, besitzen, auch wenn wir das Wesen dieses absoluten Ideals der Erkenntniswahrheit als Richtmaß und Ideal als solches verstehen können und in ihm allein die volle, umfassende und absolut vollkommene Erkenntniswahrheit erblicken dürfen, eine wichtige Einsicht, auf die wir ausführlich in den letzten beiden Kapiteln zurückkommen werden.
KAPITEL 3 DIE LOGISCHE WAHRHEIT ODER URTEILSWAHRHEIT – ZUM WESEN DER LOGIK, DER WAHRHEIT SOWIE DER ROLLE UND MODIFIKATION VON WAHRHEITSANSPRÜCHEN IN DEN VERSCHIEDENEN ARTEN VON URTEILEN, SCHLÜSSEN UND BEWEISEN Wenn wir auch Begriffe als solche, vor allem insofern sich ihre jeweilige Bedeutung durch Definitionen bestimmen läßt, sowie diese Definitionen selbst als wahr oder falsch, als adäquat oder inadäquat bezeichnen können, so sind es doch vor allem Urteile, denen Wahrheit oder Falschheit im strikten logischen Sinne zukommt. Die Rede von ‚logischer Wahrheit‘ kann noch auf Verschiedenes hinweisen. Man kann damit erstens die Wahrheit jener Urteile meinen, die, bei vorausgesetzter Nichtwidersprüchlichkeit ihrer Subjekt- und Prädikatbegriffe, aus rein logischen Gründen ihrer Form wahr sein müssen, z.B. tautologische oder analytische Urteile. Deren Wahrheit folgt aus den allgemeinsten logischen Prinzipien (den logischen Grundsätzen der Identität, des Widerspruchs, des ausgeschlossenen Dritten und des zureichenden Grundes), der logischen Form des Urteils (etwa einem Urteil der vollständigen Identifikation des Prädikats mit dem Subjekt) plus der Bedeutungsrelation zwischen Subjekt- und Prädikatsbegriff, z.B. der völligen Identität des Subjektsbegriffs und Prädikatsbegriffs, wie im Falle des Urteils „Jeder Greis ist ein alter Mann“.323 Zweitens kann man unter ‚logischer Wahrheit‘ synthetische und notwendig wahre Urteile über logische Gegebenheiten und Gesetze, also den Inhalt der Wissenschaft der Logik, meinen. Drittens aber kann der Ausdruck ‚logische Wahrheit‘ einfach auf die Wahrheit jener logischen Entitäten, die aus Begriffen bestehen und die wir Urteile nennen, abzielen. Logische Wahrheit in diesem Sinne ist einfach Urteilswahrheit. Sie heißt ‚logisch‘ nicht weil sie die inhaltliche Wahrheit über Begriffe, Urteile, und andere Gegenstände der Logik wäre oder nur 323
Vgl. zu den vielen Möglichkeiten nicht-informativer Sätze außer den analytischen im Sinne Kants Fritz Wenisch, “Insight and Objective Necessity – A Demonstration of the Existence of Propositions Which Are Simultaneously Informative and Necessarily True?”, S. 107-197.
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die allgemeinen und formalen Elemente und Voraussetzungen der Wahrheit, oder auch alle kraft ihrer reinen Form wahren Urteile umfaßte, sondern sie kommt allen wahren Urteilen auf allen Gebieten im Verhältnis zu ihren Gegenständen zu. Logische Wahrheit heißt die Urteilswahrheit nur weil ihr Träger, das Urteil, kein personaler Akt wie die Erkenntnis oder der Akt des Urteilens ist, sondern das eigentümliche logische Gebilde, das wir Urteil nennen und das aus Begriffen gebildet wird. Nach dem Wesen dieser Wahrheit, die dem wahren Urteil als einem objektiven logischen Gebilde zukommt, fragen wir in diesem Kapitel und möchten versuchen, die unreduzierbare Eigenart dieser Wahrheit klar als solche ins Auge zu fassen. Eine phänomenologische Untersuchung zu einer rein philosophischen Logik der Urteilswahrheit soll im folgenden vor allem in drei Richtungen entwickelt werden: Erstens soll kurz das Wesen der Logik überhaupt und ihres Gegenstands erörtert werden, um die Art von logischer philosophischer Forschung, um die es in diesem Kapitel geht, recht verstehen und einordnen zu können. Zweitens möchten wir eine rigorose, wenn auch nur umrißhafte, phänomenologische Philosophie und Analyse des Urteils, seiner Bestandteile und seiner Arten, sowie der Urteilswahrheit durchführen. Eine solche Untersuchung soll das logische Urteil klar von Akten des Urteilens, von Sätzen und von anderen Phänomenen abgrenzen, mit denen es leicht verwechselt werden könnte. Dabei bauen wir auf den exemplarischen phänomenologischen Forschungen auf, wie sie Edmund Husserl, Adolf Reinach, Alexander Pfänder, Hedwig Conrad Martius, und Roman Ingarden entwickelt haben.324 Drittens werden wir den Einfluß der verschiedenen Modalitäten, Quantitäten, Qualitäten und Relationen des Urteils auf die Natur und Funktionen der Kopula und der Subjekts- und Prädikatsbegriffe, sowie auf die jeweilige Form des Wahrheitsanspruchs des Urteils erforschen. Das Urteil kann ja seiner Quantität, Qualität, Modalität und Relation nach von sehr 324
Vgl. insbesondere Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140; Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hg.), Logik4; Hedwig Conrad-Martius, Das Sein (München: Kösel, 1957); Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, wo Ingarden die wichtige Unterscheidung zwischen Urteil und quasi-Urteil macht und überhaupt viele wichtige Beiträge zur phänomenologischen Urteilstheorie macht.
Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit
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verschiedener Art sein und diese Unterschiede haben bestimmte Auswirkungen auf die Art und Problematik der Wahrheitsansprüche des Urteils. Dabei wird unser besonderes Augenmerk den Problemen der Modalität und den Fundamenten der modalen Logik gelten.325 Der Interessensschwerpunkt dieses Kapitels aber ist und bleibt die Frage nach dem Wesen des Urteils und seiner Wahrheit als solcher, da wir im gegebenen Rahmen nicht alle Aspekte einer am Prinzip der Rückkehr zu den Sachen selbst orientierten logischen Lehre vom Urteil gleichermaßen ausführlich behandeln können. Zur Realisierung der Zwecke unserer Untersuchung werden wir zunächst die schlichte Frage betrachten, was denn die Urteilswahrheit, und damit was Wahrheit und Falschheit in jenem Sinne sei, der im täglichen Leben auf Schritt und Tritt vorausgesetzt wird, wenn man von der Wahrheit und Falschheit von Aussagen redet. Was also ist das, die Wahrheit des Urteils? 1.
Das Problem der Urteilswahrheit als Gegenstand einer rein philosophischen Logik – Eine mathematisierend-symbolische Logik als außerphilosophische Disziplin, die bedeutende Fortschritte erzielt hat, aber unter zwei Bedingungen als philosophischer Rückschritt wissenschaftlicher Logik zu erachten ist
Die Wahrheit des Urteils ist für die Logik von höchstem Interesse. Es ist dieser Sinn von Wahrheit, der in all den Wahrheits- und Falschheitstafeln der modernen symbolisch-formalen Logik gemeint bzw. vorausgesetzt wird, wenn auch, wie gezeigt werden soll, innerhalb der modernen 325
In alledem soll der Modus der rein historischen Darstellung einem Modus des Symphilosophierens mit Pfänder und anderen phänomenologischen Logikern weichen. Die modale Logik existiert schon im corpus des aristotelischen Organon (vor allem in der Ersten Analytik und in den letzten Kapiteln der Hermeneutik) in einem beträchtlichen Umfang. In die moderne Logik wurde die modale Logik vor allem durch Hugh Mac Coll, Symbolic Logic and Its Applications und C. J. Lewis, A Survey of Symbolic Logic begründet. Eine Einführung der modernen modalen Logik durch die Verbindung zwischen dem Logikkalkül und der Phänomenologie stellt das Werk Beckers dar: Oskar Becker, „Zur Logik der Modalitäten“.
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KAPITEL 3
symbolischen Logik und ihrer Formalistik in der Benutzung von Wahrheits- und Falschheitstafeln und anderen symbolischen Hilfsmitteln häufig ein Ausfall jeden philosophischen Sachkontakts mit dem Phänomen der Wahrheit vorliegt, wie es Goethe vom Philosophen verlangt und bewundernswert geschildert hat: Er soll sich eine Methode bilden, die dem Anschauen gemäß ist; er soll sich hüten, das Anschauen in Begriffe, den Begriff in Worte zu verwandeln, und mit diesen Worten, als wären’s Gegenstände, umzugehen und zu verfahren ... 326
Genau in jene von Goethe angesprochene Gefahr sind viele Logiker gefallen, die in völligem Vergessen des Gegenstands, um den es der Philosophie geht, mit Symbolen und Wahrheitstafeln hantieren, als wären diese die Dinge, die logischen Gegebenheiten selber. Wie wir innerhalb unserer Erörterung Tarskis und der semantischen Wahrheitstheorie in zweiten Band des vorliegenden Werkes sehen werden, führt gerade jene formalistische Art der Verwendung von Wahrheits- und Falschheitstafeln in der Bestimmung der logischen symbolischen Konstanten und Konnektive, auf die die moderne Logik stolz als auf eine ihrer größten Errungenschaften, blickt, zu einer gewissen Veränderung und zumindest Verdunkelung des logisch relevanten Wahrheitsbegriffs, so daß oft nicht einmal irgendein eigentlich philosophischer Begriff der Wahrheit vorausgesetzt, sondern mit einem reinen Formalismus operiert wird, dem – die radikal verschieden beantwortbare und zentrale – philosophische Frage der Logik 326
Zur Farbenlehre. Didaktischer Theil. Der Farbenlehre. polemischer Theil. Geschichte der Farbenlehre. Nachträge zur Farbenlehre. Johann Wolfgang von Goethe, Sämmtliche Werke in 40 Bänden (Stuttgart and Tübingen: J.G. Cotta’scher Verlag, 1840), vls 37-40., V. Abtheilung, Nr. 716, 720, Bd. 37, S. 232233. Vgl. auch Hans Leisegang, Goethes Denken (Leipzig: Felix Meiner, 1932), S. 157-159; 168 f. Vgl. auch die Stelle: Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu erkennen und damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet.
Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Gespräche mit Eckermann (Leibzig: InselVerlag, 1921), S. 639. Vgl. auch ebd., S. 432, 514, 567, 591.
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nach dem Wesen der Wahrheit ganz gleichgültig geworden ist. Eine derartige Abstraktion vom Datum der Urteilswahrheit führt dann dazu, daß so entscheidende Unterschiede wie der zwischen Satz und Urteil, Urteilsakt und Urteil(sinhalt), oder zwischen ‚P ist wahr‘ und ‚P kann wahr sein‘ in (echter philosophischer Grundlagen baren) Systemen symbolischer Logik nicht nur nicht erörtert und beantwortet, sondern auch auf Grund von philosophiefremden Operationen mit Symbolen und Formeln gar nicht mehr gestellt werden. Eine symbolische Logik ohne sorgfältige und rein philosophische Grundlagenforschung führt aber in der Logik zu großen Lücken und einem Mangel an Präzision, unter dem nicht zuletzt auch ihre Anwendung auf konkrete Probleme leiden wird. Insbesondere wenn logische Systeme jener Grundfrage der Philosophie danach, was die Wahrheit des Urteils eigentlich ist, ausweicht, wird nicht nur die rein philosophische logische Forschung einen empfindlichen Rückschritt erleiden, sondern auch ihre Anwendung an Angemessenheit und Nützlichkeit verlieren. Gerade diesen in der heutigen logischen Diskussion oft aus dem Blick verschwindenden Fragen gelten die folgenden Überlegungen. Dabei werden wir uns auch der Frage nach jenen Abwandlungen zuwenden, welche die Wahrheit, die Wahrheitsansprüche und die Rechtfertigungserfordernisse derselben je nach den Unterschieden zwischen Urteilen ihrer Qualität, Quantität, logischen Modalitäten und Relation nach erfahren. Dabei werden wir sehen, wie sowohl die Natur verschiedener Arten von Allgemeinurteilen und von Modalitäten sehr zum Nachteil der Logik vermengt werden. Abschließend werden wir kurz die Urteilswahrheit und die ganz verschiedene Frage der Gültigkeit von Schlüssen, sowie Schluß und Beweis in ihrem Verhältnis zu Wahrheit und Wahrheitsansprüchen von Urteilen untersuchen. Durch diese im vorliegenden Buch nur in allgemeinen Zügen durchgeführten Unterscheidungen hoffen wir, das Wesen der Urteilswahrheit besser verdeutlichen zu können. Um die Eigenart der Urteilswahrheit zu erforschen, müssen und wollen wir als erstes die Natur des Urteils bzw. des Satzes in seinem logischen Sinne untersuchen, uns aber zuvor der Frage zuwenden, in welchem Sinne diese Frage ein Problem der Logik ist. Um nämlich angemessen bestimmen zu können, was logische Wahrheit im Sinne von Urteilswahrheit ist, müssen wir zuerst erkennen, was die Logik überhaupt ist und
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KAPITEL 3
welchen Gegenstand sie untersucht. Man rühmt heute so oft und so allgemein die gewaltigen Fortschritte, die die Logik – von der noch Kant glaubte, daß sie sich niemals wesentlich über das Niveau der aristotelischen Logik erheben könne und die er im wesentlichen für abgeschlossen und vollendet hielt327 – im eben verflossenen Jahrhundert, vor allem seit Boole, Russell-Whitehead und Frege, gemacht habe, daß wir wenigstens kurz unsere von der herrschenden Meinung über die Geschichte der Logik stark abweichende Auffassung darlegen und begründen müssen. Dabei verkennen wir keineswegs die offensichtlichen und bedeutenden Errungenschaften der modernen logischen Theorien und Systeme. Zu den klassischen Teilen der Logik, ihrer Urteils- und Begriffslehre, sowie ihrer Lehre von den unmittelbaren und mittelbaren Schlüssen (Syllogistik), ist im 19. und 20. Jahrhundert viel ergänzt und sind überdies eine lange Reihe ganzer Gebiete der Logik teilweise oder vollständig neu hinzugefügt worden. In der modernen Logik wurden die sogenannten logischen Konstanten wie ‹nicht›, ‹und›, ‹oder›, ‹wenn›, ‹genau dann, wenn›, ‹alle›, ‹einige›, ‹kein›, ‹ist Element von›, ‹ist identisch mit› viel ausführlicher bestimmt und unterschieden als zuvor. Das klassische Fundament der Logik der Schlüsse, die Aussagenlogik, wurde weiter entwickelt. Viele logische Wahrheiten sowie eine große Anzahl von alternativen Systemen, die aber umfangsmäßig mit den Systemen der klassischen Aussagenlogik zusammenfallen, wurden neu erforscht, usw. Die zentrale Theorie der modernen Logik aber ist die Prädikatenlogik und die Quantifikationstheorie. Sie hat Mittel symbolischer Zeichensprachen entwickelt, mit deren Hilfe Urteile und Argumente innerhalb der Mathematik und der Naturwissenschaften (Physik, Chemie, usw.) sowie viele Argumente aus dem Alltagsleben exakt formuliert und analysiert werden können. Ihr Gebiet umfaßt Urteile und Argumente, denen die klassische Theorie der Aussagenverbindungen und der sogenannten Quantität des Urteils (‹alle›, ‹einige›, ‹kein›, ‚einige nicht‘) gegolten hat. Das entscheidend Neue der modernen Logik aber ist ihre formale Sprache und die Entwicklung eines umfassenden symbolischen und quasimathe-
327
Vgl. Immanuel Kant, Logik (1800), IX20-21.
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matischen Systems der mathematischen Logik im weiteren Sinne,328 bzw. der Logistik. Es ist unbestreitbar, daß die Logik als eine reine Formalwissenschaft, die der Mathematik verwandt ist, eine gewaltige Ausdehnung erfahren und revolutionäre Entwicklungen durchlaufen hat.329 Aber da es der Stolz dieser neuen symbolischen Logik ist, wie etwa I. Copi bemerkt, von allen inhaltlichen philosophischen Positionen frei zu sein und z.B. nicht zu entscheiden, ob die logischen Gesetze psychologische oder konventionelle Regeln der Zeichenmanipulation sind, kann man von ihr auch nicht den mindesten Aufschluß über die grundlegendsten philosophischen Frage der Logik erwarten, die gerade solche Fragen sind wie die hier ausgeschlossenen. Selbstredend kann man aus der Tatsache, daß einzelne Logiker wie Copi symbolische Logik von einem philosophisch neutralen Gesichtspunkt aus betreiben und den wissenschaftlichen Vorzug der symbolischen formalen Logik gerade darin sehen, daß sich dieses Jenseits aller divergierenden philosophischen Positionen Stehen von ihrer Natur her nahelegt,330 nicht schließen, daß ihr Standpunkt derjenige aller symbolischen Logiker wäre. Doch beweist die Tatsache, daß dieselbe symbolische Logik weltweit von Logikern völlig verschiedener inhaltlicher philosophischer Standpunkte betrieben werden kann, daß es sich bei ihr – zumindest in dem Maß, in dem diese moderne Logik als dieselbe von inhaltlich ganz verschiedenen philosophischen Positionen aus gebraucht wird, oder in dem Maß, in dem dies auch nur möglich ist – keine Philosophie ist (ebensowenig wie die Mathematik als solche). Denn für die philosophische Logik sind gerade jene Fragen entscheidend wie was das Wesen des Urteils ist, ob Wahrheit Sätzen oder Begriffen zukommt, ob sie in einer adaequatio oder im 328
329 330
Im weiteren Sinn kann man die moderne, rein symbolisch operierende Logik „mathematische Logik“ nennen. Der engere Sinn dieses Terminus würde nur jenen Teil der Logik meinen, der für die Mathematik relevant ist und der noch spezifische mathematische Anwendungen und Teilgebiete der Logik umfaßt, wie etwa die sogenannte ‚mathematische Induktion‘. Vgl. J. M. Bochenski, Formale Logik (Freiburg/München: K. Alber, 1996). So schreibt Irving M. Copi in Symbolic Logic: “Controversial philosophical questions are not allowed to intrude. The entire book is written from what is sincerely intended to be a philosophically neutral point of view.”
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KAPITEL 3
Konsens besteht, was Wesen und Gültigkeit der Schlußgesetze sind usf., von denen die symbolische Logik ebenso wie die Mathematik abstrahieren kann. Nun ist ein solcher Ablösungsprozeß der Logik von der Philosophie, der mathematischen Logik von der philosophischen Logik, vielleicht voll berechtigt und sogar notwendig, wie sich ja auch unbestrittenerweise die Mathematik von der Philosophie der Geraden, der Punkte, Kreise oder Zahlen erst allmählich und mit vollem Recht emanzipiert hat. Allerdings hat weder die Philosophie der Mathematik noch die philosophische Logik durch diese Loslösung irgendeinen Fortschritt erzielt, denn die Philosophie der Mathematik ist eine ganz andere Disziplin als die Mathematik; sie stellt ganz andere Fragen als die Mathematik und fragt z.B. danach, was denn das eigentlich ist, eine Zahl, ein geometrisches Gesetz, usf. bzw. sie sucht eine andere, auf das Wesen dieser Phänomene abzielende Antwort als der Mathematiker – selbst dann, wenn dieser gleichlautende Fragen stellt.331 Bei dem Ablösungsprozeß der Logik von der Philosophie liegen die Sachen ähnlich, aber noch komplizierter, wurde doch die Logik im Gegensatz zur Mathematik ja immer selber für einen wichtigen Teil der Philosophie gehalten, und dies selbstredend mit Recht. Denn Fragen wie die nach dem Wesen und den Arten von Begriffen, nach Urteilen, deren grundsätzlichen Variationsmöglichkeiten und Arten, ihren Wahrheitsansprüchen, ihrer Wahrheit oder Falschheit, nach dem Wesen logischer Gesetze, ihrer Evidenz und ihren Inhalten etc. sind echt philosophische und grundlegende Fragen. Es gibt also eine philosophische Logik, einen Teil der Philosophie, der selbst Logik heißt und den keine andere Disziplin außer der Philosophie bewältigen kann und der auch nicht Philosophie über die Logik, die eine andere Wissenschaft wäre, sondern selbst Logik ist. Daher darf man nicht behaupten, die Logik selbst, das sei bloß jene Formalwissenschaft, die der Mathematik ähnlich sei, und daneben stehe die Philosophie der Logik, ähnlich wie die Philosophie der Mathematik sich von der Mathematik selbst unterscheide. Denn gerade die philosophische Erforschung des 331
Dies hat mit beeindruckender Klarheit Adolf Reinach in „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550 gezeigt.
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Wesens von Gebilden wie Urteilen, Schlüssen etc. selbst wird und wurde seit Aristoteles Logik genannt und verdient diesen Titel als die Erforschung objektiver Gedanken, sowohl einfacher Bedeutungen wie der Arten von Begriffen, als auch zusammengesetzter wie der Urteile und Argumente, Schlüsse, Beweise, Fragen, etc. Mit vollem Recht kann man gerade jenen Teil der Philosophie, der sich mit diesen Gebilden beschäftigt, Logik nennen. Dabei sollte eines klar sein: Die Entwicklung noch so komplizierter und treffender Systeme symbolischer logischer Prinzipien und Gesetze als solche trägt nichts zu den Lösungen dieser philosophischen Logik bei, sondern bedarf ihrer. Im Licht dieser Ergebnisse ziehe ich es terminologisch vor, von einer philosophischen Logik gegenüber einer mathematischen oder präziser mathematisierenden Logik332 zu sprechen, anstatt eine Philosophie der Logik – analog zu einer Philosophie der Mathematik – der Logik selbst gegenüberzustellen. Eine solche Terminologie zu gebrauchen, die zwischen philosophischer Logik und Philosophie der Logik unterscheidet, ist um so sachdienlicher als es auch eine Philosophie der Logik gibt – und auch das in einem doppelten Sinne. Entweder meint man mit einer Philosophie der Logik eine Metareflexion über die Aufgaben und Erkenntnisweisen der Logik, über ihre Stellung im Ganzen der Wissenschaften, usf. Und dann unterscheidet sich eine solche Philosophie der Logik auch von der klassischen philosophischen Logik selbst und kann sich auf sie beziehen. Oder aber man meint jenen Teil der philosophischen Reflexion über Logik, der gerade nicht die philosophische Logik als solche zum Gegenstand hat, sondern die Logistik (mathematisierende Logik), die Bedeutung und Gültigkeit der in ihr verwendeten Symbole, Gesetze usf. Philosophie der Logik in diesem Sinne ist eine wichtige Aufgabe, ähnlich der einer Philosophie der Mathematik, die uns aber in diesem Buch nicht beschäftigen soll und die selbstverständlich auch primär auf einer philosophischen Logik aufbauen muß. Diese beiden Arten einer Philosophie der Logik unterscheiden sich jedoch von einer philosophischen Logik oder können höchstens als eigenständige Gebiete derselben betrachtet werden, da die 332
Diese Unterscheidung bedeutet, daß die hier gemeinte Logik weder etwa selbst Mathematik ist noch nur einen Teil der logischen Gesetze, nämlich die Logik der Mathematik, zum Gegenstand hätte, sondern eine der Mathematik ähnliche, aber allgemeinere formale Wissenschaft ist.
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philosophische Logik sich hauptsächlich der philosophischen Aufklärung logischer Gegebenheiten und Gesetze selber widmet. Auch über die elementare, wenn auch nicht einfache Frage, was Wahrheit im Sinne der Logik, also Wahrheit des Urteils, und was deren Träger ist, kann selbstverständlich eine Logik, deren Stolz es ist, von solchen Fragen wie der nach dem Wesen des Urteils und der Wahrheit abzusehen, keinerlei Auskunft geben. Ja mit diesem Absehen von den entscheidenden philosophischen Fragen nach dem Wesen und der Natur der logischen Entitäten und der logischen Gesetze hört diese Logik einfach auf, Philosophie zu sein und wird zu einer ganz von der Philosophie verschiedenen Wissenschaft wie die Mathematik dies längst geworden ist. Manchmal wird sie auch zur Antiphilosophie, die in einem hoffnungslosen Reduktionismus versucht, logische Bedeutungen, Urteile, Wahrheit etc. in rein mechanistischer oder ausschließlich sprachanalytischer Weise zu erklären.333 Wir haben auf die gewaltigen Fortschritte der mathematischen oder mathematisierenden Logik seit Boole, Russell-Whitehead, Frege und anderen hingewiesen. In zwei häufig eintretenden Fällen allerdings, so meine ich, liegt in den im 20. Jahrhundert entwickelten beeindruckenden Systemen modaler Logik, Aussage- und Prädikatenlogik usf., denen wir unsere Bewunderung noch weniger versagen als z.B. den Entwicklungen der Schachtheorie oder gar als jenen der modernen Mathematik, kein philosophischer Fortschritt, sondern eher ein Rückschritt: (1) Erstens dann, wenn man meint, diese mathematisierende Logik könne die philosophische Logik ersetzen oder habe sie gar längst abgelöst. In Wirklichkeit hat jedoch die mathematisch-formalisierte Logik nicht nur die philosophische nicht ersetzt, sondern trägt auch als solche nicht einmal das Geringste zu den Lösungen der philosophischen logischen Probleme bei – es sei denn, daß sie mit philosophischen Forschungen Hand in Hand geht, diese inspiriert oder aus ihnen entspringt – sondern macht die Aufgaben und Lösungen einer rein philosophischen Logik nur um so dringlicher und stellt neue philosophische Probleme, die sie ebensowenig beantworten kann wie die Mathematik die philosophischen Probleme der Mathematik zu beantworten vermag. Oder ist es nicht evident, daß die 333
Ein Beispiel dafür ist R. J. Melson, The Logic of Mind (Boston: Reidel, 1982).
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Mathematik als solche weder jene Fragen beantworten kann, die das Wesen mathematischer Entitäten wie der Zahlen, der arithmetischen Grundoperationen, des Objekts der euklidischen und nicht-euklidischen Geometrien, noch jene, die die Gültigkeit der Erkenntnisweisen und Methoden der Mathematik selbst betreffen? Denn die Beantwortung dieser Fragen erfordert philosophische Fragestellungen und Methoden, die sich von jenen der Mathematik ganz unterscheiden. Wenn also die mathematisierende Logik sich vermessen wollte, die philosophische Logik zu ersetzen oder überflüssig gemacht zu haben, dann stellt ihre Entwicklung als Substitut der Philosophie einen geistesgeschichtlichen Rückschritt dar, im Verhältnis zu dem die antiken und mittelalterlichen Logiker, die fast alle zugleich philosophische Logiker waren, in philosophischer Hinsicht unvergleichlich überlegen sind.334 (2) Zweitens ist die große Entwicklung der modernen Logik dann keinerlei Fortschritt philosophischer Logik, sondern vielmehr deren Rückschritt, wenn die Entwicklung formaler und symbolischer logischer Systeme nicht nur partiell, sondern durchgehend wie eine reine Angelegenheit mathematischer Setzungen und Phantasie betrachtet wird und man damit Gefahr läuft, an die Stelle der wirklichen logischen Gesetze, die klassische Beispiele dessen sind, was Reinach oder Dietrich von Hildebrand notwendige Wesensgesetze nennen,335 fiktive und z.T. falsche Gesetze symbolischer Logik, z.B. der modalen Logik und der Prädikatenlogik, zu setzen. Unter solche falsche Gesetze symbolischer Logik würde ich etwa die Axiome derjenigen Formen polyvalenter Logik rechnen, die das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten verwerfen. Eine besondere Art von polyvalenter Logik, die ich kritisch sehe, wird mitunter als „fuzzy logic“ bezeichnet. Dabei bestreite ich keineswegs, daß eine polyvalente Logik, die mit mehr Wahrheitswerten als nur mit ‚wahr und falsch‘ arbeitet, und deren Anschauungen auch manchmal als ‚fuzzy logic‘ bezeichnet werden, 334
335
Ähnliches gilt für die antiken Mathematiker. Vgl. z.B. die vielfältigen Kommentare zur euklidischen Mathematik in Thomas L. Heath, transl., introd., comm., The Thirteen Books of Euclid’s Elements, 3 vol., reprint of 2nd ed. (New York: Dover, 1956). Vgl. Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, S. 531-550; Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. iv.
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einige echte logische Einsichten enthalten und dann entsprechende korrekte Anwendungen haben kann. All das wäre im einzelnen zu prüfen, müßte jedoch mit den echt philosophischen Methoden der Wesensanalysen, die die ewigen Gesetze der Logik nur erneut und vertieft erkennt, untersucht werden. Manchen Anwendungen polyvalenter Logik liegen durchaus echte Einsichten zugrunde, wenn diese auch überaus erklärungsbedürftig sind. Ein negatives Urteil über polyvalente Logiken ist weder im Hinblick auf solche Systeme als solche berechtigt, die neben ‚wahr‘ und ‚falsch‘ auch weitere Werte wie ‚könnte wahr sein‘ usf. annehmen, was ich für dringend erforderlich halte, noch auf Anwendungen einer polyvalenten Logik, die dieser ausschließlich Urteile über in sich oder für unser Erkennen undeterminierte Objekte unterwerfen. Denn hinsichtlich der besonderen Klasse irrealer und in sich selber unbestimmter Objekte gibt es tatsächlich Aussagen, die, mindestens solange sie nicht in eindeutiger Weise bestimmte Sachverhalte behaupten (wie sie auch über fiktive Objekte bestehen) weder wahr noch falsch sind, für die also das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten nicht gilt, und zwar deshalb, weil sie gar keine bestimmten Dinge, Sachverhalte oder sogar nur eindeutig definierte Möglichkeiten sind. Manche Vertreter der fuzzy logic halten ihre Problemstellung unbegründeter Weise für völlig neu. Grundprobleme dieser ‘unscharfen Logik’336 finden wir jedoch bereits bei Heraklit, einigen Sophisten und bei Platon. Ihr Grundproblem ist also eine alte platonische Einsicht.337 Im Theaitetos ist sogar die Bemerkung, daß dieselbe Sache zugleich 336
337
Die Begriffe einer ‘fuzzy logic’ und einer ‘fuzzy theory’ werden aber oft selber in unpräziser Weise gebraucht und haben die intellektuelle Gemeinschaft gespalten. Nicht nur wurden oft von ihren Vertretern oft alte Ideen wie große Neuerungen eingeführt, sondern simplistische Verurteilungen aller binaren Formen der Logik, auf denen viele Wissenschaften und Wissenszweige beruhen, mußten heftigen Anstoß finden und wurden von vielen Logikern als ein Randphänomen betrachtet, das nur unklare Denker auf den Plan rief. Deshalb wurden wissenschaftliche Arbeiten über ‘fuzzy logic’ vielfach gar nicht publiziert. So bildeten sich eigene Zirkel und Zeitschriften für ‘fuzzy logic’, die sich oft eng mit östlichen Philosophien verbanden. Platon, Theaitetos 154 c-e. Vgl. auch Platon, Parmenides 150 b ff.
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groß und nicht groß, das Doppelte und die Hälfte ein kann, Ausgangspunkt schwieriger Überlegungen über die Ideenlehre. Auch Aristoteles wirft in seinem logischen Werk Peri Hermeneias diese Frage, ob es nicht Aussagen gäbe, die weder wahr noch falsch seien, weil ihr Gegenstand in sich unbestimmt sei, am Beispiel von Aussagen über den Ausgang einer zukünftigen Seeschlacht auf. Roman Ingarden behandelt sie in seinem Das literarische Kunstwerk als Eigenschaften der repräsentierten Welt, die im Gegensatz zu realen Seienden „Unbestimmtheitsstellen“ aufweisen können.338 Da die Haarfarbe von Hamlet von Shakespeare unbestimmt bleibt, gilt weder, daß sie blond noch daß sie nicht blond ist. Manche unscharfen (fuzzy) Logiker lehrten aber ein solches „Jenseits des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten Stehen“ nicht nur für derartige in sich teilweise unbestimmten literarischen Figuren, Hexen u. dgl. Vielmehr vertraten sie die Meinung, alles Seiende und jeder Besitz sei nur in bestimmten Graden möglich; kein Ding besitze eine Eigenschaft im Gegensatz zur kontradiktorischen vollkommen. Einer solchen Meinung liegt die Einsicht zugrunde, daß sich unter dem Schein einer und derselben Aussage „Sokrates ist weise“ oder „Sokrates weiß nichts“ ganz verschiedene Aussagen verbergen können, von denen einige wahr, andere falsch sind. So kann es zugleich wahr sein, daß ein Gegenstand oder eine Zahl 8 (im Vergleich zu anderen kleineren Gegenständen oder Zahlen) groß, zugleich aber (im Vergleich zu größeren Zahlen) klein sein kann. Solche Logiker kritisieren nur den simplistischen Charakter binarer Logiken und meinen fälschlich, das Sorites-Paradox (nach dem man aus dem Bart eines Mannes ein Haar nach dem anderen auszupfen kann, ohne daß sich sein bärtiger Zustand ändere, während man nach Auszupfen des letzten Haares einen bartlosen Mann vor sich habe, woraus folge, daß bärtig und nicht bärtig identisch und ununterscheidbar seien) und andere Paradoxe ließen sich nur durch fuzzy logic lösen. Je nachdem, was man 338
Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk; vgl. auch Josef Seifert, “Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment. An exposition of Its Logical Aspects and a Critical Evaluation of Its Value in the Context of Understanding the Literary Work of Art”, in: Adam WĊgrzecki (Hrsg.), Roman Ingarden a filozofia naszego czasu (Kraków: Polskie Towarzystwo Filozoficzne, 1995); und (with Barry Smith) “The Truth about Fiction,” zit.
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unter dieser versteht, mag ein solches Urteil zutreffen oder auch nicht. Um derartige Antinomien aufzulösen, ist jedoch in keiner Weise ein Abrücken vom Prinzip des ausgeschlossenen Dritten erforderlich, sondern nur seine klarere Formulierung.339 Andere „unscharfe Logiker“ (“fuzzy logicians”) beziehen sich, wenigstens primär, auf Begriffe und nicht die obersten Sätze der Logik. Sie leugnen weniger die obersten Prinzipien der binaren Logik, vor allem die Prinzipien vom ausgeschlossenen Dritten und vom Widerspruch, als sie betonen, daß viele unserer Begriffe (wie glatzköpfig) unscharf seien und in vielfacher Weise verstanden werden könnten je nach dem Grad des Haarverlustes, den man als Bedingung der Glatzköpfigkeit ansetzt.340 Bei anderen Logikern wiederum verbanden sich die Ideen über ‚fuzzy logic‘ mit einem groben Relativismus. Im Rahmen der obersten ontologischen und logischen Prinzipien zu verharren sei nur ein Merkmal westlichen schematisierenden Denkens, für östliches Denken gälte etwas völlig anderes. Einen solchen kulturellen Relativismus, wie er sich auch bei Spengler findet, kann man mit vielen Argumenten zurückweisen.341 Falsch ist ferner jedes Gesetz einer formalisierten symbolischen Logik, in dem die objektiven logischen Folgen aus epistemisch apodiktischen, aus logisch und aus ontologisch notwendigen Sachverhalten bzw. Urteilen verwechselt werden oder die sich über das Wesen so grundlegender und intelligibler Gegebenheiten wie der verschiedenen Arten ontischer, epistemischer und logischer Modalitäten hinwegsetzt. Für ein derartiges Vorgehen in der modernen Logik ließen sich zahlreiche Beispiele finden. Aus dem über Modalitäten Gesagten wird klar hervorgehen, daß eine seriöse und wirklichkeitsgemäße modale Logik diese Unterschiede auf das Sorg339
340
341
Vgl. mein Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant, zit. Max Black (1937) wollte solche vage Begriffe formalisieren. “Fuzzy theory”, erst von Lotfi Zadeh (1965, 1975) entworfen, entwickelt Black’s frühere Analyse, was in Theorien resultiert, die in manchen Wissenschaften vernünftige Anwendungen finden kann, wie immer inadäquat die ihr zugrundeliegende philosophische Erklärung auch ist. Vgl. Charles G. Morgan, “Fuzzy Logic”, Routledge Encyclopedia of Philosophy, Version 1.1, London and New York: Routledge (1999). Vgl. Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus.
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fältigste untersuchen und ihnen Rechnung tragen muß, worauf wir noch eingehen werden. Lösen sich Gesetze der symbolischen Logik von den objektiven Wesensgesetzen, die von allen logischen Entitäten handeln, oder wenden sie sich sogar gegen diese, so stehen wir vor einer gewissermaßen „wildgewordenen Logik“, die sich von ihren philosophischen Grundlagen losgelöst hat – ähnlich wie im mathematischen Formalismus und Konventionalismus342 die Mathematik konzipiert wird. An die Stelle der Erforschung notwendiger logischer Wesenheiten und Wesensgesetze tritt dann eine Art logisches System von Schachspielen mit alternativen, reiner Konvention entspringenden Axiomen und Spielregeln,343 wie sich dies besonders in der polyvalenten und anderen Formen moderner Logik findet. Diese unberechtigte Loslösung mancher Systeme und Anwendungsformen symbolischer Logik von philosophischen Wesenseinsichten in logische Gegebenheiten und Gesetze ist eine Gefahr, die ich in analoger Form übrigens auch in der modernen Mathematik und Physik sehe. Noch einen weiteren Grund gibt es, aus dem ich am Fortschritt der philosophischen Logik angesichts der modernen Entwicklung der mathematisierenden Logik zweifle. Man vernachlässigt auf diese Weise die Aufgabe einer philosophischen Aufklärung dessen, was die symbolische mathematische Logik selbst und was der Wert ihrer Gesetze ist, also man glaubt sich der Aufgaben der Philosophie der Logik im zweiten erörterten Sinne enthoben. Wir haben die Absicht, im folgenden rein philosophische Logik zu betreiben und auch nur einige Grundfragen dieser Logik zu stellen: nach 342
343
In diesen Richtungen der Mathematik bzw. der Philosophie der Mathematik wurden mathematische Gesetze und Axiome wie bloße konventionelle Ansetzungen (wie z.B. Schachregeln) betrachtet, z.B. von Poincaré. In Wirklichkeit sind nicht nur die klassischen mathematischen Axiome, neben denen es auch mathematische Ansetzungen und Spielregeln gibt, wie Reinach zeigt, ganz verschieden von Schachregeln oder Konventionen irgendwelcher Art, sondern gibt es auch im Schach andere Gesetze, die keinen konventionellen Charakter besitzen. Vgl. dazu J. Seifert, Schachphilosophie; ders., „Adolf Reinach, Sämtliche Werke. Textkritische Ausgabe in zwei Bänden“, in: Prima Philosophia 3 (1990), 408-415. Vgl. dazu Josef Seifert, Schachphilosophie, Kap. 2-3, wo ich neben konventionellen auch wesensnotwendige Gesetze des Schachspiels unterscheide.
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KAPITEL 3
Wesen und Aufbau des Urteils, nach ihrer Wahrheit und einigen Arten von Urteilen. Hinsichtlich der Beantwortung dieser Fragen dürfen wir von der mathematisierenden Logik nichts erwarten, wenn auch deren Gründer, vor allem Frege und Bolzano, viel zu deren Lösung beigetragen haben (aber nur weil sie auch philosophische Logiker und Philosophen der Logik waren). Vielmehr dürfen wir einen solchen Aufschluß über unsere Fragen nur von der rein philosophischen Logik erhoffen, die eine ganz andere Disziplin ist als ein Entwerfen und Benützen eines Systems symbolischer Logik. Um jedoch den Eindruck zu verhindern, ich meinte, zu dieser echt philosophischen Logik gäbe es keine wichtigen Beiträge in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, betone ich ganz im Gegenteil, daß es auch auf dem Gebiet dieser philosophischen Logik, obwohl deren Aufgaben noch kaum in Angriff genommen wurden, im vergangenen Jahrhundert bedeutende Beiträge gegeben hat, die keineswegs den gewaltigen Leistungen philosophischer Logik in der Antike und im Mittelalter nachstehen, ja diese vielleicht noch übertreffen.344 2. Von Wesen und Wahrheit des Urteils Wir wenden uns also der philosophischen Logik zu, bzw. jenem Teil derselben, der nach der Wahrheit des Urteils und deren Träger fragt. Dabei werden wir zunächst von dem einfachsten Beispiel eines Urteils ausgehen, dem sogenannten assertorischen kategorischen Urteil, dem wir der 344
Nach Aristoteles waren es vor allem die Stoiker und später die mittelalterlichen Denker des 14. Jahrhunderts wie Duns Scotus (dem früher die Grammatica Speculativa zugeschrieben wurde, der aber andere logische Werke hinterließ), William Ockham (Summa Logicae), Thomas von Erfurt (Grammatica Speculativa), Johannes von St. Thomas, Nicholas de Autrecourt, Peter von Spanien, und Francis Suarez, die hier genannt werden müssen: in der Neuzeit waren es nach Leibniz und Bolzano vor allem Edmund Husserl, Logische Untersuchungen; Alexander Pfänder; Logik; Adolf Reinachs Untersuchungen zum negativen Urteil, und Roman Ingardens Analysen des Quasi-Urteils und des Urteils überhaupt – die zur Entwicklung der philosophischen Logik (z.B. Pfänder) oder der Philosophie der Logik (z.B. Husserl) vielleicht sogar noch entscheidender beigetragen haben als die mittelalterlichen Denker.
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Relation nach das hypothetische und disjunktive Urteil und der Modalität nach das problematische und apodiktische Urteil gegenüberstellen könnten. Das assertorische Urteil ist der geeignetste Ausgangspunkt, da wir in ihm weder die Steigerung des Behauptungsschlages, wie im apodiktischen Urteil, noch dessen Reduktion wie diese im problematischen Urteil vorliegt, noch auch Relationen und andere kompliziertere Aspekte hypothetischer und disjunktiver Urteile, sondern gleichsam das Urteil als solches in seiner schlichtesten Gestalt antreffen. Unsere Begründung dafür, das assertorische (kategorische) Urteil als Ausgangspunkt zu nehmen, bestreitet natürlich nicht, daß die Wahrheit des assertorischen notwendig auch die Wahrheit des problematischen und apodiktischen Urteils impliziert, was, wie wir sehen werden, keineswegs auf die entsprechenden ontologischen Modalitäten zutrifft, die hauptsächlich von der „modalen Logik“ untersucht werden. (Ebensowenig besteht überall dort, wo wir assertorische Urteile fällen, eine epistemologische Rechtfertigung dafür, apodiktische Urteile zu fällen, was das Verhältnis zwischen logischen und epistemischen Modalitäten berührt). 2.1. Was ist Träger der Urteilswahrheit? Über den Unterschied zwischen Urteilsakten und dem Urteil als objektiver logischer Entität
Wir können hinsichtlich des Urteils, das für uns durch das kategorische Urteil vertreten wird, zunächst fragen, was eigentlich wahr genannt wird, bzw. was der Träger der Wahrheit in dem Satz oder Urteil ist: „Liechtenstein ist ein Fürstentum“ oder „Liechtenstein ist nicht das größte Land auf dieser Erde“. Das Urteil, dem ich in diesem Fall Wahrheit zuschreibe, ist gewiß nicht mein persönlicher Denkakt oder der Akt meines Behauptens.345 Denn zwischen beiden bestehen die folgenden bedeutenden Unterschiede:
345
Wenigstens sprechen wir hier nicht von der Wahrheit von Erkenntnis- und Urteilsakten, von deren Wahrheit im vorigen Kapitel die Rede war.
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2.1.1. Individuelle Verschiedenheit der Urteilsakte gegenüber Allgemeinheit und Einheit der objektiven ‚Urteile‘
Mein Denkakt ist durchaus individuell und in keinem anderen Bewußtsein zu finden.346 Das Urteil, daß Liechtenstein nicht das größte Land der Erde ist, ist hingegen allgemein in dem Sinne, daß es von jedermann gleichermaßen geurteilt werden kann.347 Und damit ist dieses objektive Urteil auch ein einziges, während es viele verschiedene Urteilsakte gibt. Es kann, wie wir auch sagen können, den Urteilsinhalt von individuell ganz verschiedenen Urteilsakten ausmachen, wobei der Terminus ‚Inhalt‘ hier in anderem Sinne gebraucht wird als wenn wir vom aktuellen Wesen und Inhalt des bewußten Aktes selber reden. Unser Urteil: „Liechtenstein ist nicht das größte Land der Welt“, ist ganz dasselbe Urteil und gleich wahr, ob dieses Urteil nun von Maria, Gabriel oder von Johannes Paul, von Katharina oder von irgend jemand anderem gefällt wird. Es können also nicht unsere jeweils verschiedenen Akte sein, die in diesem Sinn wahr genannt werden, denn sonst wäre der im genannten Urteil ausgedrückte Gedanke nicht ein wahres Urteil, eine Wahrheit, sondern würde sich in viele Erkenntnisakte oder Urteilsakte auflösen, die wahr wären. Die Einheit dieses wahren Urteils könnte nicht erklärt werden, wenn Wahrheit eine Eigenschaft dieser Denkakte wäre, denn im Gegensatz zur vorher diskutierten Erkenntniswahrheit, die durchaus je nach individuellem Maß der Erkenntnisfähigkeit abgewandelt sein kann (obwohl auch sie, wie viele andere reale Wesen von und in real existierenden individuellen Seienden, einen allem wahren Erkennen ‚gemeinsamen‘, doch jeweils durch und durch individuell verkörperten Inhalt hat),348 stünde es im Widerspruch zum Wesen der logischen Wahrheit des Urteils, das in einem Satz ausgedrückt wird, zu behaupten, jedes individuell verschiedene Urteil 346
347
348
Deshalb sieht Pfänder objektive Gedanken, die Produkte von Denkakten, wie Urteile, Schlüsse, Fragen, usf. und deren Elemente, die Begriffe, als Gegenstand der Logik an, und unterscheidet sie scharf von Denkakten. Pfänder, Logik, a.a.O., S. 1-30 Diese für das Urteil als solches charakteristische Allgemeinheit unterscheidet sich selbstverständlich scharf von jener des Allgemeinurteils im Gegensatz zum Individualurteil. Vgl. Pfänder, Logik, a.a.O., S. 31-38. Vgl. dazu mein Sein und Wesen, Kap. 1.
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besäße eine eigene, jeweils verschiedene Wahrheit. Auch sind nicht Denkakte Träger der Falschheit, zumindest nicht jener Falschheit, um die es hier geht. Sie können andere Prädikate haben, z.B. mehr oder minder Intelligenz beweisen und in einem anderen Sinne selbst intelligent sein; sie können wirklich sein, wenn Sie oder ich sie fällen, oder unwirklich, wenn sie nur die imaginären Akte des häufigen Urteilens der Mutter Aglaias in Dostojewskis Der Idiot sind. Doch sind Urteilsakte nicht wahr oder falsch im Sinne der Wahrheit oder Falschheit des Urteils. Husserl drückt diesen Unterschied so aus und weist dabei übrigens auch auf den Sinn der Erkenntniswahrheit und jenen des Urteilsaktes (im Unterschied zur Wahrheit des Urteils selbst) hin, wenn er schreibt: Wollte man sich darauf stützen, daß doch wie jedes Urteil, auch das wahre aus der Konstitution des urteilenden Wesens auf Grund der zugehörigen Naturgesetze erwachse, so würden wir entgegnen: Man vermenge nicht das Urteil als Urteilsinhalt, d. i. als die ideale Einheit, mit dem einzelnen realen Urteilsakt. Die erstere ist gemeint, wo wir von dem Urteil „2x2 ist 4“ sprechen, welches dasselbe ist, wer immer es fällt. Man vermenge auch nicht das wahre Urteil, als den richtigen, wahrheitsgemäßen Urteilsakt, mit der Wahrheit dieses Urteils oder mit dem wahren Urteilsinhalt. ... [der] Wahrheit: 2 x 2 = 4.349
2.1.2. Verschiedenheit des immanenten Inhalts des Urteilsaktes vom objektiven logischen Urteil
Mit ‚Urteilsinhalt‘ meinen wir auch nicht etwa den Gehalt oder Inhalt des bewußten Aktes des Urteilens selbst, eine Auffassung, zu der Husserl in den Logischen Untersuchungen neigt, wo er logische Formen „nichts weiter“ nennt als die „zu idealen Spezies objektivierten Formen der Bedeutungsintention.“350 wenn es auch unbestreitbar ist, daß jeder intentionale, bewußt auf ein Gegenständliches gerichtete Akt notwendig nicht nur ein allgemeines und besonderes Wesen, und damit eine inhaltliche Bestimmtheit, z.B. als Liebe, als Akt des Fragens, als Urteilsakt, sondern auch einen jeweils besonderen Gehalt als ‚diese Liebe‘ 349 350
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band I, Kap. 7, § 37, S. 119. Edmund Husserl, ebd., Logische Untersuchungen, Band 2, Kap. 3, §17, S. 154.
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KAPITEL 3
oder als ‚dieser Urteilsakt‘ besitzt. Dabei besitzt einmal jeder Akt des Urteilens einen Inhalt bzw. einen Gehalt seiner Aktstruktur, der sich klar etwa vom Gehalt von Wahrnehmungsakten oder Akten der Liebe unterscheidet, aber der auch einen jeweils besonderen Inhalt hat, welcher sich auf der Subjektseite befindet und sowohl vom Objekt des jeweils bestimmten Urteilsaktes als auch von anderen Faktoren abhängt, z.B. von der Schärfe des Verständnisses der im Urteil verwendeten Begriffe. Doch ist das Urteil, von dem wir Wahrheit und Falschheit aussagen, im Zusammenhang mit der Wahrheit eines ‚Satzes‘ evidenter Weise nicht ein derartiger Inhalt oder das Wesen eines bewußten Aktes des Behauptens. 2.1.3. Das Urteil ist eine komplexe, aus Begriffen bestehende Bedeutungseinheit, die über ihre Bedeutung hinaus auch Funktionen erfüllt, der Akt des Urteils nicht
Das Urteil ist eine komplexe Bedeutungseinheit, die in einem Aussagesatz, aber auch in anderen Sätzen (etwa in rein rhetorischen Fragen) ausgedrückt werden kann. Diese komplexe und geordnete Ganzheit der logischen und begrifflichen Struktur des Urteils ist eindeutig dem Urteilsakt und dessen immanentem Inhalt gegenüber etwas ganz Neues, Eigenes. Wir können sagen, es sei ein objektives Urteilsgebilde, ein objektiver Gedanke als Produkt oder besser als Korrelat des Urteilsaktes. Und von diesem eigentümlichen Gebilde, dem Urteil im Sinne der propositio, sagen wir, es sei wahr oder falsch. Was aber ist eigentlich dieses Urteil im objektiven logischen Sinne, das Träger von Wahrheit und Falschheit ist? Nach Alexander Pfänder ist es ein Ganzes, das aus Begriffen besteht,351 nach Alexius Meinong ein „Gegenstand höherer Ordnung“, der aus Begriffen gebildet ist.352 Und diese Begriffe selbst sind Gebilde sui generis, Bedeutungen. Das 351 352
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, „Die Lehre vom Urteil“ 38-44. Vgl. Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz: Akad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977), Bd. IV, Kap. iii, S. 42 ff.; ders., „Über Emotionale Präsentation,“ in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe, ed. by R. Haller and R. Kindlinger, vol. III, Abhandlungen zur Werttheorie (Graz, 1968), Abhandlung VI, S. 283-467.
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Urteil ist ein komplexes Gebilde. Es ist zunächst komplex, weil es nicht bloß einen einzelnen Begriff enthält, sondern eine Vielzahl von Begriffen — zumindest drei, sagt Pfänder: einen Prädikatbegriff, einen Subjektbegriff und die Kopula.353 Es enthält jedes Urteil (obwohl man dies für manche Urteil bezweifelt hat) – wir fügen dies wegen des schwierigen Problems der Existenzsätze und der Impersonalien hinzu354 – wenigstens drei Begriffe, einen Subjektbegriff, einen Prädikatbegriff und die Kopula. Das Urteil verbindet ferner die Begriffe, aus denen es gebildet ist, in einer höheren Einheit, innerhalb deren diese Begriffe nicht nur ihre Bedeutung, auch nicht einmal nur jeweils verschiedene, kontextuell bestimmte Bedeutungen besitzen, sondern auch verschiedene Funktionen erfüllen.355 So haben z.B. die Worte ‚Haus‘ und ‚rot‘ ihre jeweilige Bedeutung, die noch einmal je nach dem Kontext differenziert sein kann, indem ‚Haus‘ einmal einen Palast, ein anderes Mal eine Hütte meinen kann, ‚rot‘ eine dunkelrote oder hellrote Farbe. Wenn ich aber sage ‚Dieses Haus ist rot‘, tritt zur Bedeutung der Begriffe und zu deren Modifikation etwas ganz anderes hinzu. Der Begriff ‚Haus‘ meint nicht nur das Haus, sondern er meint es als Subjekt der Prädikation und gewinnt also selbst die Funktion des Subjekts (d.h. des Subjektbegriffs) des Urteils, der Begriff ‚rot‘ meint seinen Gegenstand als Prädikat, das vom Subjekt ausgesagt wird, und ist selbst Prädikat(sbegriff) des Urteils, und das Wörtchen ‚ist‘, das Pfänder deshalb den sprachlichen Ausdruck eines ‚rein funktionierenden Begriffs‘ nennt,356 scheint sich in der Funktion bzw. in den verschiedenen Funktionen der Kopula zu erschöpfen, von denen gleich noch die Rede sein wird. Es leuchtet hingegen unmittelbar ein, daß Behauptungsakte keineswegs aus Begriffen bestehen oder jene Funktionen ausüben, welche die Kopula innerhalb des Urteils hat. 353 354
355 356
Pfänder, a.a.O., S. 38 ff. Darüber, ob auch diese aus drei Begriffen bestehen, deren zwei in einem Wort ausgedrückt werden, läßt sich diskutieren, vor allem aufgrund der Impersonalien oder nicht-personalen Sätze wie „es regnet“. Sind auch hier in zwei Worten drei Begriffen enthalten, wie Pfänder behauptet? (Pfänder, Logik, a.a.O., S. 49 ff., S. 60 ff. Vgl. Pfänder, Logik, a.a.O., S. 156 ff., 178-179. Vgl. A. Pfänder, Logik, II, viii, S. 156 ff. „Die rein funktionierenden Begriffe“.
270 2.1.4.
KAPITEL 3 Der Urteilsakt (Behauptungsakt) wird von innen her bewußt vollzogen und besitzt viele weitere Prädikate, die dem logischen Urteil notwendig fehlen
Auch der Urteilsakt besitzt eine Fülle von Wesenseigenschaften, die der objektiven logischen Entität des ‚Urteils‘ notwendig fehlen: Der Behauptungsakt ist ein personaler Akt, das objektive, aus Begriffen bestehende Urteil keineswegs. Der Urteilsakt wird von innen her im Vollzugsbewußtsein,357 auf das auch Johann Gottlieb Fichte in seiner faszinierenden und in gewissem Ausmaß die phänomenologische Lehre vom Vollzugsbewußtsein vorwegnehmenden Lehre von der unmittelbaren intellektuellen Anschauung beredt hinweist,358 bewußt erlebt und vollzogen; 357 358
Siehe Fußnote 265. Während Kant so etwas wie intellektuelle Anschauung leugnet und darunter die unmittelbare Schau des Wesens und Daseins der Dinge an sich versteht, hält Fichte die „intellektuelle Anschauung“, unter der er unter anderem das unmittelbare innere Erfahren des eigenen Bewußtseins versteht, für möglich: Johann Gottlieb Fichte, Die Thatsachen des Bewußtseins (1813). Dieser Begriff ist nun schlechthin, er wird nicht, und ist die intellectuelle Anschauung. Nur Er ist die intellectuelle Anschauung. In der Empirie haben wir früher auch eine intellectuelle Anschauung der bloßen Form des Bildes, als nicht des Seins aufgestellt. Alles Bewußtsein ist möglich nur durch das Verstehen des Bildes als solchen, dies ist freilich auch eine intellectuelle Anschauung; aber sie ist das bloße formale Bild der intellectuellen Anschauung, die wir hier hinstellen; dergleichen ja die Erfahrung überhaupt ist in Beziehung auf die reale Erscheinung. Unser jetziger Begriff ist durch diese Form der unmittelbare Ausdruck des überwirklichen, des reinen Charakters dessen, was absolut da ist, der Erscheinung. Er ist es, und Nichts ausser ihm. Erscheint ausser ihm noch etwas Anderes als überwirklich, so geschieht dies nicht durch eine unmittelbar intellectuelle Anschauung desselben, sondern nur durch eine Synthesis der Einen jetzt beschriebenen intellectuellen Ansch auung, mit einem besonderen Falle, mit irgend einem Faktum der Anschauung. (Darum meinten Kant und Andere, es gebe keine intellectuelle Anschauung eines Objekts. Wir läugnen sie nicht. Wie käme man denn hinaus über das Objekt in eine intelligibele Welt? Der Uebergangspunkt bleibt Jenen verborgen: Kant thut einen | IX454 Machtspruch durch den kategorischen Imperativ; das ist trefflich beobachtet, aber schlecht philosophirt!)
Bei Fichte bleibt es aber dubios, was eigentlich in seiner ganz von Kant bestimmten Philosophie intellektuelle Anschauung bedeuten kann. Letztlich bedeutet sie nur die Erkenntnis des Ich und seiner Setzungen, nicht eines an sich wirklichen Ich, sondern eines sich selber setzenden Ich: Die intellectuelle Anschauung kann nur sein die eines faktischen Ich; und umgekehrt die faktische Anschauung kann nur sein ein Verstehen des Ich. Ad 1. Die absolute intellectuelle Anschauung kann nur sein ein Verstehen ihrer selbst, der
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das objektive Urteil kann niemals in diesem Sinne von innen erlebt oder gefühlt und vollzogen werden; es kann nur Objekt oder ‚Medium‘ intentionaler Akte sein, von denen das urteilende Subjekt Bewußtsein hat. Anschauung. Denn wäre sie Verstehen eines Anderen, so wäre sie abhängig von diesem, also nicht absolut. Alles Verstehen aber ist Verstehen eines Etwas, eines Gegebenen. (Denken setzt Anschauung). Darum eben der faktischen Anschauung. Soll darum das Verstehen sich selbst wieder | IX282 verstehen, so muß es sich die Anschauung, sich selbst wieder der Anschauung voraussetzen. Ad 2. Die absolute faktische Anschauung ist ein Bild. Dies aber ist Bild, nur inwiefern es sich als solches versteht. Die absolute Anschauung muß darum sich verstehen, darum sich als Bild schlechthin setzen. Kurz darum nochmals. Im Sein des Bildes liegt es: (wenn wir wissen, was wir reden, und energisch denken)
Die phänomenologischste Stelle Fichtes, in der jenes innere Vollzugsbewußtsein und was Wojtyáa ‘reflective consciousness’, aber vielleicht auch was er ‘reflexive consciousness’ nennt, plastisch als Urgegebenheit beschreibt ist die folgende: I463Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Actes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewusstseyn, dass ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiss, weil ich es thue. Dass es ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung gebe, lässt sich nicht durch Begriffe demonstriren, noch, was es sey, aus Begriffen entwickeln. Jeder muss es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennen lernen. Die Forderung, man solle es ihm durch Raisonnement nachweisen, ist noch um vieles wunderbarer, als die Forderung eines Blindgeborenen seyn würde, dass man ihm, ohne dass er zu sehen brauche, erklären müsse, was die Farben seyen. ...
Und später ebd.: Diese intellectuelle Anschauung ist der einzige feste Standpunct für alle Philosophie. Von ihm aus lässt sich alles, was im Bewusstseyn vorkommt, erklären; aber auch nur von ihm aus. Ohne Selbstbewusstseyn ist überhaupt kein Bewusstseyn; das Selbstbewusstseyn ist aber nur möglich auf die angezeigte Weise: ich bin nur thätig. Von ihm aus kann ich nicht weiter getrieben werden; meine Philosophie wird hier ganz un|abhängig I467 von aller Willkür, und ein Product der eisernen Nothwendigkeit, inwiefern Nothwendigkeit für die freie Vernunft stattfindet; d.h. Product der praktischen Nothwendigkeit. Ich kann von diesem Standpuncte aus nicht weiter gehen, weil ich nicht weiter gehen darf; und so zeigt sich der transscendentale Idealismus zugleich als die einzige pflichtmässige Denkart in der Philosophie, als diejenige Denkart, wo die Speculation und das Sittengesetz sich innigst vereinigen. Ich soll in meinem Denken vom reinen Ich ausgehen, und dasselbe absolut selbstthätig denken, nicht als bestimmt durch die Dinge, sondern als die Dinge bestimmend. Der Begriff des Handelns, der nur durch diese intellectuelle Anschauung des selbstthätigen Ich möglich wird, ist der einzige, der beide Welten, die für uns da sind, vereinigt, die sinnliche und die intelligible. Was meinem Handeln entgegensteht, – etwas entgegensetzen muss ich ihm, denn ich bin endlich – ist die sinnliche, was durch mein Handeln entstehen soll, ist die intelligible Welt.
Johann Gottlieb Fichte, Über das Verhältnis der Logik zur Philosophie und transcendentalen Logik (1812).
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KAPITEL 3
Der Behauptungsakt steht, wenn er seiner eigentlichen Bestimmung nach vollzogen wird, mit der ihm zugrundeliegenden Überzeugung in enger Verbindung und wird von ihr von innen her getragen; das objektive Urteil hingegen steht zu Überzeugungen in einer ganz anderen, viel weniger direkten und äußerlicheren Beziehung. Wenn man ferner nicht mit Reinach annimmt, daß eine Lüge gar kein Behauptungsakt ist, sondern nur ein Schein eines solchen,359 dann wird man anerkennen, daß in dem Falle einer lügenhaften Behauptung der Behauptungsakt sich von der zugrundeliegenden Überzeugung loslösen und ihr widersprechen kann und damit eben zur Lüge wird. Auch dies ist für ein objektives Urteil unmöglich. Es kann nur wahr oder falsch sein, es bewegt sich eben nicht auf der Ebene personaler Akte wie der Behauptungs- und Urteilsakt. In all diesen und vielen anderen Weisen unterscheidet sich der Urteilsakt eindeutig vom Urteil selbst, um dessen Wahrheit es uns jetzt geht. 2.2. Vom Unterschied zwischen Wort und Begriff, Urteil und Satz
Von Begriffen, die Bedeutungseinheiten sind, die weder gesehen noch gehört werden können, müssen wir die gesprochenen oder niedergeschriebenen Worte oder Symbole bzw. die sprachlichen Ausdrücke unterscheiden, die sie ausdrücken. Beide sind eng mit einander verbunden, aber radikal von einander verschieden. Erst recht ist natürlich ein Sachverhalt, etwa daß Don Quijote mit den Windmühlen kämpfte, von einem Satz verschieden. Denn während dieser aus Worten besteht, die ihrerseits aus Silben, Vokalen und Konsonanten gebildet sind und bestimmten Sprachen angehören, wie etwa das Original des Don Quijote Cervantes‘ spanische Version ist, die ganz bestimmte Worte in sich enthält, trifft nichts von alledem auf die im Roman enthaltenen Gedanken (Quasi-Urteile usf.) selbst, die in der deutschen oder französischen Version dieselben sind, und erst recht nicht auf Sachverhalte wie die in dem klassischen Werk beschriebenen zu. Von den aus Begriffen gebildeten Urteilen müssen wir daher die Sätze und die Worte, aus denen Sätze gebildet sind, scharf unterscheiden. In 359
Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, zit.
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Behauptungssätzen werden Urteile ausgedrückt, nicht umgekehrt; es handelt sich hier also um eine klare und einseitige Relation.360 Sätze und Worte können ausgesprochen oder niedergeschrieben, gehört oder gesehen werden; sie können englisch oder deutsch sein oder anderen Sprachen angehören, die Worte, aus denen sie bestehen, weisen als Teile Silben und Buchstaben auf, usf. – alles Eigenschaften, die den Begriffen und Urteilen als solchen niemals zukommen können.361 Diese sind nicht englisch oder deutsch, haben weder Silben noch Buchstaben. Vielmehr lassen sich evidenterweise dieselben Begriffe in Worten verschiedener Mundarten, dieselben Urteile in Sätzen verschiedener Sprachen ausdrücken. Begriffe sind also nicht Teile von sprachlichen Sätzen, sondern jeder Begriff ist eine vom Wort, das ihn ausdrückt, ganz verschiedene Bedeutungseinheit, die in einem Wort nur ausgedrückt wird, keinesfalls aber mit ihm identisch ist. Daher ist es wenigstens undifferenziert, streng genommen aber philosophisch gesehen einfach falsch, Sätze als Träger von Wahrheit und Falschheit anzusehen, es sei denn in einem übertragenen Sinne (weil sie falsche oder wahre Urteile ausdrücken), auch wenn diese Unsitte seit Tarskis semantischer Wahrheitstheorie besonders unter materialistischen und positivistischen Logikern weit verbreitet ist,362 die im übrigen häufig 360
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362
Vgl. Edmund Husserl, „Ausdruck und Bedeutung“, Logische Untersuchungen. Bd I, Bd. II, und II, hrsg.v. U. Panzer, Husserliana, Bd. xix, 1 und Bd. xix, 2, Bd. II, 1, 1. Pfänder unterscheidet scharf zwischen Sätzen, die aus Worten, die wieder aus Elementen wie Silben und Buchstaben (bzw. Silben, Vokalen und Konsonanten, wenn es um gesprochene Sprache geht) bestehen, und Urteilen. Gleichermaßen scharf unterscheidet er, wie Reinach vor ihm, zwischen Urteilen und Sachverhalten, was sich – wie erwähnt – als grundlegend wichtig für den Unterschied zwischen ontischen und logischen Modalitäten und für die Möglichkeiten sachlicher (realer) und logischer (formaler) Supposition erweist. (Pfänder, a.a.O., S. 33-38). Die Tatsache, daß die symbolische Logik den Unterschied zwischen Sätzen und Urteilen nicht macht, ist ein anderes Zeichen dafür, daß es sich bei ihr um eine der Mathematik ähnliche Wissenschaft formaler Zusammenhänge und nicht um einen Teil der Philosophie handelt, während Pfänders Logik im eigentlichen Sinne eine philosophische und phänomenologische Logik ist. Vgl. etwa aus dem in vieler Hinsicht sehr differenzierten Aufsatz “Meaning and Truth” aus der Routledge Encyclopedia of Philosophy, Version 1.1, London and
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KAPITEL 3
versuchen, wie wir im Kapitel über Tarski im zweiten Band eingehender studieren werden, auch die Bedeutung von Sätzen durch deren Wahrheitsbedingungen zu bestimmen, sodaß die Bedeutung eines Satzes nichts anderes wäre als die Bedingungen seiner Wahrheit. Wir werden die Unhaltbarkeit dieser These später erörtern, möchten jedoch hier schon festhalten, daß auch innerhalb der analytischen Philosophie vielfach intelligente Kritik an dieser Auffassung geübt wird. 363 2.3. Vom Unterschied zwischen Begriffen und Sachen – Urteilen und Sachverhalten
Durch die meisten Begriffe werden wieder Sachen gemeint, die von ihnen verschieden sind wie Länder (Liechtenstein), Kühe, Sterne, etc. Und diese Dinge haben offensichtlich ganz andere Prädikate als die Begriffe, die sie meinen. Nicht der Begriff der Kuh lebt, wohl aber das durch ihn angezielte Wesen, nicht der Begriff muht, wohl aber die Kuh. So unterscheidet sich die gemeinte Sache, die nicht in das Urteil eingehen kann, von dem Begriff, der konstitutiver Bestandteil des Urteils ist. Die verschiedenen Begriffe im Urteil sind nicht nur Bedeutungen oder Bedeutungseinheiten; sie sind nicht nur objektive Gedanken, gleichsam New York: Routledge (1999): How are we to ensure that correct meaning-specifications for a sentence’s components entail a correct specification for the sentence itself? Here it is customary to appeal to what is often called a ‘truth theory’ for a language. For it is precisely by employing such a theory that statements of truth-conditions of sentences of a language can be deduced from statements about the semantic properties of their components. 363
Vgl. z.B. die folgende Stelle aus “Meaning and Truth”, Routledge Encyclopedia of Philosophy, Version 1.1, London and New York: Routledge (1999): The core suggestion is that the meaning of a declarative sentence may e given by specifying certain conditions under which it is true. Thus the declarative sentence ‘Venus is red’ is true just in case the condition that Venus is red obtains; and this is exactly what the sentence means. As it stands, however, this suggestion provides us with no explanation of the meanings of the words and phrases that make up sentences, since in general they are not expressions that have truth-conditions. (There are no conditions under which the word ‘Venus’ is true.) Furthermore, it needs to be supplemented by some method of circumscribing the truthconditions that embody the meanings of declarative sentences, since there are many conditions under which any given sentence is true: ‘Venus is red’ is true not merely when Venus is red, but also, for example, when Venus is red and 7 + 5 = 12; but it does not mean that Venus is red and 7 + 5 = 12.
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Produkte und Medien von Denkakten, die ihre eigenen Merkmale haben, wie daß sie nicht individuell oder bewußt vollzogen wie Akte, sondern diesen zugeordnet sind.364 Sie sind nicht nur sehr verschiedene Arten von Bedeutungen, wie Gegenstandsbegriffe (Hauptbegriffe),365 rein funktionierende Begriffe, Tätigkeitsbegriffe, etc. Sie haben vielmehr auch innerhalb des Urteils je verschiedene Funktionen, worauf wir bereits hingewiesen haben. So wird durch den Subjektbegriff etwas gemeint, auf das sich dann das Urteil, die urteilende Setzung, bezieht. Durch den Subjektbegriff wird nicht nur etwas gemeint, ein Gegenstand, etwa die Kuh, sondern das Subjekt wird als das gemeint, was dem Urteil unterliegt, es wird also gewissermaßen in einer bestimmten Weise meinend angezielt, nämlich eben als das Subjekt, über das dann das Urteil gefällt wird. Das Prädikat hingegen meint eine Bestimmtheit, etwa das Scheinen der Sonne, das Muhen der Kuh oder das „nicht der größte Staat der Erde Sein“ Liechtensteins. Das letztere Prädikat ist eine komplexe und negative Bestimmtheit. Der Prädikatbegriff meint ferner nicht nur eine Bestimmtheit, sondern er hat eine besondere Funktion. Er meint die entsprechende Bestimmtheit als das, was im Urteil dem Subjekt zugewiesen wird. Das Prädikat des Urteils meint also eine Bestimmtheit – und meint sie zugleich in einer bestimmten Weise, eben als Prädikat.366 Das Urteil als ganzes behauptet etwas, es hat einen Gegenstand, über den es etwas aussagt. Genauer besehen eignet sich nicht jede Sache dazu, unmittelbarer Gegenstand eines Urteils zu sein. Es kann dieser Gegenstand des Urteils nicht irgendein Ding sein und auch nicht eine Qualität: die Rose, dieser Mensch etc. können nicht unmittelbar Gegenstand des Urteils sein, sondern nur ein besonderes komplexes Etwas: daß etwas ist oder nicht ist, daß es so und nicht anders ist. Die Phänomenologen haben ein
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Zum Problem der Unreduzierbarkeit von Begriffen und Urteilen auf Produkte von Denkakten und ihrer idealen Existenz vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, a.a.O., Prolegomena und II,1; und unten, Kap. 13. Vgl. auch Josef Seifert, “Is the Existence of Truth dependent upon Man?” in Review of Metaphysics 35 1982), S. 461-481. Vgl. Pfänder, Logik, a.a.O., 163-170. Vgl. Pfänder, ebd., S. 178 f.
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solches a-Sein oder nicht-a-Sein eines B als Sachverhalt bezeichnet.367 Das Mittelalter sprach von Seinsdispositionen oder sachlichen Dispositionen, von einer ‘dispositio rei’.368 Und damit meinten wohl Thomas und andere mittelalterliche Philosophen, wenn auch nicht in klarer Weise, eben dieses selbe eigentümliche Gebilde, den Sachverhalt, der auch Gegenstand von Akten des Behauptens (Urteilens), Denkens, Fragens, Hoffens und Wünschens sein kann. Sachverhalte aber sind auch Gegenstand des objektiven Urteils und können ebenfalls Gegenstand anderer objektiver Gedanken von Fragen, Befehlen, Wünschen, Quasi-Urteilen und vielen anderen Gedanken sein. Auch dies beweist, daß der Sachverhalt sich ganz vom Urteil unterscheidet. Während in dieses notwendig Begriffe als Bestandteile eingehen, gehen Begriffe nur manchmal und dann in verschiedener Weise in Sachverhalte ein. Während das Urteil etwas behauptet, behauptet der Sachverhalt nichts; während in den Sachverhalt reale Dinge wie Kühe oder die Sonne eingehen und Bestandteile des Sachverhalts sind, können weder Kühe noch Sonnen Bestandteile eines Urteils sein. Wegen der zentralen Bedeutung des Verständnisses des Sachverhalts für ein Verständnis des Urteils und seiner Wahrheit wenden wir uns nun seiner Erforschung zu. 3. Sachverhalt und Urteil 3.1. Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
Zunächst ein Wort zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs: Die Unterscheidung zwischen Sachverhalten und einfacheren Gegebenheiten wie 367
368
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140; Alexander Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Alexander, Logik, zit., in: Logik (Tübingen: Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963); Seifert, Josef und Smith, Barry: “Truth about Fiction”, in: Kunst und Ontologie. Roman Ingarden zum 100. Geburtstag (Amsterdam/Atlanta: Editions Rodopi, 1994); Barry Smith, “On the Cognition of States of Affairs”, in: K. Mulligan (Ed.), Speech Act and Sachverhalt, S. 189-225; ders., “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69. Vgl. dazu Irmingard Habbel, Der Sachverhaltsbegriff bei Thomas von Aquin und in der Phänomenologie. Vgl. auch Barry Smith, “On the Cognition of States of Affairs”, S. 189-225.
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Dingen, Gegenständen und deren Eigenschaften hat, wenn auch in rudimentärer und unklarer Form, seit alten Zeiten existiert. Die griechische und insbesondere die mittelalterliche Philosophie hat auf das Phänomen des Sachverhalts häufig mit unbeholfenen Ausdrücken wie dem Verbundensein oder dem Getrenntsein von Elementen oder Relationen hingewiesen.369 Ein Urteil wird dann als wahr bezeichnet, wenn in ihm das, was in Wirklichkeit verbunden ist, verbunden wird, oder wenn das, was in Wirklichkeit getrennt ist, auch im Urteil getrennt wird, falsch im umgekehrten Fall, also wenn das, was in Wirklichkeit vereint ist, getrennt wird, oder was in Wirklichkeit getrennt wird, vereint. In anderen Texten wird das wahre Urteil so bestimmt, daß es aussagt, daß das ist, was wirklich ist, und daß das nicht ist, was tatsächlich ein Nichtseiendes ist, wobei kein ausdrücklicher Unterschied zwischen Sachen und Sachverhalten gemacht, aber auch nicht ausgeschlossen wird, so in dem klassischen Text, auf den die Adäquationstheorie der Wahrheit zurückgeht in Platons Sophistes: FREMDER: Ich will dir also eine Rede vortragen, indem ich eine Sache mit einer Handlung durch Hauptwort und Zeitwort verbinde, wovon aber die Rede ist, sollst du mir sagen. S263a THEAITETOS: Das soll geschehen nach Vermögen. FREMDER: Theaitetos sitzt. Das ist doch nicht eine lange Rede. THEAITETOS: Nein, sondern sehr mäßig. FREMDER: Deine Sache ist also nun zu erklären, wovon sie ist, und was sie beschreibt? THEAITETOS: Offenbar von mir und mich. FREMDER: Wie aber diese wiederum? THEAITETOS: Was für eine? FREMDER: Der Theaitetos, mit dem ich jetzt rede, fliegt. THEAITETOS: Auch von dieser würde wohl niemand etwas anderes sagen, 369
Reinach unterscheidet zwei Bedeutungen von ‚Relation‘: „Der Terminus Relation ist keineswegs eindeutig. Sowohl das links und rechts, oben und unten usw. wird so genannt als auch das links-sein, das oben- und unten-sein usw. Beides aber ist grundverschieden. Nur das zweite ist ein – allerdings ergänzungsbedürftiger – Sachverhalt.“ Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, zit., [91-92], S. 121. Die Relation zwischen ‚links‘ und ‚rechts‘ und dem, was zwischen ihnen ist, Ähnlichkeit usf., unterscheidet er also vom Links-sein oder Ähnlichsein, die auch Reinach als (ergänzungsbedürftige) Sachverhalte betrachtet.
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KAPITEL 3 als sie rede von mir und über mich. FREMDER: Und irgendeine Beschaffenheit, sagen wir, habe notwendig jede Rede? S263b THEAITETOS: Ja. FREMDER: Wie wollen wir also sagen, daß jede von diesen beschaffen sei? THEAITETOS: Die eine doch falsch, die andere wahr. FREMDER: Und die wahre sagt doch das Wirkliche von dir, daß es ist? THEAITETOS: Ja. FREMDER: Und die falsche von dem Wirklichen verschiedenes? THEAITETOS: //III287// Ja. FREMDER: Also das Nichtwirkliche oder Nichtseiende sagt sie aus als seiend. THEAITETOS: Beinahe. FREMDER: Nämlich Seiendes, nur verschieden von dem Seienden in bezug auf dich. Denn in bezug auf jedes sagten wir doch, gebe es viel Seiendes und viel Nichtseiendes. THEAITETOS: Offenbar freilich.370
Das von uns als wirklich bestehender Sachverhalt bezeichnete Phänomen, das dabei sprachlich nicht klar vom wahren Urteil abgegrenzt wird, wird also manchmal als „das Seiende, daß es ist“ und als „das Nichtseiende, daß es nicht ist“ gemeint, ohne es klar von Dingen und ihren Eigenschaften abzugrenzen.371 370 371
Platon, Sophistes, 262 e-263 b. In anderen antiken und mittelalterlichen Texten wird mit verschiedenen Ausdrücken, z.B. dem sehr vieldeutigen Terminus “dispositio rei”, auf den Sachverhalt hingewiesen, dieser spielt jedoch eine geringe Rolle und im Kontext der Rede von der dispositio rei wird der Sachverhalt auch so wenig klar von anderen Phänomenen wie Relationen, Dispositionen, Zuordnungen oder Anordnungen unterschieden, daß man in der mittelalterlichen Philosophie nicht von einer philosophischen prise de conscience des Sachverhalts sprechen kann. Der stärkste Belegtext für die Interpretation des Ausdrucks dispositio rei als Sachverhalt ist wohl Thomas von Aquins Satz: “Unde manifestum est, quod dispositio rei est causa veritatis in opinione et oratione.” Thomas von Aquin, In Libros Metaphysicorum Liber 9, lectio 11, Nr. 3. Trotz solcher Texte läßt sich die von Irmingard Habbel (in ihrem Buch Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei Thomas von Aquin in differenzierter und ausgewogener Weise nahegelegte These, daß Thomas von Aquin den Ausdruck ‚dispositio rei’ ähnlich wie einen Sachverhalt verstanden habe, schwer belegen. In verschiedenen Texten, u.a. in
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Die in wachsendem Maß ausdrückliche und volle Entdeckung der formal-ontischen Grundstruktur des Sachverhalts und seiner grundlegenden Bedeutung für die logische Urteils- und Wahrheitslehre verdanken wir aber erst den Phänomenologen und Grazer Gegenstandstheoretikern, auch wenn an deren Ausarbeitung des Sachverhaltsbegriffs mancherlei zu kritisieren ist.372 Es war eigentlich erst Edmund Husserl, den man als den eigentlichen Entdecker des Sachverhaltsphänomens betrachten muß. Bei Adolf Reinach erfährt die Bestimmung des Wesens des Sachverhalts eine weitere bedeutungsvolle Klärung. Alexander Pfänder, Hedwig Conrad-Martius, Dietrich Quaestiones disputatae de veritate, bezieht sich Thomas von Aquin auf Aristoteles’ Satz, daß sich die Dinge ebenso zum Sein verhalten wie zur Wahrheit und sagt etwa in Antwort auf den Einwand: dispositio rei in esse est sicut sua dispositio in veritate. Ergo verum et ens sunt omnino idem....
Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, in: Opera omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), vol. III, S. 1-186, Q. 2, a. 9, RA 1: Cum autem veritas constet in adaequatione intellectus et rei, si consideretur veritas secundum rationem aequalitatis, quae non recipit magis et minus, sic non contingit esse aliquid magis et minus verum; sed si consideretur ipsum esse rei, quod est ratio veritatis, sicut dicitur in II metaphys., eadem est dispositio rerum in esse et veritate: unde quae sunt magis entia, sunt magis vera; et propter hoc etiam in scientiis demonstrativis magis creduntur principia quam conclusiones.
372
Thomas von Aquin, ebd., ad primum. Doch hier bedeutet dispositio rei sicher nicht Sachverhalt, an anderen Stellen versteht der Aquinate darunter eine Anordnung, ähnlich wie wir heute Disposition verstehen. In wieder anderen Texten muß der Terminus wohl so etwas wie Zuordnung und Hinordung eines Seienden auf sein Ziel verstanden werden. Carl Stumpf verwendete den Ausdruck schon 1888 in ähnlichem Sinn, und Stumpfs eigener Aussage zufolge habe Franz Brentano schon drei Jahrzehnte vorher auf Sachverhalte hingewiesen. Alexius Meinong (der sie als „Objektive“ den „Objekten“ gegenüberstellte) wies noch ausdrücklicher auf Sachverhalte hin und kann in gewisser Weise (eher als Marty, bei dem der Ausdruck eine andere Bedeutung annimmt), als ihr Entdecker gelten, auch wenn er noch nicht scharf zwischen ‚Objektiv’ als Sachverhalt und als Urteil unterschied. Vgl. zu dieser Kritik und einer kurzen Geschichte des Sachverhaltsbegriffs auch Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140, S. 114, Anm. 1.
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von Hildebrand, Roman Ingarden und andere Phänomenologen können nach gewissen modernen Ahnen (wie Bernard Bolzano373) in die Gruppe der Denker eingereiht werden, die originelle Beiträge zur schärferen Erkenntnis des ganz unreduzierbaren und elementaren Datums der Sachverhalte gemacht haben.374 So haben auch nach Husserl manche Phänomenologen, deren Ziel eine treue Rückkehr zum selbst-Gegebenen war – insbesondere Adolf Reinach – Wesen und Bedeutsamkeit des Phänomens des Sachverhaltes mit neuer Klarheit analysiert. In jüngster Zeit wurde dieser Unterscheidung neue Aufmerksamkeit geschenkt durch Barry Smith, Kevin Mulligan, Mariano Crespo, der insbesondere herausgearbeitet hat, daß Reinachs Philosophie der Sachverhalte (in seiner Ontologie und Gegenstandslehre) die Sachverhalte deutlicher in ihrer ontischen Eigenständigkeit herausgearbeitet hat als Husserl, bei dem speziell in der 6. Logischen Untersuchung die Unterschiede zwischen Urteil und Sachverhalt, sowie zwischen Ontologie der Sachverhalte und Logik, nicht so klar entwickelt sind.375 Auch andere Mitglieder der phänomenologischen Bewegung haben sich der Erforschung des Sachverhaltsproblems angenommen.376 373
374
375
376
Vgl. Bernard Bolzano, Grundlegung der Logik (Wissenschaftslehre I/II). Phil. Bibl. Bd. 259 (Hamburg: F. Meiner, 1963). Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, zit., Band I, II; Alexander Pfänder, Logik (Tübingen: Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963); Das Sein (München: Kösel, 1957); Dietrich von Hildebrand, Der Sinn philosophischen Fragens und Erkennens; ders. Was ist Philosophie?; Roman Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt; Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140. Vgl. Barry Smith, “On the Cognition of States of Affairs”, in: Kevin Mulligan (Ed.), Speech Act and Sachverhalt, S. 189-225; Mariano Crespo, “En torno a los estados de cosas. Una investigación ontológico-formal,” Anuario Filosófico, XXVIII/1 (1995), 143-156; and by the same author, Para una ontología de los estados de cosas esencialmente necesarios. Tesis doctoral. Departamento de Metafísica y Teoría del Conocimiento. Universidad Complutense, Madrid 1995. Zu den mittelalterlichen Vorbildern des Sachverhaltsbegriffs vgl. Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei Thomas von Aquin. Vgl. zur neueren Sachverhaltsdiskussion auch etwa Kevin Mulligan (Hg.), Speech-Act and Sachverhalt: Reinach and The Foundations of Realist Phenomenology. Vgl. auch James M. DuBois, The Philosophy of Adolf Reinach (Boston: Kluwer,
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Wie aus den folgenden Überlegungen deutlich werden wird, meinen wir, daß selbst in den meisterhaften Analysen des Sachverhaltsphänomens bei Adolf Reinach einige Unklarheiten und Lücken bestehen, zu deren Überwindung wir einen Beitrag zu leisten hoffen. Adolf Reinach hat überzeugend gezeigt, daß es neben Sachen und ihren Eigenschaften auch Sachverhalte gibt, welche die eigentümliche ontische Form des „a-Seins eines B“ besitzen. Er hat gleichfalls gezeigt, daß diese ontische Struktur der Sachverhalte sowohl positive als auch negative Sachverhalte unter sich begreift. „Daß X y ist“, steht neben dem entsprechenden negativen Sachverhalt, „daß X nicht y ist“. Er hat ferner die Originalität und Nichtzurückführbarkeit der negativen Sachverhalte auf positive Sachverhalte überzeugend aufgewiesen.377 Reinach nennt auch eine ganze Reihe von Wesensmerkmalen oder Charakteristiken von Sachverhalten, durch die deren Eigenart deutlicher in Erscheinung tritt. Diese Merkmale könnte man um einige ergänzen, in manchen anderen Punkten kritisieren, eine Kritik, die wir in die folgende systematische Exposition der Natur des Sachverhalts einbauen werden. Wenden wir uns zunächst einer kurzen Analyse der Sachverhalte und ihrer Charakteristiken zu, um dann im einzelnen auf die wichtigsten der im folgenden genannten Merkmale von Sachverhalten einzugehen. 3.2. Was also ist ein Sachverhalt? Innere Wesensmerkmale von Sachverhalten
3.2.1. Eine einfache oder nur eine disjunktive Kurzformel für die formalontologische Seinsform des Sachverhalts?
Unter einem Sachverhalt verstehen wir eine eigenartige ontische Struktur, die sich von Dingen und deren Prädikaten und Attributen sowie deren immanenten Seinsprinzipien (Gegenständen im weitesten Sinn) klar unterscheidet. Wir könnten diese Seinsform auch als eine formal-ontische Struktur bezeichnen, da dabei vom Inhalt (von der Materie) des Sachverhalts ganz abgesehen wird und nur die allgemeinste Seinsform bestimmt werden soll, die man im Unterschied etwa zu Dingen als Sachverhalt 377
1994). Vgl. auch mein Sein und Wesen, zit., Kap. 2. Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140.
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bezeichnen kann. Diese formalontische Struktur kann präzise als „das aSein eines B“ (Form des positiven Sachverhalts) oder „das nicht-a-Seineines-B“ (Form des negativen Sachverhalts) bezeichnet werden, obwohl auch diese Formel noch nach größerer Präzision verlangt. Es fällt zuvörderst auf, daß es sich dabei eigentlich nicht um eine einzige Kurzform oder Formel der Sachverhaltsstruktur handelt, sondern um zwei: nämlich um eine für den positiven und eine andere für den negativen Sachverhalt. Eine einzige Formel für diese originäre, nicht ableitbare ontische Struktur des Sachverhalts zu finden, die der Tatsache Rechnung trüge, daß Sachverhalte sowohl positiv als auch negativ sein können, ist schwer zu finden. Wenn man „das a-Sein eines B“ als die ursprüngliche formalontische Grundstruktur des Sachverhalts als solchen nimmt, muß man das „a-Sein“ so deuten, daß es – im Kontext der zitierten Formel – nur die allgemeine Sachverhaltsform meint und offenläßt, ob es sich beim „a-Sein“ um ein „positives a-Sein“ oder um ein „Nicht-a-Sein“ eines B handelt. Dann würde man ähnlich verfahren, wie die klassische Logik, wenn sie die Urteilsform als solche als „S ist P“ faßt, wobei klar ist, daß es sich beim Urteil (also bei dieser formal-logischen Form „S ist P“) auch um ein „S ist nicht P“ handeln kann. Da aber dieselbe Formel „S ist P“ in ganz anderer Bedeutung auch das positive im Unterschied zum negativen Urteil ausdrücken kann, erweist sie sich als ungeeignet, um das gemeinte Phänomen des Urteils als solches in klarer und unzweideutiger Weise abzugrenzen. Mindestens ebenso irreführend erscheint uns aus ganz ähnlichen Gründen der Versuch, auch das Wesen des negativen Sachverhalts „B ist nicht a“ mit der Formel des „a-Seins eines B“ bezeichnen zu wollen, die gerade nur die allgemeine Struktur positiver Sachverhalte prägnant zu bezeichnen scheint. Daher ziehen wir zur Kennzeichnung der allgemeinsten einzigartigen ontischen Struktur des Sachverhalts die disjunktive Formel vor: „das aSein oder das nicht-a-Sein eines B“. Auch diese Formel für die allgemeine ontische Struktur des Sachverhalts kann als solche weder den positiven noch den negativen Sachverhalt korrekt definieren, sondern bedarf noch zusätzlicher Klärungen. Denn z.B. könnte mit dem „Gelbsein eines Baumes“ nicht das Phänomen des Sachverhalts gemeint sein, daß der Baum gelb ist, sondern vielmehr das
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Sein des Gelb, das sich an einem Baum findet oder das tatsächliche Anhaften des Prädikates gelb an den Blättern des Baumes. Ein solches Inhärieren der Farbe in einem Baum ist jedoch zweifellos ebensowenig wie das Dasein des Gelb ein Sachverhalt, wie wir noch sehen werden, wenn wir unten Relationen und Existenz von Sachverhalten abgrenzen werden. Auch kann „das Gelbsein eines Baumes“ den Urteilsinhalt meinen oder sogar den Satz anzeigen, die beide klar vom Sachverhalt verschieden sind. Denn der Sachverhalt urteilt nichts, besteht nicht aus Begriffen, kann nicht wahr oder falsch sein, wie das Urteil; der Satz besteht aus Wörtern, gehört einer bestimmten Sprache an und ist noch weniger mit dem Sachverhalt zu verwechseln. Sachverhalte unterscheiden sich in vielen anderen Hinsichten von Sachen und Gegenständen. Geben wir einige der wichtigsten an: 3.2.2. Sachverhalte enthalten Gegenstände und Attribute, bestehen aber nicht aus diesen. Die „Transzendenz“ des Sachverhalts gegenüber dem Ding und dessen Prädikaten.
Sachverhalte können Sachen und Attribute, Begriffe oder Urteile enthalten, sie bestehen aber niemals aus diesen. Sachverhalte sind vielmehr niemals Dinge, Prädikate oder Teile von Dingen, noch sind sie aus diesen zusammengesetzt, als wären sie ein aus diesen bestehendes Konglomerat, sondern sie sind diesen immer in sehr präzisem Sinn transzendent. Zunächst: Nicht ein Mensch, eine Person überhaupt, oder ein Tier kann ein Sachverhalt sein, sondern nur daß diese Seienden existieren oder nicht existieren, so oder anders sind. Nicht mein Wollen kann ein Sachverhalt sein, sondern nur „daß ich etwas will“, usf. Auch ist der Sachverhalt nicht eine Totalität solcher Elemente wie Kühe, braun, Wiese, weiden, sondern eine eigentümlich präzise Struktur wie das Weiden brauner Kühe auf einer Wiese. Sachverhalte bestehen eindeutig nicht aus Dingen, so als wären sie Komplexe oder Sammlungen von solchen. Sie enthalten sie vielmehr in einer anderen, eigentümlichen Weise. Auch Sachverhalte, die sich auf Begriffe beziehen, etwa der Sachverhalt, daß sich in einem Urteil mindestens drei Begriffe finden, beziehen sich zwar auf Begriffe, bestehen aber keineswegs aus ihnen wie das Urteil
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selbst. Vielmehr enthält dieser Sachverhalt Begriffe in ganz anderer Weise, als daß er aus ihnen gebildet wäre oder bestünde, wie das Urteil. Er bezieht sich auf die Begriffe, indem er in Bezug auf sie, aber nicht aus ihnen besteht. All dies zeigt die eigentümliche Transzendenz des Sachverhalts gegenüber dem Ding und allen seinen Prädikaten. Der Sachverhalt besteht zwar in Bezug auf alle Dinge und enthält sie in gewissem Sinne; sie gehen in ihn ein und sind gleichsam Teile des Sachverhalts, obschon dieser nicht ein Ganzes ist, das aus Dingen wie aus Teilen besteht, sondern er besteht viel eher in Bezug auf Dinge und ihre Prädikate. Schon aus diesem Grunde kann Existenz kein Sachverhalt sein, weil sie – gerade im Gegensatz zu diesem Wesensmerkmal des Sachverhalts – ein dem Dinge zuinnerst eigenes und voll immanentes Attribut oder Prinzip ist, ihr actus essendi.378 Besonders deutlich ergibt sich diese ‚Transzendenz‘ des Sachverhalts hinsichtlich der in ihn eingehenden Dinge in dem erwähnten Fall jener logischen Sachverhalte, die sich auf Begriffe und komplexe Gebilde, die aus Begriffen bestehen, wie Urteile, beziehen. Hier ist es klar, daß diese rein logischen Sachverhalte zwar etwa hinsichtlich der Zahl, Funktion und Art von Begriffen im Urteil, in der Frage, im Schluß usf. bestehen, keineswegs aber aus Begriffen bestehen und daß diese Begriffe in radikal anderer Weise in die logischen Sachverhalte ‚eingehen‘ als z.B. ins Urteil. 3.2.3. Sachverhalte bestehen weder aus Begriffen noch aus Worten
Besonders Anhänger der analytischen Philosophie könnten versucht sein, den Sachverhalt für einen Satz oder für ein Urteil zu halten. Doch leuchtet es sofort ein, daß ein solcher Reduktionismus unhaltbar ist. Denn Sachverhalte bestehen nicht wesenhaft aus Begriffen wie das Urteil, sondern in sie gehen vielmehr nur möglicherweise (im Falle logischer Sachverhalte in bezug auf Begriffe) Urteile oder Begriffe ein; normalerweise gehen nicht Begriffe, aus denen das Urteil immer und wesenhaft besteht und gebildet ist, sondern vielmehr reale Gegenstände und deren Attribute in Sachverhalte ein, wie das Weißsein eines Schafes die weiße 378
Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, zit., Kap. 2.
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Farbe und ein Schaf in sich befaßt. 3.2.4. Sachverhalte behaupten nichts und können nicht wahr oder falsch sein. Daher unterscheiden sie sich wesenhaft von Urteilen und Sätzen
Der Unterschied zwischen Sachverhalt und Urteil geht aus einer weiteren Tatsache hervor: Sachverhalte meinen nichts von ihnen Verschiedenes wie das Urteil. Auch bestehen Sachverhalte überall in der Welt ganz unabhängig davon, ob sie in einem Urteil behauptet werden oder nicht. Sie sind zwar einzig möglicher Gegenstand des Urteils, unterscheiden sich aber gerade dadurch von diesem, daß sie Gegenstände von Urteilen sind, aber selber keine Gegenstände haben oder Sachverhalte außerhalb ihrer selbst meinen. Da sie nichts meinen oder behaupten, können Sachverhalte auch nicht Urteile sein. 3.2.5.
Der Unterschied zwischen Urteilen und Sachverhalten ergibt sich auch aus deren weiterem Merkmal, unabhängig von Urteilen bestehen und gleichgut Gegenstand anderer Gedanken- und Aktarten sein zu können
Außerdem ergibt sich diese Verschiedenheit auch aus folgendem Umstand. Sachverhalte bestehen unabhängig von der Frage, ob sie Gegenstand von Urteilen sind oder nicht. Die von Menschen gedachten oder gefällten Urteile decken ja nur einen winzigen Bruchteil der auf allen Gebieten bestehenden Sachverhalte. Ferner können Sachverhalte ja nicht nur unabhängig vom Urteil bestehen und doch auch Gegenstand von Urteilen werden, sondern sie können gleich gut auch Gegenstände von Fragen und anderen Gedanken sein, woraus die Verschiedenheit zwischen Urteil und Sachverhalt noch leichter einleuchtet, da ja niemand denselben Sachverhalt mit dem Urteil, das ihn behauptet und zugleich mit der Frage, die nach seinem Bestehen fragt, oder dem Wunsch, der sich auf ihn richtet, identifizieren wird. Sonst wäre derselbe Sachverhalt ja Urteil, Wunsch, Frage, Zweifel, Verneinung usf. zugleich, die sich alle auf ihn beziehen können.
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3.2.6. Sachverhalte zerfallen ebenso notwendig in positive und negative wie kategorische Urteile zwangsläufig positive oder negative Qualität haben
Auf einen wichtigen Unterschied von Sachverhalten zu Sachen und Prädikaten sind wir bereits gestoßen: daß es nämlich positive und negative Sachverhalte gibt. Es kann sein, daß etwas ist oder nicht ist, so ist oder nicht so ist. Die negativen Sachverhalte wurden m. E. so vollkommen von Reinach analysiert und gegenüber möglichen Mißverständnissen herausgearbeitet, daß sich hier eine neue Analyse dieses Unterschieds erübrigt. Mit der von Adolf Reinach erreichten Klarheit über die ausführlich von ihm erörterte Unterscheidung zwischen positiven und negativen Sachverhalten erkennen wir einen weiteren Unterschied zu Relationen. Es gibt nicht positive und negative blühende Rosen und auch nicht positive und negative Relationen der Vaterschaft, sondern nur deren Nichtexistenz, während es zu jedem positiven Sachverhalt den korrespondierenden negativen gibt. Und darin unterscheiden sich Sachverhalte und Relationen. Es sei nur darauf hingewiesen, daß der negative Sachverhalt völlig vom negativen Urteil verschieden ist. Während dieses nämlich immer aus Begriffen besteht, bestehen Sachverhalte gewöhnlich keineswegs aus Begriffen, ja streng genommen bestehen sie niemals aus Begriffen, sondern Begriffe können höchstens im Falle logischer Sachverhalte in den Sachverhalt als konstitutive Momente eigener Art eingehen, ohne daß dabei die Sachverhalte selber je aus Begriffen bestünden. Auch die rein logischen Sachverhalte bestehen nicht aus Begriffen, sondern die Sachverhalte beziehen sich vielmehr nur auf diese. Normalerweise kommen in ihnen Begriffe überhaupt nicht vor, wodurch sie sich eindeutig von den negativen Urteilen unterscheiden, in denen nicht nur notwendig Begriffe vorkommen, sondern die im strikten Sinne aus diesen bestehen und aufgebaut sind. 3.2.7. Alle Dinge, deren Attribute, sowie alle Sachverhalte begründen neue Sachverhalte bzw. sind in Sachverhalte niedrigerer oder höherer Ordnung eingebunden: Nichts ist jenseits von Sachverhalten
Trotz den zahlreichen Verschiedenheiten zwischen Sachen und Sachverhalten gibt es kein Ding und keine Eigenschaft eines Dinges oder einer
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Person, ja auch keinen Begriff, kein Urteil, keinen Schluß und keinen Sachverhalt, die nicht wieder weiteren Sachverhalten zugrunde liegen würden, ja auch alle diese weiteren Sachverhalte begründen notwendig wiederum neue Sachverhalte. So wurzelt etwa in jedem Sachverhalt ‚X ist y’ der Sachverhalt, daß der Sachverhalt ‚X ist y‘ besteht, usf. Es kann kein Ding, keine Eigenschaft eines Dinges, kein Wesen, kein Wassein, Sosein oder Wiesein, keine Relation und keinen Sachverhalt geben, die nicht selber wieder als Glieder oder Elemente in Sachverhalte eingingen und Sachverhalte begründeten. Ja man könnte das, was Augustinus in den Soliloquia von der Wahrheit sagt, nämlich daß selbst, wenn die ganze Welt unterginge und es nichts mehr gäbe, es immer noch wahr bliebe, daß es nichts gäbe, weshalb die Wahrheit niemals untergehen kann,379 auch und vor allem auf die Sachverhalte anwenden und sagen: Selbst wenn es nichts gäbe (was aus noch viel tieferen Gründen des notwendig Seienden unmöglich ist), bestünde immer noch der Sachverhalt, daß es nichts gibt und allein schon deshalb ist es in sich unmöglich, daß es überhaupt nichts gibt, da es zumindest notwendig Sachverhalte geben muß. Dies gilt keineswegs von Dingen und deren Eigenschaften, und auch nicht von realer Existenz, daß sie immer von anderen Dingen oder Sachverhalten weiter und weiter begründet würden. 3.2.8. Die notwendige Unendlichkeit der Anzahl von Sachverhalten
Daher gibt es notwendig unendlich viele Sachverhalte, ja – wie dies Augustinus als Gegenstand des unbezweifelbaren Erkennens nachwies – es gibt sogar unendlich viele Sachverhalte, die aus jedem einzigen evident gewußten Sachverhalt hervorgehen: „Wenn ich weiß, daß es wahr ist, daß ich bin“ (oder daß es so ist, daß ich bin) weiß ich auch, daß es wahr ist, daß es wahr ist, daß ich bin bzw. daß dies der Fall ist, d.h. daß es so ist, daß ich bin, usf. ad infinitum. Oder wenn ich nicht irren will, ist es auch wahr, daß es wahr ist, daß ich nicht irren will, usf. ad infinitum:380 379
380
Vgl. Augustinus, Soliloquia [[CSEL 89 S. 83/15] Corpus Augustinianum Gissense a C. Mayer editum] Augustinus, De Trinitate, XV, XII, 21. Vgl. auch [[CCL 50A, S. 493/85] Corpus Augustinianum Gissense a C. Mayer editum]. Die absolut gewissen, unmittelbaren
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Aber dies ist nur die formalste Unendlichkeit der Sachverhalte, wie sie auch aus der Unendlichkeit der natürlichen Zahlenreihe, der möglichen Brüche, der Stellen irrationaler Zahlen usf. in tausenderlei Richtungen folgt. Diese Konsequenz aus der Annahme von Sachverhalten – ihre unendliche Anzahl – und die gefürchteten Antinomien des Unendlichen haben manche Autoren (wie Roman Ingarden und noch dezidierter Barry Smith) bewogen zu behaupten, daß nur das fundamentum in re von Sachverhalten, wenigstens von negativen Sachverhalten, wie Ingarden einschränkt, nämlich Dinge und deren Eigenschaften, wirklich bestünden bzw. existierten. Sachverhalte selber hingegen, zumindest negative Sachverhalte, wenn sie auch das sind, was das Urteil wahr macht (truthmakers), und gemäß den Vorgegebenheiten der Existenz und Eigenschaften der Dinge, die allein unabhängig vom Denken und Urteilen bestünden, geformt werden sollten, würden nach dieser Auffassung erst durch das Denken als solche geschaffen oder produziert. Diese von Ingarden, Peter Simon, Barry Smith und anderen in verschiedener Form und Radikalität verteidigte These, an der zweifellos richtig ist, daß nicht jeder negative Sachverhalt, wie daß ich nicht ein Wolke bin, gleich fest und sinnvoll im Sein verankert ist wie etwa daß ich ein Mensch bin, läßt sich jedoch unmöglich als ein Gegenargument gegen die Einsicht geltend machen, daß es unendlich viele Sachverhalte gibt und geben muß. Das wird insbesondere evident, wenn man die Auflösbarkeit der behaupteten Antinomien zeigen kann, deren vermeintlich unausweichliches Auftreten das Hauptargument gegen die Unendlichkeit dieser Sachverhalte darstellt,381 und dann auch – ohne in unüberwindliche Widersprüche zu fallen
381
und durch Sinne nicht vermittelten Erkenntnisse, sowie die wahren Urteile und die diesen entsprechenden Sachverhalte aber umfassen aber keineswegs nur eine solche formal-unendliche Anzahl, sondern auf allen Gebieten, seien es Raum, Zeit, Körper, Bewegung, Farbverhältnisse, seien es sittliche Werte und Gegebenheiten, seien es logische Prinzipien und metaphysische Wirklichkeiten, die Person und ihre verschiedenen Akte oder die Kontingenz aller uns bekannten Dinge, seien es ästhetische Gegebenheiten, sei es die Gemeinschaft, das Recht und seine Bereiche, der Staat usw. – überall finden wir unzählige material verschiedene notwendige Wesenheiten und die Sachverhalte, die in ihnen gründen. Vgl. Josef Seifert, „Das Antinomienproblem als ein Grundproblem aller
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– die dem Mathematiker angesichts der natürlichen Zahlenreihe, der Anzahl der Primzahlen, Punkte usf. ganz geläufige Unendlichkeit382 anerkennt. Auch zeigt es sich vom Wesen der Wahrheit her als notwendig, daß nicht nur eine unbestimmte ‘res’ als vages ontisches Fundament von Sachverhalten, sondern genau diejenigen Sachverhalte selbst, die in wahren Urteilen behauptet werden, in einer dem Urteil gegenüber autonomen Weise bestehen müssen.383 3.2.9. Die Daseinsform von Sachverhalten: Sachverhalte bestehen und existieren nicht
Husserl, Reinach und schon Alexius Meinong haben betont,384 daß man von Sachverhalten nicht sagen könne, sie „existierten“ oder sie „existierten nicht“, sondern sie „bestünden“ oder „bestünden nicht“. Es handelt sich also um eine eigentümliche Seinsform, wie sie Sachverhalten eigen ist. In dieser These drücken die genannten Philosophen meines Erachtens eine wichtige Einsicht aus, die darauf hinweist, daß die Form, in der Dinge und jene, in der Sachverhalte sind, grundverschieden ist. Es ist interessant zu
382
383
384
Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“ in Prima Philosophia, Bd. 2, H 2, 1989, sowie Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; vgl. auch meine „Ausführungen zur Frage danach, was existieren heißt in ihrem Verhältnis zur Sachverhaltsproblematik“ in Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 2; 3. Zwar gibt es in der Philosophie der Mathematik, etwa im Intuitionismus, immer wieder neue Versuche, das Unendliche als bloße subjektive Fiktion oder Ansetzung zu begreifen, aber diese Versuche müssen meines Erachtens scheitern. Vgl. dazu auch Bernard Bolzano, Paradoxien des Unendlichen, hrsg. von F. Prihonský (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1975); Philosophische Bibliothek Band 99; 1920 hrsg. von Alois Hofler, 1955 Unveränderter Abdruck; 1975 Zweite Auflage. Mit Einleitung, Anmerkungen, Registern und Bibliographie neu herausgegeben von Bob van Rootselaar. Eine Darstellung und Entwicklung unserer ausführlicheren Diskussion mit Smith und Mulligan über diesen Punkt würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und wird einem Buch über Antinomien und logische Paradoxien vorbehalten. Vgl. den Text Reinachs darüber und die Stellenangaben bei Husserl und Meinong in Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, zit., [85], S. 116.
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beobachten, daß diese Einsicht viel eher als Pfänder, der jede ontologische Bedeutung der Kopula im Urteil bestreitet, Conrad-Martius recht gibt, wenn sie im Rahmen ihrer Pfänderkritik in Das Sein sagt, daß auch die Kopula im Urteil neben der Hinbeziehungs- und der Behauptungsfunktion das „reine Sachverhaltssein“ aussage, womit sie gewiß dasselbe, oder wenigstens etwas Ähnliches meint wie Reinach mit dem ‚Bestehen‘. Diese Einsicht ist für die Wahrheitstheorie ungemein wichtig, da die relativ dünne und doch echte Seinsform des Sachverhalts, das Bestehen, wie wir noch weiter ausführen werden, jene Einwände zerstreuen kann, die Franz Brentano gegen die klassische Theorie der Wahrheit als Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit vorbringt, indem er darauf hinweist, daß Urteile wie „es gibt kein Nichts“ nicht mit irgendeinem existierenden Seienden, mit irgendeiner Wirklichkeit übereinstimmen, weshalb er die Adäquationslehre der Wahrheit verwirft und durch seine überaus kritikbedürftige Evidenztheorie der Wahrheit ersetzt. Wenn man hingegen nicht nur das Sein der Dinge, das in den von Brentano gemeinten Fällen gewiß nicht vorliegt, sondern auch das Bestehen von Sachverhalten als eine Seinsform anerkennt, dann liegen in allen von Brentano angegebenen Fällen negative oder positive Sachverhalte vor und besteht keinerlei Grund, die klassische und schlechthin unerläßliche, vor allem aber von der Evidenz der Wahrheit her geforderte Lehre von der Wahrheit als adaequatio (orthótes) zu verwerfen. Jedes wahre Urteil stimmt dann nämlich in seinem behauptenden Hinstellen eines Sachverhalts mit einem tatsächlich unabhängig vom Urteil bestehenden positiven oder negativen Sachverhalt überein. Die Frage, welche Seinsform Sachverhalte besitzen und in welchem Sinne ihr Bestehen sich vom Existieren unterscheidet, muß allerdings innerhalb eines breiteren Spektrums der verschiedenen Seinsweisen und Seinsmodi gesehen werden.385 385
Ich möchte hier auf ein andernorts ausführlich erörtertes Problem und einen Widerspruch in Reinachs Position hinweisen: einerseits unterscheidet er das Existieren der Dinge vom Bestehen der Sachverhalte, andererseits behauptet er, die Existenz selber sei ein Sachverhalt. Schon da Sachverhalte ein derart eigenes, von Existenz verschiedenes Sein besitzen und selbst im Falle realer Sachverhalte niemals voll in die Wirklichkeit eingehen, wie die Dinge, können sie unmöglich deren Existenz ausmachen.
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Wenn wir nämlich auch Reinach darin zustimmen, daß Sachverhalte eine eigene Seinsform, jene des ‚Bestehens‘, haben, so soll doch damit keineswegs ausgeschlossen werden, daß innerhalb der Seinsform der Sachverhalte selber immens viele weitere Unterschiede bestehen. Diverse Sachverhalte bestehen in sehr verschiedener Weise und können in jeweils ganz unterschiedlicher Form real werden. Wenn wir z.B. an die Handlung denken, in der wir einen Sachverhalt realisieren wollen, erkennen wir den ungeheuren Unterschied zwischen möglichen Sachverhalten und tatsächlich bestehenden Sachverhalten, die sich aber auf reine Möglichkeiten beziehen; und zwischen diesen beiden Sachverhaltsarten und wirklichen Sachverhalten, die nicht nur eine besondere Seinsform haben, die ihnen erst erlaubt, als solche überhaupt in die wirkliche Welt eingehen zu können (was rein ideale Sachverhalte oder solche, die sich auf Möglichkeiten beziehen, prinzipiell nicht können), sondern die bereits realisiert sind und deren Elemente reale Seiende sind, besteht noch einmal ein gewaltiger Unterschied. So ist nicht nur das Sein im allgemeinen ein analoger Begriff, da es in radikal verschiedenen Weisen verwirklicht wird, sondern auch das ‚Bestehen‘ von Sachverhalten ist noch einmal ein analoger Begriff, da es im Reich des Möglichen und des Wirklichen, des Fiktiven und des ideal Notwendigen, mit einem Wort auf den diversen Seinsebenen und in den verschiedenen Seinsmodi nur in jeweils ganz verschiedener Weise verwirklicht werden und bestehen kann. Der Frage der Verschiedenartigkeit von Sachverhalten und ihrem ‚Bestehen‘, sowie dem Unterschied zwischen Bestehen und Existieren wenden wir uns also jetzt zu. Zunächst stellen wir dabei fest: Sowohl Dinge als auch Sachverhalte besitzen in den verschiedenen Seinsmodi ‚Sein‘ in jeweils so andersartigem Sinne, daß man nicht nur auf Sachverhalte, sondern ebenso auf manche Existenzformen von Objekten eher den Ausdruck ‚Bestehen‘ als jenen des ‚Existierens‘ anwenden wird. Vergegenwärtigen wir uns diese verschiedenen Seinsmodi und die Variationen im Seinssinn von ‚Gegenständen‘ (Sachen) und Sachverhalten innerhalb derselben: (1) Das reale Sein, von dem Reinach wohl in erster Linie redet und innerhalb dessen man das Existieren der Dinge vom Bestehen der Sachverhalte zu unterscheiden hat, ist der grundlegendste, realste Seins-
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modus, die Urform des Seins, in der wirkliche Materie, lebendige Wesen, Pflanzen, Tiere, Menschen, Engel oder Gott existieren. Die in dieser realen Welt bestehenden Sachverhalte, die sich in unserer kontingenten Welt durch wirkliche Ereignisse verändern, ‚bestehen‘ in ganz anders realem, existierendem Sinne als etwa die „blassen“, rein möglichen Sachverhalte.386 (2) Einen scharfen Kontrast zu diesem Urtypus des Seins, der Wirklichkeit, bilden die „rein intentionalen Gegenstände“ die von Gnaden bewußter Akte leben und nur als Gegenstände des Bewußtseins Sein besitzen, auch wenn dies, einmal fixiert, einem gewissen Seinsmodus entspricht, der ein Maß für wahre oder falsche Aussagen über solche Gegenstände bildet, innerhalb deren man noch viele weitere Unterscheidungen wie zwischen unmittelbaren (wie Traumgegenständen) und abgeleiteten rein intentionalen Gegenständen (wie literarischen Figuren) durchführen mag.387 Die rein intentionalen Gegenstände bestehen nicht einmal im eigentlichen Sinne, sondern für sie gilt das esse est percipi Berkeleys, sie bestehen nur als Gegenstände des Bewußtseins. Dennoch begründen sogar diese ontisch auf schwachen Füßen stehenden rein intentionalen Gegenstände und Sachverhalte wiederum an sich bestehende Sachverhalte über die rein fiktiven Objekte und Sachverhalte. So kann es in der Literaturwissenschaft wahre und falsche Aussagen über literarische Gegenständlichkeiten geben, wie wenn jemand sagt, Othello und nicht Hamlet sei der Mohr von Venedig in Shakespeares Tragödien, was eine deutliche Autonomie der betreffenden Sachverhalte voraussetzt: es ist wirklich so, daß nicht Sancho Pansa, sondern Don Quixote in Cervantes‘ Roman der ‚irrende Ritter‘ ist, usf. Diese tatsächlich und an sich bestehenden Sachverhalte über rein intentionale sind ganz verschieden von den nur vermeinten und in Irrtümern behaupteten Sachverhalten, die keinerlei an sich bestehenden Seinsmodus besitzen. (3) Bedenken wir hingegen den Seinsmodus der ewigen, unveränderlichen idealen Wesenheiten und Gegenstände, so ist ihnen allen ein 386
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In Märchen und verschiedenen Religionen werden den realen Wesen auch die für real gehaltenen ‚Dschins‘, Zwerge und Riesen, Feen, Luftgeister, Götter und Göttinnen zugerechnet, die in ihrer Seinsform, also wenn sie existierten, auch real wären, wenn sie nicht existieren, rein intentionale Gegenstände sind. Zu diesem Unterschied vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.
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unvergleichlich viel stärkeres Sein eigen als rein intentionalen Gegenständen, und zwar ein Sein, das man ebenfalls von realer Existenz dadurch unterscheiden mag, daß man es als ‚(ideales) Bestehen‘ bezeichnen möchte. Doch wenn man nicht nur idealen Sachverhalten, sondern auch idealen Wesenheiten selber, wie dem Dreieck als solchem oder der Wesenheit der Liebe ‚Bestehen‘ anstatt Sein zuschreiben will, um ihre Seinsform von jener realer Seiender abzugrenzen, so spricht man von Bestehen in einem ganz anderen Sinne als im Falle von Sachverhalten.388 Die idealen Wesenheiten ‚bestehen‘ und ‚sind nicht‘, wie man vielleicht sagen möchte, um ihren ganz anderen, nicht im eigentlichen Sinne realen Seinsmodus auszudrücken. Die hier als ‚Bestehen‘ apostrophierte Seinsform aber, die nicht nur den idealen Sachverhalten und Wesensgesetzen, sondern auch den Wesenheiten, Ideen und idealen Gegenständen wie Zahlen zukommt, ist ein ‚Bestehen‘ ganz anderer Art als die spezifische ‚Seinsform‘ von Sachverhalten, die Reinach als Bestehen kennzeichnet. (4) Daneben bilden auch die Möglichkeiten und möglichen Welten eine immense Seinssphäre, die die wirkliche endliche Welt zahlenmäßig so unendlich übertrifft, daß es für einen jeden einzelnen wirklichen Gegenstand und Sachverhalt in der Welt unendlich viele mögliche gibt. So gibt es unendlich Mal unendlich viele mögliche Welten, was man sich plastisch vor Augen führen mag, wenn man an die berühmte Schachlegende denkt, durch die der Erfinder des Schachspiels dem König, der ihn belohnen wollte, bewies, daß sein zu bescheiden klingender Wunsch, eine einfache Verdoppelung eines ersten Weizenkorns auf dem zweiten Feld und dann eine jeweilige weitere Verdoppelung auf dem dritten und den folgenden Feldern bis zum 64. Feld vorzunehmen, keineswegs bescheiden, sondern schlechthin unerfüllbar ist. Denn diese auch von Dante zitierte ‚Verdoppelung auf dem Schachbrett‘ führt zu einer so astronomischen Zahl von Weizenkörnern, daß kein Land der Erde sie hervorbringen und keine Regierung der Welt sie bezahlen könnte.389 Diese Zahl ist aber nichts im Vergleich mit der aus allen möglichen Kombinationen der 32 Figuren sich 388
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Anderswo unterscheide ich innerhalb des „idealen Seins“ zwischen eide (notwendigen idealen Wesenheiten), Ideen (in bestimmtem Sinne kontingenten idealen Wesenheiten), idealen Gegenständen wie Zahlen und idealen „Regeln“, wie sie in der Kunst eine wichtige Rolle spielen. Vgl. J. Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1. Vgl. Josef Seifert, Schachphilosophie.
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ergebenden möglichen Positionen auf dem Schachbrett, die die Anzahl der Sekunden seit Weltbeginn unvergleichlich übertrifft. Diese Zahl aber ist wiederum wie schlechthin nichts im Vergleich zur unendlich Mal unendlichen Anzahl möglicher Welten. Diese möglichen Welten (die noch ihrerseits eine Unterscheidung zwischen realen und rein idealen Möglichkeiten und andere Unterscheidungen zulassen) sind nicht einfach Nichts und auch von ihnen kann man, im Hinblick auf ihr relatives Nichtsein sagen, sie existierten nicht, sondern ‚bestünden.‘ Aber auch dann ist das ‚Bestehen‘ in einem anderen Sinne gemeint als wenn man es Sachverhalten zuschreibt. (5) Auf den Seinsmodus rein logischer Entitäten wie Begriffe und Urteile werden wir noch ausführlich zurückkommen. Von ihnen werden wir nicht einmal sagen, sie bestünden, sondern ihnen eine andere Seinsform von rein logischen Gebilden oder entia rationis, oder auch, wenn wir nach dem letzten Träger der ganzen Urteilswahrheit blicken, eine Art idealer Existenz zusprechen, die wir aus später erörterten Gründen nicht als ‚Bestehen’ apostrophieren möchten. Auf diesem breiteren ontologischen Hintergrund gesehen, dürfen wir zwar Reinachs These, daß Sachverhalte einen besonderen Seinsmodus des Bestehens haben, der sich von der Existenz von Dingen unterscheidet, voll zustimmen, müssen aber seine Meinung, nur Sachverhalte besäßen die Seinsform des ‚Bestehens‘, entsprechend modifizieren und einschränken, auch wenn wir diese anderen Arten von Bestehen ihrerseits von jenem der Sachverhalte abgrenzen und insofern Reinach ganz zustimmen. Auch müssen wir innerhalb des Bestehens von Sachverhalten eines in der real existierenden, der idealen, der möglichen und anderen Welten unterscheiden. 3.2.10. Sachverhalte können zeitlich und zeitlos, notwendig und kontingent, real und fiktiv sein und an allen Seinsmodi in bestimmtem Maß teilhaben: eine Kritik an Meinongs und Reinachs These der Zeitlosigkeit aller Sachverhalte (Objektive)
Weil Sachverhalte bestehen und nicht existieren und weil sie in Bezug auf alle Dinge bestehen, können sie sowohl zeitlich als auch zeitlos,
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wirklich und fiktiv usf. sein und an allen anderen Seinsmodi entsprechend teilhaben. Dies haben Reinach und Meinong übersehen, wenn sie glaubten, daß alle Sachverhalte zeitlos wären. Dies ist ein bei so scharfsinnigen Analytikern der Phänomene seltsam den Tatsachen ins Gesicht schlagender Irrtum, der höchstens darin eine gewisse Erklärung finden kann, daß es tatsächlich auch in Bezug auf zeitliche Vorkommnisse zeitlose Sachverhalte sowie zeitlose Wahrheiten gibt. Während ich diese letztere These keineswegs leugne, sondern als wahr anerkenne, so ist es doch unhaltbar zu leugnen, daß es auch unzählige Sachverhalte gibt, die in der realen Welt bestehen und die ebenso wie die zeitlichen realen Dinge zu bestehen beginnen und aufhören. Daß ich gegenwärtig lebe, ist ein Sachverhalt, der nur während meines Lebens besteht und (zumindest im hier gemeinten Sinn von „leben“) weder vor meiner Empfängnis bestand noch nach meinem Tod bestehen wird, während jetzt, solange ich diese Zeilen schreibe, der Sachverhalt, daß ich lebe, notwendig auch besteht und derjenige, daß ich tot bin, der bald eintreten wird, noch nicht besteht. Es gibt also reale und vergängliche Sachverhalte wie daß ich zu einer Zeit lebe, zu einer anderen nicht, oder daß Theaitetos einmal sitzt und einmal steht. Vornehmlich für reale Sachverhalte gilt auch die von Aristoteles als notwendig erkannte Einschränkung des ontologischen Widerspruchsprinzips auf die gleiche Zeit. Ich kann nicht zugleich sitzen und nicht sitzen, und diese zeitliche Bestimmung des im Prinzip Widerspruchs ist eben nur deshalb erforderlich, weil es sich bei Sachverhalten wie jenen, daß ich sitze oder nicht sitze, um zeitliche Sachverhalte handelt, die einmal bestehen und ein anderes Mal nicht. Zeitlose kontradiktorische Sachverhalte schließen einander ja immer aus und deshalb ist hier keinerlei Hinzufügung zeitlicher Bedingungen für die Anwendung des Widerspruchsprinzips nötig. Wären alle Sachverhalte zeitlos, müßte dies für alle Sachverhalte und Urteile gelten, was zweifellos nicht zutrifft. Dies hindert nicht, daß über alle zeitlichen und vergänglichen Sachverhalte auch wieder zeitlose Sachverhalte sowie die ihnen entsprechenden zeitlosen Wahrheiten bestehen, worauf Reinach390 und Meinong in seinem Über Annahmen391 zu 390 391
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140. Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz:
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Recht aufmerksam machen; aber diese sind nicht die Totalität der bestehenden Sachverhalte. 3.2.11. Alle Sachverhalte, die das ontische Fundament der Wahrheit von Urteilen sind und diese in gewissem objektivem Sinn ‚wahr machen‘, bestehen ‚an sich‘ im weiteren Sinn und besitzen eine ontische Autonomie gegenüber dem Urteil, unterscheiden sich deshalb von den nicht tatsächlich bestehenden und rein intentionalen Sachverhalten, die Gegenstand von irrigen Meinungen und falschen Urteilen sind
Wie wir noch eingehender sehen werden, können Sachverhalte rein als bloße intentionale Gegenstände, was sie ja auch im irrigen Meinen und Behaupten sind, nicht das Fundament der Urteilswahrheit bilden, sondern nur jene Sachverhalte, die ein bestimmtes Maß an Autonomie und Unabhängigkeit besitzen, sind dasjenige Sein, diejenige ‘res’, mit der ein wahres Urteil übereinstimmen muß, um wahr zu sein. Dabei entspricht auch jedem ‚rein intentionalen Sachverhalt‘, etwa dem nur in einem irrigen Meinen vorgestellten Sachverhalt, wenn man ihn nicht so, wie der Irrende ihn vermeint und wie er nicht wirklich besteht, sondern so wie er in der Tat ist (etwa der Sachverhalt, daß ein bestimmter Sachverhalt vom Irrenden wirklich gedacht oder behauptet wird), ein tatsächlich bestehender und deshalb autonomer Sachverhalt, auf den wir uns in wahren Urteilen beziehen können, etwa indem wir über den Sachverhalt urteilen, den der Irrende wirklich gemeint hat, der aber nicht wirklich besteht. 3.2.12. Sachverhalte sind keine Relationen
Man könnte mit der aristotelisch-thomistischen Urteilslehre Sachverhalte mit Relationen gleichsetzen. Dabei kann man mit Reinach noch einmal einen Sinn der Relation, wie die Relation zwischen ‚links‘ und ‚rechts‘, Ähnlichkeit usf., und das Links-Sein oder Ähnlichsein unterscheiden, die auch Reinach als (ergänzungsbedürftige) Sachverhalte
Akad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977), Bd. IV, Kap. iii, S. 42 ff.
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betrachtet.392 Damit meint er wohl, daß diese Eigenschaften nicht als solche den Dingen zugehören, sondern nur in Relation zu anderen und daß diesen Relationen die Sachverhalte entsprechen, daß eine Ähnlichkeit zwischen A und B besteht, daß ein Gegenstand sich links von einem anderen befindet, usf. Doch bleibt selbst hier, meine ich, die Relation der Ähnlichkeit oder des Linksseins von einem Sachverhalt verschieden, auch wenn Reinach die Relation der Ähnlichkeit als Sachverhalt und Platon den Sachverhalt, daß Theaitetos sitzt, als eine Relation zwischen Theaitetos und Sitzen auffaßt. In Wirklichkeit aber sind Sachverhalte nicht Relationen, so oft sie auch mit diesen verwechselt wurden. Es wird zum besseren Verständnis dafür, daß Sachverhalte sich von Dingen und deren Attributen unterscheiden, nützlich sein klarzulegen, daß Sachverhalte nicht einmal in jenem besonderen Sinne von Relationen Akzidenzien oder Attribute von Dingen sind. Dadurch wird noch zugleich und vor allem deutlicher hervortreten, daß Existenz weder ein Sachverhalt noch eine Relation sein kann. Insbesondere negative Sachverhalte sind sicherlich keine Relationen, da der Sachverhalt, daß Theaitetos nicht sitzt, sicher nicht eine negative Relation (gibt es eine solche überhaupt?) zwischen Theaitetos und Sitzen ist, was ebenfalls die allgemeine Verschiedenheit von Relation und Sachverhalt eindeutig beweist. Diese kann man auch daraus erkennen, daß viele Prädikate von Relationen überhaupt prinzipiell niemals Sachverhalten zukommen können. Alle Relationen bzw. Beziehungen wie jene von 1 zu 2, von Vater zu Sohn, von Mensch zu Gott im Geschöpfsein, sind als solche keine Sachverhalte. Das kann man leicht daraus erkennen, daß ich nicht Vaterschaft als solche, das Verhältnis des Doppelten, oder 1:2 als solches urteilsmäßig behaupten kann, während ich jeden Sachverhalt in einem Urteil aussagen kann. Umgekehrt ist kein Sachverhalt selber einfach ein Verhältnis oder eine Relation von A zu B. Der Sachverhalt hat immer einen gewissen, von bestimmten Dingen losgelösten Charakter, indem er nie, wie die Relation, den Charakter eines Akzidenz, einer relationalen Eigenschaft von Dingen besitzt, sondern diese vielmehr von außen und ‚von oben‘ her umfaßt und in sich begreift, ohne ihnen selbst zuzukommen oder als Eigenschaft 392
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, zit., [91-92], S. 121.
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anzugehören. Auch bestehen Sachverhalte niemals, wie Relationen, zwischen Dingen, so sehr sie selbstverständlich auch selber in Sachverhalte eingehen müssen: ein Sachverhalt besteht jedoch nicht zwischen Vater und Sohn, Mutter und Kind, der Zahl 1 und 2, wie Relationen. Die Evidenz der Verschiedenheit zwischen Relation und Sachverhalt tritt noch deutlicher hervor, wenn wir an die Prädikate bestimmter Arten von Relationen denken und erkennen, daß diese Attribute niemals Sachverhalten zukommen können. So zeigt sich etwa von der Natur der bewußten intentionalen Relation meines Erkenntnisaktes zu seinem Gegenstand her, daß diese Relation selbst nicht ein Sachverhalt ist und radikal von diesem verschiedene Prädikate besitzt, da ein Sachverhalt wesenhaft nicht erlaubt, bewußt auf etwas von ihm selber Verschiedenes gerichtet zu sein oder selber eine bewußte Beziehung eines Subjekts auf ein Objekt zu sein. Wenn folglich (manche) Relationen Merkmale besitzen können, die einem Sachverhalt niemals zukommen können, so beweist dies die Verschiedenheit dieser Art der Relation und von Relationen überhaupt von Sachverhalten, da sich innerhalb der Kategorie von Relationen zahllose bewußte Beziehungen finden, während Bewußtsein und eine intentionale Subjekt-Objekt-Relation niemals Sachverhalten zukommen kann. Relationen können bewußt sein: sie können nicht nur Gegenstände bewußter Akte werden, was von allem Seienden, Sachverhalten und sogar von Nichtseiendem gilt, sondern sie können auch selber wesenhaft bewußte Relationen sein, wie die Bezogenheit des Wahrnehmungsaktes auf die wahrgenommene Kuh. Hingegen können nie und nimmer Sachverhalte als solche eine bewußte Beziehung ihrer Elemente sein, auch wenn sie sich auf Bewußtsein beziehen. Der Sachverhalt, daß ich in eine bewußte erkennende Relation zu etwas eintrete, ist z.B. nicht selber durch Bewußtsein charakterisiert, er ist in keiner Weise eine bewußte Relation zwischen einer Person und einem Gegenstand. Auch gibt es zahlreiche materielle Relationen, wie ein doppelt so Großsein von A als B, während Sachverhalte niemals in solcher Weise in die materielle Welt eingehen und in ihr bestehen oder Körper selbst kennzeichnen können. Sachverhalte können keine derartigen relationalen physischen Eigenschaften haben. Ferner können Sachverhalte überall bestehen, auch dort, wo es nichts
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gibt: z.B. können wir sagen: „Das Nichts ist kein Ding“, „Es gibt kein wirklich seiendes oder gar lebendiges Nichts“. Wo soll hier eine Relation bestehen? Wie kann das radikale Nichts in Beziehung zu etwas anderem stehen, Relationen zum nicht-Geben besitzen? All dies scheint ungereimt. Wir werden sehen, daß genau an diesem Punkte Brentano mit seinen Einwänden gegen die klassische Wahrheitsdefinition der ‘adaequatio intellectus et rei’ einsetzt. In diesem Zusammenhang werden wir die fundamentale Bedeutung der Entdeckung der Kategorie, oder besser, der transzendentalen, weil auf allen Ebenen bestehenden, Seinsform des Sachverhalts besser erkennen. Wenn man in einer schwachen Korrespondenztheorie der Wahrheit sagen möchte, daß keine so exakte Korrespondenz zwischen dem Behaupteten, einem Sachverhalt, und der Wirklichkeit bestehe, sondern daß es genüge, daß es umherlaufende Kühe und Muh-Sagen gibt, um wahre Urteile zu fundieren, muß man einwenden: Urteile müssen, wenn sie für Logik und Philosophie brauchbar sind, nicht mit ‚irgend etwas dort draußen‘ übereinstimmen, sondern – wie Pfänder in seiner Philosophie des logischen Prinzips vom zureichenden Grund gezeigt hat – in einer ganz genauen und präzisen Weise mit einer bestimmten Art von Gegenstand, nämlich dem Sachverhalt. Daher ist es ganz unzulässig und ungenügend, eine Urteilstheorie zu entwerfen, in welcher kein exakter Bezugspunkt des Urteils, der Sachverhalt, besteht. Warum soll es ferner nicht tatsächlich genug Sachverhalte geben, um die Wahrheit jedes möglichen Urteils zu begründen, sondern sollen Sachverhalte ihr fundamentum in re nur in Gestalt von Dingen, ihren Eigenschaften und Relationen haben? Schreckt einen die unendliche Zahl der Sachverhalte? Dann sollte man auch aus Angst vor den unendlich vielen Zahlen und Primzahlen aufhören zu zählen, aus Angst vor den unendlich vielen Punkten und Teilstrecken aufhören, von diesen zu reden, und auch keine inkommensurablen Linien mehr anerkennen, welche die unendliche Teilbarkeit jeder Strecke voraussetzen? Oder schreckt einen der Gedanke, daß man nur mehr über Sachverhalte urteilt und nicht mehr direkt von Gabriel oder Johannes oder einer sonstigen Person reden könnte? Da braucht man nur zu verstehen, daß Dinge und Personen entscheidende Teile und Bezugspunkte verschiedener Sachverhaltsarten sind, daß Sachverhalte keine sonderbare Sphäre idealer Gegenstände, die von der Wirklichkeit beziehungslos getrennt sind,
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darstellen, sondern sich in ihrer irreduziblen Sachverhaltsgestalt präzise und genau auf Dinge und Personen beziehen, so daß jeder Sachverhalt, wenn er besteht, ganz präzise Bestimmtheiten von Dingen, Personen und Eigenschaften derselben impliziert, weshalb jedes urteilsmäßige Behaupten eines Sachverhalts zugleich ein Reden über Dinge oder Personen, darüber, daß sie sind oder nicht sind, so oder anders sind, Beziehungen haben oder nicht, handeln oder nicht, usf. darstellt. Wenn sie sich auf Personen beziehen, sind Sachverhalte keine Fremdkörper der Person gegenüber, sondern ganz in deren Sein, Leben und Tun eingebettet und sie können ohne Personen selber gar nicht bestehen; noch können sie erkannt werden, ohne daß dabei auch Dinge und Personen erkannt würden, und umgekehrt. Zurück zur Unterscheidung zwischen Erkenntnisrelation und Sachverhalt. Die Relation meines Erkenntnisaktes zu dessen Gegenstand kann als bewußte intentionale Relation klar vom Sachverhalt unterschieden werden, daß eine solche Relation besteht. Ein Sachverhalt ist weder je bewußt und intentional noch kommt er einem Akt zu wie die Erkenntnisrelation zum Erkenntnisgegenstand dem Akt des Erkennens selbst zugehört. Diese Relation ist eine dem Akt selbst in seiner Beziehung zum Objekt eigene Eigenschaft und besitzt nicht die erörterte Transzendenz des Sachverhalts gegenüber den Gegenständen und Akten, auf die dieser sich bezieht. Sie ist in der Tat eine Akzidenz, eine besondere Bestimmtheit einer Sache in ihrem Bezug auf eine andere. Der Sachverhalt ist keine solche einseitige oder doppelseitige Bestimmtheit meines Erkennens oder anderer Gegenstände und Attribute; er ist überhaupt kein Akzidenz. Die wesenhafte Unvereinbarkeit der Wesensbestimmtheiten von Relationen und Sachverhalten erweist sich genauso gut in anderen Fällen. So ist z.B. Ähnlichkeit in der Tat eine Relation zwischen den Farben Rot und Orange, der Sachverhalt hingegen, daß sie ähnlich sind, ist keine Ähnlichkeit, die Relation zwischen Vater und Sohn besteht in einer realen Abhängigkeit des Gezeugtseins durch den Vater (und im Falle einer tieferen Vaterschaft in vielen weiteren Relationen), einer Abhängigkeit, die sich niemals vom Sachverhalt aussagen läßt und die nie im Sachverhalt selbst besteht; eine Relation kann in einer Abhängigkeit kausaler Art bestehen, zwischen Sachverhalten hingegen bestehen Grund-Folge-Verhältnisse, nicht Kausalbeziehungen, auch wenn sie natürlich infolge von Ursachen eintreten und in diesem Sinne gleichsam „indirekt verursacht“ sein
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können. So kann eine Bombenexplosion die Ursache für den Sachverhalt sein, daß jemand seinen Vater im Krieg oder jemand anderer sein Gehör verloren hat, aber direkt verursacht die Bombe den Tod oder die Taubheit, nicht die genannten Sachverhalte. Um eine Relation, z.B. Vaterschaft, zum Gegenstand eines Urteils zu machen, muß ich ferner über die Relation als solche hinaus- und zum entsprechenden Sachverhalt übergehen. Die Relation Vater-Sohn, GelbOrange, Erkenntnis-Gegenstand, Größe-kleiner usf. kann genauso wenig unmittelbar Gegenstand meines Urteils werden wie ein Ding oder sein Attribut. Was ist also ein Sachverhalt? Können wir ihn nicht doch hinreichend durch Dinge und deren Eigenschaften erklären? Bedürfen wir nur der Kategorie der Relation, um den Gegenstand des Urteils zu erklären, aber keiner eigenen formal-ontologischen Kategorie des Sachverhalts? Gibt es irgendeine Charakteristik des Sachverhalts, die nicht zugleich eine solche von Relationen wäre? Die Antwort auf diese Frage haben wir schon gegeben, doch machen wir noch einen zweiten Versuch ihrer Beantwortung, da wir wahrscheinlich nicht alle Leser oder Hörer dieser Ausführungen überzeugt haben werden. So möchten wir das Problem in neuer Weise entfalten und die Einwände gegen unsere Unterscheidung zwischen Relation und Sachverhalt so stellen: 1. Einwand: Zunächst, so könnte man behaupten, zeige sich die trotz unserer Argumente festzuhaltende Identität zwischen Sachverhalt und Relation schon rein sprachlich dadurch, daß derselbe sprachliche Ausdruck – z.B. „das Muhen der Kuh“ – sowohl den Sachverhalt als auch die Relation zwischen Kuh und Muhen meinen kann.393 Darauf erwidere ich: Dieser selbe sprachliche Ausdruck kann sicherlich beides, und auch noch die Tätigkeit des Muhens selbst als Eigenschaft oder Tätigkeit der Kuh, meinen; er kann auch auf verschiedene Relationen zwischen Kuh und Sachverhalt abzielen. Aber dies beweist noch nicht, daß Sachverhalte und Relationen dasselbe sind. Derselbe Satz „Ein Mann namens Rogoshyn reiste am 7. November 1846 von Moskau nach St. Petersburg“ kann ein 393
Während seiner Studien an der IAP stellte Dr. Michael Wenisch diese Einwände im WS 1991.
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Quasi-Urteil in einem Roman ausdrücken, das nur die fiktive Welt aufbaut,394 oder er kann als bloßer Satz der deutschen Sprache betrachtet werden; er kann aber auch ein wirkliches Urteil zum Ausdruck bringen. Daß all dies in demselben Satz ausgedrückt werden kann, heißt jedoch offensichtlich nicht, daß all dies dasselbe ist, genausowenig wie wenn ich ein Bild einer Katze und eine lebendige Katze für identisch halten darf, weil das Wort ‚Katze‘ beide und vieles andere meinen kann. In gleicher Weise ist das Muhen der Kuh, als Sachverhalt verstanden, die Tatsache, daß die Kuh muht. Daß dies der Fall ist, dies wird dann mit dem zitierten Satz gemeint. Wenn der sprachliche Ausdruck hingegen das Muhen selbst meint, dann ist eine lautstarke Tätigkeit, nicht eine Relation gemeint, ja man könnte auch hier noch zweierlei meinen: die Tätigkeit der Kuh, die man als solche nicht hört, und den durch dieses Muhen als Tätigkeit hervorgebrachten eigentümlichen Ton, den man hört. Z.B. hören wir das Muhen in diesem Sinn, aber wir verstehen und hören nicht die Tätigkeit der Kuh und erst recht nicht die Relation zwischen der Kuh und ihrem Muhen, eine Relation, die zwischen der Kuh als Subjekt und dem Akzidenz der Tätigkeit des Muhens, oder zwischen der Tätigkeit des Muhens als Ursache und ihren Wirkungen bestehen, alles Gegebenheiten, die niemals Sachverhalte sein können. Sicher bilden beide, Relationen und Sachverhalte, eine Einheit und sind eng mit einander verknüpft. Aber daß sie nicht wegen ihrer engen Verknüpfung identisch sind, läßt sich auch daraus ablesen, daß das meinende Abzielen auf eine Relation als solche noch nicht ein Urteil konstituiert und, mehr noch, keinen Gegenstand anzielt, der als solcher prinzipiell je geurteilt werden oder Gegenstand anderer objektiver Gedanken, z.B. von Fragen und Wünschen, sein kann. Der Unterschied zwischen Relation und Sachverhalt zeigt sich besonders deutlich dort, wo ein einziges Wort schon ein Wesen in Relation zu einem anderen meint, z.B. Vater, Sohn, Tochter, Mutter, links, rechts usf. Hier ist es jedermann klar, daß niemand solche relationalen Eigenschaften als solche zum Gegenstand des Urteils machen kann. Links 394
Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Vgl. auch Josef Seifert, “Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment”, zit.
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ist eine relationale Richtung, aber ich kann nicht urteilen: ‚links‘; Vater meint einen Mann in Relation zu einem Kind, aber ich kann deshalb nicht urteilen: ‚Vater‘, und ebensowenig ist „Marias Vater“, ein Ausdruck, der eine Relation ausdrückt, selber möglicher Gegenstand eines Urteils; auch nicht „Vaterschaft“ (also die Relation selbst). Nun könnte jemand einwenden, nicht alle Relationen könnten Gegenstand von Urteilen sein, sondern nur manche, komplexere, wie sie der Ausdruck ‚Subjekt-Objekt-Relation‘ oder ‚Vater-Sohn-Beziehung‘ meint. Aber wenn ich jemand frage, was er gerade behaupten wollte und er antwortet: die Vater-Sohn-Beziehung oder die intentionale Richtung eines Aktes auf einen Gegenstand, der kein immanenter Teil desselben ist, so werden wir sagen: was ist es mit diesen Beziehungen, was Du behaupten wolltest? Wir werden also nach einem Sachverhalt als einem eindeutig von diesen Relationen verschiedenem Etwas fragen. Mehr noch: die Sachverhalte dürfen zwar keineswegs sämtlich in eine Sphäre von idealen Gegenständen versetzt werden, sondern es gibt zeitliche Sachverhalte, die in der wirklichen Welt vorkommen, wie daß jetzt die Kuh muht, später aufgehört hat oder aufhören wird zu muhen, etc. Dennoch bestehen Sachverhalte in lockererer Beziehung zu den Sachen als Relationen. Z.B. existiert die Relation zwischen der Kuh und ihrem Muhen nur solange die Kuh tatsächlich muht. Das Muhen und der mit ihm verbundene Lärm existieren jetzt nicht mehr. Auch der Sachverhalt, daß die Kuh jetzt wirklich muht, kommt und vergeht. Aber es bleiben immerhin die Sachverhalte bestehen, die nicht so vergänglich sind wie die Relationen selbst. Es bleibt der Fall, daß die Kuh dann und dann gemuht hat. Zwar gibt es auch zeitliche Sachverhalte, was Meinongs Philosophie der Objektive und Adolf Reinach leugneten. Nicht alle Sachverhalte sind zeitlos. Gewisse Sachverhalte in bezug auf jedes Ding aber bilden eine ontisch dauerhaftere Sphäre, die es erst erlaubt, über Vergangenes und Zukünftiges zu urteilen und zu sagen: es ist tatsächlich so, daß dies oder jenes eintreten wird oder geschehen ist. Auch in dieser Hinsicht – außer durch ihre alleinige Eignung, direkter Gegenstand von Urteilen zu sein – unterscheiden sich Sachverhalte von Relationen. Selbst jene Sachverhalte, die sich auf die reale, zeitliche Welt beziehen, sind also von dieser viel unabhängiger als Relationen und sind deshalb viel ähnlicher idealen Gegenständen – wie Meinong zu recht hervorgehoben hat, wenn er auch
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sämtliche Sachverhalte mit solchen zeitlosen verwechselt und damit der Tatsache der Existenz zeitlicher Sachverhalte nicht Rechnung trägt, während es in Wirklichkeit zeitliche und zeitlose Sachverhalte gibt, ähnlich wie es auch zeitlose ideale und reale Relationen gibt.395 Es besteht hier jedoch auch ein wesentlicher Unterschied zwischen Sachverhalt und Relation. Es gibt sowohl reale als auch zeitlos bestehende Sachverhalte in Bezug auf zeitliche Relationen zwischen Personen und Ereignissen, verschiedenen Dingen, etc. Und diese zeitlos bestehenden Sachverhalte über oder in Hinsicht auf in der Zeit verwirklichte und in ihr vergangene Relationen unterscheiden sich von den selber vergangenen Relationen und zeigen dadurch ihre Verschiedenheit von diesen; denn über diese vergangenen Dinge und Ereignisse und ihre Relationen bestehen weiterhin in zeitloser und unvergänglicher Weise Sachverhalte, während die Relationen selbst nicht mehr bestehen;396 die vergangenen realen Relationen selber besitzen nicht diese Art zeitloser Präsentialität der Sachverhalte über Vergangenes, sondern sie gehen in die Hallen der Vergangenheit in einer Weise ein, wie weder die zeitlos bestehenden Sachverhalte über vergangene Relationen noch die Wahrheit über sie je in die Vergangenheit eingehen können, was wiederum die Verschiedenheit der Sachverhalte von den Dingen und ihren Akzidenzien und ihre eigentümliche Losgelöstheit von diesen dartut. Übrigens unterscheiden sich noch einmal ideale Sachverhalte über Zeitloses von zeitlos bestehenden historischen Sachverhalten über Vergangenes.
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Vgl. Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz: Akad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977), Bd. IV, Kap. iii, S. 64 ff. Dies schließt nicht aus, wie Erich Heintel in verschiedenen Schriften hervorgehoben hat, daß auch über die Vergangenheit durch das Gegenwärtige und Künftige stets neue Sinnzusammenhänge entstehen, in welche das Vergangene eingebunden ist und durch die es seinen Sinn und Charakter ändern kann. Doch unterscheiden sich diese stets neuen Sachverhalte in Bezug auf Vergangenes und die neuen Relationen von den zeitlos bestehenden Sachverhalten über Relationen, die als solche vergangen sind, während es die in Bezug auf sie bestehenden Sachverhalte nicht sind.
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3.3. Trägerschaft anderer Prädikate durch Sachverhalte
3.3.1. Sachverhalte als Träger von Modalitäten
Meinong nennt ‚Objektive‘ und Reinach die Sachverhalte Träger von Modalitäten, von Zufälligkeit oder Notwendigkeit und dergleichen. Darin haben Meinong und Reinach zweifellos recht, doch meine ich, daß es, wie Pfänder397 ausführt, neben ontischen und psychischen Modalitäten andere Modalitäten ganz verschiedener Natur gibt, nämlich strikt logische Modalitäten, die in problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteilen ihre Grundformen besitzen und sich nicht auf Modalitäten von Sachverhalten reduzieren lassen, worauf wir gleich noch zurückkommen werden. Im fünften Abschnitt dieses Kapitels werden wir sehen, daß diejenigen Modalitäten, die Sachverhalten zukommen können, meist nicht nur ihnen zukommen, aber doch sehr wichtig für das Verständnis ihres Wesens sind. Wir werden auch sehen, daß es neben denjenigen Modalitäten, die Sachverhalten zukommen können, andere gibt, die ihnen niemals zu Recht zugesprochen werden dürfen und die wir scharf von den Modalitäten der Sachverhalte abgrenzen müssen, um tiefer in die logische Struktur des Urteils und seine Wahrheit eindringen zu können. Denn es wird sich zeigen, daß für die Logik sowohl die ontischen Modalitäten von Sachverhalten als auch die völlig verschiedenen rein logischen Modalitäten wichtig sind, aber daß beide ganz andere logische Implikationen besitzen. In diesen Erkenntnissen liegen die Grundlagen für eine Reform der sogenannten ‚modalen Logik‘, in der m.E. häufig nur die ontischen Modalitäten, manchmal nur die logischen berücksichtigt werden, aber selten zwischen beiden unterschieden wird, obwohl sie ganz von einander verschieden sind und außerdem ganz verschiedene logische Konsequenzen haben. 3.3.2. Sachverhalte als Träger anderer Eigenschaften
Schließlich kann ein Sachverhalt, und dies ist für sein Wesen charak397
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, „Lehre vom Urteil“.
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teristisch, Träger vieler anderer Eigenschaften sein, etwa bestimmter Qualitäten und Werte wie des Tragischen, sittlich Rechten, usf., während er unmöglich Träger anderer Werte wie sittlicher Gutheit, die nur Personen besitzen können oder des Lebens sein kann. Er kann Träger der Aequitas als einer objektiven Rechtheit oder Gerechtigkeit sein; es kann etwa gerecht sein, daß ein Erbe gerecht verteilt wird oder daß einem Schuldigen Strafe zuteil wird, aber ein Sachverhalt kann unmöglich den moralischen Wert der Gerechtigkeit – ebensowenig wie übrigens die für diesen vorausgesetzten Qualitäten des Bewußtseins und der Freiheit – verkörpern oder besitzen. Ein Sachverhalt kann objektiv erfreulich und Gegenstand einer „Freude über“ sein, aber er kann nicht selber Freude empfinden noch kann er Gegenstand der Liebe oder der Freude an einem Gut wie einem Kind oder anderen Menschen sein. Eine Person als solche kann nicht tragisch sein, wohl aber ihr Schicksal, das ein komplexer Sachverhalt ist. Hingegen kann nur eine Person Tragik verstehen, unter ihr leiden, usf. So läßt sich der Sachverhalt dadurch von Gegenständen, Attributen und Relationen abgrenzen, daß man diejenigen Eigenschaften angibt, die er im Gegensatz zu diesen besitzen kann.
3.4. Äußere logische und ontische Wesensmerkmale und Relationen innerhalb der Sachverhalte 3.4.1. Relation des einander Einschließen
Reinach hebt die einsichtige Wahrheit hervor, daß Sachverhalte einander notwendig implizieren, einschließen und in ähnlichen Beziehungen zu einander stehen können, die auch eine wesentliche Grundlage der Logik der Schlüsse und Schlußfolgerungen sind. Reinach behauptet sogar, daß die Beziehung des einander Einschließens nur Sachverhalten zukomme. Ich meine jedoch, daß auch Urteile einander in ähnlicher Weise einschließen können wie Sachverhalte einander implizieren und einschließen, daß es sich dabei aber um eine andere und eindeutig rein logische Form des Einschließens handelt, die in den Bedeutungen und Urteilen gründet und sich innerhalb derselben bewegt:
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die Wahrheit des Urteils X schließt jene des Urteils y ein, was sich vor allem in den sogenannten ‚unmittelbaren Schlüssen‘ in der Logik auswirkt, d.h. in jenen Schlüssen, in denen, im Unterschied zum Syllogismus, aus der Wahrheit einer einzigen Prämisse die Wahrheit anderer Urteile oder eines anderen Urteils erschlossen wird. Wenn solche unmittelbaren Schlüsse material-logisch sind, d.h. in einer besonderen Kenntnis empirischer oder apriorischer inhaltlicher Beschaffenheiten gründen, handelt es sich nicht um ein logisches Einschließungsverhältnis von Urteilen, wohl aber bei formal-logischen unmittelbaren Schlüssen.398 3.4.2. Grund-Folge
Ganz verschieden von einem bloßen logischen bzw. formalontologischen Eingeschlossensein eines Sachverhalts in einem anderen ist die Beziehung von Grund-Folge, von der Reinach ebenfalls behauptet, daß nur Sachverhalte in dieser Beziehung zueinander stehen könnten. Dieses aus einander Folgen, das Grund-Folge-Verhältnis, könne ausschließlich zwischen Sachverhalten bestehen. Ein Sachverhalt könne zwar nicht die ontische Ursache anderer Ereignisse sein, sondern nur Dinge oder deren Tätigkeiten und Akte, doch könne sein Vorliegen der Grund für andere Sachverhalte sein. Daß es geschneit hat, ist der Grund dafür, daß es jetzt kalt ist; der letztere Sachverhalt ist die Folge des ersteren. Hier handelt es sich um ein GrundFolge-Verhältnis innerhalb der realen Welt, dem eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung zugrunde liegt. Allerdings ist das Grund-FolgeVerhältnis nicht selber das reale Ursache-Wirkungs-Verhältnis, sondern das erstere ist gleichsam nur etwas wie ein ‚material-ontisches‘ Abhängigkeitsverhältnis zwischen Sachverhalten, aber eines, das in diesem Falle das reale Verhältnis und die Begründung realer Sachverhalte betrifft und nur vorliegt, weil auch eine reale kausale Beziehung zwischen Schneien und weißer Farbe als Wirkung des Schneiens in der Natur besteht. Dieses inhaltlich in der Natur der Dinge begründete Grund-FolgeVerhältnis unterscheidet sich sicher von dem rein formal-logischen Grund398
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, S. 253-288.
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Folge-Verhältnis zwischen der Wahrheit verschiedener Urteile sowie vom formal-ontologischen Grund-Folge-Verhältnis zwischen dem Bestehen verschiedener Sachverhalte. In dem Falle rein formal-logischer GrundFolge-Verhältnisse sehe ich keinen prinzipiellen Unterschied zwischen formal-ontologischen Verhältnissen zwischen Sachverhalten und zwischen den formal-logischen Grund-Folge-Verhältnissen zwischen der Wahrheit verschiedener Urteile, außer daß sich eben die eine auf die Wahrheit von Urteilen und auf Urteile, die ersteren auf die Sachverhalte beziehen und daß deshalb der volle zureichende Grund, dessen Folge die Wahrheit von Urteilen ist, nicht in den rein formal-ontischen Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Sachverhalten liegt, sondern auch in der Urteilsform und anderen Faktoren und Gesetzen, die spezifisch nur für die logischen Entitäten gelten. Unser obiges Beispiel vom Schneien hingegen stellt eine materialinhaltliche oder darin gründende material-logische Grund-Folge-Abhängigkeit dar, für deren Bestehen das kausale Verhältnis zwischen Schnee und Kälte ausschlaggebend ist, das nur empirisch feststellbar ist. Im Falle des folgenden Grund-Folge-Verhältnisses hingegen handelt es sich um ein formal-ontisches (oder auch formal-logisches). Aus einem Sachverhalt können in gleichsam formal-logischer oder präziser gesagt in formal-ontologischer Weise andere Sachverhalte folgen. Daraus, daß alle Einwohner von Florenz weiß sind, folgt, daß einige Einwohner in Florenz weiß sind; daraus, daß einige Einwohner von Florenz weiß und italienische Staatsbürger sind, folgt, daß einige Weiße italienische Staatsbürger sind, usf. Diese rein formalontologische oder onto-logische Weise des Folgens bestimmter Sachverhalte aus anderen verführte Adolf Reinach dazu, die Logik und Schlußgesetze auf Sachverhaltsrelationen reduzieren zu wollen, wobei er zwar ganz richtig erkennt, daß Sachverhalte in rein ontologischen Beziehungen zu einander stehen, die weiten Teilen der Logik exakt entsprechen und zugrundeliegen, und daß sich deshalb diese logischen Gesetze als Sachverhaltsgesetze (formalontologische Gesetze) erklären lassen, aber m.E. übersieht, daß es spezifisch logische Phänomene wie Bedeutungen, Begriffe, begriffliche Funktionen, Wahrheit und Falschheit etc. gibt, die einer Fülle logischer Gesetzmäßigkeiten unterliegen und eine Fülle von Merkmalen und Bedingungen besitzen, die den
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onto-logischen gegenüber eigenständig sind. Wenn wir Reinach in diesem seinem Versuch einer Reduktion der Logik auf formal-ontische Beziehungen zwischen Sachverhalten auch nicht folgen können, so ist doch klar, daß Reinach hier ganz wesentliche und verschiedene Formen des ontischen, logischen und erkenntnismäßigen Grund-Folge-Verhältnisses nennt, die nur zwischen Sachverhalten bestehen. Es kann jedoch auch ein Urteil bzw. dessen Wahrheit aus der Wahrheit anderer Urteile folgen und einen Grund für diese darstellen und diese logischen Grund-Folge-Verhältnisse, da sie sich auf Urteile und deren Wahrheit beziehen und auch andere rein logische Modalitäten und Eigenschaften aufweisen, lassen sich nicht auf formal-ontische reduzieren. Diesbezüglich scheint es mir nötig zuzugeben, daß auch innerhalb der rein logischen Gebilde logische Gründe und logische Folgen existieren, etwa im Rahmen von Schlüssen, und daß diese sich sowohl auf bestehende Sachverhalte als auch auf Urteile und deren Wahrheit beziehen können. Es scheint mir also Reinachs These zu exklusiv auf Sachverhalte bezogen zu sein und zu übersehen, daß auch Urteile in Grund-Folge-Beziehungen stehen können, auch wenn vielleicht Sachverhalten und Urteilen je eigene und verschiedene Arten des Grund-Folge-Verhältnisses entsprechen. Ganz anders verhält es sich, wenn man von Grund und Folge im Bereich der Erkenntnis oder im Bereich der kausalen Ordnung spricht, wie wenn man sagt, der Erkenntnisgrund für das Wahrnehmen von Feuer läge in der Wahrnehmung von Rauch und der Kenntnis eines allgemeinen empirischen Gesetzes des Verhältnisses zwischen Feuer und Rauch. Während in der realen Welt das Feuer die Ursache des Rauches ist, ist also im Erkenntnisbereich oft umgekehrt die Rauchwahrnehmung Grund für die Erkenntnis des Feuers. Oft verhalten sich übrigens die empirischen oder auch die apriorischen inhaltlichen rein ontischen Grund-Folge-Verhältnisse von Sachverhalten gegenüber den logischen Implikationen von Sachverhalten und Urteilen umgekehrt, ähnlich wie im Verhältnis zwischen Ursachen und Wirkungen innerhalb der realen Welt das Abhängigkeitsverhältnis oft umgekehrt wie im Bereich von Erkenntnisgründen verläuft: derselbe Sachverhalt, der in der wirklichen Welt Folge eines anderen ist, ist in der Sphäre des Erkenntnislebens Grund desselben; dasselbe, was in der wirklichen Welt
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Wirkung eines anderen Ereignisses ist, kann in einem logischen Schluß und auch in der Erkenntnis Grund sein: Grund der Wahrheit einer Konklusion oder, wenn derselbe Grund erkannt wird, Grund der Erkenntnis und in gewissem Sinne Ursache derselben sein, wenn man den Ursachebegriff ausdehnt.399 Was also in der wirklichen Welt Grund und Ursache ist, wird in der Sphäre des Erkenntnisgrundes Begründetes, und was ontologisch gesehen Wirkung ist, ist oft im Reich der Erkenntnis Grund. Weiters darf man Reinach fragen, ob nicht auch in der realen Welt Grund-Folge-Verhältnisse existieren, die nicht zwischen Sachverhalten bestehen. Dies hängt mit einem umfassenderen Verständnis dessen zusammen, was man unter ‚Grund‘ verstehen mag. Es gibt doch auch guten Sinn zu sagen: Der Grund für die Nässe der Straße sei der Regen, der in der Nacht gefallen sei und die Nässe sei die Folge des Regens, nicht nur des Sachverhalts, daß es geregnet hat. Ja wieso sollen nicht Ursachen eine besondere Art von Gründen darstellen, was sie sicher tun, wenn man ‚Grund‘ in jenem umfassenden Sinne versteht, wie er dem Prinzip vom zureichenden Grund oder der aristotelischen Unterscheidung von vier Ursachen zugrundeliegt. Kann nicht auch eine Ursache oder Tat in gewissem Sinne Grund für ein Ereignis oder einen Zustand sein? Wenn man an das Prinzip des „zureichenden Grundes“ denkt, so ist es mehr als fraglich, ob man Grund-Folge-(Grund-Begründetes-)-Verhältnisse nicht auf allen Seinsebenen und auch zwischen Seienden bzw. deren Tätigkeiten feststellen muß. Es wird also zu fragen sein, ob nicht beide Termini ‚Grund‘ und ‚Folge‘ viele Anwendungen zulassen und ob man nicht viele Arten der Gründe unterscheiden und dann erst jenes GrundFolge-Verhältnis identifizieren sollte, das ausschließlich im Reich der Sachverhalte (sowie in jenem der Urteile, insofern sich nämlich GrundFolge-Verhältnisse zwischen der Wahrheit verschiedener Urteile nicht von solchen zwischen verschiedenen Sachverhalten loslösen, aber auch nicht auf sie zurückführen lassen) besteht. Im Licht all dieser Schwierigkeiten scheint es mir mehr als fraglich, ob ausschließlich Sachverhalte in dieser Beziehung eines realen Grund-Folge-Verhältnisses zueinander stehen können.
399
Dies habe ich versucht in Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 9.
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3.4.3. Sachverhalte stehen in der Relation kontradiktorischer Gegensätze zueinander
Jedem positiven Sachverhalt entspricht ein kontradiktorisch entgegengesetzter negativer. In dieser Hinsicht sind Sachverhalte ähnlich wie Urteile. Auch diese können, wenngleich in einem anderen, rein logischen (und nicht formal-ontischen) Sinn in einem kontradiktorischen Gegensatz zueinander stehen, welcher das Wahrsein, nicht das Sein beider kontradiktorischer Urteile ausschließt. Der Unterschied leuchtet auch daraus ein, daß zwei kontradiktorische Sachverhalte unmöglich zusammen existieren (bestehen) können, sehr wohl aber existieren/bestehen beide kontradiktorischen Urteile; sie können nur nicht beide im selben Sinn, zur selben Zeit usf. wahr sein. Es bleibt allerdings fraglich, ob nicht auch zwischen der Existenz und Nichtexistenz (die sich nicht auf Sachverhalte reduzieren läßt, wie Reinach fälschlich meint)400 einer Sache, oder ihrem Haben oder Nichthaben einer Eigenschaft, ähnliche Oppositionen kontradiktorischer Natur bestehen können, sodaß das in kontradiktorischem Gegensatz zu einander Stehen zu können keineswegs ausschließlich eine Eigenheit von Sachverhalten wäre.401 Man könnte dann höchstens versuchen, in diesem nicht-exklusiven Merkmal von Sachverhalten ein mit anderen Daten geteiltes Charakteristikum zu erblicken, das Sachverhalte immerhin (unter anderen unterscheidenden Merkmalen) auszeichnet, oder den besonderen präzisen Sinn herauszuarbeiten, in welchem nur Sachverhalte einander kontradiktorisch entgegengesetzt sind. 3.4.4. Sachverhalte unterliegen dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten in seinem ontischen Sinn
Ein Sachverhalt kann nur entweder bestehen oder der ihm entgegengesetzte negative Sachverhalt besteht. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. 400 401
Zu einer Kritik an dieser These vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 2. Dies kann man nur dann leugnen, wenn man mit Reinach behauptet, Sein im Sinne von Existenz sei selbst ein Sachverhalt, was ich in Josef Seifert, Sein und Wesen, zit., Kap. 2 ausführlich zu widerlegen suchte.
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Die Frage ist, ob es ausschließlich für Sachverhalte gilt, daß es zwischen dem Sein eines Dinges im selben Sinne und seinem Nichtsein keine dritte Möglichkeit gibt. Oder gilt dies nicht ebenso für auch für Relationen oder für das Besitzen oder Nichtbesitzen von Eigenschaften? Eine eingehende und den Rahmen dieses Buches sprengende Untersuchung würde zeigen, daß dieses Prinzip des ausgeschlossenen Dritten ebenso wie das Widerspruchsgesetz auf alle Modi und Arten des Seins seine jeweils entsprechende Anwendung findet und keineswegs nur für Sachverhalte gilt, auch wenn diese Prinzipien auf Sachverhalte ihre präziseste und klarste Anwendung finden und, wie Reinach hervorhebt, ein kontradiktorischer Gegensatz zu Dingen oder Personen (ein Nicht-Ding oder eine Nicht-Person) als solchen unmöglich scheint. 3.4.5. Sachverhalte als Gegenstand bestimmter und niemals anderer affektiver Antworten und als Träger bestimmter Werte und Unwerte
In seinem Nachlaß erwähnt Reinach auch, daß wir an Sachverhalten oder über Sachverhalte Freude und Lust empfinden können. In diesem Rahmen wäre wohl ebenfalls in einem breiteren Rahmen weiter zu klären, welche affektiven Akte (etwa die „Freude über“, im Gegensatz zur „Freude an“, die sich auf Personen oder Kunstwerke beziehen kann, Wünsche etc.) sich ausschließlich auf Sachverhalte oder auch auf von Sachverhalten verschiedene Gegenstände beziehen können. Auch wäre zu erforschen, wozu Hildebrand in Die Idee der sittlichen Handlung einen wichtigen Beitrag geleistet hat,402 ob es gewisse Werte gibt, wie etwa den des Erfreulichen oder des Tragischen, die ausschließlich Werte oder Unwerte von Sachverhalten, im Gegensatz zu anderen Werten, etwa den moralischen, die ausschließlich Werte von Personen sein können. Im Gegensatz zu den moralischen Werten selber, die ausschließlich Personen zukommen können, stehen moralische Attribute wie das des sittlich Richtigen oder sittlich Falschen, des sittliche Geforderten oder des sittlich Erlaubten, die sich in bestimmter Form auf Sachverhalte beziehen, wenn 402
Vgl. Dietrich von Hildebrand, „Die Idee der sittlichen Handlung“ in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 3. Band. Halle: Niemeyer, 1916, S. 126-251.
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auch deren genaue Relation zu Sachverhalten näher erforscht werden muß, die aber jedenfalls nicht Eigenschaften von Personen sind. Es kann etwa sittlich erlaubt sein, etwas Bestimmtes zu tun. Dieses Erlaubtsein, das niemals einer Person zugeschrieben werden darf, bezieht sich aber wohl primär auf bestimmte Handlungen, in einem anderen Sinn aber auch auf Sachverhalte, etwa wenn man sagt: „Es ist erlaubt, dies oder jenes zu tun“. Man sollte das „Erlaubtsein, daß ....“ vom „Erlaubtsein von etwas“ (einer Handlung) unterscheiden. Hier liegt ein weiteres wichtiges Gebiet philosophischer Forschung der Rolle der Sachverhaltsphilosophie für die Ethik. 3.4.6. Äußere Relationen von Sachverhalten zur Sprache, logischen Gedankengebilden, Denkakten, Willensakten und affektiven Antworten 3.4.6.1. Sprachliche Ausdrucksweisen, die auf Sachverhalte hinweisen.
Auf die erörterte Gegebenheit des Sachverhalts mit dessen eigentümlicher ontischer Struktur, die eine allgemeinste Seinsform darstellt, zielen wir in vielen Redeweisen ab, in praktisch allen Aussagesätzen, Fragesätzen, Befehlssätzen, Wunschsätzen usf., aber etwa in allen oder den meisten Nebensätzen, wie wenn wir sagen: wir haben gesehen (erkannt, usf.), daß etwas ist oder daß es nicht ist, daß es so oder daß es nicht so ist. Auch Ausdrücke wie „Tatsachen“, „Begebenheiten“, „Begebnisse“, „Ereignisse“, „Fälle“, „Geschehen“ oder „Geschehnisse“, „Fakten“ usf. zielen gewöhnlich auf (real) bestehende Sachverhalte ab. Auch Redeweisen wie „es gibt X“, „es gibt X nicht“, „es ist der Fall, daß...“, usf. sind sprachliche Ausdrücke für Gedanken, die auf Sachverhalte abzielen. Man könnte auf viele weitere Redeweisen Bezug nehmen, die fast ausschließlich für Sachverhalte verwendet werden. Denken wir an das englische „there is..“, „it is the case that...“, das italienische „ci sono...“ und „c’è...“, das französische „il-y-a...“, das spanische „hay...“403 und viele andere. Wir haben schon im vorigen Kapitel darauf hingewiesen, daß die lateinische Konstruktion des accusativus cum infinitivo (ACI), in welcher 403
Vgl. etwa Agustin Basave, Tratado de Metafísica. Teoría de la Habencia.
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KAPITEL 3
(meist in der indirekten Rede) der Subjektbegriff im Akkusativ, das Verb im Infinitiv steht, immer einen Sachverhalt meint. Das führt uns zu einer grundlegenderen und rein logischen Erkenntnis, die sich nicht mehr auf die Beziehung zwischen Sachverhalten und bloßen Redeweisen beschränkt: 3.4.6.2. Logische Gedankeninhalte, die sich notwendig oder häufig auf Sachverhalte beziehen: Urteile, Fragen, u.a.
Es gibt grundlegende Formen logischer Bedeutungseinheiten oder objektiver Gedankeninhalte, aber auch bestimmter Denkakte und theoretischer Stellungnahmen oder Antworten, die nur auf Sachverhalte und niemals auf Sachen oder Eigenschaften als solche abzielen können. Sachverhalte allein können direkter Gegenstand von (objektiven) Urteilen und Überzeugungen, aber auch von den ihnen entsprechenden Urteils- und Überzeugungsakten sein. Ich kann nicht von einer Pinie überzeugt sein, sondern nur etwa davon, daß sie im Campo hinter der Villa San Francesco in Florenz steht,404 gefällt wurde, usf. Genauso wenig kann ich Dinge und Eigenschaften direkt im Urteil behaupten, sondern nur Sachverhalte, welche Dinge und ihre Eigenschaften betreffen. Schwieriger liegen die Dinge mit anderen Akten oder objektiven Gedankeninhalten wie Befehlen, die sich nur indirekt (über die Handlungen anderer Personen) auf die Verwirklichung von Sachverhalten beziehen, direkt hingegen Handlungen gebieten; ich kann nicht Sachverhalte befehlen, sondern nur Taten. Auch Fragen, von denen Daubert meinte, daß sie sich nur auf Sachverhalte beziehen können, sind vielleicht in Wirklichkeit nicht ausschließlich auf Sachverhalte bezogen, wie wir gleich sehen werden. 3.4.6.3. Beziehung zwischen Sachverhalt, Denkakten, Frageakten und intellektuellen Antworten
Aus den Überlegungen über Sachverhalte als Gegenstand von verschie404
Ich beziehe mich hier auf die schöne Villa in Florenz, das ehemalige Kloster San Francesco di Paola, das der große Bildhauer Adolf von Hildebrand erworben hat und in dem sein Sohn Dietrich und seine 5 Schwester aufwuchsen.
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denen objektiven Gedanken und den mit diesen verknüpften Akten ergibt sich unmittelbar eine Fülle von psychologisch und anthropologisch relevanten Beziehungen zwischen Sachverhalten und bestimmten Akten der Person. So ist es klar, daß nicht nur das objektive logische Gedanken- bzw. Bedeutungsgebilde des Urteils sich nur auf Sachverhalte beziehen kann, sondern ebenso der Urteilsakt, nicht nur viele Fragen, die sich in ganz anderer, die Antwort offen lassender Weise auf Sachverhalte beziehen als das Urteil, sondern auch der Akt des Fragens, nicht nur der Überzeugungsinhalt, sondern auch der Akt der Überzeugung, des Glaubens usf. Auch der Akt des „Glaubens, daß“ kann sich nur auf Sachverhalte beziehen, während der „Glaube an“ eine Person niemals Sachverhalten, sondern nur Personen gilt, auch wenn er natürlich Überzeugungen wie daß die Person, der wir vertrauen, vertrauenswürdig ist, voraussetzt, und notwendig den Glauben, daß das uns von der Person, an die wir glauben, Mitgeteilte wahr ist, hervorruft. Sachverhalte sind die exklusiven direkten Gegenstände von Überzeugungen und Behauptungen. Weder der Akt der Überzeugung und Behauptung noch die objektiven Überzeugungsinhalte und Urteile, die ihnen entsprechen, können direkt Sachen oder Eigenschaften zum Gegenstand haben. Ihr Gegenstand kann allein ein Sachverhalt sein. Diese Einsicht Reinachs kann man, wie bereits bemerkt, dadurch ergänzen, daß es auch eine ganze Reihe anderer Akte, sowie der ihnen entsprechenden objektiven Gedanken oder Bedeutungseinheiten, die sich auf sie beziehen, gibt, die sich gleichfalls nur auf Sachverhalte beziehen können. Reinach selbst nennt Erkenntnis (im Gegensatz zu Kenntnisnahme oder Wahrnehmung) einen Akt, der nur im Erfassen eines Sachverhalts bestehen kann.405 Im Deutschen ist der Unterschied zwischen Sach- und Sachverhaltserkenntnis klarer, wenn man an die überaktuellen Formen der Erkenntnis, an das Kennen und das Wissen, denkt. Hildebrand zeigt in Was ist Philosophie?,406 daß sich das Kennen ausschließlich auf ‚Sachen‘ im weitesten Sinne, das Wissen hingegen ausschließlich auf Sachverhalte beziehen kann. Dieser Unterschied findet auch im Französischen seine sprachliche Anwendung, wo das connaître sich nur auf Personen, Dinge 405 406
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, zit., [86 ff.], S. 117 ff. Vgl. What is Philosophy?; Was ist Philosophie?
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oder deren Eigenschaften („Sachen“ im weiteren Sinne) beziehen kann, während wir hinsichtlich von Sachverhalten sagen können “je sais, que....” Allerdings ist diese Unterscheidung rein sprachlich im Französischen weniger klar, da man auch sagen kann: “Je sais le français” (ich kann Französisch, oder kenne die französische Sprache) und sich daher das französische “savoir” sowohl auf Sachen als auch auf Sachverhalte beziehen kann. Im Englischen fällt jeder Unterschied weg, da das “knowing” sich sowohl auf Sachen als auch auf Sachverhalte bezieht, wobei allerdings, ähnlich dem Französischen, das “I know that” sich ausschließlich auf Sachverhalte, das “I know X” (ohne das “that”) sich auf Sachen oder deren Eigenschaften bezieht. Ausschließlich jene merkwürdige ontische Formation des Sachverhalts, „daß etwas ist oder nicht ist“, „daß es so ist oder nicht so ist“, kann der Gegenstand jenes eigentümlichen Erkennens, das die deutsche Sprache als „Wissen“ bezeichnet, und jenes eigentümlichen aktuellen Erkennens sein, das Reinach schlechthin mit dem Wort „Erkennen“ bezeichnet. Auch Fragen beziehen sich primär auf Sachverhalte, wenn dies auch hier nicht notwendig der Fall ist, etwa wenn wir fragen „Was ist sein Name?“ oder „Was ist das?“ wobei entweder der Name, der eine Person bezeichnet oder ein unmittelbar sinnlich erschautes Objekt oder geistig erschautes Wesen die Antwort sein können. Allerdings kann man erklären, daß diese Antworten nur verkürzte Redeweisen seien, die eigentlich ebenfalls Sachverhalte meinen, etwa „Sein Name ist Peter“ oder „Das Wesen dieser Sache ist das einer Rose“. Doch stimme ich dieser These aus den folgenden Gründen nicht zu, bzw. halte sie wenigstens für zweifelhaft. Die interessanteste phänomenologische Untersuchung des Wesens der Frage dürfte jene in Johannes Dauberts unveröffentlichtem Werk über die Frage sein.407 Johannes Daubert unterscheidet drei wesensverschiedene 407
Vgl. die exzellente Zusammenfassung seiner Philosophie der Frage in: Karl Schuhmann/Barry Smith, “Question: An Essay in Daubertian Phenomenology”, Philosophy and Phenomenological Research, 47 (1987), 353-384. In seiner Metaphysik hat auch Emmerich Coreth der Frage spezielle Aufmerksamkeit zugewandt und versucht, sie als den besten Anfang der Philosophie und Metaphysik zu erweisen wegen ihrer Offenheit im Vergleich zum Urteil (das Lotz als Ausgangspunkt der Metaphysik gewählt hatte). Emerich Coreth, Metaphysik (Innsbruck-Wien-München: Tyrolia Verlag, 31980). Innerhalb der analytischen
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Gegebenheiten, die man als Frage verstehen könnte, zu denen wir zwei weitere hinzufügen könnten: 1. den geistigen Akt des Fragens: das Fragen. 2. die Frage selbst als ein logisches Gebilde (die Frage selbst) 3. die Frage, die wesenhaft an jemanden adressiert ist, die Anfrage. Wir könnten, mit Dauberts weiterer Analyse, hinzufügen: 4. die Frage als linguistisches Gebilde, den Fragesatz. 5. den Gegenstand der Frage (Frageverhalt). Daubert meint, die Frage könne sich nur auf Sachverhalte beziehen, auch wenn diese als Gegenstand von Fragen (Frageverhalte) anders gemeint würden als wenn sie Gegenstand von Urteilen (Urteilsverhalte) oder von Erkenntnissen (Erkenntnisverhalte) seien. Die Frage ziele gerade darauf ab, daß der Sachverhalt, auf den sich die Frage beziehe, aus einem Frageverhalt zu einem Erkenntnisverhalt würde, indem die Frage die ihr entsprechende Antwort erhalte. Nun scheint es uns in der Tat evident zu sein, daß die Frage notwendig auf eine Antwort abzielt, aber diese kann, so meine ich, nicht ausschließlich in einem Urteil und einer Sachverhaltserkenntnis bestehen, sondern man kann auf Fragen wie „Was ist X?“ auch durch ein „komm und sieh!“ antworten, da man auf diese Fragen, „was ist rot?“, „was ist der Mensch?“ nicht nur durch eine Reihe von Urteilen (Antworten, die sich auf Sachverhalte beziehen) hinreichend antworten kann, sondern deren Beantwortung hauptsächlich einem direkteren Kennenlernen des Wesens einer Sache überlassen muß, sodaß man auf die Frage: „wer ist dieser Mensch?“ durch ein ecce homo, oder auf jene „Was ist die Farbe rot?“ durch ein ecce res antworten muß, da man einem Blinden zwar in Beantwortung seiner Frage Antworten in Urteilsform geben kann, in denen man Sachverhalte behauptet, aber keiner dieser Sachverhalte, sondern nur ein direktes Erblicken der betreffenden Farbe könnte die Frage des Philosophie haben A. Prior und M. Prior 1955 den Ausdruck der „erotetischen Logik“ geprägt, vom griechischen Wort für Frage, und Belnap sowie andere haben die einschlägigen Untersuchungen der Frage erweitert. Vgl. Nuel D. Belnap, Jr./Thomas B. Steel, Jr., Logik von Frage und Antwort. Aus dem Englischen übersetzt von Klaus Brockhaus (Braunschweig/Wiesbaden: Friedr, Vieweg & Sohn, 1976), Original: The Logic of Questions and Answers (New Haven and London: Yale University Press, 1976).
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Blinden, was rot sei, wirklich beantworten. In diesem Sinne erhellt zwar auch durch die Frage, die sich in den meisten Fällen auf Sachverhalte richtet und Antworten erwartet, die in Form von Urteilen über Sachverhalte gegeben werden können, das Wesen des Sachverhalts. In anderen Fällen jedoch, etwa in den „was ist Fragen“ oder in den „Wer ist das?“-Fragen, entsprechen zwar vielleicht allen Fragen auch Sachverhalte, weshalb wir auf die genannten Fragen auch mit Urteilen wie „Das ist eine Farbe“ oder „das ist Herr Müller“ oder „das heißt Beton“ antworten können, erstreckt sich aber der Horizont der Frage über reine Sachverhalte hinaus und verlangt letztlich eine Beantwortung nicht durch eine Sachverhaltserkenntnis, sondern durch eine Sinneswahrnehmung oder kategoriale Anschauung. Obwohl auch hier die Frage zunächst nach einem Sachverhalt fragt und in einem Urteil beantwortbar ist, so ist nicht klar, ob nicht dort, wo die Antwort auf eine Frage auf ein Ding verweist oder mit einem Hinzeigen auf ein Kunstwerk oder einen Menschen beantwortet wird, die Frage mehr als Sachverhalte zum Gegenstand haben und deshalb nur durch eine Anschauung von Sachen und deren Eigenschaften und nicht durch Urteile und Erkenntnisse über Sachverhalte beantwortet werden kann. Fragen wir noch genauer mit Johannes Daubert408, ob Fragen wie jener „Was tut John?“ wirklich ein eigentümlicher Frageverhalt entspricht, der sich durch seine Unbestimmtheit von dem Sachverhalt, wie er Gegenstand von Überzeugungen und Urteilen ist, unterscheidet, oder ob es nicht dieselben Sachverhalte sind, die Gegenstände der Frage und des Urteils oder anderer Gedanken sein können und auf die sich die verschiedenen Gedanken und Denkakte nur in verschiedenen Formen beziehen. Gewiß gilt für viele Fragen, daß ihr Gegenstand unbestimmten Charakter hat. Wenn wir etwa fragen „Was ist das?“, oder „Ist jemand angekommen?“, so fehlt dem Sachverhalt, der Objekt dieser Frage ist, der Charakter eines ganz bestimmten Sachverhalts, allerdings liegt dies nicht daran, daß der Sachverhalt Gegenstand einer Frage ist, sondern gilt auch für die entsprechenden Urteile, etwa für das Urteil: „Irgendjemand ist angekommen“. 408
Vgl. Kevin Mulligan /Karl Schuhmann / Barry Smith, “Question: An Essay in Daubertian Phenomenology”, in: Philosophy and Phenomenological Research, 47 (1987), 353-384.
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Vielleicht müssen wir hier noch dreierlei unterscheiden: (1) Einmal gibt es einfach die Unbestimmtheit des intendierten Sachverhalts, die beim Gegenstand vieler Fragen vorkommt, aber auch geradesogut in der Gegenständlichkeit anzutreffen ist, die von gleichermaßen unbestimmten Urteilen intendiert wird, wie wenn wir vielleicht auf die bestimmtere Frage „Ist Herr Maier angekommen?“, nicht antworten „Ja, Herr Maier ist angekommen“, sondern „Irgendjemand ist angekommen“. Wie das Beispiel zeigt, kann diese Unbestimmtheit dem Urteil genauso wie der Frage zukommen, und charakterisiert in unserem genannten Fall gerade das Urteil und nicht die Frage, die sich auf einen viel bestimmteren Sachverhalt bezieht als das erwähnte Urteil, wodurch dieses auch keine korrekte und jedenfalls keine hinreichende Antwort auf die gestellte Frage ist. (2) Sodann aber gibt ist eine besondere Form der Indeterminiertheit des Sachverhalts bzw. der Weise, in der derselbe in der Frage intendiert wird, die nur der Frage zukommt, die weder wie das Urteil oder der Befehl den Sachverhalt in einer im weitesten Sinne affirmierenden oder befehlsmäßig bestimmenden Weise meint, sondern als Frage offenläßt, ob er besteht. Man könnte also gerade diesen Sachverhalt, dessen Bestehen offengelassen wird, eben im Hinblick darauf Frageverhalt nennen. (3) Wieder anders geartet ist jene Unbestimmtheit, die nur im urteilsmäßigen Behaupten fehlt; diese letztere Unbestimmtheit findet sich nicht nur in der Frage, sondern in anderer Weise auch in einer Aufforderung oder einem Befehl. Als ich als vierjähriges Kind, nachdem meine Mutter mich gescholten hatte, weil ich einem im Haus arbeitenden Kindermädchen gesagt hatte, „Hilda, sei nicht so dumm“, zur Antwort gab: „Ich habe ja nichts Festes gesagt. Ich habe nicht gesagt: ‚Hilda, Du bist so dumm‘, sondern nur ‚Sei nicht so dumm!‘“, dann fehlt dieses ‚Feste’, das nur im urteilsmäßigen Behaupten präsent ist, ebensosehr dem Befehl (der nicht im zweiten spezifischen Sinne der Frage unbestimmt ist), wie der Frage. Daubert meint wohl die beiden letztgenannten Momente (2 und 3), wenn er von der Unbestimmtheit des Frageverhaltes spricht. Wohl beziehen sich auch eine Reihe von Akten, wie bestimmte Formen der Freude, des Wunsches, der Hoffnung etc. entweder ausschließlich auf Sachverhalte oder sie haben eine bestimmte besondere Form, wenn sie sich
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auf Sachverhalte beziehen – im Unterschied zur Weise, in der sie sich auf Sachen beziehen, wie bei Kennen und Wissen. Andere Akte hingegen wie etwa Liebe oder Verehrung, Bewunderung und dergleichen können sich unmöglich auf Sachverhalte beziehen. 3.4.6.4. Die verschiedene Eigenart jener Sachverhalte, die Akten des Wollens, Handelns und Hoffens entsprechen
Insbesondere Hildebrand hat nachgewiesen, daß das Wollen gilt dies nur vom Wollen im engeren Sinn allerdings so wie es der Handlung, nicht wie es der inneren freien Stellungnahme zugrundeliegt, die auch Personen und realen Gütern gelten kann409 immer auf die Realisierung noch nicht verwirklichter und durch mich verwirklichbarer (oder von mir für durch mich realisierbar gehaltener) Sachverhalte gerichtet sein muß. Dadurch unterscheidet sich die Willensantwort der wirklichen oder beabsichtigten Tat vom Wünschen, das sich auch auf unrealisierbare Sachverhalte beziehen kann (wie die als unerfüllbar gedachten Wünsche), oder vom „Hoffen, daß...“, das zwar auch auf die Realisierung noch nicht realisierter Sachverhalte abzielt, aber – im Gegensatz zum Wollen des Handelnden – solcher, die nicht durch mich realisierbar sind.410 3.4.6.5. Sachverhalt und Fühlen
Wie intellektuelle Akte, so können auch bestimmte Akte des Fühlens, wie ebenfalls Dietrich von Hildebrand nachgewiesen hat, nur auf Sachverhalte, andere niemals auf Sachverhalte gerichtet sein. So gilt etwa die „Freude, daß...“ Sachverhalten, die „Freude an etwas“ nicht; Liebe niemals, Trauer darüber, daß etwas geschehen ist, ebenso wie Gefühle der „Hoffnung, daß ...“ (im Unterschied zur „Hoffnung auf“ oder dem „sich 409
410
Vgl. dazu Josef Seifert, Was ist und was motiviert eine sittliche Handlung?, zit., und Dietrich von Hildebrand, Moralia. Nachgelassenes Werk. Im Unterschied zur „Hoffen, daß“ gibt es allerdings auch ein „Hoffen auf“ eine Person, das dieser und nicht einem Sachverhalt gilt, sowie ein „Sich Erhoffen von etwas“, etwa eines großen Glücks, das direkt diesem Glück selbst und nicht einem Sachverhalt gilt, wobei auch jene Hoffnung, die sich auf den Sachverhalt, etwa „daß mein Sohn in seiner Ehe glücklich werden möge“, bezieht, durch diesen Sachverhalt hindurch das Glück selbst, um dessen Existenz es geht, meint.
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etwas Erhoffen“), gelten Sachverhalten, usf.411 3.4.7. Alle dargelegten Argumente ersetzen nicht das direkte intellektuelle Erschauen des unreduzierbaren Datums der Sachverhalte
Der Sachverhalt als solcher kann und muß jedoch am Anfang und am Ende jeder philosophischen Analyse noch direkter als eine ganz besondere ontische Form begriffen werden als dies durch alle diese Argumente geschehen kann, die ja ihrerseits ebenfalls unmittelbare Einsichten voraussetzen. Der Sachverhalt, so haben wir schrittweise immer deutlicher erkannt, ist „das a-Sein oder das nicht-a-Sein eines B“: daß etwas ist oder daß es nicht ist, daß es so und nicht anders ist oder daß es nicht so ist. 4. Der Sachverhalt als Gegenstand des Urteils und dessen Wahrheit Der Sachverhalt wird Gegenstand von Urteilen dann, wenn sein Bestehen behauptet wird. Mit der Behauptung gelangen wir zum Wesen des Urteils. Dabei zeigt es sich, daß die Kopula des Urteils, wie Pfänder sieht, zwei sehr verschiedene Funktionen ausübt und, wie Hedwig ConradMartius mit recht hinzufügt, auch eine inhaltliche ontologische Bedeutung hat, die auf das reine Sachverhaltssein abzielt.412 Im Urteil ‚Liechtenstein ist nicht das größte Land der Erde‘ besitzt das Wörtchen ‚ist‘ einmal jene Funktion, die Pfänder als die Hinbeziehungsfunktion bezeichnet, sodann jene, die er Behauptungsfunktion nennt und die den gemeinten Sachverhalt als solchen setzt, sein Bestehen behauptet.413 Drittens liegt in der Kopula ein ganz allgemeiner ontologischer Sinn, den Pfänder nicht bemerkt, ja implizite leugnet, wenn er der Kopula ausschließlich zwei Funktionen
411
412 413
Vgl. Dietrich von Hildebrand, Die Idee der sittlichen Handlung in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, S. 126-251, sowie ders., Ethik, Kap. 17, und ders., Moralia. Nachgelassenes Werk. Gesammelte Werke Band 5, (Regensburg: Josef Habbel, 1980). Hedwig Conrad-Martius, Das Sein. Pfänder, a.a.O., S. 42 ff.
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zuspricht und von den ‚rein funktionierenden Begriffen‘ redet.414 Die Kopula sagt auch das reine Sachverhaltssein aus, und auch dies noch in verschiedener ontologischer Bedeutung je nachdem als wie real und seiend die behaupteten Sachverhalte gemeint sind. Das Urteil weist also dem Sachverhalt die ihm jeweils eigene Seinsweise zu, bevor es ihn behaupten kann. Wie Conrad-Martius feststellt, handelt es sich hier um das reine Sachverhaltssein, das a-Sein eines B, oder das Nicht-a-Sein eines B: ‚daß etwas ist‘ oder ‚so ist‘ oder daß es nicht ist, oder was immer sonst noch für Sachverhalte denkbar sein mögen. Und, wie wir schon hinzugefügt haben: auch dieses reine Sachverhaltssein ist kein starrer parmenideischer ‚Seinsklotz‘, der in einem reinen ‚Entweder-oder‘ gefaßt werden könnte, sondern vielmehr geht es gemäß den im ersten Kapiteln unterschiedenen Seinsmodi um jeweils ganz verschiedene Seinsformen der diesen entsprechenden Sachverhalte. Von diesen Momenten ist für das Verständnis der Wahrheit des Urteils (neben dem ontologischen Sinn der Kopula als den Sachverhalt – das Sachverhaltssein – meinend, der auch in der Frage besteht, aber im Urteil eine neue grundlegende Bedeutung gewinnt) vor allem die Behauptungsfunktion, die den Sachverhalt behauptend setzt, am entscheidendsten. In ihr liegt die spezifische Differenz zwischen dem Urteil und allen anderen Gedanken und objektiven Bedeutungseinheiten. Das Urteil setzt einen Sachverhalt, nicht so als ob es ihn schüfe oder hervorbrächte, sondern in der Form ‚behauptender Setzung‘. Die scharfe Abgrenzung der behauptenden Setzung von jeder schöpferischen Setzung gehört zu den schönsten Stellen der Logik Pfänders: Im Urteil dagegen wird der Anspruch gemacht, in der Hinordnung der Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand zusammenzutreffen mit einer Forderung des Gegenstandes selbst. Das Urteil ist eben kein Machtspruch über den Gegenstand; es ist seinem eigensten Wesen zuwider, dem Subjektsgegenstand irgendeinen Zwang anzutun, ihm irgendetwas zuzuordnen, was er nicht von sich aus fordert. Das Urteil, das zunächst völlig frei ist in der Wahl seines Subjektsgegenstandes, das also von sich aus seinen Subjektsgegenstand selbstherrlich bestimmt, will dann doch der sich völlig anschmiegende Interpret des gewählten Gegenstandes sein und 414
Pfänder, ebd., S. 42-44, 156-162.
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sich ihm in jeder Hinsicht unterwerfen. Jede diktatorische Geste, jede leiseste Bedrückung des Gegenstandes durch das Urteil ist eine Sünde wider den Geist des Urteils und verunreinigt das intellektuelle Gewissen. Man muß daher aus dem Sinn des Behauptungsmomentes jeden Anflug von eigensinniger Entgegensetzung entfernt halten... Das Urteil meint irgendwelche Gegenstände, die es sich unterwirft und über die es, eine Bestimmtheit hinzusetzend oder abspreizend, in Anschmiegung an das Selbstverhalten der Gegenstände, eine Behauptung vollzieht.415 ...es [das Urteil] muß sich ihm absolut sklavenhaft, mit der größten Behutsamkeit anschmiegen. Es liegt im Wesen des Urteils, seine Selbstherrlichkeit gegenüber der Gegenstandswelt von sich aus frei und absolut aufzugeben und in diesem Sinne absolut objektiv sein zu wollen.416
Das Urteil besagt, meint, behauptet, daß ein Sachverhalt besteht. In seiner behauptenden Setzung – und das leuchtet aus deren Wesen ein – erhebt das Urteil notwendig den Anspruch, mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammenzutreffen und infolgedessen selbst wahr zu sein. Dieser notwendig mit dem Urteil als Behauptung verknüpfte Wahrheitsanspruch kann in einem Wahrheitsurteil entfaltet werden. „S ist P“ und „dieses Urteil ‚S ist P‘ ist wahr“. Freilich kann dieser Wahrheitsanspruch, der unzertrennlich mit dem Wesen des Urteils verknüpft ist, erfüllt sein, das Urteil kann wirklich wahr sein, oder unerfüllt sein, das Urteil kann in der Tat falsch sein. Und die Wahrheit des Urteils verlangt einerseits zu ihrem Verstehen das Verstehen der Eigenart der behauptenden Funktion des Urteils, und andererseits das Verstehen der eigentümlichen Seinsweise und Autonomie des Sachverhalts, dessen Bestehen die Kopula behauptet und in der Übereinstimmung mit dem das Urteil wahr ist.417 So vorläufig diese Bestimmung der Wahrheit auch ist, Wahrheit liegt in jenem Adäquationsverhältnis oder kommt einem Urteil kraft jenes Adäquationsverhältnisses zu, das darin besteht, daß ein Urteil in seiner Setzung eines von ihm selbst unabhängigen und als solchen intendierten Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammentrifft, daß sich
415 416 417
Ebd., S. 43 f. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. Pfänder, ebd., S. 69-82, wo auch die falschen Auffassungen der Wahrheit des Urteils als Für-Wahr-Halten (Konsens) usf. kritisiert werden.
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also die Sachen wirklich so verhalten, wie das Urteil dies behauptet.418 Wie wir im zweiten Band sehen werden, wurde dieser klassische Wahrheitsbegriff von vielen Philosophen direkt und explizit in Frage gestellt, von anderen nur implizite, so etwa von Sir Karl Popper, Alfred Tarski, und Immanuel Kant.419 Eine Reihe der Kapitel des zweiten Bandes des vorliegenden Buches werden die Adäquationstheorie der Wahrheit gegen explizite und implizite Einwände verteidigen, sowie unhaltbare oder unzureichende Formen der Verteidigung einer Korrespondenztheorie der Wahrheit der Kritik unterwerfen – aber im Unterschied zu vielen anderen derartigen Versuchen, nicht auf dem Boden einer fixierten schematischen Theorie, sondern auf jenem einer Methode des phänomenologischen Realismus, welche die Urgegebenheit der Urteilswahrheit und der besonderen Form von ‚Entsprechung‘ herauszuarbeiten sucht, die in dieser liegt, und sie gegen die verschiedensten verkürzten und unrichtigen Wahrheitstheorien und Kritiken verteidigt.420 418
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Zu nicht phänomenologischen modernen Verteidigungen der Adäquations- bzw. Korrespondenztheorie der Wahrheit vgl. Philip Kitcher, “On the Explanatory Role of Correspondence Truth”, Philosophy and Phenomenological Research, 64 (2), March 2002, S. 346-364. Zwar hat J.M. Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental: Teoría de la Verdad, gezeigt, daß Kant explizit die Adäquationstheorie der Wahrheit bejaht hat. Vgl. etwa Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 82, 83 und 85. Vgl. auch Harold Langsam, “Kant’s Compatibilism and His Two Conceptions of Truth”, Pacific Philosophical Quarterly, 81(2) June 2000, S. 164-188. Der Autor verteidigt die Auffassung, daß, wie wir schon in früheren Kapiteln argumentiert haben, Kant letztlich von seiner Erkenntnistheorie her zu einer Art der Kohärenztheorie der Wahrheit gelangt. Vgl. dazu auch Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, II. Teil. Vgl. auch die Kapitel über Tarskis und Poppers Wahrheitstheorien in Der Streit um die Wahrheit. Vgl. dazu Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, S. 531-550, sowie Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, zit., Josef Seifert, Back to Things in Themselves, zit. Zu anderen Formen der Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit und einer zeitgenössischen Disputation zwischen Verteidigern und Kritikern der Korrespondenztheorie der Wahrheit vgl. Richard Schantz (Hg.), What Is Truth?, (Berlin: de Gruyter, 2002). Ein Teil der dort vereinten Aufsätze kritisieren die Idee, die wir als evidente Grundlage jeder Philosophie der Wahrheit betrachten: daß nämlich Wahrheit ein Wesen besitzt und einen Inhalt hat, und deshalb nicht, wie die deflatorischen Wahrheitstheorien, auf die wir zurückkommen werden, als
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Im so differenzierten Sinn können wir mit der scholastischen Formel für die Adäquationstheorie sagen, daß die Wahrheit die Angemessenheit zwischen Intellekt und Wirklichkeit ist, veritas est adaequatio intellectus et rei.421 Diese Definition kann im Rahmen einer Diskussion der Erkenntniswahrheit auch als Angleichung (Adäquation) des Geistes an die Wirklichkeit, intellectus ad rem, gefaßt werden, wie wir gesehen haben. Die Erkenntniswahrheit ist eine Adäquation, eine Entsprechung zwischen Intellekt und Sache, aber das kann nicht der logische Sinn der Wahrheit des Urteils sein. Diese Urteilswahrheit liegt vielmehr in einer Angemessenheit und Angleichung bzw. in einem Zusammentreffen der setzenden Behauptung des objektiven Urteilsgebildes mit dem Selbstverhalten und wirklichen
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eigenständiger Begriff eliminiert werden darf, ja nicht einmal kann, weil Wahrheit eine jener unleugbaren Urgegebenheiten ist, die man unmöglich leugnen kann, ohne sie schon wieder vorauszusetzen. Andere Beitragende verteidigen die These, daß Wahrheit ein Wesen besitzt und daß dieses in einer Art der Korrespondenz besteht. Vgl. zu einer eher minimalistischen Verteidigung der Korrespondenztheorie etwa William P. Alston, “Truth: Concept and Property”, ebd., S. 11-26. Vgl. auch David M. Armstrong, “Truths and Truthmakers” in: What Is Truth?, ebd., S. 27-37. Zum Thema der ‚Wahrmacher‘ in dem objektiven Sinne irgendwelcher objektiver Faktoren in der Welt, die bestehen müssen, damit ein Urteil wahr sein könne. Vgl. auch den Beitrag des Herausgebers Richard Schantz, “Truth, Meaning, and Reference”, in What Is Truth?, Richard Schantz (Hg.), S. 79-99, sowie Michael Devitt, “The Metaphysics of Deflationary Truth”, ebd., S. 60-78. Vgl. auch Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” Philosophy and Phenomenological Research, (1984), 44, 287-322. Interessant ist in diesem Zusammenhang einer Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit auch Alejandro Llano, “‘Being as True’ According to Aquinas”, Acta Philosophica, 4 (1) 1995, 73-82. Dieser argumentiert, daß gerade der ontologische Wahrheitsbegriff bei Thomas von Aquin erst das Phänomen der Wahrheit als Korrespondenz erklären kann. Vgl. auch die Verteidigung der These, daß bei Descartes die Korrepondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit in engem Zusammenhang mit seinen Lehren der klaren und distinkten Ideen und der Evidenz stehen in Georges J. D., Moyal, “Les structures de la vérité chez Descartes”, Dialogue, (1987); 26, 465-490. Vgl. Günther Pöltner, “Veritas est adaequatio intellectus et rei. Der Gesprachsbeitrag des Thomas von Aquin zum Problem der Übereinstimmung”, Zeitschrift für philosophische Forschung, (1983); 37: 563-576.
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Bestehen des in ihm behaupteten Sachverhalts. Wenn also auch die Wahrheit des Urteils als adaequatio intellectus ad rem bezeichnet werden darf und soll, so heißt hier intellectus nicht der Urteilsakt, sondern das objektive Urteilsgebilde, und res nicht die Sache, sondern der Sachverhalt. Ist dann die These der Scholastiker, die Wahrheit des Urteils sei dessen Übereinstimmung mit der Sache, mit der Wirklichkeit (der res) falsch? Diese Formulierung des Wesens der Urteilswahrheit, die übrigens Thomas von Aquin schon als Übereinstimmung mit der dispositio rei (ein Ausdruck, der vielleicht bereits den Sachverhaltsbegriff zum Ausdruck brachte),422 nicht nur mit der Sache als solcher, deutete, ist nicht falsch, auch wenn wir die res primär nicht als Sache, sondern als Sachverhalt auffassen müssen.423 Aber dadurch, daß der intellectus, was hier als Urteil übersetzt werden muß, mit dem Sachverhalt, der allein unmittelbarer Gegenstand des Urteils ist, übereinstimmt, stimmt das Urteil auch indirekt überein mit der Natur der res selbst im buchstäblichen Verständnis dieses Ausdrucks, d.h. mit den Sachen selbst, von denen das Urteil handelt und mit denen es eine enge Einheit bildet, wie wir gesehen haben.424 Je nach der Art des Sachverhalts, z.B. eines Sachverhalts, der in der Welt eines Romans vorkommt, über den wir urteilen können, oder eines Sachverhalts der wirklichen Welt, wird freilich noch einmal der Sinn dieser dem Urteil gegenüber vorliegenden Autonomie des Bestehens eines 422
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Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, [23493] Contra Gentiles, lib. 1 cap. 1 n. 5. Vgl. auch: “dispositio rei est causa veritatis in opinione et oratione” (In Metaphysicam, IX, 11, n. 1897). Während der Ausdruck “dispositio rei” hier ohne Gewalttätigkeit als Sachverhalt übersetzt werden kann, bedeutet er oft „Zustand der Sache“ oder auch “Disposition” und kann nicht als Sachverhalt übersetzt werden. Vgl. Auch Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei Thomas von Aquin. Vgl. auch Barry Smith, “Logic and the Sachverhalt,” S. 52-69. Pfänder, ebd., S. 79-82, vor allem S. 80: Die richtige Ausdeutung des Sinnes der Behauptung, ein Urteil sei wahr, können wir gewinnen, wenn wir von der alten Bestimmung ausgehen, die Wahrheit sei die ‘adaequatio intellectus et rei’, wenn wir unter dem ‘intellectus’ hier das Urteil und unter der ‘res’ den von dem Urteil betroffenen Gegenstand verstehen.
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Darin liegt wohl auch eine Intention von Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” Philosophy and Phenomenological Research (1984), 44, 287322.
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Sachverhalts entscheidend modifiziert sein, worauf weder Conrad-Martius noch Pfänder hinreichend hingewiesen haben, wobei auch hier noch einmal der fiktive Sachverhalt als Teil der im Roman beschriebenen und von ihm oft konstituierten gegenständlichen Sphäre und die tatsächlich und ganz autonom bestehenden Sachverhalte über fiktive Sachverhalte unterschieden werden müssen. Der Sachverhalt, daß Shakespeares Figur Hamlet nicht der Mohr von Venedig ist, ist nicht selber ein fiktiver Sachverhalt, sondern besteht nur in Bezug auf eine Fiktion. Ein Wort noch zu dem eigentümlichen Sinn von ‚Entsprechung‘, die hier gemeint wird. Es geht selbstverständlich nicht um jene Entsprechung, die bei allen ähnlichen Wesen vorliegt, wo die Eigenschaften eines Dinges oder eines Menschen jenen eines andern genau entsprechen können. Es geht vielmehr um eine solche Entsprechung, die nur vom Wesen des urteilenden Gedankengebildes her begriffen werden kann. Auch hat etwa Roman Ingarden im Literarischen Kunstwerk425 gezeigt, daß sich die Entsprechung zwischen einem historischen Roman und den in ihm befindlichen Quasi-Urteilen und Gegenständen und Sachverhalten der wirklichen Welt ganz von der Entsprechung zwischen Urteil und behauptetem Sachverhalt unterscheidet. Es liegt hier etwas wie eine ‚matching intention‘ (eine Intention der Übereinstimmung mit historischen Tatsachen und Persönlichkeiten), nicht eine Serie von Behauptungen über historische Fakten vor. Schwieriger ist es, die Frage zu beantworten, ob die adaequatio, in welcher die Urteilswahrheit besteht, das Urteil selbst in seinem Verhältnis zum Sachverhalt, oder aber das Verhältnis zwischen dem behaupteten und dem wirklichen Sachverhalt kennzeichnet. Ich meine, es geht aus verschiedenen Gründen um eine Entsprechung des Urteilsgebildes bzw. der in ihm liegenden Behauptung selbst und des ihm transzendenten Sachverhalts. Deshalb ist der Begriff der ‚Korrespondenz‘ viel zu oberflächlich, um der Eigenart der logischen Wahrheit des Urteils gerecht zu werden. Unsere knappe Kennzeichnung der Urteilswahrheit in ihrem Verhältnis zum Sachverhalt soll daher im zweiten Band des vorliegenden Werkes in Auseinandersetzung mit den verschiedensten Wahrheitstheorien erhärtet und vertieft werden. 425
R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk.
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5. Die sogenannte Modalität des Urteils und die durch verschiedene Urteilsmodalitäten bedingten Abwandlungen des Wahrheitsanspruchs von Urteilen und deren Auswirkungen auf die Logik der Schlüsse Jedes Urteil behauptet einen Sachverhalt, bzw. daß dieser besteht. Und mit dieser seiner behauptenden Natur ist untrennbar sein Wahrheitsanspruch verknüpft, der in nichts anderem besteht, als daß das Urteil für sich selber den Anspruch erhebt, mit dem in ihm behaupteten, aber unabhängig von ihm bestehenden Sachverhalt zusammenzutreffen, d.h. jedes Urteil erhebt nicht nur den der Behauptung immanenten Anspruch, daß der behauptete Sachverhalt besteht, sondern den weiteren, daß das Urteil selber in seiner urteilsmäßigen Setzung dem entspricht, was tatsächlich der Fall ist. Damit urteilt jedes Urteil „S ist P“ gleichsam reflexiv über sich selber, schließt also notwendig ein Urteil über seine eigene Wahrheit ein, das wir als Wahrheitsurteil bezeichnen können: „’S ist P‘ ist wahr“. Es ist völlig unmöglich zu urteilen, ohne daß das Urteil einen Wahrheitsanspruch erhöbe. Dennoch wird der jeweilige Wahrheitsanspruch eines Urteils wesentlich durch dessen Modalität modifiziert, sosehr daß das problematische Urteil in seiner Einschränkung des logischen Gewichts der Behauptungsfunktion die Meinung Sir Karl Poppers, der Wahrheitsanspruch eines Urteils sei auf die Feststellung reduzierbar, das gegebene Urteil sei bisher noch nicht falsifiziert worden, plausibel erscheinen läßt. Daher ist es im Rahmen einer Untersuchung über die Urteilswahrheit unerläßlich, auch das Problem der Modalitäten von Urteilen und ihrer jeweiligen Wahrheitsansprüche zu untersuchen, und, ohne deren Beziehungen unberücksichtigt zu lassen, insbesondere logische von ontischen, epistemischen und psychologischen Modalitäten zu unterscheiden, um zahlreiche die logische Diskussion belastende Verwirrungen zu beseitigen.
5.1. Logische gegenüber ontischen Modalitäten: ihre Verschiedenheit und einige grundlegende Beziehungen zwischen ihnen
Im Rahmen unserer Diskussion der Abwandlung des Wahrheitsanspruchs von Urteilen gemäß ihrer Modalität möchten wir zunächst mit
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den beiden eminenten Phänomenologen Alexander Pfänder426 und Oskar Becker427 eine klare Unterscheidung zwischen logischen und ontischen Modalitäten durchführen und deren Analyse in einigen Aspekten erweitern. Um diesen Unterschied recht zu verstehen, erinnern wir uns zunächst an unsere Scheidung dreier verschiedener Bedeutungs- bzw. Funktionsmomente der Kopula. Wir unterschieden die ontologische Bedeutung der Kopula ‚ist‘, die sich auf das ‚reine Sachverhaltssein‘, und – kraft der Behauptungsfunktion des Urteils – auf dessen tatsächliches Bestehen, bezieht und eine gewisse Autonomie (die je nach Seinsmodus sehr verschiedener Art sein kann) des behaupteten Sachverhalts gegenüber dem Urteil aussagt, von den beiden „reinen Funktionen“ der Kopula: Kraft der Hinbeziehungsfunktion wird der Prädikatsbegriff auf den Subjektbegriff und, ja primär, durch den Prädikatsbegriff hindurch das Prädikat selbst auf den durch den Subjektbegriff gemeinten Gegenstand bezogen. Neben dieser Hinbeziehungsfunktion, die auch in einer Frage, einem Befehl oder einem Wunsch besteht, übt das Urteil – und zwar stellt gerade dies dessen eigentlichen Wesenskern dar – auch eine Behauptungsfunktion aus, d.h. es behauptet das Bestehen des in ihm gemeinten Sachverhalts. Nicht die Hinbeziehungsfunktion des Urteils, die durch die sogenannte Qualität des Urteils modifiziert wird und auch in der Frage oder dem Wunsch in positiver oder negativer Form besteht, wird durch die Modalität des Urteils abgewandelt. Vielmehr sehen wir ein, daß die rein logischen Modalitäten des Urteils dessen Behauptungsfunktion betreffen und zwar Modifikationen ihres „Behauptungsschlages“ sind.428 426 427
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A.a.O., S. 92 ff. Oskar Becker, „Zur Logik der Modalitäten“, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 11, hrsg. v. Edmund Husserl u.a. (1930), S. 497570. Wir lassen hier die Frage offen, in welcher Weise analoge Modifikationen auch in der Frage vorkommen und ob in ihr die Fragefunktion in ähnlicher Weise modifiziert wird wie die Urteils- oder Behauptungsfunktion im Urteil. Kann ich etwa eine „problematische“ gegenüber einer „assertorischen“ oder einer „nichtproblematischen Frage“ stellen, wie: „Ist es vielleicht so, daß Mr. Smith angekommen ist? Wir sehen hier auch von der Frage ob, ob die für andere Gedanken charakteristischen Funktionen wie je, die zwischen Wünschen, Befehlen usf. unterscheiden, ebenfalls Modalitäten unterliegen. Ist etwa so etwas wir ein apodiktischer, unbedingter oder strenger Befehl gegenüber einem einfachen oder sogar
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Im assertorischen Urteil finden wir das normale, uneingeschränkte logische Gewicht, wie es sich aus dem Wesen des Urteils als solchen ergibt, solange die Behauptungsfunktion nicht modifiziert wird. Wir können deshalb die Modalität des assertorischen Urteils die ‚natürliche‘, oder die ‚normale‘ Modalität desselben nennen, die es besitzt, solange keine besondere Verstärkung oder Abschwächung der Behauptungsfunktion stattfindet. Im problematischen Urteil hingegen liegt eine Abschwächung der Stärke des Behauptungsgewichts vor, während dieses im apodiktischen Urteil gesteigert wird.429 Damit unterscheiden sich die Modalitäten des Urteils, die seine Behauptungsfunktion betreffen, deutlich von den ontischen Modalitäten, wie sie zum Beispiel William Ockham in der Summa Logica430 als Notwendigkeit, Unmöglichkeit, Kontingenz (Zufälligkeit) und Möglichkeit bestimmt, wobei er allerdings diese ontischen Modalitäten nicht von den logischen des Urteils selbst oder von den epistemischen Modalitäten, ja nicht einmal von ganz andersartigen Modalitäten und Arten von objektiven Gedanken (Bedeutungseinheiten) abgrenzt, wie sie sich in den QuasiUrteilen eines Romans finden; ja sogar die rein sprachlichen modalen Ausdrücke werden nicht scharf von den logischen Modalitäten unterschieden. Bevor wir aber auf Ockhams und andere Positionen zur Modalität kritisch eingehen können, müssen wir uns zuerst den sachlichen Unter-
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einem problematisierten zu unterscheiden, ähnlich wie wir spätestens seit Kant wissen, daß Befehle ihrer Relation nach unterschieden werden können, indem sich kategorische von hypothetischen Befehlen unterscheiden. Wir könnten freilich neben diesen klassischen und direkten logischen Modalitäten auch abgeleitete wie die Notwendigkeit oder Kontingenz (Zufälligkeit) der Wahrheit des logischen Urteils unterscheiden. Doch ist die letztere keine ursprünglich logische Modalität, sondern hängt entweder – wie im analytischen Urteil – von der Notwendigkeit der ersten ontologischen und logischen Prinzipien ab (ist also eine Art von ontischer Wesensnotwendigkeit logischer Sachverhalte und Wesenheiten, die ihrerseits von den obersten ontologischen Grundsätzen abhängt), oder aber sie ist von der Wesensnotwendigkeit oder Kontingenz der im Urteil geurteilten Sachverhalte bedingt, also eine nur aus der Notwendigkeit der Sache abgeleitete Notwendigkeit der Wahrheit des Urteils, und damit keine dem Urteil ursprünglich zugehörige Notwendigkeit. Dasselbe gilt von der Modalität der Kontingenz der Wahrheit eines Urteils. II P., K. 1.
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scheidungen selbst zuwenden. Von den logischen Modalitäten unterscheiden sich ontische Modalitäten deutlich, welche Sachverhalte oder auch Wesenheiten, jedenfalls aber nicht Urteile qua spezifisch logische Gebilde kennzeichnen. Sie sind keineswegs eine Modifizierung der „rein funktionierenden“ oder anderer Begriffe innerhalb des Urteils. In keiner Weise vermindern oder erhöhen sie den Behauptungsschlag des Urteils. Vielmehr bestehen sie völlig unabhängig von Urteilen im Sein, es sei denn, man spräche nicht von Urteilen im Sinne der konkreten logischen Urteilsinhalte, qua Bedeutungseinheiten, sondern gleichsam vom ontischen Wesen von Urteilen, das natürlich auch ontische Wesensnotwendigkeiten aufweist und notwendige Sachverhalte begründet, aber nicht indem es sie behauptet, sondern indem es ist was es ist, nämlich ein Urteil. Diese ontischen Notwendigkeiten oder sonstigen Modalitäten kommen dem Urteil nicht in seiner Urteilsfunktion, nicht dem Urteil qua Urteil, sondern dem Wesen des Urteils, als seine ontische Eigenschaft, zu und bilden einen winzigen Ausschnitt aus dem gesamten immensen Reich ontischer Modalitäten, ebenso wie das Urteil nur eines unter ungezählten anderen Dingen ist, die ein Wesen haben und Sachverhalte oder Wesensgesetze einer bestimmten Modalität begründen. Wenn Modalitäten also nicht ontische Eigenschaften des Urteils selbst sind, wie die Wesensnotwendigkeit der Eigenschaften des Urteils und seines Wahrheitsanspruchs, tauchen ontische Modalitäten, wie die Notwendigkeit des Sachverhalts, daß Farbe Ausdehnung voraussetzt, in Relation zum Urteil nur als Gegenstand von Behauptungen auf und sind nicht Eigenschaften von Urteilen. Im Gegensatz dazu befinden sich die logischen Modalitäten des Urteils nur innerhalb der Bedeutungseinheit desselben, als Modifikation seiner Behauptungsfunktion, und sind ganz unabhängig von den Modalitäten der entsprechenden Sachverhalte. Die ontischen Modalitäten hingegen kommen gerade diesen Sachen431 und Sachverhalten selber zu, die auf der Gegenstandsseite von Urteilen liegen.432 Die Verschiedenheit beider ergibt sich ferner deutlich, wenn wir das betrachten, was man die Indifferenz der ontischen gegenüber den logischen 431
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In diesem Zusammenhang interessieren uns nicht Modalitäten von Sachen, die wir – im Gegensatz zu Adolf Reinach – für möglich halten. A. Pfänder, Logik, a.a.O., S. 92 ff.
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Modalitäten nennen kann. Denselben Sachverhalt, etwa daß England im Qualifikationsspiel in Vaduz am 29. März 2003 Liechtenstein 2:0 besiegt hat, kann z.B. ein Liechtensteiner, der seinen Augen nicht trauen will, in einem problematischen, ein Österreicher in einem assertorischen und ein Engländer in einem apodiktischen Urteil behaupten. Der Sachverhalt selber, der Gegenstand dieser drei Urteile verschiedener Modalität ist, hat ein und dieselbe ontische Modalität, die der Kontingenz und Nichtnotwendigkeit. Es hätte das Spiel, in dem es einige Torchancen für Liechtenstein gab, auch umgekehrt ausgehen können. Man muß demzufolge scharf die logische Modalität der Urteile von der ontischen, in unserem Falle der Kontingenz, des behaupteten Sachverhaltes unterscheiden. Umgekehrt kann auch ein Sachverhalt, dem ontische Notwendigkeit zukommt, in Urteilen aller Modalitäten inklusive problematischen Ureilen ausgesagt werden. Jemand kann etwa sagen: „Vielleicht ist es notwendig, daß jede Person Freiheit besitzt, ich kann es aber nicht fest behaupten.“ Daß sich logische Modalitäten radikal von allen ontischen Modalitäten unterscheiden, geht demnach ganz eindeutig daraus hervor, daß dieselbe ontische Modalität (z.B. die Notwendigkeit notwendiger Wesenssachverhalte) Gegenstand von Urteilen aller dreier Modalitäten werden kann. Dieser Unterschied ergibt sich auch aus der Differenzierung der ontologischen Modalitäten, die in den logischen Modalitäten keine Entsprechung finden, indem es nicht so viele Arten apodiktischer Urteile wie Arten ontischer Notwendigkeit gibt:433 Es bestehen nämlich ganz verschiedene Arten ‚derselben‘ ontischen Modalität, z.B. der Notwendigkeit. Dies wird 433
Die folgenden Differenzierungen ontischer Modalitäten und deren Fundierung in verschiedenen Wesenheiten scheinen nämlich im Gegensatz zu der prinzipiell immer gleichen allgemeinen Eigenart jeder der drei logischen Modalitäten zu stehen, die sich nicht durch ihre Natur, sondern höchstens durch ihren Grad unterscheiden können. Doch angesichts der Tatsache, daß es wohl auch viel mehr das logische Gewicht der Behauptung des Urteils differenzierende rein logische Modalitäten gibt als die drei traditionellerweise anerkannten, und daß man dieser vergleichenden Untersuchung mehr Raum einräumen müßte als uns in diesem Werk zur Verfügung steht, betrachte ich dieses weitere mögliche Argument für die Verschiedenheit zwischen logischen und ontischen Modalitäten an dieser Stelle nicht näher.
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klar, wenn man ganz verschiedene Typen von Universalien und von Soseinseinheiten und die jeweils in ihnen gründenden Notwendigkeiten (z.B. empirisch-kontingente Naturnotwendigkeiten gegenüber absoluten Wesensnotwendigkeiten) betrachtet.434 Auch dadurch bestätigt sich die Verschiedenheit ontischer und logischer Modalitäten. Beide Typen der Modalität zu verwechseln hat – wie Pfänder bemerkt – die weittragendsten philosophischen Konsequenzen und schließt irrige Übergänge zwischen logischen und ontischen Modalitäten ein, wie wir sie etwa bei Kant finden, der ontische Kategorien und Notwendigkeiten aus den Modalitäten und den anderen drei Differenzierungen von Urteilen (der Qualität, Quantität und Relation nach) ableiten will, ein als hoffnungslos erkanntes Unterfangen, sobald man den Unterschied zwischen ontischen und logischen Modalitäten, sowie den übrigen Differenzierungen, des Urteils einsieht. Freilich stehen auch Sachverhalte in logischen Implikationsverhältnissen zu einander und gibt es eine Logik der Sachverhalte, ja vielleicht betreffen sogar die meisten logischen Zusammenhänge Sachverhalte, wie Adolf Reinach meint, sodaß wir eine enge Verbindung zwischen Logik und formaler Ontologie feststellen können, ja, darüber hinausgehend, von einer Onto-Logik sprechen können, die nicht das Verhältnis von Urteilen zu Sachverhalten und zu einander, sondern die gegenseitigen logischen Implikations- und Garantieverhältnisse zwischen den solchen Urteilen entsprechenden Sachverhalten selbst behandelt. Logik in diesem Sinne wäre, wie eine Andeutung Reinachs nahelegt, eine reine Lehre von Implikations- und Ausschließungsbeziehungen zwischen Sachverhalten, eine reine Lehre von Sachverhalten und ihren Relationen des einander Einschließens oder Ausschließens, und zumindest ein Teil der modalen Logik wäre dann eine Lehre über das kontingente, mögliche oder 434
Zu den Bonaventuras einschlägigen Unterscheidungen von vier Arten ontologischer Notwendigkeit gegenüber ontischer Unmöglichkeit und den vielen Arten von Notwendigkeit vgl. Josef Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit“, Franziskanische Studien 59 (1977), 38-52, sowie ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism, sowie Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. 4.
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notwendige einander Einschließen oder Ausschließen von Sachverhalten. Daß sich aber die Logik nicht auf eine derartige „Logik der Sachverhalte“ reduzieren läßt, wird aus einer Unterscheidung verschiedener Arten von Modalitäten deutlich hervorgehen. Es kann freilich auch eine Logik von Urteilen geben, die über verschiedene ontische Modalitäten urteilen, so daß wir auch in diesem Sinne eine enge Verbindung zwischen Logik und Formalontologie feststellen; ja vielleicht ist diese sogar der bedeutungsvollere Teil modaler Logik, da sich aus der bloßen verschiedenen Stärke des Behauptungsschlages relativ wenige Konsequenzen für die Logik der Schlüsse ergeben: etwa die Regel unmittelbarer Schlüsse, daß aus der Wahrheit eines positiven oder negativen Urteils gleich welcher logischer Modalität auch die Wahrheit eines inhaltlich gleichen Urteils der beiden anderen Modalitäten folgt; doch zugleich das Prinzip, daß die Konklusion eines mittelbaren Schlusses oder Beweises niemals eine stärkere (höhere) logische Modalität besitzen darf als die von der Modalität her schwächste Prämisse oder daß in einem korrekten Schluß die Konklusion aus zwei problematischen Urteilen in noch höherem Grad problematisch sein muß als die problematischen Prämissen.435 (Dies sind Gesetze, die nur für die rein logischen Modalitäten gelten, nicht für die ontischen, wo, wie in den sogenannten Kontingenzbeweisen Gottes, aus einem wahren Urteil über einen kontingenten Sachverhalt, zusammen mit einem wahren Urteil über einen notwendigen Sachverhalt, eine Konklusion folgen kann, welche einen notwendigen Sachverhalt behauptet). Die Logik der formalen Verhältnisse zwischen modal verschiedenen Sachverhalten ist ein viel reicheres und komplizierteres Gebiet als das Gegenstandsgebiet einer Logik der rein logischen Modalitäten. Wir können nicht nur von einer Onto-Logik sprechen, die das Verhältnis von Sachverhalten zu einander, deren Modalitäten sowie deren gegenseitige logische Implikations- und Garantieverhältnisse betrifft, sondern auch von einer Logik der Urteile und der logischen Schlüsse aus den in Prämissen behaupteten Sachverhalten einer gewissen ontischen Modalität und daraus 435
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, I, Kap. 7; Kap. 9, 3; Teil IV, A, Kap. 3; Kap. 6. Pfänder formuliert in den sehr kurzen einschlägigen Kapiteln einige dieser Gesetze, widerspricht aber in überraschender Weise einem dieser Gesetze, indem er behauptet, aus zwei assertorischen Urteilen folge eine apodiktische Konklusion.
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in den Konklusionen abgeleiteten Sachverhalten einer bestimmten Modalität. Ganz in dem Sinne derselben Einsicht kann es jedoch selbstredend nicht nur eine Logik jener Urteile geben, die über verschiedene ontische Modalitäten urteilen, sondern auch eine modale reine Onto-Logik, welche die Verhältnisse und Implikationsbeziehungen zwischen verschiedenen Sachverhalten derselben oder verschiedener ontologischer Modalitäten als solche erforscht. Kann man also doch die Logik oder wenigstens weite Teile derselben durch eine Lehre von formalen Beziehungen zwischen Sachverhalten ersetzen? Meiner Ansicht nach ist dies nur teilweise durchführbar. Denn es ist nicht nur unmöglich, die Logik der Begriffe auf diese Weise durch eine Onto-Logik zu ersetzen, sondern auch, das logische Verhältnis zwischen wahren Urteilen innerhalb von Schlüssen vollkommen durch ein Verhältnis von Sachverhalten zu ersetzen, wie Reinach meint. Es handelt sich vielmehr um zwei mit einander freilich eng verknüpfte und einander in vielfacher Hinsicht überschneidender Arten oder Bereiche von Logik – jene, die wahre und falsche Urteile und gültige oder ungültige Schlüsse aus diesen erforscht und eine Logik reiner Sachverhalte.436 Dieser Unterschied einer Logik der Urteile von einer Logik der Sachverhalte findet sich in besonders eklatanter Weise im Bereich der Modallogik. Z.B. folgt aus der Wahrheit des Urteils (ganz gleich ob es sich um ein problematisches, assertorisches oder apodiktisches Urteil handelt), daß im ontologischen Sinn von Notwendigkeit S notwendigerweise P ist, etwas ganz anderes als aus der Wahrheit des Urteils, daß S – wieder im ontologischen Sinn – zufälligerweise P ist. Diese Verschiedenheit hat rein gar nichts damit zu tun, welche rein logische Modalität die betreffenden Urteile besitzen. Ja aus den rein logischen Modalitäten der Prämissen folgt nur, daß die Konklusion in ihrer Modalität derjenigen der schwächsten Prämisse zu folgen hat und daß eine höhere Modalität rein logisch (und vor allem epistemologisch) nicht begründet wäre, ohne daß daraus irgendetwas über die ontischen Modalitäten der von den Prämissen und Konklusionen behaupteten Sachverhalte gesagt werden dürfte. In einem gültigen Argument, in welchem zumindest eine der Prämissen ein problematisches Urteil 436
Vgl. J. Seifert, “Is the Existence of Truth Dependent upon Man?”, 461-481.
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ist, darf die Konklusion nicht eine höhere Modalität besitzen, also nicht assertorisch oder apodiktisch sein. Aus assertorischen oder apodiktischen Urteilen aber folgt nichts über die ontische Notwendigkeit der in ihnen behaupteten Sachverhalte. Aus wahren und von uns als solchen erkannten Prämissen über Sachverhalte, von denen wenigstens einer ontische Modalität der Notwendigkeit besitzt, kann hingegen auf Grund vielfältiger Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Prämissen und Konklusionen in einem logisch gültigen Argument der gerechtfertigte Schluß auf die notwendige Wahrheit einer Konklusion und auf die ontische Notwendigkeit des in ihr festgestellten Sachverhalts folgen. Hier gilt nicht, daß die ontologische Modalität des in der Konklusion behaupteten Sachverhalts der schwächsten ontischen Modalität der Prämissen zu folgen hätte. Vielmehr kann eine einzige Prämisse, die einen notwendigen Sachverhalt aussagt, zusammen mit einer, die einen kontingenten Sachverhalt feststellt, erlauben, einen notwendig bestehenden Sachverhalt abzuleiten. Dies ist etwa, wie erwähnt, bei den thomasischen Gottesbeweisen und anderen kosmologischen Argumenten der Fall. Aus der Prämisse „Ein kontingent existierendes Wesen setzt ein notwendig existierendes voraus“, und der Feststellung der tatsächlichen kontingenten Existenz eines existierenden Wesens folgt die Wahrheit der Behauptung eines notwendig existierenden. Vom Gesichtspunkt ontischer Modalitäten aus gesehen hat also hier der in der Konklusion festgestellte Sachverhalt eine höhere Modalität als der in der schwächsten Prämisse behauptete. Die logische Garantie des Bestehens universaler oder ontologisch notwendiger Sachverhalte durch die Wahrheit der Prämissen in einem Beweis kann daher niemals aus rein logischen Modalitäten abgeleitet werden, sondern hängt vielmehr von dem Bestehen eines oder mehrer in den Prämissen behaupteter ontisch notwendiger Sachverhalte ab. Die ontischen Modalitäten von Sachverhalten sind also dafür ausschlaggebend, ob aus der Wahrheit von Prämissen ontisch gesehen notwendige Sachverhalte erschlossen werden können; in bestimmter und sehr verschiedener, nicht rein logischer Weise, hängt diese Garantie auch von epistemischen Modalitäten ab, worauf wir noch zurückkommen werden; die logische Modalität der Prämissen oder Konklusionen hat hingegen dafür keinerlei Bedeutung. Umgekehrt jedoch haben das Vorliegen ontischer Notwendigkeiten und
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ihre Erkennbarkeit für einen begründeten Wahrheitsanspruch von Allgemeinurteilen der höchsten (apodiktischen) Modalität und damit auch für die Logik überhaupt, die viele solche Urteile über ihre Gesetze und obersten Grundsätze enthält und deren Wahrheit voraussetzt, allerhöchste Bedeutung. So ist die Frage, ob es ontologisch gesehen notwendige universale Sachverhalte gibt, die nicht nur den Normalfall, den Durchschnittsoder den Idealfall, sondern alle Individuen oder Fälle einer allgemeinen Natur betreffen, und ob wir diese erkennen können, für die berechtigte logische Modalität apodiktischer Universalurteile, und für die Logik und deren Prinzipien selber, von entscheidender Bedeutung. Nur wenn ferner in den Prämissen eines Syllogismus wenigstens ein notwendiger allgemeiner Sachverhalt festgestellt wird und objektiv besteht und die logischen Gesetze selber notwendig sind, kann die Wahrheit eines apodiktischen echten Allgemeinurteils, Art-, Attributions- oder Relationsurteils als Konklusion, in welcher eine apodiktische Aussage über einen notwendigen und allgemeinen Sachverhalt gemacht wird, durch die Wahrheit der Prämissen garantiert sein. Gäbe es die ontische Modalität der Notwendigkeit nicht, so hätten die meisten apodiktischen Urteile über Universalien keine zureichende Rechtfertigung, müßten mit Sir Karl Popper durch rein hypothetische und bestenfalls noch nicht falsifizierte Annahmen ersetzt werden und dürften höchstens in problematischen Urteilen behauptet werden. Hätten aber alle echten Allgemeinurteile, seien diese universale oder Arturteile, die nicht nur den Durchschnittsfall, den Normal- oder den Idealfall feststellen, jenen rein hypothetischen Charakter noch nicht falsifizierter Urteile, den Karl Popper annimmt, so wäre niemals die Wahrheit eines Universalurteils, sei es als Prämisse, sei es als Konklusion, erkennbar und wäre daher auch niemals die Modalität eines assertorischen oder apodiktischen Universalurteils gerechtfertigt. Denn erst aus dem objektiven und als solchen erkannten Bestehen echter ontischer Universalien im Sinne notwendiger allgemeiner Wesensgesetze ergibt sich die Rechtfertigung dafür, in apodiktischen (und synthetischen) Art-, Gattungs-, Attributions- oder anderen Arten von Universalurteilen (die nicht rein empirische und auf vollständiger Induktion aufbauende Allgemeinurteile, etwa über die Anzahl einer Reihe von Gegenständen in einem Raum, oder rein analytische Urteile sind) das Bestehen universaler Sachverhalte zu behaupten. Im strengen Sinne assertorische
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und jedenfalls apodiktische Prämissen oder Konklusionen, die über allgemeine und notwendige ontische Sachverhalte und Wesenheiten urteilen, können daher ausschließlich aus dem Bestehen und der Erkenntnis echter Universalien im Sinne ontisch notwendiger allgemeiner Wesenheiten und Sachverhalte ihre Berechtigung schöpfen. Apodiktische oder sogar assertorische synthetische Allgemeinurteile und die deduktive Logik, die sich als logische Theorie auf solche Urteile stützt und sie in ihrer Verwendung in Beweisen in Prämissen und Konklusionen enthält, besitzen also nur dann Berechtigung, wenn es die ontische Modalität notwendiger Sachverhalte wirklich gibt und können daher von einer strikt empiristischen Philosophie aus nie hinreichend begründet werden. Die Wahrheit universaler Prämissen und aus diesen abgeleiteter Konklusionen, und damit zumindest große Teile deduktiver Logik, müssen, wie Popper zu Recht feststellt, immer zweifelhaft bleiben, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind. Sogar wenn es in abgeschwächtem Sinne in den empirischen Wissenschaften wahre Allgemeinaussagen gibt, die aber nicht notwendig und immer, sondern nur im allgemeinen wahr sind, so rechtfertigen solche empirische Allgemeinheiten, deren („Natur-)Notwendigkeit nicht eine absolute ist, und die deshalb Ausnahmen gestatten, nicht einmal assertorische, und erst recht nicht apodiktische universale Urteile über das Vorliegen ontischer Notwendigkeiten, sondern letztendlich bloß problematische Allgemeinurteile über dieselben. Die Behauptung der strikten Allgemeinheit von Art- oder Gattungseigenschaften kann also nur in notwendigen Wesenheiten und Sachverhalten einen zureichenden rationalen Grund haben. Ohne solche strikt allgemeine Wesenheiten und in ihnen gründende Sachverhalte wären assertorische und vor allem apodiktische nicht-tautologische Allgemeinaussagen und die auf diesen aufbauende Logik und logischen Schlüsse und Beweise nicht rational gerechtfertigt.437 Denn es verlangt die philosophische Berechtigung dafür, apodiktische synthetische Arturteile oder Universalurteile zu fällen, eben die Existenz ontisch notwendiger Sachverhalte und deren sichere Erkenntnis. So erkennen wir, daß die ontische Modalität universaler Sachverhalte 437
Dem widerspricht nicht die Tatsache und das erwähnte Gesetz modaler Logik, daß aus der Wahrheit eines problematischen Urteils natürlich auch die Wahrheit eines assertorischen und apodiktischen Urteils desselben Inhalts folgt.
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für die Rechtfertigung apodiktischer und assertorischer logischer Modalitäten wie jene der obersten logischen Grundsätze und Gesetze selbst und die Anwendung der Aussagelogik in Beweisen, welche apodiktische Urteile über Universalien in Prämissen oder Konklusion enthalten, entscheidend sind. Außer wenn eine vollständige Induktion vorliegt (was nur bei Pseudouniversalien, also einer begrenzten Anzahl empirisch abgegrenzter Subjekte, die eine vollständige Prüfung gestatten, wie die Personen in einem geschlossenen Raum, möglich ist), so folgt deshalb aus Arturteilen, die nur induktiv erschlossen sind und daher nicht mit Sicherheit erkannte wesensnotwendige allgemeine Sachverhalte aussagen, nicht unbedingt, daß jede untergeordnete Spezies oder jeder unter das gegebene Allgemeine fallende Einzelfall die Eigenschaften der Spezies oder des Genus verkörpern müßte. So ist eine auf die von Biologie, Zoologie, Chemie, Medizin usf. anwendbare modale Onto-logik eine andere als eine, die sich auf notwendige allgemeine Urteile und Sachverhalte stützt. Die deduktiven Beweise in empirischen Wissenschaften gehen von streng genommen nur problematischen Arturteilen (oder Individualurteilen) eines höheren oder geringeren Wahrscheinlichkeitsgrades aus und können dem entsprechend in ihren Konklusionen nur zu problematischen Urteilen führen. Nur auf rein apriorische und wesensgesetzliche Notwendigkeiten aufbauende apodiktische Universalurteile in Prämissen oder Konklusionen sind daher streng gerechtfertigt und eines echten Beweises fähig, weil nur in diesen die volle ontische (und im Fall von deren Erkennbarkeit durch den Menschen) gnoseologische Rechtfertigung des Wahrheitsansprüche apodiktischer universaler Prämissen und Konklusionen liegen kann. (Der gläubige Theologe darf freilich behaupten, daß auch auf göttliche Offenbarung gestützte Argumente, welche Wahrheit eines universalen Urteils behaupten, dieselbe oder sogar eine höhere Rechtfertigung apodiktischer Allgemeinurteile begründen.) Bei manchen ihrer Vertreter versucht die sogenannte ‘fuzzy logic’ diesen Verhältnissen gerecht zu werden und das Problem aufzuwerfen und zu bewältigen, wie man zwischen der Behauptung und Wahrheit universaler Implikationen zwischen ‚notwendig und immer wahr‘ und ‚im allgemeinen wahr‘ bzw. innerhalb der jeweiligen Art behaupteter Implikationsverhältnisse unterscheiden könne.
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5.2. Welche ontischen Modalitäten (verschiedene Seinsmodalitäten und Seinsweisen) müssen wir unterscheiden?
Unter ontischen Modalitäten können wir in einem ersten Sinn des Wortes Seinsweisen und auf das Sein oder Nichtsein (wie ‚unmöglich‘) bezügliche Modalitäten meinen, auf die wir ja schon im Rahmen der Analyse der Seinsform von Sachverhalten (des ‚Bestehens‘) hingewiesen haben. Solche ontischen Modalitäten wie „möglich – wirklich – unmöglich“; „real – ideal – fiktiv“ etc. geben grundlegende Seinsweisen (oder auch – z.B. im Falle des Unmöglichen – ein Ausgeschlossensein vom wirklichen Sein) an. Man könnte sie, wenn sie eine positive Seinsbestimmung bezeichnen (wie wirklich, möglich, ideal, oder fiktiv) auch als Seinsmodi bezeichnen, welche eine vor allen Kategorien (die sich primär auf die Wirklichkeit beziehen) liegende allgemeinere Differenzierung des Seins angeben. Im Anschluß an die Tradition, an Pfänder und Becker, aber zugleich in einem eigenständigen Weiterdenken ihrer diesbezüglichen Beiträge, unterscheiden wir (doch ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit dieser Unterscheidungen zu erheben), wie schon vorhin ausgeführt, fünf grundsätzlich verschiedene Seinsweisen bzw. ontische Modalitäten und haben ja schon ein paar Worte zu ihrer jeweiligen Stelle innerhalb der ontologischen Rangordnung gesagt438 und vor allem darauf hingewiesen, daß innerhalb jeder dieser Seinsmodi Sachverhalte in jeweils ganz verschiedener Weise ‚bestehen‘, wobei sowohl deren Modalität im Sinne des jeweiligen Seinsmodus selber als auch innerhalb desselben variieren kann. 1) Reales Sein: So können wir etwa in Bezug auf den ersten und grundlegendsten Seinsmodus, den der Wirklichkeit, das Prädikat ‚wirklich‘ 438
Diese Seinsmodi stellen primär eine Differenzierung hinsichtlich der ersten von drei grundsätzlich verschiedenen ‚Richtungen‘ oder Dimensionen des Seins dar, von denen wir andernorts argumentiert haben, daß sie dieses vom Nichts unterscheiden und viele Grade der Realisierung haben: 1. Realität, 2. Intelligibilität, und 3. Wert. Vgl. Josef Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘– Dietrich von Hildebrand als Metaphysiker und MartinHeideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit“, in: Balduin Schwarz, hrsg., Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: Habbel, 1970), S. 301-332.
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(im Gegensatz zu ‚unwirklich‘) selber als eine ontische Grundmodalität, innerhalb deren eine Reihe weitere Modalitäten bestehen, betrachten. Die letzteren sind Unterarten und Spezifikationen der Welt der Wirklichkeit, oder aber stellen Gegensätze zu dieser dar (wie ‚unwirklich‘). Zu den ontischen Modalitäten innerhalb dieses realen Seins rechne ich, und zwar als existentiale Modalitäten, die nicht Sachverhalte, sondern den actus essendi, die Aktualität des Existierens selber, modifizieren, „notwendig existierend – kontingent existierend“. (Diese letztgenannte Unterscheidung findet sich auch außerhalb des Realen innerhalb anderer ontischer Bereiche, z.B. innerhalb des Idealen, wo wir notwendige eide von kontingenten Ideen und solchen idealen Gebilden, die Momente der Kontingenz, Erfindbarkeit und Freiheit einschließen, abgrenzen müssen.)439 In anderer Weise als Notwendigkeit und Kontingenz der Existenz können „vergangen – gegenwärtig – zukünftig“ als ontische Modalitäten innerhalb des Realen bezeichnet werden. Das Gesagte genügt, um sowohl die ontische Modalität der allgemeinen ‚Seinsweise des Realen‘ (‚wirklich‘) als auch um die innerhalb derselben möglichen modalen Bestimmungen (wie vergangen, zukünftig, zufällig, notwendig) als ontische Modalitäten hinreichend deutlich ins Auge zu fassen, um sie nun von den logischen Modalitäten abzugrenzen. Deshalb erübrigt sich hier auch ein tieferes Eindringen in die verschiedenen Gruppen ontischer Modalitäten, wie sie den vier anderen oben genannten Seinsmodi als solchen und den innerhalb jeder derselben möglichen ontischen Modalitäten entsprechen.440 Dennoch sind ein paar Worte über die anderen vier unterschiedenen Seinsmodi hinzuzufügen, um zu sehen, in welcher Weise die Sachverhalte, mit denen wahre Urteile übereinstimmen, durch sie modifiziert werden. 2) Ideales Sein: Wenn wir etwa an die Mehrheit mathematischer und philosophischer wahrer Urteile denken, so beziehen sich diese auf eide, Ideen, ideale Gegenstände wie Zahlen usw. Diejenigen Sachverhalte, die in Urteilen gemeint werden, welche notwendige ideale Gegenstände wie Primzahlen oder andere notwendige Wesenheiten betreffen,441 sind 439 440
441
Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1. Zu einer ausführlicheren Erörterung dieser Fragen vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen. Vgl. Jean Hering, Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee, 2.
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notwendig und zeitlos; sie beziehen sich auf ideale Wesenheiten, die ganz objektiv bestehen, in einer durch menschlichen Geist unschaffbaren und unkonstituierbaren Form. Viele Urteile, welche nicht rein ideale Gegenstände wie Zahlen, sondern ideale Wesenspläne realer Gegenstände betreffen, implizieren – auf Grund der Herrschaft idealer Wesenheiten über die reale Welt – auch unzählige konditionale Sachverhalte über reale Seiende, welche unter solche idealen Wesenheiten fallen oder an den eidetischen ewigen Strukturen der Dinge teilhaben. Die Autonomie idealer, vor allem wesensnotwendiger Sachverhalte, ist eine hohe, in gewisser Weise den Sachverhalten, die sich auf reale Seiende in der Zeit beziehen, überlegene, da sie zeitlos, notwendig und unschaffbar sind und außerdem mit der reichen qualitativen Welt idealer Wesenheiten wie dem Wesen der Liebe oder der Freiheit verbunden sind und überdies oft in der Form von idealen „Wesensgesetzen über die reale Welt“ deren Gesetze darstellen. 3) Reine Möglichkeiten und mögliche Welten, im Gegensatz zu unmöglichen Objekten, enthalten zahllose Sachverhalte, die wirklich bestehen, aber da sie nur mögliche Gegenstände betreffen, an der Irrealität des nur Möglichen teilhaben, aber doch in einer eigentümlichen Weise selber nicht nur möglich sind. Genauer gesagt, müssen wir verschiedene Arten von Sachverhalten unterscheiden, die rein mögliche Gegenstände betreffen; einmal die selber nur möglichen Sachverhalte, welche nur dann zu wirklich bestehenden werden, wenn Bewohner der möglichen Welten wirklich werden; dann jene Sachverhalte, die immer tatsächlich bestehen, aber mögliche Welten betreffen. Zum Beispiel ist der Sachverhalt, daß es Aufl., Hrsg. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, Reihe “Libelli”, 80, reprographischer Nachdruck aus: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 4, 1921, S. 495-543 (Darmstadt, 1968); Roman Ingarden, „Essentiale Fragen“, Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung, VII, Hrsg. E. Husserl (Halle a. S., 1924), S. 125-304; ders., Über das Wesen. Philosophie und Realistische Phänomenologie, Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein, vol. 18. (Hrsg. Peter McCormick), (Heidelberg: Winter Verlag, 2007). Herbert Spiegelberg, „Über das Wesen der Idee. Eine ontologische Untersuchung“, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hrsg. v. E. Husserl u.a. (Halle a.d. Saar: Max Niemeyer, 1930), Bd. 11, S. 1-238. Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1.
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unendlich viele mögliche Welten gibt, nicht selber ein nur möglicher, sondern ein tatsächlich bestehender Sachverhalt, der sich nur auf mögliche Welten bezieht. 4) Rein intentionale Gegenstände: Ein paralleler Unterschied besteht hinsichtlich der ursprünglichen oder abgeleiteten rein intentionalen Gegenständen, z.B. der in einem literarischen Kunstwerk entworfenen Welten oder der Gegenständen bloßer Träume.442 Hier gibt es einerseits rein intentionale Sachverhalte, die nur im Traum oder literarischen Werk zu sein scheinen, geträumt, vorgestellt oder gedacht werden, die aber nicht tatsächlich bestehen, wie daß Don Quixote gegen Windmühlen gekämpft hat. Davon verschieden sind alle jene tatsächlich bestehenden und keineswegs nur geträumten und erfundenen Sachverhalte, die geträumte oder literarische Gegenstände betreffen, aber selber keineswegs fiktiv oder geträumt sind, wie daß ich diesen anstatt jenen Gegenstand oder dieses oder jenes Ereignis geträumt habe, oder daß Don Quixote in der von Cervantes‘ Meisterwerk konstituierten Welt gegen Windmühlen kämpft. So wie der Sachverhalt, daß ich träume oder daß ich dies anstatt jenes träume keineswegs selber nur geträumt ist, so sind auch die vom Literaturkritiker über die rein intentionalen, im literarischen Werk konstituierten Gegenstände studierten Sachverhalte keineswegs selber Fiktion, auch wenn sie in gewisser Weise durch die rein fiktive Natur der Gegenstände, auf die sie sich beziehen, „gefärbt“ sind und deshalb nicht denselben realen Charakter besitzen wie etwa historische Sachverhalte oder Sachverhalte, die hier und jetzt wirklich bestehen. Noch einmal ein anderer Fall liegt im Irrtum vor, weil hier nicht durch unsere Phantasie eine Welt rein intentionaler Gegenstände aufgebaut wird, die dann ein gewisses Sein besitzt, sondern weil hier der rein intentionale Gegenstand des Irrtums zwar auch als solcher ein gewisses Sein besitzt, aber der eigentliche Gegenstand des Irrtums ein als tatsächlich bestehend 442
Vgl. die meisterhafte Analyse Roman Ingardens in seinem Das literarische Kunstwerk, 3. Aufl., 1972. In einer m.E. nicht haltbaren Ausdehnung dieses Bereichs behandelt Antonio Millán-Puelles dieses Phänomen in seinem Teoría del objeto puro, Colecciónes Cuestiones Fundamentales. Ins Englische übersetzt von Jorge García-Gómez: The Theory of the Pure Object. Vgl. auch mein “Preface” to Antonio Millàn-Puelles, Teoría del objeto puro; The Theory of the Pure Object, pp. 1-12.
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gemeinter und dafür gehaltener Sachverhalt ist, der dem wirklich bestehenden Sachverhalt kontradiktorisch entgegengesetzt ist. In diesem Sinn hält der Irrende das Gegenteil des tatsächlich bestehenden Sachverhalts für bestehend, behauptet das Bestehen eines Sachverhalts, der nicht besteht und dem wirklich bestehenden entgegengesetzt ist. Auf den fünften allgemeinen Seinsmodus rein logischer Entitäten brauchen wir hier nicht näher einzugehen, da Phänomene, die dieser Sphäre angehören, logische Entitäten und Gesetze, den Hauptteil dieses Kapitels ausmachen und wir im Kapitel 4 ausführlich auf die Eigenart dieses logischen Seins, das Träger der Urteilswahrheit ist, eingehen werden. 5.3. Logische Modalitäten: ihre Unabhängigkeit von ontischen Modalitäten trotz der ontologischen Fundierung der Logik
Nach der knappen Analyse der ontologischen Modalitäten und der kurzen Kennzeichnung und Abgrenzung der logischen von den ontischen Modalitäten und deren Arten wenden wir uns nun noch etwas eingehender der Natur der logischen Modalität und der aufs erste paradox erscheinenden Tatsache ihrer Unabhängigkeit von den ontischen Modalitäten trotz der ontischen Fundamente der Logik zu. Die Modalität im logischen Sinne ist verschieden und in gewissem Sinne ganz unabhängig von der ontischen; sie bezieht sich, wie bereits bemerkt, weder auf Sachverhalte und Seiende noch auf sprachliche Sätze, sondern auf die logischen Gebilde oder komplexen Bedeutungseinheiten, wie Fragen, Befehle oder Urteile, insbesondere auf diese letzteren. Die jeweilige logische Modalität berührt innerhalb der Kopula weder deren ontologische Bedeutung als Setzung des reinen Sachverhaltsseins,443 noch deren hinbeziehende Funktion, sondern nur die Behauptungsfunktion selbst, d.h. jene logische Funktion der Kopula, die den Behauptungsschlag des Urteils ausführt bzw. die einen Sachverhalt behauptet (als solchen hinstellt); diese Funktion kann die 443
Auf die Modalität des gemeinten Sachverhaltsseins beziehen sich jene logischen Bedeutungsmomente des Urteils, die eben die ontischen Modalitäten meinen. Auf die rein ontologische Bedeutung der Kopula, die Pfänder mit seiner Vorstellung, die Kopula sei ein ‚rein funktionierender Begriff‘ übersieht, hat Hedwig ConradMartius in ihrem Buch Das Sein hingewiesen.
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Kopula prinzipiell in unendlich vielen verschiedenen Stärkegraden ausüben, von denen die Logik normalerweise nur drei grob von einander abgrenzt: die des problematischen, des assertorischen und des apodiktischen Urteils. Dabei liegt im assertorischen Urteil weder die Steigerung des Behauptungsschlages, wie im apodiktischen Urteil, noch dessen Verminderung wie im problematischen Urteil vor. Die erörterten ontischen Modalitäten und deren Arten als solche sind sicher nicht dasselbe wie die logischen Modalitäten, noch deren Grundlage. Denn wie gesagt können sich Urteile aller drei logischen Modalitäten auf alle ontischen Modalitäten beziehen. Ich kann etwa ebenso gut über Wirkliches wie über Unwirkliches, über reales und ideales Sein oder auch über rein intentionale Gegenstände, ebenso über Notwendigkeiten wie über Zufälligkeiten im ontologischen Sinne sowohl apodiktische wie auch problematische Urteile rein logischer Modalität fällen.444 Ebenso kann ich über ontische und epistemische Wahrscheinlichkeiten statistischer Art assertorisch oder apodiktisch im logischen Sinn urteilen. Um die ontischen Modalitäten von den logischen zu unterscheiden, denken wir insbesondere an das sogenannte kategorische Urteil. So vermeiden wir, wie schon oben bemerkt, die Notwendigkeit, an dieser Stelle jene besonderen Probleme des hypothetischen und disjunktiven Urteils erörtern zu müssen, die für unser Problem nicht entscheidend sind. Trotz seiner Abgrenzung logischer von ontischen Modalitäten und seines Nachweises, daß die Wahrheit und Falschheit von Urteilen aller logischen Modalitäten einfach vom Bestehen des behaupteten Sachverhalts, gleich welcher ontischer Modalität, abhängt, weist Pfänder ganz eindeutig auf die Fundierung aller logischen Gesetze in den ontologischen Grundgesetzen hin, worin er allerdings Reinach folgt, wenn dieser auch eine Tendenz hat, die logischen Grundgesetze auf ontische Sachverhaltsgesetze zu reduzieren, anstatt sie nur in diesen begründet zu sehen.445 444
445
In wundervoll komischer und zugleich hintergründiger Weise finden wir dies in Kart Valentins berühmtem „Antentraum“ bestätigt, in welchem viele apodiktische Urteile über rein geträumte Enten, Würmer oder das Essen derselben vorkommen. Vgl. Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hg.), Logik4, (99) 92 ff.; vgl. Auch Mariano Crespo, “En torno a los estados de cosas. Una investigación ontológicoformal,” S. 143-156; ders., Para una ontología de los estados de cosas esencialmente necesarios. Vgl. auch Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen
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Ich betrachte es als großes Verdienst Pfänders, ganz eindeutig auf die Fundierung aller logischen Gesetze in den ontologischen Grundgesetzen hingewiesen zu haben. Nur weil z.B. nicht zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte bestehen können, gilt das logische Widerspruchsprinzip, daß das Zusammenbestehenkönnen von Wahrheit und Falschheit desselben Urteils im selben Sinne und zur selben Zeit (wo diese Einschränkung nötig ist) bzw. die Wahrheit zweier einander kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile ausgeschlossen ist. Dieses Prinzip ist so evident, daß jede Leugnung es bereits voraussetzt.446 Dennoch besteht die evidente Erkenntnis seiner Wahrheit nicht nur in der Erkenntnis eines notwendigen Widerspruchs seiner Leugnung und erst recht nicht in einer bloßen Erkenntnis einer (hier gar nicht vorliegenden und durch jedes nur allzu häufige Denken von Widersprüchen widerlegten) Denknotwendigkeit, sondern vielmehr in einer Einsicht in die sachliche Wesensnotwendigkeit, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte objektiv nicht beide bestehen und zwei kontradiktorische Urteile nicht zusammen wahr sein können. Die Notwendigkeit, daß die obersten logischen Wesensgesetze wie das Widerspruchsprinzip in formal-ontischen begründet sein müssen, ist evident. Nur weil z.B. zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte nicht zusammen bestehen können, gilt das logische Widerspruchsprinzip, daß das Zusammen-Bestehens-Können von Wahrheit und Falschheit desselben Urteils im selben Sinne und zur selben Zeit,447 bzw.
446
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Urteils“, S. 95-140; ders., „Die obersten Regeln der Vernunftschlüsse bei Kant“, in: Kant-Studien, 16 (1911), S. 214-233; wiederabgedruckt in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke. Textkritische Ausgabe in 2 Bänden. Herausgegeben von Karl Schuhmann und Barry Smith. München, Philosophia, 1989, S. 51-65. Vgl. auch Barry Smith, “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69, S. 53 ff. Das hat Aristoteles in Metaphysik, in: Aristoteles. Die Lehrschriften, hrsg., übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 21961), Buch ī hervorgehoben. Darauf weisen auch Bonaventura und Thomas von Aquin hin. Vgl. etwa Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, L. 2, cap. 33, 8. Vgl. dazu auch Summa contra gentiles/Die Summe oder die Verteidigung der höchsten Wahrheiten, übers. Und hrsg. v. H. Fahsel (Zürich, 1952-1960). In manchen Fällen sind diese Einschränkungen bzw. Präzisierungen nötig, in anderen Fällen – etwa zeitloser mathematischer Gesetze – nicht.
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daß das Wahrsein zweier einander kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile ausgeschlossen ist. Eine nähere Analyse, wie wir sie hier nur andeuten konnten, erweist eine ontologische Grundlegung der Logik als möglich, ja als unerläßlich: nicht nur der Onto-logik (der rein formal-ontologischen Sachverhaltslehre, die Reinach als den eigentlichen Gegenstand der Logik ansieht), die selbst ein Teil der Ontologie ist, sondern auch der Logik im Sinne Pfänders, die sich auf rein logische Entitäten wie Urteile, Schlüsse – und unmittelbar nicht auf die zugrundeliegenden Sachverhalte – bezieht und deren Wesen, Wahrheit sowie Wahrheits- und Falschheitszusammenhänge aufklärt. In der Abgrenzung der rein logischen von der ontischen Modalität erblicke ich übrigens einen Grund dafür, die modale Logik (und die Logik überhaupt) nicht mit Reinach auf eine reine Sachverhaltslogik zurückzuführen. Eine solche Zurückführung der modalen Logik auf eine ontologische Lehre vom Verhältnis ontischer Modalitäten wäre höchstens für eine Onto-Logik der rein ontischen Modalitäten von Sachverhalten und deren logischen Implikationen möglich, nicht aber für eine Logik der Modalitäten des Urteils und deren Einfluß auf die Logik der Schlüsse. Daß die reine modale Logik und die modale Onto-Logik ganz verschiedene Disziplinen sind, ergibt sich z.B. aus folgender Erkenntnis. Ein einfachstes Axiom einer reinen modalen Logik wäre z.B. dieses: „In der Konklusion eines Schlusses ist niemals eine höhere logische Modalität gerechtfertigt als jene der (hinsichtlich ihrer Modalität nach) schwächsten Prämisse.“ Man kann etwa rein logisch nicht aus zwei apodiktischen und einer problematischen Prämisse mehr als eine problematische Modalität der Konklusion begründen. Ähnliches gilt jedoch, wie bereits gesagt, keineswegs von den objektiven ontischen Modalitäten. Hier kann ein kontingentes (und ontisch nicht notwendiges Faktum), wenn es mit Sicherheit bekannt ist und ebenso sicher unter dem Diktat gewisser ontischer Wesensnotwendigkeiten steht, das Vorliegen ontologisch gesprochen notwendiger Sachverhalte verbürgen.448 448
Für solche Notwendigkeiten gibt Plantinga a. a. O. viele Beispiele, Aristoteles folgend, etwa: “Every human being is necessarily rational”; “Every animal in this room is [as a matter of fact, contingently but truly and certainly] a human being”; deshalb: “Every animal in this room is necessarily rational”. (Plantinga, a. a. O., S. 10).
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Trotz der Fundamente der Logik in ontischen Gesetzen und ontologischen Zusammenhängen lassen sich also logische Modalitäten und Gesetze nicht auf ontische zurückführen. Die Unmöglichkeit der Reduktion der logischen auf ontische Modalitäten und auf eine reine Sachverhaltslogik geht auch aus der Existenz von logischen Gesetzen hervor, die auf rein logischen Phänomenen beruhen, die innerhalb der Ontologie keine Stelle haben, wie Äquivokationen. Man denke etwa an das Gesetz, daß der Mittelbegriff in einem gültigen Syllogismus nicht äquivok gebraucht sein darf. Innerhalb rein ontischer Modalitäten gibt es so etwas wie Äquivokationen überhaupt nicht. Die Eigenständigkeit logischer Modalitäten und Gesetze gegenüber den ontologischen wird ferner auch durch jene logischen Gesetze bezeugt, die auf dem Gegensatz zwischen Wahrheit und Falschheit beruhen, wie daß aus einer falschen Konklusion und der logischen Gültigkeit des Arguments folgt, daß wenigstens eine der Prämissen falsch ist. Im Reich der Sachverhalte als solchen besteht ein solcher Gegensatz zwischen wahr und falsch überhaupt nicht. Allerdings bestehen hier (im Gegensatz zu einer Umkehrung der Gesetze logischer im Falle ontischer Modalitäten und zu den logischen Gesetzen, die von den notwendigen Verhältnissen zwischen wahren und falschen Urteilen reden) strikt parallele formal-ontologische Gesetze, die parallele notwendige Sachverhaltsbeziehungen regieren. So folgt auch formal-ontologisch aus dem Nichtbestehen eines Sachverhalts, der aus den in den Prämissen eines Syllogismus behaupteten Sachverhalten folgt, daß mindestens einer dieser Sachverhalte nicht besteht. Nur im Licht der jeweiligen logischen Strukturen und der Strukturen von Sachverhalten, und im Blick auf die verschiedenen Beziehungen zwischen logischen und ontologischen Wesensgesetzen und Modalitäten lassen sich daher adäquate Systeme modaler Logik und formaler OntoLogik der Sachverhalte aufbauen, die auf die jeweilige Art der vorliegenden Modalitäten und ihre logischen Konsequenzen Rücksicht nehmen. Verschiedene Systeme modaler Logik müssen inhaltlich jeweils ganz verschiedene wahre und evidente Axiome besitzen, je nachdem, ob sie sich auf logische oder ontische und je nachdem, auf welche Art von Sachverhalten und ontischen Modalitäten sie sich beziehen.
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5.4. Epistemische Modalitäten und epistemische Begründungsmodalitäten
Von logischen und ontischen Modalitäten ganz verschieden sind die Erkenntnismodalitäten, epistemische Modalitäten wie objektive und subjektive Gewißheiten, Unsicherheiten und deren vielgestaltige und quasiquantitativ und qualitativ unendlichen Abstufungen. Solche epistemischen Modalitäten haben Auswirkungen auf die erkenntnistheoretische Rechtfertigung der Wahrheitsansprüche von Urteilen verschiedener logischer Modalität und Quantität. Zum Beispiel rechtfertigt eine Popper‘sche Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, welche ausschließlich tentative und revidierbare Wahrheitsansprüche gelten läßt, nur problematische und außerdem letztlich nur negative problematische Urteile, die auf NichtFalsifikation beruhen der Art: „‚S ist P‘ kann als Hypothese angenommen werden und muß nicht verworfen werden, denn es ist (noch) nicht falsifiziert worden‘.“ Eine Bezweiflung evidenter Erkenntnis wirkt sich natürlich auch auf die Logik und deren Axiome und Gesetze selbst aus, die nach einer solchen Theorie entweder wie leere Tautologien aufgefaßt werden müssen oder selber nur empirische Verallgemeinerungen sein könnten, wie Husserl dies für jede Logik, die auf dem Boden des empiristischen Psychologismus steht, nachgewiesen hat. Dabei müßten streng genommen noch ein empiristischer logischer Psychologismus, welcher logische Gesetze auf empirische psychologische Denkgesetze und ein transzendentaler logischer Psychologismus, der sie auf notwendige Denkgesetze zurückführt, unterschieden werden. Beide aber führen auf einen Relativismus, indem nach dieser Theorie die Gesetze der Logik nicht das Wesen von Wahrheit und Falschheit und deren Beziehungen, sondern nur subjektive Denknotwendigkeiten, die sich wesenhaft von logischen Gesetzen unterscheiden, betreffen. Da logische Gesetze aber evidenter Weise stringenten Charakter haben, kann die Logik evidenterweise nicht auf der psychologischen Forschung über empirische und kontingente Gesetze menschlichen Denkens und Bewußtseins beruhen; und da sie die Natur der Urteile und ihre Wahrheit oder Falschheit und in keiner Weise subjektive Denkvorgänge regeln, lassen sich logische Gesetze wesenhaft nicht aus transzen-
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dentalen subjektiven Denkgesetzen ableiten.449 Insofern die Logik Urteile verschiedener objektiver und subjektiver epistemischer Modalitäten, d.h. Urteile, insofern ihre Wahrheit in verschiedenem Grad der Gewißheit erkannt wird, berücksichtigen soll, entfaltet sie sich in einer ganz anderen Richtung epistemischer Modalitäten. Dann erforscht sie etwa die logische Auswirkung epistemischer Modalitäten der Erkenntnis von Prämissen auf die epistemische Modalität der Erkenntnis der Konklusion eines Arguments oder eines Schlusses. Eine solche Logik epistemischer Modalitäten im Reich der Schlüsse nimmt ganz andere Gestalten an und besitzt ganz andere Gesetze als wenn die Bedeutung ontischer und rein logischer Modalitäten in deren Auswirkungen auf die Logik Thema der Forschung ist. Epistemische Modalitäten sind z.B. „evident – nicht evident“; „per se evident – evident per aliud“, aber auch „offenkundig – schwer zu erkennen“, „wahrscheinlich – unwahrscheinlich“ in einem epistemischen Sinn, „gewußt – unbekannt“, etc. Für eine rein epistemische Logik gilt: es kann niemals die Wahrheit der Konklusion eines Schlusses mit einer Erkenntnis höherer epistemischer Modalität erkannt werden als mit der epistemischen Modalität, mit der die am unsichersten erkannte Prämisse gewußt wird. Epistemische Begründungsmodalitäten unterscheiden sich von den erwähnten epistemischen Grund-Modalitäten, welche die Gewißheit einer Erkenntnis betreffen. Sie umfassen Modalitäten wie: „Begründetheit – Unbegründetheit“, „Rationalität – Irrationalität“ der Überzeugung oder Behauptung, etc. Wiederum verschieden sind rein quantitative epistemische Modalitäten wie „allen bekannt“, „von allen für wahr gehalten“, usf. Innerhalb der Überzeugungen könnten auch Modalitäten der Überzeugung den rein epistemischen Modalitäten der Erkenntnis selbst gegenübergestellt werden und führen uns zu einer weiteren Kategorie von Überzeugungsmodalitäten oder Modalitäten der Art und Stärke von Beliefs, die sich von den erkenntnismäßigen Modalitäten abheben, da die Stärke einer Überzeugung z.B. nicht nur ganz verschieden von rein erkenntnisbezogenen Modalitäten wie den epistemischen Stufen der Gewißheit oder Begründetheit ist, sondern auch unabhängig von diesen. Die stärksten, unerschütterlichsten Überzeu449
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, zit., Band I.
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gungen hegen gerade oft diejenigen, die am wenigsten von etwas verstehen. Hier berühren wir das Reich der psychischen Modalitäten, die wir von den epistemischen ebenso wie von den rein logischen und ontischen, aber auch von den doxastischen Modalitäten abzugrenzen haben. Auch zwischen den epistemischen, logischen und ontischen Modalitäten bestehen – trotz all ihrer Verschiedenheiten – viele Beziehungen, denen wir hier nicht näher nachzugehen brauchen, weil sie jenseits unserer Frage nach dem Wesen der Wahrheit liegen, die wir aber andeuten müssen. So ist es z.B. bei der Ungewißheit der Erkenntnis, ob ein Verdächtiger auch der Mörder ist, sicher unberechtigt, apodiktische Urteile darüber aufzustellen, wer XY ermordet hat. Das gilt allerdings nur für die erkenntnistheoretische Begründung der Urteilsfällung im allgemeinen und des Fällens von Urteilen höherer logischer Modalität (apodiktischen Urteilen) im besonderen, nicht für den zureichenden Grund der Wahrheit der Urteile einer bestimmten logischen Modalität selbst. Denn wenn ein problematisches Urteil wahr ist, so ist auch das assertorische und apodiktische Urteil des gleichen Inhalts wahr; aber wenn auf Grund der epistemologischen Unsicherheit der Erkenntnis seiner Wahrheit nur ein problematisches Urteil gefällt wird, rechtfertigt diese niedrige Stufe der Erkenntnis rein epistemologisch keineswegs das Fällen eines assertorischen oder apodiktischen Urteils. Eine Logik rein logischer modaler Wahrheitszusammenhänge und eine Logik logischer Modalitäten, welche deren epistemischen Modalitäten berücksichtigt und von der epistemologischen Rechtfertigung von Urteilen verschiedener logischer Modalität handelt, sind also sauber zu trennen. Erkenntnistheoretisch gesehen erfordert ein apodiktisches Urteil über empirische Sachverhalte eine viel gewissere Erkenntnis als das Fällen eines problematischen Urteils über dieselben. Ähnliches gilt für die erkenntnistheoretische Begründung eines Urteils über ontische Notwendigkeiten. Zum Beispiel erfordert ein epistemologisch fundiertes apodiktisches Urteil darüber, daß im ontologischen Sinn S notwendigerweise P ist, einen viel höheren Grad an Erkenntnisgewißheit als das – im logischen Sinne – problematische Urteil, daß S „vielleicht“ (logisch gesprochen) notwendigerweise (ontologisch gesehen) P ist. So erkennen wir eine Entsprechung zwischen problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteilen und den diesen logischen Modalitäten
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entsprechenden epistemischen Modalitäten, die die erkenntnismäßige Berechtigung dafür liefern, Urteile einer bestimmten Modalität zu fällen. Doch ist diese Beziehung zwischen epistemischen und logischen Modalitäten aus drei Gründen keine strenge: erstens können de facto (und unberechtigterweise) apodiktische Urteile ohne einen zureichenden epistemologischen Grund gefällt werden; zweitens sind der rein logische zureichende Grund für die Wahrheit eines apodiktischen Urteils und der zureichende epistemologische Grund für seine Fällung radikal verschieden, weshalb das Fehlen eines epistemischen zureichenden Grundes zu einem apodiktischen Urteilen nicht das Fehlen eines rein logischen zureichenden Grundes bedeutet; und drittens hängt die Berechtigung zu apodiktischen Urteilen nicht ausschließlich von Erkenntnisgewißheit ab. Nur wenn wir von dem weiten und wichtigen Gebiet zwischenmenschlichen und oft „blinden“ Vertrauens und gegenseitigen Glaubens sowie des religiösen Glaubens absehen, können wir auf der Ebene philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnis die wesentlichsten Beziehungen zwischen epistemischer und logischer Modalität der Urteile so formulieren: Eine unsichere Erkenntnis rechtfertigt nur ein problematisches Urteil; eine Erkenntnis einer gewissen normalen Evidenzstufe ein assertorisches; und ein unbezweifelbar gewisses und evidentes Erkennen ein apodiktisches Urteil. Es ist jedoch klar, daß die epistemische Berechtigung zu apodiktischen Urteilen keineswegs ausschließlich von dem Grad der Erkenntnisevidenz abhängt: es ist voll berechtigt, wenn man gute Gründe für das Vertrauen auf eine Person und ihre Glaubwürdigkeit besitzt, auf Grund eines solchen vernünftigen Glaubens apodiktische Urteile zu fällen und für die Person, der man glaubt „die Hand ins Feuer zu legen“. Die Rationalität und Natur solcher „doxastischer“ Modalitäten ist hier nicht unser Thema. All dies, was für das Verhältnis zwischen logischen und epistemischen Modalitäten gilt, trifft hingegen keineswegs auf die rein logischen Wahrheits- und Begründungszusammenhänge von Urteilen verschiedener logischer Modalität selbst zu. Wenn man die rein logische Rechtfertigung und Begründung logischer Urteile verschiedener Modalitäten betrachtet, so zeigt Pfänder, daß aus dem Bestehen eines Sachverhalts, der Gegenstand eines problematischen Urteils ist, und somit aus des letzteren Wahrheit, notwendig auch die Wahrheit des entsprechenden apodiktischen und assertorischen Urteils folgt.
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Auch dies zeigt übrigens deutlich die Verschiedenheit zwischen logischen und ontischen Modalitäten, da offensichtlich aus der Wahrheit eines apodiktischen Urteils, welches das zufällige Bestehen eines Sachverhalts behauptet, keineswegs folgt, daß dieser Sachverhalt im ontologischen Sinne notwendig bestünde. Wohl aber folgt aus der Wahrheit des problematischen Urteils notwendig auch die Wahrheit des entsprechenden apodiktischen Urteils. Denn die notwendigen logischen Gesetze bezüglich der Wahrheit verschiedener Urteile, die in einem Schluß vereinigt sind, unterliegen ebensowenig einer Modifikation durch die Modalität der Urteile wie die Wahrheit selbst. Die Art der Garantie der Wahrheit der Konklusion durch jene der Prämissen hängt des weiteren nicht nur mit epistemischen und ontischen Modalitäten als solchen, sondern auch mit der Natur der Universalien eng zusammen. Wenn es z.B. nur empirische Allgemeinheiten gibt, deren Naturnotwendigkeit keine absolute ist und deshalb Ausnahmen gestattet, so folgt aus wahren Urteilen über solche empirischen Notwendigkeiten nicht unbedingt, daß jeder unter das gegebene Allgemeine fallende Einzelfall die Eigenschaften der Spezies oder des Genus verkörpern müßte. Auch dies hat Pfänder in seiner Analyse von vier verschiedenen Arten allgemeiner Urteile aufgeklärt. Je nachdem, ob wir es mit generalisierenden, typischen oder mit Arturteilen, mit strikte universalen, ausnahmslosen oder Ausnahmen gestattenden Allgemeinurteilen und Notwendigkeiten zu tun haben, folgen je verschiedene Konklusionen für die Wahrheitsbedingungen solcher Urteile. Ein allgemeines Arturteil etwa, daß die menschliche Hand fünf Finger hat, wird nicht durch einen sechsfingrigen Mann, wie er in der Natur und, unter komischen Vorzeichen, im bekannten Film The Princess Bride vorkommt, widerlegt noch rechtfertigt es die apodiktische Behauptung, daß wenn etwas eine menschliche Hand ist, es notwendig fünf Finger haben muß, auch wenn dies in den meisten Fällen so sein wird. Daher ist eine innerhalb der Biologie, Zoologie, Chemie, Medizin usf., welche nur ut in multis, nicht ut in omnibus gültige Urteile erlauben, anwendbare modale Onto-Logik eine andere als eine, deren Prämissen rein apriorische und wesensgesetzliche ontische (mathematische, logische, ethische usf.) Notwendigkeiten sind, weil die nicht absolut ausnahmslosen Allgemeinheiten in der Natur eigentlich niemals strikte Allgemeinurteile (Arturteile) rechtfertigen, sondern nur meistenteils
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zutreffende Urteile, die in einem ganz strengen Sinn immer Partikulärurteile sind. Zu der ontologischen Voraussetzung schlechthin universaler und wahrer Allgemeinurteile (Arturteile) – in objektiv notwendigen universalen Gesetzen und Sachverhalten – treten noch die erwähnten epistemologischen Voraussetzungen in evidenten Erkenntnissen. So könnte sich erst aus einer mit Gewißheit ausgezeichneten Erkenntnis echter Universalien, nämlich notwendiger allgemeiner Wesensgesetze, eine strikte Rechtfertigung der apodiktischer Universalurteile und der Logik der Beziehungen und Verhältnisse zwischen diesen selber ergeben. Nur von der epistemischen Modalität der ‚Evidenz‘ und der objektiven Gewißheit über universale Sachverhalte und Wahrheiten her lassen sich nicht nur überhaupt logische Gesetze als strikte und zwingende Gesetze begründen, sondern auch nur von einer Erkenntnis dieser Stufe der epistemischen Modalität der Evidenz oder der Gewißheit lassen sich auch strenge logische und formal-ontologische Implikationen und Begründungsverhältnisse zwischen Sachverhalten und Urteilen fundieren. Umgekehrt hat sich die Definition der Implikation in der modernen symbolischen Logik aus einer vorausgesetzten empiristischen nominalistischen Philosophie ergeben, für die es eine starke, und in erster Linie nur in notwendigen Universalien begründbare, Implikation nicht mehr gibt. Auf Grund einer solchen empiristischen oder nominalistischen Grundlegung der Logik wird behauptet, daß – per definitionem durch Wahrheitstafeln – jedes wahre Urteil jedes andere wahre Urteil material impliziert, was eine reine Koexistenz der Wahrheit zweier auf einander nicht bezogener und außerdem nur kontingent wahrer Urteile nicht mehr von einer notwendigen Implikation unterscheidet, wie sie sich nur durch das Darunterfallen eines Singulärurteils unter ein echtes universales Urteil und andere strenge notwendige Gesetze erklären läßt. Der Wahrheitsanspruch allgemeiner Prämissen in einem Argument sowie jener der Konklusionen innerhalb der von Aristoteles entdeckten und später vervollkommneten Formen gültiger Syllogismen,450 läßt sich nur auf eine von zwei Arten erklären: entweder durch das, was Pfänder vollständige Induktion nennt, wobei es 450
Diese hat Pfänder neu und phänomenologisch untersucht und begründet.
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sich (für menschliches Verstehen) um auf begrenzte Zahlen von Individuen beschränkte Klassen, Gruppen oder ‚Allgemeinheiten‘ handeln muß und ferner jede Einzelerkenntnis, die das Allgemeinurteil „alle…“ in sich enthält, gewiß sein muß. Oder durch die evidente und rational-intuitive oder deduktive Erkenntnis notwendiger Wesensgesetze, welche ausnahmslos auch auf eine unbegrenzte Zahl von Individuen anwendbar sind bzw. von diesen gelten.451 Daher ist es unausweichlich, daß eine Logik, welche die höheren epistemischen Modalitäten der Evidenz und der Gewißheit verwirft, entweder eine ihrerseits wieder unbegründbare und nur fälschlich für rein analytisch-tautologisch gehaltene Logik akzeptieren und für begründet halten könnte, oder aber eine rein empirisch-psychologistisch oder Popperianisch-hypothetisch fundierte formale Logik einführen müßte, deren Gesetze in keiner evidenten Erkenntnis gegeben wären und die deshalb nur eine Reihe falsifizierbarer Hypothesen und Annahmen zur Grundlage hätte. Aus einer solchen Logik, die auf einer Erkenntnistheorie beruht, die keine objektive Evidenz über streng allgemeine Sachverhalte anerkennt, ergibt sich dann logisch auch jene abgeschwächte Form der materialen Implikation, die die eigentliche Eigenart strenger logischer und sachlich fundierter Implikationen nicht mehr anerkennen kann, weil deren Anerkennung jede ontisch- und epistemisch-modale Grundlage fehlen würde. 5.5. Einige Verwechslungen in der modernen Modallogik
Werfen wir einen Blick auf die moderne modale Logik, so finden wir in ihr nicht nur gegenüber Pfänder eine fast vollkommene Abwesenheit des Versuchs einer philosophischen Analyse ihrer fundamentalen Begriffe, Gegebenheiten und Prinzipien, an deren Stelle Formeln treten, die von den einen verteidigt, von den anderen bestritten werden, weil sie meist hinsichtlich der gemeinten Sachverhalte ganz unklar sind und in einigen Bedeutungen zutreffen, in anderen nicht, was jedoch nicht in einer eingehenden phänomenologischen Hinkehr zu den gemeinten Sachen selbst geklärt wird. Infolgedessen finden wir nicht nur profunde Unklarheit 451
Vgl. Pfänder, Logik, a. a. O., S. 246 ff., 339-348.
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darüber, was mit „Modalität“ gemeint wird, sondern auch ein rein formales Formelsystem, dessen Stolz es ist, wie Copi schon vor vierzig Jahren bemerkt hat, von allen philosophischen Wesensfragen abzusehen und gerade nur dadurch zu einem einheitlichen System zu gelangen,452 was allerdings in den verschiedenen modallogischen Systemen nicht wirklich der Fall ist. Betrachten wir etwa den Artikel, in dem die Stanford Encyclopedia die Modale Logik einführt, so sehen wir zunächst eine vollendete Unklarheit darüber, was eigentlich eine Modalität im Urteil ist und was sie modifiziert: “A modal is an expression (like ‘necessarily’ or ‘possibly’) that is used to qualify the truth of a judgement.” Erstens – wie sich aus dem Bezug zu allen möglichen Welten zeigt – werden hier zwei ontische Modalitäten der Sachverhalte (notwendig und möglich), die nichts mit einer Urteilsfunktion zu tun haben, mit den rein logischen Modalitäten des Behauptungsschlags verwechselt und zweitens werden diese ontischen Modalitäten als Modifikationen der Wahrheit bezeichnet, was sie in keiner Weise sind. Auch wenn man die Ausdrücke notwendig und möglicherweise (vielleicht) im Sinne der Modalität des Urteils deutet, modifizieren diese die logische Stärke des Behauptungsschlags, nicht aber die Wahrheit. In der Tat sind Urteile dreier verschiedener logischer Modalitäten, wenn der Sachverhalt, den sie meinen, besteht, gleichermaßen und aus demselben Grunde wahr. Auch im darauf folgenden Satz geht der Autor neuerlich auf die ontischen Modalitäten von Sachverhalten über, aber bezieht sich auf die in einer Ausdrucksweise, welche auch die rein logische Modalität der Behauptungsfunktion des Urteils meinen könnte: “Modal logic is, strictly speaking, the study of the deductive behavior of the expressions ‘it is necessary that’ and ‘it is possible that’.” Hier kommt noch die weitere Unklarheit ins Spiel, daß anstatt einen klaren Begriff von dem Urteil zu haben, in dem allein die logische Modalität zu Hause ist, diese nun sprachlichen Ausdrücken (“expressions”) zugeschrieben wird, wobei in sinnwidriger Weise von diesen etwas behauptet wird, was sprachlichen Ausdrücken auf keinen Fall zukommen kann, nämlich logische 452
Vgl. Irving M. Copi, Symbolic Logic, 3rd ed. (New York/London: McMillan/Collier McMillan, 1967).
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Eigenschaften. Außerdem schreibt der Autor diesen sprachlichen Ausdrücken etwas zu, was es gar nicht gibt: nämlich ein “deductive behavior”, so als ob man die logische Struktur eines Arguments als „Benehmen“ oder „Verhalten“ charakterisieren könnte. Der Hauptfehler aber liegt in einer Verwechslung von Funktionen sprachlicher Ausdrücke oder Symbole in Sätzen mit ontischen und dieser mit logischen Modalitäten. Vom Autor wird ferner zwischen den für logische „Modifizierungen der Wahrheit“ gehaltenen Modalitäten der Notwendigkeit und Möglichkeit, deren logische Eigenschaften Hauptgegenstand der Modallogik seien, und anderen Arten von Modifikationen unterschieden, die als Modalitäten bezeichnet werden, wie ethische (deontische), doxastische und zeitliche Bestimmungen: “However, the term ‘modal logic’ may be used more broadly for a family of related systems. These include logics for belief, for tense and other temporal expressions, for the deontic (moral) expressions such as ‘it is obligatory that’ and ‘it is permitted that’, and many others.” Für die beiden Hauptmodalitäten (die eigentlich ontische Modalitäten sind), werden folgende Symbole verwendet: Ƒ Es ist notwendig, daß … ¸ Es ist möglich, daß …
Eine nähere Analyse dieses Artikels und vieler anderer Schriften zur modalen Logik, Zeit- oder tense-Logik, provability logic usf. zeigt, wie die philosophische Unklarheit und sogar der Mangel an Bemühung um Klarheit über die eigentliche Natur der gemeinten Phänomene nicht nur zu einer Fülle verschiedener und einander widersprechender Systeme modaler Logiken führt, sondern wie angemessene Systeme formaler modaler Logik und modaler formaler Onto-Logik sowie materiale (nicht-formale) modale Logiken in anderen Bereichen (wie dem Verpflichtendsein, Erlaubtsein, Verbotensein) nur dann eine echte anwendbare Basis haben und auf wahren Axiomen beruhen können, wenn über ihre Grundbegriffe und die diesen entsprechenden Wesenheiten Klarheit erreicht ist.
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5.6. Ethische Modalitäten
Innerhalb der „ethischen Modalitäten“, deren eingehende Erörterung für unser Thema der Urteilswahrheit nicht notwendig ist, unterscheidet die Modallogik vor allem drei: das Gebotensein (Verpflichtendsein), Erlaubtsein, und Verbotensein und die logischen Beziehungen zwischen ihnen, indem die sogenannte deontische Logik folgende Symbole verwendet: O It is obligatory that/es ist verpflichtend, daß … P It is permitted that/es ist erlaubt, daß … F It is forbidden that/es ist verboten, daß …
5.7. Zeitliche Modalitäten
Einen direkteren Bezug zu unserem Thema haben die zeitlichen ontischen Modalitäten, vor allem das Zukünftigsein, das Aristoteles schon mit der Urteilswahrheit in Verbindung brachte, indem er behauptete, daß die Tatsache, daß kontingente zukünftige Ereignisse nicht nur noch nicht wirklich, sondern auch inhaltlich unbestimmt sind, dazu führe, daß es über sie keine wahren und falschen Aussagen geben könne.453 Wie Pfänder gezeigt, ist jede Zeitenlogik und sind mittelbare und unmittelbare Schlüsse, die auf Zeitbestimmungen aufbauen, materiallogischer (inhaltlich bestimmter) Natur, weil die Sachen selbst, auf die Zeitbestimmungen abzielen, in ihrem Wesen verstanden werden müssen, um die Axiome und Theoreme einer solchen Logik zu verstehen. Für die hauptsächlich in dieser Zeit- oder tense-Logik untersuchten ontischen Modalitäten werden folgende Symbole verwendet: G F H P
It will always be the case that/Es wird immer der Fall sein, daß … It will be the case that/Es wird der Fall sein, daß … It has always been the case that/Es war immer der Fall, daß … It was the case that/Es war der Fall, daß …
Wenn man versteht, und nur wenn man versteht, was aus diesen zeitlichen Bestimmungen folgt, kann man die wahren Axiome einer Logik 453
Aristoteles, Peri Hermeneias/De Interpretatione.
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finden, welche aus zeitlichen Bestimmungen verschiedener Seiender und Ereignisse Schlüsse zieht. 5.8. Doxastische Modalitäten
Von den Modalitäten der Erkenntnis unterscheiden sich noch einmal die Modalitäten des belief/der Überzeugung, wobei man streng genommen noch einmal von den Akten der Überzeugung und den objektiven, dem Urteil ähnlichen Gedankeninhalten der Überzeugungen unterscheiden müßte. Für sie werden folgende Symbole verwendet: Bx x believes that …/x ist davon überzeugt, daß …
5.9. Rein psychische Modalitäten und ihr Verhältnis zu logischen, epistemischen und ontischen Modalitäten
Rein subjektive und daher nicht mehr echte epistemische Modalitäten wie rein subjektive Gewißheiten, aber erst recht die Intensitäten von Überzeugungen oder die Stärke des Glaubens, die Energie, mit der eine Behauptung aufgestellt wird, aber auch Denknotwendigkeiten können zu der ganz anderen Klasse psychischer Modalitäten gerechnet werden, die von den logischen, ontischen und objektiv epistemischen ganz verschieden und für die Logik prinzipiell ganz uninteressant sind, obwohl die bedeutende logische Richtung des Psychologismus, welche die obersten logischen Prinzipien auf Denknotwendigkeiten zu reduzieren sucht, nicht nur die psychischen mit den logischen Modalitäten verwechselt, sondern die letzteren in unhaltbarer und zu einem radikalen Relativismus führender Weise aus den vorigen abzuleiten bzw. auf diese zurückzuführen sucht.454 Nun ist es evident, daß aus psychischen Notwendigkeiten, z.B. aus psychischen Denknotwendigkeiten, seien diese empirisch induktiv oder synthetisch a priori, schlechthin nichts für die Wahrheitszusammenhänge folgt, die die Logik erforscht. 454
Neben Husserls Prolegomena zu den Logischen Untersuchungen geht auch Plantinga (a. a. O., S. 3-8) auf die Verschiedenheit ontischer und logischer Notwendigkeiten von epistemischen und psychischen Modalitäten ein, ohne allerdings die beiden letzten Kategorien und deren Unterarten sauber zu trennen.
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5.10. Die Gefahr der Verwechslung der verschiedenen Arten von Modalität und vielfache Wechselbeziehungen zwischen ihnen – Eine eingehende Klärung dieser Unterschiede würde eine rein philosophische Fundierung einer Revolution und Vertiefung der formalen und materialen modalen Logik ermöglichen
Es gibt wenige schlimmere Gefahren für die Logik und die Philosophie im allgemeinen als eine Verwechslung ganz verschiedener Dinge und Sachverhalte. Diese Gefahr wirkt sich in der Antike und im Mittelalter, aber in gesteigertem Maß in der Moderne und Gegenwart auch auf die Diskussion der modalen Logik sehr negativ aus. Ockham etwa übersieht, daß die von ihm benannten Eigenschaften solche der Objekte des Urteils oder der Erkenntnis usf. sind, nicht des Urteils selbst. Zwar behauptet Ockham, daß die von ihm genannten Modalitäten solche der propositio selbst seien, und daß die Modalität sogar vom ganzen Urteil auszusagen sei (modus praedicabilis de tota propositione), aber in dem, was er dann konkret inhaltlich behauptet, zeigt sich das Fehlen der betreffenden Unterscheidungen. Er bemerkt mit Recht, daß die vier erwähnten Modalitätstypen nicht alle möglichen erschöpfen. Er fügt dabei auch linguistische und andere Typen gnoseologischer Modalitäten hinzu, die sich ganz von ontischen und von logischen unterscheiden, z.B. bekannt – unbekannt, wahr – falsch, geschrieben, gesprochen, in Gedanken gefaßt (verstanden), geglaubt, gemeint, bezweifelt, usf.455 Ockham nimmt zweifelsohne, wenn er als scharfsinniger Logiker diese ganz verschiedenen Arten von Modalität nicht verwechselt, eine modallogische Äquivalenz zwischen den folgenden Urteilen an, die teils ontische, teils epistemische, teils logische Modalitäten aussagen oder enthalten: „Es ist notwendig, daß jeder Mensch ein Lebewesen ist“ (ontologisch), „Man weiß, daß jeder Mensch ein Lebewesen ist“ (epistemisch), etc. Eine solche logische Äquivalenz aller Modalitäten besteht aber in Wirklichkeit in keiner Weise, wie aus dem Gesagten klar sein sollt. Wenn ich z.B. sage: „Ich glaube mit Sicherheit, daß S P ist“, folgt aus dieser epistemisch-psychischen Apodiktizität nicht, daß immer oder jemals „S P ist“. Höchstens wenn die epistemische Modalität die 455
Also auch das, was Ingarden als Quasi-Urteil vom Urteil abgrenzt, faßt Ockham als Modalität desselben. Ebd., P. II, c. 1.
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Frucht echter evidenter Einsicht ist, besteht eine Äquivalenz. Wenn ich mit Sicherheit weiß, daß S P ist, dann ist S P. Aber auch hier besteht keineswegs eine inhaltliche Identität und auch keine logische Äquivalenz zwischen dem höchsten Grad epistemologischer Modalität der Gewißheit und ontischer Notwendigkeit. Daraus, daß ich sicher weiß, daß S P ist, folgt keineswegs daß „S ist P“ notwendig oder notwendig (statt kontingent) wahr sei. Erst recht besteht keine logische Äquivalenz zwischen logischen und ontischen Modalitäten. Es sind ja problematische logische Urteile über eine ontische Notwendigkeit möglich, z.B.: „Es dürfte notwendig sein, daß jedes Urteil mindestens drei Begriffe enthalten muß“ fällt ein logisch abgeschwächtes (problematisches) Urteil über einen notwendigen oder für notwendig gehaltene Sachverhalt.456 Ähnliche Verwechslungen zwischen rein logischen, epistemischen und ontischen Modalitäten finden wir auch bei den Gründern der modernen modalen Logik, z.B. bei H. Mac Coll, der ontische und logische Modalitäten von epistemischen Modalitäten wie ‘known to be true’, ‘known to be false’, ‘neither known to be true nor known to be false’ nicht klar unterscheidet.457 Auch Oskar Becker vermengt458 diese Kategorien mit den ontischen Modalitäten des ‚Unmöglichen‘ und des ‚Notwendigen‘. Obwohl Plantinga die Modalitäten de dicto und de re459 und auch verschiedene epistemologische Modalitäten unterscheidet,460 führt er für die Notwendigkeit de dicto Beispiele notwendig wahrer Urteile an,461 deren Notwendigkeit in der Notwendigkeit von Sachverhalten gründet, und vermengt diese ontischen Modalitäten und Notwendigkeiten mit den eigentlich logischen Modalitäten, wie sie den klassischen Modalitäten des Urteils 456
A. Pfänder, Logik, S. 92 ff. Die scheinbar dieser These widersprechenden Urteile wie die Impersonalien „es schneit“ oder Existenzaussagen sucht Pfänder als ebenfalls aus drei Begriffen gebildete Urteile zu erweisen, was ihm nicht in allen Fällen recht gelingt. 457 Vgl. H. Mac Coll, “Symbolic Reasoning, II”, S. 493 ff., 509 f. 458 Oskar Becker, a.a.O., S. 501 f. 459 Vgl. Alvin Plantinga, The Nature of Necessity, S. 9-43. 460 A. a. O., S. 2-9. 461 Plantinga verwendet korrekterweise den Ausdruck Proposition, um den Urteilsinhalt bzw. den objektiven Gedanken von sprachlichen Sätzen zu unterscheiden, die nur wahr genannt werden können, wenn sie wahre Urteile (Propositions) zum Ausdruck bringen.
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(assertorisch, apodiktisch und problematisch) entsprechen. So bezeichnet er zum Beispiel das Urteil „neun ist notwendig zusammengesetzt“ als eine Notwendigkeit de dicto, obwohl diese Notwendigkeit primär eine des mathematischen Sachverhalts ist, die nur als ihre Folge die Wahrheit des genannten Satzes notwendig macht. Diese Notwendigkeit ist jedenfalls keineswegs eine logische Modalität, die mit den Modalitäten ‚problematisch‘, ‚assertorisch‘ oder ‚apodiktisch‘ zu tun hat.462 Auch verwechselt Plantinga wirkliche oder angebliche psychische Modalitäten wie Denknotwendigkeiten mit logischen Modalitäten de dicto. Zum Beispiel hält er463 das Urteil „das, woran ich denke, ist notwendig eine Primzahl“ (“what I am thinking of is necessarily prime”), nämlich die Zahl 17, mit Recht für eine Notwendigkeit de re, aber was im Urteil „notwendigerweise denke ich an eine Primzahl“ (necessarily, what I am thinking of is prime), also in einer Aussage über ein (von ihm mit Recht verworfenes) notwendiges Denken einer Primzahl gemeint wird, für eine (logische) Modalität de dicto, während es sich dabei eigentlich um eine vermeintliche psychologische Notwendigkeit handelt.464 Nachdem er die psychischen Modalitäten (wie Zaghaftigkeit oder Forschheit des Behauptens) scharf von den logischen Modalitäten unterschieden hat, sagt Pfänder deshalb zu Recht:465 Nach der anderen Seite ist die logische Modalität des problematischen Urteils genau abzuscheiden von der ontologischen Modalität, die in dem vom Urteil entworfenen Sachverhalt liegt.466 462 463 464
465 466
Vgl. Plantinga, a. a. O., S. 9. a. a. O., S. 12. Auch in der Diskussion des sogenannten modalen ontologischen Arguments für die Existenz Gottes werden von Hartshorne und Plantinga Begriffe logischer und ontischer Notwendigkeit mit einander vermengt. Plantinga, a. a. O., S. 205-221. Vgl. auch Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2, Kap. 2, 12. Pfänder, ebd., S. 94. Und weiter: Dementsprechend ist auch der Sachverhalt, der dem problematischen Sachverhalt als sein Gegenstück gegenübersteht, durchaus kein eigenartiger. Denn durch die beiden Urteile: „Er ist vielleicht im Theater” und „Er ist im Theater” werden keine verschiedenen Sachverhalte, sondern ein und derselbe Sachverhalt entworfen.
(Ebd., S. 96).
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Pfänder faßt seine diesbezüglichen Einsichten so zusammen: Jedes Urteil, mag es einen Sachverhalt entwerfen, welchen es will, hat notwendigerweise eine bestimmte Modalität und ist daher entweder ein problematisches oder ein assertorisches oder ein apodiktisches. Die Modalität betrifft die Behauptungsfunktion der Kopula, die entweder in ihrem logischen Gewicht abgedämpft oder voll oder übersteigert ist. Es liegt gar nicht im Sinn dieser Modalität, in den durch das Urteil entworfenen Sachverhalt eine ontologische Möglichkeit oder Wirklichkeit oder Notwendigkeit hineinzusetzen. Es ist daher unmöglich, aus dem Wesen des problematischen, assertorischen und apodiktischen Urteils die Notwendigkeit abzuleiten, in die entworfenen Sachverhalte die ontologischen Kategorien der Möglichkeit, der Wirklichkeit und der Notwendigkeit hineinzuprojizieren, wie es Kant versucht hat.467
Trotz der scharfen Abgrenzung zwischen logischen und ontischen Modalitäten gibt es, worauf Pfänder nicht hinweist, viele Wechselbeziehungen zwischen logischen, epistemologischen und ontischen Modalitäten, indem z.B. häufig erst die ontische Wesensnotwendigkeit (eine ontische Modalität), wenn sie mit Gewißheit erkannt wird (epistemische Modalität), die volle Rechtfertigung der logischen Modalität des apodiktischen allgemeinen Urteils bietet.468 (Wenn hier von Rechtfertigung die Rede ist, so meinen wir die rationale ontologische oder/und erkenntnismäßige Begründung von Urteilen apodiktischer oder problematischer Modalität im rein logischen Sinn.) Beziehungen bestehen natürlich, wie bereits mehrfach betont, auch zwischen den verschiedenen Typen von Modalitäten, z.B. zwischen epistemischen und ontischen Modalitäten, in bezug auf deren Typen der Verknüpfung sogar jeweils eigene modale Logiken entwickelt werden müssen, weil sich aus den je verschiedenen Typen und Kombinationen 467 468
Ebd., S. 100. Die Dinge liegen anders im Falle der vollständigen Induktion oder unmittelbaren Wahrnehmung und Intuition einer ganzen Gruppe von Gegenständen, wo eine andere Art von Allgemeinheit des allgemeinen Urteils vorliegt, dessen Wahrheit und geurteilten Sachverhalt ich auf Grund der Wahrnehmung erkennen kann (wie: alle Menschen in diesem Zimmer sind Schwarze, was ich sehen kann).
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ontischer, logischer und epistemischer Modalitäten je ganz verschiedene Konsequenzen für die Logik ergeben. Aus den Ergebnissen einer systematischen rein philosophischen Erforschung aller Arten von logischen, ontischen und epistemischen Modalitäten und deren Anwendung in der symbolischen Logik müßte sich also eine radikale Revolution und Vertiefung einer umfassenden und differenzierten modalen Logik und der Wahrheitsansprüche von Urteilen und Konklusionen von Beweisen, die verschiedene logische Modalitäten haben oder sich auf verschiedene andere Arten von Modalitäten beziehen, ergeben. Diese Aufgabe kann hier nur aufgerissen, ihre Ausführung muß Anderen überlassen werden. 6. Wahrheitsanspruch und Wahrheit des Urteils entsprechend der ‚Quantität‘ des Urteils Wir sind schon im Rahmen der Erörterung der Modalität der Urteile auf die Fragen gestoßen, welche ontologischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen die Logik selbst als Wissenschaft und begründete Wahrheitsansprüche universaler sowie anderer Arten allgemeiner Urteile machen. Die Quantität des Urteils differenziert den Subjektsbegriff in besonderer – eben quantitativer – Weise. Dabei kann diese Differenzierung der ‚Quantität‘ entweder einfach die numerische Einheit oder Mehrheit der Subjektsgegenstände als Gesichtspunkt der Einteilung wählen und dann singuläre und plurale Urteile (Singularurteile und Pluralurteile) unterscheiden. Singularurteile senden, wie Pfänder sich ausdrückt, selbst wenn sie ein Arturteil sind wie ‚Schwefel ist gelb‘ oder sich auf einen Gegenstand beziehen, der viele einzelne Individuen in sich enthält, wie „Dieser Bienenschwarm kann gefährlich werden“, durch den Subjektsbegriff nur „einen einzigen Meinungsstrahl“ auf einen Subjektsgegenstand aus; Pluralurteile hingegen senden in bzw. durch ihren quantifizierten Subjektsbegriff „eine Mehrheit von Meinungsstrahlen auf mehrere Subjektgegenstände“ aus. Das Pluralurteil meint also durch den Subjektsbegriff eine Vielheit von Gegenständen, die nach verschiedenen Gesichtspunkten wie ihrem ‚Was‘, ihrem ‚Wie‘, ihrer Art, ihrer Relation, ihrer räumlichen und zeitlichen Folge oder Lage, ihrem Wert usf. ausgewählt werden können. Eine andere Einteilung der Urteile ihrer Quantität nach hingegen
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unterscheidet Einzelurteile, Partikularurteile und Universalurteile. Diese Einteilung, so zeigt Pfänder, setzt voraus, daß der Subjektsbegriff zunächst eine bestimmte wegen ihrer Art, ihrem Wie, ihrer Relation oder anderen Gesichtspunkten bestimmte Menge von Gegenständen ausgrenze und dann innerhalb dieser so ausgegrenzten Gegenstände entweder einen, oder mehrere, oder aber alle meine. Eine dritte Unterscheidung der Quantität von Urteilen unterscheidet Arturteile und Individualurteile, wobei die Arturteile, obwohl eine Menge von Gegenständen unter die Art fallen, Singulärurteile im angegebenen Sinne sind.469 Eine vierte Unterscheidung der Urteile ihrer Quantität nach differenziert zwischen Kollektiv- und Solitärurteilen, wobei die ersten einen aus vielen Einheiten zusammengesetzten Gegenstand meinen, wie etwa einen Bienenschwarm oder die natürliche Zahlenreihe, denen Eigenschaften zukommen, welche sich in den einzelnen Gliedern des Kollektivs nicht finden, wodurch die logischen Fehler der falschen Komposition und Teilung sich erklären lassen. Innerhalb der Quantität des Urteils stellen insbesondere die Arturteile (wie „der Mensch ist sterblich“) und universale Urteile (wie „Alle Menschen sind sterblich“) ein tieferes Problem hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs dar, und hier wiederum wirft in erster Linie der Wahrheitsanspruch der apodiktischen und der assertorischen Urteile ein Problem auf. Eine besonders hilfreiche logische Unterscheidung, um den Einfluß der Quantität des Urteils auf Wahrheitsansprüche verschiedener Arten von Allgemeinurteilen zu begreifen, stellt dabei die Abgrenzung von fünf verschiedenen Typen von Arturteilen dar, welche wir Alexander Pfänder verdanken:470 Da ist einmal das Arturteil, deren Subjektbegriff die Art in allen ihren Einzelfällen meint und daher auch im rigorosen Sinne Universalurteile wie „Alle S sind P“ (etwa „alle Menschen sind sterblich“) begründet. (Es gibt auch Attributions-, Relations- und andere Allgemeinurteile, die, ähnlich, über alle Individuen irgendeiner Menge oder Form von allgemeinen Namen oder Eigenschaften urteilen.) Zweitens kann die Art nicht in jedem Fall gemeint werden, sondern nur im Normalfall, etwa im Fall eines gesunden, weder verkümmerten noch 469 470
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, S. 111 ff., bes. S. 118. Alexander Pfänder, ebd., S. 121 ff.
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deformierten Tieres einer bestimmten Spezies oder eines gesunden Menschen. Ausnahmen und die Falschheit solcher Urteile über kranke Tiere oder Menschen oder über „abnormale“ Fälle werden hier nicht ausgeschlossen, wie etwa „Die menschliche Hand hat fünf Finger“, ein Urteil, das keineswegs ausschließt, daß es den im Film „Princess Bride“ erwähnten „sixfingered man“ geben kann. Hier kann der Spruch „Ausnahmen bestätigen die Regel“ angewandt werden. Ein dritter Typus von Arturteil bezieht sich auf den Durchschnittsfall oder meint sogar nur einen abstrakten Durchschnittswert, wie etwa: „Das (erwartete) Lebensalter des Mannes ist heutzutage 78 Jahre, zwei Monate, drei Tage.“ Ein solches Urteil braucht auf kein einziges Individuum zutreffen, wenn kein einziger Mann jemals genau dieses Durchschnittsalter erreicht hat, aber dennoch wahr sein, weil es den tatsächlichen Durchschnittswert richtig wiedergibt. Eine vierte Klasse von Arturteilen kann nur den „typischen Fall“ meinen wie wenn jemand sagt „Frauen gehen lieber Lebensmittel einkaufen als Männer“ oder „sind kleiner als Männer“. Dies mag im typischen Fall und damit wohl auch in den meisten Fällen zutreffen, aber wird nicht als strenges Allgemeinurteil im ersten Sinn gemeint, weshalb die Feststellung, daß viele ganz normale Frauen größer sind als viele Männer, oder weniger gern Lebensmittel einkaufen als ihre Männer, solche Urteile nicht widerlegt. Eine fünfte Kategorie von Arturteilen schließlich kann von einem Idealfall bzw. von der vollkommenen Verwirklichung einer Wesenheit sprechen. In diesem Sinn ist etwa der berühmte Lobpreis der Liebe gemeint, den wir im Korintherbrief 1.13 des hl. Paulus finden. Jene herrliche Wesenheit der Liebe, von der in diesem Hohenlied gesprochen wird, findet sich vielleicht in keinem Menschen in dieser vollkommenen Weise und dennoch ist das Urteil vollkommen wahr, und bliebe sogar dann wahr, wenn ein solches Idealurteil auf keinen einzigen realen liebenden Menschen zuträfe. Denn es redet von der idealen Wesenheit der Liebe selbst und nicht von dieser oder jener unvollkommenen Liebe und stellt uns daher den Maßstab vor Augen, kraft dessen wir überhaupt erst die Unvollkommenheit dieser oder jener Liebe feststellen können. Es leuchtet ein, daß je nach der Weise, in der ein Arturteil, oder auch ein anderes Allgemeinurteil wie ein Attributionsurteil, gemeint ist, der in ihm
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behauptete Sachverhalt ein jeweils ganz anderer ist und seine Wahrheit daher davon abhängt, ob genau der in ihm behauptete Sachverhalt tatsächlich besteht oder nicht. Eine ganz andere Frage betrifft die epistemologische Rechtfertigung, allgemeine und insbesondere strikt universale Urteile des ersten eben identifizierten Typus zu behaupten. Zwar ist das Problem der Erkenntnis der Wahrheit sowie der Begründbarkeit von Wahrheitsansprüchen ein erkenntnistheoretisches und nicht ein rein logisches Problem. Man könnte etwa an demselben Wahrheitsverständnis festhalten, dann aber von einem empiristischen Erkenntnisverständnis aus sagen, daß wir die Wahrheit von Arturteilen und von Allgemeinurteilen, wenigstens von solchen der ersten eben erörterten Form, nicht erkennen können. Am Beispiel der Wahrheitstheorie Karl Poppers aber sehen wir, daß dessen ‚negativer Empirismus‘, der Wahrheitsansprüche allgemeiner Urteile nur als „(noch) nicht falsifizierte Hypothesen“ zuläßt, auch zu einer Umformung des Wahrheitsbegriffs selbst führt. Das läßt sich auch an den Gründen aufzeigen, die Rorty für sein Überwechseln zu einem pragmatischen Wahrheitsbegriff anführt, nämlich einem Aufgeben der Idee der „Erkenntnis...als Bemühen, die Natur abzubilden“ und die Habermas in einem bekannten Aufsatz über Rorty erörtert.471 Auch aus der Darstellung und Kritik von Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit im zweiten Band des vorliegenden Werkes werden wir erkennen, daß für das Entstehen der letzten Endes in einem subjektiven Evidenzkriterium 471
Vgl. etwa Jürgen Habermas, „Wahrheit und Rechtfertigung, Zu Richard Rortys pragmatischer Wende“, ursprünglich in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 44, 1996, 715-741 erschienen, wiederabdruck in Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999), S. 230-270, besonders den Kommentar über Richard Rortys autobiographische Schrift, Wild Orchids and Trotzky, ebd., S. 230 f., sowie Richard McKay Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature (Princeton, N. J.: Princeton University Press, 1979); ders., “Putnam and the Relativist Menace,” The Journal of Philosophy XC, Spring 1973, 422, sowie Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, zit., S. 239: Rorty selbst stellt den Zusammenhang her zwischen der kontextualistischen Deutung der pragmatischen Wende und dem antirealistischen Verständnis von Erkenntnis einerseits, der Ablehnung einer Kantischen Analysestrategie andererseits. (ebd., S. 239).
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KAPITEL 3
mündenden brentanoschen Kritik an der Adäquationstheorie der Wahrheit erkenntnistheoretische Überlegungen eine entscheidende Rolle spielten. Doch geht auch aus den weiteren zur Korrespondenztheorie der Wahrheit alternativen Wahrheitstheorien des Urteils hervor, daß viele neue Deutungen oder Umdeutungen der Wahrheit des Urteils gerade in dem Aufgeben des Wahrheitsanspruches von Allgemeinurteilen (der ersten und zweiten Form) und in der Verzweiflung an deren Erkennbarkeit ihre Wurzel haben. Eine solche Meinung kann dann leicht zur Aufgabe einer Adäquationstheorie der Wahrheit bzw. einer korrespondenztheoretischen „Wahrheitstheorie“ führen, der zufolge die Urteilswahrheit in der Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit läge. Deshalb sind die erwähnten Unterscheidungen und die Herausarbeitung der erkenntnistheoretischen Sachverhalte im Rahmen einer Analyse des Wesens der Urteilswahrheit und der Wahrheit allgemeiner Urteile von höchster Bedeutung. 7. Modifikation des Wahrheitsanspruchs des Urteils entsprechend der Qualität der Urteile Die sogenannte Qualität der Urteile liegt der Unterscheidung zwischen positiven und negativen Urteilen zugrunde. Die Qualität des Urteils betrifft, wie Pfänder zeigt, primär die Hinbeziehungsfunktion der Kopula. Im positiven, bejahenden Urteil wird das Prädikat auf das Subjekt positiv hinbezogen, ihm zugesprochen; im negativen Urteil wird es negativ auf das Subjekt bezogen und gleichsam von diesem ‚abgespreizt‘.472 Eine entscheidende Bedeutung für eine nähere Klärung des objektiven Wesens der Wahrheit des Urteils spielt nun die Fähigkeit, neben der Wahrheit des bejahenden Urteils auch die Wahrheit des negativen Urteils erklären zu können. Und aufs erste scheint es ganz unmöglich, für die negativen Existenzialurteile wie „das Nichts existiert nicht“ oder: „Bevor ich gezeugt wurde, habe ich nicht existiert“ und für andere negative Urteile irgendeine Sache, eine res auf der Objektseite, ausfindig zu machen. Auf dieses Problem und die Richtung seiner Lösung sind wir bereits in diesem Kapitel ausführlich im Rahmen der Sachverhaltsproblematik, der 472
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, S. 84 ff.
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negativen Urteile und der ‚negativen Sachverhalte‘ eingegangen und haben gerade in einer Verteidigung positiver und negativer Sachverhalte die Grundlage der Möglichkeit gesehen, auch für die negativen Urteile in rigoroser und überzeugender Weise daran festzuhalten, daß ihre Wahrheit in einer adaequatio intellectus et rei liegt, wobei intellectus das objektive, aus Begriffen bestehende Urteil, und res den negativen Sachverhalt meint. Die Wichtigkeit dieser Erkenntnis, wegen deren Fehlen Franz Brentano auf Grund von scharfsinnigen Überlegungen die ganze klassische Wahrheitstheorie – mit sehr gefährlichen und irrigen Folgen – verwarf, wird uns im zweiten Band noch eingehender beschäftigen. 8. Die Modifikation des Wahrheitsanspruchs gemäß den ‚Relationen‘ des Urteils (kategorischen, hypothetischen, konjunkten und disjunktiven Urteilen) Wir unterscheiden bekanntlich verschiedene Relationen, insbesondere vier Arten von Urteilen, die ihrer sogenannten ‚Relation‘ nach verschieden sind, von denen das erste ein einfaches Urteil (das kategorische, welches einfach schlicht etwas behauptet) ist, daher eigentlich nur negativ (als deren Negation) unter den Gesichtspunkt der Relation des Urteils fällt, die drei anderen hingegen aus mindestens zwei Urteilen bestehende bzw. diese enthaltende komplexe Urteile darstellen. Die traditionelle Logik unterscheidet das kategorische, das hypothetische und das disjunktive Urteil, und in neuerer Zeit spielen auch Konjunktionen eine wichtige Rolle innerhalb der nach ihrer jeweiligen Relation unterschiedenen Urteilstypen. Die Logik, solange sie nur als formale Logik verstanden wird (welche vom jeweiligen Inhalt, auf den Urteile sich beziehen, absieht), interessiert sich dabei nur für die allgemeinen Urteilsformen, also für die formalen Strukturen der Urteilsrelationen und kümmert sich nicht um die zahllosen material-inhaltlichen Elemente und Gegenstände von Urteilen und nicht einmal für viele inhaltlich je von Zeit der Verben abhängige Strukturen der Urteilsformen, welche etwa die consecutio temporis (Zeitfolge) der Realisierung bzw. des Eintretens von etwas und andere örtliche oder sonstige inhaltliche Bestimmtheiten der behaupteten Sachverhalte betreffen. Allerdings berücksichtigt die moderne Logik, etwa in Form der von A.N. Prior
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KAPITEL 3
neu begründeten und auf Aristoteles und Peirce zurückgehenden Tense(Zeiten)-Logik473 oder der fuzzy logic, in zunehmendem Maße auch jene Arten von materialer Modifikation und Wurzel gültiger logischer Gesetze, die sich etwa aus dem Zeitindex von Urteilen, aus zeitlichen Relationen und verschiedenen Zeitmodalitäten der in einem Urteilskomplex zusammengefaßten Einzelurteile, aus dem deontischen oder aus dem fiktiven Charakter ihrer Gegenstände ergeben. Diese Logiken gehen somit auf eine „materiale Logik“ über, da ihre Axiome ohne Sachkenntnis der Natur der Zeit und anderer Seinsbereiche nicht erkannt werden können und sich nicht aus den reinen Urteilsformen, sondern nur aus der Natur bestimmter Sachbereiche ergeben.474 Eine Berücksichtigung der Natur des außerhalb der logischen Gesetze selber liegenden Seins ist zwar für die Grundlegung aller obersten logischen Sätze gegeben, welche die allgemeinsten Gesetze formaler Ontologie voraussetzen, aber eine noch viel weitergehende Berücksichtigung sachlicher Inhalte ist dort verlangt, wo man, wie in der TenseLogik, bestimmte Seinsbereiche zu verstehen hat, um die nur auf sie 473
Vgl. Arthur N. Prior, Time and Modality (Oxford: Oxford University Press, 1957); vgl. auch die Darstellung von Charles Sanders Peirces’ Beitrag in Peter Øhrstrøm, Existential Graphs and Tense Logic, Department of Communication, Aalborg University, Langagervej 8, 9220 Aalborg Øst, Denmark: http://www.hum.aau.dk/~poe/ARTIKLER/tense_graphs.html: There are many indications that Peirce, as one of the earliest modern philosophers, realized that tenses could, and even should, be reflected in our logic. He formulated his position in the following way: Time has usually been considered by logicians to be what is called ‘extra-logical’ matter. I have never shared this opinion. [CP 4.523] As it appears from this statement, Peirce made himself spokesman for an open and undogmatic understanding of logic. This openness, which was obviously due to his extensive knowledge of classic and scholastic logic, also meant that he would not accept a logic which conceived of truth as timeless. He could easily imagine a new development of modern logic that would take time seriously. Such a logic would just follow the lead of Aristotelian and Scholastic logic by taking seriously such expressions as “E will happen”, “E happened”, “Y happened when X started”. Peirce, however, held that around the turn of the century logicians were not ready to (re)introduce time in logic: But I have thought that logic had not yet reached the state of development at which the introduction of temporal modifications of its forms would not result in great confusion; and I am much of that way of thinking yet. [CP 4.523]
474
Vgl. die scharfe Abgrenzung formallogischer und materiallogischer unmittelbarer Schlüsse bei Alexander Pfänder, Logik, Teil IV, Kap. 7. Über die Arten formallogischer unmittelbarer Schlüsse vgl. ebd., Teil IV, Kap. 1-6.
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bezügliche Logik zu verstehen. Eine Berücksichtigung der Natur und Modi des Seins überhaupt ist jedoch für alle Teile der Logik verlangt. Denn sogar die Anwendbarkeit der scheinbar absoluten logischen Grundgesetze wie des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten auf fiktive und weitgehend in sich unbestimmte Gegenstände ist nicht gegeben. Manche Teilbereiche der Logik scheinen außerhalb von deren Sphäre zu liegen. Um die Natur und vor allem die Wahrheit der ihrer Relation nach unterschiedenen Urteile zu verstehen, sind nicht nur rein logische und entsprechende formal-ontologische Erkenntnisse vonnöten, sondern schon über die Erkenntnis der Urteilsformen hinausgehende Einsichten in die Natur der Zeit, des Raumes oder anderer Sachbereiche vorausgesetzt. Wenn ich etwa daraus, daß der Gegenstand A links vom Gegenstand B liegt, schließe, daß B also vom selben Standort aus rechts von A liegt, so folgt dies nicht aus den formalen Beschaffenheiten dieser Urteile, sondern kann nur aus der Kenntnis des Raumes und der eigenartigen Natur von links und rechts erschlossen werden. Dabei kann man freilich weiter unterscheiden und bemerken, daß die allgemeine Struktur verschiedener Bestimmungen der Zeit, des Ortes, etc. und deren Differenz von der Bedeutung anderer Satzteile durchaus noch zur Logik gehören, auch wenn diese Untersuchungen den Grammatiker und Sprachphilosophen mehr interessieren werden als den Logiker, weil sie sich auf die Sprache und deren Ausdrucksweisen und grammatische Regeln viel mehr auswirken als auf die reinen Gedankenformen, die die Logik erforscht. Wo freilich inhaltliche Einsichten in die Natur spezieller Dinge, etwa der Zeit, vorausgesetzt werden und ein logischer Widerspruch zwischen der Aussage, Ereignis A und B seien gleichzeitig gewesen, Ereignis C habe nach dem Ereignis B stattgefunden und Ereignis C sei doch zu gleicher Zeit mit A gewesen, da fällt man inhaltliche Urteile und setzt die Wahrheit von Urteilen über solche Sachbereiche allgemeinerer oder besonderer Art wie mögliche und unmögliche Beziehungen zwischen zeitlichen Ereignissen voraus, die nicht aus formaler Logik, sondern nur aus Erkenntnissen über das Wesen der Zeit gewonnen werden können und übrigens, wenigstens auf der abstrakten Ebene mikrophysikalischer Vorgänge, von der Relativitätstheorie in ihrer eigentlichen Wahrheit und Gültigkeit bestritten
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KAPITEL 3
werden.475 Die formale Logik gehen solche inhaltlichen Erkenntnisse über das Wesen der Zeit, die für material-logische Schlüsse der eben angeführten Art vorausgesetzt sind, nichts an, weshalb die Tense Logik eine Form von „materialer (d.h. nicht-formaler) Logik“ darstellt. Nur die allgemeine Struktur verschiedener Begriffsarten und ihre Rolle im Urteil wird von der formalen Logik erforscht. Man könnte übrigens im Gegensatz zur formalen von einer ‚materialen Logik‘ in verschiedenem Sinne sprechen: 1. Überall, wo man aus inhaltlichen Kenntnissen über gewisse Sachbereiche heraus aus einer Wahrnehmung oder Einsicht Schlüsse zieht, liegt einer jener ‚materialen Schlüsse‘ vor, wie wir sie im täglichen Leben, in vielen Aspekten der Logik der Sprache, der Logik des Aufbaus eines Romans oder einer Tragödie, usf. finden. Es liegen hier Sinnzusammenhänge und im weiteren Sinne logische Zusammenhänge vor, die sich nicht aus den rein formalen Urteils- und Schlußformen, sondern erst aus den inhaltlichen Wesen ihrer Gegenstände erkennen lassen. Nur eine inhaltliche Kenntnis gewisser natürlicher Sachbereiche, und keine rein formale Logik, kann begründen, warum wir berechtigt sind zu schließen, „es hat geregnet“, wenn wir nasse Straßen und Pflanzen sehen, oder warum wir schließen, wenn wir in eine Theateraufführung mit mehreren Schauspielern kommen, in der einer rezitiert; “to be or not to be, that is the question…,” daß das Theater an diesem Abend eine Vorstellung von Shakespeares Hamlet gibt oder warum wir erkennen können, daß der zweite Akt eines Dramas keine logische Verbindung zum ersten hat, in welcher Aussage wir uns auf viele Zusammenhänge künstlerischer und kultureller Natur und auf Gesetze der Natur und Psychologie beziehen müssen. Finden wir es „logisch“, daß jemand daraus, daß die ganze Straße und ihre Umgebung naß sind, darauf schließt, daß es geregnet hat, oder bewundern wir die Logik, mit deren Hilfe Sherlock Holmes Mörder entdeckt, haben wir 475
Wir können hier uns nötig scheinende Kritiken an der in Einsteins Relativitätstheorie der Zeit enthaltenen Philosophie der Zeit nicht ausführen. Vgl. Josef Seifert, „Wissen und Wahrheit in Naturwissenschaft und Glauben“ in Naturwissenschaft und Weltbild. Mathematik und Quantenphysik in unserem Denk- und Wertesystem, eds. H-C. Reichel and E. Prat de la Riba (Vienna: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, 1992)
Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit
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diesen Sinn einer materialen Logik im Auge. Da aber die Logik solcher Schlüsse ein unermeßliches Gebiet ist und sich ihre Prinzipien nicht axiomatisieren lassen, haben wir es meistens bei der „materialen Logik“ mit Schlüssen mit sehr einfachen aus der Natur Sache entspringenden Gesetzen zu tun, wie wenn jemand daraus, daß A, von D aus gesehen, links neben B liegt, daß aus dem selben Blickpunkt und bei derselben Stellung der Gegenstände betrachtet, B rechts nven A liegt. Wegen ihres zwar inhaltlichen (materialen), aber immer noch relativ formalen Charakters sind etwa auch die zeitbezogenen Momente von Urteilen und Sachverhalten ein noch direkter für die Logik relevanter Teil der materialen Logik als rein maeriallogische Schlüsse aus umfassenden Sachkenntnissen heraus wie Juristen oder Detektive, aber auch Wissenschaftler, Philosophen und überhaupt alle Menschen sie anwenden. Doch auch die relativ formalen Zusammenhänge, wie sie sich etwa aus den Zeitfolgen und Zeitindexen ergeben, haben in einer rein formalen Logik keinen Platz, weshalb ihre Einbeziehung in die heutige Logik einen Schritt der Erweiterung formaler Logik auf eine materiale Logik hin darstellt. Ein solcher material-logischer Schluß kann freilich auch in einen formal-logischen Syllogismus verwandelt werden, wenn man ihn so interpretiert, daß sich aus der inhaltlichen Kenntnis der Sachbereiche stillschweigend vorausgesetzte andere Prämissen ergeben, die, wenn man sie einmal ausformuliert, zu einem formal gültigen Syllogismus führen. Wenn man etwa die Prinzipien einer Zeitlogik anerkennt, daß ein A: AP (P=past) nicht mit einem Ereignis B: BF (F= future) identisch sein kann, setzt die Erkenntnis eines solchen Prinzips der Zeitenlogik ein Begreifen vom Wesen der Zeit voraus. So lassen sich alle material-logischen unmittelbaren oder mittelbaren Schlüsse in fomallogische verwandeln: wenn man etwa nicht einfach aus der Kenntnis der Natur aus der nassen Straße schließt, es habe geregnet, sondern die zusätzliche Prämisse anführt: Nässe und Pfützen auf einer Straße und den umliegenden Wiesen und Feldern setzt voraus, daß es geregnet hat…, so läßt sich besagter Schluß in einen formal-logischen verwandeln, der sich auf zusätzliche Prämissen stützt. 2. Man könnte unter materialer Logik auch eine Untersuchung jener logischen Bedeutungen und Urteile meinen, deren logischer Gehalt, deren Bedeutung, von den gemeinten Sachen und Sachverhalten allein richtig zu verstehen ist. Solche material-logische Gegebenheiten liegen in zahllosen
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KAPITEL 3
Bedeutungsmomenten von Begriffen und Urteilen, die nicht mehr ihrer reinen logischen Form oder Funktion innerhalb des Urteils (wie Subjekt-, Prädikatstelle, Kopula, etc.) entspringen, sondern ihrem meinenden Abzielen auf bestimmte Sachen und Sachverhalte. So lassen sich etwa der Begriff der Zukunft, der Vergangenheit und der Gegenwart und die Prinzipien der Tense logic, oder auch jene der ‚Farbe‘ oder die Logik der Farbbegriffe, sowie der Sinn und Wahrheitsanspruch von kategorischen oder hypothetischen Urteilen über ontische Modalitäten bzw. notwendige Sachverhalte, und die Bedingungen der Erfüllung von deren Wahrheitsansprüchen nicht mehr formallogisch verstehen oder gar durch bloße Anwendung von Wahrheitstafeln ableiten, worauf wir gleich zurückkommen werden. Mit anderen Worten, es gibt eine unendliche Fülle logischer Gegebenheiten wie Begriffe, Urteile und Schlüsse, deren Prämissen und konstitutiven Bestandteile sich nicht einer formalen Analyse ihrer logischen Formen und Strukturen erschließen, sondern ein Eindringen in ihre inhaltlichen Beschaffenheiten und jene der durch sie gemeinten Gegenstände verlangen, damit die sie regierenden logischen Gesetze erkannt werden. Und auch diese Gegebenheiten besitzen in vielfacher Hinsicht und Richtung eine Struktur, die logisch korrekte oder unlogische oder sogar absurde Gedankenketten und Aussagen grundlegen, welche sich nicht aus der reinen Form solcher Urteile, sondern aus deren inhaltlicher Bestimmtheit ergeben, der wiederum eine „logische Wirklichkeitsstruktur“ zugrunde liegt.476 So wenn jemand sagt: „ich habe dort im Gebüsch etwas Rotes gesehen, also muß dort ein rot gefärbter Körper gewesen sein oder sich noch immer dort befinden,“ so ist die logische Vernünftigkeit der Art, wie ein Detektiv sie benutzt, dieses Schlusses offenkundig. Wenn ein Detektiv hingegen behaupten wollte: „ich habe dort einen roten Gegenstand gesehen, also muß dort ein Geist sein, … oder eine Frau sein“, so werden wir ihn für verrückt halten und ihm nicht ein logisches Vorgehen bescheinigen. Die Gesetze, welche den einen Schluß vernünftig und logisch, den anderen unvernünftig machen, sind aber reine Sachstrukturen der Wirklichkeit und nicht rein formal-logische oder formal-ontologische 476
Vgl. Neben der Behandlung materialer Schlüsse in Alexander Pfänders Logik4, S. 282 (293) ff., 351 (357) ff., sowie Ottokar Blaha, Logische Wirklichkeitsstruktur und personaler Seinsgrund (Graz: Verlag Stiasny, 1955).
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Gesetze. (Gedanken in ähnlicher Richtung liegen wohl auch Ludwig Wittgensteins Terminus der „Sprachspiele“ letztlich zugrunde.)477 Doch auch dann, wenn man die tense logic und ähnliche Gebiete als echte Gebiete der Logik verwirft, in der Logik von allen materialinhaltlichen Beziehungen absieht und nur formal-logische Relationen beachtet (wobei man freilich von den ontischen Relationen und Notwendigkeiten, welche auch aller formalen Logik zugrundeliegen, abstrahiert), so gibt es zweifellos eine große Zahl formaler Relationen, die in der traditionellen Logik wenig erforscht werden und die dazu einladen, neben den traditionellen Relationen des Urteils – den kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Urteilen – andere Urteilsformen der Relation nach zu unterscheiden. So verdient gewiß das konjunktive Urteil bzw. die sogenannte Konjunktion, sogar mehr als das kategorische Urteil, das an sich gerade nicht eine Relation zwischen Urteilen einschließt, zu den Relationen des Urteils oder zu der Einteilung der Urteile ihrer Relation nach gerechnet zu werden. Man könnte sich aber sehr wohl fragen, ob nicht auch Nebensätzen, die mit ‚obwohl‘, ‚weil‘, ‚nachdem‘, etc. eingeleitet werden, ja ob nicht allen der Grammatik bekannten verschiedenen Satzarten auch rein formal-logische Unterschiede der Arten objektiver Gedanken entsprechen, so daß das Gebiet der reinen Logik des Urteils hinsichtlich seiner Relation noch unermeßlich viel weiter ist als dessen bisher bearbeitete Teile und deshalb grundlegender neuer Forschungen bedürfte, um der Fülle formal verschiedener logischer Urteilsarten und deren Gesetzen gerecht zu werden, eine Aufgabe, die ja wohl auch Husserl teilweise unter dem Namen der „rein logischen Grammatik“ kannte und in Angriff zu nehmen begann.478 Und zwar muß diese Forschung zuerst mit rein philosophischen Methoden geleistet und kann erst danach in die Sprache, Formeln und Regeln einer formalen symbolischen Logik übertragen werden. Der Einteilung der Urteile ihrer Relation nach liegt eine Betrachtung der Gesamtstruktur der Urteile unter dem Gesichtspunkt, ob sie als komplexe 477
478
Vgl. Josef Seifert, „Person, Religöser Glaube und Wahrheit. Philosophische Analysen und kritische Reflexionen über Ludwig Wittgensteins Religionsphilosophie“, in: Wilhelm Lütterfelds/Thomas Mohrs (Hrsg.), Globales Ethos. Wittgensteins Sprachspiele interkultureller Moral und Religion, S. 176-204. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, zit., Bd. II, 1, LU 4, S. 301 ff.
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Urteile oder Urteilskomplexe bestimmte Beziehungen zwischen ihren Teilurteilen aufweisen oder, wie das kategorische Urteil, unter dem Gesichtspunkt so genannt sind, daß sie einfach Urteile sind ohne jede Bezogenheit auf andere Urteile, zugrunde. Die Unterscheidung der Relationen des Urteils betrifft nicht nur die Behauptungsfunktion der Kopula des Urteils, wie Pfänder behauptet,479 sondern auch die Hinbeziehungsfunktion der Kopula des Urteils in seiner komplexen Gesamtstruktur und spezifischen Urteilsart. Nehmen wir ein disjunktives Urteil als einfachstes Beispiel: dieses bezieht nicht einfach zwei Prädikate P und Q positiv oder negativ auf ein S, wie das einfachste konjunktive Urteil mit demselben Subjektbegriff, sondern läßt es in der Schwebe, welches Prädikat es positiv oder abspreizend auf das Subjekt S hinbezieht und diesem im Urteil zuspricht. Das kategorische Urteil, das auch unter dieser Einteilung der Urteile nach ihrer Relation erscheint, wird sozusagen rein negativ in diese Klasse von Urteilen gerechnet, da ihm keine Relation zu einem andern Urteil oder Urteilsteil eigen ist. Hypothetische und disjunktive Urteile hingegen enthalten zwei Teilurteile, zwischen denen eine jeweils ganz verschiedene Relation besteht. Da das einfachste aus zwei oder mehr Teilurteilen zusammengesetzte Urteil das konjunktive Urteil ist, das kraft der Konjunktion (eines Begriffs, der sprachlich mit den Wörtchen ‚und‘ ‚auch‘ ‚ebenfalls‘ etc. ausgedrückt wird) eine bloße einfache Aneinanderreihung und Verbindung zweier Behauptungen ist, stellt das konjunktive Urteil einen relativ unkomplizierten Fall für die Logik dar. Denn die Wahrheit des konjunktiven Gesamturteils ist einfach damit gegeben, daß beide Konjunkte (Teilurteile) wahr sind. Die urteilsmäßige Konjunktion tritt nicht eigentlich als eigenständige neue Urteilsart hervor, sondern stellt eine simple Verbindung zweier Urteile dar, auch wenn durch die Konjunktion der beiden Konjunkte etwas Neues geschieht und man Konjunktionen oder Verbindungen mehrerer Urteile (die wir ‚Konjunkte‘ nennen) als ein drittes Urteil der Form verstehen kann: Q ist R UND S ist P, woraus sich ein neues Wahrheitsurteil über die Konjunkte (Teilurteile) ergibt, nämlich: Beide Urteile ‚Q ist R‘ und ‚S ist P‘ sind wahr. Dieses neue Urteil ist wahr, 479
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, zit., S. 101 ff.
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sobald alle mit einander durch die Konjunktion verbundenen Urteile wahr sind, falsch, wenn eines der beiden oder beide falsch ist, oder auch: wahr, wenn alle in den Teilurteilen behaupteten Sachverhalte bestehen, falsch, wenn einer der beiden behaupteten Sachverhalte oder beide nicht bestehen. Der Terminus ‚Konjunktion‘ ist dabei noch doppeldeutig, weil er gewöhnlich in der Logik als die Gesamtheit der beiden Konjunkte oder als ein drittes Urteil verstanden wird, das zwei oder mehr andere Urteile verbindet, indem es sie „zusammen behauptet“ oder von beiden Wahrheit aussagt. Andererseits meint aber Konjunktion, in einer von der Grammatik bzw. deren logischem Fundament inspirierten Weise, mit diesem Terminus einen bestimmten Begriff, der mit dem ‚und‘ oder dem Symbol ausgedrückt wird, und kraft dessen erst die Konjunktion der beiden Konjunkte vollzogen wird, ähnlich wie durch den Folgebegriff, dem „folglich“ oder “ergo,” über das Bestehen des in der Konklusion behaupteten Sachverhalts hinaus und der Wahrheit der Konklusion auch deren logisches Folgen aus den vorhergehenden Urteilen (Prämissen) gesetzt wird. In analoger Weise vollzieht der logische und rein funktionierende Begriff der Konjunktion die Verbindung der beiden Konjunkte, sagt also, beide seien wahr. Deshalb genügt für die Wahrheit des konjunktiven480 Gesamturteils S ist P UND Q ist R (der Konjunktion im ersten Sinn) weder die Wahrheit von S ist P noch jene von Q ist R, sondern nur die Wahrheit beider Urteile, wie es in diesem Fall durch die „Wahrheitstafel“ korrekt zum Ausdruck kommt: P
Q
P /\ Q
W W F F
W F W F
W F F F
Wahrheitstabelle für die Konjunktion.
480
Der rein logische Sinn dieses Terminus unterscheidet sich natürlich radikal vom Grammtischen, welcher sich auf irreale oder in der indirekten Rede ausgedrückte Sachverhalte bezieht.
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Ganz anders verhält es sich mit dem hypothetischen und dem disjunktiven Urteil, in denen wir wesentlich komplizierteren Strukturen begegnen. Werfen wir einen Blick auf die moderne symbolische Logik, so liegt in dieser ein Reduktionismus, da die Erfüllung der Wahrheitsbedingung der sogenannten ‚materialen Implikation‘ (Q ist R o S ist P), in der ein Urteil die Wahrheit eines anderen impliziert, diese schon durch die Wahrheit eines konjunktiven Urteils garantiert sieht und in dem Wahrsein der beiden Teilurteile eine hinreichende Erfüllung der Bedingung der Wahrheit der Implikation sieht. Die Wahrheit der materialen Implikation soll auch dann feststehen, wenn im Falle der Nichtvorhandenheit der Bedingung, in der Falschheit des bedingten Teils des hypothetischen Urteils, wie dies in der folgenden Wahrheitstafel festgehalten ist, die im Sinne der modernen symbolischen Logik den jeweiligen Wahrheitswert der Aussagen a und b und das Resultat für konjunktive, disjunktive hypothetische (konditionale) sowie bikonditionale Urteilsverknüpfungen angibt:
a b
Äquivalenz Konjunktion Disjunktion materiale Implikation XNOR AND OR Konditional Bikonditional
f f f
f
w
w
f w f
w
w
f
w f f
w
f
f
w w w
w
w
w
Die Definition der schwachen (sogenannten materialen) Implikation in der modernen symbolischen Logik hat sich einerseits aus dem Versuch einer rein durch Wahrheitstafeln bestimmten formalen Definition der Implikation, andererseits aus einer vorausgesetzten empiristischen und nominalistischen Philosophie ergeben, für die es eine starke und in erster Linie in notwendigen Universalien begründbare Implikation nicht mehr gibt und wo diese (das aut-aut) nur eine geringe Rolle spielt. Jedes wahre Urteil (etwa daß der Käse stinkt) impliziere jedes andere wahre Urteil (wie daß im Augenblick der Mond scheint). Ferner unterscheidet diese Logik der Implikation nicht zwischen dem Fall, in dem eine Implikation wahr sein kann und dem Fall, in dem sie wahr ist (man denke an die Wahrheit,
Die logische Wahrheit oder Urteilswahrheit
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daß Schuld Freiheit impliziert, eine notwendige Implikation, deren Bestehen durchaus damit verträglich ist, daß ein Baum weder frei noch schuldig ist). Nur auf Grund der Verwechslung zwischen Wahrsein und Wahrseinkönnen erlaubt sich die symbolische Logik, aus der Falschheit zweier Urteile zu schließen, daß zwischen ihnen eine materiale Implikation (wenn a, dann b) bestehe. Damit wird ein sinnvoller Begriff von Implikation ganz verhindert. Nehmen wir etwa an, man schließe daraus, daß die Straße nicht mit Eis bedeckt ist und daß die Straße nicht auf 100 Grad erhitzt ist, daß es wahr sei (weil a und b falsch sind), daß das Bedecktsein mit Eis eine Erhitzung der Straße auf 100 Grad impliziere, ein offenbarer Unsinn. Also daraus, daß es rein formal-logisch wahr sein kann, daß eine Implikation zwischen a und b besteht, wenn a und b falsch sind, darf man keinesfalls schließen, daß es wahr ist. Sollten alle Implikationen und hypothetischen Urteile auf dieses Niveau reduziert werden, so kann man mit einer solchen Erklärung zwar ein für manche Zwecke nützliches Instrument eines logischen Systems schaffen, entwirft aber eine Theorie des hypothetischen Urteils und der Implikation, die nicht einmal einem rein formalen Sinn materialer Implikation genügen kann, da die oben angesprochenen und zahllose andere und sogar wesensnotwendige Ausschließungsverhältnisse zwischen a’s und b’s nach der Anwendung dieser Wahrheitstafel eine (objektiv in keinerlei Weise bestehende) materiale Implikation zwischen a und b voraussetzen würden. Wenn etwa die Person A weder schuldig noch determiniert ist (also „A ist schuldig“ und „A ist determiniert“ beide falsch sind), würde man behaupten müssen, Das hypothetische Urteil „A’s Schuld impliziert ihr Determiniertsein“ („A ist schuldig“ impliziert „A ist determiniert“) sei wahr, obwohl in Wirklichkeit beide einander ausschließen. Noch viel weniger erklärt eine derartige abenteuerliche und künstliche Ansetzung eines Systems der Logik objektive und sachlich begründete, reale oder gar notwendige Implikationen von Sachverhalten und wahren Urteilen, da nach ihr ja alle wahren Urteile (etwa der Käse stinkt und der Schnee ist weiß) Implikationen einschließen. Mit einer solchen total nominalistischen, positivistischen und reduktionistischen Theorie des hypothetischen Urteils und der Implikation überhaupt verflüchtigt sich der eigentliche Sinn der Implikationsurteile und hypothetischen Urteile, in denen zumindest eine tatsächliche Implikationsbeziehung gemeint sein muß und die mit einem
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Ausschließungsverhältnis wie in den genannten Fällen unvereinbar ist. Erst recht liefert eine solche Theorie hypothetischer Urteile keinerlei Erklärungen jener konditionalen Urteile, welche eine nicht – vom Urteil als solchem her betrachtet – rein formale, oder – von der Sache her betrachtet – rein faktische, sondern eine materiale, d.h. von den gemeinten Sachverhalten her notwendige oder auch nur sinnvolle Implikation von Sachverhalten und wahren Urteilen behaupten. Vielleicht weil sich eine starke und notwendige Implikation von Sachverhalten (und die Wahrheit der sie aussagenden Urteile) nicht mit dem reinen Instrument der Wahrheitstafeln formalisieren und definieren läßt, vielleicht auch weil der modernen mathematisierenden Logik oft eine positivistische und empiristische Leugnung der Erkennbarkeit nichtanalytischer notwendiger Implikationen zugrunde liegt, hat eine solche Verwässerung der Idee und des Sinnes des hypothetischen Urteils stattgefunden, der zufolge jedes wahre Urteil jedes andere wahre und jedes falsche Urteil jedes andere falsche Urteil impliziere, ja sogar zwei falsche Teilurteile eines hypothetischen Urteils (oder einer Implikation) dessen Wahrheit beweisen sollen, und das einzige Kriterium, unter dem das Urteil ‚S impliziert P‘ falsch wäre, einzig und allein der Fall sei, in dem S wahr und P falsch ist. Damit kommen wir auch wieder auf das Problem der logischen und ontischen Modalitäten zurück. Man muß hier einige Unterscheidungen treffen: Erstens unterscheiden sich hypothetische Urteile, in denen ein sachlich gesehen kontingentes (wie ‚wenn es regnet, wird die Straße naß‘) oder notwendiges Verhältnis der Implikation von Sachverhalten (wie ‚wenn Schuld vorliegt, existiert auch Freiheit‘), und auf Grund solcher sachlicher Beziehungen zwischen Sachverhalten (einer bestimmten Modalität) ein Implikationsverhältnis von wahren Urteilen behauptet wird, von rein formal-logisch notwendigen Implikationen wie: Das Urteil ‚Alle S sind P’ impliziert ‚Einige S sind P‘. Diese drei Fälle, in denen in dem hypothetischen Urteil (der Implikation) ein objektives – kontingentes oder notwendiges, formallogisch oder ontologisch fundiertes – Band zwischen der Wahrheit zweier Urteile (wenn S, dann P) behauptet wird, unterscheiden sich wiederum von ‚reinen‘ hypothetischen Urteilen und Implikationen, in denen keinerlei sachliche Begründung oder logische Notwendigkeit der Implikation ausgesagt oder vorausgesetzt wird und die wahr
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sein können, wenn beide falsch sind, oder auch wenn S falsch und P wahr ist. Diese rein formal gefaßte ‚Implikation‘ also ist ausschließlich dann eindeutig falsch, wenn S wahr und P falsch ist, aus welchem Grunde immer, aber sie kann nur wahr sein, und muß es nicht, wenn S und P falsch sind, wie wir gesehen haben. Da die drei erstgenannten hypothetischen Urteile eine sachliche oder sogar notwendige (inhaltlich oder formal-logisch begründete) Implikation behaupten, wären diese Art von hypothetischen Urteilen falsch, wenn man in ihrem Sinn eine Implikation zwischen stinkendem Käse und scheinendem Monde behaupten würden – auch wenn ihre Falschheit sich nicht aus rein formal-logischen Anwendungen von Wahrheitstafeln, sondern nur aus einer Betrachtung der mangelnden Entsprechung zwischen behauptetem und wirklichem Sachverhalt erkennen läßt. Begründete Wahrheitsansprüche von sachlich oder formal-logischen notwendigen Implikationsverhältnissen allgemeiner Natur setzen freilich letzten Endes die Erkenntnis des Bestehens solcher notwendiger Sachverhalte der Implikation voraus, die eine vielfach in der modernen symbolischen Logik hypothetischer Urteile vorausgesetzte empiristische oder positivistische Erkenntnistheorie bestreiten wird (es sei denn im Fall analytischer Urteile). Denn die Wahrheitsansprüche der drei erstgenannten Arten und Bedeutungen hypothetischer Urteile kann epistemologisch nur begründet werden, wenn man Erkenntnisse notwendiger Sachverhalte zuläßt, da in ihnen sachlich notwendige Implikationen behauptet werden. Das der klassischen Universalienlehre und Theorie der Wahrheit des hypothetischen Urteils gegenüber reduktionistische Vorgehen in der Definition der Wahrheitsbedingungen des hypothetischen Urteils rührt zum Teil daher, daß man dessen Wahrheitsbedingungen durch das Aufstellen von Wahrheitstafeln (in denen man weder die Beziehung und Unterscheidung zwischen Urteil und Sachverhalt, noch die Art der ausgesagten Sachverhalte und die daraus resultierenden verschiedenen Bedingungen der Wahrheit der sie behauptenden Urteile noch auch den grundlegenden Unterschied zwischen den Wahrheitswerten: ‚muß wahr sein‘ und ‚kann wahr sein‘ beachtet) rein von außen zu erfassen sucht. Teils entsteht eine derartige Reduktion der Wahrheitsbedingungen hypothetischer Urteile auf Grund des an sich legitimen Versuches, die Wahrheit hypothetischer Urteile (S impliziert P) rein formal zu bestimmen,
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KAPITEL 3
was für bestimmte Zwecke nützlich sein kann. Entweder aus diesem Grund oder aus jenem einer empiristischen oder nominalistischen Grundlegung der Logik wird dann behauptet, daß – per definitionem der Implikation durch Wahrheitstafeln – jedes wahre Urteil jedes andere wahre Urteil material impliziere. P impliziert Q heißt demnach (df) ^ (P. ^ Q). Folglich wird eine bloße Koexistenz zweier kontingent wahrer Urteile (die reine Konjunktion: ‚S ist P‘ ist wahr und ‚Q ist R ist wahr‘), sowie jedes Vorliegen zweier falscher Urteile, und eines ersten falschen Teilurteils innerhalb einer Implikation zweier Urteile bzw. innerhalb des hypothetischen Urteils (S ist falsch) schon für ein hinreichendes Indiz des Vorliegens einer Implikation ‚S impliziert P‘ angesehen. Solange also nicht der einzige der vier möglichen Fälle der Wahrheitstafel, nämlich S (‚S ist P‘) ist wahr und P (‚Q ist R‘) ist falsch eintritt, behauptet man die Wahrheit des hypothetischen Urteils, ohne die erörterten Punkte zu bedenken. So nützlich und in begrenzter Weise auch korrekt ein solcher logischer Formalismus in der Bestimmung der Bedingungen, unter denen ein hypothetisches Urteil (solange man es rein formal betrachtet und von jeder ausgesagten Modalität sachlicher Zusammenhänge absieht) wahr ist bzw. eigentlich nur wahr sein kann, auch sein mag, so wenig kann eine solche Theorie und Anwendung der Wahrheitstafeln die tatsächlichen Bedingungen der Wahrheit eines hypothetischen Urteils überhaupt oder gar die Wahrheitsbedingungen jener hypothetischen Urteile erklären, die notwendige Garantieverhältnisse zwischen der Wahrheit verschiedener Urteile behaupten, wie sie sich innerhalb allgemeiner Urteile nur durch das Darunterfallen eines Singulärurteils unter ein echtes universales Urteil oder andere spezielle notwendige logische Verknüpfungen erklären lassen, die weit über das bloße Zusammenwahrsein zweier Urteile hinausgehen und daher durch deren Vorliegen (oder durch das Vorliegen zweier falscher Urteile oder eines ersten falschen und eines zweiten wahren) keineswegs garantiert sind. Dazu tritt ein weiteres: Der Wahrheitsanspruch allgemeiner Urteile unter den Prämissen und der in diesen behaupteten Implikationen, und damit auch der Wahrheitsanspruch der von ihnen abhängigen Konklusionen der aristotelischen Formen gültiger Syllogismen, die Pfänder neu und phänomenologisch untersucht und begründet hat, läßt sich epistemolo-
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gisch gesehen nur entweder durch tautologisch-analytische Urteile oder – im Reich synthetischer Urteile – durch das begründen, was Pfänder vollständige Induktion nennt, oder aber durch die Erkenntnis notwendiger Wesensgesetze.481 Wird insbesondere diese letztere Grundlage der Erkenntnis der Wahrheit universaler Urteile und Erkenntnisse aufgegeben und wird ferner der eigentliche Sinn jener hypothetischen Urteile, welche notwendige Sachverhaltsbeziehungen behaupten, nicht mehr verstanden, oder aber werden derartige notwendige Implikationen zwischen Sachverhalten notwendiger ontischer Modalität in einer Art nominalistischem oder erkenntnistheoretischem Nihilismus prinzipiell für unerkennbar gehalten, ist es verständlich, daß man zwischen Implikationsverhältnissen zweier Urteile und dem bloßen konjunktiven Urteil, in welchem A ist B und C ist D wahr sind, nicht mehr differenziert bzw. die Wahrheitsbedingungen des hypothetischen Urteils so formal bestimmt, daß damit der Wahrheitsanspruch der meisten hypothetischen Urteile und deren Erfüllung keineswegs mehr erklärt werden können, weil diese hypothetischen Urteile bestimmte sachliche oder logisch notwendige Implikationen behaupten, die weit über das hinausgehen, was sich in jenem reinen logischen Formalismus in der Bestimmung der Wahrheitsbedingungen hypothetischer Urteile oder durch die Angabe der Bedingungen, unter denen sie wahr sein können, erfassen läßt. Gehen wir von diesen Hinweisen auf das Neue des hypothetischen Urteils zu einer tieferen Analyse desselben über. Das hypothetische Urteil ist aus zwei Teilurteilen zusammengesetzt, verbindet diese aber viel enger als die bloße Aneinanderreihung der Konjunktion im logischen Sinne. Es besteht aus einem bedingten Teil und einer Bedingung, auch wenn im hypothetischen Urteil seiner rein logischen Form nach keinerlei kausale Abhängigkeit oder Abhängigkeit der Folge von ihrem Grund, etc. behauptet werden, sondern nur eine rein logische Abhängigkeit und zwar eine Bedingung gesetzt wird, unter der eine bestimmte Behauptung (des bedingten Teils des hypothetischen Urteils) gemacht wird und die Behauptungsfunktion der Kopula in Kraft tritt: Wenn Q R ist, dann ist S P. Es urteilt also das hypothetische Urteil nur bedingungsweise, daß das bedingt Behauptete tatsächlich der Fall ist. Man kann hier von einem 481
Vgl. Pfänder, Logik4, S. 341-344.
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KAPITEL 3
Abhängigmachen des Inkrafttretens der Behauptungsfunktion des nur bedingt behaupteten Haupturteils von der Erfüllung des Wahrheitsanspruchs jenes Urteils, unter der Bedingung von dessen Wahrheit das erste Urteil behauptet wird, reden. Man kann das hypothetische Urteil auch im Hinblick auf die in ihm gemeinten Sachverhalte so ausdrücken: das hypotetische Urteil behauptet den Sachverhalt „S ist P“ nur unter der Bedingung, daß der Sachverhalt „Q ist R“ besteht. Solange der Wahrheitsanspruch des ‚Bedingungsteiles‘ des hypothetischen Urteils nicht erfüllt ist, bleibt der Wahrheitsanspruch des bedingten Teils des hypothetischen Urteils sozusagen suspendiert. Der Teil des hypothetischen Urteils, in dem von der Bedingung die Rede ist (der im Wenn-Satz ausgedrückt ist), wird zwar überhaupt nicht behauptet, aber seine Wahrheit spielt die wichtige Rolle einer Bedingung. Die Wahrheit dieses Satzes geht als Bedingung für die Behauptung des bedingten Teiles in das hypothetische Urteil ein bzw. wird von diesem ins Auge gefaßt. Für das ganze Urteil, daß nämlich S P ist, wenn Q R ist, hingegen erhebt auch das hypothetische Urteil einen unbedingten Wahrheitsanspruch. Es enthält also ein kategorisches Urteil, nämlich daß es der Fall ist, daß S P ist, wenn Q R ist. Wir können in dem hypothetischen Urteil also eigentlich drei verschiedene Urteile erblicken, deren Behauptungscharakter bzw. deren Wahrheitsanspruch folgendermaßen aussieht: 1. Die Hypothese (meist in der Umgangssprache mit einem Wenn-Satz und in der symbolischen Logik durch einen Pfeil für den diesem vorausgehenden Satzteil ausgedrückt) wird nicht behauptet, aber ihr Wahrsein spielt eine entscheidende Rolle für das Haupturteil, das einen Sachverhalt bedingungsweise behauptet. Nur wenn sie nämlich wahr ist, wenn Q R ist, tritt die Behauptung „S ist P“, und damit der Wahrheitsanspruch des bedingten Urteils in Kraft. 2. Das Urteil, welches die bedingte Behauptung enthält, „S ist P“ (wenn Q R ist): Dieses Urteil behauptet einen Sachverhalt, aber nicht unbedingt, sondern bedingt. Sie behauptet den Sachverhalt also nur unter der Voraussetzung, daß die Bedingung vorliegt. S ist P, wenn Q R ist. Der bedingte Wahrheitsanspruch bleibt also so lange in der Schwebe, als Q ist R nicht wahr ist. Es geht hier also, im Gegensatz zum kategorischen Urteil,
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in dem etwas unbedingt (bedingungslos) einfach behauptet wird, um eine bedingte Behauptung und daher auch um einen bedingten Wahrheitsanspruch. 3. Ein kategorisches Urteil: Schließlich behauptet das hypothetische Urteil als ganzes in unbedingter Weise einen Sachverhalt, nämlich den, daß ein zweites Urteil dann wahr ist, wenn das erste wahr ist. In ihm liegt also auch ein kategorisches Urteil. Es behauptet dabei nicht, daß dieses bedingt gefällte Urteil nur dann wahr sei, wenn das erste wahr sei. Daher wäre die häufig in der modernen Logik und analytischen Philosophie verwendete Formel „x ist dann und nur dann wahr, wenn...“ hier falsch. Der Sinn des hypothetisch gemachten Urteils ist nicht, daß die bedingte Behauptung ‚S ist P‘ nur dann wahr wäre, wenn Q R ist, sondern nur, daß sie jedenfalls dann wahr ist, wenn die Bedingung gegeben ist. Der bedingte Teil des hypothetischen Urteils kann also durchaus auch wahr sein, ohne daß der bedingende Teil wahr sein müßte. Wohl aber impliziert das hypothetische Urteil in seiner These, daß es unmöglich ist, daß die Bedingung wahr und das Bedingte nicht wahr sei, oder daß der in der Bedingung (im Wenn-Satz) behauptete Sachverhalt bestehe, nicht aber der in dem bedingten Teil des hypothetischen Urteils (bedingt) behauptete Sachverhalt. Zu den vier grundsätzlichen Modi hypothetischer Urteile (ponendo ponens, tollendo ponens, ponendo tollens und tollende tollens), sowie zur ausgezeichneten Kritik verschiedener Umdeutungen des hypothetischen Urteils bei Sigwart und anderen verweise ich hier nur auf Pfänders vortrefflichen, wenn auch knappen Analysen.482 Im disjunktiven Urteil kraft seiner besonderen Natur, und zwar im starken disjunktiven Urteil des aut-aut, und nicht dem in der symbolischen Logik öfter verwendeten schwachen disjunktiven Urteil (dem vel: v), wird die Ausführung des Behauptungsschlags auf eine der beiden Seiten der Disjunktion „in der Schwebe gehalten“ und damit zugleich offengelassen, welche Seite des aus zwei Urteilen bestehenden disjunktiven Urteils behauptet wird, bzw. es wird nur behauptet, daß eines von ihnen wahr sei bzw. einer der vom disjunktiven Urteil angezielten Sachverhalte besteht, wie Alexander Pfänder vortrefflich zeigt: 482
Alexander Pfänder, Logik4, S. 103 ff.
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KAPITEL 3
Die Relation der Behauptung in einem Urteil kann nun noch in anderer Weise eine bedingte sein als sie es im hypothetischen Urteil ist. Wenn nämlich eine Mehrheit von Prädikatsbestimmtheiten auf einen und denselben Subjektsgegenstand hinbezogen wird, an dem sie sich aber gegenseitig ausschließen sollen, so kann sicher sein, daß eine von diesen Bestimmtheiten dem Subjektsgegenstand zukommt, aber noch unsicher, welche von der Mehrheit es ist. Dann bleibt der Behauptungsschlag über der Mehrheit hinbezogener Prädikatsbestimmtheiten noch unentschieden in der Schwebe. Es wird zwar dann in dem Urteil tatsächlich etwas über den Subjektsgegenstand behauptet. Aber durch die gemeinsame Hinbeziehung einer bestimmten Mehrheit von sich gegenseitig an dem Subjektsgegenstand ausschließen sollender Prädikatsbestimmtheiten wird die Behauptung in bezog auf jede einzelne dieser Prädikatsbestimmtheiten für sich eine bedingte, nämlich dadurch bedingt, daß jedesmal die anderen Prädikatsbestimmtheiten ausgeschaltet werden. Der Behauptungsschlag ist zentriert auf die Hinbeziehung einer und nur einer der in ein gegenseitiges Ausschließungsverhältnis gesetzten Prädikatsbestimmtheiten, wobei unbestimmt gelassen ist, auf welche der angegebenen Bestimmtheiten er treffen soll. Es ist das sogenannte disjunktive Urteil, das diese Struktur zeigt und für das die Formel gilt: > S ist entweder P oder Q«, wenn die Disjunktion der Prädikate eine zweigliedrige, dagegen: »S ist entweder P oder Q oder R«, »S ist entweder Pl oder P2 oder P3 . . . oder Pn«, wenn die Disjunktion eine dreigliedrige, oder allgemein eine n-gliedrige ist.483
Auch bezüglich der eingehenderen Erörterung des disjunktiven Urteils und der Abgrenzung seiner richtigen von verschiedenen falschen Deutungen verweise ich wieder auf Pfänders vortreffliche Analysen484 und sehe von einer in unserem Zusammenhang nicht grundlegenden Modifikation des Behauptungsmoments im disjunktiven Urteil ab, zumal das disjunktive Urteil, so interessant es auch in sich selber ist, verschiedenen hypothetischen Urteilen logisch äquivalent ist und schon deshalb für unseren Zusammenhang keine eigene weitere Erörterung seines Wahrheitsanspruches verlangt.485 483 484 485
Ebd., S. 106. Ebd., S. S. 106 ff. Vgl. Alexander Pfänder, ebd., S. 107-108: Daß diese Bedingtheit, dieses »in der Schwebe bleiben« der Behauptungsfunktion beim disjunktiven und beim hypothetischen Urteil gleichartig vorkommt und es deshalb
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9. Logische Relationen zwischen verschiedenen wahren Urteilen, der Unterschied zwischen Schluß und Beweis hinsichtlich ihres Wahrheitsund Begründungsanspruchs Es ist an dieser Stelle sicher nicht unsere Aufgabe, eine eingehende Analyse des Schlusses, in dem zwei oder mehr Urteile in anderer Weise verbunden sind als in den Urteilen der Relation nach, zu bieten. Wohl aber müssen wir uns kurz in die Natur des Schlusses, in dem ein Urteil aus einem oder mehreren anderen gefolgert wird, vertiefen, da wir es hier mit einem prinzipiell andersartigen Gedankenganzen oder einer höheren Bedeutungseinheit zu tun haben, deren Bezug zur Frage der Wahrheit wichtig ist. Diese in der Sprache oft mit Wörtern wie „also“, „folglich“ ausgedrückte Relation behauptet die Wahrheit eines Urteils (der Konklusion) als Folge der Wahrheit eines oder mehrerer anderer Urteile (der Prämissen). Der Schluß als ganzes enthält sogar mehrere Urteile und erhebt einen vielfältigen Anspruch, wobei wir vor allem den vielfältigen Wahrheitsanspruch vom Anspruch auf Gültigkeit unterscheiden. 9.1. Die im Schluß enthaltenen Urteile und ihre Wahrheitsansprüche
Die Urteile, die der Schluß enthält, die alle einen Wahrheitsanspruch erheben, sind die folgenden: 1. Jede der Prämissen (im unmittelbaren Schluß ist dies nur eine einzige) behauptet etwas und erhebt damit einen Wahrheitsanspruch. 2. Die Konklusion ist ebenfalls ein Urteil, das einen von ihm selbst verschiedenen Sachverhalt behauptet und für sich selber einen Anspruch rechtfertigt, beide Urteile als bedingte dem kategorischen als dem unbedingten gegenüberzustellen, ergibt sich auch daraus, daß jedes disjunktive Urteil einer bestimmten Anzahl hypothetischer Urteile äquivalent ist. So ist das zweigliedrige disjunktve Urteil äquivalent mit vier hypothetischen, das dreigliedrige mit sechs hypothetischen Urteilen. In unserem Beispiel entsprechen dem disjunktiven Urteil folgende vier hypothetischen Urteile: 1. » Er sagt die Wahrheit, falls er nicht lügt«; z. »Er sagt nicht die Wahrheit, falls er lügt«; 3. »Er lügt, falls er nicht die Wahrheit sagt«; 4. »Er lügt nicht, falls er die Wahrheit sagt«.
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auf Wahrheit erhebt, wie jedes Urteil. 3. Der Schluß enthält noch das zusätzliche Urteil, daß die Wahrheit der Konklusion aus der Wahrheit der Prämissen folge, also daß deren Wahrheit dadurch garantiert sei, daß die Prämissen wahr sind. Dieses Urteil kann falsch sein, auch wenn die Prämissen und die Konklusion wahr sind. So sind etwa die drei Urteile „Manche Deutsche sind Philosophen. Manche Griechen sind Philosophen. Manche Chinesen sind Philosophen“ alle wahr. Aber wenn man vor dem letzten Urteil einfügen wollte: ergo sind manche Chinesen Philosophen, so wäre dieses zusätzliche Urteil in seinem Wahrheitsanspruch (daß das Urteil der Konklusion aus der Wahrheit der Prämissen folge) falsch. (Wiederum behauptet der Schluß keineswegs, daß die Konklusion nur deshalb wahr sei, weil und wenn die Prämissen wahr sind. Es behauptet nur, daß sie sicher dann wahr ist, wenn die Prämissen wahr sind). 9.2. Der Anspruch auf Gültigkeit (Folgerichtigkeit), der ein weiteres Urteil einschließt, das einen Anspruch auf Wahrheit erhebt
Zu diesem zusätzlichen Urteil und dessen Wahrheitsanspruch erhebt der Schluß als ganzer einen Anspruch auf Gültigkeit, den man auch in Form eines vierten, hypothetischen, Urteils, das seinerseits einen Wahrheitsanspruch erhebt, ausdrücken könnte: „Wenn die Prämissen wahr sind, so ist auch die Konklusion wahr“. Der Schluß als solcher erhebt dabei nicht den Anspruch auf Wahrheit der drei genannten Urteile, sondern auf Folgerichtigkeit, die aber auch als jenes Urteil über den logischen Zusammenhang der Wahrheit der Prämissen und Konklusion(en) aufgefaßt werden kann, das sich sowohl von der Behauptung der Wahrheit der Konklusion als auch der Wahrheit als aus den Prämissen folgend unterscheidet. So ist in dem Schluß „Alle Chinesen sind Philosophen. Sokrates ist ein Chinese. Also ist Sokrates ein Philosoph“ der Anspruch auf Gültigkeit und der Wahrheitsanspruch der Konklusion erfüllt, nicht jedoch der Wahrheitsanspruch der Prämissen oder jener des Urteils, daß in diesem Beispiel die Wahrheit der Konklusion aus jener der Prämissen folge. In dem Urteil hingegen: „Alle Chinesen sind Philosophen. Hitler ist ein Chinese. Also ist Hitler ein Philosoph“ sind alle drei Urteile sowie das Urteil, daß die Wahrheit der Konklusion aus jener der Prämissen folge,
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falsch. Der Anspruch auf Gültigkeit und Folgerichtigkeit hingegen ist erfüllt. Denn in der Tat: wenn die beiden Prämissen wahr wären, würde die Wahrheit der Konklusion folgen. Hier gälte das Wort Mephistos aus Johann Wolfgang von Goethes Faust: Der Philosoph, der tritt herein Und beweist Euch, es müßt so sein. Das Erst wär so, das Zweite so Und drum das Dritt und Vierte so. Und wenn das Erst und Zweit nicht wär, Das Dritt und Viert wär nimmermehr.486
Mit anderen Worten: der Schluß kann vollkommen gültig sein, ohne daß irgendeines der in ihm enthaltenen Urteile wahr sein müßte. 9.3. Der Anspruch auf einen Wahrheitszusammenhang zwischen Wahrheit der Prämissen und der Konklusion und seine Verschiedenheit vom Anspruch auf Gültigkeit
Der Schluß macht nicht nur einen Wahrheitsanspruch für die genannten Urteile und den Anspruch auf Gültigkeit, der auch im Schluß erfüllt sein kann, welcher von falschen Prämissen auf eine wahre oder falsche Konklusion schließt. Vielmehr verbinden sich die Wahrheitsansprüche und der Anspruch auf Gültigkeit in einem weiteren Anspruch – dem auf einen Wahrheitszusammenhang zwischen der Wahrheit der Konklusion mit jener der Prämissen. Der Schluß erhebt nicht nur getrennt Wahrheitsansprüche auf die Wahrheit der Prämissen und der Konklusion, sondern auch auf deren Einheit und darauf daß die Wahrheit der Konlusion durch jene der Prämissen verbürgt sei. 9.4. Der Anspruch auf einen Begründungszusammenhang
Von allen diesen Ansprüchen unterscheidet sich ein weiterer Anspruch, der im Rahmen von Beweisen eine entscheidende Rolle spielt: daß nämlich 486
[Goethe: Faust [in ursprünglicher Gestalt], S. 17. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 21628 (vgl. Goethe-HA Bd. 3, S. 376-377)].
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nicht nur die Wahrheit der Konklusion durch die Wahrheit der Prämissen verbürgt ist, sondern daß sie nicht schon von der Wahrheit der Prämissen in solcher Weise vorausgesetzt ist, daß die Wahrheit der Prämissen gar nicht erkannt werden könnte, ohne bereits die Wahrheit der Konklusion vorauszusetzen. Zwischen Prämissen und Konklusion muß ein Begründungszusammenhang bestehen. Dies setzt zumindest das Wesentliche für jeden Schluß voraus, daß seine Konklusion nicht mit einer seiner Prämissen total oder partiell identisch sein darf. 9.5. Der Unterschied zwischen gültigem Schluß, der Erfüllung seines Wahrheitsund Begründungszusammenhangs und Beweis
Auch in dem idealen Falle, in welchem alle Gültigkeits- und Wahrheitsansprüche, sowie die Ansprüche auf Wahrheits- und Begründungszusammenhang erfüllt werden, liegt jedoch keinerlei Beweis vor. Dieser verlangt nämlich noch die Präsenz zweier wesentlicher Voraussetzungen, die durch Wahrheit und Gültigkeit des Schlusses nicht garantiert sind: Erstens verlangt ein Beweis zusätzlich zur Wahrheit der Prämissen und der Gültigkeit seiner Form, kraft deren die Wahrheit seiner Konklusion aus der Wahrheit seiner Prämissen gültig gefolgert werden kann, auch die tatsächliche Erkenntnis dieser Wahrheit der Prämissen. Dabei genügt es freilich für einen Beweis, daß die Prämissen, etwa eines mathematischen Beweises, allgemein von demjenigen Menschen, der die nötigen Voraussetzungen mitbringt, erkannt werden können, oder sogar, daß – im Falle von empirischen Prämissen – derjenige Mensch, der etwas beweist oder dem etwas bewiesen werden soll, die Wahrheit der Prämissen erkennt. Ein Beweis darf also nicht ausschließlich rein objektiv in seiner Struktur und seinem Aufbau betrachtet werden, sondern besitzt auch Erkenntnisbedingungen: der gültige Schluß ist nur dann ein Beweis, wenn sowohl die Gültigkeit des in ihm enthaltenen Schlusses als auch die Wahrheit seiner Prämissen erkannt sind. Dabei ergeben sich allerdings noch grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten hinsichtlich des Erkenntnissubjekts eines Beweises: 1. Für einen rein objektiven Beweis genügt es, daß die Gültigkeit seiner Schlüsse und die Wahrheit seiner Prämissen von einem idealen Subjekt erkannt werden, dem alle erkennbaren Sachverhalte auch bekannt
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sind und das deshalb keines Beweises bedarf, aber alle Beweise versteht. 2. Zweitens können wir in einem anthropologischen Sinne einen Schluß dann als objektiven Beweis bezeichnen, wenn die Gültigkeit seiner Schlußformen und die Wahrheit seiner Prämissen und sonstigen Voraussetzungen und Prinzipien von einem allgemein menschlichen Erkenntnisstandpunkt aus erkennbar sind. 3. In anderem Sinne sprechen wir nur im Hinblick auf bestimmte Subjekte, denen etwas bewiesen wird, von Beweisen, worauf Soeren Kierkegaard und Gabriel Marcel oft hingewiesen haben. Wir können bei einem Beweis, auf Grund seiner Erkenntnisbedingungen, das Erkenntnissubjekt berücksichtigen, dem X bewiesen werden soll. Die Erkenntnisfähigkeiten bestimmter Individuen oder Gruppen von Menschen, denen die Erkenntnisbedingungen eines Beweises (hinsichtlich der Prämissen und der Gültigkeit der Schlußform) zugänglich sind, sind vorausgesetzt, damit ihnen etwas bewiesen wird. Ein noch so objektiv gültiger Schluß samt seinen prinzipiell vom Menschen erkennbaren Prämissen sind für alle jene keine Beweise, denen die Erkenntnis der Gültigkeit der Schlußform und (oder) der Wahrheit der Prämissen fehlt. Ein Beweis hat daher niemals rein logische Voraussetzungen wie die Gültigkeit eines Schlusses; ein bloßer gültiger Schluß ist keineswegs ein Beweis. Dieser setzt nicht nur zusätzlich die tatsächliche Wahrheit der Prämissen des in ihm enthaltenen Schlusses, welche keine formal-logische Angelegenheit ist, sondern auch die Erkenntnis von deren Wahrheit voraus. Der Beweis hat also notwendig eine extralogische, und zwar eine epistemologische Voraussetzung. Nur wenn sowohl die Prämissen in ihrer Wahrheit als auch die Gültigkeit der Schlußform erkannt werden, haben wir einen Beweis vor uns. In diesem begegnet uns also eine Verbindung zwischen Urteilswahrheit und Erkenntniswahrheit. Beide sind für ihn vorausgesetzt und so werden wir im Beweis von der logischen Wahrheit des Urteils und der Gültigkeit von Schlüssen wieder auf die Erkenntniswahrheit als auf eine seiner unentbehrlichen Quellen zurückgeführt, die wir im vorhergehenden Kapitel untersucht haben. Der Schluß verlangt zweitens außer dem auseinander Folgen von Urteilen, außer dem Garantieverhältnis, kraft dessen die Wahrheit der Prämissen jene der Schlußfolgerungen sicherstellt, sowie außer dem rein logischen Begründungsverhältnis auch einen weiteren epistemologischen Begründungszusammenhang zwischen der Erkenntnis der Wahrheit der
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Urteile, die die Prämissen des Schlusses bilden, bzw. zwischen der Erkenntnis der Sachverhalte, auf die sie sich beziehen, und der Erkenntnis der Schlußfolgerung. Wenn ich etwa sage: „1. Alle Menschen in diesem Raum sind schwarz, was ich nur dadurch erkenne, daß ich sie sehe. 2. In diesem Zimmer ist auch Bobby (was ich ebenfalls sehe). Also ist Bobby schwarz“, so handelt es sich zwar um einen gültigen Schluß, der alle 4 genannten Ansprüche auf Wahrheit und auf Gültigkeit und sogar jenen auf einen rein logischen Begründungszusammenhang erfüllt, da rein logisch in der Wahrheit der Prämissen nicht jene der Konklusion vorausgesetzt wird. Da jedoch hier die wirkliche oder für einen Beweis erforderliche Erkenntnis der Wahrheit der Konklusion nicht durch die Erkenntnis der Prämissen begründet wird, sondern umgekehrt die Erkenntnis der Prämissen bereits diejenige der Konklusion (durch Wahrnehmung) schon voraussetzt, handelt es sich hier keineswegs um einen Beweis. In unseren vorangegangenen Untersuchungen zum Wesen des Urteils und seinem Wahrheitsanspruch, zum Sachverhalt als jener „res“, welche jene „Sache“ ist, in Übereinstimmung mit der das Urteil wahr ist, und zur Abwandlung des Wahrheitsanspruchs des Urteils in den verschiedenen Urteilsformen und Beweisen, haben wir ein wichtiges Problem der Wahrheit ausgeklammert, dessen Darstellung und Lösung wir im folgenden Kapitel in Angriff nehmen möchten.
KAPITEL 4 DAS EWIGE UND VOLLKOMMENE SEIN DER URTEILSWAHRHEIT UND DIE PERSON EINE PLATONISCH-AUGUSTINISCHE UND PERSONALISTISCHE METAPHYSIK DES ONTOLOGISCHEN STATUS DER URTEILSWAHRHEIT 1. Abhängigkeit und zugleich Unabhängigkeit der Existenz der Urteilswahrheit vom personalen Geist – Ein Paradox? Im dritten Kapitel haben wir uns mit der Wahrheit des Urteils bzw. mit der Wahrheit von in Sätzen ausgedrückten behauptenden Gedanken beschäftigt. So ist es wohl angebracht, uns nun nach den ersten systematischen Ausführungen über die Urteilswahrheit den tieferen metaphysischen Problemen zuzuwenden, welche das letzte Wesen und den ontologischen Status dieser Wahrheit des Urteils betreffen.487 Sind diese Bedeutungseinheiten, denen wir Wahrheit zuschreiben, nichts als objektive Gedanken, zugleich Produkte und Inhalte menschlicher Denkakte, wie Pfänder meint?488 Sind diese objektiven Gedanken, die wir Urteile nennen, wirklich nur Erzeugnisse menschlicher Abstraktionen und Urteilsakte, die sich zusammen mit dem Sein selber in der Geschichte wandeln, wie Heidegger behauptet? Können wir sagen, was Heidegger sagt und Brettschneider gut zusammenfaßt? Die Wahrheit ist zutiefst mit diesen Wandlungen verknüpft und hat sich in gleichem Maße wie das Sein gewandelt. Der Neuansatz im Heideggerschen Denken ist nur auf dem Boden dieser Wandlungen zu verstehen, da Heidegger sich und seine Arbeit in hohem Maße der Geschichte verpflichtet
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Bei der Behandlung dieser Fragen stütze ich mich auf Ausführungen, die ich in zwei Aufsätzen veröffentlicht habe: Josef Seifert, “Is the Existence of Truth dependent upon Man?” S. 461-48; ders., „Könnte die Wahrheit nur durch den menschlichen Geist Bestand haben? Über den ontologischen Status der logischen Urteilswahrheit“ in: Edgar Morscher, et al. (Hrsg.) Vom Wahren und vom Guten. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Balduin Schwarz. Alexander Pfänder Logik4, S. 9 ff.
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KAPITEL 4 weiß.489
Oder aber handelt es sich beim Träger der Wahrheit um zeitlose ideale Bedeutungseinheiten, die unabhängig von allem menschlichen Denken bestehen? Einfacher gefragt: Besteht der Träger der Wahrheit, das Urteil, nur als Produkt des menschlichen Denkens und hängt daher von diesem ab oder besteht die Urteilswahrheit selber unabhängig von menschlichen Urteilsakten und Erzeugnissen menschlichen Denkens? Setzen aber im letzteren Fall die Urteile, denen wir Wahrheit zuschreiben, überhaupt keinen denkenden Menschen voraus, oder bestehen sie gar unabhängig von jedem denkenden Subjekt überhaupt? Oder aber sind die Träger der Wahrheit, die Urteile, doch ihrem Wesen nach auf Geist, auf dessen Erkenntnis- und Urteilsakte hingeordnet und können, wenn sie nicht in menschlichen Denkakten ihren Ursprung haben und in ihrer unendlichen Fülle erklärbar sind, in ihrem letzten metaphysischen Grund nur durch ein transzendentes und im höchsten Maße und in vollkommenster Weise denkendes Wesen verständlich gemacht werden, selbst wenn die Urteile, die Träger der Wahrheit sind, sich uns vor einer metaphysischen Untersuchung ihres letzten Ursprungs klar erschließen? Der Versuch einer Beantwortung dieser sich aus dem Wesen der Urteilswahrheit ergebenden Fragen nach deren ontologischem Status werden uns tief in eine Metaphysik der Logik und der Sprache hineinführen. In der Folge der Frage nach Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Urteilswahrheit von menschlichen Denkakten und den von diesen gedachten oder gar hervorgebrachten Bedeutungseinheiten und Wortbedeutungen wird sich uns die noch tiefere Frage nach der Existenz einer höheren Sprache als der menschlichen stellen, nach einer idealen und rein logischen Sprache, die nur ein dem Menschen überlegener, ja unendlich überlegener Geist erfassen oder gebrauchen könnte, ja die uns zunächst als völlig unabhängig von jedem denkenden Geist zu bestehen scheint, aber zugleich 489
Vgl. Willy Bretschneider, Sein und Wahrheit. Über die Zusammengehörigkeit von Sein und Wahrheit im Denken Martin Heideggers (Meisenheim am Glan: Verlag Anton Hain, 1965) S. 5. Interessant sind auch die Zusammenhänge zwischen einem derartigen Heraklitismus, dem zufolge alles Sein in ständigem Fluß ist, und dem Relativismus, einem Zusammenhang, dem wir uns hier nicht zuwenden können. Vgl. Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 395 dennoch auf einen absoluten lebendigen Geist verweist. Indem wir diesen Fragen, die uns auch zu metaphysischen Problemen idealer Wesenheiten und Bedeutungen sowie zur Frage nach deren letztem Sitz und letzter Quelle, hinführen wird, nachgehen, werden wir von einem neuen Gesichtspunkt aus die Identifizierung des Seins (wenigstens des realen Seins) mit dem Sein in der Zeit, die wir bei Heidegger und bereits bei Husserl finden,490 kritisch zurückweisen müssen.491 In Sein und Zeit und in anderen Werken hat Martin Heidegger die Behauptung aufgestellt, daß Wahrheit keinen Bestand habe, bevor der Mensch Sein entdecke, bzw. unabhängig vom „Entdeckendsein des Daseins (= Menschen)“. So hätte es z.B. die Wahrheit der Newtonschen Gesetze erst seit und durch Newton gegeben. In konsequenter Weise behauptet Heidegger dann auch, daß der Selbstmörder mit seinem Dasein auch die Wahrheit auslösche.492 Die Auffassung, daß Wahrheit in dem Sinne nur durch den menschlichen Geist bestehe, daß sie nur dank menschlichen Denkens dasei, weil nur dank menschlichem Denken Begriffe und Urteile existierten, ist dabei weder auf Heideggers Kritik der Fassung der Wahrheit als Übereinstimmung (adaequatio) mit der Wirklichkeit, noch auf seine gesamte, tief im Subjektivismus des deutschen Idealismus verhaftete skeptische Position beschränkt, der wir uns in einem eigenen Kapitel des zweiten Bandes des vorliegenden Werkes widmen wollen. Vielmehr bietet sich diese Meinung als die scheinbar einzig natürliche jedem Philosophen an, der nicht an übermenschliche Geister und Götter glaubt oder dieselben auch nur aus 490
491
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Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band I, Kap. VII, §§ 32 ff.; Kap. VIII, §§ 46, 51. Vgl. Josef Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica, Kap. 10. Martin Heidegger, Sein und Zeit (10. Auflage), (Tübingen: M. Niemeyer, 1963), Paragraph 44c, S. 226 ff. Ich denke insbesondere an den Text: Alle Wahrheit ist gemäß deren wesenhafter daseinsmäßiger Seinart relativ auf das Sein des Daseins. Ein Skeptiker kann nicht widerlegt werden, so wenig wie das Sein der Wahrheit ‘bewiesen’ werden kann. Der Skeptiker, wenn er faktisch ist, in der Weise der Negation der Wahrheit, braucht auch nicht widerlegt zu werden. Sofern er ist und sich in diesem Sein verstanden hat, hat er in der Verzweiflung des Selbstmords das Dasein und damit die Wahrheit ausgelöscht.
(Ebd., S. 227; 229).
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KAPITEL 4
seiner Philosophie ausschalten möchte. Kein Materialist und Atheist, der etwa mit den Marxisten annimmt, daß es nur Materie und ihre Wirkungen und daß es jenseits der Geschichte und eines an ökonomische und andere materielle Faktoren gebundenen menschlichen Denkens keine geistigen Vollzüge gebe, kann, selbst wenn er daran festhält, daß Wahrheit in einer adaequatio zwischen Urteil und Sachverhalt besteht,493 konsequenterweise eine andere Position vertreten. Er wird nicht daran zweifeln, daß Wahrheit geschichtlich entstehe und stets im Prozeß des Entstehens begriffen sei, da es außer dem menschlichen, historischer Entfaltung unterworfenen kein anderes Denken gebe, das Träger der Wahrheit werden könnte. Auch Thomas von Aquin vertritt die Auffassung, daß der Atheist konsequenterweise von einem Auslöschen der Wahrheit durch eine Vernichtung des Menschen sprechen müßte. Wo Thomas von einer fiktiv angesetzten (als objektiv unmöglich betrachteten) atheistischen Welt spricht, d.h. von einer Welt, in der alle Geister zugrundegehen könnten, meint er, in einer
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Dies gilt nur auf einer sehr peripheren Ebene für den Marxismus, der die Korrespondenztheorie in Form der sogenannten ‚Widerspiegelungslehre‘ festzuhalten scheint. In Wirklichkeit liegt im Marxismus und bei Marx selber der Versuch einer Entthronung der Wahrheitsfrage vor. Vgl. dazu Karl Marx, Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels, Werke, Bd. 3 (Berlin: Dietz Verlag, 1958), und die zweite These über Feuerbach, die eine deutliche Ausschaltung der Wahrheitsfrage von ungeheuren Konsequenzen beinhaltet: 2. Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.
[Marx: Thesen über Feuerbach, S. 3. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 32418 (vgl. MEW Bd. 3, S. 5)] Vgl. auch Dietrich von Hildebrand, „Die Entthronung der Wahrheit“, in: Dietrich von Hildebrand, Idolkult und Gotteskult. Gesammelte Werke Band VII, (Regensburg: Josef Habbel, 1974), S. 309-339); Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus, sowie Josef Seifert, „Ideologie und Philosophie. Kritische Reflexionen über Marx-Engels ‚Deutsche Ideologie‘ – Vom allgemeinen Ideologieverdacht zu unzweifelbarer Wahrheitserkenntnis“ in: Prima Philosophia, Bd. 3, H 1, 1990.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 397 solchen Welt könne auch die Wahrheit vernichtet werden.494 Die im folgenden kritisch zu behandelnde Auffassung, daß Urteilswahrheit keinerlei von menschlichen Gedanken unabhängige Realität besitze, setzt aber auch nicht notwendig den Materialismus, ja nicht einmal jedes Fehlen der Anerkennung Gottes voraus. Auch Hegel, der das Wahre als „das Ganze“ faßt und vom göttlichen absoluten Geist redet, und Fichte meinen letztlich, daß es diesen Gott nur durch das menschliche Bewußtsein gebe und daß deshalb ohne menschliche historische Entfaltung der absolute Geist und die absolute Wahrheit nicht dawären.495 494
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Siehe Thomas von Aquin, Quaestiones Disputatae de Veritate, Q. l, a. 2. corpus: „Doch wenn man die in sich unmögliche Annahme macht, es gebe keinen Intellekt und die Dinge würden dennoch weiterbestehen, dann würden die Wesensvoraussetzungen der Wahrheit in keiner Weise bestehen bleiben.“ (eigene Übersetzung). Thomas vertritt die Auffassung, nur eine Wahrheit sei ewig, die göttliche. Sähe man daher von Gott ab, könne es nur das Sein geben, nicht aber die Wahrheit, wenn es keinen menschlichen Geist gibt. Er vertritt diese Ansicht in Thomas von Aquin, In Libros Sent., In I Sent., d. 19, q. 5, a 1, RA 3 f. Man denke an den berühmten Atheismusstreit, in den Fichte verwickelt war und der sich an seine Schrift aus dem Jahre 1798 über Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung anknüpfte. Dort (ebd. V, 180 ) wird eine realistische Auffassung der Schöpfung der Welt durch Gott als „totaler Unsinn“ bezeichnet: Eine Erklärung der Welt und ihrer Formen aus Zwecken einer Intelligenz, ist, inwiefern nur wirklich die Welt und ihre Formen erklärt werden sollen, und wir uns sonach auf dem Gebiete der reinen – ich sage der reinen Naturwissenschaft befinden, totaler Unsinn. Ueberdies hilft uns der Satz: eine Intelligenz ist Urheber der Sinnenwelt, nicht das geringste, und bringt uns um keine Linie weiter; denn er hat nicht die mindeste Verständlichkeit, und giebt uns ein paar leere Worte, statt einer Antwort auf die Frage, die wir nicht hätten aufwerfen sollen.
Fichte erklärt in derselben Schrift (V 186), daß wir keinen andern Gott als die „lebendige und wirkende sittliche Ordnung selbst“ annehmen könnten: Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes, und können keinen anderen fassen. Es liegt kein Grund in der Vernunft, aus jener moralischen Weltordnung herauszugehen, und vermittelst eines Schlusses vom Begründeten auf den Grund noch ein besonderes Wesen, als die Ursache desselben, anzunehmen;
Auch Hegels bekannte systematischen Grundthesen, denen zufolge die Phasen des absoluten Geistes, in denen dieser erst zu sich selbst zurückkehrt, nämlich Kunst, Religion und Philosophie, als Teil und Erfüllung des göttlichen Lebens selbst aufgefaßt werden, machen dieselbe Voraussetzung, daß Wahrheit, und damit auch
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Selbst wenn, ja gerade wenn man im erkenntnistheoretischen Realismus anerkennt, daß die Wirklichkeit dem menschlichen Geist durchaus vorgegeben ist und das Sein keinesfalls nur durch die Gnade des Menschen ist, gerade wenn man ferner annimmt, daß das Maß der Wahrheit der Urteile im Sein liegt, so scheint es im Wesen der Wahrheit zu gründen, daß sie Geist voraussetzt und nur in ihm und durch ihn ist. Denn wenn Wahrheit in einer Übereinstimmung zwischen auf der einen Seite Denken und Urteilen und auf der anderen Seite der Wirklichkeit liegt, setzt Wahrheit eben zwei Pole voraus: den Terminus des Seins und den des Geistes. Dem Sein hat sich der Geist im wahren Urteil anzugleichen, der Geist allein aber vollzieht diese Angleichung, er allein kann dasjenige sein oder wenigstens dasjenige Etwas denkend hervorbringen, das sich dem Sein angleicht: das Urteil. Und Wahrheit, mit der ihr eigenen geistigen, personhaften oder jedenfalls geistgeborenen Natur ist nur möglich, wenn zum in sich blinden (etwa dem materiellen) Sein das geistig-intellektuelle Sehen, Erfassen, Abstrahieren und richtige Urteilen tritt, oder aber wenn zum in sich erwachten, „sehenden Sein“ des Bewußtseins urteilsmäßige Fassung sich gesellt, die jeden beliebigen Sachverhalt inklusive der Sachverhalte über das Bewußtsein selber wieder zum Gegenstand wahrer Urteile machen kann. Selbst wenn man mit Alexander Pfänder und anderen Phänomenologen weder sprachliche Sätze (wie Tarski) noch den lebendigen, personalen Geist und seine Erkenntnis- und Urteilsakte als den primären Träger von Wahrheit begreift, sondern Gedanken(-produkte), nämlich eine Sphäre von aus Begriffen zu einer Einheit höherer Ordnung zusammengefügten Urteilen als den primären Träger von Wahrheit erkennt, wie wir dies im vorigen Kapitel begründet haben, so scheint doch für den Atheisten der Schluß unvermeidlich, daß nämlich Wahrheit an menschliches Denken gebunden ist, wenn sie überhaupt besteht. Denn nicht nur Sprache, Aussagesätze, sondern auch und gerade besonders die Bedeutungseinheiten und Urteile, die in solchen Sätzen ausgedrückt werden, scheinen eindeutig geistgeboren zu sein, Gedankendinge, vom Geist hervorgebrachte Bedeutungen und Bedeutungsträger, die ohne Akte des Denkens, Abstrahierens und Urteilens nicht bestünden. Zwar könnte man – etwa mit Roman die Wahrheit, nicht unabhängig vom Menschen Bestand hat.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 399 Ingarden496 – meinen, diese Bedeutungseinheiten seien als geistgeborene ausschließlich in ihrem Ursprung an den sie hervorbringenden personalen Geist gebunden. Einmal entstanden, besäßen Begriffe und Urteile eine an ideales Sein erinnernde Eigenständigkeit oder zumindest eine intersubjektive Realität, die z.B. ein literarisches Kunstwerk, das nur kraft von Begriffen und Bedeutungseinheiten höherer Ordnung besteht, auch dann noch existieren läßt, wenn der es hervorbringende Künstler längst nicht mehr denkt oder schon verstorben ist und wenn auch kein Leser das Werk kennt oder versteht. Wenn aber auch Begriffe und andere komplexere Bedeutungseinheiten wie Urteile oder Schlußketten eine vom subjektiv-personalen und individuellen Geist, der sie hervorbringt, in gewissem Maße abgesonderte Existenz besitzen können und eine Art „objektiven“ oder „objektivierten“ Geist darstellen, bzw. wenn sie als „objektive Gedankendinge“ oder „Gedankenerzeugnisse“ eine von personalen Denkvollzügen unabhängige Existenz besitzen, die – vielleicht in Büchern niedergelegt bzw. ausgedrückt – nicht weniger wirklich ist als physische Gegenstände, so muß doch eine Tatsache zugegeben werden: Urteilsgebilde als Träger von Wahrheit scheinen doch in ihrem Ursprung und in ihrer inhaltlich-gedanklichen Bestimmtheit an den Menschen gebunden zu sein. Wenn Wahrheit nur als Eigenschaft solcher Urteile bestünde, begänne Wahrheit (wie Kunstwerke etwa) in der Geschichte zu existieren und verdankte ihre Existenz dem menschlichen Geist. Wahrheit wäre dann eine einzigartige Übereinstimmung, im Sinne eines Zusammentreffens des im Urteil gesetzten „rein intentionalen“ Sachverhalts mit dem wirklichen, oder Wahrheit läge in der Übereinstimmung zwischen der im Urteil enthaltenen behauptenden Setzung selbst und dem von dieser angezielten und von ihr unabhängigen Sachverhalt, der in sich selbst Bestand hat. In diesem Sinne wäre auch Wahrheit ganz objektiv. Immerhin bliebe die Wahrheit dabei jedoch vom menschlichen Geist abhängig, jedenfalls was 496
Siehe Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Ingardens dort entwickelte Position ist allerdings weit differenzierter als sie hier dargestellt ist. Ingarden unterscheidet zwischen idealen Bedeutungseinheiten und vom Menschen produzierten Wortbedeutungen. Im unmittelbar Folgenden beziehen wir uns nur auf die letzteren; später werden wir auf die ersteren und die hier angedeutete Unterscheidung Ingardens zurückkommen.
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ihren Ursprung und Träger angeht. Denn nur eine Person kann Begriffe bilden, Urteile in eigenartigen Denkakten hervorbringen und durch diese Urteile auf unabhängig von ihnen bestehende Sachverhalte abzielen. Auch wenn dann diese Urteile und die ihnen zukommende Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit fortbestehen, auch nachdem die betreffenden Denkakte vergangen sind, so hängen diese Urteile doch in ihrem Ursprung und in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit vom menschlichen Geist ab, der sie hervorgebracht hat, so scheint es. Doch nicht ausschließlich in ihrem Ursprung. Vielmehr, wenn Urteile z.B. ausgedrückt sind, so können sie doch nur von anderen Menschen bzw. von Personen verstanden werden. Ganz abstrahiert von jedem solchem Verstandenwerden, an das nicht nur Bücher, sondern auch der in ihnen ausgedrückte Sinn appellieren, scheinen diese Urteile gar nicht zu existieren oder zumindest nicht eine aktuelle Existenz im eigentlichen Sinne zu besitzen, sondern nur blutleere Schemen von objektiven Urteilen zu bleiben. Damit hinge Wahrheit, in einer Welt, in der es nur Menschen als Personwesen gäbe, zumindest in ihrem Ursprung und in ihrer inhaltlichen Fassung, wohl aber auch betreffs ihres Trägers und hinsichtlich ihrer vollen Aktualität vom menschlichen Geiste ab. Gibt es ausschließlich menschliche Geister, existiert also Wahrheit nur durch sie, auf Grund ihrer Denkakte, und könnte deshalb – zumindest in eigentlicher Aktualität – nicht fortbestehen, wenn einmal alle Menschen, z.B. in einer Weltkatastrophe, zugrundegingen. Damit scheint die These von der Gebundenheit der Wahrheit an den menschlichen Geist, zumindest in einer atheistisch gefaßten Welt, unbestreitbar erhärtet zu sein. Nur wer an Gott, göttliche Wesen, Engel oder andere überirdische Wesen glaubt oder deren Existenz zu beweisen imstande wäre, könnte demnach behaupten, daß Wahrheit nicht nur dank menschlichen Denkens und Urteilens bestehe. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden zu zeigen, daß die Wahrheit trotz all dieser gewichtigen Argumente für ihre Abhängigkeit vom Menschen ihrem Wesen nach unabhängig vom menschlichen Geist besteht und daß sich dies auch unabhängig davon einsehen läßt, ob man die Existenz Gottes oder anderer übermenschlicher Geister erkennen kann oder nicht. Und zwar wird von uns nicht nur die Intelligibilität des Seins
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 401 behauptet werden und damit auch die Möglichkeit, Erkenntnisse über die Welt zu erlangen und dieselben in Urteilen niederzulegen bzw. auszudrücken. Vielmehr wird behauptet werden, daß Urteilswahrheit, wie sie in der Übereinstimmung eines geistigen Gebildes, nämlich des Urteils, das aus Begriffen besteht, mit der Wirklichkeit liegt, nicht an die Existenz denkender menschlicher Wesen gebunden sein kann, und daß dies aus dem Wesen der Urteilswahrheit selbst erhellt, nicht bloß aus metaphysischen Beweisen für übermenschliche denkende Wesen. Dabei soll jedoch zugleich nicht in Abrede gestellt werden, was oben begründet wurde, daß Wahrheit wesenhaft auf personal-denkenden Geist zugeordnet bleibt und daß sie Begriffe voraussetzt, die in sich den Stempel der Geistgeborenheit aus personal-denkendem Geist tragen. Ohne einen solchen Geist und seine Denkakte scheinen Begriffe und aus ihnen bestehende Gebilde metaphysisch ‚in der Luft zu hängen‘, ja unmöglich zu sein. Wenn es uns gelingt, sowohl diese letzte These als auch die andere zu erhärten, daß Wahrheit in ihrem Bestand unmöglich an den menschlichen Geist gebunden sein kann, so folgt daraus zunächst etwas, das durchaus paradox erscheinen muß: Denn einerseits, wie sogleich gezeigt werden soll, kann mit Evidenz erkannt werden – und zwar unabhängig davon, ob es außer dem menschlichen Geist noch andere Personen gibt –, daß Wahrheit unabhängig vom menschlichen Geist besteht und andererseits ist die Existenz der Urteilswahrheit ohne die Existenz irgendwelcher Personen in sich metaphysisch unmöglich. Wir werden auf dieses Paradox, das Augustinus im berühmten VeritasBeweis für die Existenz Gottes dahingehend löste, daß die notwendig seiende Wahrheit auch einen notwendig seienden göttlichen Geist beweise, ausführlicher zurückkommen, wollen aber zunächst die auf den ersten Blick paradox und widerspruchsvoll scheinenden Urteile prüfen. 2. Argumente für die vom Menschen unabhängige Existenz der Wahrheit und Antwort auf Einwände Wenden wir uns also der Fülle von Argumenten zu, die beweisen, daß
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die Wahrheit als jenes „Etwas“, das vom Menschen gefällte Urteile „wahr macht“, unmöglich ihre Existenz menschlichem Denken und Urteilen verdanken kann. Dabei sehen wir zunächst völlig von der Frage ab, ob unsere Argumente auch beweisen oder einschließen, daß alle „Bedeutungseinheiten“ (Begriffe, Urteile, Fragen, etc.) insgesamt zeitlose ideale Existenz besitzen, also auch außerhalb von wahren Urteilen, Bestand haben, wie Husserl in den Logischen Untersuchungen in seiner Lehre von der „Idealität der Bedeutungen“ annahm.497 2.1. Universale Einheit und Identität der Wahrheit
Wenn wir an die Wahrheit von Urteilen denken oder besser an jene Wahrheit, die Urteile wahr macht, so ist diese erstens durch eine innere Einheit im Sinne einer Universalität gekennzeichnet, kraft deren sowohl die Wahrheit jedes einzelnen Urteils als auch jene aller Urteile nicht nur zu allen Zeiten und an allen Orten besteht, sondern kraft deren es nur eine Wahrheit gibt, die in dieser ihrer inneren Identität an allen Orten und zu allen Zeiten bzw. überörtlich und überzeitlich existiert. Wir sagen mit Recht, ein Philosoph des 20. Jahrhunderts habe in einem Aufsatz dieselbe Wahrheit formuliert, die schon Platon vor Jahrtausenden ausgedrückt hat. Selbst eine erste oberflächliche Betrachtung ergibt, daß die eine Wahrheit diese universale innere Identität nur dann besitzen kann, wenn sie nicht von Gedankenprozessen bzw. Gedankenprodukten abhängt, die sich zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort ereignen bzw. die entstehen und vom Menschen in der Geschichte erzeugt werden. Denn würde z.B. durch mein richtiges Urteilen jetzt eine Wahrheit erzeugt, die vor meinem Urteilsakt nicht bestanden hat und nur als Eigenschaft des von mir gedachten Urteilsinhalts Bestand hätte, so könnte diese jetzt zu existieren beginnende Wahrheit ja nicht mit jener Wahrheit strikt identisch sein, die von in der Zukunft oder Vergangenheit lebenden Menschen erzeugt würde bzw. als immanente Eigenschaft der von ihnen denkend gesetzten Urteile durch sie hervorgebracht würde. Ähnlich wie die rote Farbe eines heute erzeugten Balles unmöglich mit der roten Farbe eines 497
Vgl. Edmund Husserl, „Ausdruck und Bedeutung“, Logische Untersuchungen, Bd I, II (1 und 2).
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 403 vor hundert Jahren erzeugten Balles strikt identisch sein kann, so könnte auch eine durch meine Denkakte in Urteilen entstehende Wahrheit niemals mit jener identisch sein, die Urteilen real innewohnte, die von denkenden Subjekten zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen und Kontinenten vor Jahrtausenden gefällt wurden. Gewiß, Gleichartigkeit der Wahrheit der Urteile, die von längst versunkenen Nationen gedacht wurden, mit jener, die gegenwärtig gefällten Urteilen innewohnt, könnte auf diese Weise eine Erklärung finden. Aber unmöglich läßt sich mit jener Theorie die Tatsache begründen, daß es sich bei der Wahrheit meiner Urteile und jener Urteile um eine und dieselbe identische Wahrheit handelt, die nicht hier und dort, heute und damals in irgendeinem Sinne eine andere ist oder reale Verschiedenheiten aufweist. Das aber unterscheidet die Urteilswahrheit gerade von Denk- und Urteilsakten, daß die letzteren zwar durchaus gleicher Art sein können, niemals aber in allen den verschiedenen Subjekten, in denen sie existieren, identisch sind. Also ließe sich nur die gleiche Natur einer Pluralität von Wahrheiten gleichen Inhalts, nicht aber die („numerische“ oder zugleich abstrakte und konkrete) Identität der Wahrheit unter der Voraussetzung erklären, daß Wahrheit durch das in der Zeit erfolgende urteilsmäßige Setzen von Urteilen durch Menschen existiert, und daß Wahrheit also in der Übereinstimmung dieser vom Menschen erzeugten Urteile (Urteilsinhalte) mit wirklich bestehenden Sachverhalten bestünde. Es ist aber gerade die Identität und Selbigkeit der Wahrheit, die sie über alle Zeiten und Orte erhebt, was in die Augen springt. Ist es doch eine und dieselbe Wahrheit, an der Urteile teilhaben und die Urteile charakterisiert, die zu den verschiedensten Zeiten und von den verschiedensten Menschen gefällt werden. Daraus folgt, daß diese eine identische Wahrheit eben nicht bloß als Eigenschaft von Urteilen bestehen kann, die vom Menschen gefällt werden. Es ist mit dem Wesen dieser universalen einen Wahrheit, die zu allen Zeiten und an allen Orten, die über alle Zeiten und Orte hinweg besteht, unverträglich, daß sie heute oder gestern, hier oder dort zu existieren beginnt in Abhängigkeit von menschlichen Setzungen und Urteilen. Die Ungereimtheit der Auffassung einer Gebundenheit der Existenz von
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Urteilswahrheit an vom Menschen gefällte Urteile tritt noch deutlicher durch die folgenden ‚Konkretisierungen‘ hervor. Wenn wirklich das in meinen Denkakten erzeugte Urteil der einzige seinsmäßige Ort und Träger der Urteilswahrheit wäre und diese erzeugte, könnte man dieselbe Kreativität im Erzeugen von Wahrheit doch keinem andern Menschen absprechen. Dann könnte aber eine Wahrheit gleichen Inhalts morgen von einem anderen Menschen, übermorgen von einem dritten hervorgebracht werden, der – wissend oder nichtwissend um mein Urteil – ein gleiches Urteil fällte. Damit wäre eine potentiell unbeschränkte Multiplikation von Wahrheiten gleichen Inhalts (wie eine derartige ‚Multiplikation‘ von Akten gleicher Natur offenkundig besteht) unausbleiblich. Und von diesen vielen Wahrheiten (gleichen Inhalts) könnten wieder einige oder alle zugrundegehen, wenn die vom Menschen gefällten wahren Urteile zugrundegingen, nicht mehr gedacht oder zurückgezogen würden. Damit würde die Wahrheit gleichen Inhalts multipliziert oder an Zahl reduziert werden, zu existieren beginnen oder aufhören in einem unaufhörlichen historischen Oszillieren zwischen Bestehen und Untergehen (der Wahrheit). Oder wollte jemand im Ernst behaupten, die eine identische Wahrheit werde von den verschiedensten individuell unterschiedenen Denkakten erzeugt? Jemand könnte einwenden: Aber läßt sich diese unbestrittene Selbigkeit und universale Einheit der Wahrheit eines jeden Urteils nicht von dessen Objekt her erklären? Wenn viele Menschen über denselben Sachverhalt ein Urteil fällen, das seinen Bestand behauptet, dann ist die Wahrheit aller ihrer Urteile ‚dieselbe‘, insofern sie aus der Übereinstimmung mit demselben Sachverhalt erwächst. Ähnlich sei es mit ‚derselben Trauer‘ bewandt, die eine große Zahl von Menschen über den Untergang ihres Landes oder über einen anderen Unglücksfall empfinden. Dieser Vergleich zeigt nur noch deutlicher den Sachverhalt, um dessen Erklärung es hier geht. Denn es ist gerade nicht „dieselbe Trauer“, die viele Menschen fühlen – jedenfalls nicht im Sinne einer strikten („numerischen“) Identität. Wenn viele Menschen auf dasselbe Gut eine adäquate Antwort geben, eine adäquate Wertantwort geben498, wie man sagen 498
Dieser Ausdruck wurde von D. von Hildebrand geprägt und spielt in seinen Werken über Ethik und Liebe eine entscheidende Rolle, wie auch innerhalb der Ethik und philosophischen Anthropologie ihm nahestehender Denker.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 405 könnte, so ist diese Adäquatheit der Wertantwort wirklich deren Eigenschaft; sie ist eine in jeder Wertantwort real verschiedene angemessene Entsprechung (Relation) zum Gegenstand. Die Adäquatheit, die meine Antwort zu einer gebührenden macht, wohnt meiner Antwort real inne und ist daher, auch wenn sie denselben idealen eide oder Sinngesetzen untersteht und von demselben konkreten Gut gefordert wird, eine einzige und je einzigartige.499 In einer eindeutigen (und doch erstaunenswerten) Weise trifft dies gerade nicht auf die Wahrheit zu, die Urteilen zugesprochen werden kann. Es ist gerade nicht so, daß die Wahrheit eines von mir gefällten Urteils von jener eines von jemand Anderem gefällten Urteils individuell verschieden ist, so als handelte es sich hier um zwei verschiedene Wahrheiten gleichen Inhalts. Vielmehr ist es gerade eine identische Wahrheit, um die es hier geht. Vielleicht sind wir deshalb gezwungen zu sagen, daß Wahrheit nicht eine reale, Urteilen immanent innewohnende Eigenschaft der Adäquation an die Wirklichkeit ist, sondern daß die vielen Urteile (sofern es deren überhaupt viele gibt, was gewiß aus der Annahme zu folgen scheint, daß sie Produkte von Denkakten sind, während es nur ein einziges Urteil gleichen Inhaltes geben könnte, wenn dieses ideale Existenz besäße) an der einen Wahrheit teilhaben, bzw. die eine universale Wahrheit, die ihnen in gewissem Sinne transzendent bleibt, ausdrücken. Ein Anhänger Ingardens möchte hier vielleicht darauf hinweisen, daß die im Literarischen Kunstwerk500 von Ingarden beschriebene Seinsweise 499
500
Die wesenhafte Individualität jedes personalen Geistes ist eine letzte irreduzible Urgegebenheit und andere Denker zeigten. Vgl. dazu insbesondere Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins; Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas‘ und ‚jemand‘ (Stuttgart: Klett-Cotta, 1996); John F. Crosby, The Selfhood of the Human Person (Washington, D.C.: The Catholic University of America Press, 1996); vgl. auch J. Seifert. Leib und Seele. Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie (Salzburg: A. Pustet, 1973), und ders., Das Leib Seele-Problem in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1979), sowie Josef Seifert, Essere e persona, cit., und ders., “Essere Persona Come Perfezione Pura. Il Beato Duns Scoto e una nuova metafisica personalistica,” in: De Homine, Dialogo di Filosofia 11 (Rom: Herder/Università Lateranense, 1994), S. 57-75. Siehe Ingarden, Das literarische Kunstwerk, §§ 1 ff.
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von literarischen Kunstwerken sowohl Identität als auch Abhängigkeit vom Menschen einschließt. Ingarden scheint gerade meisterhaft zu zeigen, daß das literarische Kunstwerk sowohl Züge des realen Seins als eines vom Menschen in der Zeit geschaffenen Gebildes aufweist, als es auch ideal-zeitlose Eigenschaften besitzt. Ein und derselbe König Lear, der von Shakespeare zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen wurde, existiert und wird konkretisiert in unzähligen Übersetzungen, Lesungen und Aufführungen, ohne daß es viele König Lears gäbe. In analoger Weise könne die Wahrheit, ähnlich wie ein literarisches Kunstwerk – als vom Menschen geschaffen und doch zugleich als eine identische in unzähligen Urteilskonkretisationen begriffen werden. Zu diesem Einwand läßt sich zunächst bemerken, daß das Kunstwerk eine andere Seinsweise als die Wahrheit besitzt, indem die Schöpfung eines Kunstwerks überhaupt und sogar die mögliche Schöpfung desselben Werks durch viele nicht dem Wesen des Kunstwerks widerspricht, wie dies in bezug auf Wahrheit aufgewiesen wurde. Das Kunstwerk ist ja ein konkretes, individuelles Gebilde und wenn ihm auch eine gewisse Selbigkeit in vielen Aufführungen zukommt, so besitzt es doch in keiner Weise dieselbe Identität wie die Wahrheit. Die entscheidenden Unterschiede zwischen dem Kunstwerk und der Wahrheit werden später deutlicher hervortreten. Außerdem ist gerade die Art der ‚Transzendenz‘ über die Konkretisierungen und Aufführungen, die Ingarden am literarischen Kunstwerk aufweist, ein Grund für ihn, die Unmöglichkeit der Identität des Kunstwerks mit Eigenschaften konkreter psychischer Akte oder deren Produkten im Sinne von Aufführungen u. dgl. zu behaupten. Wenn also sogar das Kunstwerk in seiner Konkretheit und, wie mit jedem weiteren Argument klarer hervortreten wird, von der der Wahrheit radikal verschiedenen Seinsweise unmöglich eine Eigenschaft der Akte der Zuschauer oder ein Produkt der Akte der Schauspieler sein kann, um wieviel weniger kann dies dann von der Wahrheit behauptet werden? 2.2. Zeitlosigkeit der Wahrheit
Zu dieser Universalität im Sinne der überzeitlich-überörtlichen Identität der Wahrheit jedes Urteils tritt ferner die nahe verwandte Tatsache hinzu, daß Wahrheit zeitlos ist, und zwar besitzt nicht nur die Wahrheit über
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 407 zeitlos bestehende Wesenssachverhalte diese Zeitlosigkeit, sondern auch die Wahrheit über alle zeitlichen Sachverhalte.501 Es ist schlechthin wahr, daß alles, was geschah, ebenso geschah, wie es geschah. Die Wahrheit gleicht einem geistigen „Echo des Seins“, das aber nicht einfach an dem zeitlichen Rhythmus zeitlicher Gebilde teilnimmt, sondern in unzeitlicher oder überzeitlicher Weise alles zeitliche Geschehen betrifft. Zwar läßt sich nicht leugnen, daß etwa der Satz „Julius Caesar herrscht gegenwärtig über das Römische Reich“ im Jahre 5000 v.Chr. falsch, einige wenige Jahre (47-44 v. Chr.) wahr, und seit Caesars Ermordung im Jahr 44 v. Chr. wieder falsch ist. In diesem Sinne nimmt gewiß sie Wahrheit als das „Echo des Seins“ auch am zeitlichen Rhythmus und Zeitindex der Dinge teil. Dennoch gilt: Alle Urteile, die dem Vergangenen jene Prädikate zuschreiben, die es tatsächlich besaß, sind wahr. Diese Wahrheit gehört nicht selber der Vergangenheit und deren nicht-mehr-Bestehen (Sein) an, sondern ‚ist‘ in einer unzeitlichen oder überzeitlichen ‚Gegenwart‘, jedenfalls in einem Seinsmodus, von dem Vergangensein nicht sinnvoll ausgesagt werden kann. Auch die Wahrheit über zukünftige Ereignisse ist nicht selber zukünftig, sondern besteht schon jetzt, auch wenn in der jeweiligen Gegenwart die Wahrheit über Zukünftiges von Irrtümern, wahre von falschen Prophezeiungen vom menschlichen Geist nicht zu unterscheiden sind. Gerade wenn wir aber die Frage stellen, ob eine Aussage über die Zukunft wahr oder falsch ist, setzen wir voraus, daß diese Wahrheit oder Falschheit bereits ‚jetzt‘ den Aussagen über Zukünftiges zukommt, auch wenn sie von uns jetzt nicht erkannt werden kann. Wir setzen voraus, daß z.B. Prophezeiungen entweder wahr oder falsch sind, nicht daß sie erst wahr oder falsch werden. Oder verhalten sich die Dinge 501
Vgl. zeitgenössische Diskussionen der Zeitlosigkeit der Wahrheit wie Aron Edidin, “Eternal Verities: Timeless Truth, Ahistorical Standards, and the One True Story”, American Philosophical Quarterly, (1997), 34 (2): 259-271. Zur Verwerfung zeitloser Wahrheiten vgl. auch etwa Storrs Mccall, “Temporal Flux”, (1966), 3: 270-281. Vgl. auch Mark Roberts, “Timeless Truths and Timeless Falsities”, 6: 266-279; ders., “The Bearer of Truth and Falsity”, Southwest Philosophy Review, (1994); 10 (2): 59-67. And my reply to Mark Roberts, “Are There Timeless Falsities? On the Difference between Truth and Falsity with Respect to the Ideal Existence of Meaning-Units. A Reply to Mark Roberts”, S. 280-320. Vgl. ferner Charles Evans, “Timeless Truth”, Philosophical Review, (1962), 71: 241-242.
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anders? Die Annahme einer schon immer ‚seienden‘ Wahrheit über Zukünftiges wurde bereits in der Antike angefochten und scheint der Tatsache zu widersprechen, daß die Wahrheit von Urteilen über zukünftige Ereignisse eben durch ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit dieser Ereignisse konstituiert wird. Deshalb, so hat es den Anschein, kann höchstens von der Wahrheit über inhaltlich schon bestimmte und über daher bereits ‚jetzt‘ ontologisch feststehende zukünftige Ereignisse behauptet werden, daß sie in einer Art zeitlosem Jetzt besteht und nicht wie die künftigen Ereignisse selbst erst etwas zu Verwirklichendes ist. Von der Wahrheit über kontingente oder/und freie zukünftige Ereignisse aber könnte nicht behauptet werden, daß sie bereits ‚jetzt‘ bestünde. Diese Wahrheit komme vielmehr selbst erst durch die kontingenten zukünftigen Ereignisse zustande, und sei deshalb zeitlich bzw. historisch. Besonders Aristoteles hat in dem berühmten Beispiel von dem Ausgang einer zukünftigen Seeschlacht nachzuweisen versucht, daß die Urteile über kontingente zukünftige Ereignisse weder wahr noch falsch seien, da das Sein, das solchen Urteilen entspräche, eben noch nicht bestehe. Da die hier angerührten Probleme von großer Schwierigkeit und Komplexität sind, und ihre Lösung auch eine eingehende Behandlung von Zeit und Zukunft erfordern würde und es außerdem für unseren Zusammenhang genügt zu zeigen, daß es überhaupt zeitlose Wahrheit inklusive derer über die Vergangenheit gibt, darf, ja muß in unserem Zusammenhang auf ihre ausführliche Erörterung und erhoffte Bewältigung verzichtet werden.502 Aus diesem Grund sehen wir im folgenden von der Wahrheit über kontingente zukünftige Ereignisse ab und beschränken uns auf die Behandlung unseres Problems, wie es sich hinsichtlich der Wahrheit über vergangene, zeitlose oder notwendige (allgemeine oder zukünftige) Sachverhalte darstellt. Von dieser Wahrheit jedenfalls gilt, daß sie keineswegs jenem zeitlichen Wechsel unterliegt, der die zeitlichen Ereignisse selbst kennzeichnet, daß sie aber einem solchen zeitlichen Entstehen und Vergehen notwendig unterliegen müßte, wenn sie ausschließlich als Eigenschaft von durch den menschlichen Geist geformten Urteilen Existenz gewänne. 502
Vgl. Aristoteles, De Interpretatione, ix, sowie Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 10.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 409 Allerdings könnte man einwenden, daß der sich stets weiter wandelnde Zeitindex von Ereignissen (das Gegenwärtige und Zukünftige wird vergangen, das eben Vergangene längst vergangen, usf.) einen sich gleichfalls wandelnden Charakter der Wahrheit über Zeitliches zur Folge haben müsse. Auch auf eine Behandlung dieses Einwandes muß im gegenwärtigen Rahmen verzichtet werden. Die Zeitlosigkeit der Wahrheit über manche vergangene Sachverhalte (z.B. daß dies oder jenes Ereignis vergangen ist) oder über zeitlose Sachverhalte genügt ja auch völlig für unser Argument, sodaß es für dessen erfolgreiche Entwicklung durchaus nicht nötig ist, auf die erwähnten und andere Probleme einzugehen, die nur bestimmte „Teile“ der Wahrheit betreffen. Wenn nämlich die Wahrheit nur durch das menschliche, in der Geschichte sich ereignende Denken zustandekäme, dann müßte alle Wahrheit, sowohl diejenige über zeitliche Ereignisse als auch jene über vergangene und zeitlose, in der Geschichte entstehen. Gerade eine solche Abhängigkeit der Wahrheit von dem in Zeit sich vollziehenden menschlichen Denken und Urteilen haben wir als unmöglich erkannt. Auch wenn sogar Wahrheit über zeitliche Ereignisse selber zeitlos ist, so unterscheiden sich die wesenhaft zeitlosen Wahrheiten über zeitlose Sachverhalte dennoch scharf von den gleichsam zufällig (kontingent) zeitlosen Wahrheiten über zeitliche vergangene oder zukünftige kontingente Sachverhalte. Das evidente zeitlos schlechthinnige Bestehen von Wahrheit jedoch ist unverträglich mit einer Gebundenheit an menschliches Denken und in der Zeit geformte menschliche Urteile. 2.3. Ein an Reinach orientierter Einwand. Wahrheit, Sachverhalt und die Wirklichkeit der ‚bloß möglichen‘ Wahrheit
An dieser Stelle mag jemand auf Reinachs interessante Untersuchungen über das negative Urteil zurückgreifen. Die letzteren scheinen nämlich zu zeigen, daß die Rede von logischen Gesetzen und Grundsätzen eigentlich inadäquat ist. Zumindest handle es sich meistens, wenn man von Gesetzen oder Sätzen der Logik spreche, und auch beim Gegenstand der Syllogistik, nicht um Wahrheiten oder Urteile (Sätze), von denen Wahrheit oder Falschheit ausgesagt werden kann, sondern um die Sachverhalte, die in Urteilen bloß gemeint werden, nicht aber mit diesen zusammenfallen.
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Diese Sachverhalte, so könnte man etwa mit Meinong sagen, bestehen gewiß in zeitloser Weise (was Meinong bekanntlich von allen „Objektiven“ = Sachverhalten behauptete), nicht aber die Sätze bzw. Urteile, in denen man auf diese Sachverhalte abzielt.503 Auf diesen Ergebnissen Reinachs und Meinongs aufbauend mag man behaupten: Wenn wir von zeitlos bestehender Wahrheit sprechen oder mit Bolzano „Wahrheiten an sich“ annehmen, die vom menschlichen Denken unabhängig sind, so meinten wir, wie sich bei näherer Untersuchung herausstelle, nicht wirklich Wahrheit, sondern den Bezugspunkt für Wahrheit, ihren Gegenstand. Wir meinten nämlich zeitlose oder vergangene Sachverhalte, die ganz unabhängig vom menschlichen Geist bestünden und die wir in der Tat durchaus auch erkennen können. Die Bildung von Urteilen über diese unabhängig vom Menschengeist bestehenden Sachverhalte aber sei keineswegs notwendig oder zeitlos gegeben, noch bestehe die Wahrheit, die an solche Urteile gebunden ist, selber zeitlos. Was unabhängig von Zeit und menschlichem Urteilen bestehe, seien vielmehr vergangene Sachverhalte, die als vergangene eine Art von Unzerstörbarkeit und unveränderbarer ‚zeitloser Vergangenheit‘ besäßen; oder auch zeitlose Sachverhalte, die das intentional gegenständliche Korrelat von Urteilen werden können, aber auch in sich selber eine Seinsform hätten, die als ‚Bestehen‘ gekennzeichnet werden könne und das seinsmäßige Fundament für die Wahrheit von Urteilen bilde.504 Man mag hinzufügen, daß jedem Sachverhalt natürlich potentielle Urteile entsprechen, mögliche Urteile, die dann der mögliche Träger von Wahrheit sind. Diese Wahrheit bestehe aber selbst nur potentiell, da sie nur wirklich werden könne, wenn tatsächlich Urteile gefällt würden, was nur geschehen könne, wenn Menschen tatsächlich dächten und Urteile fällten. Solle daher überhaupt zu recht von einer zeitlos bestehenden Wahrheit (anstatt bloß von zeitlos bestehenden Sachverhalten) die Rede sein, dann nur von zeitloser ‚möglicher Wahrheit‘ oder von der zeitlosen ‚Möglichkeit der Wahrheit‘, die tatsächlich bestünde und gewissermaßen ex parte 503
504
Vgl. etwa Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz: Akad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977), Bd. IV, Kap. iii, S. 42 ff. Siehe auch A. Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“. Dieser Einwand könnte sich außer auf Reinachs und Meinongs genannte Arbeiten auf viele andere phänomenologische Studien von Ingarden u.a. stützen.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 411 rei (von der Gegenstandsseite her) bereits festgelegt sei, aber ex parte subjecti (von der persongebundenen Seite, den Urteilen aus) gesehen noch keine ausreichende ontologische Grundlage besitze. Daher könne unabhängig vom menschlichen Denken (immer unter der Voraussetzung, daß ausschließlich Menschen denken) keine Wahrheit im Sinne einer aktuellen Eigenschaft aktueller Urteile bestehen, sondern nur ‚Wahrheit‘ im Sinne einer potentiellen Eigenschaft potentieller Urteile. Nur als reine Möglichkeit bestehe Wahrheit daher immer, überall und in zeitloser Weise, ihre aktuelle Existenz aber verdanke die Wahrheit eben neben den wirklich und in vielen Fällen zeitlos bestehenden Sachverhalten dem menschlichen Denken und Urteilen, bzw. den in menschlichen Gedankenoperationen hervorgebrachten Gedankendingen, den aus Begriffen gebildeten Bedeutungseinheiten, die wir ‚Urteile‘ oder ‚Sätze‘ oder beliebig nennen mögen, die allein jedoch – und darauf kommt es an – Träger von Wahrheit seien und unmöglich unabhängig vom denkenden personalen Geist bestehen könnten. Gerade dieser an sich tiefsinnigste der bisher erhobenen Einwände jedoch führt uns zu einem dritten entscheidenden Argument für die vom menschlichen Geiste unabhängige Existenz der Wahrheit. Bei eingehender Prüfung dieses Einwands fallen nämlich zwei sehr bemerkenswerte Tatsachen auf. Erstens scheint es klar zu sein, daß der wichtige, ja entscheidende metaphysische Unterschied zwischen möglichem und wirklichem Sein auf die Wahrheit kaum anzuwenden ist. Denn was soll denn die Wahrheit eines potentiellen Urteils anderes sein als ‚wirklich(e) Wahrheit‘? Ja man kann eine noch radikalere Frage stellen: Ist es nicht der von der Logik erforschten Sphäre von Urteilen und Gedankengebilden eigen, daß solche Urteile wahr oder falsch sind ganz unabhängig davon, ob jemand diese Urteile tatsächlich fällt oder nicht, ähnlich wie auch bestimmte logische Schlüsse oder Schlußarten gültig oder ungültig sind, völlig unabhängig davon, ob jemand tatsächlich in bestimmter Weise schließt oder nicht? Folgt nicht aus der Wahrheit bestimmter Prämissen auf Grund der Gesetze der Logik die Wahrheit bestimmter Schlußfolgerungen ganz gleich ob diese von irgendjemandem gedacht werden oder nicht, oder von ihm sogar
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das Gegenteil der gültigen Konklusion geschlossen wird.505 Denken wir an die wahre Geschichte des Logikprofessors, der seinen Studenten die Aufgabe gab, nach einer Erörterung der klassischen Formen gültiger und ungültiger Syllogismen wenigstens zwei Beispiele gültiger Syllogismen zu finden. In der nächsten Stunde sagt ein Student, er habe leider nur ein Beispiel finden können, worauf der Professor ihn auffordert, sein Beispiel vorzutragen, worauf dieser sagt: „Einige Frauen sind Krankenschwestern. Susanne ist eine Frau. Also ist Susanne einige Krankenschwestern.“ Wenn jemand diesen ganz und gar mißratenen Schluß für gültig und das derart fehlerhaft gefolgerte und nicht nur falsche, sondern unsinnige Urteil für wahr hält, so wird dadurch der Schluß weder schlüssig noch die Konklusion wahr. Ihre Falschheit oder Wahrheit hängt also offensichtlich in keiner Weise vom Denken von Menschen ab. So kann es auch geschehen, daß Konklusionen aus wahren Prämissen, deren Wahrheit behauptet wird, nicht wahr sind, wenn die Konklusionen nicht wirklich aus den Prämissen folgen. Ob also Konklusionen überhaupt gedacht werden oder nicht gedacht werden oder falsche als wahr oder wahre als falsch behauptet werden, ändert nichts daran, daß rein objektiv bestimmte wahre Konklusionen aus Prämissen folgen und ihre Wahrheit durch diese und die logischen Gesetze verbürgt wird und in keinster Weise von ihrem Gedachtsein abhängt.506 Wahrheit ebenso wie ihr ‚gedanklicher Träger‘ (Urteile) scheint also, um diese Sachverhalte erklärlich zu machen, eine Art ‚idealen Seins‘ zu besitzen, innerhalb dessen der Unterschied zwischen möglicher und wirklicher Existenz nicht besteht. Ja in bezug auf diese Urteile scheint es keinerlei Sinn zu ergeben, wirkliche von möglicher Existenz abzugrenzen 505
Auch Aristoteles und Thomas von Aquin scheinen dies zu implizieren, wenn sie sagen: Est enim principiorum veritas causa veritatis in conclusionibus semper veris. Sunt enim quaedam necessaria quae suae necessitatis causam habent, ut etiam Aristoteles dicit in quinto metaphysicae, et in octavo physicorum.
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Thomas von Aquin, De substantiis separatis, cap. 9. Auch Thomas stimmt dem zu: certis rationibus ostendendum est praedicta veritatem non habere, et rationes praemissas non hoc concludere quod intendunt.
Thomas von Aquin, De substantiis separatis, Kap. 14.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 413 und dann auch wirkliche möglicher Wahrheit gegenüberzustellen. Wieder anders ausgedrückt dürfte man sagen: Die Wahrheit ‚möglicher Urteile‘ (d. h. jener Urteile, die vom menschlichen Geist gar nicht gefällt oder denkend gesetzt werden) scheint ebenso wirklich Wahrheit zu sein wie die Wahrheit tatsächlich gefällter Urteile. Die zweite auffallende Tatsache ist noch merkwürdiger. Wenn man den zweiten Teil des Einwands bedenkt, der auf einer Unterscheidung zwischen wirklicher und bloß möglicher Wahrheit beruht, so ergibt sich nämlich folgendes. Nehmen wir einmal an, diese Unterscheidung sei völlig berechtigt. Wie es wirkliche, tatsächlich vom Menschen geformte und gefällte Urteile gebe, die reale Träger wirklicher Urteilswahrheit seien, so gebe es auch bloß mögliche Urteile, von denen höchstens rein potentiell Wahrheit ausgesagt werden dürfe. Wenn man nun diese Unterscheidung annimmt, so erweist sich die „bloß möglich“ genannte Wahrheit als viel wirklicher und jedenfalls als viel wichtiger denn die „wirklich“ genannte Wahrheit. Denn wenn wir z.B. sagen: „Ja, dieses Urteil ist wahr“; oder: „Dieser Satz spricht eine tiefe Wahrheit aus“, so meinen wir mit Wahrheit etwas, dem es ganz äußerlich bleibt, ob es urteilsmäßig von Menschen formuliert wird oder nicht. Vielleicht sollte man besser sagen, um nicht den Anschein zu erwecken, daß hier der hohe Wert der Formulierung der Wahrheit durch Menschen in Abrede gestellt werde: Das, was man hier „die Wahrheit“ oder „eine Wahrheit“ nennt, ist gerade nicht primär die real genannte Eigenschaft eines kontingenten individuellen Urteilsgebildes, das ein bestimmter Mensch hervorbringt, sondern vielmehr etwas, das allen wirklichen gedanklichen Fassungen durch den Menschen vorhergeht und das außerdem in allen wirklichen und möglichen gedanklichen Aneignungen von Seiten verschiedener Menschen ein und dasselbe bleibt: nämlich dieselbe bestimmte Wahrheit, die formuliert werden kann oder nicht, erkannt werden oder nicht, schärfer von Menschen gefaßt oder unklar ausgedrückt, usf. Also das, was der Einwand als „bloß mögliche Wahrheit“ bezeichnet und mit dieser Bezeichnung abzuwerten sucht, erscheint gerade als die wirkliche „substantielle“ Wahrheit und die „wirklich“ genannte Wahrheit (nämlich Wahrheit als reale immanente Eigenschaft kontingenter menschlicher Urteile, bzw. vom Menschen gedanklich hervorgebrachter Urteile) erscheint nun als die bloß kontingente, bloß mögliche (d.h. nicht notwendig bestehende und nicht
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KAPITEL 4
wesentliche), ‘unwirkliche’ Wahrheit. Den ersten Teil des obigen Einwands wieder aufnehmend könnte man hier einwenden: Die Wahrheit, die hier wirklicher und wichtiger genannt werde, und die dem menschlichen Denken tatsächlich vorhergeht (auch wenn man von übermenschlichen Personen ganz absieht), ist nicht eigentlich die Urteilswahrheit, sondern was die Scholastiker ‚ontologische Wahrheit‘ nannten. Dieser an sich noch vieldeutige Ausdruck, dessen verschiedene Bedeutungen Gegenstand der Untersuchungen des ersten Kapitels waren, kann hier einfach als objektive Intelligibilität des Seins und der objektiv bestehenden Sachverhalte verstanden werden, d. h. als jene Eigenschaft alles tatsächlich ‚Seienden‘, kraft deren dieses dem erkennenden Geist prinzipiell offensteht, erkennbar ist. Dieser ontologischen Wahrheit entspricht freilich auch eine mögliche oder ‚ideale‘ Ganzheit und Vollständigkeit von Urteilswahrheit, in der urteilsmäßig und begrifflich alles Sein und alle Sachverhalte gleichsam vollkommen widergespiegelt bzw. geistig erfaßt würden. Diese Urteilswahrheit könne aber nur als reine Möglichkeit bzw. als ‚transzendentales‘ Ideal betrachtet werden, solange kein denkender Geist erkennend Begriffe und Urteile bildete, denen allein reale Urteilswahrheit innewohnen könne. Unsere obige Antwort auf den ursprünglichen Einwand verwechsle jene höhere ‚ideale Vollkommenheit‘ und Unabhängigkeit des Ideals ‚reiner Urteilswahrheit‘ als perfekte ‚geistige Widerspiegelung‘ ontologischer Wahrheit (Erkennbarkeit des Seins) mit einer wirklichen Existenz von Urteilswahrheit. Auf diesen Gedankenfehler bzw. auf diese Verwechslung liefe unser ganzes Argument hinaus. Darauf ist zunächst zu antworten: Wie Husserl und Pfänder erwiesen haben, besitzen die Bedeutungseinheiten und Urteile, die Träger von Wahrheit sind, nicht dieselben Eigenschaften wie die Urteilsakte und deren direkte Produkte. Urteile sind nicht individuell verschieden oder zeitlich. Dasselbe Urteil wird von vielen gefällt. Wenn aber das Urteil als Träger von Wahrheit ganz von menschlichen Akten und deren Produkten verschieden ist, stellt sich die Frage, ob nicht jene Urteile, die Träger der Wahrheit sind, selber ein ideales Sein besitzen, das keineswegs als vom Menschengeist hervorgebracht angesehen werden darf. Nur die begrifflichen Unvollkommenheiten, die undeutlichen Fassungen und Konkretisierungen begrifflicher Bedeutungseinheiten können allenfalls vom Menschen
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 415 erzeugt werden, nicht aber die ‚reinen Begriffe‘ und ‚reinen Urteile‘, die allein letzter Träger von Urteilswahrheit sind. Dann sind aber nicht nur die Seienden und ihre Intelligibilität, sondern auch die Welt reiner Begriffe und Urteile sowie die von diesen getragene Wahrheit dem menschlichen Geist vorgegeben. Zweitens kann in Antwort auf den Einwand geltend gemacht werden, daß in ihm die schlechthinnige Unwirklichkeit der Möglichkeit (von Wahrheit) einfach vorausgesetzt, nicht aber rational begründet wird. Vielleicht hat das Mögliche als solches (worauf besonders die Philosophen Zubiri und Basave hingewiesen haben)507 – und zwar in einer je nach Seinsart sehr verschiedenen Weise – zumindest eine besondere Art ‚idealen Seins‘, das nicht einfach mit dem Nichts und dem Nichtigen identifiziert werden darf. Dann könnten aber auch ‚mögliche Urteile‘ Träger einer nicht schlechthin nicht-seienden Urteilswahrheit sein. Dies wäre auch dann zuzugeben, wenn die oben vertretene ‚stärkere‘ These, daß nämlich die ‚möglich‘ genannte Wahrheit die wirklichere sei, verworfen werden sollte. Drittens muß bemerkt werden, daß die Wahrheit, deren Unabhängigkeit vom menschlichen Urteilen hier behauptet wird, deshalb nicht einfach mit der ontologischen Wahrheit bzw. der Intelligibilität von Sachverhalten identifiziert werden darf, weil sie von denen der ontologischen Wahrheit ganz abweichende Wesensmerkmale besitzt. Darauf werden wir noch zurückkommen. 2.4. Die ‚logische Einheit‘ der Urteilswahrheit und die Unendlichkeit der Wahrheitsimplikationen jedes wahren Urteils
Zur Entkräftung der These, daß Urteilswahrheit nur in und durch menschliches Denken und Urteilen existiere, muß noch auf eine bislang unbehandelt gebliebene Art der Einheit der Wahrheit hingewiesen werden, die als (formal- und material-) logische Einheit der Urteilswahrheit bezeichnet werden kann. Jedes wahre Urteil bzw. die Wahrheit jedes Urteils setzt logisch die 507
See Xavier Zubiri, Xavier, Sobre la esencia, 3. Aufl. (Madrid, 1963); see also Agustin Basave, Tratado de Metafísica. Teoría de la Habencia.
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KAPITEL 4
Wahrheit vieler, ja, wie Augustinus zeigt508, unendlich vieler anderer wahrer Urteile voraus bzw. schließt diese in der Weise ein, daß die Wahrheit jedes gegebenen Urteils der logische Grund der Wahrheit von unendlich vielen anderen Wahrheiten ist, die nicht nur faktisch nicht vom Menschen erkannt werden, sondern von keinem Menschen, ja – wie Bonaventura nachzuweisen sucht – von keinem endlichen Geist überhaupt je in ihrer aktuellen Unendlichkeit gedacht werden können.509 Wenn es wahr ist, daß ich existiere, so ist es auch wahr, um bei einem augustinischen Beispiel zu bleiben, daß dies wahr ist, bzw. daß das Urteil, „ich existiere“ wahr ist, sowie auch jenes, das des letzteren Wahrheit behauptet, usf. ad infinitum. Solche logisch notwendigen Wahrheitskonsequenzen können nun nicht auf rein ontologische Abhängigkeiten reduziert werden, die zwischen den in Urteilen gesetzten Sachverhalten bestünden. Ja es ist sogar besonders deutlich unmöglich, die logische Wahrheit (Urteilswahrheit), um die es hier geht, auf ontologische Wahrheit bzw. auf Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Sachverhalten zu reduzieren. Denn erstens setzt die Wahrheit von Urteilen logisch auch andere Wahrheiten voraus, und nicht bloß Sachverhalte. Die logische Ordnung der Wahrheitsvoraussetzungen ist zweitens ganz von ontologischen Abhängigkeitsbeziehungen verschieden, ja diesen oft ‚entgegengesetzt‘, d.h. oft besteht die ontologische Abhängigkeitsbeziehung zwischen Grund und Folge gerade in ‚umgekehrter Richtung‘ zur logischen Abhängigkeitsbeziehung zwischen einer gegebenen Wahrheit als logischem Grund und deren logischen Wahrheitsfolgen. Das zeigt, daß solche logische Wahrheitsabhängigkeiten nicht mit ontologischen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Sachverhalten identifiziert werden dürfen. An dieser Stelle unserer Ausführungen mag jemand einwenden, daß es bei dem zu beantwortenden, im Anschluß an Reinach vorgebrachten Einwand nicht um die Postulierung eines ontologischen, sondern eines ‚rein logischen‘ oder ‚rein formalontologischen‘ Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Sachverhalten gehe; also nicht etwa um die Behauptung, ein Sachverhalt stünde zu einem anderen im Verhältnis einer Wirkung zu 508 509
Augustinus, De Trinitate, XV, xii, 21. Siehe Bonaventura, Quaestiones Disputatae de Scientia Christi, in: Opera Omnia, vol. V, V, 35; und IV.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 417 ihrer Ursache, sondern um die These, es gäbe eine ‚rein logische‘ bzw. rein formal-ontologische Verknüpfung von Sachverhalten, die das exakte Korrelat zur Wahrheit der sie setzenden Urteile bildet. Wie z.B. aus der Wahrheit des Urteils: „Alle Menschen sind sterblich“ die Wahrheit des anderen Urteils folgt, daß einige Menschen sterblich sind, so impliziert auch der Sachverhalt, daß alle Menschen sterblich sind, logisch den Sachverhalt, daß einige Menschen sterblich sind – ganz gleichgültig ob irgendeiner dieser Sachverhalte Gegenstand eines wahren Urteils wird oder nicht. Also bräuchte man zur Erklärung der von uns angeführten Tatsachen nicht das Bestehen und die innere logische Verknüpfung von Wahrheiten (die in Wirklichkeit einen erkennenden und urteilenden Geist notwendig voraussetzen), sondern nur die formalontologischen Abhängigkeitsbeziehungen von Sachverhalten, die ganz unabhängig von erkennenden Geistern bestehen, anzuerkennen. In Antwort auf diesen Einwand ist zuzugeben, daß den logischen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen der Wahrheit verschiedener Urteile entsprechende formal-ontologische Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den in solchen Urteilen behaupteten Sachverhalten exakt korrespondieren. Eine solche Korrespondenz ist ja gerade Bedingung für die logischen Wahrheitsabhängigkeiten: denn ohne das Bestehen der in diesen wahren Urteilen gemeinten Sachverhalte könnten ja die sie eben gerade setzenden Urteile nicht wahr sein. Dennoch entspricht zwar Wahrheit in exakter Weise Sachverhalten (weil nur jene Urteile wahr sind, die der Wirklichkeit entsprechen, d. h. deren behauptende Setzung eines Sachverhalts eben mit dem Selbstverhalten dieses Sachverhalts ‚zusammentrifft‘), unterscheidet sich jedoch eindeutig von ihnen. Sie setzt Urteilsgebilde voraus, die aus Begriffen oder/und Namen bestehen, unter denen zumindest ein abstrakter Begriff sein muß. Urteilswahrheit ist auch nicht Eigenschaft von Sachverhalten, sondern von Urteilen, hat einen ganz anderen „geistigen Charakter“ als viele Sachverhalte, die in bestimmtem Sinne der materiellen Welt angehören können, usf. In allen diesen Punkten unterscheidet sich Urteilswahrheit von den ihr entsprechenden Sachverhalten. Deshalb ist auch die Abhängigkeitsbeziehung, infolge derer die Wahrheit eines Urteils diejenige eines anderen Urteils impliziert, ganz
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KAPITEL 4
verschieden von der logisch-ontologischen Abhängigkeitsbeziehung, die zwischen verschiedenen Sachverhalten obwaltet. Beide Abhängigkeitsbeziehungen bestehen objektiv, keine kann jedoch einfach an die Stelle der anderen treten, obgleich sie einander exakt entsprechen; sie liegen aus den erörterten Gründen auf ganz verschiedenen Ebenen. Es soll nur kurz auf eine andere Frage hingewiesen werden, die, so meine ich, nur affirmativ beantwortet werden sollte – nämlich die Frage, ob notwendig mit dem Gegebensein jedes wahren Urteils sowie jeden Sachverhalts nicht bloß die Wahrheit dieses bestimmten Urteils, das einen bestimmten Sachverhalt zum Gegenstand hat, gegeben ist, und nicht nur der Bestand des Sachverhalts gewährleistet ist, daß das jeweilige Urteil wahr ist, sondern unendlich viele Sachverhalte und wahre Urteile folgen. Ebenso wie die Wahrheit des Urteils „ich existiere“ notwendig die Wahrheit des Urteils, „es ist wahr, daß ich existiere“ einschließt, wie Augustinus zeigt, so schlösse diese letztere Wahrheit auch das Bestehen des Sachverhalts ein, daß dieses Urteil wahr ist. Dieser Sachverhalt könnte seinerseits Gegenstand eines wahren Urteils werden, und so fort bis ins Unendliche. Diese verschiedenen Reihen unendlicher formal-logischer Abhängigkeitsbeziehungen zwischen wahren Urteilen und formalontologischer zwischen Sachverhalten sind trotz ihrer exakten Korrespondenz doch ganz verschieden, was sich darin ausdrückt, daß die Glieder jeder dieser Reihen wesensverschiedene Prädikate haben, wie bereits kurz erörtert wurde. Die logischen Wahrheitsvoraussetzungen und Wahrheitsfolgen sind übrigens nicht auf die rein formalen, von Augustinus erwähnten begrenzt, sondern neben den Gesetzen der formalen Logik, die sich auf unmittelbare und mittelbare formale Schlüsse beziehen, ergeben auch die materiallogischen Wahrheitsabhängigkeiten, die von bestimmten sachlichen Wesenheiten abhängen, daß jedes wahre Urteil nicht nur quantitativ unendlich viele, sondern auch eine unermeßliche Zahl sehr verschiedenartiger und ‚material erfüllter‘ anderer Wahrheiten voraussetzt. So setzt etwa die Wahrheit, daß ich existiere, ontologische Prinzipien wie das des Widerspruchs, notwendige Beziehungen zwischen Wesen und Existenz, das Wesen von Wahrheit überhaupt, aber auch das Wesen der Person usf. voraus. Nun ist es faktisch gewiß nicht der Fall und darüber hinaus in sich
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 419 unmöglich, daß der menschliche Geist alle von einem gegebenen und von ihm erkannten wahren Urteil implizierten – unendlich vielen formalen und materialen – Wahrheiten (=wahren Urteile) aktuell erfaßt und denkt, obwohl dieselben objektiv notwendig bestehen bzw. wahr sein müssen, wenn das von ihm erkannte Urteil wirklich wahr ist. Daraus ergibt sich jedoch zwingend, daß (Urteils-)Wahrheit weiter reicht als das menschliche Urteilen und unmöglich ihre Existenz den urteilsmäßigen Setzungen menschlichen Denkens verdanken kann, sondern vielmehr eindeutig das voraussetzt, was Bernard Bolzano die „Sätze an sich“ nennt.510 Selbst wenn man von der wesenhaften, in der Endlichkeit des menschlichen Verstandes gegründeten Unmöglichkeit, alle logisch von einem gegebenen wahren Urteil vorausgesetzten und aus ihm folgenden wahren Urteile denkend zu erfassen, absieht, so ist das eine klar, daß Menschen tatsächlich oft die Wahrheit eines Urteils erkennen, ohne dessen logische Wahrheitsvoraussetzungen oder Wahrheitsfolgen zu verstehen. Ja, ein Mensch vermag die Wahrheit eines Urteils anzuerkennen und dennoch gleichzeitig die mit ihm logisch notwendig verknüpften Urteile zu verwerfen. Daraus ergibt sich jedoch, daß die objektiv bestehende Tatsache, daß die Wahrheit eines von jemandem gefällten Urteils unermeßlich, ja unendlich viele andere wahre Urteile einschließt, nur unter folgender Voraussetzung bestehen kann: Die (Urteils-)Wahrheit existiert und besteht unabhängig davon, ob Menschen sie erkenntnismäßig erfassen und Urteile fällen, die wahr sind, oder nicht. Will man das Gegenteil behaupten, so muß man eine weitere Ungereimtheit in Kauf nehmen, die zur Grundlage eines weiteren Arguments für die Unabhängigkeit der Wahrheit vom menschlichen Denken dienen kann.
510
Bernard Bolzano, Grundlegung der Logik (Wissenschaftslehre I/II); ders., Theory of science, attempt at a detailed and in the main novel exposition of logic with constant attention to earlier authors. (Edited and translated by Rolf George University of California Press, Berkeley and Los Angeles 1972) – Theory of science (Edited, with an introduction, by Jan Berg. Translated from the German by Burnham Terrell – D. Reidel Publishing Company, Dordrecht and Boston 1973). (vgl. Auch http://www.formalontology.it/bolzanob.htm).
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2.5. Unhaltbarkeit einer bruchstückhaften Existenz der Wahrheit
Nicht nur wäre Wahrheit unter der Annahme, daß sie vom menschlichen Denken und Urteilen abhängt, keine Ganzheit mehr, sondern sie könnte auch in Teilen schon bestehen, während andere Teile der Wahrheit noch nicht existieren würden. Wahrheit würde sogar in dem Sinn bruchstückhaft existieren, daß ein Teil der Wahrheit, z.B. die Wahrheit eines von Newton oder Euklid formulierten Urteils über ein mathematisches oder physikalisches Gesetz, schon existierte (weil diese Urteile vom Menschen erkennend gedacht wurden), während die Wahrheit von logisch notwendig vorausgesetzten Urteilen noch nicht existierte. Dies aber scheint noch absurder als das mögliche Nichtsein von Wahrheit zu sein, daß nämlich partielle Teilwahrheiten (die Wahrheit einzelner Urteile) bereits bestehen, während andere Teilwahrheiten noch nicht sind, die aber zugleich doch von uns später als logisch von den früher erkannten Wahrheiten vorausgesetzt erkannt werden können.511 2.6. Die Wahrheit als „das Ganze“ kann nicht vom menschlichen Denken abhängen
Dieses Argument führt unmittelbar zu einem weiteren, das auf einem umfassenderen Phänomen der Einheit und Ganzheit beruht als das eben erörterte. Eine bereits mehrfach erwähnte Dimension der inneren Einheit der Wahrheit führt zu einem weiteren Argument gegen die Behauptung, daß Wahrheit nur dank menschlichem Denken bestehen könne. Die Wahrheit ist auch eine im Sinne einer vollkommenen Totalität, bzw. im Sinne eines einzigen Ganzen, das nicht nur alle wahren Urteile (die Wahrheit aller wahren Urteile) in sich enthält, sondern sie auch in wunderbarer innerer Harmonie und Einheit verbindet. Wenn die Wahrheit ihre Existenz den von Menschen gedachten Urteilen verdankte, wäre diese 511
Mit der letzten Bemerkung soll jedoch nicht das von uns in anderem Zusammenhang erörterte Argument Augustins und Bonaventuras für das notwendige Dasein der Wahrheit und für die Unmöglichkeit, daß Wahrheit untergehen oder nicht bestehen könnte, als weniger bedeutend abgewertet werden. J. Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit“, Franziskanische Studien (I) 1977, 38-52.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 421 Wahrheit als allumfassende Ganzheit eine pure Illusion. Wahrheit wäre dann in sich selbst ein Stückwerk, etwas Unfertiges, das sich außerdem in höchst primitiver Weise aus dem Zuwachs von jeweils neuen und vielleicht zudem ohne jeden zeitlichen, örtlichen oder gedanklichen Zusammenhang gedachten wahren Urteilen rein ‚äußerlich‘ zusammensetzen und aufbauen würde. Wahrheit würde dann in keiner Weise einem Licht gleichen, dessen innere Fülle, Ordnung und Einheit von uns stets nur mühsam tastend und in einem wachsenden Prozeß erfaßt wird. Vielmehr wäre sie dann in sich selbst fragmentarisch, unganz und oft durchaus zusammenhangslos. Dies widerspricht jedoch nicht nur der Art, wie Wahrheit – etwa im philosophischen Durst nach ihr – uns gegeben ist, sondern ihrem eindeutig erkennbaren objektiven Wesen, das ein solches fragmentarisches und zusammenhangloses Anwachsen nicht zuläßt. An dieser Stelle möchte jemand vielleicht einwenden: Das Ganze, das hier als die Wahrheit bezeichnet wird und das allen Irrtümern, Lügen und falschen Sätzen entgegengesetzt wird, das auch alle fragmentarischen ‚Wahrheiten‘ einzelner Urteile unendlich übersteigt, ist eine bloße Idee, ein Ideal, dem keine Realität entspricht. Es verriete nur schlechten Platonismus unsererseits, wenn wir diese Idee der Wahrheit wie etwas Wirkliches behandelten und meinten, es gäbe neben unserer realen und radikal unfertigen historischen Wirklichkeit noch einen geistigen Kosmos von Idealen und ewigen Ideen. Gegen diesen Einwand ist zunächst zu sagen, daß die Einstellung, die sich in vielen philosophischen Kreisen eingebürgert hat, wo man den Namen ‚Platonismus‘ wie eine Art philosophisches Schimpfwort gebraucht, ausgesprochen töricht ist. Denn nicht nur war Platon der vielleicht größte Philosoph aller Zeiten, sondern vor allem ist die einzig entscheidende Frage die, wie sich die Sachen wirklich verhalten und ob Platon in einem bestimmten Punkt recht hatte oder nicht. Die Übereinstimmung mit Platon als solche für ein Argument gegen Wahrheit zu halten, ist selbstverständlich Unsinn. Wendet man sich nun dem Gegebenen zu, wird man finden, daß in der Erfahrung dessen, was Wahrheit ist, oder im ahnungshaften Eindringen in die Fülle und Ganzheit, auf die der Name ‚Wahrheit‘ hinweist, die Wahrheit uns als etwas entgegentritt, das ein notwendiges Wesen besitzt, zu dem es auch gehört, daß sie ‚ein Ganzes‘ (Hegel sagte in einem in vieler
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Hinsicht anderen Sinn: ‚das Ganze‘)512 ist. Dazu gibt sich die Wahrheit auch als etwas, das eine eigentümliche Wirklichkeit besitzt, die derjenigen allen menschlichen Denkens überlegen ist. Dieses notwendige Wesen und diese Wirklichkeit der Wahrheit sind die Grundlage der Freude über die innere Schönheit der Wahrheit, der Sehnsucht nach Wahrheit, der Liebe zur Wahrheit. Diese elementaren Erlebnisse vieler Menschen, diese Grunderfahrungen des Philosophen, verlieren ihren ganzen oder jedenfalls ihren eigentlichsten Sinn, wenn Wahrheit erst durch die Urteile des Herrn Maier oder Müller, Heidegger oder Hegel ‚erzeugt‘ wird. Was ist nun jene ‚der‘ Wahrheit wesensnotwendig eigene Ganzheit? Zunächst gründet es in dem unerfindbaren und als objektiv unserem Denken vorgegebenen Wesen der Wahrheit, daß sie eben nur dann ‚die Wahrheit‘ ist, wenn sie die erwähnte innere Einheit und allumfassende Harmonie und Ordnung besitzt, in der sämtliche logischen Wahrheitsbeziehungen, Allgemeinheitsstufen, Wichtigkeitsgrade, Wertränge, inneren Zusammenhänge und gegenseitigen Verflechtungen der Wahrheit einzelner Urteile vollkommen enthalten sind. Die umfassende Wahrheit wäre nicht ‚sie selber‘, sie hätte nicht das höchst intelligible und notwendige Wesen, das wir doch gerade in ihr finden, wenn sie ein in sich unfertiges ‚Gebäude‘ einzelner wahrer Sätze, oder gar eine bloße Sammlung einzelner Wahrheiten wäre, die im Fortschreiten menschlichen Erkennens nur allmählich, äußerlich, oft ganz ohne Einordnung in ein Ganzes, zustandekäme. Wird eingewandt, daß dieses angebliche ‚Wesen‘ der Wahrheit sich eben nur auf ein bloßes Ideal beziehe, das keinerlei Wirklichkeit besitze und nirgends existiere, so erwidern wir: In unserer Erfahrung manifestiert sich gerade die eigenartige Aktualität der Wahrheit als etwas dem menschlichen Geist ebenso Vorgegebenes wie das Wesen der Wahrheit. 512
Vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe Bd. 3, Einleitung: Die nähere Entwicklung gehört in die spekulative Philosophie, worin sie sich als dasjenige zeigen, was sie in Wahrheit sind, nämlich einzelne verschwindende Momente, deren Wahrheit nur das Ganze der denkenden Bewegung, das Wissen selbst ist.
[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 324. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15992 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 228)].
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 423 Diese Realität der Wahrheit gibt sich zunächst als eine notwendige (ideale) Existenz der Wahrheit, die durchaus dem idealen Sein der eide verwandt ist, von dem ich an anderer Stelle eingehend gehandelt habe.513 Der personbezogene Charakter der Wahrheit, der ihrem ‚idealen Sein‘ ganz zu widersprechen scheint und die Annahme des Daseins von Wahrheit nur dann als berechtigt erscheinen läßt, wenn zuerst die reale Existenz von Personen erwiesen ist, verbindet sich in einer gewissen paradoxen Weise mit jenem unveränderlichen Vorgegebensein und Etwassein dem menschlichen Geist gegenüber, dem wir in allem eigentlichen idealen Sein und auch in der Wahrheit begegnen. Mit dieser vom Wesen der Wahrheit untrennbaren idealen, zeitlosen und vollkommenen Existenzweise ist es durchaus unverträglich, daß ein Teil der Wahrheit durch Platon, ein anderer erst durch Aristoteles zu existieren begann. Vielleicht hat Augustinus diesen Charakter der Wahrheit als eines notwendig bestehenden, unwandelbaren, immer gegenwärtigen ‚intellektuellen Lichtes‘, das alles bei weitem, ja unendlich übersteigt, was wir von ihm begreifen, eindringlicher als jeder andere Philosoph beschrieben, wenn er ausruft: „Oh Wahrheit, Wahrheit, wie innig seufzte das Mark meiner Seele nach dir“!514 Damit kann er unmöglich nur jene Wahrheit gemeint haben, die jenen so vielfach unvollkommenen, von Menschen gedachten Urteilen anhaftet. Die umfassende Wahrheit als Gegenstand der glühenden Sehnsucht, die Augustinus beschreibt, läßt sich unmöglich mit jenem ärmlichen Teil der Wahrheit identifizieren, welche in den wahren vom Menschen gedachten Urteilen Bestand hat.515 2.7. Irrtum ohne Wahrheit unmöglich
Ein siebtes und eng verwandtes Argument für unsere These ist das folgende: Wenn man meint, Wahrheit komme nur als Eigenschaft von Urteilen zustande, die ein Mensch tatsächlich denkend und behauptend für wahr halte, so muß man zugeben, daß es Irrtum ohne entsprechende 513 514
515
J. Seifert, „Essence and Existence“, Aletheia I (1977); I,l (1978). “O Veritas, Veritas, quam intime etiam tunc medullae animi suspirabant tibi!” (Confessiones, III, vi, 2).
Vgl. dazu Augustinus, Conf. 3, 10. [[CCL 27 p. 32/43] Corpus Augustinianum Gissense a C. Mayer editum].
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Wahrheit, Falschheit ohne Wahrheit geben könnte. Nehmen wir in einem Gedankenexperiment an, alle lebenden Menschen stellten immerfort und ausschließlich falsche Behauptungen auf, so würden unzählige Irrtümer, aber keine Wahrheit existieren, da diese ja angeblich nur als reale Eigenschaft real vom Menschen konzipierter Urteile existiert. Dies scheint nun nicht nur gefühlsmäßig absurd anzumuten, sondern auch der evidenten Tatsache zu widersprechen, daß ein falsches Urteil nur falsch sein kann, wenn das ihm kontradiktorisch entgegengesetzte Urteil wahr ist. Nur kraft der Wahrheit des Urteils, daß Menschen frei sind, kann das Urteil, daß sie determiniert seien, falsch sein. (In dieser Weise hängt übrigens nur Falschheit von Wahrheit ab, nicht Wahrheit von Falschheit, obwohl auch diese von der Wahrheit impliziert wird, wie hier nicht näher gezeigt werden kann.) Der vielleicht an dieser Stelle aufgeworfene Einwand, daß das NichtBestehen von Sachverhalten für die Konstituierung von Irrtümern genüge, kann in völliger Analogie zu den oben bereits angestellten Überlegungen beantwortet werden, aus denen die Unmöglichkeit hervorgeht, Wahrheitszusammenhänge auf Sachverhaltszusammenhänge zu reduzieren. 2.8. Die Unvollkommenheit der menschlichen Fassung und Formulierung wahrer Urteile schließt aus, daß ‚die Wahrheit‘ nur durch den menschlichen Geist besteht
Daß die Ganzheit der Wahrheit sowie ihr notwendiges Dasein, die es unhaltbar machen, ein Entstehen und Vergehen der Wahrheit durch menschliches Urteilen zu behaupten, unmöglich erst durch die vom Menschen gedachten Urteile zu existieren beginnen kann, läßt sich auch daraus beweisen, daß jeglicher Fassung der Wahrheit im menschlichen Denken und Urteilen eine vielfältige Unvollkommenheit eignet, welche niemals ‚der Wahrheit selbst‘ zugeschrieben werden kann. Diese besitzt vielmehr eine sich deutlich von der Unvollkommenheit aller ihrer menschlichen Fassungen abhebende Vollkommenheit. Diese thesenhaft hingestellte Behauptung soll nun begründet werden. A. Mangel an Klarheit aller menschlichen Wahrheitsfassungen – Klarheit der ‚Wahrheit selbst‘: Wenn wir uns unvoreingenommen die Frage vorlegen, ob wir der Wahrheit einen Mangel an Klarheit, oder gar
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 425 Verworrenheit oder ein Vermischtsein mit Irrtümern zusprechen dürfen, wird die Antwort auf diese Frage ein eindeutiges ‚Nein‘ sein müssen. Ein solches ‚Nein‘ wäre jedoch durchaus unbegründet, ja völlig falsch, wenn die Wahrheit nur in menschlichem Denken oder durch menschliches Urteilen Bestand hätte. Denn keine menschliche Formulierung oder gedankliche urteilsmäßige Fassung von Sachverhalten ist von so perfekter Klarheit, daß sie nicht noch weiterer Klärung bedürfte oder dieselbe wenigstens erlaubte. Wäre die Wahrheit, die die letzte Quelle der Wahrheit von Urteilen ist, in ihrem Sein an menschliches Denken gebunden, könnte man daher von größerer oder geringerer Klarheit der Wahrheit selbst sprechen. Die Wahrheit selbst könnte dann sogar ausgesprochen unklar sein, wie die meisten menschlichen Aussagen, die in manchen Bedeutungen wahr, in anderen falsch sind. Man könnte die Wahrheit selbst – und zwar mithilfe menschlichen Denkens und Urteilens – klarer machen. All dies erweist sich jedoch als evident unsinnig, wenn das Wesen der Wahrheit auch nur oberflächlich verstanden wird. B. Mangel an Tiefe und weitere Unvollkommenheiten aller menschlichen Wahrheitsfassungen: Mangel an Tiefe in aller Fassung der Wahrheit durch den Menschen machen vom Menschen geformte Gedanken unfähig, Träger ‚der Wahrheit selbst‘ zu sein: Ferner sind alle – oder zumindest die meisten – menschlichen Formulierungen der Wahrheit durch einen begrenzten Grad von Tiefe oder sogar durch Oberflächlichkeit und Plattheit gekennzeichnet. Man wird häufig von Urteilen, die von Menschen gefällt werden, sagen müssen, sie seien zwar wahr, aber trivial, nicht tief genug, oberflächlich, usf. Wenn Wahrheit aber ausschließlich im menschlichen Denken oder in den von diesem erzeugten Urteilen ihren existentialen Ort hätte, wäre die Wahrheit selbst zu wenig tief, oberflächlich oder trivial. Auch dies ist evidentermaßen absurd. Eine gewisse Losgelöstheit der Wahrheit bzw. ihres begrifflich-urteilsmäßigen Trägers von den durch menschliches Denken gedachten bzw. denkend hervorgebrachten Begriffen erscheint daher unleugbar, will man die genannten Absurditäten vermeiden. C. Enge, Begrenztheit, Einseitigkeit, Unvollständigkeit etc. menschlicher Wahrheitsfassungen und ‚die Wahrheit‘: Auch andere Eigenschaften, die vielen oder allen menschlichen Fassungen von wahren Urteilen zukommen, widerstreiten dem Wesen der Wahrheit, bzw. können niemals
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der Wahrheit selber zugesprochen werden. So finden sich oft in menschlichen Urteilen Eigenschaften wie Enge, Begrenztheit, Einseitigkeit, Unvollständigkeit, übergroße falsche Nüchternheit, Verstiegenheit usf., bzw. der ‚objektivierte‘ Niederschlag solcher personaler Eigenschaften. Niemals aber lassen sich irgendwelche dieser Eigenschaften von der Wahrheit selbst aussagen. Thesen, wie daß die Wahrheit zu eng, einseitig, begrenzt, unvollständig, irreführend oder verstiegen sei, sind sinnwidrig, weil sie dem notwendigen Wesen der Wahrheit widersprechen. Die Wahrheit selbst ist vielmehr als unendlich weit, unbegrenzt, allumfassend, vollständig, als weder zu nüchtern noch überspannt usf. gegeben. Die Gebrechen und Grenzen, die der Wahrheit, wie sie in vom Menschen gefällten Urteilen erscheint, anhaften, können niemals der ‚Wahrheit selbst‘ zugeschrieben werden. Auch an dieser Stelle wird mancher (etwa ein aristotelisch und thomistisch erzogener, vielleicht auch ein empiristischer antiplatonischer) Denker einwenden: Was wir ‚die Wahrheit selbst‘ nennen, sei ja im Grunde bloß eine Abstraktion, die durch ein Auswählen bzw. ein einfaches abstrahierendes Absehen von der faktischen Totalität der Wirklichkeit zu Stande komme. Wir konzentrierten uns bloß auf einen Aspekt (Teil) bzw. auf einen allgemeinen Zug menschlicher Urteile, nämlich die Übereinstimmung derselben mit der Wirklichkeit. Wir nennen diese Urteile wahr eben in dem Maß und insofern sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Daher könne selbstverständlich nicht davon die Rede sein, daß die Wahrheit selbst oberflächlich, verwirrt etc. sei. Das schließe jedoch nicht aus, daß diese „Wahrheit selbst“ nur als ein Aspekt innerhalb des Ganzen des menschlichen Denkens und der von diesem erzeugten Urteile existiere. Denn ‚die Wahrheit selbst‘, das seien eben nur jene Aspekte bzw. ‚Teile‘ aller menschlichen Urteile, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen und die deshalb nicht verwirrt, platt usf. sein können. Daher, so wird der Empirist diesen Einwand fassen, sei unser Argument rein tautologisch und entfalte nur in einem analytischen Urteil den Sinn des Wortes „Wahrheit“. In Antwort auf diesen Einwand sei folgendes bemerkt. Streicht man selbst alle Aspekte menschlichen Denkens bzw. der vom Menschen denkend gesetzten Urteile weg, die unvollkommen oder mit intellektuellen Mängeln und Übeln aller Art behaftet sind, und schreibt man zugleich – in positiver Hinsicht – alle Wahrheitsvollkommenheiten menschlicher Urteile
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 427 jenen Gedankenträgern zu, die die ‚Wahrheit selbst‘ tragen, so wird man finden, daß Wahrheit und der ‚ihr selbst‘ entsprechenden begrifflichen Träger eben eine dem menschlichen Denken und den von ihm hervorgebrachten Bedeutungseinheiten gegenüber durchaus unabhängige Wirklichkeit ist. Ohne einen chorismós, d. h. ohne eine vom menschlichen Denken und seinen Produkten losgelöste bzw. diese transzendierende Existenz von Wahrheit kann kein gedankliches Abstraktionskunststück der Welt jemals aus den von Menschen gefällten Urteilen die (reine) Wahrheit destillieren. Dies ist mindestens ebenso unmöglich, wie es unmöglich ist, das reine Wesen der ‚Liebe selbst‘ bzw. die notwendige und vollkommene Wesenheit (das eidos) der Liebe aus allen faktischen menschlichen Liebesbeziehungen durch Abstraktion zu erreichen. Ja, vielleicht wäre dies im Falle der Wahrheit noch weniger möglich wegen der allumfassenden Einheit und Transzendenz der Wahrheit, die sich ganz konkret auf alle Seinsbereiche, alle wirklichen und möglichen Sachverhalte erstreckt und alle inneren ‚Ordnungen‘ der Wahrheit umfaßt. 2.9. In welchen menschlichen Gedanken soll Wahrheit zu bestehen beginnen? Die Unmöglichkeit einer vernünftigen Antwort auf diese Frage erweist die Gegenthese als unhaltbar
Ein anderes Argument, das aus der Defensive in die Offensive hinüberführt, kann hier angeknüpft werden. Wird behauptet, daß Wahrheit allein im menschlichen Denken bzw. in den von diesem hervorgebrachten Gedankengebilden Bestand hat, so kann man fragen: In welchen Gedankengebilden, die der Mensch hervorbringt, soll denn die Wahrheit bestehen, bzw. welche dieser Gedanken sollen denn die Voraussetzung für das Bestehen der (Urteils-)Wahrheit sein? Etwa nur Urteile im strikten Sinn, die neben ihrer objektiven Wahrheit auch vom Urteilenden für wahr gehalten werden? Diese Antwort ist offenbar unbefriedigend, ja unhaltbar. Denn zweifellos sind viele Thesen wahr, obgleich sie nur ein einziger Mensch denkt und denkend lange erwägen, aber dabei vielleicht sogar für falsch halten mag. Ihre Wahrheit hängt ja ebensowenig davon ab, ob der Betreffende sie für wahr hält oder als wahr anerkennt, wie das Fürwahrhalten einer falschen These im Irrtum die falsche These zu einer wahren macht. Also kann – unter der Voraus-
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setzung der Abhängigkeit der Wahrheit vom menschlichen Denken – Wahrheit nicht nur in vom Menschen für wahr gehaltenen und urteilsmäßig aufgestellten, sondern auch in von ihm für falsch befundenen und verworfenen Thesen erstmalig Existenz gewinnen. Doch ist die Lage für den Vertreter der Gegenposition noch viel auswegloser, wenn er gefragt wird, ob Wahrheit etwa auch in irrigen Thesen erstmals zu existieren beginnen kann. Bedenkt er nämlich, daß in fast jedem Irrtum ein sogenanntes ‚Körnchen Wahrheit‘ enthalten ist, so folgt aus seiner Position, daß – wenn etwa eine von einer falschen Generalisierung implizierte „Teilthese“ wahr ist – Wahrheit ihre Existenz einer an sich falschen These verdanken kann, in der trotz ihrer eigenen Falschheit das sprichwörtliche „Körnchen Wahrheit“ steckt, das daher nach Meinung unseres Gesprächspartners erst durch das Aufstellen der irrigen These existiert. Der Anhänger der Gegenposition mag erwidern: Gewiß ist Wahrheit als objektive Übereinstimmung zwischen Urteilen und wirklich bestehenden Sachverhalten vom subjektiven Wahrheitsbewußtsein eines (denkenden) Menschen unabhängig – und dennoch verdankt sie menschlichem Denken ihre Existenz. Daß die in falschen Thesen mitgedachten Thesen Träger von Wahrheit sein können und Wahrheit erstmals im einem Irrtum innewohnenden ‚Wahrheitskörnlein‘ entsteht, ist ebensowenig ungereimt wie die Tatsache, daß die schönen Proportionen in einem vorwiegend häßlichen Gesicht ausschließlich in dem häßlichen Gesicht existieren. Die Schönheit an sich, von der Platon spricht, bleibt eine Illusion. Schönheit existiert nur in realen schönen Dingen. Das hindert aber nicht, daß alle schönen Dinge auch häßliche Züge tragen oder daß möglicherweise die häßlichen sogar überwiegen können, sodaß in solchen Fällen die Schönheit tatsächlich ihre Existenz den (überwiegend) häßlichen Dingen verdanken kann. Ebensowenig sei es dann widersprüchlich anzunehmen, daß die Wahrheit ihre Existenz Irrtümern verdanken könne, in denen sie als ‚Körnlein Wahrheit‘ steckt. Dieser Einwand ist jedoch nur scheinbar zwingend. Zunächst ließe sich auch im Falle der Schönheit zeigen, daß diese selbst eine unvergängliche Wesenheit besitzt und daß es unveränderliche Gesetze der Schönheit gibt, ohne welche kein konkretes Ding schön sein könnte. Das hindert zwar nicht, daß Schönheit erst in einem überwiegend häßlichen Ding reale
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 429 Existenz erlangen kann, aber es zeigt, daß man nur in einem sehr begrenzten Sinn behaupten darf, daß Schönheit ihre Existenz ausschließlich einem (vorwiegend) häßlichen Ding verdanken könne. (Wir sehen in diesem Zusammenhang davon ab, daß es neben der Wesenheit und den ‚Regeln‘ der Schönheit, welche nicht schaffbar oder machbar sind, auch eine absolute wandellose und vollkommene Schönheit geben muß, wie Platon insbesondere im Symposium entwickelt; auch dieser Punkt wird vom hier behandelten Einwand keineswegs widerlegt.) Abgesehen davon also, daß außerdem Schönheit niemals ausschließlich einem häßlichen Ding seine Existenz verdankt, besteht auch zwischen Schönheit und Wahrheit ein großer Unterschied, der jeden allzuschnellen Vergleich verbietet. Während es nämlich im Bereich des Schönen die volle Dualität zwischen idealen Wesenheiten und Gesetzen der Schönheit einerseits und voll verwirklichter Schönheit in sinnlichen und geistigen Seienden andererseits gibt, besteht eine derartige Dualität nicht in derselben Weise in bezug auf Wahrheit. Die Wahrheit ist ein viel konkreteres Ganzes (in dem alle Teilwahrheiten innerlich vereint sind) als die Schönheit. Die konkretere Existenz der Wahrheit (und auch ‚der Schönheit‘) – zumindest was deren Gegebenheit betrifft, bei deren Betrachtung wir von einer rein spekulativ erfaßbaren höchsten Identität von absoluter Wahrheit und Schönheit absehen – äußert sich auch darin, daß jede Formulierung der Wahrheit viel eher als eine Teilhabe an der Wahrheit bzw. als unvollkommene Manifestierung derselben erscheint denn als eine eigentlichere Verwirklichung der sonst bloß als ‚Idee‘ bestehenden Wahrheit. Darauf wurde bereits hingewiesen. Im Falle der Schönheit verhält es sich insofern umgekehrt als dort die Schönheit schöner Dinge durchaus als eine eigentlichere Verwirklichung der Schönheit erfahren wird als die Wesenheit und idealen Gesetze der Schönheit als solche, die im Vergleich zur ‚wirklichen Schönheit‘ zwar als wichtiger als schöne Dinge, aber im Vergleich mit diesen dennoch als eher abstrakt, rein ‚ideal‘ und unwirklich anmuten. (Damit soll nicht geleugnet werden, daß es im Falle der Wahrheit in anderer Weise und sogar in verschärfter Form das Realitäts- bzw. Realisierungsproblem gibt; darauf werden wir noch zurückkommen. Noch soll hier geleugnet werden, daß letztlich auch die Schönheit selbst voll real sei. Es geht uns hier bloß um eine phänomenologische Analyse in einem Sinne, der jeder spekulativen
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metaphysischen Erkenntnis des Absoluten vorausliegt.) Die Wahrheit scheint ihrem Wesen nach in ihrem eigentümlichen ‚Bestehen‘ nicht darauf angewiesen zu sein, daß sie von Menschen in unvollkommenerer oder vollkommenerer Weise urteilsmäßig ‚verwirklicht‘ wird. Dieser Sachverhalt enthüllt sich noch deutlicher, bedenkt man, daß Wahrheit sich eindeutig nicht nur in für wahr oder falsch gehaltenen Urteilen oder auch im ‚Wahrheitskörnchen‘ falscher Thesen, sondern auch in bloß von Romanhelden gedachten „quasi-wirklichen“ Urteilen finden kann.516 Sogar jenen Gedanken, die Ingarden als QuasiUrteile von quasi-wirklichen Urteilen abgrenzt und die z.B. der Autor bzw. die ‘persona’ in einem Roman vorträgt, um die fiktive Welt aufzubauen und die daher selber gar keinen Wahrheitsanspruch machen, wie Ingarden scharfsinnig nachgewiesen hat, kann doch objektiv Wahrheit ‚entsprechen‘, wenn sie nicht als Quasiurteile, sondern als echte Urteile genommen werden.517 Zwar ist es unmöglich, jenen Quasiurteilen, in denen Dostojewski seine Welt aufbaut, selber Wahrheit zuzuschreiben, da sie gar keinen Wahrheitsanspruch erheben und nur der Erfindung der dargestellten Objektivitäten dienen, aber wenn man an die Stelle solcher Quasiurteile, die als solche nicht wahr oder falsch sein können, ein wirkliches Urteil desselben Inhalts setzt, was möglich ist, so kann dieses wahr sein, sodaß die Existenz der Wahrheit sogar von Quasi-Urteilen eines Romanhelden oder von den unwirklichen Urteilen eines Romanhelden abhängen könnte.518 Aber soll man dann behaupten, diese Wahrheit existiere erst 516
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518
Den Unterschied zwischen quasi-wirklichen Urteilen bzw. den irrealen Urteilen literarischer Figuren und den Quasi-Urteilen des Schriftstellers bzw. der ‘persona’ in einem Roman macht Ingarden in Das literarische Kunstwerk, a.a.O., Kap. v. (II. Teil). Ingarden handelt a.a.O. zwar von einer Entsprechung zwischen den dargestellten Gegenständen eines historischen Romans und der Wirklichkeit, weder aber von der Möglichkeit, in einem literarischen Kunstwerk buchstäblich wahre Urteile anstatt von Quasi-Urteilen zu verwenden, die m. E. besteht, noch von der möglichen „Transformation“, durch die ein Quasi-Urteil als wirkliches genom men werden und als solches wahr sein kann, auch wenn es in einem Roman z.B. nicht als echtes Urteil gemeint ist. Vgl. Josef Seifert, “Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment”, zit. Wahrheit und Falschheit von Urteilen hat ja, im Gegensatz zu Erkenntnis und Irrtum, eine eigentliche Unabhängigkeit vom Bewußtsein denkender Subjekte.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 431 dann, wenn sie einem Quasiurteil in einem Roman entspricht? Und doch müßte man dies wohl behaupten, wenn die Existenz der Wahrheit von Urteilen abhängen soll, die von Menschen tatsächlich gedacht werden? Von da ist ferner der Übergang zu schlechthin ungedachten Gedanken nicht mehr groß; wenn offenbar nicht wirklich gedachte Gedanken von Romanfiguren und sogar die den Quasiurteilen korrespondierenden Urteile wahr oder falsch sein können, so auch überhaupt ungedachte Gedanken. Es ist in Wirklichkeit weder möglich, die Wahrheit auf jene Wahrheiten zu beschränken, die den vom Menschen tatsächlich gefällten Urteilen als deren Prädikat zuzuschreiben sind, noch auf jene ‚Wahrheiten‘, die als Eigenschaften solcher Thesen auftreten, die von Menschen zwar für falsch gehalten werden, aber doch objektiv wahr sind, noch auch auf jene Wahrheit, die sich in den unwirklichen Urteilen oder sonstigen Gedanken finden, die im literarischen Kunstwerk enthalten sind oder die den QuasiUrteilen entsprechen, die vom Autor weder als wahr noch als (wirklich) falsch hingestellt werden, sondern die Romanwelt erzeugen sollen, dennoch aber objektiv wahren oder falschen urteilen entsprechen können. Besteht aber die Wahrheit eindeutig in dem Sinne objektiv und vom menschlichen Denken unabhängig, daß sie vom Menschen nicht als Wahrheit erkannt oder behauptet zu werden braucht, um doch in vom Menschen gedachten oder erwogenen Thesen zu bestehen, wie soll dann ernsthaft behauptet werden, daß Wahrheit trotz dieser ihrer weitreichenden und offenkundigen Unabhängigkeit von menschlichem Urteilen dennoch in ihrem Bestand davon abhänge, ob ein Mensch in seinen kontingenten und zufälligen Urteilen, oder in ganz anderen Gedankengebilden als Urteilen, ja sogar in seinen Irrtümern, zufällig auf sie stößt? 2.10. ‚Sprachanalytische‘ Argumente bekräftigen die Erkenntnis, daß der Bestand von Wahrheit nicht von menschlichen Urteilen abhängt
Auch sprachanalytische Untersuchungen zeitigen Ergebnisse, die dafür sprechen, daß Wahrheit nicht bloß als Eigenschaft vom Menschen hervorgebrachter Urteile bestehen kann. „Sprachanalyse“ wird im folgenden in dem Sinne verstanden, daß der ‚normale Sprachgebrauch‘ untersucht, bzw. das herausgearbeitet wird, was diesem entspricht; zugleich werden solche Reden und Redewendungen aufgezeigt, die dem gewöhnlichen Sprach-
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gebrauch und einem innerlicheren ‚philosophischen Sprachgefühl‘ zuwiderlaufen. Wittgenstein hat wohl mit Recht, wenn auch ohne die nötigen Unterscheidungen durchzuführen, von der „Tiefengrammatik“ der Sprache geredet und dieselbe der „Oberflächengrammatik“ der Sprache gegenübergestellt.519 Uns geht es im folgenden um eine Erforschung der Gesetze dieser „Tiefengrammatik“ der Sprache bzw. jener Gesetze der Sprache, durch deren Mißachtung „unmögliche“ und „absurde“ oder widersprüchliche Reden zustandekommen. Dabei halten wir Sprachanalyse als solche – bei aller Verwandtschaft ihrer Methode des verstehenden Eindringens in Sinnzusammenhänge mit den Methoden der Philosophie – nicht selber für Philosophie. Die echt philosophische Relevanz der Sprachanalyse liegt daher unserer Meinung nach in folgendem: Was dem Gebrauch einer gesprochenen „normalen“ Sprache oder einer ungekünstelten und richtig interpretierten literarischen Sprache, oder auch den in Wortstämmen und Wortformen objektivierten Gedanken entspricht, muß philosophisch daraufhin untersucht werden (was nur durch – eine der Sprachanalyse transzendente – Philosophie geschehen kann), ob darin eine in der Sprache objektivierte Weisheit ausgedrückt wird, die über die ‚Sachen selbst‘ spricht und uns auf Fakten aufmerksam macht, die uns ohne eine genaue Analyse von Redewendungen u. dgl. leicht entgingen. In diesem Sinne, in dem bereits Platon und Aristoteles häufig Sprachanalysen philosophisch nutzbar machten, wollen auch wir sie heranziehen und als eine wertvolle Quelle philosophischer Erkenntnis achten, die aber nie ein Substitut für die Wesenserkenntnis sein darf, sondern gerade zu dieser hinführen soll.520 Während uns dabei das dem normalen Sprachgebrauch Entsprechende oft über diesen immanenten Sprachgebrauch hinaus auf sachliche Wahrheit hinweist, machen uns häufig andere Redewendungen, die bestimmten 519
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Zu diesem Begriff Wittgensteins vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 4. erw. Auflage, (Stuttgart: Kröner, 1969), S. 586, 698, 704 ff. Vgl. dazu auch B. Schwarz, “The role of linguistic analysis in error analysis”, S. 127-132, und meine „Sprache und Wahrheit. Zum Verhältnis zwischen Satz, Urteil und Sachverhalt“, in: Alex Burri (Hg.), Sprache und Denken/ Language and Thought (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1997), S. 301-324; sowie “Texts and Things”, in: Annual ACPA Proceedings (1999), Vol. LXXII, 41-68.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 433 Theorien entsprechen müßten, die aber dem akzeptablen Sprachgebrauch widersprechen, auf der Sprache selbst durchaus transzendente objektive Wesensunmöglichkeiten aufmerksam. Solche Wesensunmöglichkeiten können leichter erfaßt werden, wenn zunächst die Sprache und ihre „Tiefengrammatik“ erforscht wird. Dabei dürften die folgenden Argumente auch vom analytischen Philosophen anerkannt werden, ohne daß er ihre eigentliche philosophische Relevanz als über die Sprache hinausweisend und zu einer evidenten Erkenntnis über die wirkliche Welt führend bejahte, oder eine solche Untersuchung, deren höchster Maßstab die Evidenz der ‚Sachen selbst‘ und nicht der Sprachgebrauch ist, überhaupt für nötig erachtete. Ich möchte drei Argumente für das von menschlichen Urteilen unabhängige Bestehen der Wahrheit, die unsere Urteile wahr macht, aus einer Sprachanalyse bringen, die m.E. auf die Evidenz hinweist, daß die Wahrheit unabhängig von ihrer ‚Verkörperung‘ in von Menschen gefällten Urteilen besteht: (1) Es gibt eine Fülle von Redewendungen, die durchaus gebräuchlich sind und beim gewöhnlichen Sprachbewußtsein keinerlei Anstoß erregen, und die zugleich unsere Auffassung von der Unmöglichkeit, daß Wahrheit sich nur als Eigenschaft vom Menschen gefällter Urteile konstituiere, bestätigen. Man denke an Redewendungen oder in der Literatur häufig vorkommende Ausdrücke wie: jemand hat eine wichtige Wahrheit entdeckt (wo ihr Vorgegebensein dem Geist gegenüber vorausgesetzt wird); dieser Mensch besitzt eine sehr unvollständige Erkenntnis der Wahrheit (wobei deren Überlegenheit über menschliche Fassungen derselben angenommen wird); ich sehne mich nach der vollen Wahrheit (hier wird impliziert, daß deren Fülle alles uns Zugängliche übersteigt); die Wahrheit bleibt immer und ändert sich nicht (wobei vorausgesetzt wird, daß sie nicht historisch entsteht und vergeht); das Licht der Wahrheit fällt auf eine Sachlage oder wir bemühen uns, etwas mehr ‘im Licht der Wahrheit’ zu begreifen, soweit uns dies möglich ist (durch welche Redewendung angesetzt wird, daß dieses ‚Licht‘ der Wahrheit unsere Erkenntnis derselben übersteigt); die Wahrheit ist ihm endlich aufgegangen (bei diesem Ausdruck wird nicht notwendig auf die Erkenntnis anderer Menschen Bezug genommen, wohl aber angenommen, daß die Wahrheit, die uns aufgeht, schon bestanden hat, bevor sie uns aufging), usf. (2) Noch viel deutlicher sind jedoch die negativen Hinweise der
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Sprachanalyse. Im Versuch, Redeweisen zu konzipieren, wie sie der Gegenposition entsprächen, zeigt sich, daß diese eindeutig die „Tiefengrammatik“ der Alltagssprache und jedes sinnvollen Sprachgebrauchs sosehr verletzen, daß sie niemals zu Hoffnungen auf allgemeine Einbürgerung in den Sprachgebrauch berechtigen können. Solche Redewendungen wären etwa die folgenden: Seit dem Erscheinen von Aristoteles’ Schriften über Ursachen und Substanz gibt es die Wahrheit über Kausalität und Substanz; im 18. Jahrhundert ging die Wahrheit über den Menschen unter; ein wichtiger Teil der Wahrheit wurde von der modernen Naturwissenschaft und Philosophie erstmals hervorgebracht; vor hundert Jahren existierte die Wahrheit über Mikrophysik noch nicht, usf. Die in die Augen springende Unpassendheit und Anstößigkeit solcher Wendungen, die wohl niemals allgemein sprachbildend werden können, weist uns, so meine ich, auf eine ursprünglichere, in der Sprache nur niedergelegte Evidenz hin, daß eben Wahrheit nicht alleine als Prädikat menschlicher Urteile existieren kann. Die Gründe für diese sachliche Evidenz wurden bereits dargelegt. (3) Ein drittes aus der Sprachanalyse (im erörterten Sinn und mit allen erörterten ‚philosophischen Grenzen‘ solcher linguistischen Reflexionen) zu gewinnendes Argument für unsere Position ist dieses, daß es keine Fälle eines gewöhnlichen Sprachgebrauchs zu geben scheint, die die Gegenseite für ihre Position in Anspruch nehmen könnte. 3. Direkte Einsicht in die Transzendenz ‚der Wahrheit selbst‘ gegenüber ihrer ‚Verkörperung‘ in menschlichen Urteilen und ihrer weiteren Wesenseigenschaften als Ziel aller ‚dialektischen Argumente‘ In sehr verschiedener Weise – und in sehr verschiedenem Maß innerer Überzeugungskraft – führen alle ausgeführten Argumente zu dem Schluß, daß Wahrheit unabhängig von ihrem Auftreten als Eigenschaft menschlicher Gedankenprodukte besteht. Jetzt gilt es jedoch noch darauf hinzuweisen, daß es bei den vorgebrachten Argumenten für diese Tatsache nicht bloß um eine Konklusion aus zahlreichen Prämissen geht, die durch eine Reihe deduktiver Argumente gewonnen wurde. Vielmehr, so soll gezeigt werden, enthüllt
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 435 sich die eigenartige ideale (und vom Menschen unabhängige) Existenz und das Wesen der Wahrheit letztlich in einer direkten intuitiven Wesenserkenntnis. In der hier gemeinten Erkenntnis des Wesens von Wahrheit erschließt sich unmittelbarer als durch Deduktionen, daß Wahrheit in ihrer inneren Notwendigkeit des Wesens und Bestehens unmöglich vom menschlichen, historischen und kontingenten Denken abhängen kann. Der bereits von Aristoteles in der Zweiten Analytik und anderswo hervorgehobene Primat des unmittelbaren Erkennens vor allem deduktiv vermittelten manifestiert sich hier in besonderer Weise. Wir begegnen dabei einer Bestätigung der Ausführungen Platons über die dialektische Methode, denen zufolge am Ende einer langwierigen Kette von Schlußfolgerungen gleichsam als deren höchstes Ziel eine unmittelbare Schau steht. (Man denke etwa an Diotimas Rede im Symposium oder an den Siebenten Brief.) Auch Anselms „ontologisches Argument“ hat eine ähnliche Aufgabe: das, was indirekt durch viele Beweisketten dargelegt wurde, nun auch unvermittelter und direkter zu schauen.521 Dieser Auffassung über die dialektische Methode der Philosophie gemäß steht also die unmittelbare Erkenntnis (die noesis Platons und der nous des Aristoteles) nicht bloß am Anfang jedes Beweises in Form der Erkenntnis der Wahrheit der ersten Prinzipien und Prämissen philosophischer Argumente, sondern auch an deren Ende. Nur der Leser vermag sich selbst zu überzeugen, ob die in diesem Sinne gemeinten folgenden Ausführungen mehr als bloße Wiederholungen der bisher in Form von ‚Konklusionen‘ aus evidenten Prämissen erreichten Ergebnisse darstellen: nämlich den Ausdruck unmittelbar evidenter Erkenntnisse über die Wahrheit selbst. Wahrheit, die vom Menschen gefällte Urteile „wahr macht“, ist wesenhaft mehr als die Wirklichkeitsgemäßheit vom Menschen gefällter Urteile. Sie besteht in unzeitlicher Weise und ist also auch nicht ein Prädikat der vom Menschen gedachten Urteile, die in der Zeit entstehen. Wahrheit kann erst recht nicht einmal entstehen und dann wieder vergehen wie menschliche Urteile und die diesen zukommende Wahrheit als deren Entsprechung mit der Wirklichkeit. Noch kann Wahrheit selbst partiell entstehen und partiell vergehen wie die menschlichen Urteilen real anhaftende Entsprechung mit der Wirklichkeit. Vor allem ist ‚die‘ 521
Vgl. dazu Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2, Kap. 12.
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Wahrheit ein geordnetes Ganzes von einer Sublimität, Strukturiertheit und Ordnung, durchwaltet von logischen Abhängigkeiten und Implikationen aller Art – und diese Wahrheit existiert niemals voll in Urteilen und Gedanken von Menschen. Die Wahrheit ist kraft dieser ihrer Wesenseigenschaften notwendig dem menschlichen Geist gegenüber transzendent. Auch ist Wahrheit eine einzige, dieselbe zu allen Zeiten und an allen Orten, oder vielmehr überzeitlich, überörtlich. Daher kann sie auch nicht bloß Eigenschaft von Urteilen sein, die der Mensch zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten bildet und die – insoferne sie vom Menschen hervorgebracht werden – niemals jene absolute Einheit und Universalität begründen können, die wir in der Wahrheit antreffen.522 Aus diesen und anderen Erwägungen über das gegebene Wesen der ‚Wahrheit selbst‘ erschließt sich immer klarer, daß die vom Menschen gedachten und von ihm abhängigen Urteile (Urteilsgebilde) Wahrheit in Form der Teilhabe an etwas tragen, was sie selber ganz überragt, ja was in einer formalen und qualitativen Bedeutung des Wortes unendlich ist und daher den Menschengeist unendlich übersteigt. Die umfassende logische und innere Einheit der Wahrheit erschließt sich als etwas, das nicht in Form einer buchstäblichen Eigenschaft jener Urteile allein verwirklicht werden kann, die vom Menschen gebildet, gefällt, oder auch nur denkend berührt werden. Auch hat sich eindeutig erwiesen, daß Wahrheit besteht, ob der Mensch sie in seinen Urteilen verwirft oder anerkennt, was alles offenkundig unmöglich von der Wahrheit ausgesagt werden dürfte, wenn sie und insoferne sie vom Menschen gefällten Urteilen real als deren Eigenschaft der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zukäme. Freilich bedürfte diese Wesensschau, die erschließt, daß Wahrheit nicht eine Eigenschaft der vom Menschen gefällten Urteile ist, sowie der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der ‚Teilhabe‘ der Klärung. Sicherlich soll keineswegs behauptet werden, daß die vom Menschen gefällten Urteile nicht wirklich wahr sind, daß ihnen Wahrheit nicht real zukommen würde. So unvollständig die in ihnen verkörperte Wahrheit auch sein mag, so sind sie doch wahr und kommt Wahrheit ihnen real zu als ihre 522
Thomas schließt, es gäbe zwei Formen der Wahrheit – eine geschaffene, endliche, fragmentarische in den von Menschen gedachten Urteilen, eine ewige vollkommene im göttlichen Geiste.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 437 Eigenschaft. Auch ist die ‚unvollständige‘ Wahrheit menschlicher Aussagen doch ‚ganz wahr‘ und radikal von Irrtümern verschieden, da z.B. die Aussage „Der Mensch ist der Erkenntnis fähig“ durch keine ergänzende Erkenntnis oder absolute Erkenntnis je entkräftet werden könnte und daher vervollständigungsbedürftig, jedoch ‚durch und durch wahr‘ ist. Doch ist dieses wirkliche und volle Wahrsein von Urteilen, die wir fällen, nicht identisch mit der Wahrheit in ihrer Fülle oder auch nur mit jener ‚Dimension‘ der Wahrheit, die das von uns gefällte Urteil wahr macht. Die Wahrheit selbst besteht schon vor unserer Urteilsfällung; und es ist in dem Maße, in dem unsere Urteile jene in der ‚Wahrheit selbst‘ immer schon perfekt enthaltene Übereinstimmung mit der Wirklichkeit auch besitzen, daß sie wahr sind. ‚Teilhabe‘ bedeutet hier also den kontingenten und unvollkommenen Besitz jener ‚Eigenschaft‘: Wahrheit, die schon vor ihrer Verwirklichung in unserem Urteil besteht, bzw. die unser Urteil nicht selbst verwirklicht, sondern nur ‚ausdrückt‘ und gleichsam als ‚geliehene‘ besitzt. Die ‚Wahrheit selbst‘ ist auch als vollkommen gegeben; nichts Unvollkommenes ist in ihr, während Unvollkommenheit irgendwelcher Art uns an aller Wahrheit, insoferne sie real vom Menschen geformten Urteilen anhaftet, entgegentritt. Die Wahrheit selbst ist klar, durch und durch klar, sodaß sie durch nichts – es sei denn durch ein Anderssein der Wirklichkeit, in der alles wenig Intelligible und ‚Obskure‘ wegfiele – klarer werden könnte. Diese claritas veritatis bildet einen Kontrast zur Unklarheit, wie sie sich in menschlichen Urteilen und der in ihnen realisierten Wahrheit findet.523 Die ‚Wahrheit selbst‘ ist auch immerwährend tief, während die in menschlichen Urteilen ‚gefaßte‘ Wahrheit bzw. der Ausdruck und die gedankliche Fassung der Wahrheit in vom Menschen geformten Urteilen oft mehr oder minder oberflächlich ist.524 523
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Bei Augustinus, Thomas und anderen mittelalterlichen Philosophen, aber auch bei Descartes finden sich viele Texte über die innere Klarheit der Wahrheit selbst, bei Thomas vor allem im Zusammenhang der Identifizierung dieser klarsten Wahrheit mit der höchsten Intelligibilität Gottes und der göttlichen Erkenntnis, etwa in Comp. Theol., I, 106. Mit Augustinus betrachtet auch Thomas von Aquin diese Wahrheit als etwas so Vollkommenes, daß seine Schau der Gegenstand der Hoffnung auf die Seligkeit sei:
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So hat sich im Laufe dieser Untersuchungen Schritt für Schritt deutlicher erwiesen, daß Wahrheit etwas „über dem Menschen“ ist, eine Fülle, die dem menschlichen Geist nur partiell zugänglich wird, während sie selbst in sich ‚ganz‘ und unzeitlich und keineswegs fragmentarisch ist, wie Augustinus unnachahmlich schön formuliert und dabei die Transzendenz der Wahrheit über alles, was der menschliche Geist von ihr in Urteilen verkörpern kann, zum Ausdruck bringt: Gehe nicht nach außen, kehre zu dir selbst zurück. Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit, und wenn du deine Natur als veränderlich entdeckst, gehe auch über dich selbst hinaus. Aber bleibe dir bewußt, daß du, wenn du über dich hinausgehst, auch über dich als eine vernünftig denkende Seele hinausgehen mußt. Strebe also dahin, wo das Licht der Vernunft selbst entzündet wird. Denn gelangt nicht jeder, der die Vernunft gut gebraucht, zur Wahrheit? Da die Wahrheit nicht durch Vernunftschlüsse zu sich selbst gelangt, sondern vielmehr selbst das Ziel ist, nach dem der vernünftig denkende Mensch verlangt, so schaue du hier die Übereinstimmung, wie es keine höhere geben kann, und stimme dann auch du mit ihr überein. Gib zu, daß du nicht bist, was sie ist: Sie sucht sich nicht selbst, du aber gelangst als Suchender zu ihr, nicht im Raum, sondern durch die Sehnsucht deines Geistes, so daß sich der innere Mensch mit der innewohnenden Wahrheit vereinigen mag in einer Freude, die nicht niedriger fleischlicher, sondern höchster geistiger Art ist... Das vernünftige Denken schafft nicht die Wahrheit, sondern findet sie vor. Bevor sie gefunden wird, besteht sie bereits in sich selbst, und wenn sie gefunden ist, erneuert sie uns.525 Cognitio enim veritatis est res speranda, cum beatitudo nihil aliud sit quam gaudium de veritate, ut dicit Augustinus in libro confessionum. 525
Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, q. 14, a. 2, co. De Vera Rel. XXXIX,72 f.: ‘Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat veritas. Et si tuam naturam mutabilem inveneris, transcende et te ipsum. Sed memento, cum te transcendis, ratiocinantem animam te transcendere. Illuc ergo tende, unde ipsum lumen rationis accenditur. Quo enim pervenit omnis bonus ratiocinator nisi ad veritatem? Cum ad se ipsa veritas non utique ratiocinando perveniat, sed quod ratiocinantes appetunt ipsa sit, vide ibi convenientiam, qua superior esse non possit, et ipse conveni cum ea. Confitere te non esse, quod ipsa est – si quidem se ipsa non quaerit. Tu autem ad eam quaerendo venisti non locorum spatio, sed mentis affectu, ut ipse interior homo cum suo inhabitatore non infima et carnali, sed summa et spirituali voluptate conveniat... Non enim ratiocinatio talia facit, sed invenit. Ergo antequam inveniantur, in se manent, et cum inveniuntur, nos innovant.’
Augustinus, de ver. rel., lib un., 72. Diese Stelle wird auch am Abschluß von
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 439 Aus dem philosophisch zugänglichen Wesen der Wahrheit scheint sich damit ein philosophisch faßbarer Sinn jenes Satzes aus dem Prolog des Johannes-Evangeliums zu ergeben, daß die Wahrheit ein Licht ist, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt. Somit erweist eine phänomenologische Wesensanalyse der Wahrheit und ihrer Prädikate, daß ihre Wesenseigenschaften und ihr (ideales) Bestehen (Existieren) ausschließen, daß Wahrheit menschlichem Urteilen und Denken ihre Existenz verdankt. In der Wahrheit kündet sich ein ‚reines Sein‘ und ein ‚absoluter Geist‘ an, die dem unvollkommenen, zeitlichen und kontingenten Wesen und Sein des Menschen unendlich überlegen sind. Die angedeutete tiefer eindringende Untersuchung würde dann auch enthüllen, daß die ‚reinen und idealen‘ Begriffe einer Begriffssphäre höherer und übermenschlicher Ordnung angehören, an der die vom Menschen verwendeten Begriffe nur in begrenzter Weise teilhaben. Die ‚Wahrheit selbst‘ kann daher prinzipiell nicht von den vom Menschen gedachten und geformten Begriffen „getragen“ werden, die sich für eine solche erhabene „Aufgabe“ als völlig unzulänglich herausstellen würden. Während nun ‚die Wahrheit‘ von dieser überzeitlichen idealen Begriffssphäre, bzw. von den aus ihr gebildeten höheren Bedeutungseinheiten und Urteilen getragen wird, setzen falsche Thesen nur die vom Menschen geformten und gedachten Begriffe mit allen ihren Unzulänglichkeiten und dem Fehlen echter Unzeitlichkeit oder Überzeitlichkeit voraus; allerdings gibt es kein menschliches Urteil und nicht einmal ein irriges Urteil, das so falsch wäre, daß es nicht wenigstens durch seine Implikationen und Voraussetzungen, vielleicht aber auch in seiner ausdrücklichen Formulierung, wenn auch in unvollständiger und unvollkommener Form, an diesem Licht der reinen Wahrheit partizipiert und etwas von dieser enthält, das dann in jenem überzeitlichen Sinne der Wahrheit selbst absolut wahr und Husserls Cartesianischen Meditationen zitiert, allerdings nur der erste Satz, ohne die so oft wiederholte Äußerung Augustins, wir müßten uns selbst transzendieren, um die Wahrheit zu erkennen. Zu einem Vergleich zwischen dem wirklichen Sinn dieser Augustinusstelle und Husserls immanentistischer Interpretation derselben siehe auch J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, und Ludger Hölscher, Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1999), Kap. 2.
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Teil von ihr ist. 4. Antwort auf Einwände An dieser Stelle der Diskussion könnten eine Reihe von Einwänden gegen unsere Thesen über den ontologischen Status der Urteilswahrheit erhoben werden, die wir darstellen werden und hernach zu entkräften versuchen wollen. 4.1. Der erste Einwand: Alles, was wir von zeitlosen und von menschlichen Gedanken unabhängigen Wahrheiten gesagt hätten, gelte auch von zeitlosen Falschheiten – eine Art reductio ad absurdum oder wenigstens Einschränkung der positiven Bedeutung unserer Argumentation für das zeitlose Bestehen der Wahrheit
Diesem Einwand zufolge ließe sich alles oder das meiste, was wir über die Wahrheit sagten, auch auf Falschheiten und Irrtümer anwenden. Dieser Einwand besagt, wir hätten „zu viel“ bewiesen, was entweder eine Ausweitung unserer Position auf alle falschen Urteile verlange und damit ihre Bedeutung wesentlich einschränke, weil man dasselbe, was wir von der Wahrheit sagten, auch von falschen Urteilen sagen könne, oder aber unsere Argumentation ad absurdum führe. Denn es könnten ja doch auch Philosophen der verschiedensten Epochen, wie sie ‚dieselbe Wahrheit‘ formulieren können, so auch ‚denselben Irrtum‘ begehen, der daher ebenfalls eine zeitlose Existenz besitzen und eine zeitlose ‚Falschheit‘ sein müßte und nicht bloß als Eigenschaft von Urteilen auftreten könnte, die vom Menschen gefällt werden oder wurden. Auch Husserls Position in den Logischen Untersuchungen behauptet ja eine „Idealität der Bedeutungen“ trotz der schwankenden Wortbedeutungen, und diese zeitlose Idealität reiner Bedeutungen muß von der Frage der Wahrheit jener Urteile und komplexen Bedeutungseinheiten, die jedes Urteil ausmachen, ganz unabhängig sein und sich ebenso in falschen Urteilen finden. So führt Husserls Position in ihrer Konsequenz in der Tat in die Richtung einer Behauptung zeitlos und rein ideal bestehender
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 441 falscher 526
Urteile.526
In
diesem
Sinne
versucht
Mark
Roberts527
Vgl. dazu Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band I und II, 1, 1, „Ausdruck und Bedeutung“. Auch Anselm von Canterbury vertritt in seiner Schrift De veritate eine ähnliche Auffassung, auf die Thomas von Aquin in Quaestiones disputatae de veritate, q. 1, a. 1, AG 3 Bezug nimmt: Praeterea, Anselmus in Lib. De veritate sic argumentatur: si plurium verorum sunt plures veritates, oportet veritates variari secundum varietates verorum. Sed veritates non variantur per variationem rerum verarum, quia destructis rebus veris vel rectis adhuc remanet veritas et rectitudo, secundum quam sunt vera vel recta. Ergo est una tantum veritas. Minorem probat ex hoc quia, destructo signo, adhuc remanet rectitudo significationis, quia rectum est ut significetur hoc quod illud signum significabat; et eadem ratione, destructo quolibet vero vel recto, eius rectitudo vel veritas remanet.
Thomas selber (ibid., RA 3) meint, eine solche zeitlose oder ewige Wahrheit ausschließlich auf Grund der Gotteserkenntnis annehmen zu dürfen, indem er die spezifische Wahrheit des Urteils nur im Geist begründet sieht: Ad tertium dicendum, quod veritas quae remanet destructis rebus, est veritas intellectus divini; et haec simpliciter est una numero: veritas autem quae est in rebus vel in anima, variatur ad varietatem rerum.
Allerdings ist auch hier Thomas, in seinem Versuch einer synthetischen Gesamtschau all dessen, was seine Vorgänger geleistet haben, nicht leicht richtig zu interpretieren. So scheint er in den Responsiones von Quaestiones disputatae de veritate, q. 1, a. 5, RA 5, die augustinisch-anselmischen Argumente für die Ewigkeit der Wahrheit aus deren Wesen für richtig zu befinden und gerade aus der evidenten Unmöglichkeit des Nichtbestehens der Wahrheit auf deren Ewigkeit (in der “prima veritate” im göttlichen Geist zu schließen, und nicht umgekehrt aus dem Beweis eines ewigen Geistes auf die Existenz der ewigen Wahrheit: Non autem non esse rei, sed quidquid veritatis ei attribuitur est ex parte intellectus. Cum dicitur ergo: veritatem non esse, est verum; cum veritas quae hic significatur, sit de non ente, nihil habet nisi in intellectu. Unde ad destructionem veritatis quae est in re, non sequitur nisi esse veritatem quae est in intellectu. Et ita patet quod ex hoc non potest concludi nisi quod veritas quae est in intellectu, est aeterna; et oportet utique quod sit in intellectu aeterno; et haec est veritas prima. Unde ex praedicta ratione ostenditur, sola veritas prima esse aeterna.
Für dieselbe Ansicht gibt es zahlreiche andere Belegstellen. Dennoch bleibt die Position des Aquinaten nicht leicht durchschaubar, da er im Kontext seiner expliziten Behandlung des sogenannten Veritas-Arguments für die Existenz Gottes (das auch dem ontologischen Gottesbeweis nahesteht) ebd., q. 10, a. 12, RA 3, leugnet, daß man aus der Erkenntnis der Ewigkeit des Wahrheit Gottes Existenz beweisen könne: Ad tertium dicendum, quod veritas supra ens fundatur; unde, sicut ens esse in communi est per se notum, ita et etiam veritatem esse. Non est autem per se notum nobis, esse aliquod primum ens quod sit causa omnis entis, quousque hoc vel fides accipiat, vel demonstratio probet; unde nec est per se notum omnem veritatem ab aliqua prima veritate esse.
442
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nachzuweisen, daß aus meiner Position folgen würde, gleichfalls die zeitlose Existenz falscher Sätze behaupten zu müssen. Wenn man die zeitlose Existenz wahrer Sätze annähme, müsse man auch die zeitlose Existenz nicht nur möglicher, sondern wirklicher falscher Urteile annehmen. Es ist nicht ganz klar, ob Roberts damit die von mir dargelegte Position nur erweitern oder deren reductio ad absurdum erreichen möchte. Ich betrachte diesen Einwand im folgenden einfach von der Frage seiner rein philosophischen Haltbarkeit aus, also in beiderlei Interpretation, und beantworte ihn in folgender Weise: (1) Zunächst fällt auf, daß sich dieser Einwand offenkundig auf manche der gewichtigsten Argumente für die ideale Existenz der Wahrheit nicht anwenden läßt. Niemand wird z.B. meinen, Irrtümer bildeten ein widerspruchsloses harmonisches Ganzes, innerhalb dessen alle Teile in geordneter Beziehung stehen; noch wird jemand behaupten wollen, es gäbe Irrtümer an sich, die von vollkommener Klarheit, Tiefe usf. sein müßten. Die im Einwand behauptete Parallelität zwischen wahren und falschen Urteilen und ihrer Zeitlosigkeit liegt höchstens partiell vor. Ein erheblicher Defekt seines Einwands besteht deshalb darin, daß er ganz die ungleich tiefere Einheit der Wahrheit übersieht, die in ihrer vollkommenen Widerspruchsfreiheit, intelligiblen Einheit, Klarheit, Differenziertheit, Ganzheit usf. liegt, alles Eigenschaften, die nur der Wahrheit und nicht zeitlosen Falschheiten zukommen und unsere Hauptargumente für das unabhängige Bestehen der Wahrheit darstellen. Die meisten meiner Argumente beweisen nur die Unabhängigkeit der Wahrheit, nicht jene der Falschheit. So etwa läßt sich das Argument aus der völligen inneren Einheit und WiderUnde non sequitur quod deum esse sit per se notum.
Umgekehrt spricht er wieder ibid., Q. 11, a. 3, RA 6, so, als wäre die Wahrheit der propositiones (Sätze, Urteile) evidenterweise unabhängig von ihrer tatsächlichen Formlierung: RA6 Ad sextum dicendum, quod ille qui docet, non causat veritatem, sed causat cognitionem veritatis in discente. Propositiones enim quae docentur, sunt verae etiam antequam sciantur, quia veritas non dependet a scientia nostra, sed ab existentia rerum. 527
Vgl. auch Josef Seifert, “Are There Timeless Falsities? On the Difference between Truth and Falsity with Respect to the Ideal Existence of Meaning-Units. A Reply to Mark Roberts”, 280-320.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 443 spruchsfreiheit der Wahrheit nicht auf Falschheit anwenden, die das Gegenteil dieser Eigenschaft besitzt, da jedes falsche Urteil vielen wahren, aber auch anderen falschen Urteilen widerspricht. Falschheiten besitzen daher auch in keinerlei Weise jene vollkommene innere Klarheit, Differenziertheit usf., die uns Argumente für die Behauptung der Unabhängigkeit der Wahrheit von ihrer ‚Verkörperung‘ in vom Menschen gedachten Urteilen waren. (2) Aus einem weiteren Grund behaupte ich keine zeitlose Existenz von Irrtümern: Wie aus einer tiefschürfenden Untersuchung über den Irrtum, die Balduin Schwarz vorgelegt hat528, hervorgeht, bilden an sich nicht Irrtümer als solche den Gegensatz zur Wahrheit, sondern falsche Urteile. Zum Irrtum gehört ja mehr als das Aufstellen von falschen Thesen, wie dieses sich ja gleichermaßen in der Lüge findet. Der Irrtum setzt ein subjektives Führ-Wahr-Halten in eigentümlichem Zusammenhang mit dem tatsächlichen Falschsein einer These voraus. Daher ist der Irrtum primär ein personaler Akt, in dem eine falsche These für wahr gehalten wird, und als solcher Akt ist das Irren stets individuell und der jeweiligen Person eigen und es fehlt ihm jene Identität und Einheit, von denen die Rede war. Der Irrtum qua Irrtum besitzt keineswegs jene Universalität und anderen Eigenschaften, die wir in der Wahrheit fanden und die vom jetzt diskutierten Einwand dem Irrtum zugeschrieben werden. (3) Fassen wir aber nicht Irrtümer, sondern falsche Thesen ins Auge, und sehen wir von der Frage ganz ab, ob dieselben von niemandem, vom Lügner oder vom Irrenden vorgebracht werden, so scheint es immerhin wahr zu sein, daß dieselbe falsche These von Menschen verschiedenster Zeiten vertreten werden kann und daher nicht erst durch die betreffenden individuellen Akte als deren Eigenschaft erklärbar sein kann, sondern eine gewisse Zeitlosigkeit besitzt.529 Warum spreche ich dann nur von zeitlosen 528
529
B. Schwarz, Der Irrtum in der Philosophie (Münster i.W.: Verlag Aschendorff, 1934), besonders S. 21 ff. Wir können in diesem Zusammenhang nicht zur Genüge die Gründe entwickeln, die unsere Meinung bestätigen, daß es bei den falschen Thesen mehr um ‚gleichartige‘ als um schlechterdings dieselben Thesen geht, die buchstäblich jene universelle Einzigkeit besäßen, die wir in der Wahrheit fanden. Auch kann hier die Meinung nicht näher begründet werden, daß, insoferne als auch in der falschen These eine gewisse ‚Identität‘ über die Zeiten hinweg und nicht bloße ‚Gleich-
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wahren und nicht ebenfalls von zeitlosen falschen Urteilen? Während ich zeitlose falsche Urteile nicht ausschließe, spreche ich – wie übrigens auch Bolzano – von den Wahrheiten an sich und nicht von den Falschheiten an sich, wobei Bolzano m.E. ein unzureichendes und inadäquates Verständnis des Phänomens idealer Existenz beweist.530 Ich behandle in den Ausführungen, auf die Roberts sich bezieht,531 weder
530
artigkeit‘ (individuell verschiedener) falscher Thesen vorliegt, diese Identität in der Idealität von Begriffen gründet und daß sich zugleich diese ‚idealen Begriffe‘ von jenen Begriffen abheben, die vom Menschen gebildet wurden und denen die Zufälligkeit und Kontingenz von etwas Geschichtlichem anhaftet. Im Anschluß an bereits erwähnte Untersuchungen Roman Ingardens müßte dann erwiesen werden, daß die gewisse ‚Übergeschichtlichkeit‘ falscher Thesen derjenigen ähnelt, die wir etwa im literarischen Kunstwerk finden. Ja, die letztere ist der ersteren sogar überlegen. Schließlich müßte in Antwort auf obigen Einwand gezeigt werden, daß die falschen Thesen als ‚reine Möglichkeiten‘ allerdings eine Art von unzeitlich-ewiger Möglichkeit darstellen, die aber wegen des Unwerts des Irrtums, bzw. wegen der Falschheit dieser Thesen durchaus nicht mit dem idealen Sein der Wahrheit gleichgestellt werden dürfen. Auch wegen der inneren und äußeren Widersprüchlichkeit des Falschen darf dieses nur als „Schatten der Wahrheit“ bzw. als zeitloser Inbegriff aller Möglichkeiten sämtlicher denkbarer Widersprüche zur metaphysisch viel ursprünglicheren und primären Wahrheit angesehen werden. Eine solche ewig bestehende Möglichkeit aller falschen Thesen, wenn sie bewiesen werden könnte, würde keineswegs evident machen, daß unsere Thesen über die Wahrheit nicht stimmen, noch würde ein solcher Beweis eine gleichartige und gleichwertige ideale und dem Menschen vorgegebene Existenz des Falschen beweisen, wie wir sie für die Wahrheit nachzuweisen suchten. Erst recht gilt für die falschen Thesen nicht, was noch im folgenden über die Wahrheit und ihre Beziehung zum personalen Geiste gesagt werden soll. Bernard Bolzano, Wissenschaftslehre (Leipzig: Felix Meiner, 1929), besonders Part I, §§ 19 ff., 24, wo er sagt, S. 112: Sie haben kein wirkliches Daseyn, d.h. sie sind nichts solches, das in irgend einem Orte, oder zu irgend einer Zeit, oder auf sonst eine Art als etwas Wirkliches bestände.
531
Vgl. Auch Bolzano, ibid.; Part II, §§ 121, 122 (wo er leugnet, daß der Satz an sich ein Seiendes ist, sowie §§ 123 ff., wo er den Begriffe der Sätze an sich näher erklärt; und §§ 195 ff., wo er viele Attribute und Relationen wie ‚Grund-Folge‘ erklärt, die seiner Meinung nach nur wahren Sätzen zugesprochen werden können; vgl. Auch ebd., 3, Teil III (a.a.O., 1930), §§ 290 ff. (Über Urteile). “Is the Existence of Truth dependent upon Man?” S. 461-481.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 445 explizite Gründe für die Annahme noch für die Verwerfung zeitloser falscher Urteile, aber nehme allerdings an, daß, auch wenn alle falschen Urteile (zumindest als Objekt der Totalität wahrer) eine gewisse Art idealer Existenz besitzen, diese sich grundlegend von jener der Wahrheit unterscheidet. (4) Aus meiner Position, daß die meisten Argumente für die Wahrheit nicht jene der Falschheit beweisen, folgt im übrigen nichts gegen eine Zeitlosigkeit falscher Urteile. Im Gegenteil sage ich, daß in gewisser Weise, als Gegensatz zur Wahrheit und auch als deren Korrelat (Das Urteil „‚S ist P‘ ist falsch“, muß wahr sein, wenn ‚S ist P‘ falsch ist), auch falsche Urteile zeitlos sein müssen und daß sie auch als Gegenstand betreffender wahrer Urteile über Falschheit ‚bestehen‘ müssen. Es läge also ein logischer Fehler darin, wenn Roberts schlösse, es folge daraus, daß ich hinsichtlich der Frage einer vom Menschengeist unabhängigen Existenz von Wahrheit eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit mache oder nur behaupte, daß aus vielen meiner Argumente die zeitlose Existenz der Wahrheit folgt, ohne von zeitlosen Falschheiten zu reden, daß ich jede zeitlose Existenz falscher Urteile leugnete. Dies tue ich keineswegs. (5) Aus dem Einräumen dieser Tatsache folgt jedoch keinerlei Gleichstellung zeitloser Wahrheit mit zeitloser Falschheit. Vom Standpunkt formaler Logik aus sind vielleicht beide, wahre und falsche Urteile, ganz gleichgestellt, vom Standpunkt der Metaphysik der Wahrheit aus hingegen keineswegs. Roberts stützt sich in seinen Einwänden auf die inhaltliche Identität wahrer Urteile und sagt, eine gleiche Identität bestünde auch im Falle falscher Urteile. Wie daher die zeitlose Existenz der wahren dadurch bewiesen würde, so auch der falschen. Denn auch in ihrem Falle, so führt er weiter aus, bestünde dieselbe identische falsche Behauptung über Jahrtausende hinweg und unabhängig vom Menschen, der sie denke. Doch möchte ich diesbezüglich zur Verteidigung meiner Position gegen diesen Einwand einige sich hinsichtlich der Position Roberts’ unmittelbar stellende Probleme nennen: (6) Auch in Kunstwerken gibt es eine Art von Zeitlosigkeit oder besser Überzeitlichkeit der ihnen angehörenden Bedeutungseinheiten, ohne daß eine menschliche Geschaffenheit von deren konkreter Form zu leugnen ist, wie Ingarden zeigt. Da Roberts in diesem Falle die Abhängigkeit einer
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Shakespeareschen Tragödie oder Komödie vom Geist Shakespeares zugibt, obwohl die Einheit der Identität der Bedeutungseinheiten besteht, warum nicht auch im Falle falscher Urteile? (3) Auch die axiologische Dimension der Wahrheit und damit der tiefste Grund der Unabhängigkeit der Wahrheit vom Menschen wird in Roberts Einwänden nicht berücksichtigt, worauf wir gleich noch zurückkommen werden. 4.2. Widerlegung der Einwände gegen die ‚Wirklichkeit möglicher wahrer Urteile‘ aus der ‚Unwirklichkeit‘ bzw. dem ganz anderen ontologischen Status und Bezug zur Wirklichkeit ‚möglicher falscher Urteile‘
Interessant sind auch Roberts’ Einwände gegen die von uns oben behauptete Wirklichkeit möglicher wahrer Urteile aus dem Blickpunkt falscher Urteile, bei denen der Unterschied möglicher und wirklicher falscher Urteile in die Augen zu springen scheint. Es ist bei falschen Urteilen nämlich der Unterschied zwischen aktuellen und virtuellen bzw. möglichen Urteilen zweifellos sehr groß. Abstrakte logische mögliche Falschheiten und reine zeitlose Bedeutungseinheiten falscher Urteile unterscheiden sich stark von ihrer Objektivierung als Inhalte tatsächlicher Urteilsakte, die Falsches behaupten. Erst durch diese Einbettung in reale Behauptungsakte, und damit erst durch die Beziehung zwischen Urteilsinhalt und Akten der Überzeugung und Behauptung, wird das falsche Urteil zum Irrtum oder zur Lüge. Dieser Unterschied ist mehr als ein psychologischer: die wirklich behaupteten falschen Urteile allein besitzen den Charakter tatsächlicher falscher Behauptungen, nicht die ‚zeitlosen Falschheiten‘. Sie werden erst durch den und in dem Behauptungsakt aus abstrakten falschen Sätzen behauptende Gedanken. Nicht-wirkliche falsche Urteile seien daher von wirklichen Irrtümern oder Lügen sehr verschieden. Deshalb könnten auch wirkliche wahre Urteile scharf von rein möglichen unterschieden werden und sei unsere obige Argumentation inkorrekt. Ich möchte diesen Einwand so beantworten: (1) In gewissem Maß gilt der Unterschied zwischen möglichen und realen Urteilen gewiß auch für wahre, da diese noch viel mehr als falsche
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 447 auf ihre Erkenntnis und darauf, in Urteilsakten behauptet zu werden, bezogen sind und als Inhalt wahrer Aussagen einen ganz neuen Bezug zu realen Denkakten und zur Wirklichkeit personaler Akte gewinnen. Reale Urteile, welche Inhalte von Urteilsakten sind und damit in realen Akten behauptet werden, unterscheiden sich zum Teil kraft des hinter ihnen stehenden Urteilsaktes von ‚reinen‘ wahren Urteilen, die keine Person urteilt, sowie erst recht von dem, was Ingarden Quasi-Urteile nennt, wie sie in Romanen vorkommen und nur den Anschein von Urteilen haben, in Wirklichkeit nur die Welt der Fiktion und den Habitus der Realität derselben aufbauen. (2) Wenn wir von der Realität reden, die ein Urteil dadurch gewinnt, daß es wirklich von einem Geist gedacht oder geurteilt wird, müssen wir einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen wirklichem Gedachtwerden und wirklichem Geurteiltwerden im Auge behalten: a. Der ‚tatsächliche Charakter‘ eines Urteils kann zunächst den wirklich gedachten Gedanken gegenüber dem nur ‚möglicherweise‘ gedachten meinen. Es ist unter Menschen der Fall, daß viele wahre Urteile unwirklich, weil von niemandem gedacht, oder wirklich, weil tatsächlich gedacht, sind. Dasselbe gilt von falschen Urteilen. Wenn es ein allwissendes Wesen gibt, werden von diesem alle wahren und falschen Urteile in diesem Sinne wirklich/aktuell gedacht und besteht in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen beiden. b. Der Charakter der Tatsächlichkeit oder Wirklichkeit eines Urteils kann jedoch in völlig verschiedenem Sinne aufgefaßt werden und die wirkliche Existenz wahrer und falscher Urteile dahingehend bestimmen, daß sie reale Inhalte von Behauptungsakten sind. Unter diesem Gesichtspunkt können wirkliche Urteile möglichen, ihre tatsächliche Existenz ihrer möglichen Existenz gegenüberstellt werden. Hier geht es also nicht nur um wirklich gedachte (und zum Beispiel falsch gefundene oder bezweifelte) Urteile, sondern um wirklich behauptete Urteile, die wirklich und aktuell von einer Person geurteilt werden. Wirklichkeit in diesem Sinne erhält ein Urteil dann und nur dann, wenn es tatsächlich behauptet wird. Und diesbezüglich bestehen wesentliche Unterschiede zwischen wahren und falschen Urteilen. (3) Wenn wir mit wirklichem Urteil jenes Urteil meinen, das tatsächlich von jemandem für wahr gehalten und als wahr gewußt oder wenigstens
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behauptet wird (was freilich, wenn Gott existiert, von allen wahren Urteilen gilt), dann macht der Unterschied zwischen möglichen und wirklichen wahren Urteilen auch einen großen Unterschied aus: nicht für deren Wahrheit, die immer tatsächlich besteht und in diesem Sinne aktuell ist, wohl aber für einen bestimmten Realitätscharakter bzw. Realitätsbezug des Urteils, und dessen reale Beziehung zu einem personalen Geist, auf den es durch und durch zugeordnet ist, ja ohne den es unerklärlich bliebe und seinen geistgeborenen und geistzugeordneten Charakter nicht wirklich besäße, und daher seine eigentlichste Natur und Bestimmung verfehlte. (4) Hier gerade setzt das Veritas-Argument ein, das besagt, daß der Träger der Wahrheit letzten Endes nicht nur die reinen Bedeutungseinheiten sein können, sondern die tatsächlich von einem Geist geurteilten Urteile (Urteilsinhalte). Tatsächlich gedachte und in ihrer Wahrheit behauptete Urteile sind etwas ganz anderes als rein mögliche und machen erst den besonderen geistigen und intellektuellen Charakter des Urteils begreiflich; gerade darauf baut das Veritas-Argument für die Existenz eines unendlichen realen Geistes aus der Unendlichkeit, Klarheit usf. der Wahrheit auf. (5) Es bestehen weitere Unterschiede zwischen wahren und falschen Sätzen hinsichtlich ihrer Bezogenheit auf die Wirklichkeit. So gibt es unendlich viele zeitlos falsche Sätze, die wegen ihres grotesken oder absurden Charakters niemand für wahr halten wird, und die sich daher auch aus diesem Grunde von dem Inhalt tatsächlicher falscher Behauptungen unterscheiden. In diesem Licht ergibt sich daher ein wesentlicher Unterschied zwischen zeitlosen wahren und zeitlosen falschen Urteilen im Hinblick auf einen Geist: viele falsche Urteile sind so absurd, daß kein vernunftbegabtes Wesen sie jemals behaupten würde. Sie werden daher nie einen Urteilsinhalt realer Urteilsakte bilden. Hingegen sind alle wahren Urteile auch Inhalte der Erkenntnis eines allwissenden Geistes und sind Inhalt einer ewig-göttlichen ‚Behauptung‘ ihrer Wahrheit. Dieser Unterscheidung möchten wir nun noch eine weitere und noch wichtigere, rein axiologisch fundierte, hinzufügen: (6) Hinsichtlich ihres Bezugs auf die reale Welt personaler Akte bestehen auch andere zentrale ontologische und axiologisch-ethische Unterschiede zwischen wahren und falschen Urteilen. Im Gegensatz zu falschen Urteilen nämlich sind wahre auf die Einbettung in reale
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 449 Urteilsakte als deren Urteilsinhalte hingeordnet. Das findet auch darin seinen Niederschlag bzw. drückt sich auch in der ethischen Wahrheit aus, daß wahre Urteile behauptet (real geurteilt) werden sollen (manche unbedingt und von jedem Menschen, andere nur dann, wenn sie tatsächlich Inhalt von Behauptungen werden, die immer wahr sein sollen). Falsche Urteile hingegen sollen niemals Inhalte von Behauptungsakten werden. (7) Auch Eigenschaften, die zeitlose Falschheiten scheinbar mit zeitlosen Wahrheiten teilen, wie ihre Universalität und innere logische Verknüpfung mit vielen anderen falschen Urteilen sowie die objektiven logischen Beziehungen zwischen ihnen usf. besitzen sie nicht in, oder kraft, ihrer Falschheit als solcher, sondern nur auf Grund der Wahrheit über die Falschheit! Daher ist die logische Verknüpfung zahlreicher falscher Urteile auch in dieser Hinsicht ganz von jener wahrer Urteile verschieden und ist die diesbezüglich auf den ersten Anschein hin bestehende Vergleichbarkeit täuschend: sie teilen viel weniger mit einander als der Fall zu sein scheint, solange man jene Eigenschaften falscher Urteile, die sie nur auf Grund der Wahrheit über Falschheit besitzen, mit Eigenschaften falscher Urteile als solcher verwechselt. So spricht auch Roberts in seinen Einwänden in Wirklichkeit nicht primär von zeitlosen Falschheiten als solchen, sondern von der Wahrheit über Falschheiten, weil in der Falschheit selbst alle diese Implikationen usf. nicht bestehen bzw. berücksichtigt sind, sondern sogar in falschen Urteilen geleugnet werden oder werden können. Die logischen Implikationen der falschen Urteile etwa bestehen nur in der Wahrheit, nicht im Ozean aller möglicher Falschheiten. Weil Falschheiten in der Totalität all ihrer Falschheit, Widersprüchlichkeit und Absurdität niemals realer Inhalt falscher Urteile rationaler Subjekte sein können, kann Falschheit auch nie denselben ontologischen Status in Bezug auf die personale Realität besitzen wie die Wahrheit, die in ihrer Fülle von einem vollkommenen personalen Geist erkannt und geurteilt werden muß. (8) Dabei ist es auch wichtig festzuhalten, daß die bloße quantitative Unendlichkeit wahrer Sätze nur der relativ äußerlichste Aspekt der Unendlichkeit der Wahrheit ist. Die Fülle der Wahrheit enthält nicht nur – neben der quantitativen Unendlichkeit, daß etwa, wie Augustinus sagt, aus der Wahrheit von S folgt, daß es auch wahr ist, daß S wahr ist, usf. ad
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infinitum – die unendliche inhaltliche Zahl von Wahrheiten über sämtliche Zahlen, geometrischen Objekte, moralischen Wesenheiten usf., sondern auch alle Klärungen, Differenzierungen und Vertiefungen, die überhaupt denkbar sind. Wahrheit selbst beinhaltet den vollkommenen Ausdruck sämtlicher Intelligibilitäten des Seins. So übersteigen die Wahrheit selbst und die für sie als Träger vorausgesetzten Bedeutungseinheiten alles, was der menschliche Intellekt produzieren, ja alles, was er denken oder begreifen könnte. 4.3. Ein weiterer Einwand: Wenn die eben vorgetragene Position richtig wäre, so wären vom Menschen gefällte Urteile nicht mehr wahr und Wahrheit würde sich durch ihre radikale Transzendenz und Jenseitigkeit völlig getrennt von menschlichen Urteilen in einem intelligiben Kosmos befinden, was den Menschengeist ganz von der Wahrheit abschneiden würde
In diesem Einwand ist Folgendes zu sagen: (1) Die von Bolzano als „Sätze an sich“ bezeichneten und unabhängig vom menschlichen Geist bestehenden idealen Bedeutungseinheiten, die Träger der Wahrheit als solcher sind, sind allerdings durch ihre Unendlichkeit sowie ihre Klarheit usf. von jenen wahren Gedanken und Urteilen, die der Mensch denkt und fällt, verschieden. In der Tat sind wahre, von einem Menschen gefällte Urteile in vielfacher Weise notwendig unvollkommen und leiden häufig an einer Reihe hinzukommender und prinzipiell im menschlichen Denken vermeidbarer Mängel. Ja die oft konfusen menschlichen Begriffe und die der Klarheit und anderer Qualitäten der Wahrheit selbst ermangelnden wahren Aussagen menschlicher Personen können wohl als objektive Gedanken und Produkte menschlichen Intellekts aufgefaßt werden und unterscheiden sich daher von den reinen Begriffen und Urteilen der Träger der Wahrheit. Ihre Unvollkommenheiten scheinen ebenso durch den menschlichen Intellekt begründbar zu sein wie falsche, von Menschen gemachte Aussagen und daher scheint der Wahrheit der vom Menschen gedachten Urteile sich ganz von der Wahrheit selbst zu entfernen und wir scheinen sie so menschlichem Denken unerreichbar gemacht zu haben, wie der Einwand feststellt. Darauf muß geantwortet werden: so verschieden auch die vom Menschen gedachten Urteile von jenen reinen und idealen Wahrheitsträgern sind, so sind sie doch
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 451 gleichwohl in vielfältiger Weise mit ihnen verbunden, ja fallen teilweise mit ihnen zusammen: Das an ihnen, was ohne Verwechslungen oder falsche Verallgemeinerungen wirklich rein wahr ist, fällt mit einem Teil der Wahrheit zusammen – ist dieselbe Wahrheit, und diese und deren Träger kann weder ein bloßes Produkt menschlichen Denkens sein noch ist sie menschlichem Erkennen gänzlich entzogen oder unzugänglich. (2) Obgleich es also klar ist, daß der Träger der vollkommenen und ganzen Wahrheit sowie die letzte Quelle der Wahrheit von Menschen gemachter Aussagen nicht irgendein Gedanken-Produkt menschlichen Geistes sein kann, durch das die betreffende Wahrheit erst entstünde, so liegt doch in jedem menschlichen Erfassen und Urteilen, sofern es wirklich wahr ist, ein Erfassen und urteilsmäßiges Behaupten derselben einen Wahrheit, deren Träger die nicht von Menschen geschaffenen Bedeutungseinheiten sind. Der Mensch versteht diese also wirklich und kann Wahrheit aussagen, wenn auch in unvollständiger und unvollkommener Weise, die sich aber scharf vom Irrtum unterscheidet. Da übrigens selbst kein Irrtum ohne irgendwelche Implikationen und Erkenntnisse wahrer Urteile möglich ist, hat der Mensch sogar in seinen Irrtümern an der einen Wahrheit teil und kann sie erkennen und zum Ausdruck bringen. Man könnte dies auch so ausdrücken, daß der Mensch über unvollkommene oder verworrene Begriffe zu den wahren, reinen, idealen und ewig wahren Urteilsgebilden, wenn auch nur unvollkommen, durchdringen kann und diese dann gleichsam in die von ihm gefällten Urteile ‚eingehen‘. (3) Selbst die vollkommenen und übermenschlichen, d.h. vom menschlichen Geist weder gedachten noch ausschöpfbaren Bedeutungseinheiten, die die Träger der Wahrheit selbst sind, sind nicht einfach von jedem Geist unabhängig, da sie qua Bedeutungen offensichtlich einen inneren und wesenhaften Bezug zu Abstraktion, Erkenntnis und Akten des Meinens besitzen. (4) Das Paradox darin ist also, daß die Unendlichkeit und Tiefe der Wahrheit uns zwingt, Bedeutungseinheiten idealer und vollkommener Art jenseits des menschlichen Geistes anzunehmen und doch zuzugeben, daß Begriffe und Urteile einen wesenhaften Bezug zu einem lebendigen Intellekt, und auch zum menschlichen Geist, besitzen. Im Lichte dieser in einer inneren Spannung zu einander stehenden Ergebnissen einer Analyse der Wahrheit verteidige ich die paradoxe Tatsache, daß Bedeutungs-
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einheiten trotz ihrer evidenten Unabhängigkeit vom menschlichen Denken wesenhaft auf Intellekt zugeordnet sind. Ja der Intellekt scheint in der Tat Bedeutungseinheiten, wenn auch keineswegs willkürlich, denkend als Medien, in denen das Denken sich ausdrückt, hervorzubringen. Im Begriff oder Urteil versucht der Mensch, das von ihm erkannte objektive Wesen und objektive Sachverhalte auszudrücken. Selbst die Urteile über Wesensnotwendigkeiten besitzen also nicht jene absolute Geistunabhängigkeit der gemeinten Wesensnotwendigkeiten selbst. Begriffe und Bedeutungseinheiten haben wesenhaft den Charakter von Instrumenten und Medien von Akten des Meinens und, gänzlich von diesen losgelöst, verlieren sie ihren aktuellen und ihnen doch wesenhaft eingeschriebenen Bezug auf einen lebendigen bewußten Geist. Die Urteile besitzen somit einen gleichsam gedoppelten Charakter: einerseits gehen sie in das richtige Denken alles vernünftigen, Logos verstehenden Geistes als dessen Inhalte ein, andererseits können sie, schon auf Grund ihrer Unendlichkeit und Fülle, aber auch auf Grund ihrer weiteren Vollkommenheiten, unmöglich von menschlichen Denkakten produziert werden. Die Auflösung dieses Paradoxes stellt eben die Grundlage des sogenannten Veritas-Arguments für die Existenz eines absoluten realen Geistes dar, worauf wir auch im nächsten Kapitel zurückkommen werden. 5. Vom Wert der Wahrheit: ein weiteres axiologisches Argument für den unvergleichlichen ontischen Status der Urteilswahrheit gegenüber jenem der Falschheit Authentische ideale Existenz hängt eng mit der axiologischen Dimension zusammen. Nur seine Wahrheit und der Wert seiner Wahrheit kann ein Urteil im Reich des Seins und des Idealen ‚inthronisieren‘. Diese Aspekte der Wahrheit – ihren Wert und ihre Schönheit – kann die formale Logik als solche nicht erkennen, sondern sie verlangen eine Wertlehre der Wahrheit, um analysiert und erkannt zu werden. Wenn wir die Wahrheit des Urteils unter dem Gesichtspunkt ihres
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 453 Wertes betrachten, so können wir zunächst dreierlei meinen:532 einmal kann ein wahres oder falsches Urteil rein subjektiv angenehm oder unangenehm sein, es kann unsere Ohren kitzeln oder uns subjektiv mißfallen. Davon hebt sich scharf der objektive Wertcharakter der Wahrheit ab, der niemals falschen Urteilen, sondern nur wahren zukommen kann. Innerhalb dieses objektiven Wertcharakters können wir noch einmal den Wert an sich meinen, der der Wahrheit rein als solcher zukommt, und diesen von ihrem Charakter als einem objektiven Gut für eine Person unterscheiden. Die Wahrheit kann aus ganz verschiedenen Gründen ein objektives Gut für die Person darstellen: Der erste und elementarste Grund ist einfach der, daß die Erkenntnis und das Urteilen der Wahrheit uns in Kontakt mit der Wirklichkeit bringt, was sogar dann ein Gut für uns darstellt, wenn der Inhalt dieser Wahrheit ganz traurig ist. Zweitens kann die Wahrheit eines Urteils, wenn wir sie erkennen und urteilen, ein Gut für uns sein, weil sie unser Erkenntnisstreben erfüllt, was in ganz neuem Sinn auf bedeutungsvolle, ‚schöne‘ Wahrheiten zutrifft. Wahrheit kann auch ein objektives Gut für uns darstellen, weil ihre Erkenntnis und Anerkenntnis uns praktische Vorteile bringt, die von kleinen unbedeutenden Vorteilen über große, wie daß sie unser Leben retten, uns Glück vermitteln kann, bis hin zu ihrer Heilsbedeutung reichen kann. Die Wahrheit kann aber auch aus ganz verschiedenen Gründen in sich selber wertvoll und schön sein: Einmal hat sie schon als Wahrheit, kraft ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, mit den tatsächlich bestehenden Sachverhalten, einen Wert gegenüber allen falschen Urteilen. Sodann hat ihre Erkenntnis einen hohen Wert gegenüber allem Abgeschnittensein von der Realität durch Unwissenheit, Irrtum oder Illusion. Ferner hat die Wahrheit einen umso höheren Wert, je höher, wertvoller und bedeutungsvoller das Sein ist, auf das sie sich bezieht. Der Wert der 532
Ich beziehe mich hier auf die Unterscheidung dreier Arten von positiver Bedeutsamkeit in Dietrich von Hildebrands Ethik.
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Wahrheit über die Funktionen einer Küchenmaschine ist unvergleichlich mit dem Wert der Wahrheit über die letzten und höchsten Dinge. Aus der Einsicht in den Wert der Wahrheit in dem genannten mehrfachen Sinne aber ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Beziehung zwischen Urteil und personaler Wirklichkeit und zeigt sich der gewaltige Unterschied erst richtig, der zwischen Wahrheit und Falschheit hinsichtlich ihres Verhältnisses zu personalen Akten besteht. Vor allem sollen, wie bereits im Kontext unserer Antwort auf Einwände erwähnt, zeitlose Falschheiten nicht dieselbe Verankerung in der Realität personaler Urteilsakte besitzen wie zeitlose Wahrheiten. Die tiefste Seinsdimension ist ja die axiologische, und schon deshalb besitzt die Wahrheit einen völlig anderen ontischen Status und gehört zum eigentlich Seienden, während die zeitlosen Falschheiten von der eigentlichsten Seinsdimension, dem Guten und Wertvollen, gleichsam ausgeschlossen werden in dem Sinne, daß sie als Urteilsinhalte realer Urteilsakte ausgeschlossen sein sollten und, wenn sie Urteilsinhalte realer Urteilsakte werden, dies nicht sein sollten.533 Selbst wenn auch Falschheiten ideale Existenz besitzen, besteht also ein entscheidender Unterschied zwischen ihnen und der Wahrheit, indem niemand sie in seinem Urteil behaupten sollte, im Falle der Wahrheit hingegen eine metaphysische axiologisch fundierte Forderung besteht, daß sie auch in tatsächlichen Urteilsakten geurteilt werden sollte. Der Wert als innerste Rechtfertigung des Seins, als tiefste raison d’être, die nur das Wertvolle besitzt, unterscheidet daher die Wahrheit radikal von der Falschheit. Falsche Urteile entbehren aber nicht nur der Sublimität und des Wertes der Wahrheit sowie der im Wert der Wahrheit gründenden raison d’être im Sinne ihrer in sich ruhenden positiven Bedeutsamkeit, sie besitzen auch, neben dem Unwert der Falschheit selbst, alle möglichen weiteren Unwerte, wie Widersprüchlichkeit, Abwegigkeit, Obskurität, Unklarheit, Absurdität, usf. 533
Vgl. zu den drei Seinsdimensionen Josef Seifert, „Die verschiedenen Bedeutungen von ‚Sein‘– Dietrich von Hildebrand als Metaphysiker und Martin Heideggers Vorwurf der Seinsvergessenheit“, in: Balduin Schwarz, hrsg., Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: Habbel, 1970), S. 301-332.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 455 Doch besitzen falsche Urteile diese negativen Qualitäten nicht als rein mögliche falsche Urteile, die in ihrer ‚rein idealen Falschheit‘ ja auch Gegenstand der Wahrheit sind und als solche ein gewisse ‚zeitlose Existenz‘ haben, die mehr zur Wahrheit als zur Falschheit als solcher gehört, sondern gerade erst als real geurteilte besitzen sie diese Unwerte aktuell. Auch falsche Urteile also besitzen eine ideale Existenz rein logischer Bedeutungseinheiten, aber eine, die wegen ihres Unwertes nicht in die reale Welt personaler Akte des Urteilens eingehen sollte. Daher stehen die zeitlosen Falschheiten auf einer ganz anderen Stufe im Sein und beinhalten eine total andere ontologische Situation und Beziehung zur Person als die Wahrheit: nicht die eines Geurteiltwerdensollens, sondern vielmehr eine, die ihr reales Geurteiltwerden unwertig macht. 6. Der Einwand, unsere These der trotz ihrer idealen Existenz bestehenden Einbettung der Urteilswahrheit in die wirkliche Welt personaler Akte stelle einen Rückfall in einen überholten Platonismus, in den Psychologismus oder sogar eine unüberzeugende Mischung beider dar – Guter und schlechter Platonismus sowie sechs verschiedene Bedeutungen von Psychologismus Gegen die Auffassung, die Wahrheit setze eine Welt idealer Bedeutungseinheiten voraus, zugleich aber seien die Wahrheit und die sie tragenden Urteile trotz ihrer idealen Existenz als Träger der Urteilswahrheit wesenhaft auf personale Existenz bezogen, könnte man einen von zwei weiteren Einwänden erheben: entweder den, unsere These der ‚idealen Existenz der Urteilswahrheit‘ stelle einen überholten Platonismus dar, oder den umgekehrten, unsere Auffassung der Einbettung idealer Bedeutungseinheiten und Sätze an sich in reale Urteilsakte als deren Inhalte in die wirkliche Welt bedeute einen Rückfall in einen Psychologismus. Husserl schon habe diese beiden Irrtümer überwunden und sie seien von der Geschichte der Philosophie längst ad acta gelegt worden. Wir jagten einerseits der für immer verlorenen wilden Orchidee platonischer Philosophie nach, andererseits aber fielen wir in einen reinen Psycholo-
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KAPITEL 4
gismus zurück.534 Was den Einwurf des Platonismus betrifft, so sehe ich, wie aus dem Gesagten deutlich ist, einerseits darin, ideale und dem menschlichen Geist transzendente eide und auch ideale Bedeutungseinheiten anzuerkennen, einen rein positiven Platonismus, der schlicht den Tatsachen entspricht, deren Entdeckung einer der größten Beiträge zur Philosophie darstellt, worauf ich vielfach eingegangen bin.535 Andererseits ist der ganze Gedankengang dieses Kapitels darauf gerichtet, den wahren Platonismus, daß es nämlich zeitlose Wesenheiten und Wahrheiten und eine rein wesensmäßig vollkommenere ideale Welt gibt als unsere endliche reale, mit einem Personalismus und Realismus, und dadurch mit einer Kritik des falschen Platonismus zu verbinden, der die andersartige immense Überlegenheit der realen Welt und vor allem des wahren, eigentlichen Seins, der Person verkennt und von Personen losgelöste Ideen und impersonale ideale Gegenstände über Personen stellt.536 Zum Einwand des „Rückfalls in den Psychologismus“ möchte ich diesen strikt zurückweisen, aber dabei sechs verschiedene Bedeutungen von „Psychologismus“ unterscheiden: 1. Psychologismus kann die falsche und reduktionistische Meinung bezeichnen, objektive Erzeugnisse des Geistes wie Gedanken und Kunstwerke oder ideale Wesenheiten und Gegenstände wie eide und mathematische Objekte oder logische Bedeutungseinheiten, oder auch nicht greifbare Entitäten wie Rechte und Ansprüche, die dem Adressaten von Versprechen oder einem Vertragspartner mit dem Vertragsschluß 534
535
536
Vgl. Jürgen Habermas, „Wahrheit und Rechtfertigung, Zu Richard Rortys pragmatischer Wende“, ursprünglich in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 44, 1996, 715-741 erschienen, wiederabdruck in Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999), S. 230-270. Vgl. Josef Seifert: Erkenntnis objektiver Wahrheit2, 3. Teil,. „Wahrer und falscher Platonismus“; Ritornare a Platone; Sein und Wesen, Kap. 1; “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, S. 407-424. Vgl. dazu Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 9, sowie ders., “Essere Persona Come Perfezione Pura. Il Beato Duns Scoto e una nuova metafisica personalistica,” S. 57-75.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 457 erwachsen, seien nur psychische Akte oder Gefühle, ja sogar moralische Werte seien nichts als Gefühle und psychische Inhalte. Es gäbe nur, wie Franz Brentano meint, reale materielle Gegenstände und psychische Akte oder psychologische Gegebenheiten. Geistiges und nicht-Psychisches, Irrealia, mögliche Welten, und vor allem ideale Wesenheiten und Bedeutungen, aber auch objektive Werte realer Dinge, die weder physisch noch psychisch sind, gäbe es nicht bzw. wären auf psychische Erlebnisse zurückführbar. Husserls, Reinachs, Pfänders, Ingardens, Schelers u.a. Kritik richtet sich gegen diesen Brentano’schen Psychologismus und zeigt, daß objektive Urteile nicht psychische Akte des Urteilens, literarische Kunstwerke nicht Akte des Dichters oder Lesers, Rechte und Verbindlichkeiten sowie Werte keine bloßen Gefühle oder deren intentionale Gegenstände sind, usf. In diesem Punkte finden wir sogar in dem radikal empiristischen Denken Sir Karl Poppers, in seiner Idee der „dritten Welt“, eine Überwindung des ersten Typus von Psychologismus, insofern er objektive geistige Gehalte wie die der Sprache und Kunst, die sich weder auf materielle Gegenstände noch auf psychische Akte oder Subjekte reduzieren lassen, anerkennt.537 Gegen einen solchen Psychologismus sind weite Teile des vorliegenden Buches geschrieben. 537
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen; Adolf Reinach, „Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes“, in: Reinach, Adolf, Sämtliche Werke. Texkritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917); hrsg.v. Karl Schuhmann Barry Smith (München und Wien: Philosophia Verlag, 1989), 141278; Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hg.), Logik4; Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik; Dietrich von Hildebrand, Die Idee der sittlichen Handlung, S. 126-251; 2. Abdruck ebd. 1930. Sonderdruck ebd. 1930. 126 S. Reprint Vols. 1-2 (1913-1916) 1989 - Bad Feilnbach 2: Schmidt Periodicals. 2. Auflage (unveränderter reprographischer Nachdruck, zusammen mit der Habilitationsschrift „Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis“ –, S. 1-126. Moritz Geiger, Die Bedeutung der Kunst. Zugänge zu einer materialen Wertästhetik. Gesammelte, as de Nachlass ergänzte Schriften, Ed. Klaus Berger and Wolfhart henckmann (Munch: Wilhelm Fink, 1976); The Significance of Art: A Phenomenological Approach to Aesthetics. Edited and translated by Klaus Berger. [Series: Current continental research; 402] (Washington, D.C.: Center for Advanced Research in Phenomenology & University Press of America, 1986); Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 3. Aufl., 1972.
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KAPITEL 4
2. Eine zweite und verwandte Form des Psychologismus ist die folgende: Logische Gesetze, die in den reinen Bedeutungseinheiten und Urteilsinhalten gründen und etwa die Verhältnisse ihrer Wahrheit und Falschheit oder die Folgerichtigkeit eines Schlusses beherrschen, werden auf psychologische Gesetze des Denkens reduziert. Damit wird ihre Natur radikal verfälscht: sie werden aus der objektiven logischen Sphäre in jene des Psychischen als dessen Gesetze versetzt, was ihrem Wesen so sehr widerstreitet, daß sie statt objektive und absolut notwendige logische Gesetze zu bleiben, welche wahr sind, nun bloße subjektive Denkgesetze darstellen, deren Notwendigkeit nicht mehr das Verhältnis logischer Entitäten angeht, sondern nur Notwendigkeiten, die unserem Denken entspringen und unsere subjektive Auffassung logischer Entitäten angehen. Wesenheiten und notwendige Wesensgesetze wie das Widerspruchsprinzip werden nun als Produkte des Denkens oder als rein psychologische Gesetze des Denkens eines und desselben Bewußtseins über Widersprüche, anstatt objektive Gesetze der logischen Welt der Bedeutungseinheiten und deren Wahrheit und Falschheit (als strikte notwendige und objektive logische Gesetze, welche die Wahrheit und Falschheit von Urteilen und die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Schlüssen betreffen) zu bleiben. Dieser Psychologismus und der aus ihm und der dritten mit diesem Ausdruck bezeichneten Auffassung folgende Skeptizismus und Relativismus ist in besonderer Weise Gegenstand des Kampfes Husserls in Logische Untersuchungen ebenso wie des unsrigen.538 3. In einer dritten Bedeutung von Psychologismus werden logische Gesetze in noch radikalerer Weise umgedeutet: Statt wenigstens als transzendentale und apriorische subjektive Denkgesetze anerkannt zu werden, werden sie nun nicht einmal mehr als objektive und wesensnotwendige Gesetze des Psychischen aufgefaßt, wie daß jedes Denken einen intentionalen Gegenstand haben muß, sondern vielmehr nur als empirische Gesetze des Denkens, von denen psychisch oder soziologisch bedingte Ausnahmen oder Abweichungen durchaus möglich wären. Während es nämlich auch apriorische Gesetze über reale psychische Akte gibt, werden logische Gesetze in dieser dritten Form des Psychologismus nicht mehr als solche verstanden, sondern nur noch als empirische und induktiv gewon538
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Band I.
Das ewige und vollkommene Sein der Urteilswahrheit und die Person 459 nene Verallgemeinerungen psychischer Denkgesetze angesehen. (Husserl betrachtet irrtümlicherweise diesen Irrtum und diese dritte Form des Psychologismus als eine notwendige Konsequenz der ersten beiden, so als wären alle Realwissenschaften vom Psychischen empirische Wissenschaften und als wäre Psychologie eine ausschließlich empirische Wissenschaft und gebe es in ihr nicht „reine“ und wesensgesetzliche Teile.) 4. In einem vierten Sinne könnte man von einem Psychologismus, von dem auch Alexander Pfänders Logik nicht ganz frei ist,539 dort reden, wo man die Bedeutungseinheiten und logischen Gebilde sowie Urteil nur als objektive Gedanken und damit als Produkte menschlicher psychischer Akte ansieht und nicht (neben manchen Bedeutungseinheiten wie konfusen Wortbedeutungen und verworrenen Gedanken, welche durchaus Produkte menschlicher Denkakte sind) auch rein ideale Bedeutungseinheiten anerkennt, die in ihrer Zeitlosigkeit, Unendlichkeit und Vollkommenheit nicht von menschlichen Denkakten hervorgebracht werden können. In diesem vierten Sinne ist auch Poppers Lehre von der Welt 3 ein Psychologismus, da er alle ihre „Bewohner“ als Produkte menschlichen Denkens ansieht. Die Leugnung idealer Bedeutungseinheiten als Wahrheitsträger und damit diese vierte Form des Psychologismus haben wir durch die Argumente dieses Kapitels zu widerlegen versucht. 5. Manche Autoren verwechseln eine personalistische Metaphysik logischer Gebilde und Wahrheitsträger mit einem Psychologismus, was eine vollkommen unpassende Bezeichnung der Position ist, daß auch ideale Bedeutungseinheiten ein notwendiges Band zum Intellekt haben, auf ihn zugeordnet sind, aus ihm metaphysische hervorgehen und nur von ihm real gedacht und verstanden werden können. Dies ist nicht Psychologismus, sondern eine personalistische Metaphysik, die eine reine isolierte ideale und „platonische“ Welt von idealen Bedeutungen und Sätzen an sich, welche ohne jeden Bezug auf Personen in sich bestehen, ablehnt. Gegen eine solche radikal-platonische Auffassung reiner „Sätze an sich“, welche total von jedem Geist losgelöst wären, werden wir im folgenden Kapitel argumentieren und hier liegt die Quelle des augustinischen Veritas539
Vgl. Mariano Crespo, Einleitung zu: Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hrsg.), Logik4, S. VII-XXXIV.
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KAPITEL 4
Arguments für die Existenz Gottes aus der Unbestreitbarkeit der Existenz der Wahrheit. 7. Schluß-Ausblicke Damit berühren wir jedoch ein neues gewaltiges Thema, auf das wir im nächsten Kapitel eingehen werden: die Frage nach dem letzten metaphysischen Urgrund und den ersten Voraussetzungen des Seins und der Wahrheit; sowie das Problem, das Augustinus in seinem sogenannten Veritas-Beweis für die Existenz Gottes beantwortet hat und nach dem in Gott der Inbegriff aller ontologischen Wahrheit und höchsten Intelligibilität, aller Erkenntniswahrheit des klarsten und vollkommensten erkennenden Schauens aller Dinge und Sachverhalte, wie sie sind, und die höchste Urteilswahrheit zusammenfallen und ihre Vollendung erreichen. Wir sind aber – auch vor aller Beantwortung dieser Fragen – viel lieber bereit, zwei einander scheinbar widersprechende, doch sich eindeutig ausweisende Fakten unvermittelt stehen zu lassen und dennoch anzuerkennen, als eine philosophische „Vermittlung“ oder Wegerklärung anzubieten, die einem Prokrustes-Bett gleicht, in dem allen unbequemen oder in ihrer letzten Einheit unverstandenen Wirklichkeiten „Kopf oder Fuß“ abgeschnitten wird um einer verkürzten Einheit eines Systems willen, das entscheidenden Fakten nicht Rechnung trägt. Wie unser Ergebnis der idealen vollkommenen Begriffe und Urteile als letzte Träger der Urteilswahrheit selbst mit der notwendigen Persongebundenheit bzw. metaphysischen Zuordnung zwischen Begriffen, Urteilen und Wahrheit einerseits und Person andererseits zu versöhnen ist, werden wir im folgenden Kapitel wenigstens kurz zu beantworten suchen.
KAPITEL 5 „ICH BIN DIE WAHRHEIT“ – IST DIE WAHRHEIT PERSON? Auch wenn wir bereits auf die vielfältigen Beziehungen zwischen Wahrheit und Person hingewiesen haben, genügt keine der bisherigen Erörterungen, um jene umwerfende Aussage: „Ich bin die Wahrheit“ zu verstehen, die Jesus im Evangelium gegenüber Thomas macht und die, obwohl sie sich in erster Linie an den Glauben wendet, auch der Metaphysik und Religionsphilosophie immense Probleme aufgibt: „Jesus sagte zu ihm540, ‚Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.‘“ (Joh. 14:6) Diese aus einem menschlichen Mund kommende Aussage scheint nicht nur zu besagen, es könne eine Person, sondern es könne ein Mensch die Wahrheit und also jene umfassende, immense Wahrheit sein, welche nicht nur alle Seinswahrheit und alle Erkenntniswahrheit, sondern auch all jene Wahrheit umfaßt, welche sämtliche wahren Urteile über die wirkliche und alle möglichen Welten, sowie über alle Unmöglichkeiten und alles Nichtseiende und alles Dumme und Böse, wahr macht und außerdem alle übrigen Modi und Dimensionen vollkommener Wahrheit des Lebens, des Guten und des Schönen einschließt. In dem Satz „Ich bin die Wahrheit“ stecken vor allem zwei frappierende Aussagen, von denen die zweite unbegreiflich ist und die erste nicht bloß unbegreiflich, sondern skandalös zu sein scheint: (1) daß hier ein Mensch von sich sagt, er sei die Wahrheit, wird von den jüdischen Gesprächspartnern Jesu verständlicherweise als schockierend und als ein Ärgernis empfunden;541 und (2) daß hier überhaupt die Wahrheit selber als Person aufgefaßt wird, während die Urteilswahrheit doch eine Eigenschaft rein idealer logischer Bedeutungseinheiten ist und nicht mit einer Person oder deren Akten identisch sein zu können scheint, ist unbegreiflich. Wie soll eine Person die 540
541
Zu Thomas, dem, weil er erst an die Auferstehung glaubte, als er selber seine Finger und Hand in die Wundmale des Auferstandenen legte, der „ungläubige Thomas“ genannten Apostel. Dies würde ebenso gelten, wenn überhaupt eine endliche Person, also auch ein Engel, dies von sich sagte.
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KAPITEL 5
Wahrheit sein können, wenn wir nicht in die Irrtümer des Psychologismus fallen und den Akt des Urteilens mit dem objektiven Urteilsinhalt, der Wahrheitsträger ist, verwechseln? Wir wenden uns vorab der ersten Unbegreiflichkeit und dem Grund für das durch die erste These veranlaßte Ärgernis zu. 1. Ein Mensch als die Wahrheit ? – Ein grotesker und blasphemischer Anspruch Die Behauptung, ein bloßer Mensch sei die Wahrheit, ist nicht nur unbegreiflich, sondern erregt Anstoß; sie ist entweder blasphemisch oder wahnsinnig. Denn die Wahrheit selber ist von allen endlichen Personen wesensverschieden und sogar ihre volle Erkenntnis ist diesen unmöglich, weil die unendliche Fülle der Wahrheit ein vom menschlichen und jedem endlichen Geist absolut unaustrinkbares Licht und ihm gegenüber ewig transzendent ist. Im Sinne dieser unendlichen Transzendenz der Urteilswahrheit hat es schlechthin keinen Sinn zu sagen, ein Mensch sei die Wahrheit. Welcher Mensch dürfte auch nur die Behauptung wagen, er erkenne die ganze Wahrheit aller wahren Urteile, geschweige denn daß er sagen dürfte, er sei diese allumfassende Wahrheit? Sicherlich kein bloßer Mensch, ohne eine absurd falsche Aussage zu machen. Er kann sie nicht einmal erkennen, und erst recht kann er sie nicht sein! Die rein logische Wahrheit der Übereinstimmung aller Begriffe mit den Wesenheiten der Dinge und aller urteilsmäßigen Bedeutungen der Sätze mit den diesen entsprechenden Sachverhalten ist zwar, selbst wenn sie umfangsmäßig unendlich ist, endlichen Personen in gewissem Sinne unterlegen, weil die Wahrheit, zumindest als rein logische Wahrheit der Urteile verstanden, keine Person ist und diese ein allem impersonalen Seienden gegenüber überlegenes Sein besitzt. Aber dennoch ist die Wahrheit aller unendlich vielen wahren Urteile jedem endlichen Geist in anderer Hinsicht unendlich überlegen, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, weshalb die Behauptung, ein Mensch sei die Wahrheit, Anlaß zu einem tiefen Ärgernis gibt. Erst recht wenn wir die ganz andersartige Erkenntniswahrheit und die
„Ich bin die Wahrheit“ – Ist die Wahrheit Person?
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ontologische Wahrheit im Auge haben, scheint es absolut absurd zu sein, wenn ein Mensch behauptet, er sei die Wahrheit – die Erkenntniswahrheit oder die ontologische Wahrheit. Welcher Mensch kann die Ungeheuerlichkeit begehen und sagen, er erkenne alles Sein und Wesen und besitze oder sei die volle Wahrheit der Erkenntnis, welche etwas absolut Unendliches, Ungeheures ist? Und dasselbe gilt erst recht von der ontologischen Wahrheit. Welcher Mensch, dessen Sein einen Anfang hat, der sterblich und zeitlich ist und dessen Dasein und Leben ständig über dem Abgrund des Nichts schwebt und von sich selbst her unerklärlich und unbegreiflich ist, dürfte der eigenen Person höchste denkbare Intelligibilität und Realität zusprechen und sich die (ontologische) Wahrheit des Seins oder das wahre Sein nennen? Und wie dürfte er, dessen Sein, wie Augustinus sagt, überhaupt nur ist, indem es sich ständig auf das Nichts hin zubewegt in dem Sinne, daß sein vergangenes Leben nicht mehr und sein künftiges noch nicht ist,542 sich dann die ontologische Wahrheit im Sinne der Fülle und höchsten Form realer Existenz zuschreiben, ohne bodenlosen und blasphemischen Unsinn zu reden? Und wenn wir an die dritte Grundbedeutung ontologischer Wahrheit denken, das Gute: welcher Mensch, der nicht unendlich vermessen wäre, dürfte sich die absolute Wahrheit des Gutseins zuschreiben, welche die höchste raison d’être in sich einschließt und dem Seienden verleiht? Wer dürfte sich in diesem Sinne die Wahrheit, und als solche auch das Gute selbst, nennen oder behaupten, daß er mit dem Guten Selber zusammenfiele und schlechthin unbegrenzt gut und deshalb der wahrhaft Seiende, und in diesem Sinne die Wahrheit, wäre?543 Weder im Sinne der logischen, noch in jenem der Erkenntniswahrheit noch in dem der ontologischen Wahrheit also darf sich ein Sterblicher vermessen zu sagen: „Ich bin die Wahrheit“, ohne eine Torheit und Unsinnigkeit von sich zu geben oder eine grauenvolle Blasphemie auszusprechen. Es sollte auch gar keiner Diskussion bedürfen, den Anspruch eines bloßen Menschen zurückzuweisen, der sich die Wahrheit nennt; man 542
543
Vgl. Augustinus, Confessiones, Buch XI. [[CCL 27 S. 203/19] Corpus Augustinianum Gissense a C. Mayer editum]. Christus sagt dasselbe im Evangelium Markus 10:18 (und Lukas 18:19): “Jesus aber sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als nur einer, Gott.“
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KAPITEL 5
braucht ihn nicht einmal zu prüfen. Denn eine solche Aussage könnte offensichtlich nur Gott von sich machen und selbst dann ist sie schwer begreiflich, wie wir sehen werden, aber wenn ein bloßer Mensch sie tut, können wir nur entsetzt zurückweichen und antworten: „wer ist wie Gott“? Das Gesagte ist auch keine besonders intelligente oder schwer zu gewinnende Feststellung. Im Gegenteil: es wird jeder denkende Mensch es für absurd, Zeichen des Wahnsinns oder für blasphemisch halten, wenn ein Mensch sich die Wahrheit nennt und für Gott erklärt. Es herrscht zwar unter Menschen eine wahrhafte Sucht, sich selbst in der einen oder anderen Form für Gott zu halten oder sich für mit Gott identisch zu erklären, doch sich höchst persönlich als die Wahrheit und damit als den Gott zu bezeichnen, kommt kaum vor. Selbst als die Kaiser des römischen Reiches und andere Machthaber sich zu Göttern erklärten und ausrufen ließen und jene, die ihre Gottheit leugneten, hinrichten oder ermorden ließen, meinten sie nur, sie seien ein Gott auf Erden unter anderen, nicht aber sie seien Zeus oder gar Gott schlechthin, der einzige Gott, wie dies der Ausdruck ‚Ich bin die Wahrheit‘ impliziert, und deshalb wagten sie es auch niemals zu behaupten, sie seien die Wahrheit. Es gab wohl niemals jemand anderen außer Jesus Christus, der von sich sagte, „Ich bin die Wahrheit“, und damit „Ich bin Gott“, mit der wahrscheinlich einzigen Ausnahme des islamischen Mystikers Husain ibn Mansur Hallâjs aus dem 9. und 10. Jahrhundert (858 – 922),544 der in grausamster Weise hingerichtet wurde und als größter Sufi-Märtyrer gilt,545 544
545
Sein Ausspruch anâ'l-haqq, „Ich bin die Absolute Wahrheit“ ist das Motto der Vertreter der Einheitsmystik und von der islamischen Orthodoxie kritisiert worden. Verschiedene seiner Auffassungen führten zu seiner Einkerkerung 913 und grausamen Hinrichtung 922. Fariduddin 'Attar gibt die folgende Beschreibung von der Hinrichtung: Sie sahen viele Wunder, die er bewirkte. Geschwätz ging um, und seine Reden wurden dem Kalifen hinterbracht. Schließlich war man sich darüber einig, daß er sterben müsse. Der Kalif ließ ihn ins Gefängnis werfen. Sie schlugen ihn dreihundert Mal mit Stöcken. Dann führten sie ihn hinaus zur Hinrichtung. Als sie ihn zum Galgen gebracht hatten, küßte er das Holz und setzte seinen Fuß auf die Leiter. „Wie fühlst du dich?“ verspotteten sie ihn. „Der Aufstieg wahrer Menschen führt zur Spitze des Galgens“ antwortete er. Er wandte sich gegen Mekka, erhob die Hände und betete. Dann hieben sie ihm die Hände ab. Er lachte.
„Ich bin die Wahrheit“ – Ist die Wahrheit Person?
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der aber im Übrigen diese Aussage nicht buchstäblich gemeint haben kann, da er andere diametral entgegengesetzte Aussagen gemacht hat.546 Jedenfalls ist Jesus der einzige Mensch, dessen Aussage „Ich bin die Wahrheit“ durch zwei Jahrtausende von zahllosen Menschen ernst genommen wurde. Und dies, obwohl ein Mensch, der von sich sagt, „Ich bin die Wahrheit“, etwas sagt, was ein ungeheuerliches Ärgernis oder eine immense Torheit zu sein scheint, sodaß wir die im Zusammenhang mit der Kreuzigung ausgesprochenen Worte des Apostels Paulus auch hier anwenden können: „…den Juden ein Ärgernis, … den Heiden eine Torheit.“547 Wir stehen hier vor einem Ur-Paradox oder, wie der Christ glaubt, Geheimnis des Christentums, das daraus entspringt, daß es philosophisch evident ist, daß keine endliche Person jemals von sich sagen darf: „Ich bin die Wahrheit“ und daß wir deshalb niemals die Unsinnigkeit glauben dürfen, ein bloßer Mensch sei die Wahrheit, weshalb wir diese Worte Sie hackten seine Füße ab. Er sagte lächelnd: „Mit diesen Füßen machte ich eine Reise auf Erden. Ich habe andere Füße, die jetzt durch beide Welten wandern. Wenn ihr könnt, hackt diese Füße ab!“ Dann rieb er mit seinen blutigen Armstümpfen über sein Gesicht, so dass Arme und Gesicht blutig wurden. „Warum hast du das getan?“ fragten sie ihn. „Ich habe viel Blut verloren und glaube, dass mein Gesicht blaß geworden ist. Ihr denkt, meine Blässe kommt aus Angst. Ich habe Blut auf mein Gesicht gewischt, damit ich in euren Augen rote Backen habe.“ Dann stach man ihm die Augen aus. Dann wollte man seine Zunge abschneiden. „Wartet noch ein wenig, gebt mir noch Zeit für ein Wort“ bat er dringend. „O Gott“, schrie er gen Himmel, „verstoße sie nicht wegen der Leiden, die sie mir um Deinetwillen antun, noch entziehe ihnen die Glückseligkeit. Gelobt sei Gott, denn sie haben meine Füße abgehackt, als ich auf dem Wege zu Dir war. Und wenn sie mir den Kopf abschlagen, so haben sie mich doch auf die Höhe des Galgens gebracht, wo ich Deine Majestät betrachte.“ Dann schnitten sie ihm Nase und Ohren ab. Die letzten Worte, die Halladsch sprach, waren: „Die Liebe zu dem Einen führt zur Einswerdung mit Ihm“. Nach diesen Worten schnitten sie seine Zunge ab. Zur Zeit des Abendgebetes schnitten sie seinen Kopf ab. Er lächelte, als sie das taten. So starb Halladsch.
546
547
Vgl. Annemarie Schimmel, Al-Halladsch – Oh Leute, rettet mich vor Gott (Freiburg: Herder, 1985; 21995). „Die Behauptung, Ihn zu kennen, ist Unwissenheit; … Disputation über Seine Attribute ist Verwirrung; …“ Siehe Annemarie Schimmel, Gärten der Erkenntnis. Das Buch der vierzig Sufi-Meister, (München: Diederichs, 1991). Röm. 1:23.
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KAPITEL 5
Christi „Ich bin die Wahrheit“ nur dann glauben dürfen und sie, objektiv gesprochen, nur dann kein Ärgernis darstellen, wenn derjenige, der sie spricht, wahrhaftig Gott (und Mensch) ist. Dennoch gibt es Philosophen, welche von diesen Worten Jesu fasziniert waren, obwohl sie nicht an seine Gottheit glaubten, sondern ihn als reinen Menschen betrachteten. Wie ist dies zu erklären außer durch ein Fehlen des Sinnes für die von Kiekegaard so scharf herausgearbeitete Ungeheuerlichkeit des Geheimnisses und Paradoxes, die in diesem Anspruch Jesu liegt, Gott und die Wahrheit zu sein? Vielleicht auf folgende Weise: jemand kann durch die Aussage einer Person, sie sei die Wahrheit, angesprochen werden, weil in der Tat wichtige Dimensionen der Wahrheit, wie jene der Erkenntnis, ausschließlich in Personen wirklich sind und es deshalb auf etwas in uns trifft, wenn eine Person von sich erklärt, sie sei die Wahrheit. Indem sie dies sagt, spricht sie der Wahrheit, die sonst eine abstrakte Unendlichkeit zu sein scheint, ein personales Antlitz zu, was uns in gewisser Weise als tief und wahr berührt. Und dennoch ist es uns aus dem eben erwähnten Grunde niemals erlaubt, von einem Menschen zu sagen, er sei die Wahrheit, oder gar er sei die Wahrheit. Das Paradox in den Worten „ich bin die Wahrheit“, aus dem Munde eines Menschen gesprochen, läßt sich ausschließlich dann lösen, und die christliche Religion, deren Gründer und unsichtbares Haupt dies von sich sagte, ist ausschließlich dann nicht absurd, wenn derjenige, der dieses Wort ausspricht, eben nicht ein bloßer Mensch war, sondern Gott IST. Ausschließlich Gott, die absolute Person, und niemals eine endliche Person, darf, so unbegreiflich auch dies für unseren begrenzten Verstand bleibt, von sich sagen, sie sei die Wahrheit. Wenn wir daher diese Aussage Jesu Christi als sinnvolle Aussage betrachten oder sogar glauben, daß Jesus Christus die Wahrheit ist, dann dürfen wir dies ausschließlich dann tun, anstatt mit den Juden oder Muslimen einen solchen maßlosen Anspruch des Menschen Jesus mit Entsetzen abzulehnen, wenn wir an seine wahre Gottheit glauben. Denn zu sagen „Ich bin die Wahrheit“, wie auch zu sagen: „Ich bin das Leben“ oder „Bevor Abraham ward, BIN ICH“, ist nichts anderes als zu sagen: „Ich bin wahrhaft Gott“.548 548
Zu sagen „Ich bin der Weg“ könnte vielleicht noch ein großer Prophet, wenn auch
„Ich bin die Wahrheit“ – Ist die Wahrheit Person?
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Nur wenn also Jesus nicht ausschließlich Mensch, sondern zugleich auch Gott ist, kann der Satz „Ich bin die Wahrheit“ sinnvoll und wahr sein; ein bloßer Mensch hingegen dürfte diesen Satz niemals aussprechen, ohne entweder toll zu sein oder aber dämonischerweise sich selber zu Gott zu erheben. Die Aussage, „Ich bin die Wahrheit“, aus dem Mund Jesu kommend, sollte daher ein unüberwindliches Ärgernis für jeden sein, der nicht glaubt, daß Jesus Gott und Mensch ist und der weiß, was wir mit Wahrheit und was wir mit Gott meinen, und … der nicht wahnsinnig ist. Deshalb sollte jeder, der Jesus als einen bloßen Menschen betrachtet, selbst wenn er ihn für den vollkommensten, weisesten und wissensreichsten Menschen hält, den Satz „Ich bin die Wahrheit“, oder gar den „bevor Abraham ward, BIN ich“ nicht nur für falsch halten, sondern mit den Juden, zu denen Jesus sprach, oder mit dem Koran als absurd und blasphemisch verwerfen.549 Dies mit aller Deutlichkeit herausgestellt zu haben, ist eines der unvergänglichen Verdienste Soeren Kierkegaards.550 2. Kann überhaupt eine Person, selbst eine göttliche, die (Urteils)Wahrheit sein? Doch selbst dann wenn derjenige, der von sich sagt, „Ich bin die Wahrheit“, wirklich zugleich Gott ist, der eine menschliche Natur nur angenommen hat, aber von Natur aus und von Ewigkeit zu Ewigkeit der unendliche, ewige und allwissende Gott ist, ist diese zentrale Aussage schwer verständlich. Ist nicht Wahrheit, jedenfalls jene der Aussage, des Urteils(inhalts), wesenhaft eine unendliche, aber rein ideale logische Entität, die niemals mit einer Person (selbst nicht mit der unendlichen,
549
niemals im selben absoluten und exklusiven Sinne, von sich sagen, niemals aber „Ich bin die Wahrheit“ oder „Ich bin das Leben“. Joh. 8: 58- 59: 58: Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham war, BIN ICH. 59 Da hoben sie Steine auf, um auf ihn zu werfen. Jesus aber verbarg sich und ging aus dem Tempel hinaus.
550
Vgl. vor allem Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, zit.; und Das Buch Adler, in: S. Kierkegaard, Einübung im Christentum und anderes, hrsg. W. Rest (Köln und Olten: J. Hegner, 1951), S. 393-652.
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KAPITEL 5
göttlichen)551 zusammenfallen kann, sondern eher, wie Platon nach Ansicht der meisten Interpreten von den Ideen (den ewigen Wesensformen) glaubte, über dem göttlichen „Vater und Schöpfer des Alls“ stehen muß?552 Und ist es ferner nicht evidentermaßen unhaltbar, insbesondere die allumfassende Urteilswahrheit, die unendlich vielen wahren Urteile über alles Seiende und Nichtseiende, mit einer göttlichen Person zu identifizieren? Wenn dies überhaupt Sinn ergibt, so jedenfalls nicht, wenn es in einer simplistischen Weise behauptet wird. Ebenso nämlich, wie Gott nicht einfach mit der Fülle aller Zahlen oder Primzahlen oder aller geometrischen Sätze der Euklidschen Geometrie identisch sein und zusammenfallen kann, kann er auch unmöglich einfach mit allen wahren Urteilen über alle Dinge inklusive aller mathematischen Gegenstände oder aller gemeinen menschlichen Handlungen, identifiziert werden. Doch ist nicht trotzdem in anderer Hinsicht eine „reine“, von jeder Person „losgelöste Wahrheit“ als unendliche Fülle wahrer Sätze, ähnlich wie Ideen und mögliche Welten, die keine Personen sind, eine metaphysische Merkwürdigkeit und Unmöglichkeit und wären überdies wahrhaftig der lebendig ihr Sein vollziehenden Person unendlich unterlegen? Und 551 552
Insbesondere wenn es drei göttliche Personen gibt. Vgl. Platon, Timaios 28 c: Das Werdende, sagten wir dann ferner, müsse notwendig durch irgendeine Ursache werden. Den Schöpfer und Vater dieses Alls nun freilich ist es schwierig zu finden, und wenn man ihn gefunden hat, unmöglich, sich für alle verständlich über ihn auszusprechen;
Von diesem göttlichen Urheber der Welt aber sagt er, er blicke auf die ewigen Ideen, mit der Implikation, daß sie über ihm stehen, wie die meisten Interpreten meinen: ótou mån oÜn Àn äo dhmiourgòV pròV tò katà taütà Écðon blæpwn Âeí, toioútœ tin˜ proscðrõmenoV paradeígmati, t#n Îdæan ka˜ dýnamin aütoû Âpergázhtai, kalòn Êx Âná+khV oútwV Âpoteleîsjðai pân: /o@ d) Àn eÎV gegonóV, gennhtÖ paradeígmati proscðrõmenoV, oü kalón.
Zu einer gegenteiligen Auffassung, daß nämlich die Idee des Guten und damit auch die Wahrheit selber bei Platon mit Gott zusammenfallen, vgl., neben den klassischen Werken Zellers, etwa E. Zeller, Die Philosophie der Griechen, I, 25, S. 709-718, bes. S. 712, Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, S. 407-424.
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kommt uns nicht gerade deshalb, angesichts der Tatsache, daß die Person allein das wahrste Sein ist,553 der Satz „Ich bin die Wahrheit“, aus dem Munde einer Person gesprochen, doch sinnvoll vor? Und überzeugt uns das Personsein der Wahrheit nicht noch mehr, wenn wir nicht an die Urteilswahrheit, sondern an die Erkenntniswahrheit, die allein in der Person wirklich sein, oder an die ontologische Wahrheit denken, die sich erst in dem personalen als dem wahrsten Sein erfüllen kann? Gibt es also nicht vielleicht doch einen tiefen und wahren Sinn, in dem ausschließlich ein unendliches personales Seiendes, eine Person und ihre Akte, nicht eine unendliche Menge von Aussagen oder irgendetwas anderes, die Wahrheit sein kann? Unsere bisherigen Überlegungen scheinen auf folgende Ergebnisse hinauszulaufen, die, wie wir sehen werden, von dem bedeutenden französischen Phänomenologen Henry heftig bestritten werden: (1) Kein bloßer Mensch darf von sich sagen, er sei die Wahrheit. (2) Von Gott allein kann gelten, daß er die Wahrheit ist, was wir auch philosophisch zu evidenter Erkenntnis zu bringen hoffen. (3) Die Aussage eines Menschen, er sei die Wahrheit, ergibt nur dann Sinn, wenn dieser Mensch zugleich Gott ist. (4) Wir können diese Aussage des Menschen Jesus nur im Glauben annehmen, weil es keine rein philosophische Einsicht in sie gibt, die uns sicher machen könnte, daß Jesus Christus wirklich Gott ist, so viele vernünftige Gründe jemand auch für diesen Glauben anführen und wirklich besitzen mag. Wir wollen diese Thesen im folgenden im Bereich der Erkenntniswahrheit, der ontologischen Wahrheit und der logischen Wahrheit prüfen. 3. Michel Henry’s rein spekulative, gnostische und pantheistische Interpretation des Satzes „Ich bin die Wahrheit“ Doch noch bevor wir uns eine eigene Auffassung darüber bilden und sie begründen werden, möchten wir uns kritisch dem bekannten Werk Michel 553
Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 9.
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Henrys Ich bin die Wahrheit zuwenden, der einen Versuch macht, eine rein philosophische Interpretation dieses Satzes „Ich bin die Wahrheit“ zu entwickeln, deren Inhalt den eben erwähnten und gleich noch zu erhärtenden Ergebnissen radikal widerspricht, wie wir leicht sehen können.554 Michel Henry ist Autor eines Buches, das in einer für ein philosophisches Werk des 20. Jahrhunderts (oder auch eines der letzten sechs Jahrhunderte) wohl nie dagewesenen Weise voll von Bibelzitaten ist, aber deren Sinn radikal ändert und sie in einer Weise säkularisiert, welche Hegels Säkularisierung des Christentums weit übertrifft, obwohl Henrys Werk in vielen Passagen tief christlich wirkt. Henry’s für unseren Zusammenhang relevante Position könnte man so zusammenfassen: (1) Jeder bloße Mensch sei Sohn Gottes und dürfe daher von sich sagen, er sei die Wahrheit. (2) Es gelte daher nicht von Gott allein, daß er die Wahrheit sei, sondern auch von uns, allerdings nur weil wir letztlich mit dem sich selbst zeugenden Leben selbst und mit Gott identisch seien. (3) die Aussage eines Menschen, er sei die Wahrheit, sei also für jeden Menschen wahr und weder wahnsinnig noch blasphemisch. (4) Diese Aussage des Menschen Jesus dürften wir nicht nur in einem religiösen Glauben an seine Gottheit annehmen (ansonsten sie ein Ärgernis wäre und wir Jesus als Blasphemiker ablehnen müßten), sondern es gäbe eine rein philosophische Einsicht in sie; ja jedes buchstäbliche Festhalten an Jesu alleiniger Gottheit (als des einzigen Gottmenschen, der von Ewigkeit her Gott ist und in der Zeit menschliche Natur angenommen hat und Mensch geworden ist) sei irrig, ja sogar von einem christlichen Standpunkt aus absurd. Wenden wir uns also zunächst dieser Auffassung, die sich als „christliche Philosophie“ ausgibt, aber in Wirklichkeit, trotz vieler tiefer und ergreifender Passagen in Henrys Werk über Liebe und die Werke der Barmherzigkeit sowie über christliche Ethik und Selbsthingabe,555 eine radikale – monistische und gnostische – Veränderung und Leugnung des Christentums und außerdem eine unhaltbare Metaphysik darstellt, kritisch 554 555
Vgl. Michel Henry, Ich bin die Wahrheit. Für eine Philosophie des Christentums. Vgl. etwa a.a.O., S. 240 ff.
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zu.556 3.1. Jeder bloße Mensch sei Sohn Gottes und dürfe daher von sich sagen, er sei die Wahrheit
Zunächst scheint der französische Phänomenologe Michel Henry ganz damit, daß ausschließlich Gott von sich sagen dürfe, Er sei die Wahrheit, übereinzustimmen, wenn er schreibt: Die Wahrheit des Christentums besteht darin, daß „Jener“, der sich Messias nannte, wirklich dieser Messias war: der Christus, der Sohn Gottes, geboren vor allen Zeiten; Träger des Ewigen Lebens in sich, das er jedem mitteilt, wie es ihm gut dünkt…557
Auch impliziert der Autor eine Adäquationstheorie der Wahrheit, wenn er des weiteren ausführt, daß sich die Texte des Evangeliums auf eine „andere Wirklichkeit als auf die des Textes selbst“ beziehen und daß die Heiligen Schriften nur wahr seien, wenn sich die „Taten und Handlungen Jesu trotz ihres außergewöhnlichen Charakters … wirklich ereignet haben.“558 Doch geht er bald zu einer Heidegger’schen Auffassung der Wahrheit559 über, und zwar interpretiert er diese als „in sich selbst und als solches betrachtetes sich Zeigen“, das dem sich Zeigenden gegenüber gleichgültig und „reines Erscheinen als solches“ sei, ja „im reinen Akt des sich Zeigens besteht“, und das von Michel Henry letzten Endes, ganz ähnlich wie das „Entdeckendsein des Daseins“ bei Heidegger, nicht als ein wirklich 556
557 558 559
Nach Fertigstellung dieses Kapitels wurde ich mit dem hervorragendsten mir bekannten zusamenfassenden und kritischen Artikel über Michel Henrys Werk vertraut, der die hier nur stichwortartig dargestellte Position Henrys synthetisch darstellt, in vieler Hinsicht würdigt, aber in ihren monistisch-pantheistischen Behauptungen, Widersprüchen und ihrer radikalen monistischen Veränderung der christlichen Lehre kritisiert: Markus Enders, „«Ich bin Die Wahrheit». Eine kritische Lektüre von Michel Henrys Philosophie des Christentums“, Archivio di Filosofia, 1, 2/2008, 335-356. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17-18. Auf diese werden wir erst im Zweiten Band des vorliegenden Werkes eingehen.
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entdeckendes rezeptives Verhalten des Subjekts, dem sich etwas objektiv Seiendes erschließt, sondern als Akt oder synthetische Tätigkeit eines Subjekts begriffen und ganz in die Nähe der „transzendentalen Einbildungskraft“ Kants gerückt wird.560 Allerdings sei dieser Akt des reinen sich Zeigens primär nicht jener des Entdeckendseins, sondern vielmehr jener der Selbstoffenbarung, der das Wesen des Lebens selbst sei. Das Leben, das Henry ins Zentrum seiner Philosophie rückt und dessen Unreduzierbarkeit auf das nicht Lebendige und Einschränkung auf untergeistige Formen des Lebens er mit Recht und teils blendend hervorhebt,561 sei auch nicht etwas, was vom sich selbst Offenbaren verschieden wäre und sich darin nur zeige, sondern es bestehe in nichts anderem als in diesem sich Zeigen.562 Und nicht nur sei Gott das Leben selbst (in seiner unendlichen Fülle), sondern es gelte auch die umgekehrte Gleichung: „das Wesen des Lebens ist Gott.“ Von dort aus gelangt der Autor zur Meinung, es gäbe nur ein einziges Leben, das er in einem transzendentalphilosophisch-pantheistischen Sinne deutet.563 Allerdings sei dieses Leben nicht im Sinne eines ungeistigen Dranges und Willens zu deuten, unter dessen Zeichen die großen Greuel des 20. Jahrhunderts begangen wurden, sondern eben als ein Leben, das zugleich Weg und Wahrheit sei.564 Dieses Leben sieht der Autor nicht, wie Heidegger, als etwas an, was sozusagen übrigbleibt, wenn man das Spezifisch Menschliche, Sprache und Geist, abgezogen habe, sondern als etwas, was größer sei als alle Lebendigen inklusive des Menschen, ja inklusive Gottes selbst, dem das Leben vorausgehe als das absolut sich selbst zeugende und absolute „phänomenologische Leben“, das eine Art impersonalen und vorpersonalen Lebensstrom bedeute, der sich selbst erzeuge und zugleich das Leben in allen Lebendigen ausmache.565 560 561 562 563 564 565
Ebd., S 25-30. A.a.O., S. 70. Ebd., S. 44. Ebd., S. 44, 54. Ebd., S. 74 f. Es ist für den Leser, der meine einschlägigen Schriften (vor allem Gott als Gottesbeweis2) kennt, unnötig zu sagen, daß ich dies alles für in sich unmöglich und ein reines philosophisch-theologisches Konstrukt halte.
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Dabei nenne das Christentum, wie Henry in seiner säkularisierendphilosophischen Deutung annimmt, das sich selbst erzeugende Leben Vater; was in diesem als Erst-Lebendigem gezeugt werde, Sohn. Es werde aber der Mensch gleichfalls im und aus dem Leben selbst als ein Mensch gezeugt. So sei der Mensch, sowohl im Sinne des Wesens des Christentums als auch in jenem einer „transzendentalen Phänomenologie“, zugleich Sohn Gottes.566 In bestimmten Anklängen an Husserl behauptet Henry, es gehe bei Mensch und Gott, sowie bei Christus und uns, um ein einziges Leben, um eine „transzendentale Geburt der transzendentalen Iche als ‚Mich‘“.567 Die hier zugrundegelegte Ontologie Henrys wirft zahlreiche (und m.E. von seiner Philosophie aus gesehen unlösbare) Probleme auf: Ist wirklich ein „sich Zeigen in Indifferenz zum Gezeigten“ das Wesen der Wahrheit oder gar jenes des Lebens? Kann sich nicht auch Nicht-Lebendiges zeigen, sodaß zwar zum Leben vielleicht eine besondere Art der Selbstoffenbarung gehört, aber das „sich Zeigen“ keineswegs ausschließlich im Leben zu finden ist und deshalb auch nicht das Wesen des Lebens, das viele andere Wesensmerkmale besitzt und überdies eine allem sich Zeigen zugrundeliegende, auf die Materie unreduzierbare Wirklichkeit oder Seele voraussetzt, ausmachen kann?568 Ist nicht ferner biologisches Leben vom geistigseelischen, und unendlich-göttliches vom menschlichen endlichen Leben evident verschieden und ihre Gleichsetzung hinsichtlich des Moments der „Selbstoffenbarung“ daher absolut unhaltbar? Ist ein Gott vorausgehendes und über ihm stehendes „transzendentales Leben“ nicht ein absolut unverständliches Konstrukt? Zwar beruft sich Henry auf die Phänomenologie, aber – was von der späteren Philosophie Husserls gilt, trifft noch ungleich mehr auf seine Philosophie zu: Etwas Unphänomenologischeres, von der Erfahrung und den in ihr gegebenen Wesenheiten und Sachen selbst Abweicherendes und Konstruierteres als diese spekulative Metaphysik läßt sich kaum denken.
566 567 568
Ebd., S. 75 ff. A.a.O., S. 159. Vgl. Josef Seifert, What is Life? On the Originality, Irreducibility and Value of Life.
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3.2. Es gelte daher nicht von Gott allein, daß er die Wahrheit sei, sondern auch von uns, allerdings nur weil wir letztlich mit Gott und dem einzig Absoluten, mit dem Leben selber, identisch seien
Mit erstaunlicher Unverblümtheit und, wenn man die Geschichte des Christentums und die klare Unterscheidung Gottes vom Menschen im Evangelium und in der Theologie kennt, mit kaum nachvollziehbarer Kühnheit, behauptet Henry, „das Christentum“ erkläre, es gäbe nur ein einziges Leben: Gemäß dem Christentum gibt es nur ein „Leben“, das einzige Wesen von allem, was lebt.569
Gott sei daher auch keineswegs die unendliche Fülle des Seins und aller reinen Vollkommenheiten, ein der Welt und allen endlichen Personen und sonstigen Seienden gegenüber transzendenter und unendlicher Gott. Diese Thesen Henrys stellen eine Aufhebung des klassischen Gottesbegriffs selbst, eine radikale Verwerfung jenes Gottesverständnisses, das Augustinus, Thomas von Aquin, Duns Scotus oder Anselm von Canterbury zugrunde liegt, dar, was Hery selber direkt zum Ausdruck bringt: Er ist kein Sein, das mit allen vorstellbaren Eigenschaften versehen ist, die zur höchsten Potenz erhoben wurden, und auch nicht das unendliche Sein, das heißt ein solches Sein, „über dem nichts Größeres gedacht werden kann“ und das aus diesem Grunde notwendig existiert. …570
So könne es auch keine wirkliche Geburt, Schöpfung oder ins Leben Treten des Menschen als Kreatur Gottes geben, sondern der „zu Christus führende Weg“ könne nur „die Wiederholung seiner transzendentalen ‚UrGeburt’ im Schoße des Vaters sein…“ Daher sage auch Christus eine sehr eigentümliche Wahrheit, nämlich „die Wahrheit des Lebens“. Und „die Wahrheit des Lebens ist das Leben selbst“. Das Leben aber, das in uns und Gott ein und dasselbe sei, „ist die Wahrheit“. 571 569 570 571
Henry, a.a.O., S. 80. Ebd., S. 80. a.a.O., S. 128.
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3.3. Die Aussage eines Menschen, er sei die Wahrheit, ergäbe also für jeden Menschen Sinn
Es folgt aus dieser Auffassung, daß Henry (in einer u.E. absolut unakzeptablen und sogar empörenswert unehrlichen Weise) behauptet, nichts weniger als der Kernsatz jeder christlichen Christologie, nach der „dem göttlichen Wesen … eine menschliche Natur hinzugefügt wird“, sei „vom christlichen Standpunkt aus widersinnig“, ebenso wie jede Unterscheidung zwischen menschlichem und göttlichem Wesen. So wie also nur ein einziges Leben existiere, das in Christus und uns denselben Sinn habe und in seinem sich Zeigen die Wahrheit sei, so sei auch jeder Mensch die Wahrheit.572 Dies betrachtet Henry nicht im Sinne von Heideggers (von Henry als widersinnig bezeichneten) „Unterordnung Gottes unter das Sein“,573 sondern aus dem Blickwinkel seiner radikalen transzendentalen Lebensphilosophie und der Einzigkeit dieses Lebens. Wir seien „Söhne im Ursohn“,574 hätten deshalb dasselbe Leben und seien gleichzeitig selber die Wahrheit. 3.4. Die Aussage des Menschen Jesus „Ich bin die Wahrheit“ dürften wir nicht nur in einem religiösen Glauben annehmen, sondern es gäbe eine rein philosophische Einsicht in sie
Dieses abenteuerliche Gemisch aus theologischen, pseudo-theologischen und transzendentalphilosophischen Spekulationen betrachtet Michel Henry als der reinen phänomenologischen Vernunft einleuchtende Wahrheiten, sodaß der ungeheure Satz Christi „Ich bin die Wahrheit“ nicht mehr ein in Kierkegaards Sinn potentiell Anstoß erregender und Ärgernis gebender Satz ist. Ebenso wie seine Worte „Ehe Abraham ward, BIN ICH“, die nahezu zu seiner Steinigung wegen Gotteslästerung und seiner Gleichstellung mit Gott führten, da Jesus den Heiligen und exklusiven Namen Gottes, den Moses aus dem brennenden Dornbusch empfing: „Ich Bin der Ich Bin“, auf sich anwandte, ist nach Henry auch der Satz „Ich bin die Wahrheit“ nicht mehr Gegenstand eines Glaubens an ein unbegrei572 573 574
Vgl. a.a.O., S. 140 ff. A.a.O., S. 220. Vgl. die gute Zusammenfassung des Übersetzers, Rolf Kühn, ebd., S. 386.
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fliches Mysterium der Gottheit Jesu, sondern eine rein rationale Aussage. Erstaulicherweise wirft gerade Henry Anselm von Canterbury einen Rationalismus vor, der die Offenbarung eliminiere und die Existenz Gottes, die sich nicht beweisen lasse, sondern nur geoffenbart werden könne, beweisen wolle.575 In Wirklichkeit aber eliminiert gerade Henry durch seine Destruktion des aller jüdisch-christlichen Offenbarung zugrundeliegenden transzendenten Gottesbegriffs als eines ewigen, von uns verschiedenen Schöpfers, sowie durch seine von den Lehren des Christentums radikal abweichenden und sich als rein transzendentalphilosophische Philosophie ausgebende Theorie, jeden Sinn für religiösen Glauben und Offenbarung im eigentlichen Sinne, indem er eine eigenwillige philosophische Deutung des Christentums als „Offenbarung“ eines allen Personen gemeinsamen, identischen und zur Selbsthingabe und Sohnschaft bestimmten Urlebens deutet, welches uns, also jedem Menschen in seiner eigenen Ipseität, erlaube, sich selbst als die Wahrheit und das Leben anzusehen, das sich als „subjektives Leben“ „in der absoluten Immanenz seiner Selbstaffektion offenbart“.576 Zugleich gehe es um eine „Neugeburt zum göttlichen Leben“. So schön und erbaulich auch die Idee und der Versuch Henrys sind, dem Kern seines Buches entsprechend, in den Lehren des Christentums das Verständnis des eigenen Seins als Gabe des Vaters und die eigene Aufgabe in der Welt als Gegengabe zu verstehen,577 so radikal säkularisiert deutet doch der Autor diese Lehren als rein transzendentalphilosophische, in welchen ein eigentlicher Glaube an die Mysterien Gottes, der Menschwerdung, der Erlösung und der Auferstehung eliminiert werden bzw. in einem angeblich unmittelbar erfahrenen Phänomen eines einzigen in uns selber bestehenden Lebens untergehen und uns berechtigen würden, die (von einem Menschen ausgesprochenen!) unbegreiflichen und schockierenden Worte Christi „Ich bin die Wahrheit“, die in der Tat aus dem Munde jedes Wesens, das nicht wahrhaftig Gott ist, ein Skandal wären, auf uns selber, die wir nun einmal sicher nicht Gott sind, anzuwenden. Dasselbe würde gelten, wenn ein Mensch sich selber jene reinen Vollkom575 576
577
A.a.O., S. 120; S. 216 ff. So faßt Rudolf Bernet die Kerngedanken Henrys zusammen. A.a.O., S. 5 (nicht numeriert). Vgl. die Zusammenfassung Rudolf Bernets, ebd., S. 6-7 (unnumeriert).
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menheiten in ihrer unendlichen Gestalt, die nur in Gott unendlich sein können, zuschreiben und sich die Gerechtigkeit, die Weisheit usf. nennen wollte.578 4. Gott allein kann von sich sagen „Ich bin die Wahrheit“ – Eine von jener Henrys völlig verschiedene Interpretation In schärfstem Gegensatz zu Henry möchte ich hier die These aufstellen und anschließend verteidigen, daß allein Gott579 von sich sagen darf, er sei die Wahrheit. Daß Gott allein die Wahrheit besitzen oder sogar, in einer nicht-reduktionistischen Weise,580 mit ihr zusammenfallen kann oder sogar muß, sieht man am besten im Falle der Erkenntniswahrheit und der ontologischen Wahrheit ein, die auch die veritas vitae einschließt, kann es aber auch im Falle der moralischen und der logischen Wahrheit in je verschiedener Weise sagen. Wenden wir uns schrittweise, von den leichter verständlichen Sachverhalten bis zu den am schwierigsten zu verstehenden fortschreitend, jenen Einsichten zu, in denen sich erschließt, daß kein Mensch, sondern nur Gott sich die Erkenntniswahrheit, die ontologische Wahrheit und die Urteilswahrheit nennen darf und muß. 4.1. „Ich Bin die Wahrheit“ im Sinne der Erkenntniswahrheit
Der Satz, „Ich bin die Wahrheit“581 kann erstens im Sinne der 578
579
580 581
Sicher kann Gott nicht nur die Wahrheit sein, so als wäre er nicht auch das Leben, die Güte, die Freiheit, die Liebe und alle reinen Vollkommenheiten. Und wer die Wahrheit ist, müßte daher auch alle diese anderen Vollkommenheiten besitzen. Vgl. Josef Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica, Kap. 5; ders., “Essere Persona Come Perfezione Pura. Il Beato Duns Scoto e una nuova metafisica personalistica,” S. 57-75. Oder der Gottmensch, der zugleich mit seiner vollen Menschheit ganz Gott ist, dessen Existenz der Philosoph qua Philosoph weder behaupten noch verwerfen darf. René Descartes, 580 Principia philosophiae, XLI. Von dem wir erkannt haben, daß er ausschließlich von Gott gelten kann und niemals von einem Menschen (es sei denn, dieser vereinige in derselben einzigen,
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KAPITEL 5
Erkenntniswahrheit gedeutet werden. Dann meint er die absolute Erfüllung des von der ontologischen und logischen Wahrheit ganz verschiedenen Urphänomens jener Wahrheit, die wir in der Erkenntnis und nur in ihr gefunden haben: jener Unverborgenheit des Seins vor dem erkennenden Geist und jener einzigartigen erkennenden Entsprechung im Erfassen der Dinge so wie sie selber sind. Und dieses Offendaliegen der Dinge vor dem Geist und das sich selbst überschreitende Erkennen der Dinge, so wie sie in sich selber sind, haben wir als etwas erkannt, was im menschlichen und in jedem endlichen Geist nur höchst unvollkommen verwirklicht ist: nicht nur weil der endliche menschliche Geist irrtumsanfällig ist und sehr oft statt jener Wahrheit, die einzig und allein der Erkenntnis selber eigen ist, irrige Meinungen vertritt und falsche Urteile fällt, sondern auch weil jenes Unverborgensein des Seienden vor dem Geist, das nur in der reinen erkennenden Berührung mit dem Sein liegen kann, im Menschen und in jedem endlichen Geist auf Grund seines vielen Nichtwissens und der zahlreichen Unvollkommenheiten seines Erkennens sowie der Unendlichkeit des Seins, insbesondere dessen reiner Vollkommenheiten, nur höchst unvollkommen verwirklicht ist. Viele dieser Unvollkommenheiten sind spezifisch menschlicher Natur, andere kennzeichnen jedes endliche Erkennen, auch das der Engel oder Seligen. Reine Erkenntnis und damit die Erkenntniswahrheit hingegen muß von diesen ihren beiden Gegensätzen des Irrtums und der Unvollkommenheit ganz frei sein. 4.1.1. Vollständigkeit
Die Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit hängt nicht zuletzt von deren Vollständigkeit ab. Vollkommene Erkenntniswahrheit kann daher nur jene Erkenntnis besitzen, die alle Dinge vollständig erkennt. Menschliche Erkenntnis kann niemals vollständig sein. Schon allein weil (neben vielen anderen Gründen) das Sein in seiner Fülle und in seinem Wert unendlich ist, übersteigt es das Erfassungsvermögen des endlichen Geistes unendlich, weshalb die Dinge dem menschlichen Geist gott-menschlichen Person göttliche und menschliche Natur).
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in ihrem Dasein und Wesen weitgehend verborgen sind, nicht nur rein quantitativ, weil wir unendlich viele Sachverhalte und Dinge sowie deren Details nicht erkennen, sondern auch qualitativ, weil wir das, was wir erkennen, nur überaus unvollkommen erkennen. Diese Unvollkommenheit und Unvollständigkeit menschlichen Erkennens zeigt sich besonders im Falle jener mysteriösen Zusammenhänge, die wir als Aporien bezeichnen können. Hier können wir zwar – wenngleich nur unvollständig – zwei Seiten desselben Seienden, wie etwa Leib und Seele, oder zwei Wirklichkeiten wie menschliche Freiheit und deren Abhängigkeit von göttlicher Allmacht, nicht aber deren Zusammenhang vollkommen begreifen, ja gewinnen zunächst den Eindruck, sie seien unverträglich mit einander. In diesen Fällen manifestieren sich am deutlichsten und am bittersten für denjenigen Geist, der volles Begreifen sucht, die Endlichkeit des menschlichen Verstandes und dessen Unfähigkeit eines vollkommenen Verstehens. Descartes drückt dies in einem wunderbaren Text über die tiefe Aporie angesichts des Verhältnisses zwischen menschlicher Freiheit und deren Abhängigkeit von der Allmacht aus: Auf Grund dessen, was wir bisher von Gott erkannt haben, sind wir sicher, daß seine Macht so groß ist, daß wir ein Sakrileg begingen, wenn wir dächten, wir wären jemals fähig gewesen, irgend etwas zu tun, was er nicht vorher geordnet hätte. Aber aus diesem Grunde könnten wir uns leicht in sehr großen Schwierigkeiten verwickeln, wenn wir es unternehmen wollten, die Freiheit unseres Willens mit der göttlichen Vorsehung in Harmonie zu bringen, und wenn wir dies verstehen, das heißt mit unserem Verstande die ganze Ausdehnung unseres freien Willens und die Anordnung der ewigen Vorsehung umfassen und gleichsam in Grenzen einschließen wollten. Statt dessen werden wir keine große Mühe haben, uns von dieser Schwierigkeit zu befreien, wenn wir bemerken, daß unser Denkvermögen begrenzt, und daß die Allmacht Gottes, durch die er nicht nur seit Ewigkeit alles, was ist oder sein kann, gewußt, sondern auch gewollt (bzw. frei zugelassen, Zusatz des Übersetzers) hat ... unendlich ist. Daher kommt es, daß wir genügend Intelligenz besitzen, um klar und deutlich zu erkennen, daß eine solche Macht in Gott ist, aber daß wir nicht genügend Intelligenz haben, um ihre Weite so zu erkennen, daß wir die Art erkennen könnten, wie sie die Handlungen des Menschen vollkommen frei und undeterminiert lasse; und daß andererseits wir auch mit solcher Gewißheit unserer Freiheit und der vom Zwang freien Unbestimmtheit in uns sicher sind, daß es nichts
480
KAPITEL 5 gibt, was wir klarer erkennten ... derart, daß die Allmacht Gottes uns in keiner Weise daran hindern darf, von ihr (unserer Freiheit und Unbestimmtheit, Anm. des Übersetzers) überzeugt zu sein. Denn wir hätten Unrecht, an dem zu zweifeln, was wir innerlich wahrnehmen und von dem wir aus Erfahrung wissen, daß es in uns ist, weil wir eine andere ‚Sache‘ nicht verstehen, von der wir wissen, daß sie (für uns – sinngemäßer Zusatz des Übersetzers) von Natur aus unbegreifbar ist.582
Diese insbesonders angesichts aporetischer Zusammenhänge drastisch hervortretende Unvollständigkeit und Unvollkommenheit unseres Begreifens der Dinge könnte nicht als Begrenztheit verstanden werden, wenn wir nicht gleichsam im Spiegel ihres Gegensatzes zur vollkommenen Erkenntnis deren Eigenart und Wesensbestimmtheiten verstünden, in deren Licht allein wir die Unvollkommenheit allen menschlichen Erkennens erfassen können. Dieses unser Verstehen der absolut vollkommenen Erkenntnis ist natürlich selber nicht frei von tiefen Mängeln unseres Begreifens der vollkommenen Erkenntnis. Drei besonders unfaßbare Aspekte der Vollständigkeit der vollkommenen Erkenntnis, deren Zugehörigkeit zur Vollkommenheit des Erkennens wir deutlich sehen, obwohl wir ihre Natur nicht begreifen können, sind die folgenden: die Erkenntnis der Zukunft (welche in einer Welt endlicher Freiheit unmöglich zu sein scheint); die Erkenntnis des inneren Lebens von Personen, das kraft seiner Privatheit und Freiheit allen anderen Beobachtern verborgen ist; und die quantitative und qualitative absolute Unendlichkeit des vollkommenen Wissens und Erkennens. Doch so unerreichbar auch für uns ein volles Begreifen dessen ist, wie solches vollkommene und daher vollständige Erkennen alles 582
Principia philosophiae, in: Oeuvres de Descartes, publiées par Charles Adam et Paul Tannery (Paris: Librairie Philosophique J. Vrin, 1982), Vol. VIII-IX Eigene Übersetzung aus dem Französischen, Tannery IX, 2, S. 42. Vgl. auch den folgenden Text: damit sie [die Unendlichkeit] eine wahrhafte sei, darf sie in keiner Weise begriffen werden, da ihre Unbegreiflichkeit selber im formalen Wesen des Unendlichen liegt.“; „ut sit vera nullo modo debet comprehendi, quoniam ipsa incomprehensibilitas in ratione formali infiniti continetur. René Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, Oeuvres de Descartes, hrsg. v. Charles Adam & Paul Tannery, Bd. VII (Paris: J. Vrin, 1983), 1-561, Quintae Responsiones, S. 368, 2-4.
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Seienden möglich ist, so deutlich sehen wir ein, daß vollkommene Erkenntniswahrheit ausschließlich dort ist, wo vollkommenes Erkennen ohne alle Schatten des Nichtwissens und ohne alle Finsternis des Irrtums existiert. 4.1.2. Erkennen der Unendlichkeit, Unmittelbarkeit, restlose Tiefe, unfehlbare Gewißheit und weitere Vollkommenheiten der Erkenntniswahrheit in ihrer reinen Form
Wir dürfen es als eine weitere Vollkommenheit der Erkenntniswahrheit ansehen, daß der erkennende Geist sowohl die Unendlichkeiten innerhalb des Endlichen als auch und vor allem die absolute göttliche Unendlichkeit klar und distinkt und vollkommen erkennen kann, was keinem endlichen Geist möglich ist. Ferner ist die vollkommene Form der Erkenntnis nur in einer Person realisiert, die alle Gegenstände der Erkenntnis unmittelbar schaut und nicht auf Schlüsse oder Schlußketten angewiesen ist, auch wenn der vollkommen Erkennende natürlich ebenfalls sämtliche logischen Zusammenhänge und Implikationen erkennt. Vollkommene Erkenntnis schließt auch die vollendete Tiefe des Erkennens ein, im Gegensatz zu aller menschlichen Erkenntnis, der die letzte spezifische und qualitative Tiefe des Erkennbaren stets verborgen bleibt.583 Ferner kann nur jene Erkenntnis schlechthin vollkommen sein und vollkommene Erkenntniswahrheit besitzen, die von vollendeter Klarheit ist und in der keine Unklarheiten und Verwirrungen irgendwelcher Art bestehen, wie sie mit menschlicher Erkenntnis immer gemischt sind und unsere Erkenntnis trüben. Weiters kann nur jene Erkenntnis schlechthin vollkommene Erkenntniswahrheit besitzen, die unfehlbar gewiß ist. Unfehlbar gewisse Erkenntnis kann zwar auch der Mensch in Bezug auf gewisse Wahrheiten erlangen, ja man kann behaupten, daß der innerste Kern jeder menschlichen Erkenntnis, das an ihr, was reine Erkenntnis ist, immer irrtumsfrei und unfehlbar ist,584 aber der Umfang unfehlbarer menschlicher Erkenntnis ist in vieler 583
584
Vgl. die faszinierende Untersuchung von sieben Arten personaler „Tiefe“ in Dietrich von Hildebrand, siehe Fußnote 304. Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit2, I. Teil, Kap. 3, II. Teil.
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KAPITEL 5
Hinsicht überaus begrenzt und es gibt unendlich viele Gegenstände menschlicher Wissenschaft und empirischer Erkenntnis, in welchen unfehlbare Gewißheit dem Menschen völlig unerreichbar ist, weshalb menschliche Erkenntnis nie in einem umfassenden und totalen Sinn Gewißheit oder gar unfehlbare Gewißheit besitzt. Vollkommene Erkenntniswahrheit kann jedoch nur diejenige Erkenntnis oder besser, nur derjenige Erkennende besitzen, der alle Wahrheit mit unfehlbarer Gewißheit erkennt. Es erübrigt sich jeder Hinweis darauf, daß der menschliche Geist nur einen winzigen Bruchteil des Erkennbaren mit dieser vollenden Erkenntniswahrheit unfehlbarer Gewißheit erkennt und daher nicht die Erkenntniswahrheit ist oder auch nur besitzt. Ferner kann nur jene Erkenntnis vollkommen sein und Erkenntniswahrheit schlechthin besitzen, die alle Erkenntnis in letzter innerer Einheit verbindet, anstatt beziehungslos ein bischen hier und ein wenig dort, etwas früher dies und erst etwas später jenes zu erkennen, ohne des weiteren imstande zu sein, diese Erkenntnisse alle zu verbinden oder gar, sie alle gleichzeitig in voller Aktualität zu besitzen. Auch diese doch so unendlich erstrebenswerte Einheit in allem Wissen und Erkennen in letzter Vollkommenheit zu besitzen ist dem Menschen ganz und gar unmöglich. Nicht nur weil er unzählige Wissenschaften und unendlich viel Wißbares gar nicht kennt und deshalb sein Erkennen bruchstückhaft bleibt, sondern auch weil er das, was er erkennt, in einer zeitlichen Aufeinanderfolge von Erkenntnisakten nur allmählich aufnimmt und dabei immer wieder früher Gewußtes vergißt und jedenfalls nie vollkommen präsent hat. Daher verlangt die vollkommene Verkörperung der Erkenntniswahrheit auch ein Sein jenseits der Zeit bzw. ein voll und immer in unvergänglicher Präsenz gegenwärtiges Subjekt, einen gleichzeitigen und vollkommenen Besitz aller Erkenntnis. Nur wenn alles in einem einzigen und ewigen Blick erkannt wird, kann eine solche Erkenntnis als die Erkenntniswahrheit bezeichnet werden. Denn die zeitliche Aufeinanderfolge von Erkenntnisakten und die schon allein daraus folgende Unfähigkeit, alle Erkenntnis zu vereinen und in einem einzigen Akt zu besitzen, ist eine der zahllosen Unvollkommenheiten menschlichen Erkennens. Auch aus diesem Grund kann nur ein ewiges und göttliches personales Wesen vollkommene Erkenntnis besitzen und vollkommene Erkenntniswahrheit sein oder verkörpern.
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4.1.3. Zusammenfallen von Sein und Erkennen: Ich bin die Wahrheit
Da die Erkenntniswahrheit wesenhaft nur Eigenschaft eines personalen Wesens sein und niemals außerhalb der Person existieren kann, leuchtet es ein, wenn eine Person, die alle Vollkommenheiten der Erkenntniswahrheit, also Allwissen und Allerkennen, besitzt, und sie nicht nur in akzidenteller und zufälliger Weise hat, sondern sie notwendig besitzt und daher in bestimmter Weise mit ihnen zusammenfällt, nicht nur Allerkenntnis und deren Wahrheit besitzt, sondern selber die Erkenntniswahrheit IST. Daher kann in sinnvoller Weise nur eine solche göttliche Person, die notwendig und daher von Ewigkeit zu Ewigkeit existiert und deshalb Erkenntnis in einer nicht-akzidentellen und nicht kontingenten, sondern notwendigen und substantiellen Weise besitzt, von sich sagen: Ich bin die Wahrheit, und dürfen wir nur von ihr allein sagen, Sie ist die Wahrheit. Keine endliche Person besitzt alle Erkenntnis und deshalb kann auch keine endliche Person in vollkommenster Weise die Wahrheit des Erkennens besitzen oder gar sein. Allein Gott hat deshalb nicht in einer bloß begrenzten, unvollständigen und historisch sich entfaltenden, sowie in vielfacher Hinsicht unvollkommenen, Weise Anteil an der Wahrheit des Erkennens, sondern besitzt alle Erkenntniswahrheit in vollkommenster Form und ist mit der vollkommensten Erkenntnis identisch, so daß Er und Er allein von sich sagen kann: Ich bin die (Erkenntnis-)Wahrheit selber. Dies leuchtet am deutlichsten ein, wenn wir an den höchsten Gegenstand aller Erkenntnis, den unendlichen Gott selber, denken. Vor allem Gott ist nämlich, wie Anselm im 15. Kapitel des Proslogion formuliert, nicht nur dasjenige, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann (id quo maius nihil cogitari possit), sondern gerade deshalb auch „etwas, was größer als ist als was [vom Menschen und irgendeiner Kreatur] gedacht werden kann“: „quiddam maius quam cogitari possit“,585 585
Vgl. Anselm of Canterbury (Aosta), Proslogion und Ad Proslogion, in: Anselm of Canterbury (Aosta), S. Anselmi Opera Omnia, Franciscus Salesius Schmitt (Hg.), 2 Bde. (Stuttgart-Bad-Cannstatt: Friedrich Frommann/Günter Holzboog, 1968), Bd. I, S. 89-139, Kap. 15: Ergo domine, non solum es quo maius cogitari nequit, sed es quiddam maius quam cogitari possit. Quoniam namque valet cogitari esse aliquid huiusmodi: si tu non es hoc ipsum, potest cogitari aliquid maius te; quod fieri nequit.
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wobei allerdings das Gedachtwerden und das nicht gedacht werden Können in je verschiedenem Sinn zu verstehen sind.586 Im Sinne der Erkenntniswahrheit ist daher wirklich in jedem endlichen Geist alle Wahrheit mit Nicht-Wahrheit, mit dem Verborgensein des Seins vor dem Blick des endlichen Geistes, vermischt. Im Licht und Spiegel der Unvollkommenheit menschlichen Erkennens gelangen wir jedoch zu einer gewissen Erkenntnis dessen, was die unermeßlich erhabene Erkenntniswahrheit der Erkenntnis Gottes ist, vor dessen Blick ewig und zugleich alles Seiende überhaupt, alles endliche und alles unendliche Sein, alles Vergangene, alles Gegenwärtige und alles Zukünftige und vor allem alles Zeitlose und Ewige restlos und bis in seine tiefsten Tiefen hinein offen daliegt. Es ist ein absolut vollkommenes Erkennen: ein vollständiges, absolut evidentes und unfehlbares, unendlich tiefes und in vollster Aktualität besessenes Erkennen von allem überhaupt. Und eine solche vollkommene Erkenntniswahrheit kennzeichnet ausschließlich das Erkennen Gottes, vor dem alle Dinge in allen ihren Zusammenhängen und in ihrer letzten Eigenart sowie in jedem individuellen Detail vollständig und vollkommenen daliegen. Es ist ein Erkennen, von dem „jedes Haar auf unserem Haupt gezählt“ ist und das die tiefsten Tiefen und Abgründe unserer Seele, aber auch alle Allgemeinheiten und universalen Wesenheiten der Dinge vollkommen erkennt. Nicht nur alle wirklichen Seienden, nicht nur ihre zeitlosen Wesenheiten, auch alle rein intentionalen Gegenstände endlicher Geister, soweit sie in sich erkennbar und bestimmt sind, alle begrifflichen Bedeutungen in all den Unvollkommenheiten, in denen menschliches Denken sie benutzt, aber auch die vollkommen wahren und reinen Begriffe und Begriffs-
586
Und im vorhergehenden Kapitel (14) des Proslogium spricht Anselm von jenem unendlichen Licht, das alles übersteigt, was ein geschaffener Geist erfassen kann: Quanta namque est lux illa, de qua micat omne verum quod rationali menti lucet! Quam ampla est illa veritas, in qua est omne quod verum est, et extra quam non nisi nihil et falsum est! Quam immensa est, quæ uno intuitu videt quæcumque facta sunt, et a quo et per quem et quomodo de nihilo facta sunt! Quid puritatis, quid simplicitatis, quid certitudinis et splendoris ibi est! Certe plus quam a creatura valeat intelligi. Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2, Kap. 1, 2; sowie Kap. 6 ff.
„Ich bin die Wahrheit“ – Ist die Wahrheit Person?
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einheiten und perfekten Urteilsinhalte, die Träger der Wahrheit sind, aber auch alle möglichen Welten bis ins letzte Detail liegen vor diesem allerkennenden Geist ohne jeden Rest des Unwissens und ohne jeden Irrtum und jede Täuschung da. In gleicher Weise werden vom unendlichen Geist alle negativen Sachverhalte, welche die negativen Urteile wahr machen, sowie alles NichtSeiende und das Nichts, das jedem einzelnen endlichen Seienden als sein Nichtsein vorhergeht und aus dem die Welt geschaffen ist, mit letzter Klarheit, unfehlbarer Gewißheit und in der unendlichen Tiefe des Erkennens ohne einen Schatten der Verborgenheit erkannt. Und selbst vor dem geheimnisvollsten aller Seienden, vor Gottes unendlicher Wesenheit und Vollkommenheit, vor seiner jedem endlichen Geist unergründlichen Natur und höchsten Aktualität des Daseins und Wertseins, macht das ungetrübte Licht der göttlichen Erkenntnis und ihrer Wahrheit nicht Halt, sondern dringt bis in die tiefsten und innersten Abgründe des göttlichen Seins vor, das selbst in seiner absoluten Grenzenlosigkeit unverborgen vor dem unendlichen Erkennen liegt. Kein Mensch kann sich auch nur annähernd einen voll adäquaten Begriff von dem unermeßlichen Licht machen, das in einer solchen vollkommensten Erkenntnis liegt. Und doch erfassen wir klar, daß diese zur göttlichen Wesenheit gehört und von ihr untrennbar ist. Und wegen der Notwendigkeit und vor allem der absoluten Untrennbarkeit dieser vollkommensten Erkenntniswahrheit von Gottes Wesen und Aktualität besitzt Gott nicht nur Erkenntnis und ihre vollendetste Wahrheit, sondern ist sie. Wir können diese Idee der unendlichen Wahrheit des Erkennens, die Gott nicht nur hat, sondern ist, klar in ihrer Verschiedenheit von aller endlichen und deshalb mit Unwissenheit gemischten Erkenntnis und Erkenntniswahrheit verstehen, obwohl sie in ihrer unermeßlichen Fülle all unser Fassungsvermögen übersteigt und unserem Geist in ihrem strahlenden Licht ein unergründliches Mysterium ist. Platon, Aristoteles, und nach ihnen Thomas von Aquin und Anselm, verwenden für das Verhältnis zwischen unserer Unfähigkeit, das unermeßliche Licht der göttlichen Wahrheit zu begreifen und dieser selbst ein schönes Bild, dasjenige der sinnlichen Unfähigkeit, direkt in das Licht der Sonne selbst zu blicken. Die Nachteule ist unfähig, das strahlende Sonnenlicht zu schauen, nicht weil dieses nicht strahlend hell wäre, sondern weil ihre Augen unfähig sind, so
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KAPITEL 5
viel Licht aufzunehmen.587 Die vollkommene Wahrheit göttlicher Erkenntnis besitzt auf der einen Seite eine letztlich einleuchtende, innere und unerfindbare Notwendigkeit; sie ist in höchstem Maße das, was Descartes mit seiner idea clara et distincta im Auge gehabt haben mag (auch wenn er die absolute innere Notwendigkeit der Wesenheiten nicht deutlich erfaßt, ja in vielen Passagen sogar geleugnet hat). Auf der anderen Seite liegt das unergründliche Mysterium jener vollkommenen göttlichen Natur und ihrer perfekten Erkenntnis, die das für jeden endlichen Geist unaustrinkbare Licht des Seins in vollkommenster und erschöpfendster Weise trinkt und schaut und deshalb die Wahrheit selbst ist, hinter einem Schleier des unbegreiflichen Mysteriums, das wir nie ergründen können.
4.2. „Ich Bin die Wahrheit“ im Sinne der ontologischen Wahrheit
Wir können nicht nur von der Erkenntniswahrheit, sondern auch von der ontologischen Wahrheit sagen, daß Gott – und zwar Er allein – sie nicht nur hat oder an ihr teilhat, sondern auch die Wahrheit ist. Wir haben im ersten Kapitel gesehen, daß ein Seiendes in verschiedenen Weisen wahr genannt werden kann: Ein Seiendes ist zunächst nur in dem Maße wahr, in dem es wirklich ist. Aus diesem Grund kann auch die vollendete Verkörperung der ontologischen Wahrheit weder in den möglichen Welten, noch in rein idealen Seienden und Eide, oder gar in rein intentionalen Gegenständen liegen, sondern nur in jener wichtigsten Modalität des Seins, dem wirklich Existierenden, das den actus essendi in höchstem Maße besitzt. Innerhalb des real Seienden aber ist im Vergleich zur Wirklichkeit personal lebendigen und bewußten Seins alles Nichtpersonale nur ein Schatten der Wirklichkeit, ein Nichts gleichsam. Deshalb kann nur die Person vollkommene ontologische Wahrheit verkörpern und das wahrste
587
Vgl. Platons Höhlengleichnis in Politeia.7, sowie Siehe insbesondere Thomas von Aquin, De Ver., Q. 1, a. 2-3.
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Sein sein.588 Doch kann das Personsein des endlichen menschlichen personalen Seienden, dessen Wirklichkeit einen Anfang besitzt und das in seiner irdischen, leib-seelischen Situation sterblich ist, dessen bewußtes Leben durch Krankheit, Schlaf und zahllose andere Ursachen unterbrochen oder beeinträchtigt werden kann, und das selbst im wachsten Zustand nur ein endliches Seiendes und durch sein ganzes irdisches Leben und die ganze Geschichte hindurch in der Zeit ist, niemals die Wahrheit und die personale Wirklichkeit des wahrsten Seins besitzen oder gar die Seinswahrheit sein. Ausschließlich das unendliche personale Sein kann die Wahrheit im Sinne der Fülle aller Wirklichkeit, in dem Sinne sein, in dem nur der Ich BIN auch die Wahrheit sein kann. Wenn man schließlich die ontologische Wahrheit in dem verschiedenen Sinne der Intelligibilität und Erkennbarkeit nimmt, so ist es ebenfalls klar, daß nur die unendliche Wirklichkeit, die unendliche Sinnfülle, auch unendliche Erkennbarkeit und Intelligibilität besitzen kann, und kein endliches Seiendes. Dies leuchtet besonders deutlich ein, wenn wir an die absolute Unbegreiflichkeit unseres kontingenten Daseins denken. Daß wir überhaupt sind und nicht vielmehr nicht sind, findet in unserer eigenen Natur keinerlei Erklärung. Allein schon aus diesem Grund entbehrt unser Sein höchster Intelligibilität. In ähnlicher Weise sind unsere spezifischen und persönlichen Grenzen kontingent und durch uns selbst unerklärbar. 588
Den Ausdruck des wahrhaft Seienden, alethinon on, finden wir bei Platon, etwa in Sophistes 240 b: XE. !Ara tò Âlhjðinòn ÓntwV Òn lægwn? JÐEAI. ¿OútwV.
Auch in Politeia 537d spricht Platon davon, zum wahrhaft (met’ aletheias) Seienden zu gelangen: Êp) aütò tò Òn met) ÂlhjðeíaV Îænai.
Bei Platon ist auch die Rede von dem ontos on, von dem „seiend Seiendem“, etwa in dem folgenden und vielen anderen Texten: ½ plhsiásaV ka˜ migeìV tÖ Ónti ÓntwV, genn®saV noûn ka˜ Âl®jðeian, gnoíh te ka˜ ÂlhjðvV zŒh ka˜ træfðoito ka˜ /oútw l®goi ØdînoV, prìn d) oÚ? $WV /oëón t), Éfðh, metriõtata.
Politeia, 6.490b.
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KAPITEL 5
Wie Pascal in einem gewaltigen Bild sagt: Warum bin ich hier und nicht woanders? Warum ist diese Lebenszeit meine und nicht eine kürzere oder längere? Auf wessen Anordnung hin bin ich gerade in diese unter unendlich vielen anderen möglichen Grenzen eingeschlossen? Und dies gilt für alle unsere Grenzen des Erkennens, Lebens, freien Wollens, Liebens. Begrenztheit eines realen Seienden schließt immer die Kontingenz seiner Grenzen und seines Daseins ein. Nur ein unendlicher und aus sich und in sich notwendig seiender Gott kann deshalb auch in diesem Sinne ontologischer Wahrheit das höchste Licht des Intelligiblen, die Wahrheit sein. Meint man ferner mit dem wahren Sein das Gute, das werttragende und in sich selber kostbare und positiv bedeutsame Sein, so ist wiederum klar, daß kein endliches Gut, sondern nur der unendlich Gute und Heilige das wahrste Sein oder die Wahrheit sein kann, weil nur in Ihm allein die moralischen und alle übrigen höchsten Werte und reinen Vollkommenheiten, das Sein und Leben, die Weisheit, Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit vollkommen sind. Deshalb kann allein Gott die Wahrheit im Sinne dessen sein, der kraft seiner immensen Gutheit seine vollste raison d’être in sich, in der Unendlichkeit der eigenen Gutheit, in so unbegrenztem Maße besitzt, daß Er in diesem axiologischen Sinne nicht nur wahres Sein, sondern die Wahrheit ist. Also kann auch in diesem absoluten Wert-Sinne allein Gott die Gutheit selber und also die WertWahrheit sein und dürfte sich niemals ein Mensch den Guten oder die (in seinem Gutsein gründende) Wahrheit nennen.589 Wir haben zu Anfang dieses Werkes einen anderen Sinn ontologischer Wahrheit unterschieden, in dem etwas in dem Maße wahr ist, in dem es seinem Wesen oder seiner idealen Gestalt und Wesenheit konform wird. In diesem Sinne des Abbildseins und einer Art ontologischen Entsprechung 589
Vgl. zu alledem auch Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis2. Sogar Christus, von dem Christen glauben, daß er allein zugleich Gott ist, bekräftigt diese evidente Wahrheit über Gott, wenn er zu dem reichen Jüngling spricht, der ihn als „guter Meister“ anredet: „Warum nennst Du mich gut? Gott allein ist gut.“ (Mt 19:17); vgl. auch Lev 19:2, sowie Papst Johannes Paul II, Veritatis Splendor, (1973), bes. Nr. 72. Zu einer rein philosophischen Begründung dieser metaphysischen Wahrheit vgl. Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sum-total of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, S. 407-424.
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kann Gott selber seine höchste innere Wahrheit unmöglich aus einem Abbildverhältnis zu etwas anderem und Höheren schöpfen.590 Vielmehr haben wir eine noch ursprünglichere Form der Seinswahrheit, die aller Wahrheit des Abbilds zugrundeliegt, in der inneren Wahrheit, die zugleich die Wahrheit des Urbilds ist, entdeckt. Daher kann auch jene tiefste Weise, in der die ontologische Wahrheit nicht dem Abbild (durch eine adaequatio entis ad perfectam formam), sondern allein dem Urbild, dem Vorbild aller Dinge, das als solches letztes Richtmaß aller solchen abgeleiteten Seinswahrheit (kraft eines dem Urbild Entsprechens der endlichen Seienden und Wesen) ist, nur Gott im höchsten und absoluten Sinne zukommen und Ihm allein eigen sein. Also kann auch nur er allein in diesem höchsten Sinne von Seinswahrheit die Wahrheit sein.
4.3. „Ich bin die Wahrheit“ als Aussage über die Identität der logischen Wahrheit mit Gott – die Wahrheit als Person und der „Veritas-Beweis“ für Gottes Existenz aus der logischen Wahrheit
Wenn man an die logische Wahrheit aller Urteile denkt, kann man diese nicht in simplistischer Weise mit Gott identifizieren, denn Gott ist nicht identisch mit dem wahren Satz, daß diese und jene Szene eines pornographischen Films unanständig ist, oder daß 3 eine Primzahl ist. Dennoch kann auch die Wahrheit jedes Urteils nur in einem Geist zu sich selber kommen, nur der Geist kann sie ja erfassen, nur in ihrer Einheit und Verbindung mit dem lebendigen und denkenden Geist kann sie volle Realität erlangen und sonst, wäre sie nicht mit der Wahrheit des Erkennens untrennbar vereint, würde sie ein bloßer Schatten der Wahrheit selbst, eine potentielle Wahrheit, die auf ihr zu sich selber Kommen durch den ihrer bewußten Geist wartet, sein. Denn es ist metaphysisch unnachvollziehbar und eine unhaltbare Hypothese, daß die Wahrheit in der unendlichen Fülle und Vollkommenheit aller wahren Urteile und all ihrer Zusammenhänge 590
In diesem Sinne des Abbildseins und einer Art ontologischen Entsprechung kann Gott selber nur gemäß dem Glaubensmysterium der Trinität und des Sohnes, der allein perfektes Abbild des Vaters ist, und nur im innergöttlichen Leben Gottes, ontologische Wahrheit im Sinne eines vollkommensten Abbildes und Urbildes zugleich zugeschrieben werden.
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KAPITEL 5
nur als Eigenschaft rein idealer zeitloser Urteilsinhalte bestünde, ohne auch als solche verstanden zu werden. Und in dieser ihrer organischen Einheit mit dem personalen Geist, in dieser ihrer vollendeten Form, in der sie ausschließlich als Inhalt des lebendigen, denkenden und urteilenden Geistes Wirklichkeit gewinnt, kann auch die Urteilswahrheit, die logische Wahrheit, nur im vollkommen erkennenden Geiste zu sich selbst kommen und wirklich „sie selber sein.“ Bedenken wir dabei die schon im vorigen Kapitel erörterte und klar zutage liegende Unabhängigkeit der Urteilswahrheit von menschlichen Urteilsakten und die Vollkommenheit der Wahrheit aller Urteile selber, so stellt sich erneut das schon erwähnte Problem, wie dieses „ideale“ Bestehen der Wahrheit mit dem früher erklärten Faktum in Einklang zu bringen sein soll, daß die Urteilswahrheit wesenhaft Begriffe und Urteilsgebilde voraussetzt und daß die letzteren geistgeboren sind und nur durch einen personalen Geist hervorgebracht werden können. Eine Welt ‘ideal seiender’ Begriffe, die ohne jeden personalen Geist einfach da sind, wie sie sich uns als Ergebnis der Untersuchungen des vorigen Kapitels darstellten, ist einerseits zwar bewiesen, andererseits aber ist ihre Behauptung metaphysisch paradox und letztlich für sich alleine betrachtet nicht aufrechtzuerhalten, ohne daß man die Verbindung zwischen dieser rein logischen unendlichen Welt wahrer Urteile mit einem sie vollkommen erkennenden Geist sieht. Die Annahme einer von Personen total losgelösten Welt der Begriffe und „Sätze an sich“ verstößt gegen die in den letzten beiden Kapiteln dargelegte Persongebundenheit logischer Begriffe und Urteile, die diese – in einem scheinbaren Paradox – zugleich mit ihrer reinen und von allen menschlichen Denkakten unabhängigen Idealität auszeichnet. Sollen wir nun einfach vor diesem ungelösten Dilemma stehen bleiben oder gar den Schluß ziehen, daß in unserer Argumentation im vorigen Kapitel irgendein Fehler stecken muß, der sich bei erneuter Überprüfung als solcher zeigen und herausstellen wird? Besteht die Wahrheit vielleicht unbeschadet all unserer Argumente doch nur als deren Eigenschaft in Urteilsgebilden, die von Menschen erzeugt wurden? Und besteht sie daher, wenn es ausschließlich menschliche Personen gibt, nur kraft des Menschen bzw. in der Übereinstimmung zwischen den vom Menschengeist hervorgebrachten Urteilen mit der Wirklichkeit? Nein, wir wollen auf keinen Fall eines der beiden in einem gewissen
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Spannungsverhältnis stehenden Ergebnisse unserer Untersuchungen leugnen, was eine ‚Untreue‘ gegen mit Evidenz erkannte Wahrheit implizieren würde, sondern entweder beide in ihrem Spannungsverhältnis stehen lassen, ohne eine ‚Lösung‘ und Versöhnung beider zu erreichen, oder aber es gelingt uns, sie zu einer Einheit zu bringen. Eine solche innere Einheit und die bloße Scheinbarkeit eines Widerspruchs zwischen ihnen kann in der Richtung einer personalistischen und zugleich platonischen Metaphysik, welche einerseits das Personsein als höchste Seinsform und andererseits ideale Wesenheiten und Bedeutungseinheiten anerkennt, gesucht werden: Es werden jene Begriffe und Urteilsinhalte, die von der Wahrheit als Träger vorausgesetzt werden, immerfort durch einen unzeitlich-ewigen, transzendenten, denkenden Geist hervorgebracht, der der letzte metaphysische „Ort“ der Wahrheit ist bzw. der in geheimnisvoller Weise mit der Wahrheit „zusammenfällt“. Ein tieferes Durchdenken der Spannung zwischen den beiden Tatsachen, die wir zu erhärten suchten (der Persongebundenheit von Begriffen und der von Menschen unabhängigen Existenz der Wahrheit) läßt sich, dies wenigstens ist klar, im Rahmen einer atheistischen Metaphysik nicht bis zum Ende führen. Im vorigen Kapitel hat es uns genügt gezeigt zu haben, daß die Urteilswahrheit nicht erst kraft menschlichen Urteilens und Denkens da ist und daher auch nicht durch Tod, Selbstmord oder Vergessen ausgelöscht werden kann, und daß vor allem die Wahrheit nicht an der Unvollkommenheit, Unklarheit und Verworrenheit menschlichen Denkens leidet, sondern in sich rein, mit Irrtümern nicht vermischt und vollkommen ist, ein transzendentes Licht jenseits menschlichen Denkens. Jetzt mußen wir weitergehen: Weil Gott allein die Urteilswahrheit selbst gesamthaft und vollkommen erkennt und weil sie nur in Gottes Geist ihre volle Wirklichkeit aktuell besitzen und nur in seinem unendlichen personalen Geist die Wurzel aller ewigen Träger der Urteilswahrheit sein kann, kann auch die logische Wahrheit nur in Gott sie selber sein; und da diese Wahrheit nur in oder vor seinem erkennenden Geist selber vollkommen sie selber ist, ist sie nicht nur in Gott wie etwas Ihm selber Fremdes, sondern muß in einer uns freilich nur dunkel zugänglichen Weise mit Gott zusammenfallen. Daher muß Gott, und darf ausschließlich Er sagen, er sei die Wahrheit, die allumfassende, als solche erkannte und im Geist zu sich selber gekommene Wahrheit aller wahren Urteile selbst.
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4.4. Konklusion: Gott ist in jeder Hinsicht die Wahrheit selbst
Daher ist letztlich die Gleichsetzung der Wahrheit selbst, der Erkenntniswahrheit, der ontologischen Wahrheit und der Urteilswahrheit, mit der absoluten personalen Wirklichkeit Gottes logisch und ontologisch gefordert: Gott allein kann nicht Wahrheit haben oder nur an ihr teilhaben, oder sie als etwas ihm selber Vorgegebenes und Fremdes erkennen, sondern er muß sie selber sein: denn nur in Gott findet alle ontologische Wahrheit, alle Erkenntniswahrheit und alle Urteilswahrheit ihre letzte Wirklichkeit und Erfüllung. Wenn daher der Mensch Jesus von sich sagt, er sei die Wahrheit, so ist dies entweder Wahnsinn oder Blasphemie, oder aber … er ist Gott, wie die Christen dies von ihm bekennen: er sei „wahrer Gott und wahrer Mensch“ – in der Einheit einer einzigen Person göttliche und menschliche Natur vereinigend. Der Philosoph kann natürlich den bei den Juden Ärgernis erregenden und den Griechen Torheit scheinenden Wahrheitsanspruch der Worte Christi, „Ich bin die Wahrheit“, eines Anspruchs, der so ungeheuerlich ist, daß er nur vom Glauben angenommen werden kann, nicht beweisen. Alles, was der Philosoph als solcher sagen kann, ist: Wenn Jesus Christus die Wahrheit selber ist, so ist er Gott. Ist es deshalb wahr, daß er die Wahrheit ist, dann ist es auch wahr, daß er Gott ist. Denn, und diese metaphysische Wahrheit ist rein philosophisch auf dem Weg unmittelbarer Einsichten und Beweise erkennbar: Gott allein ist die Wahrheit.
Josef Seifert Der Streit um die Wahrheit Wahrheit und Wahrheitstheorien De Veritate – Über die Wahrheit: 2
Realistische Phänomenologie: Philosophische Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago/Realist Phenomenology: Philosophical Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality of Liechtenstein and at the Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago Band V/Volume V
EDITORS Professor Juan-Miguel Palacios With Professor John F. Crosby and Professor Czesław Porębski ASSISTANT EDITORS Dr. Cheikh Mbacké Gueye Dr. Matyas Szálay EDITORIAL BOARD Professor Rocco Buttiglione, Rome, Italy Professor Martin Cajthaml, Olomouc, Czech Republic Professor Carlos Casanova, Santiago de Chile Professor Juan-José García Norro, Madrid, Spain Professor Balázs Mezei, Budapest, Hungary Professor Giovanni Reale, Milan, Italy Professor Rogelio Rovira, Madrid, Spain Professor Josef Seifert, Principality of Liechtenstein and Santiago de Chile Professor Tadeusz Styczeń, Lublin, Poland
Josef Seifert
Der Streit um die Wahrheit Wahrheit und Wahrheitstheorien De Veritate – Über die Wahrheit: 2
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Herzlich gewidmet meiner geliebten Tochter Maria Michaela Seifert, deren philosophischer Eros, Liebe zur Wahrheit und erfolgreiche
Lehre
und
Forschung
auf
dem
Gebiet
der
Philosophie eine Quelle großer Freude für mich sind. Josef Seifert
INHALTSVERZEICHNIS
DER STREIT UM DIE WAHRHEIT WAHRHEIT UND WAHRHEITSTHEORIEN
PROLEGOMENA DER STREIT UM DIE WAHRHEIT DES URTEILS UND DIE ‚KRISE‘ DES WAHRHEITSBEGRIFFS…………………………………………………….. 25 1. Der Streit um die Urteilswahrheit……………………………………... 25 2. Einige Gedanken zur Krise des Wahrheitsbegriffs…………………… 26 3. Radikale Infragestellung der Wahrheit und ihres Wertes bei Friedrich Nietzsche und (un)moralische Quellen der Umdeutung der Wahrheit……………………………………………………………33 4. Auch der Wille zur Unwahrheit und die Infragestellung des Wertes der Wahrheit selbst setzen notwendig Wahrheit und die Erkenntnis ihres Wesens voraus……………………………………………………48 5. Eine knappe Darstellung und Verteidigung der klassischen Lehre von der Urteilswahrheit als Adäquatio – der Streitgegenstand………...52 6. Fünf Bedeutungen und Aufgaben einer „Wahrheitstheorie“………….. 58
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Inhaltsverzeichnis TEIL I WAHRHEIT – EVIDENZ – KOHÄRENZ KAPITEL 1 FRANZ BRENTANOS EVIDENZTHEORIE DER WAHRHEIT – EINE KRITISCHE ANALYSE
1. Grundlinien der Evidenztheorie der Wahrheit Franz Brentanos und ihre hauptsächlichen Motive…………………………………………... 63 1.1. Existenzialurteile beweisen nach Brentano, daß das wahre Urteil keiner res entspricht……………………………………………….. 66 1.2. Negative Urteile entsprechen nach Brentano ebensowenig einer res……………………………………………………………. 68 1.3. Die Verwerfung der Irrealia als dritter Grund der Ablehnung der Adäquationstheorie durch Brentano………………………………. 69 1.4. Brentanos kriteriologisches Argument gegen die klassische Wahrheitstheorie…………………………………………………... 72 1.5. Die Schwierigkeiten, den Sinn der Adäquation zu bestimmen, als Argument gegen die Evidenztheorie der Wahrheit………………... 73 1.6. Das Argument gegen die unendlich vielen Sachverhalte………….. 74
2. Evidentes Urteil bzw. Übereinstimmung mit ihm als neue Wahrheitstheorie………………………………………………………. 75 3. Einwände gegen Brentanos Kritik der Adäquationstheorie der Wahrheit………………………………………………………………..77 3.1. Die verlorene ‘res’ als ‚Sachverhalt‘: sobald ‘res’ als Sachverhalt geklärt ist, erübrigt sich Brentanos Verwerfung der Adäquationstheorie – Die ‘res’ in negativen Urteilen und Existentialurteilen…………………………………………………. 77 3.2. Es gibt die negativen Sachverhalte………………………………… 78 3.3. Das eindeutig gegebene Bestehen von unabhängig vom Urteil bestehenden Gegenständlichkeiten, die nicht Dinge sind, ist Bedingung jeder Adäquationstheorie der Wahrheit und macht Brentanos Position unnötig………………………………………... 81
Inhaltsverzeichnis
9
3.4. Kritik von Brentanos viertem, kriteriologischem Argument: Evidenz setzt in Wirklichkeit Korrespondenz voraus. Über die Möglichkeit eines Wahrheits-Kriteriums im Rahmen der Adäquationstheorie der Wahrheit…………………………………. 83 3.5. Der Sinn der ‚Adäquatio‘ läßt sich unschwer bestimmen…………. 85 3.6. Ist die Annahme unendlich vieler Sachverhalte für den Philosophen alarmierend? Über die Notwendigkeit einer realistischen Grundlegung der Urteilswahrheit in der ‚Wirklichkeit‘ im weitesten Wortsinn……………………………... 87
4. Innere Widersprüche und Irrtümer in der Evidenztheorie der Wahrheit………………………………………………………………..89 4.1. Evidenz setzt Wahrheit als Adäquation voraus……………………. 90 4.2. Wenn der evidente Charakter des Urteils dessen Wahrheit ausmacht, gelangen wir zu einem circulus vitiosus der Wahrheitsdefinition………………………………………………... 91 4.3. Die Evidenztheorie der Wahrheit als Tor zum radikalen Subjektivismus in der Erkenntnistheorie…………………………...93 4.4. Zusammenfassende Kritik zur Evidenztheorie als Wesenstheorie der Wahrheit………………………………………. 93
5. Die Einsichten in Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit, vor allem seine unverzichtbare Errungenschaft, die Übereinstimmung mit dem Urteil eines „mit Evidenz Erkennenden“ als notwendig Bedingung bzw. Folge der Wahrheit eines Urteils erkannt zu haben………………96
6. Verteidigung der Einsicht Brentanos in Evidenz als nicht-zirkuläres „Kriterium aller Kriterien“ von Wahrheit gegen Einwände…………...97
7. Evidenz als einziges Kriterium, um echte Evidenz von leichtfertiger Berufung auf Evidenz zu unterscheiden………………………………101
8. Während Evidenz ein Kriterium der Wahrheit und ihrer Erkenntnis ist, ist „Übereinstimmung mit dem Urteil eines mit Evidenz Erkennenden“ keinerlei philosophisches Kriterium für Wahrheit und Erkenntnis………………………………………………………..102
10
Inhaltsverzeichnis
9. Der Einwand der Transzendentalphilosophie gegen Evidenz als Kriterium von Wahrheit und eine neue Deutung der philosophischen Methode der Transzendentalen Deduktion als Aufdeckung unleugbarer „Wahrheiten“ und als im Einklang mit Brentanos Erkenntnis der Evidenz als höchstes Wahrheitskriterium stehend – Evidente Gegebenheiten, die auch bei ihrer Leugnung notwendig vorausgesetzt werden und die objektive Evidenz der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Denken…………………………………………... 103 9.1. Notwendige Voraussetzungen allen Denkens und Erfahrens als notwendige Voraussetzungen des Seins selbst und als in sich notwendige Gegebenheiten……………………………………..... 108 9.2. Die volle Berechtigung der These Brentanos, daß Evidenz allein das letzte und auch von jeder transzendentalen Theorie vorausgesetzte Wahrheitskriterium ist und die von Brentano übersehene Notwendigkeit, dieses Brentano’sche Wahrheitskriterium der Evidenz im Licht der Wahrheit als Adäquatio und der Transzendenz der Erkenntnis neu zu deuten… 114
10. Abschließende Bemerkung zur Verteidigung der Brentano’schen Lehre von der Evidenz als letztem Wahrheitskriterium und zur Verwerfung seiner Loslösung der Evidenz von der Adäquatio…….. 124
KAPITEL 2 DIE KOHÄRENZTHEORIE DER WAHRHEIT – EINE KRITISCHE UNTERSUCHUNG
1. Einleitung…………………………………………………………….. 127
2. Was heißt Kohärenz?............................................................................ 139 2.1. Widerspruchsfreiheit oder Nichtwidersprüchlichkeit…………….. 139 2.1.1. Formalontologische Widerspruchsfreiheit……………………. 140 2.1.2. Formal-logische Widerspruchsfreiheit………………………... 140 2.1.3. Materiale Kohärenz bzw. materiallogische Kohärenz………... 141 2.2. Kohärenz als intelligible und sinnvolle Beziehung zwischen Sachen (Sachverhalten), Erkenntnissen oder Urteilen…………… 143 2.3. Kohärenz als notwendige Verknüpfung von Urteilen, Wahrheiten, Erkenntnissen, oder Sachverhalten………………… 144
Inhaltsverzeichnis
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3. Kohärenz wovon? Über das Subjekt „der Kohärenz“………………...145 3.1. Urteile/Sätze……………………………………………………… 145 3.1.1. Ein einziges Urteil……………………………………………. 145 3.1.2. Kohärenz als Relation zwischen verschiedenen Urteilen (einigen Urteilen)…………………………………………….. 146 3.1.3. Kohärenz sämtlicher Urteile/Sätze…………………………… 147 3.1.4. Kohärenz als Eigenschaft aller wahren Urteile/Sätze………… 147 3.1.5. Kohärenz im Bereich der Erkenntnis und der Erfahrung……... 148 3.1.6. Kohärenz der Erkenntnis/Erfahrung einer einzigen Person…... 148 3.1.7. Kohärenz in der Erkenntnis und Erfahrung verschiedener Personen……………………………………………………… 149 3.1.8. Kohärenz der Erfahrung aller Subjekte………………………. 149 3.1.9. Kohärenz als Eigenschaft objektiver Sachen und Sachverhalte………………………………………………….. 149
4. Kohärenz womit? Zum Terminus der Kohärenz……………………...150 4.1. Kohärenz mit sich selbst (innere Kohärenz)……………………… 150 4.2. Kohärenz mit einigen wahren Urteilen, Erkenntnissen oder Sachverhalten…………………………………………………….. 151 4.3. Kohärenz aller Urteile, aller Dinge, aller Erkenntnisse…………... 151 4.4. Kohärenz mit der bereits erkannten Wahrheit, Wirklichkeit oder mit der bereits gewonnenen Erkenntnis…………………….. 152 4.5. Kohärenz als Eigenschaft bzw. Relation aller wahren Urteile, aller Fakten, oder aller Erkenntnisse……………………………... 153
5. Kohärenz und Wahrheit……………………………………………… 153 5.1. Kohärenz darf nicht mit dem eigentlichen Wesen der Wahrheit identifiziert werden………………………………………………. 154 5.2. Kohärenz macht nicht das Wesen der Wahrheit aus, stellt aber ein wichtiges Wesensmerkmal derselben dar……………………. 166 5.3. Kohärenz als Wahrheitsbedingung……………………………….. 167 5.4. Kohärenz als Grund der Wahrheit………………………………... 173 5.5. Kohärenz als Folge der Wahrheit………………………………… 174 5.6. Kohärenz als Wahrheitskriterium………………………………… 175 5.7. Kohärenz als Erkenntnis von Wahrheit…………………………... 182
6. Kohärenz als wichtiges Wahrheitskriterium des Detektivs, Ermittlers und Richters, sowie in der Hermeneutik von Texten…………………182
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7. Neuerliche Bemerkungen zu den Motiven der Kohärenztheorie……..184
8. Abschließende Bemerkungen über Wahrheit als adaequatio als Grundlage des einzigen vollkommenen kohärenten Systems – und über die Unmöglichkeit und Widersprüchlichkeit jedes Versuchs, Wahrheit selber als Kohärenz zu deuten……………………………...191
II. TEIL KONSENSTHEORIEN UND DISKURSTHEORIEN DER WAHRHEIT KAPITEL 3 KONSENSTHEORIEN UND DISKURSTHEORIEN DER WAHRHEIT
1. Was ist und was heisst ‚Konsens‘?....................................................... 199 1.1. „Rein objektiver Konsens“ und seine drei Arten: Konsens als bloße Gleichheit des objektiven, aus Begriffen bestehenden und von Personen gefällten Urteils; als objektive Übereinstimmung der Überzeugungen, und als rein statistisch erfaßbarer ‚linguistischerKonsens‘………………………………. 202 1.2. Als solcher erlebter Konsens – die ausdrückliche Übereinstimmung, die ein einseitiges oder gegenseitiges Wissen um die Übereinstimmung voraussetzt…………………… 217 1.3. Konsens als eigener Akt ausdrücklicher gegenseitiger Übereinstimmung, die über das gegenseitige Wissen der Gleichheit des Urteils wesenhaft hinausgeht…………………….. 220 1.4. Konsens als bloße implizite Übereinstimmung: Die sokratische Auffassung von Konsens………………………………………… 221 1.5. Konsens als Frucht und Teil ‚kommunikativen Handelns‘………. 222 1.6. Konsens als „Konsensfähigkeit“: Vier grundsätzlich verschiedene Bedeutungen von Konsensfähigkeit……………….. 223 1.7. Konsens als intersubjektive „Verifizierbarkeit“, Falsifizierbarkeit oder „Nachprüfbarkeit“………………………... 226 1.8. Konsens als bloßer Wegfall von Widerspruch…………………… 227
2. Konsens hinsichtlich seiner Subjekte…………………………………227 2.1. Verschiedenheiten der Subjekte hinsichtlich ihrer Zahl…………. 228 2.1.1. Konsens als Übereinstimmung Aller…………………………. 228
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2.1.2. Konsens als Übereinstimmung Vieler (einer Mehrheit)……… 228 2.1.3. Konsens als Übereinstimmung zweier………………………... 229 2.1.4. Konsens als Übereinstimmung eines einzigen Menschen mit sich selber……………………………………………………. 229 2.2. Konsens vom Standpunkt der „Qualität“ der Subjekte aus: Konsens der Weisen, etc…………………………………………. 229 2.2.1. Qualität der theoretischen Begründetheit……………………... 229 2.2.2. Die Qualität der Persönlichkeiten, die Subjekte des Konsenses sind……………………………………………….. 230 2.2.3. Qualität von Autoritäten, nicht Personen……………………... 232 2.2.4. Qualität des Konsenses nach dem Grad seiner dialogischen Vermittlung…………………………………………………... 234 2.2.5.Der Konsens mit der Philosophie und der Wahrheit………….. 236
3. Die Konsenstheorie der Wahrheit als Theorie über das Wesen der Wahrheit und Einwände gegen dieselbe……………………………... 237 3.1. Der erste Einwand gegen die Identifikation der Wahrheit mit dem Gegenstand des Konsenses aus der Evidenz der Verschiedenheit beider…………………………………………… 240 3.2. Argument aus der „logischen Zirkularität“ und Sinnlosigkeit der Bestimmung des Wesens der Wahrheit durch Konsens, weil damit jeglicher Sinn des Wortes ‚Konsens‘ zerstört wird…... 243 3.3. Argument aus der logischen Widersprüchlichkeit bzw. Selbstaufhebung der Konsenstheorie der Wahrheit als solcher….. 245 3.4. Argument aus der logischen Widersprüchlichkeit bzw. Selbstaufhebung der Konsenstheorie der Wahrheit durch die widersprüchlichen Inhalte des Konsenses und aus der empirischen Evidenz, daß Konsens (Für wahr Halten) nicht gleich Wahrheit ist……………………………………………….. 246 3.5. Argument aus der Unmöglichkeit, die Wahrheit aller Urteile aus Konsens ableiten zu wollen – die Wesensgrenzen des Konsenses im Verhältnis zur Totalität aller wahren Urteile……... 248 3.6. Darlegung und Kritik der Habermas’schen Version der Konsens-Theorie der Wahrheit – Ist Wahrheit durch rationalen Diskurs erreichter Konsens?........................................................... 249
4. Konsens als Wahrheitskriterium – Argumente und Einwände………. 256
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5. Konsens als Wahrheitsbedingung?....................................................... 264
6.Konsens als Wahrheitsfolge?................................................................265
7.Konsens und Ethik – Ein besonderer Fall der Konsenstheorie der Wahrheit und ihre Kritik……………………………………………... 268 7.1. Konsens als schöpferische Instanz für sittliche Normen………… 268 7.2. Konsens als Kriterium für das Bestehen sittlicher Normen……… 269 7.3. Konsens und Konsensfähigkeit als Wesen ethischer Wahrheit….. 270
III. TEIL WAHRHEIT UND ERFOLG KRITIK PRAGMATISCHER UND FUNKTIONALISTISCHER UMINTERPRETATIONEN DER WAHRHEIT KAPITEL 4 PRAGMATISCHE, PRAMATIZISTISCHE UND NEOPOSITIVISTISCHE WAHRHEITSTHEORIEN 1. Was heißt Nützlichkeit oder Erfolg?.....................................................275
2. Ist Erfolg gleich Wahrheit? Evidente Irrtümer und Widersprüche pragmatischer Wahrheitstheorien……………………………………. 280 2.1. Erfolg – Bedingung oder notwendige Folge der Wahrheit?........... 287 2.2. Erfolg als Kriterium der Wahrheit?................................................ 290
KAPITEL 5 FUNKTIONALISTISCHER WAHRHEITSBEGRIFF 1. Kritik funktionalistischer Wahrheits- und Religionsauffassungen…... 300
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IV. TEIL EXISTENTIELLE WAHRHEIT UND VERITAS VITAE KRITISCHE UNTERSUCHUNG EXISTENTIALISTISCHER UND ANALYTISCHER WAHRHEITSTHEORIEN
KAPITEL 6 CHIFFRE-THEORIEN DER WAHRHEIT KRITIK DER WAHRHEITSTHEORIE VON KARL JASPERS UND VERWANDTER THEORIEN KAPITEL 7 KRITIK SUBJEKTIVISTISCHER EXISTENTIALISTISCHER WAHRHEITSTHEORIEN 1. Grundbedeutungen von „existentieller Wahrheit“…………………… 309 1.1. Die unbestreitbare Bedeutung der existentiellen Wahrheit (der veritas vitae)………………………………………………... 309 1.2. Existentielle (subjektive) Wahrheit als Frucht der Loslösung vom Fundament der Wahrheit als adaequatio……………………. 310 1.3. Existentielle Wahrheit als Umdefinition der Urteilswahrheit oder als Ersatz für diese………………………………………….. 312
2. Kritische Analyse der genannten Auffassungen……………………... 313 2.1. Existentielle Wahrheit als Veritas Vitae – ein grundlegender und wichtiger Begriff…………………………………………….. 313 2.2. „Existentielle (subjektive) Wahrheit“ als Loslösung der existentiellen Wahrheit von der Wahrheit des Urteils bei Lessing und manchen Stellen bei Soeren Kierkegaard…………... 314 2.3. Die radikale Loslösung des Lebens von der Wahrheit als adaequatio: Von deren Leugnung zur Umdeutung der Illusion und Lüge im außermoralischen Sinn in Wahrheit: Friedrich Nietzsche und die Geburt der „subjektiven Wahrheit“ im Werk einiger Existentialisten…………………………………………… 315 2.4. Kritik an der existentialistischen subjektiven Wahrheit als Ersatz der objektiven Wahrheit und als Umdeutung der
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Inhaltsverzeichnis Wahrheit in eine leidenschaftliche Übereinstimmung allein mit sich selber oder als Selbstschöpfung, in der wahr einfach das wäre, von dem ich will, daß es wahr sei……………………... 338
KAPITEL 8 HEIDEGGERS VERWERFUNG DER ADÄQUATIO-(ORTHÓTES) THEORIE DER WAHRHEIT UND KRITIK AN SEINER WAHRHEITSTHEORIE UND THESE VOM WESENSWANDEL DER WAHRHEIT 1. Einige positive Beiträge Heideggers zur Philosophie der Wahrheit….341
2.Erste Darstellung der Gegenstände unserer Kritik der Heidegger’schen Philosophie der Wahrheit als Freiheit……………...342
3. Kritische, aufrichtige und allgemeine Vorbemerkungen über Heideggers Philosophie……………………………………………… 347
4. Kritik an Heideggers Kritik des platonischen Wahrheitsverständnisses und der Adäquationstheorie überhaupt durch seine Identifizierung der Wahrheit mit Unverborgenheit und seine These vom „Wesenswandel der Wahrheit“ in Platons Höhlengleichnis……………………………………………………… 353 4.1. Heideggers Grundthesen………………………………………….. 353 4.2. Platons Idee der Wahrheit und der paideia und die These vom angeblichen Verlust der „anfänglichen Idee der Wahrheit“……... 354 4.3. Kritik an der Subjektivierung der „Ontologischen Wahrheit“ durch ihre Deutung als Unverborgenheit………………………… 356
5. Die Funktionalisierung des Wahrheitsbegriffs und des Guten bei Heidegger…………………………………………………………….. 366
6. Der eigentliche „existentialistische Wahrheitsbegriff“ bei Heidegger im Unterschied zu jenem der Unverborgenheit…………...370 6.1. Darstellung des existentialistischen Wahrheitsbegriffs bei Heidegger………………………………………………………… 370
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6.2. Kritik der existentialistischen Wahrheitstheorie als Wesenstheorie der Wahrheit……………………………………... 371
KAPITEL 9 WITTGENSTEIN UND DAS PROBLEM „RELIGIÖSER WAHRHEIT“ – KRITISCHE REFLEXIONEN ÜBER WITTGENSTEINS WAHRHEITSBEGRIFF 1. Wittgensteins Behauptung der Unsinnigkeit der Religion und ihre Gründe………………………………………………………………...379
2. Was ist Wahrheit?................................................................................. 386
3. Wahrheit im Bereich von Weltbild und Religion und Kritik an Wittgensteins Ausschaltung religiöser Wahrheitsansprüche………… 396
4. Kritik einer schlechten Phänomenologie religiöser Akte als Quelle der Wittgensteinschen These der Unsinnigkeit der Religion…………405
5. Wahrheit und Wahrheitserkenntnis im religiösen Glauben und Kritik der Elemente existentialistischer, konsensualistischer und sprachpragmatistischer Wahrheitstheorien bei Wittgenstein………… 408
6. Kritik von Wittgensteins Meinung, daß alles Reden über Gott rein „anthropomorph“ und deshalb der Gegenstand der Religion „wahrheitsunfähig“ und total unerkennbar sei: Zur Überwindung von Wittgensteins ‚ontologischem‘ Relativismus und Agnostizismus……412
7. Kritik an Wittgensteins theologischem Agnostizismus und seiner Leugnung jedes vernünftigen Glaubensgrundes und Erkenntnischarakters des religiösen Aktes und an den sich daraus ergebenden Folgen für seine Philosophie der Wahrheit und seinem Ausschließen der Möglichkeit einer neben der Erkenntniswahrheit im strengen Sinn bestehenden Glaubenswahrheit…………………….417
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Inhaltsverzeichnis V. TEIL
WAHRHEIT, KORRESPONDENZ UND ADÄQUATION KRITIK UNGENÜGENDER VERSIONEN DER KORRESPPONDENZTHEORIE, SEMANTISCHER UND SYNTAKTISCH STRUKTURELLER THEORIEN DER WAHRHEIT KAPITEL 10 ALFRED TARSKIS PHILOSOPHIE DER WAHRHEIT UND VERWANDTE WAHRHEITSTHEORIEN UND MIT IHNEN VERBUNDENE THEORIEN DER VERMEIDUNG LOGISCHER ANTINOMIEN (BEI GÖDEL, RUSSELL, MEINONG UND ANDEREN AUTOREN) – EINE KRITISCHE UNTERSUCHUNG 1. Tarski’s ‚semantische Wahrheitstheorien‘ und ihre Kritik…………... 425 1.1. Fehler der philosophischen Methode und unzureichende Gründe Tarskis für die Verwerfung der bisherigen Versuche einer Definition von Wahrheit für die normale Sprache (Umgangssprache)……………………………………………….. 428 1.2. Die ‚semantische Wahrheitsdefinition‘ Tarskis in ihrem ersten Sinn: als rein additiv-repetitive Fassung der klassischen Adäquationstheorie und ihre Kritik……………………………… 438 1.3. Tarskis rein immanent-linguistischen Wahrheitsdefinitionen bzw. die nicht-semantische strukturelle Wahrheitstheorie Tarskis und ihre Kritik…………………………………………… 442 1.4. Die philosophischen Mängel der semantischen und der nichtsemantisch strukturellen Neufassung der Adäquationstheorie durch Tarski……………………………………………………… 449 1.5. Weitere Kritik von Tarskis nicht-semantischer und rein linguistisch-struktureller (syntaktischer) Wahrheitstheorie der formalisierten Sprachen………………………………………….. 450 1.6. Tarski über wahre und beweisbare Sätze und seine Annäherung an den Begriff der Wahrheit als Adäquation mithilfe seines Begriffs des ‚Erfülltseins‘ und Bedenken gegen diesen Ersatz der Idee der Korrespondenz……………………………………… 451 1.7. Kritik der atomischen Theorie der Wahrheit von allgemeinsätzen…………………………………………………... 453
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1.8. Kritik an Tarskis Verwechslung von Wesen und Kriterium der Wahrheit und an der These, das Widerspruchsprinzip folge aus der Wesensbestimmung der Wahrheit statt umgekehrt von dieser vorausgesetzt zu sein, sowie an der These, die Klasse aller wahren Sätze bilde ein widerspruchsfreies deduktives System……………………………………………………………. 456 1.9. Hauptpunkte der Kritik an Tarskis Wahrheitstheorie – eine Zusammenfassung………………………………………………... 458
2.Kritik an Tarskis Objektsprache-Metasprache-Dichotomie und an seinem Lösungsversuch der Antinomien durch seine Neufassung des Wahrheitsbegriffs………………………………………………... 464 2.1. Tarskis Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache und die durch sein Verbot der Grenzüberschreitung geschaffene Dichotomie zwischen beiden……………………….. 464 2.2. Allgemeine Kritik an Tarskis Konstruktion einer Dichotomie zwischen Objektsprache und Metasprache und seinem Verbot der ‚Selbstanwendung‘…………………………………………… 468 2.2.1.Führt die Anwendung der Adäquationstheorie der Wahrheit auf Gedanken, die in der normalen Sprache ausgedrückt werden, wirklich zu logischen Antinomien? Die Fragwürdigkeit dieser Thesen………………………………... 468 2.2.2.Eine antizipatorische Kritik Tarskis durch Peirce und Schröder…………………………………………………. 470 2.3. Kritik der Position Tarskis im Einzelnen………………………… 471 2.3.1.Einsichten Tarskis und Fälle unberechtigter ‚Selbstanwendung‘ metasprachlicher Aussagen auf sich selbst…………………………………………………471 2.3.2.Die Rechtfertigung der ‚universalistischen Tendenz‘ der natürlichen Sprache und die Kritik am universalen Verbot der ‚Selbstanwendung‘ und ‚Grenzüberschreitung‘…………. 473 2.3.2.1. Die ‚Selbstanwendung‘ des Wahrheitsurteils in jedem Urteil widerlegt das universale Verbot der Selbstanwendung, wie Peirce mit Recht bemerkt………………………………….. 473 2.3.2.2. Urteile über das universale Wesen von Urteilen widerlegen das allgemeine Verbot der ‚Selbstanwendung‘ …………………..474 2.3.2.3.Tarskis Verbot universaler Urteile über sich selbst als Quelle eines Selbstwiderspruchs (als Quelle einer logischen Antinomie)…………………………………….... 475
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Inhaltsverzeichnis 2.3.2.4.Die Universalität gewisser Urteile über alle Urteile verlangt notwendig, und verbietet nicht, ihre Selbstanwendung…........475 2.3.2.5.Statt der versprochenen „Einfachheit“ Komplikationen über Komplikationen…………………………………………… ..476
2.3.3.Es gibt auch individuelle, in einem Satz ausgedrückte Urteile über diesen Satz selbst, die vollkommen berechtigt sind………. 478 2.3.4.Die Falschheit der Tarskischen und anderer Identifizierungen der Quelle von Antinomien in einer Verletzung des angeblichen Prinzips der Abgetrenntheit einer gegebenen Metasprache von den ihr untergeordneten Metasprachen und Objektsprachen…... 479 2.3.5.Kritik der These, daß echte Widersprüche und logische Antinomien aus wahren bzw. möglicherweise wahren Urteilen möglich sind…………………………………………... 479 2.4. Sprachtheorie und Logik der Antinomien jenseits von Tarski und Gödel………………………………………………………… 482 2.5. Kritik von Tarskis Verwerfung der Adäquationstheorie für Aussagen der normalen Sprache, weil eine solche Theorie zu Antinomien führe………………………………………………… 483
3.Abschliessende Bemerkungen………………………………………...487
KAPITEL 11 OBJEKTIVISMUS IN DER WISSENSCHAFT UND POPPERS THEORIE DER WAHRHEIT UND PHILOSOPHISCHER RATIONALITÄT I. GRUNDLINIEN DER EPISTEMOLOGIE UND WAHRHEITSTHEORIE K. POPPERS………………………………………………………….....490 1. Kritik der Induktion und jeder Allgemeinerkenntnis – Ist Popper der Befreier vom Positivismus des Wiener Kreises oder positivistischer als die von ihm kritisierten Positivisten?.............................................. 490
2. Poppers originelle Wahrheitstheorie als Verbindung der Tarski‘schen Version der Adäquationstheorie mit einer neuen Theorie der Wahrheit allgemeiner Aussagen………………………... 498
3. Induktion, Intuition, Wesenserkenntnis……………………………… 501
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4. Auch über empirische (individuelle) Sachverhalte sei keine Gewißheit möglich (Descartes‘ Kritik)……………………………….504
5. Die ‚best bewährten‘ (nicht widerlegten) allgemeinen Theorien können auch Grundlage für Handeln (Ethik etc.) bieten: Probabilismus und das Problem des ‚Hypothetischen‘ im Bereich des Handelns…………………………………………………………. 505
6. Die 3 Weltentheorie………………………………………………….. 506
II. KRITIK VON POPPERS WISSENSCHAFTS-, WAHRHEITS- UND ERKENNTNISTHEORIE………………………………………………… 507 1. Zu Induktion, Positivismus, Fallibilismus etc………………………...507 1.1. Zur versteckten Herrschaft des Positivismus in Poppers Fragestellungen:………………………………………………….. 507 1.2. Übereinstimmung mit Poppers Kritik der (unvollständigen) Induktion als formallogischer Schlußform………………………. 508 1.3. Poppers echte Einsichten in die Möglichkeit der Falsifizierung universaler Aussagen durch Einzelbeobachtungen und Pascals Vorwegnahme der Popperschen Kritik der Induktion…………… 509 1.4. Nicht alle Universalurteile lassen sich durch (empirische) Einzelbeobachtungen falsifizieren. Kritische Überlegungen zu Einschränkungen und Bedingungen der Anwendbarkeit des Falsifizierbarkeitsprinzips………………………………………... 510 1.5. Zur Rettung empirischer Wissenschaft: die Popper’sche Mißdeutung der Induktion, die als Formalschluß ungültig ist, aber als Materialschluß unter bestimmten philosophischen und methodologischen Voraussetzungen gültig sein kann…………… 514 1.6. Lassen sich durch die Verschiebung von Verifizierung auf Falsifizierung empiristische Erkenntnistheorie und Skepsis vermeiden?...................................................................................... 517 1.7. Die Unhaltbarkeit der von Popper anerkannten positiven Rolle allgemeiner wissenschaftlichen Hypothesen ohne Erkenntnisgewißheit……………………………………………… 520
2.Zur Verisimilitude (Wahrheitsnähe, Annäherung an die Wahrheit) und deren Widerspruch zur These Poppers, daß Verifizierung allgemeiner Aussagen unmöglich sei…………………………………521
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Inhaltsverzeichnis 2.1. Vieldeutigkeit und selbst-kritische oder widerspruchsvolle Diskussion des Begriffs Wahrheitsnähe bei Popper……………... 521 2.1.1. Was heißt überhaupt Wahrheitsnähe (verisimilitude)? Sechs ganz verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks bei Popper – ohne die nötigen Unterscheidungen……………….. 523 2.1.1.1.Wahrheitsnähe als Unwiderlegtheit oder Nichtfalsifiziertheit einer Hypothese oder Theorie oder als Unwiderlegtheit ihres empirischen ‚Wahrheitsgehaltes‘ – Weitere Vieldeutigkeiten der Ausdrücke „Wahrheitsnähe“ und „Annäherung an die Wahrheit“…………………………………………………….523 2.1.1.2.Wahrheitsnähe als Wahrscheinlichkeit oder als ‚begründete‘ Hypothese………………………………………………….... 526 2.1.1.3.Wahrheitsnähe als mathematische Proportion zwischen Wahrheitsgehalt und Falschheitsgehalt einer Theorie oder als anzahlenmäßiges Überwiegen des ‚Wahrheitsgehaltes‘ einer Theorie gegenüber deren ‚Falschheitsgehalt‘…………. 527 2.1.1.4.Wahrheitsnähe als Reinheit des empirischen Wahrheitsgehalts……………………………………………. 528 2.1.1.5.Wahrheitsnähe als ‚ungefähre Entsprechung‘ mit der Wirklichkeit…………………………………………………. 528 2.1.1.6.Wahrheitsnähe als Annäherung an die ‚ganze Wahrheit‘?...... 529
2.1.2. Zum Widerspruch zwischen Poppers objektivistischem Wahrheitsbegriff und seiner im Begriff der Wahrheitsnähe (vor allem in der 3. und 4. Bedeutung) implizierten neuen Wahrheitstheorie………………………………………………..529
2.2.Kritik der implizierten ‚neuen Wahrheitstheorie‘ Poppers………………………………………………………….530
3. Zu Conjecturalism und Wesenseinsicht: Der Widerspruch zwischen bescheidenem wissenschaftstheoretischem Ziel und ‚Anspruch‘ des kritischen Rationalismus……………………………………………... 532
4. Zur Ablehnung des Cogito und empirischer Evidenz und Wahrheitsansprüche und deren Folgen für die Aufgabe der von Popper verteidigten Korrespondenztheorie der Wahrheit…………….536
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KAPITEL 11 DER KAMPF GEGEN DIE UNGESCHICHTLICHKEIT DER WAHRHEIT UND DIE GESCHICHTLICHKEIT DES MENSCHEN ZUR WAHRHEITSTHEORIE HANSGEORG GADAMERS I. DIE HERAUSFORDERUNG DER PHILOSOPHIE DURCH HISTORISMUS UND HERMENEUTIK…………………………………………………...539 II. RELATIVIERENDE UND NICHT-RELATIVIERENDE DIMENSIONEN DER GESCHICHTLICHKEIT DER PHILOSOPHIE……………………................551 1. Geschichte als Vermittlerin philosophischer Erkenntnis zeitloser Wahrheit ………………………........................................................... 552 2. Die Geschichte als Quelle von Irrtümern und Ideologien: Geschichte und Konstitution von „falschem Bewußtsein“ und bloß vermeintlichem „An sich“...……..........................................................556 3. Die Rolle der Geschichte in der Konstituierung von Noemata, Mythen und Märchen, die kein „An sich“ beanspruchen.....................558 4. Die Geschichte als Grenze und Ermöglichung der Philosophie: Historische Modifikationen von Sprache, Terminologien und Kulturen, die ein An-sich-Sein weder beanspruchen noch auflösen....560 5. Die Geschichte als Quelle bestimmter Interessen, Fragen und Probleme...............................................................................................562 6. Geschichte als Quelle von Erfahrung und Erfahrungsdaten................563 7. Geschichte als Ursprung gewisser Aspekte und komplementärer Ausschnitte aus der Gesamtwirklichkeit..............................................564 8. Geschichte als Herausforderung an den Philosophen und an alle, die sich um Wahrheitserkenntnis bemühen: Geschichte als Grund eines bestimmten Dialogs……………................................................566
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III. VIER WURZELN DES HISTORISMUS …….…………………................568 1. Der Historismus als Erzeugnis seiner selbst Konstitution des Historismus durch die Meinung, eine total neue Philosophie sei die einzig wahre: der Historismus selber……............................................568 2. Der Skandal der Widersprüche in der Geschichte der Philosophie: Von Pyrrho bis zur Hermeneutik ….……............................................569 3. Der Zweifel an einer Erkenntnis der „transzendentalen“ Prinzipien und Seinsproprietäten.........................................................572 4. Die behauptete Unerkennbarkeit des absoluten Seins…………..........573 5. Erkenntnisse ungeschichtlicher Wahrheit und transgeschichtlich wahre Urteile als Bedingung der Geschichtlichkeit des Menschen: Im Dialog mit Gadamer……………………………………..…..........575 6. Übergeschichtliche Wahrheitserkenntnis in der hermeneutischen Position……………………………………….……………..…..........580 7. Zum Problem einer Kritik auf Grund von Selbstwidersprüchen in der hermeneutischen Position …………………………………..…..........585 8. Die platonische Dialektik und der VII. Brief: Zum tiefsten Grund der hermeneutischen Philosophie Gadamers ………….………..…..........593 EPILOG NUR STREIT UM DIE WAHRHEIT – ODER AUCH SIEG DER WAHRHEIT?...597
PROLEGOMENA DER STREIT UM DIE WAHRHEIT DES URTEILS UND DIE ‚KRISE‘ DES WAHRHEITSBEGRIFFS
1. Der Streit um die Urteilswahrheit Während wir in Wahrheit und Person1 Wahrheit in ihrem vielfältigen Sinn betrachtet und von der Wahrheit des Seins, des Erkennens und des Urteils, sowie vom ontologischen Status der Urteilswahrheit und der Beziehung zwischen Wahrheit und Person mit gleicher Ausführlichkeit gehandelt haben, gilt der vorliegende Band vorwiegend dem Streit um den Sinn und das Wesen der Urteilswahrheit, auf den sich die Gigantomachie um die Wahrheit der letzten zweieinhalb Jahrhunderte bis zur Gegenwartsphilosophie in besonderem Maß konzentriert hat. Obwohl der Streit um die Wahrheit spätestens mit der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und Protagoras einsetzt,2 kann man ohne Übertreibung, wenn auch nicht ohne erhebliche Vereinfachung der Geschichte der Philosophie, sagen, daß von Sokrates, Platon und Aristoteles an, zumindest von allen großen und einflußreichen Philosophen in der antiken und mittelalterlichen Philosophie, die Wahrheit des Urteils gewissermaßen ohne Disput über ihre prinzipielle Natur als eine besondere adaequatio oder Korrespondenz zwischen Urteil und Sein verstanden wurde, auch wenn der genaue Sinn dieser Korrespondenz und die Natur des Urteils und seines Gegenstands sehr wohl Gegenstand subtiler Diskussionen gewesen sind und sich als überaus klärungsbedürftig erwiesen haben. In scharfem Gegensatz dazu ist in der neueren Zeit nicht nur ein gigantischer Streit um den Sinn der Urteilswahrheit entbrannt, sondern ist es heute geradezu selten geworden, einflußreiche Philosophen zu finden, 1
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Josef Seifert, Wahrheit und Person. Vom Wesen der Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit. De veritate – Über die Wahrheit Bd. I (Frankfurt / Paris / Ebikon / Lancaster / New Brunswick: Ontos-Verlag, 2009). Vgl. bes. Platon, Theaitetos; Protagoras. Vgl. Auch Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2003).
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PROLEGOMENA
die diesen klassischen Begriff der Urteilswahrheit verteidigen und ihn nicht durch Evidenztheorien, Kohärenztheorien, Konsens-, Diskurs- oder andere Wahrheitstheorien ersetzen wollen. Diesem Streit, dem wir uns im folgenden zuwenden und in dem wir eine kritische Neubegründung der Theorie der Wahrheit des Urteils als adaequatio intellectus et rei mit einer eingehenden Auseinandersetzung mit den alternativen Wahrheitstheorien verbinden werden, ist eine gewaltige Krise des klassischen Wahrheitsbegriffs vorausgegangen, nachdem gewichtige Einwände erhoben und Schwierigkeiten in der traditionellen Wahrheitstheorie entdeckt worden waren, die nicht durch eine einfache oder gar gedankenlose Rückkehr zur Korrespondenztheorie der Wahrheit erledigt werden können, sondern eine tiefschürfende kritische Analyse des Sinnes der Urteilswahrheit, ihrer Träger und ihres Gegenstandes (der res) sowie eine grundlegende und neue Untersuchung der eigenartigen adaequatio, in der die Urteilswahrheit besteht, ja eine „siebte Ausfahrt“ der Philosophie3 im Sinne eines radikalen Neudurchdenkens dessen, was die Wahrheit ist, verlangen. Selbst unter den selten gewordenen und verdienstvollen modernen Verteidigern der klassischen Wahrheitstheorie wie Tarski oder Popper finden wir mehr oder minder radikale Neudeutungen derselben, die gleichermaßen eine kritische Untersuchung erfordern. Eine solche kritische Untersuchung wollen wir nach einigen Reflexionen über das Ausmaß und die Radikalität der Krise des Wahrheitsbegriffs in Angriff nehmen. 2. Einige Gedanken zur Krise des Wahrheitsbegriffs In zunehmendem Maß sind wir Zeugen einer in der modernen und zeitgenössischen Philosophie eingetretenen gewaltigen Krise und Revolution des Wahrheitsbegriffs, die sich nicht nur auf die Theorien der Wahrheit des Urteils, der logischen Wahrheit, sondern auch auf jene des 3
Vgl. Balduin Schwarz, Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen Krisen und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie, hrsg. v. Paula Premoli/Josef Seifert (Heidelberg: Carl Winter, 1996).
Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs
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Erkennens, des Seins, der Kunst und des Lebens auswirken. Doch verdichtet sich die philosophische Krise des Wahrheitsbegriffs, schon seit dem 18. Jahrhundert, immer mehr in einer revolutionären Abwendung vom klassischen Verständnis der Wahrheit des Urteils als adaequatio.4 Daher sei in dieser Einleitung nur von diesem Teil der Wahrheits-Krise die Rede. Mächtiger als die Skeptiker und Relativisten der Antike haben zahlreiche Philosophien in den vergangenen zweihundertfünfzig Jahren ausgeprägte Ideengebäude und Wahrheitstheorien entworfen, welche die klassische und in diesem Buch neu verteidigte Auffassung der Wahrheit als einer, grob gesprochen, einzigartigen Form der „Übereinstimmung zwischen Geist und Sein“ durch andere Richtpunkte des Wahrheitsbegriffs wie Konsens, Kohärenz, geschichtliche Einheit des Bewußtseins, usf. zu ersetzen suchen. Eine Revolution dieses sensibelsten Bereichs einer Philosophie, ihres Wahrheitsbegriffs, besteht auch dort, wo eine Philosophie nicht ausdrücklich, wohl aber durch ihre Implikationen, eine neue Theorie über die Wahrheit des Urteils einführt.5 Letzteres gilt etwa für Kants Philosophie der Wahrheit, die sich trotz eines scheinbaren Beibehaltens der klassischen Theorie der Urteilswahrheit als Adäquatio6 letztendlich im Bereich der 4
5
6
Allerdings auch in einer Umdeutung des Erkennens und einem Angriff auf das angemessene Verständnis der Erkenntniswahrheit. Auf diese Krise werden wir im zweiten Kapitel eingehen und sind ihr in anderen, dort zitierten, epistemologischen Werken, aufbauend auf wichtigen Arbeiten anderer Philosophen und realistischer Phänomenologen, tiefer nachgegangen, in dem Bemühen, sie zu überwinden. Wir sehen hier von ihrer ebenso bedeutsamen Stellung zur ontologischen und gnoseologischen Wahrheit ab. So hat Juan-Miguel Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental: Teoría de la Verdad (Madrid: Editorial Gredos, 1979) gezeigt, daß Kant explizit die Adäquationstheorie der Wahrheit bejaht hat. Eine ähnliche Position nimmt R. Hiltscher in seiner Studie, „Kants Begründung der Adäquationstheorie der Wahrheit in der transzendentalen Deduktion der Ausgabe B“, Kantstudien (1993), 84 (4), 426-447, ein. Der Autor stützt sich auf die Verteidigung der Adäquationstheorie der Wahrheit in Kants B-Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe (Berlin: Walter de Gruyter & Co., 1968), Kap. 1520, wo die Möglichkeit der Übereinstimmung zwischen Erkenntnis und Objekt aufgezeigt werden soll. Dabei seien die objektive Synthese des Urteils und die
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PROLEGOMENA
Ethik auf eine besondere Form moralisch-pragmatischer und in jenem der theoretischen Philosophie auf eine kohärenzbezogene Wahrheitstheorie zubewegt,7 die zahlreiche andere Wahrheitsauffassungen sowie Relativierungsversuche oder Zweifel an aller Wahrheit überhaupt (trotz aller bestehenden Unterschiede zu diesen) inspiriert hat. Ja, einerseits durch seine Leugnung der Erkennbarkeit der Wahrheit im klassischen Sinne (der Übereinstimmung unserer Urteile mit Dingen an sich), andererseits durch seine kohärenztheoretische Idee der Wahrheit als bloßer ‚Einhelligkeit‘ und Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst, hat Kant sogar Nietzsches radikal ablehnende Stellung zur Wahrheit als einer Angleichung des Urteils an eine unabhängig vom menschlichen Geist bestehende Wirklichkeit vorweggenommen und jedenfalls gewaltig beeinflußt.8
7
Synthese des Gegenstands der Anschauung denselben Prinzipien der Einheit unterworfen. Beide entsprächen der „Synthesis überhaupt“. Ebd., Kap. 21-27, sind dem erheblichen Unterschied zwischen beiden Synthesen gewidmet. Vgl. auch Thomas Nenon, Objektivität und endliche Erkenntnis. Kants transzendentalphilosophische Korrespondenztheorie der Wahrheit (Freiburg: Alber, 1986). Vgl. Immanuel Kant, Logik (1800), Einleitung, 7 B. Dem entsprechen auch gewisse Stellen in Fichtes Werk. So trägt Fichte eine radikale transzendentalphilosophische Kohärenztheorie der Wahrheit gerade nach seiner schönen Hervorhebung des Interesses des „reinen Interesses an der Wahrheit“ um ihrer selbst willen, weil sie Wahrheit ist, vor: Unser Interesse für Wahrheit soll rein seyn; die Wahrheit, bloss weil sie Wahrheit ist, soll der letzte Endzweck alles unseres Lernens, Denkens und Forschens seyn. Die Wahrheit an sich aber ist bloss formal. Uebereinstimmung und Zusammenhang in allem, was wir annehmen, ist Wahrheit, sowie Widerspruch in unserem Denken Irrthum und Lüge ist. Alles im Menschen, mithin auch seine Wahrheit, steht unter diesem höchsten Gesetze: sey stets einig mit dir selbst!
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Johann Gottlieb Fichte, Vermischte Schriften und Aufsätze (1786-1811), „Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit“, VIII344. Vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta (München: C. Hanser, 1956-1966); und Nietzsche-Index zur Ausgabe von K. Schlechta (München: C. Hanser, 1965), Bd. 1, S. 302/ 3. Vgl. auch Josef Seifert, „Friedrich Nietzsches Verzweiflung an der Wahrheit und sein Kampf gegen die Wahrheit“ in: Dietrich von Hildebrand (Hrsg.), Rehabilitierung der Philosophie (Regensburg: J. Habbel, 1974), S. 197-211.
Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs
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Allgemeiner gesprochen untergräbt jedes auch fast unmerkliche Ersetzen des im dritten Kapitel des Werkes Wahrheit und Person in phänomenologischer Analyse entfalteten und nun im Streit um die Wahrheit zu verteidigenden klassischen Wahrheitsbegriffs als Adäquatio durch Kohärenz, Konsens, oder durch pragmatisch gedachte Wirkungen von Urteilen und Ideologien auf das moralische, kognitive oder gesellschaftliche Leben die von einem Denker noch scheinbar festgehaltene klassische Adäquationstheorie der Wahrheit zutiefst. Selbst wenn der klassische Wahrheitsbegriff nicht aufgegeben, aber doch de facto die Frage danach, ob eine bestimmte Theorie wahr ist (etwa ob physikalische Theorien über Raum und Zeit wahr sind, ob es wahr ist, daß Raum und Zeit relativ oder absolut sind und der Raum euklidisch ist oder nicht-euklidischen Geometrien entspricht, etc.), durch die Frage nach der besseren Brauchbarkeit bestimmter Theorien in der Praxis wissenschaftlicher Experimente, Erklärungen oder Anwendungen ersetzt wird, stehen wir vor einem Versuch der Entthronung der Wahrheit und ihres Primats und zugleich vor einem unausgesprochenen historischen Wandel des Wahrheitsbegriffs, wie er in jeder seiner vielfältigen Formen einen ungeheuren Einfluß auf das Ganze einer Philosophie ausübt, da kein anderer Teil einer Philosophie unberührt bleiben kann, wenn einmal ihr Zentralstück, die Lehre über die Wahrheit, angetastet worden ist. Auch in so noblen Philosophien wie jener Kants, in denen sich angesichts ihres anscheinenden Festhaltens an der klassischen Wahrheitsauffassung nur stillschweigend und unterschwellig eine Revolution der Wahrheitstheorie vollzieht, wirkt sich diese in sehr radikaler Weise aus.9 9
Sicherlich hat Kant, wie J.M. Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental: Teoría de la Verdad, gezeigt hat, explizit die Adäquationstheorie der Wahrheit bejaht. Vgl. etwa die Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft B 82 und 83: B 82 Die alte und berühmte Frage, womit man die Logiker in die Enge zu treiben vermeinte und sie dahin zu bringen suchte, daß sie sich entweder auf einer elenden Dialexe mußten betreffen lassen, oder ihre Unwissenheit, mithin die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen sollten, ist diese: Was ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntniß mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntniß sei. B 83... Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntniß mit ihrem Gegenstande besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von andern unterschieden werden; denn eine
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PROLEGOMENA
Mit der Feststellung von Kants Festhalten an einem gewissen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff ist nämlich keineswegs bewiesen, daß nicht aus Kants Philosophie, zumindest als Folge ihres neuen Verständnisses der synthetischen Urteile a priori als im Verstand und nicht in den Dingen begründet (als Übereinstimmung mit den „allgemeinen und formellen Gesetzen des Verstandes“), ein radikal neues Verständnis der Wahrheit resultiert.10 Außerdem stimmt Kant, der die klassische Wahrheitsdefinition an vielen Stellen erwähnt und beizubehalten scheint, ihr nicht an allen Stellen zu, sondern bestimmt Wahrheit, insbesondere in ihrem Verständnis innerhalb der formalen Logik, in einer Reihe von Zusammenhängen im Sinne einer rein subjektiven Kohärenztheorie der Wahrheit, einer „in sich Stimmigkeit der Vernunft mit sich selber“,11 worauf wir in dem Kapitel über die Kohärenztheorie der Wahrheit zurückkommen werden.12 Schon die Leugnung der Erkennbarkeit des ‚Dings an sich‘, des Seins in seinem vom menschlichen Subjekt unabhängigen Dasein und Wesen, stellt, wenn nicht die Urteilswahrheit selber, so doch die Erkenntniswahrheit und jede Gewißheit über eine objektive Wahrheit von Urteilen über die vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit und damit auch die sinnvolle Anwendbarkeit eines Wahrheitsbegriffs als Korrespondenz mit der vom Menschengeist unabhängigen Wirklichkeit radikal in Frage, wie dies in einem Schreiben Heinrich von Kleists, das Friedrich Nietzsche im folgenden Erkenntniß ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl von andern Gegenständen gelten könnte. Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von allen Erkenntnissen ohne Unterschied ihrer Gegenstände gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntniß (Beziehung auf ihr Object) abstrahirt, und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem Merkmale der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und daß also ein hinreichendes und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne.
10 11 12
Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis (Salzburg: A. Pustet, 21976), II. Teil. Für K. Poppers und A. Tarskis Wahrheitstheorien werden wir in Der Streit um die Wahrheit Ähnliches zeigen. Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 85. Vgl. Immanuel Kant, Logik (1800), Einleitung, IX 51-52. Vgl. unten, Kap. 2.
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Text, auf dessen Bedeutung wir im Kapitel über existentialistische Wahrheitstheorien ausführlicher zurückkommen werden, zitiert, bewegend zum Ausdruck kommt: Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs. Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk und Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtnis hat, ja es scheint mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man überall lesen kann, seit der Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor allem selbst revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete es sein könnten. Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden; und nur bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und Verzweiflung in aller Wahrheit eintreten, wie sie z.B. Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. ‚Vor kurzem‘, schreibt er einmal in seiner ergreifenden Art, ‚wurde ich mit der Kantischen Philosophie bekannt – und dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird als mich. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. Ist’s das Letztere, so ist die Wahrheit die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben ein Eigentum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich. – Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe keines mehr.‘ Ja, wann werden die Menschen wieder dergestalt
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PROLEGOMENA Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem ‚heiligsten Innern‘ messen?...13
Wir wissen, wie Nietzsche, selber von dieser Verzweiflung an der Erkennbarkeit der Wahrheit ausgehend, eine radikal fiktionalistische und konstruktivistische Wahrheitstheorie an die Stelle der Adäquatio setzte und ein Leben des Übermenschen, der sich von jeder Bindung an eine vorgegebene Wirklichkeit und Wahrheit zu lösen habe, verkündete. Während Nietzsche noch die ganze Dramatik dieser Verwerfung der klassischen Wahrheitstheorie, viel deutlicher als Kant sah, der nicht einmal die aus seiner Kritik der reinen Vernunft folgende Auflösung des klassischen Wahrheitsbegriffes deutlich erkannte, finden wir heute Konstruktivisten wie Kenneth Gergen, die ohne Wimpernzucken und ohne den in ihrer Position liegenden Widerspruch zu bemerken, es wie die harmloseste Theorie der Welt verbreiten, die Idee der Wahrheit sei die gefährlichste Idee überhaupt, der soziale Konstruktivismus mache keinen Wahrheitsanspruch und Sein und Wahrheit inklusive der konstruktivistischen Erkenntnistheorie selber seien nichts als soziale Konstrukte, eine im Vergleich zu Nietzsche ungemein oberflächliche Form des Konstruktivismus.14 Mit Kants, Nietzsches15 und vieler anderer Denker Abwendung von einer korrespondenztheoretischen Wahrheitskonzeption aber fallen auch viele zentrale Dimensionen der ontologischen und der Erkenntniswahrheit weg und verbreitet sich der von Nietzsche als Wirkung der Kantschen Philosophie vorausverkündete „alles zernagende und zerbröckelnde Skeptizismus und Relativismus“ immer weiter, eine Entwicklung, die sich nur durch eine prinzipielle Kritik der von Hume und Kant in sehr verschie-
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Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Ne. We. Bd. 1, S. 302/ 3 Die zitierte Kleist-Stelle stammt aus einem Brief vom 22. III. 1801. Vgl. Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe, Bd. 6, S. 163. Vgl. Kenneth Gergen, papers online: http://www.swarthmore.edu/SocSci/kgergen1/web/page.phtml?id=manuscripts&st=manuscri pts#construction.
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Vgl. George L. Stack, “Kant and Nietzsche’s Analysis of Knowledge,” Dialogos, (1987), (22), 7-40.
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dener Gestalt ausgehenden Wende zum philosophischen Subjektivismus überwinden läßt. Daß eine Wahrheitstheorie scheinbar an der Wahrheit im klassischen Sinne festhalten, sie aber zugleich umstürzen kann, trifft auch auf diverse moderne Wahrheitstheorien, wie jene Tarskis und Poppers, zu: obwohl auch diese scheinbar an der klassischen Wahrheitsauffassung festhalten, deren Gültigkeit wir zu erweisen hoffen, untergraben sie diese mehr oder minder radikal, worauf wir ausführlich eingehen werden.16 Auch umgekehrt beeinflussen alle übrigen Teile einer Philosophie, insbesondere deren Ontologie, die Wahrheitstheorie derselben, da der Wahrheitsbegriff vom Seinsbegriff unablösbar ist, wie auch andererseits eine Wahrheitstheorie die ihr entsprechende Ethik, Erkenntnistheorie, Ontologie usf. entscheidend mitbestimmt, da sich der Wahrheitsbegriff einer Philosophie unvermeidlich auf all diese Bereiche auswirkt, indem etwa eine Ethik, die keine Seinswahrheit und keine Urteilswahrheit (im Sinne der adaequatio) über unwandelbare Prinzipien anerkennt, zu einer Diskursethik oder einem anderen ethischen System, das die unbedingte sittliche Verbindlichkeit der Wahrheit nicht anerkennt, abgleiten wird. So erweist sich die Frage nach dem Wesen der Wahrheit als eine Grundfrage und eine erste Frage der Philosophie sowie als Teil der praeambula ethica und bedeutet ihre Krise eine Krise der gesamten Philosophie. 3. Radikale Infragestellung der Wahrheit und ihres Wertes bei Friedrich Nietzsche und (un)moralische Quellen der Umdeutung der Wahrheit Das Bemühen um Wahrheit ist also ein wahrer Brennpunkt philosophischer Bemühungen, und zugleich ist ihre Infragestellung oder Umdeutung eine Urversuchung jedes Menschen und insbesondere jedes Philosophen. Das zeigt sich mit unvergleichlicher Deutlichkeit am Beispiel einer Nietzsche-Stelle, in der nicht nur die Existenz der Wahrheit und der Wille zur Wahrheit, sondern der Wert dieses Willens zur Wahrheit, radikal in Frage gestellt wird: 16
Darauf werden wir in Der Streit um die Wahrheit in den Kapiteln über Tarski und Popper zurückkommen.
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PROLEGOMENA Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen Fragen! Was wunder wenn wir endlich einmal mißtrauisch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Daß wir von dieser Sphinx auch unsrerseits das Fragen lernen: Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich ‚zur Wahrheit‘? – In der Tat, wir machten lange halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens – bis wir zuletzt vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewißheit? Selbst Unwissendheit? – Das Problem vom Werte der Wahrheit trat vor uns hin – oder waren wir’s, die vor das Problem hintraten? Wer von uns ist hier Ödipus? Wer Sphinx? Und sollte man’s glauben, daß es uns schließlich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher gestellt – als sei es von uns zum ersten Male gesehn, ins Auge gefaßt, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei und vielleicht gibt es kein größres.17
Wenn Friedrich Nietzsche in der Infragestellung der Wahrheit und insbesondere des Wertes der Wahrheit als Richtlinie menschlichen Handelns das vielleicht größte Wagnis überhaupt erblickt, hat er zweifellos prophetisch gesprochen. Denn das vergangene Jahrhundert kann nicht nur als eines betrachtet werden, in dem ein gigantischer theoretischer Versuch unternommen wurde, die Wahrheitsfrage auszuschalten, sondern es ist auf weite Strecken hin ein erschreckendes praktisches Experiment einer Ausschaltung oder Uminterpretation der Wahrheit und dokumentiert als solches die möglichen und über alle Phantasie des Normalbürgers hinausgehenden unausdenkbaren Greuel und realpolitischen Folgen dieses „größten Wagnisses“. Ist nicht das 20. Jahrhundert, dessen ‚Geist‘ Nietzsche mit heraufbeschworen hat, gerade eines, das dieses Wagnis unternommen hat, den Wert der Wahrheit in Frage zu stellen und Wahrheit als Grundlage menschlichen Handelns auszuschalten und in den großen Ideologien des Jahrhunderts andere Gesichtspunkte an deren Stelle zu setzen? Daß nicht die Annahme der Absolutheit der Wahrheit menschenverachtender Ideologien, sondern die Ausschaltung und Entthronung der Wahrheit an der Wurzel des Nationalsozialismus, Dialektischen Materialis17
Siehe Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse I, 1.
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mus und Kommunismus, sowie des Faschismus lag, wurde von verschiedenen Denkern nachgewiesen und soll hier nicht näher ausgeführt werden.18 Häufig wurde bei einer Entthronung der Wahrheitsfrage nicht einfach die Bedeutung der Wahrheit geleugnet, oder – wie bei Nietzsche – der Wert des Willens zur Wahrheit überhaupt in Frage gestellt, sondern vielmehr die Wahrheit umdefiniert, und die Urteilswahrheit, anstatt sie durch die eigentümliche Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, mit den bestehenden Sachverhalten, als die sie sich erweisen wird, zu bestimmen, umgedeutet, z.B. als Nützlichkeit. Wahr, so behauptete man, ist etwa „was der kommunistischen Partei“ oder „was dem Nationalsozialismus nützt,“ „was der arischen Rasse entspricht,“ was dem Fortschritt dient, was uns befriedigt oder uns zur „Kontingenzbewältigung“ verhilft, was wir in schöpferischer Selbstgestaltung unseres Lebens wünschen oder als unsere soziale Realität konstruieren, was mit den Ideen unserer Zeit oder dem Zeitgeist übereinstimmt, was Konsens erhält oder sich im Diskurs bewährt, was kohärent ist, usf. Mit diesen und anderen Namen benennt man jene neuen Maßstäbe, die den angeblich veralteten und von Nietzsche als zu überwindenden bezeichneten Maßstab der Wahrheit ersetzen sollen. Sogar Nietzsche jedoch, obgleich er das „größte Wagnis“ eines wahrheitslosen Lebens verteidigt, erkennt die Gefährlichkeit dieses Wagnisses an, das die ganze Gesellschaft und Rechtsordnung wie eine Flutwelle mit sich fortreißen und Chaos gebären kann,19 und das tatsächlich 18
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Vgl. Dietrich von Hildebrand, „Die Entthronung der Wahrheit“, in: Dietrich von Hildebrand, Idolkult und Gotteskult. Gesammelte Werke Band VII, (Regensburg: Josef Habbel, 1974), S. 309-339); vgl. Rocco Buttiglione, Augusto del Noce. Biografia di un pensiero (Casale Monserrato: Piemme, 1991); vgl. Josef Seifert, „Ideologie und Philosophie. Kritische Reflexionen über Marx-Engels ‚Deutsche Ideologie‘ – Vom allgemeinen Ideologieverdacht zu unbezweifelbarer Wahrheitserkenntnis“ in: Prima Philosophia, Bd. 3, H 1, 1990. Auch Cicero hat auf dieses „größte Wagnis“ einer von Wahrheit losgeketteten Gesellschaft und Rechtsordnung hingewiesen. Vgl. Josef Seifert, „Demokratie, Wahrheit und Gerechtigkeit. Cicero und das Problem des Pluralismus“, in: H. Schuschnigg, D. Gutsmann, H. Starhemberg (Hrsg.), König und Volk. Demokratie im Wandel der Zeit, Maximiliana Bd. VI, (Wien-München, Amalthea Verlag, 1992), S. 27-51.
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inzwischen zu Millionen Toten geführt hat, und zwar nicht nur in den Kriegen oder den totalitären Schreckensherrschaften, welche Millionen Erwachsene hingemordet haben, sondern auch heute in der sogenannten freien Welt, der „Achse des Guten“, wie Präsident Bush sie (ohne wirkliche Rechtfertigung) genannt hat, in der alljährlich Millionen geborene und ungeborene Menschen Opfer einer Entthronung der Wahrheit sind, herrsche diese nun in der freien Welt oder in einem von der marxistischen Ideologie beherrschten Land wie China, dessen Ministerin sich öffentlich rühmen kann, innerhalb kürzester Zeit durch ihre forcierte und rein pragmatische Einkind-Familienpolitik 200 Millionen Menschen ermordet zu haben, wobei in dieser Tat – ebenso wie in einer Art Selbstkritik ihrer Folgen – nur noch die praktischen und insbesondere die wirtschaftlichen Folgen dieser Politik bedacht werden (z.B. ein disproportioniertes Absinken der weiblichen Bevölkerung, darauf folgende Mädchenentführungen und Zwangsheiraten, eine bedrohliche Bevölkerungspyramide, etc.) und nicht einmal mehr die Frage geprüft wird, ob eine solche Politik der Wahrheit über den Menschen und seiner Würde widerspricht oder nicht. Das ‚Wagnis‘ einer derartigen Entthronung der Wahrheit kann jedoch nicht nur nach den real-politischen Folgen oder sonstigen praktischen Konsequenzen alleine, die aus der Entthronung der Wahrheit faktisch erflossen sind, hinreichend ermessen werden. Denn dieselben und ähnliche realpolitische Konsequenzen könnten auch dogmatisch geglaubten Irrtümern über den Menschen entspringen, die einen Wahrheitsanspruch enthalten und seine Würde leugnen. Auch wenn etwa die nationalsozialistische Ideologie nicht von einem zynischen Relativismus und einer versuchten Entthronung der Wahrheit durchzogen, sondern von jemandem als letzte und objektive Wahrheit geglaubt worden wäre, was ja auch wohl bei ihren Anhängern vielfach der Fall war, wären ihre Wirkungen im Wesentlichen gleich schlimm geblieben. Wir können deshalb die Greuel und Unmoral, die sich aus dem von Nietzsche angesprochenen „größten Wagnis“ ergeben, nicht als bloße Historiker und Empiriker daraus ablesen, daß im Namen der schlechthinnigen Entthronung der Wahrheit und ihrer Ersetzung durch wahrheitsfremde Maßstäbe gigantische Archipel Gulags aufgerichtet und Holocauste ins
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Werk gesetzt wurden.20 Welch großes Wagnis in diesem Versuch der Loslösung von einer objektiven Wirklichkeit und Wahrheit menschlichen Handelns liegt, kann man nicht nur aus dem ermessen, was im Namen eines faschistischen Relativismus Mussolinis, im Namen der Entthronung der Wahrheit durch eine ‚arische Wahrheit‘ oder durch kommunistische Parteiinteressen in unserer empirischen Welt tatsächlich geschehen ist, so furchtbar dies auch ist und so sehr es genügt, um die Bedeutung des angemessenen Verständnisses von Wahrheit zu begreifen und die Absurdität der Behauptung des Ägyptologen Jan Assmann zu erkennen, Moses‘ Abwendung von den vielen Göttern Ägyptens und dessen (bzw. des auf Sinai erschienenen Gottes) absolutistischer Wahrheitsanspruch sei die Wurzel solcher Greuel wie Auschwitz gewesen, so als hinge es nicht vom Inhalt einer Ethik oder Religion, sondern von ihrem Wahrheitsanspruch als solchem ab, ob ihre Anwendung zu Frieden oder zu totalitär verbrecherischem Verhalten führe, und als ob nicht gerade jeder rationale Widerstand gegen Chaos und Verbrechen Wahrheit voraussetzte, sodaß die Quelle von ungerechten Kriegen und Vernichtungslagern keineswegs in Wahrheitsansprüchen als solchen liegen kann.21 20
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Vgl. Dietrich von Hildebrand, “The Dethronement of Truth,” in: The New Tower of Babel (London: Burns & Oates, 1954), S. 57-100; übersetzt als „Die Entthronung der Wahrheit“, S. 309-339. Vgl. ders., Memoiren und Aufsätze gegen den Nationalsozialismus 1933-1938. Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, mit Alice von Hildebrand und Rudolf Ebneth hrsg. v. Ernst Wenisch (Mainz: Matthias Grünewald Verlag, 1994), sowie Alexander Solschenizyn, Macht und Moral zu Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts, hrsg. v. Rocco Buttiglione und Josef Seifert, Internationale Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, Akademie-Reden (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1994). Wir leben heute sicherlich in einer Gesamtkultur, der Assmanns Ideen vernünftig erscheinen mögen, in einer Zivilisation, die im Namen grenzenloser Freiheit, die in Willkür umgedeutet wird, und mit Hilfe einer relativistischen Religionsphilosophie und Religionspsychologie, in zunehmendem Maße die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Philosophie, Ethik oder Religion, sowie den Gedanken eines einzigen wahren Gottes als Friedensstörer zurückweist. Gegen diesen evolvierenden oder sogar explodierenden kulturellen Hintergrund mit seinen polytheistischen Sympathien fand am 6. Juli 2004 der Einführungsvortrag des damaligen Heidelberger Gadamer-Professors Jan Assmann statt, der in
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Auch setzt jede Aussage Assmanns Wahrheit und also voraus, daß deren Gegenteil falsch ist. Assmann läßt sich durch solche Nachweise der Widersprüchlichkeit seiner Position nicht beeindrucken: Ja selbst solche letzte Einsichten griechischer Philosophen in die ontologischen und logischen Grundgesetze, welche derartige Widersprüche verbieten, sind für Assmann Teil des Programms der „mosaischen Unterscheidung“ und jedenfalls dieser vergleichbar: nichts als Denkzwänge, denen sich zu unterwerfen ähnlich negative einengende Folgen habe wie die Unterwerfung unter die „mosaische Unterscheidung“ zwischen dem wahren Gott und falschen Göttern, die zu einer „Gegenreligion“ führe.22 Und der Preis der
der vor Zuhörermassen platzenden „alten Aula“ der Universität über das Thema „Ausschließlichkeit – der Preis des Monotheismus“ sprach und dort seine aus einer Reihe von Büchern bekannten und höchst brisanten Thesen vor dem Publikum ausbreitete, ja mit sanfter Stimme beschwor: Während Aristoteles und Darwin erkannt hätten, daß die Natur keine Sprünge mache, habe es diese in der Geschichte der Menschheit sehr wohl gegeben. Der größte dieser Sprünge aber sei der Übergang vom alten Polytheismus der primär-religiösen Kulturen zur „Gegenreligion“ des Monotheismus gewesen, am eindringlichsten durch Moses’ Auszug aus Ägypten symbolisiert. Auf diesem Exodus gab es auf einmal den einen Gott, dessen Gesetze das ganze Leben kontrollierten; und ebenso plötzlich sei die ‚mosaische Unterscheidung‘ zwischen wahren und falschen Religionen aufgetaucht, eine von einem Historiker schwer begreifliche Behauptung.
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Assmann, der die Unterscheidung von wahr und falsch „mosaisch“ nennt, erwähnt selber, daß wir die Unterscheidung zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ auch unabhängig von Moses am Anfang der griechischen Philosophie finden. – Etwa bei Xenophanes, der an Homer und Hesiod aussetzte, sich die Götter wie Menschen mit menschlicher Stimme und menschlichem Gesicht vorgestellt und vor allem, ihnen alle Schandtaten angedichtet zu haben, wie „Stehlen, Ehebrechen und einander Betrügen“, die unter Menschen eine Schande sind, und der gerade diesen falschen oder menschlich-allzumenschlichen Gottesbildern die Wahrheit über Gott entgegenstellte, indem er sagte, es herrsche in Wahrheit „nur ein einziger Gott, unter Menschen und Göttern der Größte, weder an Aussehen den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.“ Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit in den Religionen ist aber auch schon deshalb keine mosaische Erfindung, da sie eine simple Folgerung der Logik ist: einander widersprechende Religionen können evidenterweise nicht zusammen wahr sein. Ich zitiere Assmann:
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dreieinhalb Jahrtausende währenden welterobernden und weltumspannenden Herrschaft monotheistischer Religionen und ihres Wahrheitsanspruchs seien Ausschließlichkeit, Gewalt und Intoleranz gewesen.23 Wie ich diese Bezeichnung meine, möchte ich an dem Parallelfall der Wissenschaft deutlich machen. Wie die monotheistische Religion auf der Mosaischen, so beruht die Wissenschaft auf der Parmenideischen Unterscheidung. … Die eine unterscheidet zwischen wahrer und falscher Religion, die andere zwischen wahrem und falschem Wissen. Diese Unterscheidung, die sich in den Sätzen von der Identität, vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten (“tertium non datur”) artikuliert, wird gemeinhin mit dem Namen des Parmenides verbunden, … Mit Recht spricht Werner Jäger von einem ‚Denkzwang‘, der hier eingeführt wird ‚…, der von der Unvollziehbarkeit des logischen Widerspruchs ausgeht.‘ Dieser Denkzwang … zieht eine Grenze zwischen dem ‚wilden Denken‘ als den traditionellen, mythischen Weisen der Welterzeugung und dem logischen Denken, das sich dem Denkzwang des Satzes vom Widerspruch unterwirft.“
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Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, (München/Wien: Carl Hanser Verlag, 2003), S. 23-24. Der Professor behauptet dies natürlich nicht ganz offen, sondern flüstert und insinuiert es bis auf wenige Passagen nur, und ist überhaupt ein Meister darin, das, was er eben doch gesagt hat und was alle verstanden haben, gleich wieder aufzuheben, sich sehr erstaunt darüber äußernd, wieviel „Staub seine Bücher doch immer wieder aufwirbeln“, und dabei den Hörer und Leser, geradeheraus gesprochen, als simplistischen, Mißverständnissen erliegenden, grobschlächtigen Menschen darstellt, der sich über irgendwelche Gedanken aufregt, die doch weit entfernt von Assmanns wirklichen Ideen über Moses den Ägypter seien. Doch Assmanns Aufzählen der Ausrottung ganzer Städte durch den Makkabäerfürsten, seine Hermeneutik des Martyriums der sieben Makkabäerbrüder und zahlloser anderer Märtyrer als „passive Gewalt“ ausübende Menschen, die sich, so kann man schließen, eher negativ von der Geistigkeit und Friedfertigkeit ihrer Mörder abheben, und sein Schweigen über die von einem Hannibal, Julius Caesar, Alexander, begangenen und von ihnen und Tausenden Anderen beschriebenen Untaten zivilisierter und „wilder“ polytheistischer afrikanischer, germanischer, amerikanischer oder afrikanischer Stämme, sowie über die von atheistischen totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts begangenen Greuel, nicht zuletzt auch sein Nichterwähnen der Zentralbotschaft der Seligpreisungen der Friedfertigen in den als Quellen der Intoleranz angeprangerten monotheistischen Religionen, läßt die Botschaft des neuen Professor-Propheten ahnen: der viel geehrte Mann, oder gar ein Größerer, verheißt uns den neuen Propheten, oder ist gar selber der „Moses der Ägypter“, der uns an der Hand nehmen und in ein neues und zugleich das urtümliche Europa, ins gelobte Land der vielen Götter, zurückführen wird. Wer sich dem Propheten in den Weg stellt – wie ein Zuhörer beim Vortrag, der entrüstet aufstand und, wenn auch gegen die guten akademischen Manieren, so
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doch anerkennenswerter Weise und beherzt öffentlich sagte, nicht Moses, sondern der polytheistische Pharao, sei der Unterdrücker und Mann der Gewalt gewesen – wird kurzerhand von drei Männern gepackt und unter dem Applaus der gebannt dem Preisträger des höchsten deutschen Historikerpreises lauschenden Menge durch den ganzen Saal getragen und zur Tür hinausgedrängt. Vielleicht ist solches Verhalten Vorbote des neuen toleranten akademischen Stils, den wir von polytheistischen Akademikern erwarten dürfen. Ein Universitätsprofessor und Rektor einer Nachbaruniversität, der nicht an unerlaubtem Orte wie das unglückliche Opfer besagter Gewalt, sondern dort die ungeheuerliche Geschichtskonstruktion des Historikers kritisierte, wo dies erlaubt ist, nämlich beim Gadamer zu Ehren veranstalteten Empfang nebenan, wird keiner Antwort gewürdigt, sondern muß sich sagen lassen, er habe den Vortragenden so schlecht verstanden, daß man mit ihm beim besten Willen nicht weiterreden könne. Dies ungeachtet der Tatsache, daß auch Zenger, Koch, Kuschel und die andern Kritiker, die im Anhang des Werks des Ägyptologen, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, zu Worte kommen, die Botschaft des Autors im wesentlichen gleich hören wie der mit Nichtbeantworten bestrafte Professor. Die entrüstete Frage eines Zuhörers kommt mir in den Sinn: „Sind wir an einem Punkt angelangt, wo mit Preisen ausgezeichnete Ordinarien und Historiker berühmter Universitäten Unsinn reden dürfen, für die jeder Maturant das Abitur in Geschichte wiederholen müßte?“
Es war ein beängstigendes Erlebnis. Ist dies der neue, den Exodus rückwärts gehende Prophet Europas, der große Historiker, der alle Grausamkeiten, Kriege, Greuel und Menschenopfer der Baalsdiener, der Antike und heutiger polytheistischer Völker mit keinem Wort erwähnt?; der die Intoleranz und das Verbrechertum des durch und durch relativistischen und atheistischen Kommunismus und des Nationalsozialismus und Faschismus, die die „mosaische Unterscheidung“ zwischen wahr und falsch abschafften und einem zynischen Pragmatismus frönten, der nur noch die Unterscheidung „nützlich“ oder „schädlich für die Partei“ machte, vergißt? Der der Millionen Opfer atheistischer totalitärer Staaten des 20. Jahrhunderts und zynisch aufgeklärter Herrscher mit keinem Worte gedenkt, aber insinuiert, daß eigentlich Moses der Jude, als er an die Stelle Moses’ des Ägypters getreten sei, selber an Eichmanns und Hitlers Verbrechen gegen die Juden schuldig geworden sei, weil er, „wenn er überhaupt existiert habe“ und nicht eine Fiktion unserer historischen Erinnerungspur sei, den falschen Weg der radikalen Abgrenzung eingeschlagen habe, auf dem Hitler nur konsequent weitergegangen wäre? Vgl. Rocco Buttiglione, Augusto del Noce. Biografia di un pensiero; ders., Dietrich von
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In Wirklichkeit können Ungerechtigkeit und ungerechte Gewalt ausschließlich dann rational zurückgewiesen werden, wenn dies von einer objektiven Wahrheit aus geschieht, die der Falschheit entgegengesetzt ist und führt die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit so wenig zu diesen, daß im Gegenteil gerade ihre Abschaffung bzw. Leugnung rein objektiv noch viel grauenhaftere Folgen hat als das historische Experiment des 20. Jahrhunderts sie uns offenbart hat. Die grauenerregenden Folgen des „größten Wagnisses“ und der Infragestellung des Wertes der Wahrheit ergeben sich nämlich rein logisch aus dem von Nietzsche als „größtes“ bezeichneten Wagnis, nämlich nicht mehr Wahrheit über den Menschen und sein Handeln als Richtschnur menschlichen Handelns beibehalten zu wollen, sondern so ganz wahrheitsfremde pragmatische Gesichtspunkte wie den des Nutzens eines Volkes oder der Ziele einer Partei, zum obersten Maßstab des Handelns und einer von der klassischen Adäquationstheorie der Wahrheit abweichenden pragmatischen oder funktionalistischen Wahrheitstheorie zu wählen. Deshalb geht uns das ganze Ausmaß der Schrecklichkeit des größten ‚Wagnisses‘, wie Nietzsche es nennt, der Loslösung menschlichen Handelns von dem Richtmaß der Wahrheit, erst durch reines Denken auf, bzw. durch die Einsicht: Wenn es keine Wahrheit als Richtmaß gibt und aus diesem Grunde andere Maßstäbe des Handelns wie Utilität, Macht, Lust, Kapital, Parteiwünsche, die Willkür des Diktators usf. suprem sind bzw. Wahrheit nur in ihnen besteht, und wenn deshalb wirklich „alles erlaubt ist“ – wie Ivan in den Brüdern Karamasoff annimmt – dann ist eben auch wirklich alles erlaubt!24 Dann gibt es also für menschliches Handeln kein Recht,
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Hildebrands Kampf gegen den Nationalsozialismus (Heidelberg: Universitätsverlag Carl Winter, 1998), N. Leser, J. Seifert, K. Plitzner (Hrsg.), Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers: Kritischer Rationalismus im Dialog (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1991). Vgl. Jan Assmann, Moses der Ägypter: Entzifferung einer Gedächtnisspur (Müchen1998), sowie ders., Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus. Genau genommen hat selbst dieser Begriff des „Erlaubtseins“ keinen Sinn mehr, wenn man einmal den widerspruchsvollen Gedanken einer Abschaffung der Wahrheit angenommen hat. Im übrigen sagt Ivan Karamasoff (in Dostojewskis Die Brüder Karamasoff, wenn es keinen Gott gäbe, sei alles erlaubt, woraus sein Halbbruder Smerdjakow den Schluß zieht, auch der Vatermord sei erlaubt. Doch
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keine Pflicht, keinen Wert und kein Gut mehr, die der Mensch als verbindlich für eigenes Handeln anzusehen hätte. Ja nicht einmal mehr für den Inhalt eines neuen Ersatzkriteriums für menschliches Handeln – ob es die Nazis und der Ku-Klux-Klan oder deren Gegner sein sollten, die uns die Ersatzrichtlinie für unser Handeln liefern – kann es unter solchen Voraussetzungen Kriterien geben, deren vorausgesetzter Wahrheitsanspruch einlösbar wäre. Vielmehr gilt nun als Richtlinie, was immer von jemandem als solche definiert wird und darf getan werden, was immer Trieb oder Dämon uns eingeben, Parlamente beschließen oder Macht erlaubt. Cicero hat in seiner Schrift Über die Gesetze die logischen Konsequenzen einer solchen Anschauung mit rhetorischer Brillanz beschrieben und die ihnen zugrundeliegende Meinung als die eines Wahnsinnigen bezeichnet (dementis est). Mit diesem starken Ausdruck will er wohl die ungeheuerlichen und letzten Endes von keinem Menschen, der den Gebrauch seiner Vernunft besitzt, akzeptablen Folgen bezeichnen, die aus dem größten Wagnis, nämlich dem eines Lebens ohne jede vorgegebene Wahrheit über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, entspringen, bzw. unter der Voraussetzung des Wertnihilismus gerechtfertigt erscheinen müßten, wenn die Rede von ‚Rechtfertigung‘ unter dieser Voraussetzung überhaupt noch Sinn hätte.25 Doch dieses größte „Wagnis“, das eigene Leben von der Bindung an die Wahrheit loszuketten, ist keineswegs nur wegen seiner Folgen gefährlich, es ist also nicht nur ein „Wagnis“, dabei aber vielleicht sittlich neutral, sondern eine derartige Loskettung des Lebens von der Wahrheit ist in sich selber böse – es ist sogar Teil des Urbösen, und zwar nicht nur wegen seiner Folgen. Denn die moralische Urverpflichtung jedes denkenden Wesens besteht der Wahrheit gegenüber und verlangt eine Grundoption: die Wahrheit zu suchen und nur das zu tun, was in Wahrheit verpflichtend oder erlaubt ist, und zu unterlassen, was in Wahrheit nicht erlaubt oder verboten ist. Die hier gebietende und vorausgesetzte Wahrheit aber ist in erster Linie eine Angemessenheit an die Wirklichkeit und setzt sie voraus.
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obwohl objektiv alles Sein und alle Wahrheit von Gott abhängen, so können wir das Wahre, Gerechte und Gute doch unabhängig von unserer Erkenntnis Gottes erfassen, weshalb die Aussage Ivans falsch ist. Hingegen gilt sie von der Abschaffung der Wahrheit und von den meisten alternativen Wahrheitstheorien. Vgl. Cicero De legibus (I, 42 ff.), sowie ders., De re publica, III. xxii, 33.
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Dabei richtet sich nicht nur eine Leugnung oder ein Frontalangriff auf die Urteilswahrheit als angemessenes Verhältnis zum Sein (adaequatio) oder auf den Wert der Wahrheit gegen diese Urgrundverpflichtung, sondern auch die vielen alternativen Wahrheitstheorien. Dies führt uns zu einer weiteren Erkenntnis. Die hier angesprochene Wurzel derartiger Wahrheitstheorien, die sich als falsch herausstellen werden, ist nicht eine rein methodologische Schwierigkeit oder die Tiefe und Komplexität der Wirklichkeit, sondern vielmehr ein Aufstand gegen jene moralische Urbindung des Philosophen, welche die Bedingung aller echter Philosophie ist: die Bindung an die Wahrheit, die bereits Platon als schlechthin notwendige Voraussetzung aller Philosophie bezeichnet hat: Nächstdem betrachte nun dieses, ob es wohl neben jenem die notwendig in ihrer Seele haben müssen, welche so werden sollen wie wir sie beschrieben. Was doch? Daß sie ohne Falsch sind und mit Willen auf keine Weise das Falsche annehmen, sondern es hassen, die Wahrheit aber lieben. Wahrscheinlich wohl, sagte er. Nicht nur wahrscheinlich, Freund, sondern ganz notwendig wird, wer in irgend etwas von Natur verliebt ist, alles seinem Lieblingsgegenstande Verwandte und Angehörige auch lieben. Richtig, sagte er. Könntest du nun wohl etwas der Weisheit Verwandteres finden als die Wahrheit? Wie sollte ich, sprach er. Kann also wohl dieselbe Natur weisheitsliebend sein und trugliebend? Keineswegs wohl. Der in der Tat Wißbegierige also muß nach aller Wahrheit gleich von Jugend an möglichst streben. Allerdings ja.26
Auch der Relativismus und die von ihm so oft ausgehende Entthronung der Wahrheitsfrage, selbst wenn wir sie bei vielen der brillantesten Geister der letzten Jahrhunderte finden, können angesichts ihrer gewaltigen inneren Widersprüche, die es eigentlich einem rational denkenden Menschen 26
Platon, Der Staat 6.485a-d. Dies ist der Text, von dem das Motto der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein diligere veritatem omnem et in omnibus stammt.
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unmöglich machen sollte, sie zu vertreten, kaum als rein theoretische rationale Irrtümer angesehen werden, sondern ergeben sich viel eher und viel öfter aus einem von Nietzsche propagierten, aber zutiefst unmoralischen Nicht(sehen)wollen der Wahrheit. Auf eine solche unmoralische Entthronung der Wahrheitsfrage haben Dietrich von Hildebrand27 und Allan Bloom hingewiesen. Bloom schreibt in seinem 1987 erschienenen Bestseller: Solche Unterscheidungen wie authentisch-inauthentisch (echt-unecht), tiefoberflächlich, kreativ-unkreativ ersetzen den Gegensatz von wahr und falsch... Es ist nicht die Wahrheit ihrer Gedanken (der Gedanken von Moses, Jesus, Homer und Buddha, die diese Männer auszeichnet, sondern bloß noch ihre Fähigkeit, Kultur hervorzubringen... Nicht Wahrheitsliebe, sondern nur noch intellektuelle Redlichkeit kennzeichnet den erstrebenswerten Geisteszustand. Da es keine Wahrheit mehr in Werten gibt, und der Rest Wahrheit über das Leben nicht als liebenswert erachtet wird, wird das Merkmal des authentischen Selbst nur noch, das eigene Orakel zu befragen, und zu betrachten, wer man selbst ist und was man erlebt. 28
Selbst die Verteidiger einer Existenz ohne Wahrheitsbindung aber können sich nicht ganz von der Sonne der Wahrheit losketten. Denn wenn dieses größte Wagnis, von dem Nietzsche redet, nicht total absurd sein soll, dann muß eben doch auch Nietzsche voraussetzen, daß es entweder wahr ist, daß es überhaupt keine Wahrheit gibt oder daß wenigstens die These wahr ist, daß Wahrheit und das Streben nach ihr keinerlei Wert besitzen. 27
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Siehe Dietrich von Hildebrand, Memoiren und Aufsätze gegen den Nationalsozialismus, zit. Vgl. auch Josef Seifert, „Personalistische Philosophie und Widerstand gegen Hitler: Zum Kampf Dietrich von Hildebrands gegen die Nationalsozialistische Ideologie.“ 12 Artikel in: Liechtensteiner Vaterland (Mai-September 1995), sowie ders., (Hrsg.), Dietrich von Hildebrands Kampf gegen den Nationalsozialismus; Josef Seifert, “La filosofia personalista di Dietrich von Hildebrand e la sua opposizione contro il nazionalsocialismo,” Acta Philosophica. Rivista Internazionale di Filosofia 6 (1997), S. 53-81. Allan Bloom, The Closing of the American Mind (New York: Simon and Schuster, 1987), S. 201 (meine Übersetzung); Dietrich von Hildebrand, The New Tower of Babel, “The Dethronement of Truth” S. 57 ff. Siehe auch Josef Seifert, „Friedrich Nietzsches Verzweiflung an der Wahrheit und sein Kampf gegen die Wahrheit“ in: Balduin Schwarz (Hrsg.), Wahrheit, Wert und Sein: Festgabe für Dietrich von Hildebrand zum 80. Geburtstag (Regensburg: J. Habbel, 1970), S. 183-215.
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Nietzsche nennt mit Recht die Frage nach dem Werte der Wahrheit eine „noch gründlichere Frage“ als die nach der Existenz von Wahrheit. Denn für unseren Willen und für menschliches Handeln kann Wahrheit nur dann ein verbindlicher Maßstab sein, wenn sie nicht nur einfach besteht, wie das neutrale Faktum des Bartwuchses, das wir auch durch Rasieren korrigieren dürfen, sondern wenn sie einen Wert, und zwar einen sittlich relevanten Wert besitzt. Und mehr als vom Glauben an die faktische Existenz von Wahrheit, einem Glauben, dessen Verlust ihn zunächst in Verzweiflung gestürzt hatte, will Nietzsche uns von der Überzeugung des Wertes der Wahrheit befreien und damit menschlichem Denken und Handeln alle Horizonte, jedes „Don Juan Abenteuer“ des Gedankens und Tuns, eröffnen.29 Und wen lockt nicht irgendwo in seinem Herzen dieser Gedanke? In dem Maß, in dem uns dieses traurige Kunststück der „Befreiung von der Wahrheit“ gelingt, wird allerdings unser Leben dunkel und böse. Man könnte sogar die Urform des Bösen nicht sosehr in einer Verletzung von bestimmten einzelnen Werten und Gütern erblicken, sondern in dem Versuch der Loslösung unseres Lebens von der Wahrheit. 29
Friedrich Nietzsche, Morgenröte, 4. Buch, 327. Eine Fabel. – Der Don Juan der Erkenntnis: er ist noch von keinem Philosophen und Dichter entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuß an Jagd und Intrige der Erkenntnis – bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntnis hinauf! – bis ihm zuletzt nichts mehr zu erjagen übrig bleibt als das absolut Wehetuende der Erkenntnis, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende nach der Hölle – es ist die letzte Erkenntnis, die ihn verführt…
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden; und Nietzsche-Index zur Ausgabe von K. Schlechta, I/S. 1198. Diese radikale Freiheit des Gedankens bringt Nietzsche auch mit dem Tod Gottes in Verbindung. Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft 343, „Wir Furchtlosen“, 5. Buch, Werke in drei Bänden; und Nietzsche-Index zur Ausgabe von K. Schlechta, II/S. 205/06: In der Tat, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, daß der „alte Gott tot“ ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, ... endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so „offnes Meer“.
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Fassen wir jene Stelle ins Auge, von der Heidegger zu Recht in seinem Nietzsche-Buch sagt, sie spräche Nietzsches „Grunderfahrung“ aus: Das Leben. . .geheimnisvoller – von jenem Tage an, wo der große Befreier über mich kam, jener Gedanke, daß das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe.30
Doch darf es dies wirklich sein? In dem „sein dürfe“ ist doch wieder als Rechtfertigung für solches Leben als Experiment die These impliziert, daß das Leben eben wirklich so ein Experiment sein darf, daß es also wahr ist, daß weder Wahrheit einen unbedingten Wert besitzt noch der Wille zur Wahrheit jenen Status der Ehrwürdigkeit trägt, den man ihm von jeher zugesprochen hatte. Es liegt auf der Hand, daß ohne die Wahrheit dieser Annahmen Nietzsches Behauptung falsch und seine Aufforderung zu einem Leben des Irrtums, der Täuschung und Ungewißheit und zu einem „radikalen Experiment“ unvernünftig und vor allem unsittlich wäre. Auch Nietzsche kann nicht umhin, bei der Begründung seines neuen, von Wahrheit befreiten Lebens anzusetzen, daß ein solches Leben wirklich erlaubt sei, daß Wahrheit tatsächlich keinen Wert besäße. Denn es ist offenbar: wenn all dies nicht wahr wäre, dann wäre eben das, was Nietzsche Befreiung nennt, keine Befreiung, und das, was er erlaubt nennt, nicht wirklich erlaubt.31 So erkennen wir einen Aspekt dessen, was Tadeusz StyczeĔ verschiedentlich als „Schlinge der Wahrheit“ bezeichnet hat.32 Der Mensch und sein Handeln ist in der Schlinge der Wahrheit gefangen, in dem Sinne, 30
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Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, »Viertes Buch: Sanctus Junarius«, §324, KSA 3, 552f., hier 552/1882. Mit Wahrheit meinen wir hier noch jenes Einfache und ganz Selbstverständliche, nämlich die Wirklichkeit und noch präziser die Übereinstimmung mit derselben, kraft deren unser Urteil wahr ist. Wie Aristoteles sagt: „wahr ist die Rede, wenn sie sagt, daß ist, was wirklich ist und daß nicht ist, was tatsächlich nicht ist, falsch hingegen, wenn sie sagt, daß ist, was nicht ist und umgekehrt.“ Vgl. Tadeusz StyczeĔ, „Karol Wojtyáa – Philosoph der Freiheit im Dienst der Liebe,“ in: Karol Wojtyáa – Johannes Paul II, Erziehung zur Liebe (Augsburg, 1979), S. 156 ff.; ders., „Zur Frage einer unabhängigen Ethik“, in: Karol Kardinal Karol Wojtyáa, Andrzej Szostek, Tadeusz StyczeĔ, Der Streit um den Menschen. Personaler Anspruch des Sittlichen (Kevelaer: Butzon und Bercker, 1979), S. 111175.
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daß er niemals umhin kann, die Wahrheit jener Überzeugungen vorauszusetzen, auf denen sein Handeln beruht. Versucht er, sich und sein Handeln von dieser Wahrheitsvoraussetzung loszulösen, so fällt er nicht nur notwendig in einen Selbstwiderspruch, sondern verfällt mit gleicher Notwendigkeit einer Autodestruktion von Denken und Handeln und vor allem in ein Urböses. Dies tritt in einer anderen Nietzsche-Stelle deutlich hervor:33 Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo die Pflanze ,Mensch‘ am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, daß dies jedesmal unter den umgekehrten Bedingungen geschehen ist, daß dazu ... seine Erfindungs- und Verstellungskraft (sein ,Geist’) unter langem Druck und Zwang sich ins Feine und Verwegne entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden mußte – wir vermeinen, daß Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei ... Versucherkunst und Teufelei jeder Art, daß alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubtier- und Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Spezies Mensch dient als sein Gegenteil.
Wird Wahrheit als Richtschnur menschlichen Handelns aufgegeben, muß logisch zwingend alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, ja Teufelei jeder Art zugelassen werden. Wir erkennen aber wiederum zugleich, daß selbst zur Rechtfertigung dieses Standpunkts Wahrheit vorausgesetzt bleibt, die Wahrheit nämlich, daß in der Tat alles erlaubt ist. Beide Gedanken, daß es neben dem Willen zur Wahrheit auch einen solchen zur Unwahrheit gebe und denjenigen, daß selbst dieser Wille zur Unwahrheit, will man ihn rechtfertigen, letzten Endes Wahrheit für sich beanspruchen muß, um nicht schlechtweg absurd zu sein, hat fast eineinhalb Jahrtausende vor Nietzsche ein Mann ausgesprochen, der bei aller radikalen Gegensätzlichkeit zu Nietzsches Standpunkt doch eine ähnliche Leidenschaft für ein ungeschminkt-rückhaltloses Aussprechen der Dinge besaß wie Nietzsche: Augustinus.34
33 34
Siehe Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, „Der freie Geist“. Augustinus, Bekenntnisse X. 23: X. 26. Übers. G. Graf von Hertling (Freiburg i.B.: Herder, 1922).
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4. Auch der Wille zur Unwahrheit und die Infragestellung des Wertes der Wahrheit selbst setzen notwendig Wahrheit und die Erkenntnis ihres Wesens voraus Versuchen wir uns, diese Gedanken abschließend, noch bewußt zu machen suchen, wie selbst Nietzsches radikalste Infragestellung der Wahrheit und des Wertes des Willens zur Wahrheit – Wahrheit nicht nur subjektiv voraussetzt, sondern in objektiver Erkenntnis entdeckt. Gehen wir zu dem Nietzsche-Zitat zurück, das über den vorangegangenen Überlegungen stand: Wie sollten wir überhaupt den Willen zur Wahrheit und die Wahrhaftigkeit in Frage stellen können, ohne zu verstehen, nicht bloß was linguistisch mit diesen Worten gemeint ist, sondern was Wahrheit und Wahrhaftigkeit ihrem Wesen nach sind? Denn Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind nicht nur Urphänomene, sondern gehören zu jener grundlegenden Art von Urgegebenheiten, die jeder denkende Mensch nicht nur als solche kennt, sondern auch notwendig ausdrücklich oder stillschweigend an irgendeiner Stelle seines Denkens voraussetzt und anerkennt, wie auch Bonaventura und Thomas von Aquin treffend ausführen.35 35
Vgl. Bonaventura, De Mysterio Trinitatis V, 48, 5: Auf das, was man gegen die Beweisführung Augustins einwendet, daß nämlich kein Urteil (contradictoria) sein eigenes kontradiktorisches Urteil (contradictoriam) impliziere, ist zu erwidern: dies ist wahr, insofern zwei Urteile kontradiktorisch sind; jedoch ist zu verstehen, daß eine bejahende Aussage (propositio) eine zweifache Behauptung enthält: eine, kraft deren sie ein Prädikat von einem Subjekt aussagt; eine zweite, kraft deren sie behauptet, sie selbst sei wahr. In der ersten Behauptung unterscheidet sie sich von der negativen Aussage, die ein Prädikat von einem Subjekt abtrennt; in der zweiten Behauptung kommt aber die negative Aussage mit der affirmativen überein, weil sowohl die verneinende als auch die bejahende Aussage den Anspruch erhebt, selbst wahr zu sein. Auf der ersten Behauptungsebene sind die Aussagen kontradiktorisch, nicht auf der zweiten (als solcher). Wenn man deshalb sagt: es gibt keine Wahrheit, so impliziert diese These, insofern sie das Prädikat vom Subjekt negiert, nicht ihr eigenes Gegenteil, nämlich: es gibt eine Wahrheit. Indem sie aber für sich selbst beansprucht, wahr zu sein, impliziert sie, daß es Wahrheit gibt; dies ist nicht verwunderlich; denn wie jedes Böse das Gute voraussetzt, so jedes Falsche die Wahrheit. Und deshalb schließt dieses Falsche, daß es keine Wahrheit gibt – da es wegen der Abtrennung des Prädikats vom Subjekt alles Wahre leugnet, und wegen der Behauptung, mit der es behauptet, selber wahr zu sein, wieder setzt, daß es eine Wahrheit gibt – beide Teile des kontradiktorischen Widerspruchs ein; daher kann der recht verstehende Intellekt auch aus jenem Falschen beide Teile des Widerspruchs und damit schließen, daß die These wesenhaft falsch und nicht einmal verstehbar ist. Und das will Augustinus sagen.(Eingene Übersetzung, aus dem Lateinischen Original, JS.)
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Auch aus dem Nietzsche-Text geht hervor, daß der Sinn der Infragestellung des Willens zur Wahrheit bei Nietzsche eine Adäquationstheorie der Wahrheit, bzw. die Einsicht, daß Wahrheit eines Urteils in dessen Wirklichkeitsentsprechung besteht, voraussetzt. Denn es hätte keinen Sinn, den von Nietzsche kritisierten Willen zur Wahrheit zu verachten, wenn sich nicht auch Nietzsches Verachtung der Wahrheit auf eine wahre Einsicht in die Verachtungswürdigkeit eines solchen Willens stützte. Ebensowenig sinnvoll wäre es, die von uns erstrebte Wahrheit gemäß manchen modernen Wahrheitstheorien als bloße Nützlichkeit oder als bloße Kohärenz zu deuten, wenn sich unsere Verachtung ebenfalls auf diese Kriterien oder Substitute für Wahrheit erstrecken und wir Nützlichkeit nicht für ein Kriterium oder gar für das Wesen der Wahrheit halten sollten. Auch ist der Wille zur Wahrheit nach Nietzsche gewiß der Wille, das zu erkennen und in unseren Urteilen dem zu entsprechen, was wirklich der Fall ist. Nur weil er diese Einsicht in das objektive Wesen der Wahrheit als Adäquatio voraussetzt, kann Nietzsche auch in anderen Stellen der Erkenntnis der Wahrheit den Irrtum oder die Täuschung entgegensetzen. Denn wenn wir das Wesen der Wahrheit nicht als Zusammentreffen unserer Urteile mit der Wirklichkeit verstünden, könnten wir auch nicht den Gegensatz zwischen ihrer Erkenntnis und dem Irrtum erkennen, der eben darin besteht zu glauben, daß etwas der Fall ist, was nicht der Fall ist: zu meinen, daß ein Sachverhalt besteht, der in Wirklichkeit nicht besteht, etwas für wahr zu halten, was es in Wirklichkeit nicht ist. Um den Willen zur Wahrheit in Frage zu stellen, muß Nietzsche ferner auch den Unterschied zwischen Täuschung und Lüge einerseits und Wahrhaftigkeit andererseits verstehen. Doch noch mehr, Nietzsche kritisiert die Wahrhaftigkeit und stellt sie als hohle Pseudotugend und Schwäche dar, er reißt ihr die Larve der Ehrwürdigkeit vom Gesicht – doch wohl nur im Dienste einer tieferen Wahrhaftigkeit, in deren Namen und mit deren ganzem Pathos Nietzsche spricht.
Vgl. dazu auch J. Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit“, 38-52. Diesen Gedanken bringt auch Thomas von Aquin in einem sehr schönen Text zum Ausdruck in Summa contra Gent., Lib. 2, cap. 33, Nr. 8.
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Dies führt uns zu einem Weiteren. Indem Nietzsche den Wert der Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Frage stellt, setzt er sie in elementarer Weise voraus. Denn die Intelligibilität und Freude, die er in seinen Lesern erwecken will, ist doch die, daß hier endlich einer den Betrug der Wahrhaftigkeit und des Willens zur Wahrheit durchschaut hat – aber wodurch hat er sie durchschaut, wenn nicht durch eine Metawahrhaftigkeit, die selber nur eine tiefere Wahrhaftigkeit sein kann, mit der den PseudoTugenden die Maske vom Gesicht gerissen oder ihr Schein-Geist entlarvt werden und folglich eine Wahrheit erkannt werden soll? Ohne den Wert von Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu erkennen, kann der Sinn und das Pathos der Nietzsche’schen Texte gar nicht begriffen werden. Ohne Wahrheit und Wahrhaftigkeit als solche und in ihrer fundamentalen Bedeutung und ihrem grundlegenden Wert zu erkennen, kann auch das Wagnis, als das Nietzsche „kein größres“ kennt, niemals als solches verstanden werden. Auch in der Erkenntnis, daß das Problem des Wertes der Wahrheit ein tieferes als das der bloßen faktischen Existenz und Eigenart von Wahrheit ist, liegt eine für seine Position unentbehrliche Wahrheitserkenntnis Nietzsches, die die Tiefe seiner Fragestellung bedingt und ohne die seine ganze Infragestellung der Wahrheit in sich zusammenbräche. Viele weitere Erkenntnisse und implizite Übereinstimmungen zwischen unseren Ausführungen und Nietzsches anscheinender radikaler Antithese zu ihnen könnten entwickelt und damit ein universaler Konsens besitzender Wahrheitsfundus aufgewiesen werden. Dabei handelt es sich nicht um einen faden und nichtssagenden gemeinsamen Nenner zwischen konträren und kontradiktorischen Positionen, sondern vielmehr um solche Wahrheitserkenntnisse, wie sie ihrer inneren Logik nach den offenen Thesen Nietzsches widersprechen. Es handelt sich gleichsam um einen Bestand verdeckter Wahrheitserkenntnis bei Nietzsche, die den offen von ihm erhobenen Ansprüchen entgegentritt und die Universalität und Allgemeingültigkeit des Sinnes und der Wahrheit dokumentiert, auf die Heraklit mit dem Satz hingewiesen hat: Man sollte dem Richtmaß dessen folgen, was allen gemeinsam ist. Doch obgleich der Logos (die Wahrheit) allen gemeinsam ist, so leben doch die
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Vielen so als besäßen sie eine nur für sie allein geltende (eigene, private) Vernunft (Denkkraft, Weisheit).36
Auch Nietzsche spricht, als hätte er eine private und von ihm abhängige Wahrheit und stehe in schlechthinnigem Gegensatz zur abendländischen Wahrheitstradition. Und doch haben wir entdeckt, daß er genau jenen Wahrheitsbegriff und jene Wahrhaftigkeit, die er angreifen möchte, erkennt und für seinen Angriff voraussetzt. Hinter der Ebene des in der Tat radikalen und von Heidegger geteilten Widerspruchs Nietzsches zum Gedanken, daß die Wahrheit das Richtmaß menschlichen Handelns sein solle, verbirgt sich der universale Logos der Wahrheit, von dem Heraklit spricht und ohne dessen Erkenntnis und implizite Anerkennung Nietzsches Kampf gegen die Wahrheit unmöglich, ja undenkbar wäre. Zumindest in einigen wichtigen Fragen gibt es evidente und unbezweifelbare, ja selbst noch in der Ablehnung der Wahrheit erfaßte Wahrheiten. Wenn es aber, wie diese Beispiele zu zeigen suchten, überhaupt Wahrheit und sogar Gewißheit über Wahrheit gibt, dann ist auch der Mut der über „Ethik und Entscheidung“ Nachdenkenden begründet, diese Wahrheit dort zu suchen, wo sie die konkreten Grundlagen unseres Handelns betrifft. Diese einführenden Überlegungen sollen nur dazu anregen, die zentrale Bedeutung der Frage nach der objektiven Eigenart und dem Wert der Wahrheit zu ermessen, sowie nach dem wahren Fundament der Ethik, nach Wesen und Wert der Person, des Rechtes und der Gerechtigkeit, und vieler konkreterer Lebensbereiche zu fragen. Im vorliegenden Werk werden wir uns angesichts des Disputes über die Wahrheit fragen, ob es möglich ist, eine Gewißheit über das Wesen des Urteilswahrheit und eine Einsicht in die Einsichten und Irrtümer verschiedener Wahrheitstheorien zu gewinnen. Wenn wir in manchen Fällen unbezweifelbare Gewißheit über Wahrheit erlangen können, werden wir ferner dazu ermutigt, Wahrheit auch dort zu suchen, wo sie viel weniger gewiß und offenkundig ist als im Falle von Einsichten in notwendige Wesenheiten und Wesenssachverhalte wie sie Mathematik, Logik oder auch unsere philosophische Auseinandersetzung mit verschiedensten Wahrheitstheorien anstreben und wie wir sie zur Evidenz zu bringen suchen. Dann ist es auch sinnvoll, in der Geschichts36
Siehe Heraklit, 32 fr. 2 (eigene Übersetzung).
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wissenschaft, in der Politik, in jenen konkreten Entscheidungen der Wirtschaft, Naturwissenschaft und des Lebens, wo es oft um Modelle und Theorien, um Vermutungen und Annahmen geht, die aber auch letztlich auf Wahrheit abzielen und ihrerseits unumstößliche Wahrheiten voraussetzen, nach Wahrheit zu forschen. Dann muß, und mit dieser Erwägung schließe ich diese Betrachtungen ab, Wahrheit sich auf allen Gebieten als Richtlinie und Maß menschlichen Denkens und Handelns erweisen; sie ist Ziel allen Urteilens und Denkens und Maß allen Handelns. Und gerade deshalb ist der Streit um sie, in den wir nun eintreten wollen, von höchstem Interesse. 5. Eine knappe Darstellung und Verteidigung der klassischen Lehre von der Urteilswahrheit als Adäquatio – der Streitgegenstand Im Buch Wahrheit und Person37 stand im Kern eines wichtigen Teiles unserer Überlegungen, die der Urteilswahrheit galten, eine Verteidigung der klassischen Korrespondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit auf dem Boden einer objektivistischen phänomenologischen Methode und unter Berücksichtigung der Beiträge, die Edmund Husserl, Adolf Reinach und Alexander Pfänder zur Aufklärung des Objekts des wahren Urteils, des Sachverhalts, geleistet haben. Fassen wir das Wesentliche zusammen: Das Urteil (als objektives logisches Bedeutungsgebilde) meint und behauptet, daß ein Sachverhalt besteht. In seiner behauptenden Setzung – und das leuchtet aus deren Wesen ein – erhebt das Urteil notwendig den Anspruch, mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammenzutreffen und infolgedessen selbst wahr zu sein. Dieser notwendig mit dem Urteil als Behauptung verknüpfte Wahrheitsanspruch kann in einem Wahrheitsurteil entfaltet werden. „S ist P“ und: „dieses Urteil ‚S ist P‘ ist wahr“. Freilich kann dieser Wahrheitsanspruch, der unzertrennlich mit dem Wesen des Urteils verknüpft ist, erfüllt sein, das Urteil kann wirklich wahr sein, oder unerfüllt sein, das Urteil kann in der Tat falsch sein. Die Wahrheit des Urteils verlangt einerseits zu ihrem Verstehen das Verstehen der Eigenart der behauptenden Funktion des Urteils, und ande37
Josef Seifert, Wahrheit und Person.
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rerseits das Verstehen der eigentümlichen Seinsweise und Autonomie des Sachverhalts, dessen Bestehen das Urteil kraft der Behauptungsfunktion der Kopula behauptet und in der Übereinstimmung mit dem das Urteil wahr ist.38 So vorläufig diese Bestimmung der Wahrheit auch ist, Wahrheit liegt in jenem Adäquationsverhältnis oder kommt einem Urteil kraft jenes Adäquationsverhältnisses zu, das darin besteht, daß ein Urteil in seiner Setzung eines von ihm selbst unabhängigen und als solchen intendierten Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammentrifft, daß sich also die Sachen wirklich so verhalten, wie das Urteil dies behauptet.39 Wie wir sehen werden, wurde dieser klassische Wahrheitsbegriff von vielen Philosophen direkt und explizit in Frage gestellt, von anderen nur implizite, so etwa von Sir Karl Popper, Alfred Tarski, und Immanuel Kant, die auf den ersten Blick zu den großen Verteidigern dieser Lehre zählen.40 Eine Reihe der Kapitel des vorliegenden Bandes werden die Adäquationstheorie der Wahrheit gegen explizite und implizite Einwände verteidigen, 38
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Vgl. Pfänder, ebd., S. 69-82, wo auch die falschen Auffassungen der Wahrheit des Urteils als Für-Wahr-Halten (Konsens) usf. kritisiert werden. Zu nicht phänomenologischen modernen Verteidigungen der Adäquations- bzw. Korrespondenztheorie der Wahrheit vgl. Philip Kitcher, “On the Explanatory Role of Correspondence Truth”, Philosophy and Phenomenological Research, 64 (2), March 2002, 346-364: “The focal criticism alleges that appeals to success cannot deliver conclusions that parts of science are true in the sense of truth-as-correspondence that realists prefer. The paper responds to that criticism, in versions proposed by Michael Williams, Michael Levin, and, especially, Paul Horwich, by arguing that critics typically stop at a shallow level of psychological explanation. If we prove more deeply we discover a genuine explanatory role for correspondence truth.” (edited)
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Zwar hat J.M. Palacios in seinem Buch, El idealismo transcendental: Teoría de la Verdad, gezeigt, daß Kant explizit die Adäquationstheorie der Wahrheit bejaht hat. Vgl. etwa Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft B 82, 83 und 85. Vgl. auch Harold Langsam, “Kant’s Compatibilism and His Two Conceptions of Truth”, Pacific Philosophical Quarterly, 81(2) June 2000, 164-188. Der Autor verteidigt die Auffassung, daß, wie wir schon in früheren Kapiteln argumentiert haben, Kant letztlich von seiner Erkenntnistheorie her zu einer Art der Kohärenztheorie der Wahrheit gelangt. Vgl. dazu auch Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II. Teil. Vgl. auch die Kapitel über Tarskis und Poppers Wahrheitstheorien.
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sowie unhaltbare oder unzureichende Formen der Verteidigung einer Korrespondenztheorie der Wahrheit der Kritik unterwerfen – aber im Unterschied zu vielen anderen derartigen Versuchen, nicht auf dem Boden einer fixierten schematischen Theorie, sondern auf jenem einer Methode des phänomenologischen Realismus, welche die Urgegebenheit der Urteilswahrheit und der besonderen Form von ‚Entsprechung‘ herauszuarbeiten sucht, die in dieser liegt, und sie gegen die verschiedensten verkürzten und unrichtigen Wahrheitstheorien und Kritiken verteidigt.41 41
Vgl. dazu Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550, sowie Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, 3rd edn, with a New Introductory Essay by Josef Seifert (London: Routledge, 1991); Josef Seifert, Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism (London/Boston: Routledge and Kegan Paul Press, 1987). Zu anderen Formen der Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit und einer zeitgenössischen Disputation zwischen Verteidigern und Kritikern der Korrespondenztheorie der Wahrheit vgl. Richard Schantz (Hrsg.), What Is Truth? (Berlin: de Gruyter, 2002). Ein Teil der dort vereinten Aufsätze kritisieren die Idee, die wir als evidente Grundlage jeder Philosophie der Wahrheit betrachten: daß nämlich Wahrheit ein Wesen besitzt und einen Inhalt hat, und deshalb nicht, wie die deflatorischen Wahrheitstheorien, auf die wir zurückkommen werden, als eigenständiger Begriff eliminiert werden darf, ja nicht einmal kann, weil Wahrheit einer jener unleugbaren Urgegebenheiten ist, die man unmöglich leugnen kann, ohne sie schon wieder vorauszusetzen. Andere Beitragende verteidigen die These, daß Wahrheit ein Wesen besitzt und daß dieses in einer Art der Korrespondenz besteht. Vgl. zu einer eher minimalistischen Verteidigung der Korrespondenztheorie etwa William P. Alston, “Truth: Concept and Property”, ebd., S. 11-26. Vgl. auch David M. Armstrong, “Truths and Truthmakers” in: What Is Truth?, ebd., S. 27-37. Zum Thema der ‚Wahrmacher‘ in dem objektiven Sinne irgendwelcher objektiver Faktoren in der Welt, die bestehen müssen, damit ein Urteil wahr sein könne. Vgl. dazu auch den Beitrag des Herausgebers Richard Schantz, “Truth, Meaning, and Reference”, in: What Is Truth?, Richard Schantz (Hrsg.), S. 79-99, sowie Michael Devitt, “The Metaphysics of Deflationary Truth”, ebd., S. 60-78. Vgl. auch Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers”, Philosophy and Phenomenological Research (1984), 44, 287-322. Interessant ist in diesem Zusammenhang einer Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit auch Alejandro Llano, “‘Being as True’ According to Aquinas”, Acta Philosophica, 4 (1) 1995, 73-82. Dieser argumentiert, daß gerade der ontologische Wahrheitsbegriff bei Thomas von Aquin erst das Phänomen der Wahrheit als Korrespondenz erklären kann.
Der Streit um die Wahrheit des Urteils und die ‚Krise‘ des Wahrheitsbegriffs
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Im so differenzierten Sinn können wir mit der scholastischen Formel für die Adäquationstheorie sagen, daß die Wahrheit die Angemessenheit zwischen Intellekt und Wirklichkeit ist, veritas est adaequatio intellectus et rei.42 Diese Definition kann im Rahmen einer Diskussion der Erkenntniswahrheit auch als Angleichung (Adäquation) des Geistes an die Wirklichkeit, intellectus ad rem, gefaßt werden. Die Erkenntniswahrheit ist eine Adäquation, eine Entsprechung zwischen Intellekt und Sache, aber das kann nicht der logische Sinn der Wahrheit des Urteils sein. Die Urteilswahrheit liegt vielmehr in einer Angemessenheit und Angleichung bzw. in einem Zusammentreffen der setzenden Behauptung des objektiven Urteilsgebildes mit dem Selbstverhalten und wirklichen Bestehen des in ihm behaupteten Sachverhalts. Doch genau an dieser Stelle setzen die Kritiker des klassischen und mittelalterlichen Begriffs der Urteilswahrheit an: Ist es nicht offenkundig, wendet Brentano ein, daß ein Urteil wie „es gibt keine Drachen“ seine Wahrheit nicht daraus schöpft, mit einem Ding übereinzustimmen? Denn welches Ding sollte auch „ein nicht existierender Drache“ sein? Ist dann die These der Scholastiker, die Wahrheit des Urteils sei dessen Übereinstimmung mit der Sache, mit der Wirklichkeit (der res) falsch? Unsere Antwort darauf lautete „Nein“. Wenn aber die Wahrheit des Urteils weiterhin, gegen die luziden Einwände Brentanos und anderer als adaequatio intellectus ad rem bezeichnet werden darf und soll, so konnte und kann dies nur durch eine gründliche Behandlung verschiedener Einwände geschehen. Intellectus heißt hier nicht der Urteilsakt, sondern das objektive Urteilsgebilde, und res nicht die Sache, sondern der Sachverhalt: das „a-sein-[oder-nicht-a-Sein] eines B“. Urteilswahrheit ist also die Übereinstimmung des Urteils in seiner Behauptung eines Sachverhalts mit dem unabhängig vom Urteil bestehenden Sachverhalt, dem Selbstverhalten der Sachen selbst. Eine solche Formulierung des
42
Vgl. Auch die Verteidigung der These, daß bei Descartes die Korrepondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit in engem Zusammenhang mit seinen Lehren der klaren und distinkten Ideen und der Evidenz stehen in Georges J. D., Moyal, “Les structures de la vérité chez Descartes”, Dialogue, (1987); 26, 465-490. Vgl. Günther Pöltner, „Veritas est adaequatio intellectus et rei. Der Gesprächsbeitrag des Thomas von Aquin zum Problem der Übereinstimmung“, Zeitschrift für philosophische Forschung (1983); 37: 563-576.
56
PROLEGOMENA
Wesens der Urteilswahrheit, die übrigens Thomas von Aquin schon als Übereinstimmung mit der dispositio rei (ein Ausdruck, der vielleicht bereits den Sachverhaltsbegriff vorwegnahm), sowie nicht nur mit der Sache als solcher, sondern auch mit Privationen,43 deutete, ist nicht falsch, auch wenn wir die res primär nicht als Sache, sondern als Sachverhalt auffassen müssen.44 Aber dadurch, daß der intellectus, was hier als Urteil übersetzt werden muß, mit dem Sachverhalt, der allein unmittelbarer Gegenstand des Urteils ist, übereinstimmt, stimmt das Urteil auch indirekt überein mit der Natur der res selbst im buchstäblichen Verständnis dieses Ausdrucks, d.h. mit den Sachen selbst, von denen das Urteil handelt und mit denen die Sache eine enge Einheit bildet.45 Je nach der Art des Sachverhalts, z.B. eines Sachverhalts, der in der Welt eines Romans vorkommt, über den wir urteilen können, oder eines Sachverhalts der wirklichen Welt, wird freilich noch einmal der Sinn dieser dem Urteil gegenüber vorliegenden Autonomie des Bestehens eines Sachverhalts entscheidend modifiziert sein, worauf weder Conrad-Martius noch Pfänder hinreichend hingewiesen haben, wobei auch hier noch einmal der fiktive Sachverhalt als Teil der im Roman beschriebenen und von ihm oft konstituierten gegenständlichen Sphäre und die tatsächlich und ganz autonom bestehenden Sachverhalte über fiktive Sachverhalte unterschieden werden müssen. Der Sachverhalt, daß Shakespeares Figur Hamlet 43
44
45
Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, [23493] Contra Gentiles, lieb. 1 Cap. 1 n. 5. Vgl. auch: “dispositio rei est causa veritatis in opinione et oratione” (In Metaphysicam, IX, 11, n. 1897). Während der Ausdruck “dispositio rei” hier ohne Gewalttätigkeit als Sachverhalt übersetzt werden kann, bedeutet er oft „Zustand der Sache“ oder auch „Disposition“ und kann nicht als Sachverhalt übersetzt werden. Vgl. Auch Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei Thomas von Aquin (Regensburg: Josef Habbel, 1960). See also Barry Smith, “Logic and the Sachverhalt,” The Monist, 72:1 (Jan. 1989), pp. 52-69. Pfänder, ebd., S. 79-82, vor allem S. 80: „Die richtige Ausdeutung des Sinnes der Behauptung, ein Urteil sei wahr, können wir gewinnen, wenn wir von der alten Bestimmung ausgehen, die Wahrheit sei die ‘adaequatio intellectus et rei’, wenn wir unter dem ‘intellectus’ hier das Urteil und unter der ‘res’ den von dem Urteil betroffenen Gegenstand verstehen.“ Darin liegt wohl auch eine Intention von Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” pp. 287-322.
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nicht der Mohr von Venedig ist, ist nicht selber ein fiktiver Sachverhalt, auch wenn er nur in Bezug auf eine Fiktion besteht. Ein Wort noch zu dem eigentümlichen Sinn von ‚Entsprechung‘, die hier gemeint wird. Es geht selbstverständlich nicht um jene Entsprechung, die bei ähnlichen Wesen vorliegt, wo die Eigenschaften eines Dinges oder eines Menschen jenen eines andern genau entsprechen können. Es geht vielmehr um eine von Ähnlichkeit ganz verschiedene, grundsätzlich andersartige Entsprechung, die nur vom Wesen des urteilenden Gedankengebildes her begriffen werden kann.46 Schwieriger ist es, die Frage zu beantworten, ob die adaequatio, in welcher die Urteilswahrheit besteht, das Urteil selbst in seinem Verhältnis zum Sachverhalt, oder aber das Verhältnis zwischen dem behaupteten und dem wirklichen Sachverhalt kennzeichnet. Ich meine, es geht aus verschiedenen Gründen um eine Entsprechung des Urteilsgebildes bzw. der in ihm liegenden Behauptung selbst und des ihm transzendenten Sachverhalts. Deshalb ist der Begriff der ‚Korrespondenz‘ viel zu oberflächlich, um der Eigenart der logischen Wahrheit des Urteils gerecht zu werden. Alexander Pfänder kennzeichnet dieses Wesen der Urteilswahrheit als Korrespondenz folgendermaßen: Im Urteil dagegen wird der Anspruch gemacht, in der Hinordnung der Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand zusammenzutreffen mit einer Forderung des Gegenstandes selbst. Das Urteil ist eben kein Machtspruch über den Gegenstand; es ist seinem eigensten Wesen zuwider, dem Subjektsgegenstand irgendeinen Zwang anzutun, ihm irgendetwas zuzuordnen, was er nicht von sich aus fordert. Das Urteil, das zunächst völlig frei ist in der Wahl seines Subjektsgegenstandes, das also von sich aus seinen Subjektsgegenstand selbstherrlich bestimmt, will dann doch der sich völlig anschmiegende Interpret des gewählten Gegenstandes sein und sich ihm in 46
Auch hat etwa Roman Ingarden im Literarischen Kunstwerk gezeigt, daß sich die Entsprechung zwischen einem historischen Roman und den in ihm befindlichen Quasi-Urteilen und Gegenständen und Sachverhalten der wirklichen Welt ganz von der Entsprechung zwischen Urteil und behauptetem Sachverhalt unterscheidet. Es liegt im historischen Roman so etwas wie eine ‘matching intention’ (eine Intention der Übereinstimmung mit historischen Tatsachen und Persönlichkeiten), nicht eine Serie von Behauptungen über historische Fakten vor. Vgl. R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft (Halle: Max Niemeyer, 1931), 3. Aufl., 1972.
58
PROLEGOMENA jeder Hinsicht unterwerfen. Jede diktatorische Geste, jede leiseste Bedrückung des Gegenstandes durch das Urteil ist eine Sünde wider den Geist des Urteils und verunreinigt das intellektuelle Gewissen. Man muß daher aus dem Sinn des Behauptungsmomentes jeden Anflug von eigensinniger Entgegensetzung entfernt halten... Das Urteil meint irgendwelche Gegenstände, die es sich unterwirft und über die es, eine Bestimmtheit hinzusetzend oder abspreizend, in Anschmiegung an das Selbstverhalten der Gegenstände, eine Behauptung vollzieht.47 ...es [das Urteil] muß sich ihm absolut sklavenhaft, mit der größten Behutsamkeit anschmiegen. Es liegt im Wesen des Urteils, seine Selbstherrlichkeit gegenüber der Gegenstandswelt von sich aus frei und absolut aufzugeben und in diesem Sinne absolut objektiv sein zu wollen.48
Im folgenden wollen wir in erster Linie die Ergebnisse unserer Analyse der Urteilswahrheit im Dialog mit vielen radikal oder partiell widerstreitenden Theorien über die Wahrheit des Urteils vertiefen. Bevor wir dies tun können, müssen wir uns kurz darüber Klarheit verschaffen, daß der Ausdruck „Wahrheitstheorie“ ganz verschiedene Bedeutungen haben und eine Theorie der Wahrheit ganz verschiedene Fragen stellen und Probleme zu lösen versuchen kann, die wir streng von einander scheiden müssen, um zur gebotenen Klarheit vorzudringen. 6. Fünf Bedeutungen und Aufgaben einer „Wahrheitstheorie“ Es gibt wenigstens fünf Bedeutungen dessen, was man als „Wahrheitstheorie“ bezeichnet bzw. fünf mögliche Bedeutungen und Aufgaben von Wahrheitstheorien. Diese können entweder: (1) Theorien über das Wesen der Wahrheit sein und zu erklären beabsichtigen, was die (Urteils-)Wahrheit ist. Im folgenden werden wir die erwähnten, die Adäquationstheorien der Wahrheit ersetzenden, Theorien primär unter diesem Gesichtspunkt betrachten, da sie alle primär Wesenstheorien der Wahrheit sind. Oder aber eine Wahrheitstheorie kann eine: (2) Theorie über Wahrheitsbedingungen sein; als solche stellt sie eine ganz andere These auf als wenn sie vom Wesen der Wahrheit redet, und 47 48
Ebd., S. 43 f. Vgl. ebd., S. 81.
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muß ganz anders beurteilt werden, weil die Urteilswahrheit notwendige Bedingungen hat, welche keineswegs ihr Wesen ausmachen. Daher erfordert eine Wahrheitstheorie als Theorie über Wahrheitsbedingungen eine ganz andere Art von kritischer Untersuchung. Eine Wahrheitstheorie kann ferner: (3) Eine Theorie über notwendige Folgen und Implikationen der Wahrheit darstellen, oder sie kann auch: (4) Eine Theorie über ‚Wahrmacher‘ oder gegenständliche Korrelate der Wahrheit darstellen, oder schließlich: (5) Eine Theorie über das Kriterium der Erkenntnis von Wahrheit sein. Erst wenn wir in den einzelnen mit der Adäquationstheorie der Wahrheit in Streit tretenden Wahrheitstheorien hinsichtlich deren jeweiliger Aufgabenstellungen und von diesen her die Gründe klar in den Blick bekommen, die das hauptsächliche Motiv für die Verwerfung der Adäquationstheorie oder – positiv formuliert – für eine alternative Wahrheitstheorie darstellen, können wir deren Eigenart und Ursprung begreifen und sie angemessen kritisieren sowie ihre echten Erkenntnisse würdigen. Z.B. werden wir finden, daß die Evidenztheorie der Wahrheit eine glänzende, ja die beste kriteriologische Wahrheitstheorie darstellt, hingegen als Theorie vom Wesen der Wahrheit rational unbegründet, gänzlich ungeeignet, irrig und widersprüchlich ist.
I. TEIL
WAHRHEIT – EVIDENZ – KOHÄRENZ
KAPITEL 1 FRANZ BRENTANOS EVIDENZTHEORIE DER WAHRHEIT – EINE KRITISCHE ANALYSE
1. Grundlinien der Evidenztheorie der Wahrheit Franz Brentanos und ihre hauptsächlichen Motive Wohl die wichtigste der von der klassischen Adäquationstheorie abweichenden Wahrheitstheorien ist Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit, nicht zuletzt deshalb weil sie sich direkt und polemisch, vor allem aber weil sie sich am tiefsten und umfassendsten mit der Frage auseinandersetzt, ob die „Adäquation“, also diese eigentümliche Übereinstimmung zwischen setzendem Hinstellen (bzw. Behaupten) eines Sachverhalts und dem Selbstverhalten der Sachen selbst, die unserer Meinung nach das Wesen der Urteilswahrheit ausmacht, wirklich das Wesen der Wahrheit darstellt und weil er diese klassische Lehre verworfen hat, obwohl er ihr von seiner realistischen und objektivistischen Grundposition her nahestehen sollte. Mehr noch, die Theorie Brentanos geht direkt von einer Kritik der Konzeption der Wahrheit als Adäquation aus und erwächst logisch aus dieser, weshalb wir im Rahmen seiner Theorie einige der wichtigsten Einwände gegen die Korrespondenztheorie (Adäquationstheorie) antreffen und beantworten können. Brentano hält stets daran fest, daß es unter allen Bewußtseinsphänomenen (Vorstellungen, Liebe, Haß, etc.) primär das Urteil sei, das wir wahr oder falsch nennen können: Die Wahrheit und Falschheit im eigentlichen Sinne findet sich im Urteil. Und zwar ist jedes Urteil entweder wahr oder falsch.49
49
Franz Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“ (Vortrag gehalten in der Wiener Philosophischen Gesellschaft am 27.III.1889), in: Franz Brentano, Wahrheit und Evidenz. Erkenntnistheoretische Abhandlungen und Briefe, ausgew., erl. u. eingel. v. Oskar Kraus (Leipzig, F. Meiner 1930; 31979), S. 3-29, S. 6.
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KAPITEL1
Dabei hat zwar Brentano, wenn er das Wort ‚Urteil‘ verwendet, wohl dasselbe Datum des aus Begriffen gebildeten eigentümlichen Gebildes im Auge, das wir das Urteil nennen und in einem Behauptungssatz ausdrücken können, doch besteht bei Brentano noch eine tiefe Unklarheit hinsichtlich des präzisen, von Edmund Husserl, Adolf Reinach und Alexander Pfänder entwickelten Unterschiedes zwischen Urteilsakt und Urteil selbst. Brentano, wie schon Aristoteles, identifiziert das Urteil primär mit dem Urteilsakt.50 Das logische Urteilsgebilde, dem wir Wahrheit zusprechen, unterscheidet sich jedoch radikal von einem Urteilsakt, diesem je individuellen bewußten Akt, in dem eine Person einen Sachverhalt durch das logische Gebilde des Urteils, das eine bestimmte, von den Akten unterschiedene und bis zu einem gewissen Grad von ihm „losgelöste“ Existenzform besitzt, hindurch behauptet. Brentano, der in seiner früheren Philosophie die Adäquationstheorie der Wahrheit verteidigt hatte, übte in mehreren späteren Schriften über die Wahrheit51 eine ganze Reihe von Kritiken an der Korrespondenztheorie der 50
51
Vgl. dazu, außer dem eben zitierten Werk Brentanos, auch Alexander Pfänder, Logik, (Mariano Crespo, Hrsg.), 4. Aufl., Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein Philosophy and Realist Phenomenology. Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality Liechtenstein. Hrsg. v. Rocco Buttiglione und Josef Seifert, Bd. 10 (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 2000); Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, in: Sämtliche Werke. Texktritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917), S. 95-140; sowie Artur Rojszczak, „Wahrheit und Urteilsevidenz bei Franz Brentano,“ Brentano Studien 5 (1994), 187-218, S. 193 ff. (Ich kann mich hier eines persönlichen Kommentars nicht enthalten und um ein Gedenken an diesen Autor bitten, kurze Zeit einer unserer begabtesten polnischen Studenten an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, der nach seiner Rückkehr nach Krakau wegen einer absurden ungerechten Habsucht eines Miteigentümers seines Hauses in grausamster Weise zusammen mit seinem Vater ermordet wurde; seine Frau, die ein Kind erwartete, wurde durch die Schüsse des Miteigentümers zeitleben querschnittgelähmt und erlag einige Jahre danach ihren Verletzungen). Siehe Franz Brentano, Wahrheit und Evidenz, vor allem S. 121-150; auch schon 87-118; 73-83. In diesem Band sind 6 frühe Abhandlungen Brentanos, die seine frühere Lehre enthalten, drei Schriften der Übergangszeit und – außer einer Reihe
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 65
Wahrheit, die ihm schließlich so entscheidend und gewichtig zu sein schienen, daß er die Auffassung der Wahrheit als Adäquation ganz aufgegeben hat oder zumindest dahin tendierte, die Korrespondenztheorie der Wahrheit vollkommen zu verwerfen, worin ein Widerspruch zu seiner und der österreichischen Philosophie sonst naheliegenden aristotelischen und auch platonischen52 Tendenz liegt.53
52
53
von Briefen – auch 6 Abhandlungen über Brentanos neuere Lehre (Evidenztheorie) versammelt. Siehe auch, ebd., die Einleitung des Herausgebers (Kraus) und Francesca Modenato, Coscienza ed essere in Franz Brentano, (Bologna: Patron 1979), bes. S. 121 ff.; 205 ff.; sowie Adriano Bausola, Coscienza e Moralità in Franz Brentano (Mailand, 1968), bes. S. 27 ff.; 44 ff.; 72 ff.; 80 ff. Ich kann nicht mit J. Srzednicki einverstanden sein, der in seinem Buch Franz Brentano’s Analysis of Truth (The Hague: Nijhoff, 1966) Brentanos Ablehnung der Korrespondenztheorie der Wahrheit verteidigt. Noch weniger kann ich dem Autor folgen, wenn er gar die Verwerfung aller entia rationis, und damit auch der Korrespondenztheorie der Wahrheit, für die Voraussetzung des Realismus Brentanos hält. Vgl. Jan Srzednicki, “Some Elements of Brentano’s Analysis of Language and Their Ramifications”, Rev Int Phil, 20, 434-445. Vgl. auch Gershon Weiler, “Jan Srzednicki’s ‘Franz Brentano’s Analysis Of Truth’”, Austl J Phil (May 1967), 45, 113-121. Auch Plato vertritt ja – im Gegensatz zu den subjektivistischen Interpretationen der Eide und Wesenheiten – einen Realismus. Gerade dieser platonische Realismus idealer Wesenheiten, aber auch hinsichtlich der Realität des Demiurgen und der Seele, wirkt sich auf Bernhard Bolzanos Wissenschaftslehre aus, und auch auf den frühen Brentano und seine Nachfolger. Vgl. Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der „ungeschriebenen Lehren“, übers. v. L. Hölscher, mit einer Einleitung von H. Krämer, hrsg. und mit einem Nachwort von J. Seifert (Paderborn: Schöningh, 1993). Vgl. auch Vlastimil Hala, “On Patoþka’s Interpretation of B. Bolzano” (tschechisch), Filosof Cas (1997), 45 (5), 879-898. Dort wird Jan Patoþkas Interpretation, der zufolge Bolzanos stark platonisierende Theorie der „Wahrheiten an sich“ auf Franz Brentano großen Einfluß gehabt hätte, dargestellt. Dieser Auffassung Jan Patoþkas ist freilich entgegenzuhalten, daß gerade die Evidenztheorie der Wahrheit – sowie auch die Zurückweisung aller idealen Gegenstände beim späteren Brentano radikal antiplatonisch sind. Vgl. dazu Franz Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (Freiburg i.B., 1862; reprinted Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1960); vgl. auch Sonja Rinofner-Kreidl, “Barry Smith: ‘Austrian Philosophy: The Legacy of Brentano’”, Grazer Phil Stud (1996/97), 52,
66
KAPITEL1
Was sind die Gründe, aus denen heraus Brentano die Auffassung der Wahrheit des Urteils als einer eigentümlichen Übereinstimmung desselben mit der Wirklichkeit ablehnte?54 Wir betrachten im folgenden nicht alle seine Gründe, denen wir zum Teil auch in der Auseinandersetzung mit anderen Wahrheitstheorien wieder begegnen werden, sondern nur die charakteristischsten. Seine Hauptgründe für die Annahme der Evidenztheorie anstatt der Adäquationstheorie waren die folgenden: 1.1. Existenzialurteile beweisen nach Brentano, daß das wahre Urteil keiner res entspricht
Der erste Einwand Brentanos gegen die Evidenztheorie der Wahrheit ist der, daß es bei näherer Analyse gewisser Arten von Urteilen kein Ding, keine res, gibt, die Gegenstand jedes Urteils wäre und daß es vor allem nicht eine Angemessenheit (Adäquation) mit Dingen und deren Eigenschaften ist, welche die Wahrheit dieser ausmache. In der Tat bemerkte schon der frühere Brentano richtig, daß es keine „Sachen“ sind, mit denen alle wahren Urteile übereinstimmen. Brentano wurde insbesondere durch seine Fassung des Existentialurteils zur Verwerfung der Theorie als adaequatio an „die Dinge“ geführt, indem er neben der aristotelischen Urteilsform „S ist P“ auch das einfache Urteil
54
191-219. Dort findet sich eine kritische, aber letztlich positive Stellungnahme zu Barry Smith’s Grundthese, daß in der österreichischen Philosophie, vor allem der von Franz Brentano inspirierten, im Gegensatz zur deutschen, eine realistische und aristotelische Richtung vorherrsche, die sich besonders in Brentanos Psychologie und Metaphysik, in Martys Wahrheitstheorie, aber auch bei Meinong, Witasek, Twardowski, und in Kotarbinskis Reismus, sowie in Ehrenfels’s Werttheorie, in Menger’s ökonomischen Theorien und anderen nachweisen lasse. Unbekümmert um die Frage, ob es überhaupt eine spezifisch österreichische Philosophie gibt und wie sehr Brentano sich in diese einordnen läßt, möchten wir nur die Frage der Stichhaltigkeit seiner Einwände gegen die Korrespondenztheorie und die Frage der Wahrheit seiner eigenen Position der Evidenztheorie der Wahrheit untersuchen. Vgl. dazu Paul Weingartner, “Brentano’s Criticism of the Correspondence Theory of Truth”, in: Chisholm, R M (Hrsg.), Die Philosophie Franz Brentanos (Amsterdam: Rodopi, 1978), S. 183-197.
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 67
annahm, „S ist“. Und dieses „ist“ entspricht keiner „Sache“; ebensowenig identifiziert oder verbindet, so meint Brentano, dieses Urteil zwei Dinge oder Eigenschaften wie im Falle des Urteils ‚S ist P‘. Dasselbe gelte für Urteile, die nicht reale Existenz, sondern eine andere Existenzform meinen, die mit dem deutschen Ausdruck „es gibt“, dem in ungefähr der englische Ausdruck “there are” und der spanische „hay…“ entspricht, gemeint wird.55 Wenn ich etwa sage: „Es gibt unendlich viele mögliche Welten“, dann bezieht sich dieses Urteil nicht auf reale Dinge. Was sind „unendlich viele mögliche Welten“? Es sind keine handgreiflichen res, es sind keine Dinge in der Welt. (Nach Brentano sind unendliche Vielheiten überdies absurd, wie wir sehen werden.)56 Oder wenn ich sage: „Die Existenz eines Seienden ist zufällig“, dann ist das Dasein (Existenz) oder das Zufälligsein der Existenz nicht eine Sache, nicht ein Ding, usf. In seiner allgemeinen Evidenztheorie der Wahrheit aber versäumt es Brentano, ähnlich wie vor ihm Kant, das ‚ist‘ der Kopula im Urteil, das keinen gegenständlichen Bezug außer dem ‚reinen Sachverhaltssein‘ hat,57 von dem existentialen ‚ist‘ zu unterscheiden und ferner die einzigartige innere Aktualität des Seins, die dieses letztere ‚ist‘ meint, als solches anzuerkennen und von Wesensbeschaffenheiten ebenso wie von Dingen, sowie von jenen realen Prädikaten, welche die Existenz dieser Dinge bereits voraussetzen, zu unterscheiden.58 Auf Grund eines solchen Fehlens 55
56
57
58
Vgl. auch Agustin Basave, Tratado de Metafísica. Teoría de la Habencia (Mexico D.F.: Ed. Limusa, 1982). Vgl. den Text aus einem Schreiben an Anton Marty vom 2. September 1906, WE, S. 96. Vgl. Hedwig Conrad-Martius, Das Sein (München: Kösel, 1957), die diese Seinsform als einen ontologischen Sinn der Kopula in jedem Urteil enthalten sieht, im Unterschied zu Alexander Pfänder, der in seiner Urteilslehre meint, daß die Kopula nur ein rein funktionierender Begriff sei, dem nichts auf der Gegenstandsseite entspreche: eine Hinbeziehungsfunktion, die Kopula auch in Fragen oder Befehlen ausübt und eine Behauptungsfunktion, die ausschließlich dem Urteil zukomme und gleichsam dessen Seele ausmache. Vgl. Alexander Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Alexander, Logik (Tübingen: Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963). Vgl. dazu Josef Seifert, „Kant und Brentano gegen Anselm und Descartes. Reflexionen über das ontologische Argument“ in: Theologia (Athens 1985), 3-30;
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KAPITEL1
der Betrachtung weiterer Alternativen schließt Brentano implizite: weil weder Existenz mit einem realen Prädikat in dem Sinne einer Wesenseigenschaft von etwas gleichgesetzt werden darf noch das ‚ist‘ der Kopula eine sachliche Bedeutung hat und einen Gegenstand meint, ist Existenz in keinem Sinne eine res und daher entspricht diesen wahren Existenzurteilen nichts in der Wirklichkeit. 1.2. Negative Urteile entsprechen nach Brentano ebensowenig einer res
Daneben waren es primär die negativen Urteile wie das Urteil, „es gibt keine Drachen“, die Brentano zu beweisen schienen, daß es keine Sache gibt, die hier auf der Objektseite stünde und durch Übereinstimmung mit der das Urteil wahr würde und daß ferner auch die platonisch-aristotelische Bestimmung der Urteilswahrheit hier nicht zutreffe, dernach das wahre Urteil verbinde, was in Wirklichkeit verbunden, oder trenne, was in Wirklichkeit getrennt sei. Erst recht etwa, wenn ich sage: „Es gibt keinen Teufel“ oder „Es gibt keinen Drachen“ (Brentanos Beispiele) oder „Das Nichts ist kein Gegenstand“, dann ist in diesen negativen Urteilen, deren Subjekt etwas Nichtseiendes oder das Nichts ist, keine Sache auf der Objektseite vorhanden, mit der mein Urteil übereinstimmt oder nicht übereinstimmt. Oder wenn ich mit Gorgias sage: „Es gibt überhaupt nichts“, – nehmen wir an, dieses Urteil wäre wahr – dann ist Gegenstand dieses Urteils gerade nicht ein Ding und eine res, sondern die völlige Abwesenheit aller Dinge und aller res. Ähnliches gilt von dem Satz, daß die Welt aus dem Nichts geschaffen wurde, oder von Urteilen über Gewesenes. In diesem Sinne argumentiert schon der frühere Brentano (1889) zu Recht, daß nicht immer die res im Sinne einer Sache aufgefunden werden kann, in Entsprechung zu der ein Urteil wahr genannt wird.
ders., Sein und Wesen. Philosophie und Realistische Phänomenologie/ Philosophy and Realist Phenomenology. Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein/Studies of the International Academy of Philosophy in the Principality Liechtenstein, (Hrsg./Ed.), Rocco Buttiglione and Josef Seifert, Band/Vol. 3 (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996), Kap. 2.
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 69
Statt ihn aber ein anderes gegenständliches Korrelat für diese Urteile oder das Urteil überhaupt suchen und finden zu lassen, führten diese und andere Schwierigkeiten Brentano schließlich zur Verwerfung der Adäquationslehre, wenn auch Brentano zunächst (1889) noch meinte, daß es genüge, die Adäquationstheorie der Wahrheit dahingehend umzuformulieren, daß das richtige Urteilen – zumindest in vielen Fällen – in einem Anerkennen und Verwerfen von Existenz oder Nichtexistenz, von Sein oder Nichtsein, bestünde, die dem wirklichen Sein oder Nichtsein der Dinge entsprächen.59 Sogar in jenem Brentano’schen Spätwerk, das Kraus als Kerndokument seiner Verwerfung des Adäquationsgedankens der Wahrheit gilt, verwendet Brentano noch eine Formulierung, die wie eine Tarskis Wahrheitstheorie verwandte Neuformulierung der Adäquationslehre aufgefaßt werden könnte: Was man meint, scheint auf nichts anderes als darauf hinauszulaufen, daß derjenige, der urteilt, daß etwas sei, nicht sei, möglich sei, unmöglich sei, von jemandem gedacht, geglaubt, geliebt, gehaßt, daß es gewesen sei, daß es sein werde usw., wahr urteilt, wenn das betreffende Ding ist, nicht ist, möglich ist, gedacht ist ...usw.60
1.3. Die Verwerfung der Irrealia als dritter Grund der Ablehnung der Adäquationstheorie durch Brentano
Ferner nahm Brentano ursprünglich Möglichkeiten, Unmöglichkeiten, Sachverhalte und andere Irrealia an, mit denen Urteile übereinstimmen 59
60
Siehe dazu Franz Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, bes. S. 22, 24-27; und, aus der Vierten Abteilung des Bandes Wahrheit und Evidenz, die O. Kraus betitelt: „Die neue Lehre, dargestellt in Abhandlungen“: „Über den Sinn des Satzes: veritas est adaequatio rei et intellectus“, in: Franz Brentano, Wahrheit und Evidenz. Erkenntnistheoretische Abhandlungen und Briefe, S. 131-136, wo Brentano eine Reihe von Deutungen der adaequatio verwirft, aber immer noch sagt, was O. Kraus in der Anmerkung bekrittelt „So dürfen wir also an dem alten Satz [veritas est adaequatio rei et intellectus] festhalten...“ (ebd., S. 136). Siehe auch ebd., Einleitung von O. Kraus, S. vii-viii; xv. „Über den Satz: ‘veritas est adaequatio rei et intellectus’“, WE, S. 139.
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KAPITEL1
könnten. Weil er diese Irrealia (worunter er sogar Existenz rechnete!) später verwarf,61 sowie in seinem Reismus nur noch physische und psychische Dinge und deren Eigenschaften anerkannte, mußte er infolge dieser neuen Lehre und seiner früheren Einsichten, daß eindeutig nicht jedes wahre Urteil einer Sache entspricht, in einer solchen Welt, in der nichts außer Sachen (res) existiert, gerade die Seinsaussage „X ist“ nur noch als Ausdruck der Anerkennung und nicht mehr als Prädikation betrachten und auch die Adäquationstheorie der Wahrheit verwerfen, eben weil er außer den Sachen (res) keine weiteren Termini der Übereinstimmung in der Wirklichkeit mehr anerkannte.62 Daraus folgt aber notwendig und logisch die Verwerfung der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Denn ohne negative Sachverhalte, Möglichkeiten, Unmöglichkeiten, Existenzen und Nichtexistenzen, etc. bleibt für viele wahre Urteile nichts mehr auf der Seite der res bestehen, mit dem sie übereinstimmen könnten. In Brentanos irreführender und undifferenzierter Terminologie und Denkweise, die Gegenstände von Irrtümern, direkte und abgeleitete rein intentionale Gegenstände, ideale Wesenheiten, Möglichkeiten, und sogar reale Existenz ‘Irrealia’ nennt, und auf Grund eines Denkens, das all dies aus dem Reich der res, mit denen wahre Urteile übereinstimmen können, verbannt, läßt sich in der Tat die Wahrheit vieler Typen von Urteilen nicht als „Übereinstimmung“ erklären. Im Licht der Schwierigkeiten, die dem ersten Grund für Brentanos Neufassung der Wahrheitstheorie zugrunde liegen, folgt aus einer Verwerfung aller Irrealia (inklusive der Existenz!), sowie aus der Verwerfung aller Privationen, alles Nichtseins, aller Möglichkeiten und Unmöglich61
62
Vgl. Franz Brentano, „Über die Entstehung der irrigen Lehre von den entia irrealia“ (Aufzeichnungen von A. Kastil nach einem Gespräche mit Brentano. Mai 1914 in Innsbruck), „Wie ich zu dem irrigen Gedanken der Existenz von Nichtrealem kam“, Wahrheit und Evidenz (im Folgenden abgek. WE), S. 162-164. Siehe Franz Brentano, „Zur Frage der Existenz der Inhalte und von der adaequatio rei et intellectus“ (20. November 1914), WE, S. 121. Siehe zur Analyse des einzigartigen, aber wahren Prädikats „Existenz“ J. Seifert, “Essence and Existence. A New Foundation of Classical Metaphysics on the Basis of ‘Phenomenological Realism,’ and a Critical Investigation of ‘Existentialist Thomism’,” Aletheia I (1977), pp. 17-157; I,2 (1977), pp. 371-459, sowie die wesentlich erweiterte deutsche Version dieses Werkes, Sein und Wesen, Kap. 1-3.
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 71
keiten usf. die Verwerfung der Adäquationstheorie der Wahrheit, die sich nur dann halten läßt, wenn man mit Aristoteles63 und mit Thomas von Aquins De Ente et Essentia64 im Hinblick auf die Wahrheit von der Existenz von Irrealia bzw. von einem weiteren Begriff des Seins ausgeht, der allen wahren Aussagen, auch jenen auch über Privationen, Nichtsein usf. entspricht. Für diese eigentümliche ontische Formation, welche der Wahrheit jedes Urteils ihr Fundament gibt, und die Edmund Husserl und Adolf Reinach als solche entdeckt und herausgearbeitet haben: das „aSein-[oder-nicht-a-Sein-]eines-B“ war Brentano zunehmend blind.65
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Vgl. Barry Smith, “Brentano and Marty: An Inquiry into Being and Truth”, in Kevin Mulligan, (ed): Mind, Meaning and Metaphysics, (Dordrecht: Kluwer, 1990). Smith behandelt dort die Rolle des aristotelischen Begriffs des Seins als Wahrheit bei Brentano. Vgl. auch Barry Smith, Austrian Philosophy, The Legacy of Franz Brentano (Chicago/LaSalle: Open Court, 1995). Vgl. Thomas von Aquin, De Ente et Essentia, in: Opera Omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), Bd. 3, S. 583-587, bes. Den folgenden Text, die Anfangssätze von Kap. 1: Sciendum est igitur quod, sicut in V metaphysicae philosophus dicit, ens per se dicitur dupliciter, uno modo quod dividitur per decem genera, alio modo quod significat propositionum veritatem. Horum autem differentia est quia secundo modo potest dici ens omne illud, de quo affirmativa propositio formari potest, etiam si illud in re nihil ponat. Per quem modum privationes et negationes entia dicuntur; dicimus enim quod affirmatio est opposita negationi et quod caecitas est in oculo. Sed primo modo non potest dici ens nisi quod aliquid in re ponit. Unde primo modo caecitas et huiusmodi non sunt entia.
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Es ist aber auch schwer, bei Thomas von Aquin einen klaren Sachverhaltsbegriff zu finden – trotz der klaren Texte in De Ente et Essentia. Innerhalb der thomistischen Philosophie gibt es keinen festen Platz für jene Kategorien von Gegenständlichkeiten, die Brentano in seiner früheren Phase voraussetzt, die wir mit Sachverhalten identifizieren, welche sich übrigens innerhalb aller Seinsmodi – im realen, idealen, rein intentionalen, rein logischen und möglichen Sein – nachweisen und von Dingen oder Gegenständen unterscheiden lassen. Vgl. meinen Versuch, die Gegebenheit des Sachverhalts aufzuklären in Josef Seifert, Sein und Wesen, besonders Kap. 2; sowie Mariano Crespo, “En torno a los estados de cosas. Una investigación ontológico-formal,” Anuario Filosófico, XXVIII/1 (1995), 143-156; ders., Para una ontología de los estados de cosas esencialmente necesarios. Tesis doctoral. Departamento de Metafísica y Teoría del Conocimiento. Universidad Complutense, Madrid 1995.
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KAPITEL1
1.4. Brentanos kriteriologisches Argument gegen die klassische Wahrheitstheorie
Ein viertes Hauptargument Brentanos gegen die Adäquationstheorie der Wahrheit betrifft die Adäquationstheorie als Grundlage einer Kriteriologie der Wahrheit. Woher nehme ich ein Kriterium für einen solchen „Vergleich“ zwischen Erkenntnis (Urteil) und Sache? Das einzige Kriterium, zumindest das einzig letzte Wahrheitskriterium, kann nur in der Evidenz der Erkenntnis bzw. des Urteils liegen, die sich radikal von jeder subjektiven Denknötigung unterscheidet: Die Eigentümlichkeit der Einsicht, die Klarheit, Evidenz gewisser Urteile, von der ihre Wahrheit untrennbar ist, hat wenig oder nichts mit einem Gefühle der Nötigung zu tun. ...; und kein Bewußtsein einer Notwendigkeit, so zu urteilen, könnte als solches die Wahrheit sichern. Wer beim Urteilen an keinen Indeterminismus glaubt, der hält alle Urteile unter den Umständen, unter welchen sie gefällt werden, für notwendig, aber – und mit unleugbarem Rechte – darum doch nicht alle für wahr. ... Warum doch sollte ... jeder andere Denkende ... derselben Nötigung unterliegen? ... ... Auch kommt dem Urteile, dessen Wahrheit einer einsieht, immer Allgemeingültigkeit zu; d.h. es kann von dem, der es einsieht, nicht ein anderer das Gegenteil einsehen, und jedermann irrt, der das Gegenteil davon glaubt. Auch mag ... wer etwas als wahr einsieht, erkennen, daß er es als eine Wahrheit für alle zu betrachten berechtigt ist. Aber es hieße sich einer starken Begriffsverwechslung schuldig machen, wenn man aus einem solchen Bewußtsein der Wahrheit für alle das Bewußtsein einer allgemeinen Denknötigung machen wollte.66
Indem Brentano und sein Schüler Kraus im Anschluß an berühmte Äußerungen Descartes‘ und Spinozas überzeugend zeigen, daß es unmöglich ein Kriterium für Wahrheit außerhalb und völlig unabhängig von der Evidenz des Erkenntnisaktes geben kann,67 meinen sie in einer keineswegs 66
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Franz Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, eingel. und hrsg. v. Oskar Kraus, unv. Nachdr. der 4. Aufl. (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1955), „Anmerkung 27: ‚Von der Evidenz‘“, S. 66-67. Siehe Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, WE, S. 28; ders., „Zur Frage der Existenz der Inhalte und von der adaequatio rei et intellectus“, WE S. 126; „Über
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 73
selbstverständlichen und überdies unrichtigen Schlußfolgerung aus dieser wahren Einsicht schließen zu dürfen, daß nicht nur das oberste Kriterium der Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch deren Wesensbestimmung nicht durch Übereinstimmung mit Sachen, sondern durch Evidenz allein zu leisten sei. Ja ein Vergleichen zwischen Urteil und Wirklichkeit als Kriterium führe zu einem unendlichen Regreß. So akzeptierte Brentano, trotz seiner früheren Polemik gegen Windelband und Kants kopernikanische Wende immer mehr deren Wahrheitsbegriff des „als gerechtfertigt charakterisierten Urteils“,68 leugnete allerdings die reine Subjektivität und Relativität solcher Evidenz.69 1.5. Die Schwierigkeiten, den Sinn der Adäquation zu bestimmen, als Argument gegen die Evidenztheorie der Wahrheit
Eine besondere Rolle in der Argumentation Brentanos nehmen fünftens die Schwierigkeiten ein, den Sinn von Adäquatio, die gewiß nicht Ähnlichkeit oder Gleichwertigkeit bedeutet,70 angemessen zu erklären. Denn wenn diese Übereinstimmung weder eine Ähnlichkeit zwischen Urteil und Sachverhalt noch eine Austauschbarkeit oder Gleichwertigkeit sein kann, wie eine einfache Betrachtung des Urteils erweist, worin soll dann diese adaequatio bestehen? Brentano meint, aus der Tatsache, daß die Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit weder Ähnlichkeit noch Gleichheit noch Gleichwer-
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den Sinn des Satzes: veritas est adaequatio rei et intellectus“; WE 133; „Über den Satz: ‘veritas est adaequatio rei et intellectus’“, in: Franz Brentano, WE, S. 137139. Siehe ebd., Einleitung Kraus, S. xii-xiv. Siehe Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, S. 10 ff. Siehe ebd. (Einleitung Kraus), S. ix. Siehe Brentanos Korrespondenz mit Husserl (1905), in WE, S. 153 ff.; bes. S. 157, wo er sich gegen den relativistischen Psychologismus verwahrt. Vgl. vor allem die hervorragenden Ausführungen Brentanos über Evidenz in „Von der Evidenz“ aus den Anmerkungen zu Sigwart in Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis, abgedruckt in WE, S. 61-69. Siehe Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, WE, S. 22 ff.; „Über den Sinn des Satzes: veritas est adaequatio rei et intellectus“; WE, 132 ff.
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tigkeit oder Ähnliches ist, schließen zu dürfen, daß man die Urteilswahrheit gar nicht mehr als adaequatio bestimmen dürfe. 1.6. Das Argument gegen die unendlich vielen Sachverhalte
Es gibt noch eine andere von Brentano hervorgehobene, sechste Schwierigkeit in bezug auf die Sachen oder auch die Sachverhalte, eine Schwierigkeit des Sachverhaltsbegriffs, die sowohl Brentano als auch Roman Ingarden hervorgehoben haben. Es bestehen nämlich unendlich viele Sachverhalte, die alle Gegenstand wahrer Urteile sein könnten, vor allem, aber nicht ausschließlich, unendlich viele negative Urteile, ja es folgen sogar aus jedem einzelnen positiven Urteil, bzw. aus jedem positiven Sachverhalt, unendlich viele Sachverhalte. Was für Urteile gilt, gilt übrigens auch für die Wahrheit von Urteilen. Wenn es etwa wahr ist, daß in diesem Raum nur 25 Menschen, nicht mehr und nicht weniger, sind, folgt daraus die Wahrheit unendlich vieler negativer Urteile wie: „Es sind in diesem Raum nicht 50 Menschen“, oder „Es sind in diesem Raum nicht 51, es sind in diesem Raum nicht 1’500’000 Menschen“, „Es sind in diesem Raum nicht 2’989’007 Menschen“, usf. So kann ich unendlich viele ähnliche negative Sachverhalte dieser Form erfassen und in wahren Urteilen ausdrücken. Dostojewskis „Notizen aus dem Untergrund“ enthalten ähnliche Reflexionen, die einen Menschen geradezu in den Wahnsinn treiben können, wenn er beginnt, sie alle denken zu wollen. Außerdem hätten die unendlich vielen negativen Sachverhalte, die es zu jedem Sachverhalt gibt (wenn hier nur ein Stuhl steht, folgt daraus, daß hier nicht 2, 3, etc., also nicht unendlich viele andere Anzahlen von Stühlen stehen, etc.) absurde Konsequenzen im Rahmen einer Philosophie der Wahrheit als Adäquatio. Denn zu der unendlichen Fülle negativer Sachverhalte könne man sich keineswegs unendlich viele Sachen (res) denken und sie bezögen sich alle weder auf Dinge noch auf Seiendes, sondern eben einfach auf Nichtseiendes. Augustinus spricht auch von der unendlichen Zahl wahrer affirmativer Urteile, deren Wahrheit wir mit Gewißheit wissen und die aus jedem wahren Cogito-Urteil folgen und den Stufen der Reflexion entsprechen.
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 75
„Ich weiß, daß ich weiß, daß ich bin; und ich weiß, daß ich dies weiß“, usf. ad infinitum. Dieser Gedankengang läßt sich auch auf die entsprechenden Sachverhalte, wenn man diese als Gegenstand des Urteils annimmt, übertragen. Nicht zuletzt aus dem Grund, daß er nicht nur unendlich viele Sachverhalte, sondern auch negative Sachverhalte und Irrealia jeder Art ablehnt, verwirft Brentano, und das ist ein sehr folgenschwerer Schritt, die Adäquationstheorie als solche und sagt, wir müßten eine bessere Beschreibung dessen finden, was Wahrheit sei. Brentano meint nun, er könne diese ihm absurd scheinende Konsequenz durch Einführung seiner Evidenztheorie der Wahrheit vermeiden. Dabei ist nicht ganz klar, ob er eine ganz neue Definition der Wahrheit einführen möchte oder – Tarski vorwegnehmend – von dem Versuch abgeht, das Wesen der Wahrheit selbst überhaupt zu erklären und nur eine bessere operationale Definition der Wahrheit einführen möchte. 2. Evidentes Urteil bzw. Übereinstimmung mit ihm als neue Wahrheitstheorie Um nach dem vermeintlichen Zusammenbruch der Adäquationstheorie, die an einer objektiven Bestimmung der Wahrheit des Urteils durch sein Verhältnis zu seinem Gegenstand festhält, einen besseren Bestimmungsgrund der Wahrheit zu bieten, bezieht Franz Brentano sich in seiner Evidenztheorie der Wahrheit auf die Erkenntnis und das letzte Kriterium der Wahrheit, das ausschließlich in Evidenz bestehen kann, und definiert die Wahrheit ganz vom Bezug des Urteils auf Evidenz und damit auf Erkenntnis aus, und zwar so: Es läuft dies alles eigentlich auf nichts anderes hinaus als darauf, daß die Wahrheit dem Urteile des richtig Urteilenden zukommt, d.h. dem Urteile dessen, der urteilt, wie derjenige darüber urteilen würde, der mit Evidenz sein Urteil fällt; also der das behauptet, was auch der evident Urteilende behaupten würde.71
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Aus der Abhandlung von Brentano, „Über den Satz: ‘veritas est adaequatio rei et intellectus’“, WE, S. 139. Doch geht auch diesem Satz, in welchem Kraus den
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Ein Urteil ist also dann wahr, wenn es die Dinge, oder was immer sonst ist oder nicht ist, so beurteilt wie derjenige, der sein Urteil mit Evidenz fällt, urteilen würde. So führt also Brentano diesen neuen Gesichtspunkt der vollkommenen Evidenz des Urteils, oder besser der vollendeten Evidenz der Erkenntnis eines Urteilenden, als neues und ideales Maß und als Bestimmungsgrund der Urteilswahrheit ein. Dabei kommt es für die Wahrheit eines Urteils nicht darauf an, ob die Erkenntnis des Urteilenden nun tatsächlich Evidenz besitzt oder nicht, nicht darauf, ob das Urteil mit eigener Evidenz geurteilt wird, sondern nur darauf, ob ein Urteil objektiv mit jenem Urteile übereinstimmt, der mit Erkenntnisevidenz urteilt. Man könnte im Hinblick auf das „reine Ideal der absoluten Evidenz“ als Maß jeder Urteilswahrheit von einem Platonismus in Brentanos Evidenztheorie sprechen. Denn für Brentano ist das „reine Ideal“ der Evidenz der Erkenntnis das beste Bestimmungsmerkmal der Wahrheit oder der Falschheit von Urteilen. Ein falsches Urteil ist eines, das ein mit Evidenz Urteilender verwerfen würde, ein wahres Urteil eines, das ein mit Evidenz Urteilender für wahr halten würde. Dieser neue Bestimmungsgrund der Wahrheit durch den Bezug auf Evidenz ist daher keine Aussage über ein Wahrheitskriterium oder über tatsächlich vorliegende Evidenz, sondern über eine neue Form der Übereinstimmung des Urteils mit etwas, das größtenteils jedem Menschen unerreichbar ist. So meint Brentano, die Schwierigkeiten der Adäquationstheorie vollständig vermieden zu haben, weil er eben die Wahrheit von der Evidenz her bestimmt und daher alle genannten Schwierigkeiten umschifft.
Kern der neuen Lehre Brentanos über die Wahrheit sieht, noch ein anderer unmittelbar voraus, der eigentlich eine differenziertere Form der Adäquationstheorie impliziert und deshalb einen anderen Folgesatz erwarten ließe: Was man meint, scheint auf nichts anderes als darauf hinauszulaufen, daß derjenige, der urteilt, daß etwas sei, nicht sei, möglich sei, unmöglich sei, von jemandem gedacht, geglaubt, geliebt, gehaßt, daß es gewesen sei, daß es sein werde usw., wahr urteilt, wenn das betreffende Ding ist, nicht ist, möglich ist, gedacht ist ...usw. (Ebd., S. 139).
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 77
3. Einwände gegen Brentanos Kritik der Adäquationstheorie der Wahrheit Wir müssen zunächst, vor einer inhaltlichen kritischen Analyse der Brentano‘schen Theorie selbst, fragen, ob Brentanos Gründe, das Wesen der Wahrheit als Adäquation zu verwerfen, hinreichend sind oder nicht. Sollte sich zeigen, daß sie es nicht sind, so bestehen Ausgangspunkt und rationaler Grund für die Evidenztheorie der Wahrheit nicht mehr, sodaß ein entscheidender Einwand gegen die Theorie ihrer inhaltlichen Kritik vorhergeht und die von Brentano angeblich aus guten, ja zwingenden Gründen verworfene Adäquationslehre der Wahrheit – noch vor der inhaltlichen Kritik der Evidenztheorie der Wahrheit – sich in ihrer ungeminderten Überzeugungskraft empfiehlt . 3.1. Die verlorene ‘res’ als ‚Sachverhalt‘: sobald ‘res’ als Sachverhalt geklärt ist, erübrigt sich Brentanos Verwerfung der Adäquationstheorie – Die ‘res’ in negativen Urteilen und Existentialurteilen
Brentano verwirft die ‘res’ als Fundament einer realistischen Wahrheitstheorie vor allem, weil er meint, negative wahre Urteile und Existenzurteile ließen sich durch keinerlei Sache auf der Objektseite erklären. Daß aber die res zugegebenermaßen keine Sache ist, genügt keineswegs, um einen doch evidentermaßen bestehenden und von Brentano immer und immer wieder vorausgesetzten Wirklichkeits-bzw. gegenständlichen Bezug des wahren Urteils aufzugeben. Läßt sich denn die res nicht so klären, daß ihre scheinbare Absurdität verschwindet? Gerade durch die Herausarbeitung des allgemeinen Sinnes jenes „Etwas“, mit dem wahre Urteile übereinstimmen, ließe sich in Brentanos eigenem Aufsatz (1889) „Über den Begriff der Wahrheit“72 – und viel klarer innerhalb der Phänomenologie nach Brentano – ein solches gegenständliches Korrelat der Wahrheit unschwer finden. Und zwar ist es der recht zu verstehende Sachverhaltsbegriff, der auf den eigentlichen unmittelbaren „Gegenstand“ des Urteils abzielt und die Grundlagen dafür bereithält, von denen her die Fassung der Wahrheit 72
Siehe Franz Brentano, „Über den Begriff der Wahrheit“, WE, S. 3-29; bes. S. 24 (Nr. 48-49).
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als adaequatio neu begründet werden kann und die Verwerfung der Adäquationstheorie auf Grund der von Brentano aufgedeckten Schwierigkeiten unnötig wird. Denn die These, daß das „irgendetwas“ auf der Objektseite, an das sich das wahre Urteil angleicht oder mit dem das wahre Urteil in bestimmtem Sinne übereinstimmt, Sachverhalte und nicht Dinge sind, deckt alle Fälle, von denen Brentano spricht und die in der Tat für jede „dinglich“ verstandene Adäquationstheorie unübersteigliche Hindernisse errichten.73 3.2. Es gibt die negativen Sachverhalte
Den Einwänden Brentanos liegen zweifellos echte Erkenntnisse dieses großen Philosophen und eigentlichen Begründers einer phänomenologischen und insbesondere einer realistischen phänomenologischen Philosophie zugrunde. Wie dies für alle Philosophie zutrifft, täuschte sich auch Brentano keineswegs in jenen evidenten Sachverhalten hinsichtlich des Wahrheitsproblems, die er einsah, sondern nur in deren inkorrekten und keineswegs einsichtigen Interpretationen. Anstatt nämlich aus seinem scharfsinnigen Nachweis, wie schwierig es ist, ein gegenständliches Korrelat von Existentialurteilen und negativen Urteilen zu finden, den Schluß zu ziehen, daß es eben keine Sachen, sondern positive oder negative Sachverhalte sind, mit denen das wahre Urteil übereinstimmt, oder daß, wie man weniger präzise formulieren könnte, das Urteil entweder Seiendem (res) oder Nichtseiendem entsprechen kann, verwarf Brentano – nach seinen ersten, in den mittleren Schriften zum Wahrheitsproblem vorfindlichen Versuchen einer vergleichbaren Art, die klassische Theorie umzuformulieren – in seinen späteren Aufsätzen die Adäquationstheorie der Wahrheit völlig und meinte, kein
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Vgl. dazu auch Jan Wolenski, “Brentano’s criticism of the correspondence conception of truth and Tarski’s semantic theory”, Topoi, 8, 105-110. Auch Wolenski meint, daß eine adäquate Wahrheitstheorie alle Einwände Brentanos gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit zu entkräften vermag. Allerdings kann ich Wolenskis Meinung nicht zustimmen, Tarskis „semantische Wahrheitstheorie“ habe alle Einwände Brentanos und Probleme der Zirkularität überwunden.
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 79
objektives gegenständliches Korrelat wahrer Urteile, eben so etwas wie einen Sachverhalt, erkennen oder anerkennen zu können.74 Wenn ich sage: „Es gibt keinen Drachen“, „Das Nichts ist kein Ding“, oder „Es gibt überhaupt nichts“ – und wenn ich annehme, daß diese Urteile wahr sind – dann müssen sie auch, dies ist evidenterweise mit ihrer Wahrheit gegeben, mit dem Sachverhalt, daß es keinen Drachen oder daß das Nichts in der Tat kein Ding ist, oder daß es nichts gäbe, „übereinstimmen“. In diesem Sinne könnte man sagen, daß der Begriff des Sachverhalts einer ist,75 der sowohl das einzig mögliche gegenständliche unmittelbare Objekt des Urteils ist als auch alle möglichen Formen von „Objekten“ aller möglichen Arten von Urteilen trifft, sodaß es weder nötig ist, diesen Sachverhalt als Ding zu deuten noch – aus dem nämlichen Grunde – nötig ist, die Kritik, die Brentano an der Adäquationstheorie geübt hat, zu teilen.76
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Alexius Meinong hat in Form der „Objektive“ ähnliche gegenständliche Korrelate des Urteils wie Sachverhalte anerkannt, wie wir schon im Kapitel 3 von Wahrheit und Person ausgeführt haben. Vgl. Alexius Meinong, „Über Annahmen“, in: Alexius Meinong, Gesamtausgabe (Graz: Akkad. Druck- u. Verlagsanstalt 1977), Bd. IV, Kap. iii, S. 42 ff. Vgl. auch Reinhardt Grossmann, “Thoughts, Objectives and States of Affairs”, Grazer Phil Stud (1995), 50, 163-169. Vgl. dazu ferner Josef Seifert, „Sprache und Wahrheit. Zum Verhältnis zwischen Satz, Urteil und Sachverhalt“, in: Alex Burri (Hrsg.), Sprache und Denken/ Language and Thought (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1997), S. 301-324. Zu einer ausführlichen Analyse des Sachverhalts vgl. Mariano Crespo, Mariano Crespo, “En torno a los estados de cosas. Una investigación ontológico-formal,” 143-156; ders., Para una ontología de los estados de cosas esencialmente necesarios, sowie mein Sein und Wesen, Kap. 2-3. Siehe dazu Adriano Bausola, Coscienza e Moralità in Franz Brentano, a.a.O., S. 27 ff., wo dieser (ebd., S. 30 ff.) neben vielen ausgezeichneten Kritiken am „Dualismus“, der insbesondere in Brentanos kriteriologischem Argument liegt, das Dinge und Erkenntnis hoffnungslos von einander trennt, zu wenig die Transzendenz des Erkennens hervorhebt und statt dessen eine Art „im Geist Seins“ (être objectif) trotz esse formale behauptet, also eine Art Identitätsthese verteidigt.
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In eine derartige Richtung geht auch die Kritik, die Roman Ingarden77 schon an jener Theorie der negativen Sachverhalte geübt hat, welche Adolf Reinach in seinem Aufsatz „Zur Theorie des negativen Urteils“ entwickelt hatte. Reinach meint, daß es positive und negative Sachverhalte gibt, die beide gleichermaßen bestehen und die entsprechenden Urteile wahr machen.78 Ingarden entwickelt den Standpunkt, daß die „negativen Sachverhalte“ nicht wie die positiven einfach bestehen, sondern daß sie gleichsam erst, wenn sie als solche denkend „entworfen“ werden, aus allen möglichen Sachverhalten „herausgehoben“ und damit gleichsam vom Denken, das sie überhaupt erst als solche faßt, mitkonstituiert werden, allerdings so daß sie als solche ein fundamentum in re besitzen. Die Tatsache, daß in einem Raum 3 Stühle und nicht mehr sind, macht es möglich, von diesem objektiv vorgegebenen Sachverhalt ausgehend, unendlich viele negative denkend zu entwerfen und wahrheitsgemäß auszuschließen: Es sind nicht vier, nicht fünf etc. Stühle in diesem Raum. Barry Smith, Peter Simon, and Kevin Mulligan haben eine ähnliche, aber noch weitergehende Theorie der Sachverhalte im Verhältnis zur Wahrheit entworfen, nach der die Sachverhalte zwar objektiv in den Dingen gründen, aber nicht von sich aus schon als solche bestehen, sondern gleichsam erst durch die Heraushebung aus den unendlich vielen möglichen Sachverhaltspotentialitäten zu eigentlichen Sachverhalten werden.79 Nun liegt in alledem zweifellos viel Wahres und jedenfalls besteht hier ein sehr schwieriges Problem, ob alle Sachverhalte gleich objektiv schlechthin „im Sein vorgebildet“ sind oder ob es Sachverhalte gibt (wie die unendlich vielen negativen Sachverhalte, die in Bezug auf jedes Ding bestehen), die nicht schon einfach fix und fertig in der Wirklichkeit vor uns liegen, sondern die erst, indem wir sie denken und als solche entwerfen, gleichsam als Gegenstand von Urteilen auftauchen und nicht schon in der
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Siehe R. Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. I, Existentialontologie (Tübingen: Niemeyer, 1964), Bd. II, 1, Formalontologie, 1. Teil (Tübingen, 1965). Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140. Siehe Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” pp. 287-322.
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 81
Wirklichkeit so fest vorgegeben sind wie jene, die im Dasein und Wesen eines Dinges gleichsam fest verankert sind. Auch wenn wir die Meinung teilen, daß es verschiedene Stufen der Verwurzelung von Sachverhalten im Sein und Wesen der Dinge gibt und daß negative Sachverhalte wie daß Professor Heidegger nicht auf der Zahl 3 oder 4 ad infinitum in der Luft herumreitet, nicht auf derselben Stufe der Verbundenheit mit Heidegger stehen wie andere nicht-künstlich ausgedachte, ohne die zu erkennen wir weder Heidegger noch sonst einen Gegenstand erkennen können, so werden wir dennoch die Vorgegebenheit aller unendlich vielen Sachverhalte, auf die sich wahre Urteile beziehen können, behaupten und uns von dieser Unzahl negativer Sachverhalte, auch solcher, die Absurditäten ausschließen, ebensowenig schrecken lassen wir von der unendlichen Anzahl der Zahlen der natürlichen und anderer Zahlenreihen wie der Primzahlen oder der Punkte auf einer Linie. Die Konsequenz der These, daß jedes wahre Urteil mit der Wirklichkeit übereinstimmen muß, daß es nämlich in diesem Falle auch eine unendliche Anzahl von res (nämlich Sachverhalten) geben muß, auf Grund deren Brentano die Korrespondenztheorie verwirft, nehmen wir also bewußt an. Damit will ich nicht behaupten, daß die von Ingarden herausgearbeiteten Differenzierungen unnötig seien, auch wenn ich meine, daß diese nicht dazu führen dürfen, jedes vom Urteil unabhängige Bestehen jener Sachverhalte zu bestreiten, die ontologisches Korrelat der Urteilswahrheit sind, auch wenn sie noch so an den Haaren herbeigezogen wirken wie der Sachverhalt, daß der (nach einer langen komischen Diskussion Karl Valentins in einem Beispiel von als „saudumm“ bezeichneten Annahme gedachte) Sachverhalt, „daß jemand sich die Hand vor die Augen halten und dadurch sehen kann, was der andere riecht“, nicht besteht oder gar nicht bestehen kann. 3.3. Das eindeutig gegebene Bestehen von unabhängig vom Urteil bestehenden Gegenständlichkeiten, die nicht Dinge sind, ist Bedingung jeder Adäquationstheorie der Wahrheit und macht Brentanos Position unnötig
Es wird nicht nötig sein, hier eine so fundierte Analyse der von Brentano Irrealia genannten Gegenständlichkeiten zu entwickeln, wie wir
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sie Millán-Puelles’ grundlegendem Werk über den reinen Gegenstand verdanken, um dies einzusehen.80 Mit welchem Recht aber möchte Brentano leugnen, daß etwa vergangene historische Sachverhalte, die nicht mehr real sind, doch nicht einfach nichts sind und in gewissem Sinne als vergangene Seiende bestehen – und dadurch auch gegenwärtig bestehende Sachverhalte über ihr Gewesensein begründen – und also die Urteile des Historikers wahr oder falsch machen? Wie kann man vernünftigerweise jedwede Existenz der Romanfiguren eines Dostojewski-Romans leugnen, die Ingarden als abgeleitete rein intentionale Gegenstände bezeichnete und die die Urteile des Literaturkritikers wahr oder falsch machen können und dabei besondere Eigenschaften besitzen, die auch besondere Folgen für die Wahrheit und Falschheit haben?81 Wie will man das Bestehen von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten leugnen, die Urteilen über die Unmöglichkeit viereckiger Kreise oder die Möglichkeit eines neuen Krieges vorhergehen? Brentano wenigstens hat nicht im geringsten ernsthafte Beweise gegen verschiedene Seinsmodi und gegen solche ‘res’ und Sachverhalte geführt, die sich auf diese beziehen und es uns sehr wohl erlauben, die Wahrheit als adaequatio aufrechtzuerhalten. Allerdings gilt in der Tat, daß nur von der Anerkenntnis solcher auf Dinge unreduzierbarer Sachverhalte her, die Brentano eine Zeit lang sehr mißverständlich „Irrealia“ nannte, die Adäquationstheorie aufrechtzuerhalten ist. Darauf, daß es sich hier um eine andere Seinsform handelt, eben 80
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Wenn wir auch mit dessen Ausdehnung dieses Begriffes auf die ganze Sphäre idealer Wesenheiten und eide, und seiner ontologischen Deutung derselben, der zufolge etwa fiktive und rein intentionale Gegenstände schlechthin nicht sind, nicht übereinstimmen. Vgl. Antonio Millán-Puelles, Teoría del objeto puro, zit.; The Theory of the Pure Object, English translation by Jorge García-Gómez (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996). Vgl. auch Josef Seifert, “Preface” to Antonio Millàn-Puelles, The Theory of the Pure Object, zit., pp. 1-12; ders. “El papel de las irrealidades para los principios de contradicción y de razón sufficiente”, Ibáñez-Martín, J.A. (coord.), Realidad e irrealidad. Estudios en homenaje al Profesor Antonio Millán-Puelles (Madrid: RIALP, 2001), S. 119152. Z.B. haben sie Unbestimmtheitsstellen, auf Grund deren das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten nicht vollkommen auf sie anwendbar ist und sie eine eigene Logik verlangen. Vgl. dazu Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 83
die des Sachverhalts, hat auch Thomas von Aquin in De Ente et Essentia hingewiesen, wenn er sagt, das Sein, das für die Wahrheit ausschlaggebend sei (im Unterschied zum Sein, das in die zehn Kategorien zerfalle), schließe auch das Nichtsein und alle Privationen ein, und „sachverhaltsähnliche“ Begriffe wie dispositio rei eingeführt hat.82 Gerade auch in diesem Punkte der Kritik der Evidenztheorie der Wahrheit zeigt sich die Relevanz der Philosophie der Wahrheit des Aquinaten. Im übrigen hat die Einführung des Sachverhalts als einzigen direkten Objekts des Urteils nichts mit der Behauptung zu tun, Urteile handelten nicht indirekt von Sachen, mit denen sie, oder zumindest die meisten von ihnen, ja in gegenseitig unlösbarer Weise verknüpft sind. 3.4. Kritik von Brentanos viertem, kriteriologischem Argument: Evidenz setzt in Wirklichkeit Korrespondenz voraus. Über die Möglichkeit eines Wahrheits-Kriteriums im Rahmen der Adäquationstheorie der Wahrheit
Zur vierten grundlegenden Argumentation Brentanos gegen die Adäquationslehre aus der angeblichen prinzipiellen Unmöglichkeit, ein entsprechendes Kriterium aufzufinden, mit dessen Hilfe man feststellen könnte, daß unser Urteil der Wirklichkeit entspricht, ließe sich sagen: Erstens verwechselt Brentano hier die Adäquationslehre der Wahrheit als eine Theorie über das Wesen der Wahrheit, die sie doch eindeutig ist, mit einer Theorie eines Wahrheitskriteriums, die sie eindeutig nicht ist. Dieselbe Verwechslung begeht er hinsichtlich seiner eigenen Evidenztheorie der Wahrheit. Wenn er und Kraus nämlich mit Aristoteles‘ Zweiter Analytik, mit Descartes und Spinoza, und wohl der ganzen großen Tradition der Philosophie bis hin zur intellektuellen Anschauung bei Fichte,83 Evidenz als das letzte und unhinterfragbare Kriterium der 82
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Vgl. Irmingard Habbel, Die Sachverhaltsproblematik in der Phänomenologie und bei Thomas von Aquin, sowie Barry Smith, “Acta cum Fundamentis in Re”, Dialectica, 38 (1984), 157-178; ders., “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69. Vgl. den überraschend klassischen und phänomenologischen Text Johann Gottlieb Fichtes, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797): I463 Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Actes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. Sie ist das
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Wahrheit anerkennen, so haben sie zweifellos recht. Denn jeder Versuch, ein äußeres Kriterium für die als richtig charakterisierte Erkenntnis oder einen Beweis für die Gültigkeit evidenter Erkenntnis zu finden, dreht sich in der Tat im Kreise, wenn er nicht letzten Endes auf Evidenz beruht. Denn jedes solches andere Kriterium (wie Kohärenz, kritischer Konsens etc.) müßte schon wieder unmittelbare Evidenz voraussetzen, sowohl hinsichtlich seiner grundsätzlichen kriteriologischen Funktion als auch hinsichtlich seiner ersten Grundlagen. Sicherlich gibt es viele Erkenntnisbereiche, in denen es keine direkte Evidenz unbezweifelbarer Erkenntnis gibt und sich deshalb, wie in der Sinneserfahrung, Evidenzen erst im Zusammenhang mit einem Netzwerk anderer Erfahrungen und Evidenzen bewähren und volle Vertrauenswürdigkeit, wenn auch nie absolute Gewißheit, erreichen können. Und selbst im Falle mathematischer, logischer und absoluter philosophischer Evidenzen gibt es nicht nur reiche Anwendungsfelder deduktiver Schlüsse, sondern ist uns auch niemals alles zugleich gegeben und bleibt deshalb jede Erkenntnis ergänzungsbedürftig, doch hebt dies weder die Absolutheit der Gewißheit zahlloser Evidenzen auf noch können alle solchen Bewährungs- und Bestätigungskriterien ohne das Evidenzkriterium, auf das alle in ihrem ersten Anfang und letzten Begründungszusammenhang zurückgehen müssen, als grundlegendstes Kriterium der Erkenntniswahrheit auskommen.
unmittelbare Bewusstseyn, dass ich handle, und was ich handle: sie ist das, wodurch ich etwas weiss, weil ich es thue. Dass es ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung gebe, lässt sich nicht durch Begriffe demonstriren, noch, was es sey, aus Begriffen entwickeln. Jeder muss es unmittelbar in sich selbst finden, oder er wird es nie kennen lernen. Die Forderung, man solle es ihm durch Raisonnement nachweisen, ist noch um vieles wunderbarer, als die Forderung eines Blindgeborenen seyn würde, dass man ihm, ohne dass er zu sehen brauche, erklären müsse, was die Farben seyen. Wohl aber lässt sich jedem in seiner von ihm selbst zugestandenen Erfahrung nachweisen, dass diese intellectuelle Anschauung in jedem Momente seines Bewusstseyns vorkomme. Ich kann keinen Schritt thun, weder Hand noch Fuss bewegen, ohne die intellectuelle Anschauung meines Selbstbewusstseyns in diesen Handlungen; nur durch diese Anschauung weiss ich, dass ich es thue, nur durch diese unterscheide ich mein Handeln und in demselben mich, von dem vorgefundenen Objecte des Handelns. Jeder, der sich eine Thätigkeit zuschreibt, beruft sich auf diese Anschauung. In ihr ist die Quelle des Lebens, und ohne sie ist der Tod.
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 85
Auch Entsprechung mit der Wirklichkeit läßt sich nicht als ein solches Kriterium einführen, da es schon wieder die Evidenz der Feststellung dieser Entsprechung voraussetzen würde. Doch woher soll ein ähnlicher absurder Regreß aus der Bestimmung des Wesens der Wahrheit als adaequatio herkommen, wie er aus einem evidenter Einsicht äußerlichen Kriterium der Wahrheit aus einer Ähnlichkeit zwischen Urteil und res tatsächlich entspränge? Denn diese Evidenz, die letztes Kriterium der Wahrheit ist, läßt uns gerade einsehen, daß der Inhalt unseres Urteils mit dem selbst bestehenden Sachverhalt zusammentrifft, daß sich die Dinge wirklich so verhalten, wie wir urteilen, daß sie sich verhalten, und daß deshalb unser Urteil wahr ist. Nichts rechtfertigt also eine derartige Parallele, wie Brentano sie zwischen dem Zirkelschluß eines der Evidenz äußeren Kriteriums und der Annahme der Adäquationstheorie der Wahrheit behauptet! Zweitens übersieht Brentano, daß Evidenz als Kriterium Adäquation als Wesen der Wahrheit voraussetzt. Daraus, daß die Entsprechung eines Urteils mit dem Selbstverhalten der Sachen nicht Kriterium von Wahrheit sein kann, folgt weder, daß Adäquation nicht das Wesen der Urteilswahrheit ausmacht noch daß es für das Zusammentreffen der urteilsmäßigen Setzung des Urteils mit dem Selbstverhalten der Sachen kein Kriterium geben könne. Noch weniger folgt aus der Tatsache, daß Evidenz höchstes Kriterium der Wahrheit ist, daß Evidenz bzw. der Bezug auf sie das Wesen der Wahrheit ausmache. Darauf müssen wir im Rahmen des Aufweises des inneren Widerspruchs der Evidenztheorie des Wesens der Wahrheit noch ausführlicher zurückkommen. 3.5. Der Sinn der ‚Adäquatio‘ läßt sich unschwer bestimmen
Wenn Brentano behauptet, es sei überaus schwer, den Sinn der ‘Adäquatio’, Korrespondenz oder Übereinstimmung zu bestimmen, der der Adäquationstheorie der Wahrheit zugrundeliegt, so hat er zweifellos recht, insofern es nicht nur schwer, sondern unmöglich ist, irgendeinen anderen Typus der Korrespondenz außer jenem unreduzierbaren Urphänomen der Urteilswahrheit zugrundezulegen, und von ihm ausgehend die Überein-
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stimmung des Urteils mit der Wirklichkeit oder mit bestehenden Sachverhalten aufzuklären. Offensichtlich sind z.B. Urteil und Sachverhalt nicht ähnlich und entsprechen sich nicht in dieser Form des einander Ähnlichseins: Das Urteil besteht aus Begriffen, der Sachverhalt nicht, das Urteil vollzieht eine Setzung, wird vom Intellekt gefällt und geformt, der Sachverhalt nicht, usf. Ebenso deutlich unterscheidet sich das Verhältnis zwischen Urteil und Sachverhalt von einem Abbildverhältnis, wie es auch zwischen unähnlichen Dingen (etwa einem menschlichen Gesicht und einem Bild) vorkommt. Das Urteil ist kein Bild eines Sachverhalts, wie Wittgenstein annimmt. Hunderte andere Arten von Entsprechungen – wie etwa die von Tönen verschiedener Oktaven, Farben, Proportionen, intentionalem Akt und Gegenstand, Wirklichkeit und Möglichkeit, realem Seiendem und korrespondierendem rein intentionalem Objekt usf. – kommen gleich wenig als Vergleichspunkte für jenes unzurückführbare Phänomen der Entsprechung zwischen wahrem Urteil und bestehendem Sachverhalt in Frage. Also bedarf es eines Eindringens in die unvergleichbare und eigenartige Entsprechung, die in nichts anderem besteht als in dem Zusammentreffen der behauptenden Setzung des Urteils mit dem Selbstverhalten der Sachen.84 Diese Form präziser Entsprechung ist nicht weniger einleuchtend gegeben als irgendeine der anderen genannten Formen der Entsprechung und es bleibt rätselhaft, wie Brentano darin, daß sie nicht in Form einer der anderen Entsprechungen ausgedrückt werden kann, einen Grund dafür erblicken wollte, daß sie überhaupt unbegreiflich oder unerklärbar sei. Will man ein solches Argument anerkennen, könnte man auch sagen, daß man die Entsprechung zweier ähnlicher oder genau gleichartiger Dinge nicht erkennen könne, weil deren Gleichheit und Ähnlichkeit nicht jener präzisen Entsprechung zwischen wahrem Urteil und geurteiltem Sachverhalt gleich sei.
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Vgl. dazu Alexander Pfänder, „Die Lehre vom Urteil“, in: Pfänder, Alexander, (Mariano Crespo, Hg.), Logik. Vgl. auch Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 3.
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 87 3.6. Ist die Annahme unendlich vieler Sachverhalte für den Philosophen alarmierend? Über die Notwendigkeit einer realistischen Grundlegung der Urteilswahrheit in der ‚Wirklichkeit‘ im weitesten Wortsinn
Auch Brentanos Argument aus der Unmöglichkeit unendlich vieler „Sachen“ als Fundament der immensen quantitativen Ausdehnung der Urteilswahrheit läßt sich von einer Philosophie der Sachverhalte her überwinden. Es scheint zwar zunächst, daß Brentanos Einwand gleichermaßen Gewicht besitzt, wenn ich die „Sachen“, die der Wahrheit des Urteils vorgegeben sind, durch Sachverhalte ersetze. Brentano meint, wenn allen wahren Urteile Sachen oder (wie wir hinzufügen können) Sachverhalten entsprächen, so wäre die Welt mit einer unannehmbaren unendlichen Zahl von „Sachen“ oder Sachverhalten aller Art bevölkert. Nicht nur Brentano, sondern auch die meisten anderen, auch realistisch gesinnten, Philosophen wie Barry Smith schrecken vor einer derartigen Überbevölkerung der Welt durch Sachverhalte zurück und sagen, wir könnten nicht annehmen, daß all diese unendlich vielen positiven und negativen Sachverhalte bestünden.85 Im Schreck über solche astronomische Sachverhalts-Überbevölkerung wird der Philosoph ausrufen: „So zahllose Sachverhalte können nicht als res bzw. als vorgeformte, von einander abgegrenzte Sachverhalte schon vor jeder Urteilsbildung tatsächlich bestehen, so daß dann das Urteil mit solchen präexistierenden Sachverhalten übereinstimmte!“ Auch andere klassische realistische Denker der phänomenologischen Bewegung fühlten sich durch die erdrückende Last unendlich vieler Sachverhalte und wahrer negativer Urteile gleichsam philosophisch eingeschüchtert. Wir dürften höchstens annehmen, daß diese Sachverhalte nur potentiell in den realen Sachen und in der Totalität der Weltwirklichkeit „steckten“, aber daß sie im Akt des Denkens erst gleichsam entworfen würden und Bestand hätten. Auf diese Weise würde eine derartige Position „zwischen“ einem Realismus, nach dem Sachverhalte, mit denen wahre Urteile übereinstimmen, vor jedem Urteil bestehen, und einem Subjektivismus, nach dem sie rein vom Subjekt konstituiert werden, stehen.
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WE, S. 96 (An Marty, zit.).
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So besäßen diese Sachverhalte zwar ein Fundament in der Wirklichkeit, aber bestünden nicht von sich aus einfach schlechthin und vor dem Urteil. Ich brachte bereits viele Bedenken gegen die Theorie vor, daß Sachverhalte nicht schon vor dem Urteil bestehen, sondern erst gleichsam durch die Heraushebung des Denkens Bestand erhalten, bzw. als solche fixiert werden.86 Ich gehöre zu jenen Philosophen, die keine außerordentliche Schwierigkeit in dem Problem der Überbevölkerung der Welt durch unendlich viele Sachverhalte sehen und denen man mit dem bloßen Hinweis auf diese Überbevölkerung der Welt keinerlei Schrecken oder das Gefühl der Absurdität der eigenen Position einjagen kann. Denn ich bin der wohlbegründeten Meinung, daß es ohnehin Unendlichkeiten über Unendlichkeiten gibt, etwa im Reich der mathematischen Punkte, der möglichen Welten, der Zahlen oder der logischen Implikationen. So macht es mir nichts aus, wenn es noch viele andere, bislang nicht bedachte Unendlichkeiten gibt. Dennoch gebe ich gerne zu, daß bei der Annahme unendlich vieler Sachverhalte, vor allem negativer Sachverhalte, nicht nur wegen ihrer unendlichen Zahl als solcher, sondern auch wegen ihrer scheinbar willkürlichen Formulierbarkeit und losen Fundierung in der Realität von bestimmten positiv bestehenden Sachen und Sachverhalten, objektive Schwierigkeiten liegen. 86
Dieser Gedanke wurde in einem philosophischen Briefwechsel mit Barry Smith und Kevin Mulligan eingehend von mir erörtert. Vgl. auch Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 2 und 3, sowie P. Simon/B. Smith/K. Mulligan, “Truth-Makers”. Vgl. Barry Smith, “Logic and the Sachverhalt”, S. 53-69. Auch in anderer Hinsicht, etwa der These, Alexander Pfänder habe die Logik nicht als Wissenschaft von Begriffen, Urteilen, und Schlüssen, sondern – wie Reinach – von Sachverhalten, aufgefaßt, kann ich weder historisch noch systematisch zustimmen. Pfänder jedenfalls erkennt die gegenüber Sachverhalten eigenständige, wenngleich in ihnen fundierte, Sphäre der Begriffe, Urteile und Schlüsse an, die erst spezifisch logische Prädikate wie Mehrdeutigkeit (quaternio terminorum), Wahrheit, Falschheit, oder Schlüssigkeit, besitzen. Das hindert nicht, daß es auch eine Logik von Sachverhaltsbeziehungen gibt, die den logischen Beziehungen von Wahrheit und Falschheit sowie den logischen Gesetzen zugrundeliegen. Die These einer solchen Begründung der logischen in ontologischen Gesetzen vertritt Alexander Pfänder überzeugend. Vgl. Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hrsg.), Logik.
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Auf alle Fälle ließe sich jedoch auch – in Einklang mit dem früheren Brentano – eine Form der realistischen Adäquationstheorie der Wahrheit entwickeln, die eine Übereinstimmung des Urteils in seiner Setzung mit so etwas wie Sachverhalten annimmt, auch wenn diese Theorie nicht behauptet, daß alle Sachverhalte schlechthin und einfach in der Wirklichkeit bestehen, sondern gleichsam erst in ihrer Heraushebung aus den unendlichen Sachverhaltspotentialitäten „entstehen“ – aber nicht so, als würden sie ohne Wirklichkeitsfundament von uns geschaffen, sondern in einer mit der Tatsache vereinbaren Weise, daß sie eine objektive Grundlage in der Wirklichkeit besitzen. Auch wenn man die schwierige formalontologische Frage offenläßt, ob die ungezählten künstlich angenommenen negativen Sachverhalte, als solche, schon vor jedem Denkakt abgegrenzt bestehen, oder ob sie vielmehr erst aus den unendlich vielen möglichen und als solche willkürlich abgrenzbaren Sachverhalten gleichsam jeweils herausgehoben werden, kann man die Adäquationstheorie der Wahrheit verteidigen. Denn solange Dinge aller Art, ihre Eigenschaften und die direkt in ihnen wurzelnden Sachverhalte bestehen, und bestimmen, welche im Denken hervorgehobenen Sachverhalte der Wirklichkeit entsprechen, läßt sich die Übereinstimmung des Urteils mit dem Ding begründen, wie Ingarden dies vorhat, auch wenn eine solche Position letztlich ein in abgestufter Weise dem Urteil vorausgehendes Bestehen aller Sachverhalte zugeben muß. Ich selber halte ein vom Geist durchaus unabhängiges Bestehen aller Sachverhalte für gegeben, obwohl ich verschiedene Stufen der natürlichen und objektiven Verwurzelung dieser Sachverhalte in der Wirklichkeit sowie in den verschiedenen Seinsmodi anerkenne. Auch auf dem Boden Ingardens und verwandter Positionen über negative Sachverhalte aber können die Einwände, die Brentano bewogen haben, die Adäquationstheorie der Wahrheit zu verwerfen, überwunden werden und können wir die Einführung der Evidenztheorie der Wahrheit als unbegründet erkennen. 4. Innere Widersprüche und Irrtümer in der Evidenztheorie der Wahrheit Wenn wir uns nun von einer Kritik der Brentano’schen Einwände gegen die Adäquationstheorie der Wahrheit einer Kritik der Evidenztheorie der
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Wahrheit selber zuwenden, müssen wir uns zunächst fragen, ob die Evidenztheorie, die das Wesen der Wahrheit durch deren Bezug auf einen mit Evidenz Urteilenden bestimmen will, überhaupt eine sinnvolle Theorie des Wesens der Wahrheit ist und prinzipiell einen Ersatz für die Adäquationstheorie der Wahrheit bieten kann, anstatt sie notwendig vorauszusetzen. 4.1. Evidenz setzt Wahrheit als Adäquation voraus
An dieser Stelle möchte ich drei unüberwindliche Schwierigkeiten bzw. Irrtümer in Brentanos Versuch des Ersatzes der ihm nichtssagend und widerspruchsvoll erscheinenden Urgegebenheit der adaequatio anführen. Die erste dieser drei Schwierigkeiten betrifft die Vorausgesetztheit von Wahrheit als adaequatio für Evidenz überhaupt. Ohne das Wesen der Wahrheit als Übereinstimmung zu erkennen, verliert der Begriff der Evidenz seinen Sinn. Worin soll die Evidenz der Wahrheit denn bestehen, wenn nicht in einem erkennenden transzendierenden Erreichen des behaupteten Sachverhalts selber, der in seinem von unserem Erkennen und Urteilen verschiedenen Eigensein von uns erkannt werden muß, um die Wahrheit unseres Urteils zu erweisen und dieses mit Evidenz zu fällen? In den Logischen Untersuchungen drückt Husserl dies folgendermaßen aus: Das vollkommenste Kennzeichen der Richtigkeit ist die Evidenz, es gilt uns als unmittelbares Innewerden der Wahrheit selbst,...87
Wie sollte jedoch Evidenz diese Feststellung der Wahrheit leisten, wenn sie nicht den Sachverhalt erkennen könnte, auf den das Urteil abzielt, sondern nur ein subjektiver Charakter, ein inneres psychisches Erlebnis
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Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Text der ersten und zweiten Auflage, Bd I: Prolegomena zu einer reinen Logik, hrsg.v. E. Holenstein, Husserliana, Bd. xviii (Den Haag: M. Nijhoff, 1975); Bd. II, 1: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 1. Teil, Bd. II,2: Untersuchungen zur Phänomenologie und Erkenntnis, 2. Teil, hrsg.v. U. Panzer, Husserliana, Bd. xix, 1 und Bd. xix, 2 (Den Haag: Nijhoff, 1984), Bd. I, § 6, Zeile 7-9, S. 29.
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wäre, anstatt ein Erlebnis der Wahrheit bzw. des sie erfassenden transzendierenden Begreifens zu sein? Vom „Besitzen der Wahrheit in der Erkenntnis“ ist anderswo bei Husserl in seiner Kennzeichnung des Wesens der Evidenz die Rede: Im Wissen aber besitzen wir die Wahrheit. Im aktuellen Wissen, worauf wir uns letztlich zurückgeführt sehen, besitzen wir sie als Objekt eines richtigen Urteils. Aber dies allein reicht nicht aus....88
Und Husserl fügt hinzu, indem er den notwendigen Bezug des Evidenzerlebnisses und der Evidenz selbst mit der Wahrheit als adaequatio mit den objektiv bestehenden Sachverhalten zum Ausdruck bringt: Dazu gehört vielmehr – soll von einem Wissen im engsten und strengsten Sinne die Rede sein – die Evidenz, die lichtvolle Gewißheit, d a ß i s t, was wir anerkannt, oder n i c h t i s t, was wir verworfen haben;89
In der Tat, nur weil evidente Erkenntnis über den eigenen Akt hinausgeht, aber in und durch ihn etwas erfaßt, was den Bezugspunkt unseres Urteils und sein Richtmaß ausmacht, wie Thomas trefflich formuliert, ist evidente Erkenntnis evident! Ohne daß Adäquation das Wesen der Wahrheit ausmacht, gibt es auch keine Evidenz als Wahrheitskriterium, können wir kurz und bündig formulieren. 4.2. Wenn der evidente Charakter des Urteils dessen Wahrheit ausmacht, gelangen wir zu einem circulus vitiosus der Wahrheitsdefinition
Wenn wir von einem Menschen, der mit Evidenz urteilt, annehmen, daß sein Urteil wahr ist, wie soll ein solcher Mensch Evidenz über die Wahrheit seines Urteils gewinnen, wenn er nicht auch das Wesen dieser Wahrheit, über deren Präsenz er in seinem Urteil Evidenz gewinnt, voraussetzt? Wenn er nicht wüßte, worin die Wahrheit eines Urteils, dessen Wahrheit er mit Evidenz erkennt, besteht, könnte er unmöglich die Wahrheit seines Urteils mit Evidenz erkennen.
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Vgl. Edmund Husserl, ebd., S. 28, Zeile 16-18. Ebd., S. 28, Zeile 21-25.
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Dabei würde es offenbar nichtssagend sein, wenn jemand sagen wollte, die Evidenz der Erkenntnis der Wahrheit bestehe in der Evidenz darüber, daß Evidenz vorliegt. Worin aber besteht diese? Es würde zu einem offenkundigen circulus vitiosus führen, wenn jemand sagen wollte, die Evidenz des eigenen Urteils bestehe in der Evidenz darüber, daß das eigene Urteil mit dem eines mit Evidenz Urteilenden übereinstimme. Dies ergibt sich mit besonderer Deutlichkeit, wenn wir weiterfragten: und worin besteht die Evidenz dieses „mit Evidenz Urteilenden“?, und zur Antwort bekämen: „Daß sein Urteil mit dem eines anderen mit Evidenz Urteilenden übereinstimmt“, usf. Das wäre gleichsam eine Aufhebung des Evidenzbegriffs selbst, wenn man die Wahrheit, um die man mit Evidenz weiß, selbst ausschließlich durch ihren Bezug zur Evidenz bestimmen wollte. Um daher die Wirklichkeit bzw. das Bestehen eines Sachverhalts und die Tatsache, daß ein von uns gefälltes Urteil wahr ist, mit Evidenz zu erkennen, ist vorausgesetzt, daß wir verstehen, daß weder die Wahrheit des Urteils selbst noch das Bestehen der Evidenz im Urteilenden nur im Hinblick auf Evidenz selber definiert oder verstanden werden kann oder allein durch Bezug auf das Urteil eines mit Evidenz Urteilenden in ihrem Wesen bestimmt werden kann. Die Evidenz, mit der wir feststellen, daß ein Urteil wahr ist, oder die Übereinstimmung mit einem evident Urteilenden kann unmöglich das Wesen der erkannten Wahrheit ausmachen. Gerade aus einer Deutung der Evidenztheorie als einer Theorie über das Wesen der Wahrheit (statt diese aus der Übereinstimmung des wahren Urteils mit dem behaupteten Sachverhalts zu erklären) folgt deshalb der von Brentano befürchtete circulus vitiosus. Zwar ist es nicht nur wahr, daß Evidenz das letzte Kriterium der Wahrheit ist, sondern es ist auch ganz wahr, daß in der Tat jedes wahre Urteil mit dem Urteil eines allwissenden oder Evidenz besitzenden Wesen übereinstimmt. Aber dies ist eine notwendige Folge des Wesens der Wahrheit einerseits und der von Brentano zurecht hervorgehobenen Objektivität der Evidenz andererseits, und nicht eine Folge der von ihm nur behaupteten Tatsache, daß die Wahrheit des Urteils darin bestehe, mit Evidenz oder einem mit Evidenz gefällten Urteil übereinzustimmen. Um überhaupt aussagen zu können, was Wahrheit ist, und um überhaupt evident feststellen zu können, daß ein Urteil wahr ist, hat die Evidenz-
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theorie daher schon wieder ein von Evidenz verschiedenes Wahrsein des Urteils als Bedingung ihrer selbst vorausgesetzt. 4.3. Die Evidenztheorie der Wahrheit als Tor zum radikalen Subjektivismus in der Erkenntnistheorie
Wenn nämlich, und dies führt mich zum dritten Punkt der Widerlegung Brentanos, die Evidenztheorie nicht schon wieder die Adäquation als das Wesen der Wahrheit voraussetzt, und wenn sie behaupten will, „Evident Wahrsein heißt nichts anderes als evident sein oder mit dem Urteil des mit Evidenz Urteilenden zusammenzufallen“, dann dreht sich die Evidenztheorie nicht nur im Kreis, sondern dann gleitet sie – ganz den Intentionen Brentanos entgegen – als Wesenstheorie der Wahrheit in einen reinen Subjektivismus ab, indem nämlich die Evidenz dann nur mehr eine subjektive Erfahrung sein kann, in welcher eine subjektive Sicherheit irgendwelcher Art postuliert wird oder eine subjektive Denknotwendigkeit besteht. Ohne Voraussetzung der Adäquationstheorie kann Evidenz nicht die tatsächliche objektive Evidenz sein, daß mein Urteil wahr ist, d.h. daß die Sachen sich so verhalten, wie ich dies im Urteil behaupte. Denn das ist gerade Evidenz: mit unbezweifelbarer Gewißheit und tatsächlich erkennen, wie sich die Sachen verhalten. Mit Evidenz urteilen heißt daher „erkennen, daß auf Grund dieses evidenten Selbstverhaltens der Sachen auch das mit den objektiv bestehenden Sachverhalten übereinstimmende Urteil evident wahr ist.“ 4.4. Zusammenfassende Kritik zur Evidenztheorie als Wesenstheorie der Wahrheit
Also liegt einerseits in der Evidenztheorie der Wahrheit als ihre logische Voraussetzung das Wesen der Wahrheit als Adäquatio. Andererseits steckt in der Evidenztheorie der Wahrheit eine Gefahr des radikalen Subjektivismus, sobald man das Wesen der Wahrheit als adaequatio aufgibt. Denn in demselben Moment muß Evidenz mit eherner materiallogischer Konsequenz zu einem rein subjektiven Gefühl der Sicherheit oder zu irgendetwas
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anderem, das an die Stelle der objektiven Evidenz über Wahrheit tritt, degenerieren. Denn, ausgehend von Husserl‘s Einsicht, der in den Logischen Untersuchungen den schönen Satz geprägt hat, „Evidenz ist das unmittelbare Innewerden der Wahrheit des Urteils“, fügen wir hinzu: „Evidenz ist sowohl Erfahrung der Wahrheit als auch die Erfahrung des Sachverhalts“, dem das wahre Urteil entspricht und den es behauptet. Wie soll ich etwa die evidente Wahrheit des Widerspruchssatzes erkennen, wenn ich das Seins- und Wesensgesetz, das dieser Satz behauptet, nicht erkenne? Wenn daher die Wahrheit als Adäquation, die der Gegenstand dieser Evidenzerfahrung ist, fallengelassen und nur noch diese Evidenzerfahrung allein als Bezugspunkt für die Definition der Wahrheit festgehalten wird, dann behält die Evidenz nicht mehr ihren Bezug zur Wahrheit und sinkt daher zu einem subjektiven Kriterium ab. Evident sein, daß ein Urteil wahr ist, heißt dann nur noch, daß jemand ein Urteil als evident erlebt. Evidenz wird also eine Art reines Erlebniskriterium, was an Brentanos, ihrerseits an Windelband gemahnende, kantianisierende Äußerung gemahnt, Evidenz und Wahrheit sei nur der Charakter eines Urteils als „Gemäßheit den Regeln der Vernunft“ oder als „ein Urteil mit dem subjektiven Charakter der Evidenz“ und nicht die Frucht eines den eigenen Akt transzendierenden Erfassens des Sachverhalts und der Wahrheit selbst. Es ist damit ähnlich bewandt wie mit Brentanos Definition des Guten in seinem Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, wo er einerseits einen Objektivismus der Ethik und eine scharfe Kritik des ethischen Relativismus einführen will und von dem Guten als von der „als richtig charakterisierten Liebe“ redet, aber andererseits die sinngemäße Fundierung einer solchen „richtigen“ Liebe in einem Wert (Guten) auf der Objektseite, dem eine solche Liebe angemessen wäre, bestreitet, wie Juan-Miguel Palacios besonders scharf herausgearbeitet hat.90 Obwohl eine als richtig gekenn90
Vgl. Franz Brentano, El origen del conocimiento moral, traducción de Manuel García Morente (Madrid, Tecnos, 2002), and Juan-Miguel Palacios, “Estudio preliminar de: Franz Brentano, El origen del conocimiento moral,” Traducción de Manuel García Morente. Madrid, Tecnos, 2002, págs. XI-XXX. Vgl. auch die Originalschrift, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, zit., sowie die englische Version: Franz Brentano. The Origin of the Knowledge of Right and Wrong, English translation by Cecil Hague, formerly Lector at Prague University, with a
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 95
zeichnete Liebe, der kein objektives Gut, dem sie angemessen ist, entspräche, undenkbar ist, führt Brentano diese Idee ein, ohne zu bemerken, daß hier ein Ding der Unmöglichkeit vorliegt. Ähnlich ist ein als richtig oder evident gekennzeichnetes Urteil, das nicht einem objektiv bestehenden Sachverhalt entspräche, ein Ding der Unmöglichkeit. (Eigentlich kennzeichnet Evidenz weder das wahre Urteil selbst noch den Irrtumsakt, sondern den Erkenntnisakt bzw. den Akt des Erkennens eines Sachverhalts.) Wenn wir die Evidenztheorie der Wahrheit von einem anderen, nicht streng Brentano‘schen Gesichtspunkte aus betrachten, so ist selbst bei Brentano oft nicht klar, ob seine Evidenztheorie schlechthin einen Verzicht auf die Adäquationstheorie der Wahrheit als solche beinhaltet. Dies legt zwar Brentano selber sehr stark nahe, aber wir könnten seine Theorie, die nie ganz klar formuliert wird, auch einfach als seinen Versuch deuten, die Wahrheit nicht durch ihr eigenes Wesen, weil ihm dies zu schwierig oder gar unmöglich zu sein scheint, sondern die Wahrheit durch ihren Bezug auf etwas anderes zu bestimmen, nämlich auf Evidenz. In diesem Fall wäre die Evidenztheorie der Wahrheit überhaupt keine Beschreibung des Wesens der Wahrheit, sondern im Popper‘schen Sinn ein Verzicht auf eine „Was ist?“ Frage bzw. auf deren Beantwortung. Die Evidenztheorie würde dann nur die anderen Aspekte einer Wahrheitstheorie außer ihrer Wesensbestimmung betreffen. Doch liegt es sehr nahe, daß Brentano selbst sie als einen Ersatz der Adäquationstheorie der Wahrheit verstanden hat, gegen die sich die erwähnte zwingende Widerlegung vorbringen läßt.
Biographical Note (Westminster: Archibald Constable & Co., Ltd., 1902), pp. xiv, 125, und G. E. Moore, Review of Franz Brentano’s The Origin of Our Knowledge of Right and Wrong, International Journal of Ethics, October 1903.
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5. Die Einsichten in Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit, vor allem seine unverzichtbare Errungenschaft, die Übereinstimmung mit dem Urteil eines „mit Evidenz Erkennenden“ als notwendig Bedingung bzw. Folge der Wahrheit eines Urteils erkannt zu haben Wenn wir hingegen einen (neben dem einer Theorie über das Wesen der Wahrheit) zweiten, zuvor erwähnten, Aspekt einer Wahrheitstheorie betrachten, nämlich die Frage nach den Wahrheitsbedingungen (oder auch Folgen der Wahrheit, die logisch gesehen auch Wahrheitsbedingungen sind), dann könnte man durchaus anerkennen, daß was Brentano sagt, zumindest in gewisser Hinsicht und in bestimmtem Sinne eine Bedingung der Wahrheit ist: Es kann nämlich kein Urteil wahr sein, welches nicht das Merkmal Brentanos erfüllte, daß jemand, der volle Evidenz der Erkenntnis besäße, dieses und jedes andere wahre Urteil auch als wahr anerkennen würde. Man könnte in der Tat sagen, wenn man das Ideal eines allwissenden Wesens, das jede Wirklichkeit, ja alles, was in irgendeinem Sinne ist oder nicht ist, mit völliger Evidenz erkennt, als das von Brentano gemeinte Subjekt nimmt, das vollkommen evidente Erkenntnis besitzt: Übereinstimmung mit dem Urteil eines solchen Subjekts ist Bedingung, und notwendige Folge, der Wahrheit. Es gibt kein einziges wahres Urteil, von dem nicht gälte, daß ein erkennendes Wesen, das mit vollständiger Evidenz alles, was in irgendeinem Sinn ist und was nicht ist und das auch alle negativen Sachverhalte erkennt, jedes wahre Urteil überhaupt als wahr anerkennen würde. Und es gibt kein falsches Urteil, von dem nicht gälte, daß ein mit vollständiger Evidenz Erkennender das falsche Urteil verwerfen würde. Mit anderen Worten: „Wahr urteilen impliziert: mit einem allwissenden Wesen (Gott) übereinstimmen“. In diesem Sinne könnte man Brentano sehr wohl darin rechtgeben, daß die Evidenztheorie der Wahrheit eine notwendige Bedingung von Wahrheit, oder sagen wir präziser, einen Umstand formuliert, der notwendig mit der Wahrheit, und einen anderen, der notwendig mit der Falschheit eines Urteils verknüpft ist und sich einerseits aus dem Wesen der Wahrheit und Falschheit, andererseits aus dem der evidenten Erkenntnis ergibt.
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6. Verteidigung der Einsicht Brentanos in Evidenz als nicht-zirkuläres „Kriterium aller Kriterien“ von Wahrheit gegen Einwände Wenn wir schließlich einen dritten erwähnten allgemeinen Aspekt einer Wahrheitstheorie nehmen, nämlich den der Bestimmung der Evidenz als des letzten und unhintergehbaren Kriteriums der Wahrheit, dann könnte man zwar Einwände gegen Brentanos Urteilstheorie erheben, auf die Kraus eingeht, und behaupten, daß Evidenz selbst kein Kriterium ist, sondern eines Kriteriums bedarf. Man könnte sagen, jeder kann ja daherkommen und sagen, es sei evident, daß etwas so und so sei. Evidenz könne daher kein objektives Kriterium der Wahrheit sein. Man müsse dagegen Naturgemäßheit, einen unwiderstehlichen Urteilszwang, oder gar Erfolg oder Konsens, oder auch diskursive Bewährung etc. als solches Kriterium einführen. Gegen solche Einwände würde ich Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit energisch in Schutz nehmen und sagen, daß in der Tat das höchste, ursprünglichste und alle anderen Kriterien begründende Kriterium der Wahrheit in der Evidenz selbst liegt, wie Spinoza im von Brentano geliebten Satz formuliert hat: verum est index sui ipsius et falsi (das Wahre ist Kriterium seiner selbst und des Falschen). Wie Hildebrand bemerkte, hat Spinoza niemals ein wahreres und von Verwechslungen freieres Urteil gefällt als dieses. Auch mit Descartes stimmt Brentano in diesem Punkte ganz überein, wenn Descartes als Regel formuliert: ‚alles, was ich gleichermaßen klar und deutlich einsehe (wie daß ich existiere) ist wahr‘. Wie Brentano, behauptet auch Descartes, daß kein anderes Kriterium letzten Endes die Wahrheit verbürge als Evidenz, und dies heiße, daß ich klar und deutlich einsehe, daß sich die Sachen selber so verhalten wie ich erkenne, daß sie sich verhalten.91 Jedes andere Kriterium der Wahrheit (von denen es viele gibt) führt nämlich zurück auf Evidenz. Das hat übrigens auch ein Skeptiker unter den 91
Vgl. Descartes, Discours de la Méthode, in : Oeuvres de Descartes, hrsg. v. Charles Adam & Paul Tannery, VI, 1-78, Méditations Métaphysiques. Objections et réponses suivies de quatre lettres, ed. J.-M. Beyssade et M. Beyssade (Paris: Garnier-Flammarion, 1979), II; IV; V. Vgl. auch ders., Regulae ad Directionem Ingenii.
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modernen Wissenschaftstheoretikern, Wolfgang Stegmüller, in seinem Buch Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft zum Ausdruck gebracht, indem er dort sagt, daß jedes andere Wahrheitskriterium Einsicht und Evidenz als letzten Bezugspunkt voraussetzt und daher seine Bestreitung zu einem Widerspruch, hingegen jeder Versuch einer Begründung der Erkenntnis hinter der Evidenz der Einsicht zu einem erkenntnistheoretischen Zirkel führe.92 Dann kritisiert er allerdings – und gerade hinsichtlich dieses Punktes ist Brentanos Theorie weit überlegen – Evidenz und evidente Einsicht als letztes Wahrheitskriterium, indem er jede – auch die innere – Begründung von Einsicht durch Evidenz für zirkulär erklärt, wie er andererseits jede Widerlegung oder Verwerfung der Einsicht (und dies mit recht) als widersprüchlich erkennt. So führt Stegmüllers Buch zur radikalen Skepsis, was er auch selbst erkannt hat. Dieser radikale Skeptizismus oder Relativismus in der Idee der Einsicht oder Evidenz kann nur überwunden werden, wenn wir den das eigene Subjekt und den eigenen Akt transzendierenden, seinsentdeckenden Charakter des Erkennens erfassen. Ebenso wie Brentano und Stegmüller hat Aristoteles in seiner Zweiten Analytik die Unmöglichkeit dargelegt, Beweise, Demonstrationen oder sonstige Kriterien für Wahrheit anzunehmen, ohne daß diese auf letztlich unmittelbar und von sich her einleuchtende oder evidente Prinzipien und Sachverhalte zurückgeführt würden.93 Und so spricht er in der Zweiten Analytik von der Noesis als dem höchsten Kriterium, durch das wir Wahrheit feststellen. Stegmüllers Meinung, daß die innere Begründetheit der evidenten Einsicht nicht genüge und noch einer äußeren (aber unmöglichen) Begründung durch weitere Einsicht bedürfe, verkennt gerade die von Brentano, Spinoza, Aristoteles und Scheler betonte Letzt- und Selbstbegründung evidenter Erkenntnis. Man muß deshalb Brentano energisch darin recht geben, daß er jeden der Evidenz äußerlichen Maßstab der Erkenntnis der Wahrheit als einer Theorie über ein angebliches (nicht 92 93
Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft (München: Piper, 1970). Vgl. Aristoteles, Zweite Analytik, übers. V. Paul Gohlke (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1953); Posterior Analytics, translated by H. Tredennick and E. S. Forster, Oxford Classical Library (London: William Heinemann Ltd./Cambridge, Mass.: Harvard University Press, vol. I 21996; vol. II 31976), Buch I, 2 ff.; Buch II, 3; 7-9; und das letzte Kapitel II, 19.
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selber evidentes) letztes Kriterium für die Verläßlichkeit der Evidenz der Wahrheit ablehnt. Wie Aristoteles und andere Autoren sagen, die letzte Begründung aller anderen Kriterien und Beweise für Wahrheit muß auf unmittelbare Evidenz zurückgehen. Also ist Evidenz bzw. evident wahre Erkenntnis die ursprünglichste und letzte Instanz, von der her allein ein Kriterium dafür, daß etwas wahr ist, gefunden werden kann. Das schließt nicht aus, daß es im Sinne einer Prüfung echter Evidenz unserer Erkenntnis Kriterien für wirkliche Evidenz geben kann, die sich radikal von einer in der Philosophie überaus verbreiteten Scheinselbstverständlichkeit und Pseudoevidenz unterscheidet.94 Jede Kritik der falschen Evidenz jedoch muß, wie Brentano hervorhebt, immer selber auf in ihrer Verläßlichkeit aufzuklärende evidente Erkenntnisse zurückgehen. Denn auch wenn man die Evidenz der Erkenntnis als einzig letztes Kriterium der Wahrheit voll und ganz zugibt, muß und darf man allerdings dennoch durchaus zugestehen, daß ein bloßes Beharren auf Evidenz und Einsicht im Dialog nicht genügt noch der Schritt ist, den man vorzeitig setzen darf, sondern daß es viele Formen der Argumentation und der Unterscheidungen gibt, durch die anstatt einem trockenen Versichern, das nach Hegel so gut wie ein anderes ist,95 Antworten auf sich ergebende Fragen und Schwierigkeiten möglich sind und Voraussetzungen der eigenen und der gegnerischen Position aufgedeckt werden können. Viele Arten dialektischer Argumente inklusive von Argumenten ad hominem in dem Sinne von Nachweisen von Eingeständnissen des Gegners, daß er das von ihm geleugnete Wahre wieder voraussetzt, müssen entwickelt werden, durch die die eigenen Evidenzen vom Dialogpartner selbst bekräftigt und erhärtet und die Erhellung bzw. eine gewisse Bestätigung der Wahrheit 94
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Vgl. Alice von Hildebrand-Jourdain, “On the Pseudo-Obvious,” in: Balduin Schwarz (Hrsg.), Wahrheit, Wert und Sein. Festgabe für Dietrich von Hildebrand zum 80. Geburtstag, S. 25-32. [Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 87. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15755 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 71)]: Durch jene Versicherung erklärte sie ihr Sein für ihre Kraft; aber das unwahre Wissen beruft sich ebenso darauf, daß es ist, und versichert, daß ihm die Wissenschaft nichts ist; ein trockenes Versichern gilt aber gerade soviel als ein anderes.
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durch einen durch kritischen Dialog erreichten Konsens des Gegners gesucht werden. Deshalb ist die reine Berufung auf Evidenz als solche ohne irgend etwas dazuzufügen und ohne diese Evidenz auch nach Möglichkeit dialogisch mitzuteilen, ein Mißbrauch der Berufung auf Evidenz in der Philosophie und führt auch oft dazu, daß Dinge, die gar nicht wirklich evident sind, einfach in den Raum gestellt werden, wie wenn sie apodiktische letzte Wahrheiten wären. Brentano selbst hat eine unsympathische Neigung in dieser Richtung, gar nicht zu reden von seinem Schüler Kraus. Es wird allerdings öfter noch die penetrante Berufung auf Evidenz von jenen Philosophen geübt, die theoretisch Gegner der Evidenz sind, aber de facto nicht nur unzählige Evidenzen voraussetzen, sondern ihre Prätentionen evidenter Erkenntnis auch ungeprüft stehen lassen. Man muß also einen Evidenzanspruch, der nicht objektiv begründet ist, sondern einfach erhoben wird, und eine objektive Evidenz unterscheiden, die das letzte Wahrheitskriterium bildet. Und selbst diese objektive Evidenz, nicht nur der falsche Evidenzanspruch, darf nicht so gehandhabt werden, daß man sagt: „Dies und jenes ist ganz evident, und Du bist ein Idiot und Dummkopf, wenn Du es nicht einsiehst“. Man sollte vielmehr versuchen, Sachverhalte, die mit dem evidenten Sachverhalt zusammenhängen, Voraussetzungen, die vielleicht der andere selber macht, Punkte, an denen er selber das Geleugnete zugibt und einsieht, geduldig auszuspüren und alle möglichen anderen Wege zu beschreiten, durch die man eine Evidenz erhellen und anderen zugänglich machen kann. Darin, so würde ich sagen, bedarf auch die erkenntnistheoretische Seite der Theorie der Evidenz, auch wenn man diese verteidigt, einer Ergänzung durch eine philosophische Dialektik. Die platonischen Dialoge sind ein klassisches Beispiel hiefür. Wenn man schließlich eine Wahrheitstheorie als Theorie über die Erkenntnis der Wahrheit nimmt und fragt: Ist Evidenz eine gute Theorie über die Erkenntnis der Wahrheit?, dann muß man sagen, daß Evidenz nicht selber Erkenntnis ist, sondern vielmehr ein Merkmal reiner Erkenntnis der selbst gegebenen Dinge und Sachverhalte. Also beschreibt die Evidenztheorie nicht eigentlich die Form der Erkenntnis, in der wir uns der Wahrheit eines Urteils oder des Bestehens eines Sachverhalts, der geurteilt wird, versichern können. Vielmehr sind z.B. die Sinneswahrneh-
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mung oder die geistige Einsicht oder die innere Erfahrung des Bewußtseins Erkenntnisarten, die alle eine je eigene Evidenz besitzen, die sich auf je eigene Gegenstandsbereiche bezieht. Diese verschiedenen Erkenntnisformen sind mit jeweils anderen besonderen Formen der Evidenz verknüpft. In dieser Hinsicht ist die Evidenztheorie der Wahrheit nicht eine Theorie über eine bestimmte Erkenntnisform, mit der wir Wahrheit erkennen, sondern sie beschreibt ein Merkmal verschiedener Arten von Erkenntnis, die dieses Merkmal der Evidenz in jeweils eigentümlicher Weise an sich haben. 7. Evidenz als einziges Kriterium, um echte Evidenz von leichtfertiger Berufung auf Evidenz zu unterscheiden Ich möchte hier noch einmal unterstreichen, daß es entscheidend ist, um die Evidenztheorie als Bedingung, Kriterium und Element der Erkenntnis von Wahrheit korrekt zu entwickeln, daß man ganz klar unterscheidet zwischen falschen und unbegründeten Evidenzansprüchen und wirklicher Evidenz, und daß man vor allem echte Evidenz radikal von einem bloßen subjektiven Gefühl der Sicherheit unterscheidet, und sie vielmehr nur als ein Merkmal jener Erkenntnis ansieht, in der die Sache selbst der eindeutig selbst gegebene, intelligible, einleuchtende oder auch notwendige Gegenstand ist, der uns durch seine ontologische Wahrheit bzw. Intelligibilität sowie durch den Modus unseres transzendierenden und ihn erreichenden Erkennens Evidenz spendet. Allerdings ist auch etwa die Tatsache, daß ich eine Sinneswahrnehmung habe, daß ich diese Maiglöckchen hier auf dem Tisch sehe, ebenso evident wie die Erkenntnis notwendiger Wahrheiten, wenn auch in anderer Form. Wir müssen also eine Evidenz der Wahrnehmung der kontingenten Existenz, wie sie in höchster Form im einmaligen Existenzkontakt des Cogito vorliegt, von der sehr verschiedenen Evidenz in sich notwendiger und intelligibler Wesenheiten und Sachverhalte unterscheiden. In allen Fällen von Evidenz gilt es jedoch deutlich zu machen, daß es sich bei Evidenz nicht um ein bloßes subjektives Gewißheitsgefühl handelt, sondern vielmehr um ein objektives Element von Erkenntnis, das aus einer Gewißheit und Unbezweifelbarkeit des unmittelbaren oder
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zwingend logisch vermittelten Kontaktes des Erkennenden mit seinem Gegenstand selbst herrührt. Evidenz als Frucht eines Beweises ist eine vermittelte oder mittelbare Evidenz, wobei die letztere immer eine unmittelbare Evidenz voraussetzt und letztlich auf sie zurückgeht. Nicht jedes Objekt erlaubt jedoch dem menschlichen Intellekt, es mit unmittelbarer Evidenz zu erkennen. Evidenz unmittelbarer Erkenntnis ist also einerseits vom Objekt her, andererseits vom jeweiligen Zugang des Subjekts zum Sein geprägt. Sie liegt nicht einfach im Subjekt, sondern entsteht in der Begegnung des Subjekts mit dem Objekt, und vornehmlich in dem Einsehen der Sache, in dem intima rei intus legere, wie Thomas von Aquin sich ausdrückt, in dem inneren Lesen des Geistes in dem, was die Sache selbst ist. Darüber könnte man in einer Erkenntnistheorie und nicht Wahrheitstheorie noch viel sagen, was in diesem Rahmen nicht weiter ausgeführt werden soll.96 8. Während Evidenz ein Kriterium der Wahrheit und ihrer Erkenntnis ist, ist „Übereinstimmung mit dem Urteil eines mit Evidenz Erkennenden“ keinerlei philosophisches Kriterium für Wahrheit und Erkenntnis Wir müssen unsere volle Zustimmung mit Brentanos Lehre von der Evidenz als Wahrheitskriterium allerdings durch die scharfe Kritik ergänzen, als könne Übereinstimmung unseres Urteils mit jenem eines mit Evidenz Erkennenden ein philosophisches Wahrheitskriterium sein, sosehr eine solche Übereinstimmung in anderen juridischen, persönlichen oder religiösen Bereichen ein Wahrheitskriterium sein kann. Für die Philosophie aber kann niemals die bloße äußere Übereinstimmung mit einem, von dem wir glauben oder „wissen“, daß er mit Evidenz erkennt, Kriterium der Wahrheit sein. Nur die Evidenz der eigenen Erkenntnis kann die Wahrheit philosophischer Erkenntnis als Kriterium verbürgen, die Übereinstimmung unseres Urteils mit dem eines anderen, mit Evidenz urteilenden Subjekts, hingegen bedarf eines Kriteriums. Wir müssen hier auch auf die tiefe Doppeldeutigkeit der Evidenztheorie der Wahrheit hinweisen, die sich daraus ergibt, daß man einerseits das 96
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 2.
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wahre Urteil mit dem mit Evidenz gefällten Urteil gleichsetzt, andererseits aber nur die objektive Übereinstimmung mit dem Urteil einer anderen Person, die mit Evidenz urteilt, als Wesen der Wahrheit ansetzt. Das letztere ist zwar eine unrichtige Beschreibung des Wesens der Wahrheit, aber dennoch eine der (als Wesenstheorie der Wahrheit) noch irrigeren ersten These überlegene Bemerkung, da ja offenbar viele Urteile wahr sind, die nicht mit Evidenz erkannt und gefällt werden. Daher ist nur eine Übereinstimmung mit dem Urteil des mit Evidenz Erkennenden, nicht aber die tatsächliche Evidenz der Erkenntnis eine notwendige Bedingung bzw. Folge der Wahrheit, während umgekehrt nur die tatsächliche Evidenz ein letztes Wahrheitskriterium und ein wirkliches Kriterium philosophischer Erkenntnis und Wahrheit ist, keineswegs die Übereinstimmung mit dem Urteil eines mit Evidenz Urteilenden. 9. Der Einwand der Transzendentalphilosophie gegen Evidenz als Kriterium von Wahrheit und eine neue Deutung der philosophischen Methode der Transzendentalen Deduktion als Aufdeckung unleugbarer „Wahrheiten“ und als im Einklang mit Brentanos Erkenntnis der Evidenz als höchstes Wahrheitskriterium stehend – Evidente Gegebenheiten, die auch bei ihrer Leugnung notwendig vorausgesetzt werden und die objektive Evidenz der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Denken Die großen deutschen Transzendentalphilosophen im Geiste Kants lehnen jeden Bezug auf unmittelbare Evidenz ab und würden behaupten, daß Evidenz selber sehr wohl eines Kriteriums und einer transzendentalen Begründung bedürfe und daher keineswegs als letztes Kriterium der Wahrheit des Urteils angesehen werden dürfe, wie Franz Brentano sich dies vorstellt. Kant beabsichtigt, mit Hilfe der von ihm so benannten Methode der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und Prinzipien,97 darzutun, daß als notwendige Voraussetzung aller 97
Unter „Deduktion“ versteht Kant die Rechtfertigung eines Erkenntnisanspruchs bzw. einer Erkenntnis als solcher, gehöre sie nun der empirischen oder der apriorischen Erkenntnissphäre an. Unter transzendentaler Deduktion hingegen versteht Kant die Rechtfertigung jener Erkenntnisse, deren Gegenstand
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Erfahrung und allen Denkens bestimmte Begriffe und bestimmte Prinzipien vorausgesetzt sind, daß dieselben also die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Denken sind.98 Wenn Kant auch fälschlich objektive Evidenz und Notwendigkeit der so vorausgesetzten Bedingungen abstreiten und ihr notwendiges Vorausgesetztsein für alle Erfahrung als Ersatz ihrer inneren Wirklichkeit und Notwendigkeit setzen wollte, ja sogar eine „transzendentale Zufälligkeit“ der apriorischen Formen des menschlichen Verstandes im Verhältnis zu
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notwendig-apriori bestehen. Kant versucht, diese Erkenntnisse dadurch zu rechtfertigen, daß die Erfahrung und das Denken der Dinge ohne apriorische Anschauungs- und Denkformen nicht möglich seien. Während wir mit Kant darin übereinstimmen, daß das notwendige Vorausgesetztsein von bestimmten Momenten und Inhalten ein vorzüglicher Weg ihres Aufweises ist, so weichen wir radikal von Kants Auffassung darin ab, daß es sich dabei nur um subjektive Bedingungen des Denkens und Erfahrens handle. Vielmehr, so suchen wir zu zeigen, lassen sich nur objektive und in vielen Fällen in sich notwendige Wesenheiten und Wesenssachverhalte auch als notwendige Voraussetzungen allen Denkens und Erfahrens aufweisen. Die Verwechslung zwischen (1) apriorisch objektiver Wesensnotwendigkeit und (2) subjektiv transzendentaler Denknotwendigkeit und (3) Notwendigkeit im Sinne bloß Bedingungen unseres Denkens und Urteilens, die wir überall voraussetzen, durchzieht Kants ganzes Denken. Vgl. etwa seine Logik: Alle Regeln, nach denen der Verstand verfährt, sind entweder nothwendig oder zufällig. Die erstern sind solche, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes möglich wäre; die letztern solche, ohne welche ein gewisser bestimmter Verstandesgebrauch nicht stattfinden würde. Die zufälligen Regeln, welche von einem bestimmten Object der Erkenntniß abhängen, sind so vielfältig als diese Objecte selbst. So giebt es z.B. einen Verstandesgebrauch in der Mathematik, der Metaphysik, Moral u.s.w. Die Regeln dieses besondern bestimmten Verstandesgebrauches in den gedachten Wissenschaften sind zufällig, weil es zufällig ist, ob ich dieses oder jenes Object denke, worauf sich diese besondern Regeln beziehen. Wenn wir nun aber alle Erkenntniß, die wir bloß von den Gegenständen entlehnen müssen, bei Seite setzen und lediglich auf den Verstandesgebrauch überhaupt reflectiren: so entdecken wir diejenigen Regeln desselben, die in aller Absicht und unangesehen aller besondern Objecte des Denkens schlechthin nothwendig sind, weil wir ohne sie gar nicht denken würden. Diese Regeln können daher auch a priori d.i. unabhängig von aller Erfahrung eingesehen werden, weil sie, ohne Unterschied der Gegenstände, bloß die Bedingungen des Verstandesgebrauchs überhaupt, er mag rein oder empirisch sein, enthalten.
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anderen Intellekten behauptet,99 so bleibt doch das von ihm aufgeworfene Problem bzw. die von ihm verwendete Methode etwas überaus Beachtenswertes. 99
Vgl. dazu Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, § 77, V 405: Es kommt hier also auf das Verhalten unseres Verstandes zur Urtheilskraft an, daß wir nämlich darin eine gewisse Zufälligkeit der Beschaffenheit des unsrigen aufsuchen, um diese Eigenthümlichkeit unseres Verstandes zum Unterschiede von anderen möglichen anzumerken.
Wenn also unser Verstand und seine synthetisch apriorischen Strukturen im Verhältnis zu einem anderen Verstand ‚zufällig‘ sind, so ist damit mindestens gemeint, daß das Gegenteil (also andere Denkformen usf.) möglich sind. Das geht aus Kants eigenen Erklärungen des Begriffs hervor: Kant erklärt, was er unter ‚Zufälligkeit‘ versteht, am besten hinsichtlich der Existenz in seiner vorkritischen Schrift „Vom einzig möglichen Beweisgrund...“ (1763), II/83: Bis dahin erhellt, daß ein Dasein eines oder mehrerer Dinge selbst aller Möglichkeit zum Grunde liege, und daß dieses Dasein an sich selbst nothwendig sei. Man kann hieraus auch leichtlich den Begriff der Zufälligkeit abnehmen. Zufällig ist nach der Worterklärung, dessen Gegentheil möglich ist. Um aber die Sacherklärung davon zu finden, so muß man auf folgende Art unterscheiden. Im logischen Verstande ist dasjenige als ein Prädicat an einem Subjecte zufällig, dessen Gegentheil demselben nicht widerspricht. Z.E. Einem Triangel überhaupt ist es zufällig, daß er rechtwinklicht sei. Diese Zufälligkeit findet lediglich bei der Beziehung der Prädicate zu ihren Subjecten statt und leidet, weil das Dasein kein Prädicat ist, auch gar keine Anwendung auf die Existenz. Dagegen ist im Realverstande zufällig dasjenige, dessen Nichtsein zu denken ist, das ist, dessen Aufhebung nicht alles Denkliche aufhebt. Wenn demnach die innere Möglichkeit der Dinge ein gewisses Dasein nicht voraussetzt, so ist dieses zufällig, weil sein Gegentheil die Möglichkeit nicht aufhebt. Oder: Dasjenige Dasein, wodurch nicht das Materiale zu allem Denklichen gegeben ist, ohne welches also noch etwas zu denken, das ist, möglich ist, dessen Gegentheil ist im Realverstande möglich, und das ist in eben demselben Verstande auch zufällig.
Freilich ist Kants Implikation der ‚transzendentalen Zufälligkeit‘ der subjektiven apriorischen Formen des Anschauens und Denkens letztlich widersprüchlich, da Kant hier eine absolute Eigenschaft der subjektiven Denkformen zu erkennen beansprucht, etwas, was er an anderer Stelle leugnet, etwa in der Kritik der reinen Vernunft : Wenn ich zu existirenden Dingen überhaupt etwas Nothwendiges denken muß, kein Ding aber an sich selbst als nothwendig zu denken befugt bin, so folgt daraus unvermeidlich, daß Nothwendigkeit und Zufälligkeit nicht die Dinge selbst angehen und treffen müsse, weil sonst ein Widerspruch vorgehen würde; mithin keiner dieser beiden Grundsätze objectiv sei, sondern sie allenfalls nur subjective Principien der Vernunft sein können, nämlich einerseits zu allem, was als existirend gegeben ist, etwas zu suchen, das nothwendig ist, d.i. niemals anderswo als bei einer a priori vollendeten Erklärung aufzuhören, andererseits aber auch
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Dabei beginnt Kant auch nicht schlechthin von vorne, so als ob er das erste Mal in der Geschichte der Philosophie diese Methode verwendet hätte. Vielmehr finden wir schon in der Antike, etwa in Platons Diskussion mit dem Relativisten Protagoras im Dialog Theaetetus oder im vierten Buch G der Metaphysik des Aristoteles, oder auch bei Augustinus und Bonaventura, sowie bei vielen anderen Autoren den Versuch, etwa die Existenz von Wahrheit, die Gültigkeit des Widerspruchsprinzips, usf. dadurch aufzuweisen, daß gezeigt wird, daß jeder Versuch der Leugnung dieser Prinzipien notwendig zu einem Widerspruch führt, daß diese Gegebenheiten und Prinzipien also notwendig und schlechthin in jeder Erfahrung und in jedem Denken oder Urteilen oder in jeder Unterscheidung oder Handlung vorausgesetzt werden. Gewiß, wenn einmal die Begründung aller philosophischen Erkenntnis in unmittelbaren, evidenten Einsichten und insbesondere in Einsichten in notwendige Wesenheiten und Wesensgesetze als Grundmethode der Philosophie erwiesen ist, so kann man unmöglich die bloße notwendige Vorausgesetztheit von Gegebenheiten für alle Erfahrung und für alles Denken für einen hinreichenden Beweis ihrer Wahrheit ansehen. Vielmehr, und darin geben wir indirekt Kant recht, könnte die notwendige Vorausgesetztheit dieser Gegebenheiten bloß beweisen, daß das Subjekt nicht anders erfahren oder denken kann als unter den bestimmten Voraussetzungen. Sollte es daher nicht gelingen, mehr zu zeigen, und zwar, daß der Grund für die notwendige Vorausgesetztheit dieser Gegebenheiten ein doppelter ist, nämlich einmal ihre innere Evidenz und Notwendigkeit, dann aber auch ihre besondere strukturelle Bedeutung für alles Denken und Erfahren, die nachzuweisen eben das Besondere einer „transzendentalen Untersuchung“ darstellt, dann würde die „transzendentale Methode“ keinerlei Wahrheitsbeweise liefern. Wir könnten also so formulieren: Ohne mit Brentano die Evidenz der Erkenntnis als höchstes Wahrheitskriterium anzuerkennen, wäre eine transzendentale Ableitung absolut wertlos als Wahrheitskriterium. Wie verschieden Evidenz über etwas von dem Nachweis seiner transzendentalen Vorausgesetztheit für alles Sein oder Erkennen und diese Vollendung niemals zu hoffen, d.i. nichts Empirisches als unbedingt anzunehmen, und sich dadurch fernerer Ableitung zu überheben.
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Erfahren ist, ergibt sich auch aus folgender Einsicht: Nicht alle Sachverhalte, die in sich notwendig und absolut evident sind, werden notwendig von allem Erfahren, Urteilen oder Denken vorausgesetzt. Zum Beispiel ist das Wesensgesetz, das Stumpf, Husserl, Reinach und andere wiederholt als Beispiel eines wesensnotwendigen Sachverhalts benützt haben, daß nämlich die Farbqualität Orange der Ähnlichkeitsordnung nach zwischen rot und gelb liegt, zwar absolut notwendig und mit Evidenz einsehbar, wird aber keineswegs überall und von jedem Urteil vorausgesetzt, nicht einmal von Urteilen über andere Sachverhalte aus der Farbenlehre. So ist also die Wesensnotwendigkeit als solche, das notwendige Sosein-Müssen und Nicht-anders-sein-Können, sowie dessen Evidenz, scharf von dem notwendigen Vorausgesetztsein durch jedes denkende Subjekt zu unterscheiden. Auch umgekehrt ist der Nachweis, daß etwas immer und überall vorausgesetzt wird, höchstens ein Nachweis dafür, daß etwas eine notwendige subjektive Bedingung allen Denkens ist und nicht schon ein Beweis für die objektive Notwendigkeit einer Sache. Auf den Unterschied zwischen einer Denknötigung und Evidenz weist ja Brentano in obigem Zitat überzeugend hin. Dennoch mögen zwischen beiden Dingen, nämlich der Wesensnotwendigkeit einerseits und der notwendigen Vorausgesetztheit andererseits, Beziehungen bestehen. Ja, es mag sich in der Tat umgekehrt als Kant meint, der eine Einsicht in die subjektive Notwendigkeit einer Sache als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung für leichter als die Einsicht hält, daß ein Sachverhalt in sich notwendig ist, verhalten. Es wird nämlich gewöhnlich gerade umgekehrt das notwendige und absolute Vorausgesetztsein von etwas für alles Erfahren und Denken erst dann evident, wenn die innere und absolute Notwendigkeit von Wesensgesetzen in einem mit Evidenz vollzogenen Erkenntnisakt verstanden wird. Eine Einsicht in universale subjektive Denknotwendigkeiten als solche ist nämlich unmöglich, worauf Brentano hinweist, wenn er in der zitierten Stelle sagt: „kein Bewußtsein einer Notwendigkeit, so zu urteilen, könnte als solches die Wahrheit sichern.“ Die Verabsolutierung der transzendentalen Methode durch Kant ist überhaupt keine gültige Methode philosophischer Erkenntnis geschweige denn die einzige. Ein letztlich gültiger Nachweis der notwendigen und in sich begründeten, einsichtigen Voraus-
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gesetztheit einer Sache für alles Erfahren und Denken schließt deshalb immer auch die Einsicht ein, daß die betreffenden Wirklichkeitsbereiche entweder in sich selber notwendige Wesen und Wesenssachverhalte oder unumgänglich vorausgesetzte reale Tatsachen, wie die eigene Existenz, sind. Beide Arten von Gegenstand werden mit Evidenz erkannt und sind gerade nur deshalb zusätzlich auch notwendige Bedingungen aller Erfahrung. 9.1. Notwendige Voraussetzungen allen Denkens und Erfahrens als notwendige Voraussetzungen des Seins selbst und als in sich notwendige Gegebenheiten
Wie eine lange Tradition in der Geschichte der Philosophie, die von Parmenides über Platon und Aristoteles, über Avicenna und Thomas von Aquin bis Leibniz und Max Scheler reicht,100 betont hat, ist der erste Gegenstand der Erkenntnis, und zwar ein Gegenstand, der prinzipiell und immer vorausgesetzt wird, das Sein. Und ich möchte gerade an diesem Beispiel Brentanos Bestehen auf Evidenz als höchstem Wahrheitskriterium erweitern und begründen und gegen die transzendentalphilosophische Behauptung verteidigen, es gäbe in Form der transzendentalen Deduktion ein höheres Wahrheitskriterium als Evidenz. In der erwähnten evidenten Erkenntnis sind es genau genommen verschiedene Dinge, die sich dem Intellekt sowohl mit Evidenz enthüllen als sie auch notwendig von ihm in jedem Gedanken und jeder Erfahrung vorausgesetzt werden. Da ist einmal jene Evidenz, von der Leibniz und Scheler dachten, sie sei die erste und ursprünglichste überhaupt, nämlich „daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts“. Jede Frage, jeder Zweifel, jede Wahrnehmung, jede Erfahrung und jeder Gedanke überhaupt setzen diese Evidenz voraus, daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts.101 100
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Vgl. dazu insbesondere Max Scheler, „Lehre von den Drei Tatsachen“, in: Max Scheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. I, 2. Aufl,. hrsg. Maria Scheler (Bern: Francke, 1957), S. 431-502. Vgl. auch Max Scheler, „Idealismus –Realismus“ in: Max Scheler, Gesammelte Werke Bd. 9, Späte Schriften, S. 187-188. Siehe Max Scheler, „Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens“, S. 93-94:
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Denn auch im Zweifel sind wir davon überzeugt, daß wir zweifeln und damit, daß es überhaupt etwas gibt, ganz abgesehen von den vielfältigen Gegenständen, die wir im Zweifel darüber hinaus noch voraussetzen, wie Augustinus gezeigt hat.102 Mit dieser von Scheler dargelegten Evidenz, daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, und der zweiten, daß wir dies wissen und überall voraussetzen, geraten wir gewiß in Widerspruch mit den radikalen skeptischen Thesen des Gorgias, der angeblich seine verlorengegangene Die erste und unmittelbarste Evidenz, zugleich diejenige, die schon zur Konstituierung des Wortes „Zweifel an etwas“ (an dem Sein von etwas, an der Wahrheit eines Satzes usw.) vorausgesetzt ist, ist aber die evidente Einsicht, daß überhaupt Etwas sei oder, noch schärfer gesagt, daß „nicht Nichts sei“ (wobei das Wort Nichts weder ausschließlich das Nicht-Etwas noch das Nicht-Da-sein von Etwas, sondern jenes absolute Nichts bedeutet, dessen Seinsnegation im negierten Sein das So-Sein oder Wesen und das Da-Sein noch nicht scheidet). Der Tatbestand, daß nicht Nichts sei, ist gleichzeitig der Gegenstand erster und unmittelbarster Einsicht, wie der Gegenstand der intensivsten und letzten philosophischen Verwunderung – wobei diese letztere emotionale Bewegung angesichts des Tatbestandes freilich erst dann voll einzutreten vermag, wenn ihr unter den die philosophische Haltung prädisponierenden Gemütsakten die den Selbstverständlichkeitscharakter ... des Tatbestandes des Seins auslöschende Demutshaltung vorangegangen ist. Also: Gleichgültig, auf welche Sache ich mich hinwende und auf welche, nach untergeordneteren Seinskategorien schon genauer bestimmte Sache ... - als da z.B. sind Sosein - Dasein; Bewußtsein - Natursein; reales Sein oder objektives nichtreales Sein; Gegenstand-sein – Aktsein, desgleichen Gegenstandsein – Widerstandsein; Wertsein oder wertindifferentes „existentiales“ Sein; substantielles, attributives, akzidentelles oder Beziehungsein; Möglichsein ... oder Wirklichsein; zeitfreies, schlechthin dauerndes oder Gegenwärtig-, Vergangen-, Zukünftigsein; das Wahrsein (z.B. eines Satzes), Gültigsein oder vorlogisches Sein; ausschließlich mentales „fiktives“ Sein (z.B. der nur vorgestellte „goldene Berg“ oder das nur vorgestellte Gefühl) oder außermentales resp. beiderseitiges Sein – ich hinblicke: an jedem einzelnen beliebig herausgegriffenen Beispiel innerhalb einer oder mehrerer sich je kreuzender sog. Arten des Seins, wie an jeder dieser herausgegriffenen Arten selbst wieder wird mir diese Einsicht mit unumstößlicher Evidenz klar – so klar, daß sie an Klarheit alles überstrahlt, was mit ihr nur in denkbaren Vergleich gebracht werden kann. Freilich: Wer gleichsam nicht in den Abgrund des absoluten Nichts geschaut hat, der wird auch die eminente Positivität des Inhalts der Einsicht, daß überhaupt Etwas ist und nicht lieber Nichts, vollständig übersehen. Er wird bei irgendeiner der vielleicht nicht minder evidenten, aber der Evidenz dieser Einsicht doch nachgeordneten Einsichten beginnen ...
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Der zitierte Text beginnt mit dem bemerkenswerten Satz: „Darum muß auch jede Erörterung des Wesens der Philosophie mit diesem Problem der ‚Ordnung der fundamentalsten Evidenzen‘ beginnen.“ Augustinus, De Trinitate, X, X, 14. Vgl. auch Augustinus, Contra Academicos, II, xiii, 29, ebd., III, 23; De Vera Religione, XXXIX, 73, 205-7; De Trinitate, X, X, 14; ebd., XIV, vi, 8; ebd., XV, xii, 21; De Civitate Dei XI, xxvi.
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Schrift mit dem Satz einleitete: „Es gibt überhaupt nichts.“ Doch setzt eben auch Gorgias mit diesem Satz selbst, mit dem Schreiben dieses Satzes, mit der Überzeugung, die diesem Satz notwendig zugrunde liegen muß, wenn er sinnvoll sein soll, mit der Sprache und Bedeutung, in der dieses Urteil ausgesprochen wird, etwas voraus. Es ist völlig unsinnig, diesen Satz niederzuschreiben, ohne eben diese Urevidenz vorauszusetzen, daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Es läßt sich leicht dartun, daß diese Evidenz notwendig vorausgesetzt ist, zumindest von jedem, der irgend etwas denkt, fragt, bezweifelt, redet. Der absolut Stumme oder vielmehr nur der absolut Nichtdenkende mag diesen Satz nicht voraussetzen, wird aber durch diese Absage an alles Denken und Erfahren zum Zustand eines reinen vegetierenden Daseins reduziert. Doch ist es noch viel wichtiger, daß die Tatsache, daß überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, auch absolut evident ist, daß es in dieser Tatsache um etwas geht, was sich als wirklich bestehend erschließt? Und so ist es in der Tat: Jede Erfahrung, jede Wahrnehmung, jeder Gedanke bestätigen uns zunächst diese urevidente Tatsache, daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Mit dieser Evidenz, daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, ist auch die Evidenz verknüpft, daß sich das, was es gibt, in einer Weise verhält, die nicht schlechthin von unserem Urteil abhängig bzw. willkürlich setzbar ist. Diese Evidenz könnte auch als die Evidenz einer gewissen Seinsautonomie bezeichnet werden, die dem ersten Sinn vom „Ding an sich“ entspricht, den wir andernorts unterschieden haben.103 Darauf hat Platon in seiner Diskussion mit dem Relativisten Protagoras hingewiesen, im Kontext der Diskussion der These des Protagoras: der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind und der Nichtseienden, daß sie nicht sind.104 Auch andere Philosophen, unter ihnen vor allem Augustinus, haben in der Diskussion mit der Skepsis und dem Relativismus auf die Evidenz einer solchen Seinsautonomie hingewiesen. Diese notwendig vorausgesetzte Autonomie des Seins ist nicht nur evident, insofern sie einschließt, daß, wie sich die Dinge verhalten, nicht 103
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Siehe Josef Seifert, Back to Things in Themselves: A Phenomenolological Foundation for Classical Realism, Kap. 5-6. Siehe Platon, Theaetetus, 152a.
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willkürlich von unserem Urteil festzulegen ist. (Zum Beispiel wäre auch der Sachverhalt, daß alles sich bloß nach dem Subjekt richtet, eben dieser, so daß auch nach der Voraussetzung des Protagoras die gegenteilige These, daß nämlich der Mensch nicht das Maß aller Dinge sei, zugleich falsch sein würde als er auch, wenn man sein Prinzip annimmt, wahr sein müßte.) Vielmehr ist mit dieser Evidenz eines autonomen Sachverhalts gleichfalls evident, daß Dinge an sich in einem zweiten Sinne dieses Terminus bestehen, wie andernorts unterschieden wurde: nämlich als Dinge und Sachverhalte, die nicht bloß irgend etwas sind (wie ja auch Gegenstände von Träumen), worauf sich unser Urteil als auf ein vorgegebenes Etwas bezieht, sondern daß es auch Dinge an sich in dem zweiten Sinne gibt, daß sie prinzipiell nicht ausschließlich Konstituta und Noemata unserer Akte sind.105 Denn von uns gesetzte Sachverhalte allein, wie sie in Träumen, Märchen usf. vor uns treten, auch wenn selbst solche bewußtseinsabhängige Dinge und Sachverhalte die Seinsautonomie im ersten Sinne besitzen, können nicht die einzige Realität sein. Auch dies ist strikt evident. Denn es zeigt sich auf das Deutlichste, daß jedes Träumen, Konstituieren, Sicheinbilden usf. ausschließlich dann möglich sind, wenn nichteingebildete, nichtgeträumte, nichtkonstituierte Sachverhalte auch bestehen, zumindest der, daß wir überhaupt etwas konstituieren und träumen, sowie das Prinzip der Unterscheidung zwischen konstituierten und nichtkonstituierten Sachverhalten und Dingen. Es kann wesenhaft kein konstituiertes und radikal bewußtseinsabhängiges Sein geben, ohne daß es zugleich auch Dinge und Sachverhalte gibt, wie den Akt des Träumens, die Existenz des Objekts einer Täuschung, den Sachverhalt, daß so und nicht anders konstituiert oder geträumt wird usf., die nicht selbst wieder konstituiert sein können. Ansonsten gäbe es eben überhaupt schlechthin keine Konstitution. Also auch die Existenz derjenigen Dinge an sich, die in radikaler Unabhängigkeit vom Bewußtsein bestehen und nicht von ihm konstituiert sein können, ist, trotz aller gegenteiligen Versicherungen Kants und Husserls, schlechthin evident und wird notwendig von ihnen vorausgesetzt, wie an anderer Stelle eingehend dargelegt wurde.106 Dabei 105 106
Siehe Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap. 5-6. Siehe Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?. Che cos’è la filosofia? (bilingual 4th ed.: engl./ital.), Collana: Testi a fronte n. 46 (Milano: Pompiano,
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zeigt sich mit der gleichen Evidenz zweierlei: erstens, daß es überhaupt nichtkonstituiertes Sein gibt und geben muß und zweitens, daß jedes Konstituieren und jede Behauptung von Konstitution solches nichtkonstituiertes Seiendes und seine Erkenntnis notwendig voraussetzen. Damit sehen wir, daß die ontologischen Evidenzen, daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, daß das Etwas, das es gibt, gegenüber unserem Urteil und der Willkür von Urteilen in jedem Falle eine gewisse Autonomie besitzen muß, und daß es schlechthin seinsautonome Dinge an sich geben muß, von entsprechenden gnoseologischen Evidenzen begleitet sind. Denn diese Dinge können uns ja nicht mit Gewißheit als ontische Sachverhalte und Gegebenheiten zugänglich werden, wenn nicht zugleich auch unsere Fähigkeit, sie zu erkennen, mit der gleichen Evidenz mitgegeben wäre. Denn es ist schlechthin einsichtig und wird auch notwendig von allen bisherigen Erkenntnissen, sowie von jedem Denken und Behaupten überhaupt vorausgesetzt, daß diese Sachverhalte nicht nur bestehen, sondern uns auch als solche in ihrer Evidenz zugänglich werden können. Ist diese gnoseologische Voraussetzung (wie auch manche ontologische) nicht in dem Sinne gegeben, daß jeder Denkende notwendig die ausdrückliche Erkenntnis dieser Sachverhalte besäße, wären Skepsis und Relativismus überhaupt nicht möglich. Was also mit diesen notwendigen Voraussetzungen gemeint ist, ist nicht, daß jeder sie bewußt erschaut, sondern bloß dies, daß bei genügend eingehender und tiefdringender Untersuchung dessen, was jeder überhaupt Behauptende und Denkende voraussetzt und auch als evident vorfindet, diese Evidenzen sich finden. Also kann man gegen die Grundvorausgesetztheit solcher Sachverhalte nicht einwenden, daß viele dieselben leugnen. Diese Tatsache ist wohlbekannt und wird hier in keiner Weise in Frage gestellt. Vielmehr handelt es sich bei diesen notwendigen Vorausgesetztheiten für alles Erfahren und Denken um Gegebenheiten und Erkenntnisse, die sich erst bei vorurteilsloser Untersuchung der Fundamente allen Erfahrens und Denkens als solche enthüllen. Es bedarf eines philosophischen Dialogs und der philoso2001), (with Saggio introduttivo von Paola Premoli De Marchi and Saggio integrativo by Josef Seifert), Kap. 4. Siehe Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II, Kap. 1, 2. Siehe auch Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap 4-5.
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phischen Überlegung, um auf dem Grund allen Erfahrens und Denkens diese Voraussetzungen vorzufinden. Dies wird ja wohl auch von Kant in seiner Lehre von der transzendentalen Deduktion nicht anders behauptet. Mit dem Licht dieser Evidenzen ist auch jene Einsicht verbunden, die Brentano voraussetzt, wenn er im oben zitierten Text sagt, daß es unmöglich ist, daß ein Subjekt ein Urteil mit Evidenz fällt und ein anderer das Gegenteil mit Evidenz erkennt, und die Aristoteles als eine evidente Einsicht in das gewisseste und sicherste aller Prinzipien überhaupt angesehen hat, nämlich die Einsicht in das Prinzip vom Widerspruch. Denn in all den genannten Erkenntnissen, wie daß es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, wird uns ja zugleich mit letzter Gewißheit gegeben, daß dieselbe Sache nicht im selben Sinn zugleich sein und nicht sein, daß derselbe Sachverhalt nicht im selben Sinne zugleich bestehen und auch nicht bestehen kann. Dabei bleibt es noch ganz offen, ob dieses „zugleich“ in einem zeitlichen Sinne mitzuverstehen ist (nämlich bei all jenen Sachverhalten, die zu einem Zeitpunkt bestehen, zu einem anderen nicht bestehen können) oder als bloßes Kompatibelsein und zeitloses Zusammenbestehen aufzufassen ist, wie im Falle von schlechthin universalen und zeitlosen Wesensgesetzen, die nicht bloß zur selben Zeit, sondern in zeitloser Weise ihr Zusammenbestehen mit ihrem kontradiktorischen Gegenteil ausschließen. Wie Augustinus in Contra Academicos aufweist, setzt auch der radikalste skeptische Zweifel noch dies voraus, daß der bezweifelte Sachverhalt, ob es nämlich überhaupt Wahrheit gibt, als unverträglich mit seinem Gegenteil erkannt werden muß, um überhaupt sinnvollen Zweifel zu ermöglichen. Nur weil ich weiß, daß nur entweder Wahrheit besteht oder es keine Wahrheit gibt, daß aber nicht beides zusammen möglich sein kann, kann ich überhaupt sinnvoll zweifeln, sonst wäre der Zweifel gegenstandslos, da er notwendig zwei kontradiktorische Sachverhalte betrachtet und schwankt, welchem von ihnen er erkenntnisund urteilsmäßige Zustimmung erteilen soll. Jeder Gedanke überhaupt, jede Frage, jeder Zweifel, und erst recht jedes Urteil setzt diese elementarste Einsicht voraus, daß das Sein und Bestehen einer Sache oder eines Sachverhalts mit ihrem Nichtsein oder Nichtbestehen im selben Sinne unverträglich und absolut inkompatibel ist. Und die Wahrheit dieser Einsicht ist, der Brentano’schen Philosophie entsprechend, allein in Evidenz letztbegründet. Nicht nur benötige ich
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schon Evidenz, um überhaupt das notwendige Vorausgesetztsein zu erkennen (auch darüber muß ich ja evidente Erkenntnis haben), sondern erst recht benötige ich sie, um die inhaltliche Wahrheit dieser Voraussetzungen zu erkennen. 9.2. Die volle Berechtigung der These Brentanos, daß Evidenz allein das letzte und auch von jeder transzendentalen Theorie vorausgesetzte Wahrheitskriterium ist und die von Brentano übersehene Notwendigkeit, dieses Brentano’sche Wahrheitskriterium der Evidenz im Licht der Wahrheit als Adäquatio und der Transzendenz der Erkenntnis neu zu deuten
Es ist nicht bloß entscheidend zu erkennen, daß dieses Widerspruchsprinzip von uns in jedem Gedanken vorausgesetzt wird, sondern auch, daß es sich vom Wesen des Seins her als absolut notwendig, als ein schlechthinniges So-sein-Müssen dem Geiste enthüllt, also einsichtig und evident ist. Damit wird jedoch auch erkannt, daß zwischen einem solchen notwendigen So-sein-Müssen von Sachverhalten und einer bloßen psychologischen oder transzendentalen Denknotwendigkeit ein Abgrund klafft, was Brentano so beredt hervorhebt, ohne allerdings zu verstehen, daß dieses letzte Evidenzkriterium der Wahrheit notwendig das Wesen der Wahrheit des Urteils als Adäquatio und die Transzendenz der Erkenntnis voraussetzt. Die eine Notwendigkeit erschließt sich als absolute und im Wesen der Sache selbst begründete dem Geist und leuchtet ihm ein, während eine bloß psychologische oder transzendentale Denknotwendigkeit eine radikal blinde Notwendigkeit wäre, die gerade jeder Einsichtigkeit der bloß notwendig gedachten Sachverhalte notwendig entbehren müßte. Denn wäre sie von einer solchen Einsichtigkeit getragen, wäre sie eben nicht mehr bloß eine subjektive Denknotwendigkeit, sondern das Innewerden der Wahrheit, von dem Husserl spricht und in der sich das objektive So-sein-Müssen der Sache selbst zeigt, was eben als evident im präzisen Sinne dieses Terminus anzusprechen ist. Doch gerade hier kommen wir zu einer wesentlichen Kritik der Theorie der Evidenz bei Brentano:
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 115
Mit all den genannten Evidenzen berühren wir nämlich nicht nur diese Sachverhalte selber in einem Einsehen und einer Art erkennender Adäquation, ohne welche Evidenz unmöglich wäre, sondern erfassen auch eine Reihe weiterer Sachverhalte, die ebenfalls notwendig von jedem Denken vorausgesetzt werden und die Natur der menschlichen Erkenntnis überhaupt betreffen. Denn daß wir in diesen notwendigen Voraussetzungen objektiv bestehende und notwendige Sachverhalte erfassen, erschließt sich uns nur dann, wenn wir auch den rezeptiv-vorfindenden, den seinsenthüllenden, seinsentdeckenden Charakter des Erkennens als solchen erfassen. Wie immer sich das Sein verhalten mag, wir verstehen, daß es ausschließlich dann erkannt wird, wenn wir nicht einfach setzen und festlegen, wie es unserer Willkür entspricht, sondern wenn wir es als das auffassen, was es ist. Auch jede Deutung des Erkennens als spontan-konstitutiven Prozeß setzt diese Evidenz voraus und setzt sie mit Notwendigkeit voraus. Denn nehmen wir einmal an, das Erkennen sei nicht rezeptiv, es sei nicht seinsentdeckend, sondern schlechthin seinssetzend, so fragt es sich, wie wir diesen Sachverhalt selbst erkennen. Wenn wir ihn bloß setzen, dann ist er nicht so oder zumindest vielleicht nicht so, wie wir ihn setzen und damit erkennen wir ihn überhaupt nicht. Auch für die Erkenntnis der konstitutiven, seinssetzenden Struktur menschlichen Erkennens setzen wir gerade das voraus, was wir leugnen, nämlich daß diese seinssetzende Struktur des Geistes erkannt wird, d.h. daß die objektiv bestehende Erkenntnisstruktur als seinssetzend erfaßt wird, d.h. daß wir entdecken, daß das Erkennen tatsächlich eine solche spontan-tätige Struktur besitzt. Würden wir dies nicht wenigstens entdecken, so wäre die diesbezügliche Erkenntnis eben keine Erkenntnis mehr. All dies enthüllt sich mit letzter Evidenz als in sich selbst so seiend und notwendig, aber auch als notwendig von jedem Denken und Urteilen und insbesondere von jedem evidenten Erkennen vorausgesetzt. Mit diesem rezeptiv-entdeckenden und jedenfalls, wenn wir in transzendentaler Allgemeinheit (im scholastischen Sinne dieses Terminus) sprechen, dem seinsenthüllenden Charakter des Erkennens, der eben darin besteht, daß das Seiende so gefaßt und aufgefaßt wird, wie es tatsächlich ist, ist auch ein weiteres Wesensmerkmal des Erkennens verknüpft. Die diesbezüglichen Evidenzen setzen zugleich die Transzendenz und die transzendente Leistung des Erkennens voraus. In dem Erfassen, daß es
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überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, daß von zwei kontradiktorischen Sachverhalten nicht beide zusammen bestehen können und von unendlich vielen anderen Sachen und Sachverhalten erkennen wir etwas, das in seiner strikten Notwendigkeit jenseits und außerhalb unseres Erkenntnisaktes liegt. Und doch erkennen wir es ausschließlich, und auch dies ist ein wesensnotwendiges Gesetz, kraft unserer Erkenntnis, durch den Vollzug eines bewußten Aktes. Wenn dies beides jedoch zugleich gegeben ist, dann erweist sich darin dieser staunenswerte Zug des Erkennens, den man als seine Transzendenz bezeichnen kann, d.h. das Über-sich-selbst-Hinausgehen des Erkenntnisaktes zu dem, was ist, ohne welche Transzendenz die Brentano’sche Lehre, daß Evidenz das höchste Wahrheitskriterium ist, keine Begründung fände. Wären alle Objekte unseres Bewußtseins bloß in immanenter Transzendenz, von der Husserl seit 1905 der Meinung war, daß sie die einzige Transzendenz wäre,107 gegeben, so wäre ein gewisses Hinausgehen über die immanenten Bewußtseinsvollzüge und Bewußtseinszustände zu den Noemata solcher bewußter Akte durchaus möglich, aber die eigentliche Transzendenz zu einem autonomen Sein, das nicht bloß Gegenstand unseres Denkens ist, wäre unter dieser Voraussetzung nicht gegeben. Wenn wir daher eingesehen haben, daß das Widerspruchsprinzip und unendlich viele andere notwendig vorausgesetzte und in sich notwendige Wahrheiten im zweiten Sinne dieses Wortes „in sich selber“ bestehen, so haben wir auch eine viel tiefere Transzendenz des Erkennens eingesehen, nämlich die Fähigkeit des Geistes, nicht bloß zu einem Objekt hinzugehen, das unseren bewußten Akten als intentionaler Gegenstand gegenübersteht, sondern über und durch den Prozeß des Bewußtseins hinauszugehen, oder besser durch und kraft eines bewußten Aktes zu jenem Sein selbst hinzugehen, das sich in seiner Autonomie gegenüber unserem Erkenntnisakt erschließt. Gerade diesen Wesenszug bezeichnen wir als die Transzendenz des Erkennens im tieferen Sinn dieses Wortes, d.h. dieses über die Grenzen des Bewußtseins zur autonomen Wirklichkeit der Dinge an sich Hingehenkönnen. Und gerade diese Transzendenz der Erkenntnis ist Bedingung jener objektiven Evidenz, von der Brentano so 107
Vgl. Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie (The Hague: Martinus Nijhoff, 1950), Beilagen 2 und 3.
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beredt spricht. Auch diesen transzendenten Zug des Erkennens, diese rezeptive, seinsentdeckende Transzendenz der bewußten Erkenntnisakte haben wir in all dem als notwendige Voraussetzung vorgefunden, was sich unserem Erkennen bisher enthüllt hat. In all diesen Voraussetzungen und zugleich, was noch viel wichtiger ist, evidenten Wahrheiten, haben wir die entsprechenden Sachverhalte auch urteilsmäßig gefaßt. Wir haben jenes eigentümliche Gebilde hervorgebracht, das Brentano fälschlich mit dem psychischen Akt des Urteilens identifiziert und das wir mit Alexander Pfänder als Gedanken bezeichnen können und das vom Denkakt bzw. vom bewußten Denkprozeß selbst abgelöst und von vielen Subjekten gedacht werden kann, das durch die Sprache ausgedrückt und mitgeteilt werden kann usf., sosehr es auch wiederum hinsichtlich seines Ursprungs und seiner Realität nur volle Aktualität des Daseins gewinnt, wenn es als Urteilsinhalt vom lebendigen Geist gedacht und behauptet wird und gleichsam in den Urteilsakt eingesenkt ist, das aber zugleich alle von Menschen gedachte Urteile unendlich übersteigt und als Träger der Urteilswahrheit unmöglich vom Menschengeist abhängen kann.108 In jenen Gedankengebilden nun, die wir als Urteile oder Propositionen bezeichnen können, wie sie beim Ausdruck jeder Behauptung und jeder These, etwa der vorhergehenden, impliziert wird, sehen wir weitere notwendig vorausgesetzte Gegebenheiten. Und zwar sind nicht alle objektiven Sachverhalte hinsichtlich der Struktur und Zusammensetzung des Urteils, der Funktion der Kopula usf. schlechthin vorausgesetzt, doch ist gewiß die behauptende und verbindende Funktion der Kopula und der Charakter des Urteils als einen Sachverhalt behauptend und hinstellend notwendig von jedem Denken vorausgesetzt. Denn schon für den Zweifel und die Frage, wie insbesondere Augustinus erwiesen hat, sind gewisse Urteile vorausgesetzt, wie etwa das, daß ich zweifle, daß ich denke usf. In diesen Urteilen nun setzen wir 108
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 4, sowie ders., “Is the Existence of Truth dependent upon Man?” in: Review of Metaphysics 35, 1982, 461-481; deutsche Fassung: „Könnte die Wahrheit nur durch den menschlichen Geist Bestand haben? Über den ontologischen Status der logischen Urteilswahrheit“ in: Vom Wahren und vom Guten, Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Balduin Schwarz (Salzburg: St.Peter Verlag, 1983).
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notwendig voraus, daß diese Urteile wahr sind. Sowohl die wahren als auch die falschen Urteile erheben ferner notwendig einen Wahrheitsanspruch, den wir als solchen unbedingt voraussetzen, wenn wir urteilen, den wir aber zugleich als objektiv im Wesen des Urteils selbst notwendig verwurzelt erkennen. Ist dieser Wahrheitsanspruch gerechtfertigt, ist das Urteil wahr bzw. sein Wahrheitsanspruch, in seiner behauptenden Setzung mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammenzutreffen, ist dann und nur dann erfüllt, wenn es wirklich wahr ist. Wiederum enthüllen sich diese zwei Momente, das notwendige Vorausgesetztsein von allem Denken und das dieses letztlich begründende notwendige So-sein-Müssen, in unzertrennlicher Einheit. Indem wir nun den Wahrheitsanspruch des Urteils erkennen, erkennen wir, daß dieser eben in dem setzenden, einen Sachverhalt behauptenden Grundzug des Urteils wurzelt und darin besteht, daß das Urteil von seinem Wesen her, wie insbesondere Alexander Pfänder ausführlich entfaltet hat, den Anspruch erheben muß, objektiv zu sein, d.h. in seiner setzenden Behauptung eines Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen selbst zusammenzutreffen und durch diese Übereinstimmung bzw. dieses eigentümliche Zusammentreffen selbst wahr zu sein. Kein Urteil kann gefällt werden, auch nicht das, daß alles zweifelhaft ist, ja nicht einmal das, daß es überhaupt keine Wahrheit gibt, ohne schon wieder Wahrheit notwendig vorauszusetzen und ohne mit diesem von jeder Willkür unsererseits unabhängigen Wesensgesetz und Wesensmerkmal jeden Urteils und also auch unseres Urteils konfrontiert zu sein, daß dieses eben wahr zu sein beansprucht. D.h. jedes Urteil, selbst dasjenige, das Wahrheit leugnen wollte, setzt voraus, daß der in ihm gesetzte Sachverhalt, in unserem Falle, daß es überhaupt keine Wahrheit gibt, wirklich besteht und daß das Urteil in seiner setzenden Hinstellung dieses Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Dinge zusammentrifft, also mit der Tatsache übereinstimmt, daß es eben überhaupt keine Wahrheit gibt. Und gerade aus diesem Grunde der notwendigen Vorausgesetztheit von Wahrheit ist die Position des radikalen Skeptizismus und erst recht die These der Wahrheitsleugnung in sich widersprüchlich und damit notwendig falsch: denn wenn wir erkannt haben, daß von zwei kontradiktorischen Sachverhalten nicht beide bestehen können, dann haben wir damit auch erkannt,
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daß eine These, die ihren eigenen Widerspruch notwendig einschließt, notwendig falsch sein muß, da eben das Bestehen und zugleich auch Nichtbestehen irgendeines Sachverhalts sich als in sich unmöglich erwiesen hat. Indem wir jedoch all dies erkennen, erweist sich nicht nur die Annahme, daß einem und demselben dieselbe Eigenschaft zukomme und auch nicht zukomme, oder daß derselbe Sachverhalt zugleich bestehe und nicht bestehe, als in sich unmöglich, sondern so zeigt sich auch das Widerspruchsprinzip in seinem logischen Sinne als notwendig wahr. In seinem logischen Sinne nämlich bezieht es sich auf die Urteile selbst und sagt von einem Paar von kontradiktorischen Urteilen, von denen das eine genau das behauptet, was das andere leugnet, daß sie unmöglich zugleich wahr sein können, daß sie unmöglich zugleich in ihrer Setzung mit dem Sein zusammentreffen und mit ihm in Übereinstimmung sein können. Dies ist wesensgesetzlich unmöglich, wenn das ontologische Widerspruchsprinzip wahr ist und wenn wir das Wesen der Urteilswahrheit richtig erkannt haben. Da aber die bisher genannten Sachverhalte sich nicht nur als notwendige Voraussetzungen jeden Denkens und Urteilens enthüllen, sondern auch als in sich bestehende und in sich notwendige Sachverhalte, so zeigt sich nicht nur die Notwendigkeit des Wahrheitsanspruchs und die notwendige Vorausgesetztheit des Widerspruchsprinzips im logischen Sinne in allem Denken, sondern auch die notwendige Existenz von Wahrheit, die Notwendigkeit, daß in jedem Denken und Urteilen implizite oder explizite Sachverhalte erkannt werden, die wirklich bestehen und daß die Urteile, die diese Sachverhalte behaupten, tatsächlich wahr sind. Vieles andere ließe sich in ähnlicher Weise als notwendig vorausgesetzt und zugleich als notwendig bestehend erweisen und es wird wohl keinem Menschen möglich sein, die zumindest formal unendliche Zahl solcher Wahrheiten in der Sprache auszudrücken oder auch nur die materialinhaltlich verschiedenen notwendigen Sachverhalte alle auszuschöpfen, die hier zu finden sind. Sowohl im ontologischen als auch im logischen Sinne könnte man das Prinzip der Identität, des ausgeschlossenen Dritten, des zureichenden Grundes und vieles andere als gleichermaßen notwendig vorausgesetzt und in sich notwendig erkennen. Darauf wollen wir im begrenzten Rahmen dieses Kapitels nicht weiter eingehen oder zeigen, in
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welchem Sinne die von Kant für bloße transzendentale Voraussetzungen alles Denkens gehaltenen Prinzipien, wie das Kausalprinzip, als Formulierungen in sich selber bestehender Prinzipien und Sachverhalte wahr und in ihrer Wahrheit evident sind.109 Vielmehr stellt sich die Frage, ob nicht ganz andersartige notwendige Voraussetzungen auf anderen Gebieten bestehen, die dennoch für alles Erfahren und Denken vorausgesetzt, bzw. schon in jedem ersten Erfahren und Denken gegeben sind. An dieser Stelle ist es unumgänglich, den Sinn des Begriffs der Voraussetzung noch deutlicher zu klären. Was wir meinen, ist nicht eine Art von Eingeborenheit, kraft deren wir bestimmte Dinge vor jeder Erfahrung schon voraussetzen würden, sondern worum es geht, ist vielmehr die These, daß in jedem Denken und Erfahren diese Gegebenheiten schon mitgegeben sein müssen. Nur weil sie jedoch selbst Gegenstand der Erfahrung und des Kennenlernens sind, nur weil sie sich selbst uns erschließen und nicht schon vom Subjekt her an die Erfahrungsgegenstände herangetragen oder in sie hineingetragen werden, handelt es sich bei diesen Voraussetzungen ja um objektiv bestehende Gegebenheiten bzw. können sie als solche überhaupt erkannt werden. Auch auf den Begriff der Transzendentalität müssen wir hier kurz eingehen, haben wir doch in früheren Werken jede Transzendentalität oder transzendentale Vorausgesetztheit notwendiger Sachverhalte emphatisch geleugnet110 und gerade als das Gegenteil ihrer Transzendenz bezeichnet, da ihre Transzendentalität im kantischen Sinne eben bedeuten würde, daß sie nicht auf der Objektseite und als in sich selbst notwendig eingesehen werden, sondern von der Subjektseite her, also vom Subjekt her bloß notwendig gedacht werden und die Quelle ihrer Notwendigkeit eben nicht von der Sache, sondern von der Subjektivität her stammt. Wie Hoeres und andere gezeigt haben, wäre die Annahme einer derartigen Setzung der Notwendigkeit vom Subjekt her nicht nur völlig unnotwendig, sondern auch unhaltbar, wenn sich diese Notwendigkeit eben durch sich selbst und
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Vgl. Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant (Freiburg/München: Karl Alber, 2001). Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit.
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durch die Notwendigkeit der Sachen selbst begründet.111 In dieser Frage haben wir unsere Meinung nicht im geringsten geändert. Woher kommt dann die positivere Verwendung des Terminus „transzendentale Voraussetzungen“? Einfach daher, daß wir im gegebenen Kontext, einem positiven Anliegen Kants Rechnung tragend und doch zugleich die von ihm vorgeschlagene Methode radikalst revidierend, fragen, ob es nicht Sachverhalte gibt, die ganz abgesehen von ihrer Evidenz (die sich ja auch in vielen nicht solcherart vorausgesetzten Sachverhalten findet) nicht bloß in sich notwendig und einleuchtend sind, sondern auch schlechthin notwendig von allem Erfahren und Denken vorausgesetzt werden. Gerade um solche Voraussetzungen geht es uns hier, wobei wir jedoch zugleich zu zeigen suchen, daß diese Voraussetzungen ihre eigentliche Dignität nicht aus ihrem notwendigen transzendentalen Vorausgesetztsein für alles Denken und Erfahren, sondern aus ihrer objektiven und inneren Notwendigkeit beziehen. Nun fragt es sich auch, ob ausschließlich in sich notwendige Sachverhalte auch notwendig vorausgesetzt werden oder ob es auch viele rein existentielle und faktische Voraussetzungen gibt, die mit gleicher Notwendigkeit von uns vorausgesetzt werden wie in sich notwendige Sachverhalte. Während jedoch bei den letzteren der Grund ihres notwendigen Vorausgesetztseins in ihrer inneren Notwendigkeit läge, bestünde der Grund des notwendigen Vorausgesetztseins bei den faktisch-existentiellen Voraussetzungen nicht in ihrer inneren Notwendigkeit, sondern in deren unumgänglicher objektiver Vorausgesetztheit für die entsprechenden Erkenntnisse und Inhalte bzw. Erfahrungen. Denn da Erfahrungen und Erkenntnisse ja nicht in sich notwendige Seiende sind, sondern in uns nur faktisch existieren, da unser Erkennen und Erfahren nicht ein göttlich-notwendiges ist, so leuchtet auch ein, daß es für alles Erfahren und Denken Voraussetzungen gibt, die nicht der intelligiblen Ordnung des absolut So-seinMüssenden angehören, sondern die ebenso wie unser Denken und Erkennen selbst der Sphäre des Faktisch-Kontingenten zugehören. Unter 111
Vgl. Walter Hoeres, Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie (Stuttgart: Kohlhammer, 1969); “Critique of the Transcendental Metaphysics of Knowing, Phenomenology and Neo-Scholastic Transcendental Philosophy,” Aletheia (1978) I,1, 353-69.
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solchen notwendigen Vorausgesetztheiten für alle Erfahrung und alles Denken ist zunächst unsere eigene Existenz, sowie unser Charakter als Subjekt. Denn ohne zu existieren, können wir auch nicht erfahren und denken. Wir berühren hier die faktisch-tatsächliche Vorausgesetztheit des eigenen Seins, Erfahrens, Denkens für jeden eigenen Erkenntnis- oder Erfahrungsinhalt. Aber auch hier gibt es einen allgemein-universalen Sachverhalt, in dessen Licht wir auch diese faktische Evidenz gewinnen. Denn wir sehen ein, daß dies nicht nur bei unserer Existenz so ist, daß sie für unser Denken und Erfahren vorausgesetzt ist, sondern daß es sich vielmehr schlechthin allgemein so verhält, daß jedes denkende und erfahrende Subjekt existieren muß, um zu denken und zu erfahren. Gleichwohl setzt ein jeder von uns zugleich auch seine eigene, je individuelle und kontingente Existenz voraus, sein eigenes Ich. Und in diesem Sinne handelt es sich hier um faktisch-kontingente Sachen und Sachverhalte, die gleichwohl unvermeidlich von jedem Erfahren und Denken vorausgesetzt werden. Wir meinen hier selbstverständlich nicht jedes Erfahren und Denken überhaupt, oder den im Cogito miterfaßten universalen Sachverhalt, daß jedes reale Denken und Zweifeln in jeder möglichen Welt ein denkendes Subjekt voraussetzt (qui dubitat, est/vivit), sondern das je eigene Denken, das uns im cogito, sum unzweifelbar als reales und lebendiges gegeben ist und unsere eigene Existenz voraussetzt. Doch auch außerhalb den metaphysischen, erkenntnistheoretischen und logischen Sachverhalten, sowie den existentiellen, von denen eben die Rede war, gibt es noch weitere notwendige und universale Voraussetzungen, die sich auf notwendige und allgemeine Wahrheiten beziehen und von jedem Denken und Erfahren vorgefunden bzw. für es vorausgesetzt sind im oben erörterten Sinne. Dazu gehören auch axiologische Erkenntnisse, wie Augustinus in seiner brillanten Analyse des Zweifels und seiner notwendigen Wahrheitsvoraussetzungen erweist. Denn nicht nur jedes Urteil, schon jeder Zweifel setzt gewisse Werterkenntnisse und axiologische Erkenntnisse voraus, z.B. daß Erkenntnis besser ist als Zweifel, daß Irrtum umgekehrt ein größeres Übel ist als Zweifel. Ohne diese Erkenntnis könnte nicht sinnvoll gezweifelt werden, da der Grund des Zweifels in nichts anderem liegen kann, als Irrtümer und Täuschungen vermeiden zu wollen und also einzusehen, daß die Ungewißheit des
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Zweifels der falschen Sicherheit der Täuschung und des Irrtums vorzuziehen ist. Wenn ferner die Wahrheit und ihre Erkenntnis kein Gut wären, das erstrebenswert ist, so wäre auch ohne diese Voraussetzung der Zweifel absolut sinnlos. Ja, eine nähere Analyse zeigt, daß nicht bloß die Tatsache, daß Erkenntnis ein Gut ist, sondern auch jene, daß es sowohl für uns, für die Person, als auch in sich selber im Sinne des Wertes ein Gut ist, vorausgesetzt ist, vorausgesetzt jedoch gerade, weil es einleuchtenderweise und evidenterweise notwendig so ist. Jeder Grund dafür, ein Buch zu schreiben, von einer Erkenntnis zu überzeugen, sie anderen mitzuteilen, bräche ohne jede axiologische Voraussetzung zusammen. Denn ohne eine solche Werterkenntnis, die schon in jedem Denken und Erfahren vorausgesetzt ist, wäre es ja ganz gleich gut, irgendwelche falschen Dinge zu behaupten wie die Wahrheit zu sagen, sich im Irrtum zu befinden wie zu erkennen, und also wäre jedes Streben, jedes Tun, jedes Urteilen, jedes Überzeugenwollen, jedes sich kraft des Zweifels von Irrtum Freihaltenwollen einer intelligibel-rationalen Grundlage völlig beraubt. Wenn jemand die Evidenz von Werten bestreiten wollte und versuchte, uns von deren Nichtexistenz zu überzeugen, so würde er dennoch gerade in diesem Akt des uns Überzeugenwollens voraussetzen, daß es Werte gibt. Denn zumindest darin, daß wir unseren Irrtum von ihrer objektiven Existenz, oder den von unserem Gesprächspartner vermeinten Dogmatismus überwinden, muß von ihm als Ziel unseres Gesprächs und damit als erstrebenswert angesehen werden. Vielleicht könnte jemand einwenden, daß das Gute, das gewiß in jeder Handlung vorausgesetzt ist, doch bloß das rein subjektiv Lustvolle sein mag, da jemand ja rein dadurch motiviert sein könnte, als Ausdruck seiner subjektiven Herrschsucht uns von einer Tatsache zu überzeugen, daß also für ihn der Dialog bloß ein Spiel wäre, in dem es darum ginge, die subjektive Lust intellektueller Superiorität zu erleben. Doch zunächst ließe sich darauf antworten, daß gewiß auch damit eine irgendwie geachtete Bedeutsamkeit vorausgesetzt wird und daher Handeln und Denken ohne irgendeine axiologische Überzeugung unmöglich sind. Ganz abgesehen davon jedoch erhebt sich die Frage, ob nicht mehr als die subjektive Lust daran, uns zu überzeugen, bei jedem sinnvollen Gespräch vorausgesetzt wird, da es ja nicht nur darum geht, daß sowohl der eine als auch der andere Gesprächspartner diese subjektive Lust erleben, sondern daß in
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einem ernsthaften Gespräch beide davon überzeugt sein müssen, daß die Erkenntnis, wie sich die Dinge tatsächlich verhalten, wirklich wertvoll ist und daß die Unwissenheit und der Irrtum über die Wahrheit und Wirklichkeit ein zu meidendes Übel sind. Mit dieser Erkenntnis wird jedoch ein Wert vorausgesetzt, der nicht bloß in der subjektiven Lust besteht, sondern der das objektive Urteil zuläßt, und vor allem einen nicht bloß für mich sondern in sich bestehenden Wert darstellt. 10. Abschließende Bemerkung zur Verteidigung der Brentano’schen Lehre von der Evidenz als letztem Wahrheitskriterium und zur Verwerfung seiner Loslösung der Evidenz von der Adäquatio Es hat sich gezeigt, daß auch die transzendendentale Methode, die als Kriterium für das Vorliegen von Evidenz und Erkenntnis gelten und sich über die Evidenz als letztes Wahrheitskriterium und daher über Brentanos Evidenzlehre erheben will, unhaltbar ist, weil sie ihrerseits zu ihrer Rechtfertigung unmittelbar evidente Erkenntnis und zwar nicht nur Evidenz für Vorausgesetztsein oder Bedingung der Möglichkeit Sein, sondern Evidenz über in sich selber bestehende Sachverhalte voraussetzt und somit Brentano damit, daß Evidenz das höchste und unhintergehbare Kriterium für das Vorliegen von Wahrheit darstellt, vollkommen recht behält, auch wenn wir an wesentlichen Teilen seiner Lehre von der Evidenz Kritik üben mußten. Unsere Hauptkritik aber bezog sich auf den Versuch Brentanos, seine Evidenztheorie der Wahrheit als Wesenstheorie der Urteilswahrheit zu verstehen und von der Wahrheit als Adäquation an bestehende Sachverhalte loszulösen, was sich als unhaltbarer und widersprüchlicher Versuch erwiesen hat, der auch der letzten, objektivistisch-realistischen Intention dieses großen Philosophen entgegengesetzt ist. Die Theorie Franz Brentanos, die wir als zweite neben der Adäquationstheorie erwähnt haben, ist weder die einzige noch die einflußreichste Alternative zur Adäquationstheorie als Theorie über Wahrheit, wenn sie auch vielleicht die tiefsinnigste und am meisten Wahres enthaltende der unrichtigen Wahrheitstheorien ist. So behandeln wir als nächste mit der Adäquationslehre der Wahrheit in Konflikt tretende Theorie der Wahrheit eine viel einflußreichere, aber philosophisch viel ungenügendere Lehre, die
Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit – eine kritische Analyse 125
sich gleichwohl sowohl in der idealistischen Philosophie als auch in der analytischen Philosophie großer Beliebtheit erfreut und die immerhin philosophisch wesentlich mehr Wahres enthält als die Konsenstheorie, die Diskurstheorie oder die pragmatischen Wahrheitstheorien, ja die Kohärenztheorie erhellt einige sekundäre Wesensmerkmale der Wahrheit, wenn auch nicht deren eigentliches Wesen.
KAPITEL 2 DIE KOHÄRENZTHEORIE DER WAHRHEIT – EINE KRITISCHE UNTERSUCHUNG
1. Einleitung Daß Kohärenz ein Wesensmerkmal aller Wahrheit und als solches von fundamentaler Bedeutung innerhalb einer Theorie der Eigenschaften, der Bedingungen und Konsequenzen sowie der Kriterien der Wahrheit ist, wurde von Platon und vielen anderen Philosophen anerkannt. Kohärenz spielt auch eine entscheidende Rolle in der Logik als Bedingung der Wahrheit, wie die klassischen Denker übereinstimmend sahen. Diese Philosophen hätten allerdings niemals eine Identifizierung der Wahrheit mit Kohärenz akzeptiert, sondern haben eine realistische Wahrheitstheorie im Sinne einer Adäquationstheorie der Wahrheit verteidigt und die Bedeutung der Kohärenz nur innerhalb einer solchen Korrespondenztheorie der Wahrheit gesehen. Der Aufweis des Vorhandenseins von Kohärenz steht bei Platon einerseits im Dienst der Intuition und des Nachweises der Gültigkeit und Berechtigung von Wahrheitsansprüchen einer Theorie, ohne allerdings dafür zu genügen, andererseits und vor allem fungiert der Nachweis des Fehlens von Kohärenz als Kriterium im negativen Sinne als Beweis der Falschheit einer Aussage oder Theorie, da von zwei einander widersprechenden Urteilen wenigstens eines falsch sein muß und ferner eine widersprüchliche Theorie niemals wahr sein kann, und nur die Wahrheit vollkommen mit sich übereinstimmt. Eine PlatonStelle, in der sowohl die Tatsache, daß allein die Wahrheit innerlich vollkommen mit sich übereinstimmt, während die Menschen sich oft in ihren Gedanken widersprechen, als auch der Umstand, daß weder Übereinstimmung mit sich selbst noch mit anderen Menschen (Konsens) die Wahrheit ausmachen, zum Ausdruck kommt, findet sich in Platons Gorgias.112 Daher muß eine solche klassische Analyse der Rolle der 112
Platon, Gorgias, 481 d-482 c. Platon spricht auch über die Homologie im Sinne der Korrespondenztheorie, nämlich als Entsprechung zwischen Wahrheit des Urteils und Seiendem, etwa im Kratylos, 421 b-c. Vgl. dazu auch etwa Jan Szaif, „Platon
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KAPITEL 2
Kohärenz innerhalb einer Theorie der Urteilswahrheit scharf von allen Theorien unterschieden werden, welche Kohärenz an die Stelle von Wahrheit setzen, bzw. das Wesen der Wahrheit nur in der Kohärenz der Urteile erblicken. Über eine derartige Kohärenztheorie, die das Wesen der Wahrheit als Kohärenz faßt, hat Nicolas Rescher ein viel beachtetes Buch verfaßt, The Coherence Theory of Truth.113 Eine solche Kohärenztheorie der Wahrheit wurde im 19. und 20. Jahrhundert etwa von den Philosophen F.H. Bradley,114 B. Blanshard,115 B. Bosanquet, T.H. Green,116 also insbesondere von angelsächsischen Anhängern des Deutschen Idealismus vertreten. Sie wird aber auch, aus verständlichen Gründen, wenn auch in einer anderen, positivistischen Version, von einer Reihe von Empiristen und anderen Autoren bis heute entwickelt.117
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über Wahrheit und Kohärenz“, Archiv für Geschichte der Philosophie, (2000); 82(2): 119-148. Der Autor erforscht die Bedeutung des Begriffs Kohärenz innerhalb der platonischen Wahrheitstheorie und verbindet Platons Kohärenzbegriffe (homologia u. ä.) mit seiner dialektischen Methode und seiner realistischen Wahrheitstheorie. Platon selber verwendet die Ausdrücke der Homologie und Symphonie (den letzteren eigentlich – entgegen der Meinung Zaifs – ausschließlich in dieser Bedeutung) auch in ihrem musikalischen Sinn und im Sinne der Harmonie der Liebe, so etwa in Symposium, 187 a-c. Nicolas Rescher, The Coherence Theory of Truth (Oxford: Oxford University Press, 1973). Vgl. ferner L. Bruno Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, SS. 182 ff, sowie Julian Nida-Rümelin, „Praktische Kohärenz“, Zeitschrift für philosophische Forschung (1997); 51(2): 175-192. Nicht alle Autoren finden eine solche Kohärenztheorie bei Bradley. Vgl. etwa Stewart Candlish, “The Truth About F. H, Bradley”, Mind (1989); 98: 331-348. Vgl. Brand Blanshard, The Nature of Thought (New York: Humanities Press, 1964); ders. “A Reply to my Critics”, Idealistic Studies (1974); 4: 107-130. Vgl. auch etwa Paul Healy, “Kant, Blanshard, and the Coherence Theory of Truth”, Idealistic Studies (1988), 18: 266-274. Vgl. Matt Carter, “Ball, Bosanquet and the Legacy of T.H. Green”, History of Political Thought (1999) Winter; 20 (4): 674-694. Vgl. auch Lawrence Bonjour, “Coherence Theory of Empirical Knowledge”, Philosophical Studies (1976); 30: 281-312. Man denke etwa an James O. Young, „Coherence, Anti-realism, and the Vienna Circle,” Synthese (1991): 467-482; ders., Global Anti-realism (Ashgate: Brookfield, 1995); James A. Ryan, “A Defense of the Coherence Theory of
Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung
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Berühmt ist die Kontroverse, die im Wiener Kreis ausbrach, als Moritz Schlick Otto Neurath vorwarf, eine Kohärenztheorie der Wahrheit zu vertreten.118 Vor allem in der analytischen Philosophie ist diese Kohärenztheorie der Wahrheit bis heute weit verbreitet und es gibt nicht wenige, die sogar Tarski, neben einer neuen Version der Korrespondenztheorie und einer konsistenten rein semantischen Wahrheitstheorie, auch eine Kohärenztheorie zuzuschreiben.119 Donald Davidson verteidigt gleichfalls eine Kohärenztheorie der Wahrheit. Dieser sieht es auch zu Recht als ihre Begründung bzw. als ihr notwendiges Korrelat an, daß es keine rationale Erkenntnisbegründung von Wahrheit im Sinne der adaequatio gibt.120 Gibt es nämlich eine rationale Erkenntnisbegründung von Wahrheit im Sinne der Adäquation, so macht eben Korrespondenz mit der Wirklichkeit Wahrheit aus und kann die Kohärenztheorie der Wahrheit nicht stimmen. Doch selbst die Anerkennung einer Erkenntnisbegründung im Sinne einer
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Truth”, Philosophia (1998); 26 (3-4): 525-528; Ansgar Beckermann, „Wittgenstein, Neurath und Tarski über Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung (1995); 49 (4): 529-552. Der Autor erörtert die korrespondenztheoretischen Elemente der Wahrheitstheorie dieser drei Philosophen. Vgl. auch Donald Davidson, „Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und der Erkenntnis“, in: Peter Bieri, (Ed.), Analytische Philosophie der Erkenntnis (Frankfurt: Athenaum, 1987), S. 271-290; ders., Plato’s Philosopher in Modern Thinkers and Ancient Thinkers, R. W. Sharples, (Ed.), (Boulder: Westview Press, 1993). Davidson rückt immer mehr von jedem Versuch ab, Wahrheit zu definieren oder eine bestimmte Wahrheitstheorie zu entwickeln. Vgl. etwa Donald Davidson, “The Folly of Trying to Define Truth”, Journal of Philosophy (1996); 93 (6): 263-278. Vgl. Moritz Schlick, „Über das Fundament der Erkenntnis“, Erkenntnis 4 (1934), S. 79-99. Vgl. auch Thomas Grundmann, “Can Science Be Likened to a WellWritten Fairy Tale? A Contemporary Reply to Schlick’s Objections to Neurath’s Coherence Theory”, Vienna-Circle Institute Yearbook (1996); 4: 127-133. Vgl. ebenfalls Carl-Gustav Hempel, „Schlick und Neurath: Fundierung versus Kohärenz in der wissenschaftlichen Erkenntnis“, Grazer Philosophische Studien (1982); 16/17: 1-18. Vgl. Puntel, a.a.O., SS. 176 ff. Vgl. auch die Diskussion der drei Tarski hauptsächlich zugeschriebenen Wahrheitstheorien (Korrespondenz-, semantische und Kohärenztheorie) in Ansgar Beckermann, „Wittgenstein, Neurath und Tarski über Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung (1995); 49 (4): 529-552. Donald Davidson, „Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und der Erkenntnis“, in: Peter Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis, S. 271-290.
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KAPITEL 2
Begründung der Kohärenztheorie der Wahrheit würde wiederum sowohl in der Aussage über das Wesen der Wahrheit als Kohärenz als auch in der Feststellung tatsächlicher Kohärenz einer Theorie wiederum Erkenntnis der Wahrheit als Korrespondenz und deren Rechtfertigung voraussetzen. Nicolas Rescher, der diese Theorie zwar nicht schlechthin annimmt, ist dabei immerhin, obwohl er sie in vieler Hinsicht verteidigt, einer derer, die Kritik an ihr üben und sie deshalb nur unter erheblichen Einschränkungen vertritt, vor allem der wichtigen, daß er die Kohärenztheorie der Wahrheit primär nur als eine kriteriologische Wahrheitstheorie deutet.121 Vielleicht kann man zuerst einige Gründe beschreiben, aus denen die Kohärenztheorie der Wahrheit hervorgegangen ist. Diese Gründe sind nur sehr zum Teil diejenigen Argumente, die Franz Brentano bewogen haben, die Adäquationstheorie zu verwerfen, ja sie stehen teilweise in radikalem Gegensatz zu Brentanos Philosophie der Wahrheit. Denn es ist vor allem – ganz im Gegensatz zu Brentanos Position – ein Skeptizismus in bezug auf die Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit überhaupt und insbesondere von Evidenz in der Erkenntnis, was zur Kohärenztheorie der Wahrheit führt. Wir finden am besten heraus, welche Überlegungen zur Kohärenztheorie der Wahrheit Anlaß gegeben haben, wenn wir uns die eingangs erörterten möglichen Bedeutungen und Aufgaben von Wahrheitstheorien in Erinnerung rufen. Wie wir gesehen haben, können Wahrheitstheorien (1) Theorien über das Wesen der Wahrheit, (2) über Wahrheitsbedingungen, (3) über Folgen und Implikationen der Wahrheit, (4) über ‚Wahrmacher‘ oder gegenständliche Korrelate der Wahrheit, (5) oder über das Kriterium der Erkenntnis von Wahrheit sein. Erst wenn wir Aufgaben und Antworten der nun zu behandelnden besonders dunklen und konfusen Wahrheitstheorie als Antwort auf alle diese Fragen begreifen, können wir die Kohärenztheorie der Wahrheit angemessen kritisch prüfen.
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Bemerkenswert sind dazu Puntels Kritiken, nach denen sich Rescher einer Inkonsistenz schuldig macht. Rescher, a.a.O., SS. 200 ff. Vgl. dazu gleichfalls die kritische Studie, die eine ähnliche Inkonsistenz der Wahrheitstheorie Reschers feststellt: Geo Siegwart, „Korrespondenz und Kohärenz: Fragen an ein Versöhnungsprogramm“, Journal for General Philosophy of Science (1993); 24(2): 303313.
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Der hauptsächliche Ausgangspunkt der Kohärenztheorie, die nicht nur das Wesensmoment der adaequatio aus der Idee der Wahrheit zu entfernen sucht, sondern den von Brentano festgehaltenen Bezug der Erkenntnis der Wahrheit zur Evidenz ausschaltet, besteht darin, daß nicht nur Brentanos „Evidenztheorie der Wahrheit“, sondern das Phänomen evidenter Erkenntnis der Wahrheit überhaupt aus verschiedenen Gründen verworfen wurde. Dies wiederum hat seinerseits besondere historische Wurzeln, welche die Verquickung der Verwerfung einer Adäquationstheorie der Wahrheit mit der Kohärenztheorie der Wahrheit verständlich erscheinen lassen. Eine sehr wesentliche Wurzel der Kohärenztheorie der Wahrheit liegt in der Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaft. So ist man sowohl in der modernen Naturwissenschaft, zum Beispiel in der modernen Physik, aber auch in der modernen Mathematik, von dem klassischen Gedanken abgewichen, daß die Fundamente der Mathematik und der Physik sowie deren grundsätzliche Korrespondenz mit der Wirklichkeit evident sind. Die klassischen Mathematiker setzen sowohl evidente Axiome und Prinzipien der Mathematik als auch Wahrheit im Sinne der Korrespondenz (Adäquation) voraus. Bei Euklid und in der antiken Philosophie der Mathematik, wie sie aus den Elementen Euklids spricht und in Dokumenten zahlreicher Autoren der Philosophie und Mathematik, wie sie von Heath in seinem Kommentar über dieses Werk zusammengetragen wurden,122 finden wir praktisch übereinstimmend den Gedanken, daß die letzten Fundamente der Wissenschaft der Mathematik, die ersten Prinzipien, Definitionen, Postulate und Axiome, von denen das Gebäude der mathematischen Erkenntnis seinen Ausgang nimmt, evidente Wahrheiten sind, daß also mathematische Prinzipien auf Sachverhalten beruhen, die unmittelbar einleuchtend sind, und aus auf diese aufgebauten Beweisen, und daß also mathematische Erkenntnisse wirklich so und so beschaffene Gesetze der Zahlen oder der geometrischen Figuren erfassen und zutreffend formulieren. Aus verschiedenen Gründen wurde diese Überzeugung verworfen, etwa auf Grund des im 19. Jahrhundert zuerst durch den Jesuitenpater, Philosophen und Mathematiker Giovanni Girolamo Saccheri (1667-1733) 122
Thomas L. Heath; transl., introd., comm., The Thirteen Books of Euclid’s Elements, pp. 2-151.
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KAPITEL 2
– aus dem gescheiterten Versuch der Ableitung des Palallelenaxioms (5. Postulates) aus den übrigen Postulaten – erbrachten Nachweises, daß das 5. Postulat der euklidischen Mathematik, das sogenannte Prallelenaxiom, von den ersten vier Postulaten logisch unabhängig ist. Saccheri sah dies mit vollem Recht als Nachweis dafür an, daß Euklid zu Recht das 5. Postulat als eigenes und unableitbares Prinzip der Geometrie erkannt hatte. In seinem 1733 erschienenen Buch Euclides ab Omni Naevo Vindicatus (Euklid, von jedem Makel freigesprochen), das den Beweis enthielt, daß man widerspruchsfreie nicht-euklidische Geometrien entwickeln kann, sah er gerade in der Evidenz der Wahrheit des Parallelenpostulats und seiner logischen Unabhängigkeit von den übrigen den Erweis der Perfektion der Euklidschen Geometrie. Daher wurde nicht wegen seiner Unabhängigkeit, sondern erst von ganz anderen philosophischen Voraussetzungen aus das 5. Postulat Euklids ernsthaft aufgegeben, das in einer seiner äquivalenten Versionen besagt: In einer Ebene kann zu einer gegebenen Geraden durch einen gegebenen Punkt, der außerhalb der Linie liegt, immer nur eine und ausschließlich eine parallele Linie, die diese Gerade niemals schneidet, gezogen werden. Es kann also nach Euklid auf einer Ebene nur eine einzige Parallele zu einer gegebenen Linie geben, die durch einen gegebenen Punkt außerhalb der Linie gezogen wird; und zweifellos hält Euklid dies für eine evidente Wahrheit und Formulierung eines unabhängig vom Subjekt bestehenden mathematischen Sachverhalts. Von diesem Parallelenpostulat wurde von Sachheri gezeigt, daß es eigenständig und mit den anderen vier Postulaten der euklidischen Geometrie nicht notwendig verknüpft ist. Daraus folgt freilich, daß man zu mancherlei mathematischen Zwecken nützliche Geometrien entwerfen kann, die scheinbar so evidente Sachverhalte, wie daß es nur eine Parallele zu einer gegebenen Geraden durch einen Punkt, der außerhalb der Geraden liegt, geben kann, verwerfen. Sachheri bewies dies, glaubte aber (mit vollstem Recht), daß die gegenteiligen mathematischen Postulate (wie daß keine oder mehr als eine Parallele durch den gegebenen Punkt außerhalb der Geraden gezogen werden könnten) zwar logisch konsistent und mit den ersten vier Axiomen der euklidischen Geometrie kohärent, der Sache nach aber falsch und absurd sind. Die nicht-euklidischen Geometrien hingegen erklärten solche absurden Sätze nicht nur für praktisch nützlich, sondern auch für den euklidischen
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ebenbürtig oder sogar aus pragmatischen oder anderen Gründen für diesen überlegen. So schien die Evidenz der euklidischen Geometrie und damit die Evidenz von Wahrheit überhaupt zu fallen. Kline führt in seinem Buch über Philosophie der Mathematik123 aus, wie ausgehend von solchen Entwicklungen in den verschiedenen Theorien der modernen Mathematik der Begriff der Evidenz als Grundlage der Mathematik und der Begriff der evidenten Wahrheit der Axiome der Mathematik, etwa im Intuitionismus von de Breuwer und im Formalismus, im Konventionalismus von Poincaré usw., weitgehend fallengelassen wurden und wie infolgedessen die Wahrheit selbst als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit radikal in Frage gestellt wurde.124 Kline führt aus, daß durch diese Entwicklung die „Heiligkeit der Wahrheit“ verloren gegangen und die Hoffnung auf den Besitz mathematischer und anderer Wahrheiten zerschmettert und zunichte gemacht worden sei.125 Solche pauschalen Behauptungen mögen
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Siehe Morris Kline, Mathematics in Western Culture (London/Oxford/New York: Oxford University Press, 1974), pp. 410 ff. Morris Kline, ebd., S. 429 f.: The creation of non-Euclidean geometry cut a devstating swath through the realm of truth. Like religion in ancient societies mathematics occupied a revered and unchallenged position in Western thought. In the temple of mathematics reposed all truth, and Euclid was its high priest. But the cult, its high priest, and all its attendants were stripped of divine sanction by the work of the unholy three: Bolyai, Lobatchevsky, and Riemann. It is true that in undertaking their Research those audacious intellects had in mind only the logical problem of investigating the consequences of a new parallel axiom. It certainly did not occur to them at the outset that they were challenging Truth itself. And as long as their work was regarded only as an ingenious bit of mathematical hocus-pocus, no serious questions were raised. The moment men realized, however, that the non-Euclidean geometries could be valid descriptions of physical space, an inescapable problem presented itself. How could mathematics, which had always claimed to present the truth about quantity and space, now offer several contradictory geometries? No more than one of these could be the truth... perhaps the truth was different from all these geometries... In depriving mathematics of its status as a collection of truths, the creation of nonEuclidean geometries robbed man of his most Respected truths and perhaps even of the hope of ever attaining certainty about anything...The end of the dominance of Euclidean geometry was the end of the dominance of all such absolute standards.
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Vgl. auch Morris Kline, Mathematics in Western Culture, S. 430; ders., Mathematical Thought from Ancient to Modern Times (Oxford: Oxford University Press, 1972, 1990); ders., Mathematics. The Loss of Certainty (Oxford: Oxford University Press, 1980).
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KAPITEL 2
übertrieben sein, haben jedoch rein historisch gesprochen zweifellos einen wahren Kern. Auf Grund dieser Vorgänge trat bei vielen Autoren das Ideal der logischen Kohärenz einer Theorie an die Stelle ihrer Wahrheit. Man könnte im Anschluß an Morris Kline sagen, daß die Krise des Gedankens der Evidenz der Axiome in der Mathematik und damit auch in der Physik und in den Naturwissenschaften eine wichtige Wurzel für die Kohärenztheorie der Wahrheit ist. (Darauf, daß Gödels Unvollständigkeitssätze eine neue Krise auch des Kohärenzgedankens bewirkten, werden wir später zurückkommen). Daneben gibt es viele andere Einflüsse auf den Ursprung der Kohärenztheorie, etwa die Idee des Deutschen Idealismus, die schon Kants kritische Philosophie formulierte, daß wir nicht die Dinge an sich selbst, sondern nur Erscheinungen erkennen können, sodaß das Subjekt gleichsam das einzige Kriterium der Wahrheit wird und wir aus diesem Grund die Übereinstimmung eines Urteils mit einer vom Subjekt unabhängigen Wirklichkeit gar nicht erkennen können, was Fichte zur drastischen Aussage führt: Die Wahrheit an sich aber ist bloss formal. Uebereinstimmung und Zusammenhang in allem, was wir annehmen, ist Wahrheit, sowie Widerspruch in unserem Denken Irrthum und Lüge ist. Alles im Menschen, mithin auch seine Wahrheit, steht unter diesem höchsten Gesetze: sey stets einig mit dir selbst!126
Und Kant sagt dasselbe in weniger drastischer Form. Obwohl Kant äußerlich betrachtet an der Korrespondenztheorie der Wahrheit festzuhal126
Johann Gottlieb Fichte, Vermischte Schriften und Aufsätze (1786-1811), „Ueber Belebung und Erhöhung des reinen Interesse für Wahrheit“, VIII344. Man müßte hier die besondere transzendentalphilosophische Gestalt einer solchen Kohärenztheorie der Wahrheit bei Kant herausarbeiten. Die These, daß Kant eigentlich eine Kohärenztheorie der Wahrheit vertritt, verteidigt auch Dietmar Koveker, „Zwischen ‚objektiver Gültigkeit‘ und ‚subjektiv-notwendigem Probierstein‘ der Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung (April-Juni 1995), 49 (2), 274-293. Vgl. auch J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II. Teil, sowie ders., Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.
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ten scheint, stimmt Kant nicht an allen Stellen der klassischen Wahrheitsdefinition zu, sondern bestimmt Wahrheit in vielen Kontexten im Sinne einer rein subjektiven Kohärenztheorie der Wahrheit, einer „in sich Stimmigkeit der Vernunft mit sich selber“, so etwa wenn er sagt: Denn die formale Wahrheit besteht lediglich in der Zusammenstimmung der Erkenntniß mit sich selbst bei gänzlicher Abstraction von allen Objecten insgesammt und von allem Unterschiede derselben.127
Obwohl Kant diesen kohärenztheoretischen Wahrheitsbegriff nur auf die formale Logik beschränkt und hinsichtlich der Wahrheit materialer Urteile am Korrespondenzbegriff der Wahrheit festhält, untergräbt die Einführung eines kohärenztheoretischen Wahrheitsbegriffs in die formale Logik auch den Adäquationsbegriff der Wahrheit überhaupt. Denn die kohärenztheoretische Deutung der Urteilswahrheit trifft genausowenig auf die Kennzeichnung der Wahrheit formallogischer Gesetze wie auf die in diesen enthaltene, von allem Inhalt abstrahierende, Wahrheit von Prämissen und Konklusionen in formallogischen Argumenten zu, weshalb Kants kohärenztheoretische Umdeutung der Wahrheit in der formalen Logik in bloße Kohärenz den Wahrheitsbegriff überhaupt aushöhlt. Betrachten wir die zitierte Stelle in ihrem weiteren Kontext, so ergibt sich im Licht der Analysen der letzten beiden Kapitel, daß auch der Begriff der Kohärenz von Kant nicht in einem rein logischen Sinn, sondern auch in den Bedeutungen der Erkenntniswahrheit sowie einer „transzendental-psychologistischen“ Weise gedeutet wird: IX51 .... In dieser Übereinstimmung einer Erkenntniß mit demjenigen bestimmten Objekte, worauf sie bezogen wird, muß aber die materiale Wahrheit bestehen. Denn ... … die formale Wahrheit besteht lediglich in der Zusammenstimmung der Erkenntniß mit sich selbst bei gänzlicher Abstraktion von allen Objekten insgesammt und von allem Unterschiede derselben. Und die allgemeinen formalen Kriterien der Wahrheit sind demnach nichts anders als allgemeine logische Merkmale der Übereinstimmung der Erkenntniß mit sich selbst oder – welches einerlei ist – mit den allgemeinen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft. 127
Immanuel Kant, Logik (1800), Einleitung, IX 51-52.
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KAPITEL 2 Diese formalen, allgemeinen Kriterien sind zwar freilich zur objektiven Wahrheit nicht hinreichend, aber sie sind doch als die conditio sine qua non derselben anzusehen. Denn vor der Frage: ob die Erkenntniß mit dem Objekt zusammenstimme, muß die Frage vorhergehen, ob sie mit sich selbst (der Form nach) zusammenstimme? Und dies ist Sache der Logik.
In damit eng verknüpfter Weise meint Kant, es gäbe keinen direkten positiven Beweis oder eine evidente Erkenntnis der Wahrheit seines Systems und der kopernikanischen Wende als der Wirklichkeit entsprechend. Deshalb betrachtet Kant die Widerspruchsfreiheit seines Systems, die allein die ‚Antinomie der reinen Vernunft‘ durch Auflösung der sonst unvermeidlichen Antinomien herbeiführen könne, in dem Vorwort zur Zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft als den einzigen Probierstein für die Wahrheit seiner kritischen Philosophie: also Kohärenz als einziges Wahrheitskriterium.128 128
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. III, Vorrede zur Ausgabe B: Aber hierin | BXX liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten Würdigung unserer Vernunfterkenntniß a priori, daß sie nämlich nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt liegen lasse. Denn das, was uns nothwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst nothwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt. Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntniß richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; dagegen, wenn man annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr als Erscheinungen richten sich nach unserer Vorstellungsart, der Widerspruch wegfalle; und daß folglich das Unbedingte nicht an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst angetroffen werden müsse: so zeigt sich, daß, was wir Anfangs nur zum Versuche annahmen, gegründet. |
Vgl. auch den folgenden Text aus Kritik der reinen Vernunft, B 453: Die transscendentale Vernunft also verstattet keinen anderen Probirstein, als den Versuch der Vereinigung ihrer Behauptungen unter sich selbst und mithin zuvor des freien und ungehinderten Wettstreits derselben unter einander, und diesen wollen wir anjetzt anstellen.*
Vgl. zur Kritik dieser Thesen Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.
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Der Subjektivismus der Theorie der Erkenntnis, der sich aus Kants kritischer Philosophie und wiederum in anderer Form auch aus David Humes Skeptizismus und der analytischen und empiristischen Philosophie ergibt, sowie der Skeptizismus und Subjektivismus in ihren zahlreichen anderen idealistischen und empiristischen Ausgestaltungen haben dazu geführt, daß man den Begriff der Wahrheit als Übereinstimmung des Urteils mit der Wirklichkeit fallengelassen und deren Erkenntnis oder ein Kriterium für solche Übereinstimmung für unmöglich erachtet hat. Daher hat man nach einem neuen Kriterium, ja nach einer neuen Wahrheitsdefinition gesucht und fand manchmal das eine, manchmal die andere in der bloßen Kohärenz. Auch Hegels Philosophie könnte man als einen Haupteinfluß anführen, der zur Kohärenztheorie der Wahrheit beitrug, weil sie eine Philosophie ist, die die Ganzheit aller Urteile des Weltgeistes und des absoluten Geistes, aller Erscheinungsformen der Geschichte, aller Systeme, als die Wahrheit angenommen und übrigens auch Bradleys Kohärenztheorie der Wahrheit am direktesten beeinflußt hat. Zwar kann man nicht gerade sagen, daß Hegel ein besonderes Bedürfnis nach Kohärenz hatte, meinte er doch, wahre Urteile auf der höchsten Ebene der Vernunft können auch einander widersprechen, was nur auf der untergeordneten Ebene des Verstandes ausgeschlossen sei. Hegels Idee der Dialektik und der Aufhebung des Widerspruchsprinzips ist also eigentlich eine Idee, die Anti-Kohärenz zum Prinzip erhebt, aber immerhin ist die Idee der Wahrheit als des Ganzen aller Gedanken und aller Systeme und aller menschlichen Erscheinungsformen, sowie Hegels Versuch, alle Widersprüche zwischen Philosophien letzten Endes als Schein zu erklären, da sie sich auf einer tieferen Ebene alle als Teile der einen und trotz all ihrem Widerspruch kohärenten Wahrheit erwiesen, sicher mit einer der Gründe, aus denen die Kohärenztheorie erwachsen ist. Hegel vertritt sozusagen eine radikale und dialektische Kohärenztheorie der Wahrheit, welche die Wahrheit nach Analogie eines lebendigen Organismus als eine Ganzheit versteht, in welcher auch widersprüchliche Elemente und Systeme als kohärente und freundlich ergänzende Teile des Ganzen erscheinen.129
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Vgl. etwa:
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KAPITEL 2
Doch gehen wir nicht weiter auf die Geschichte der Kohärenztheorie ein, sondern konzentrieren uns vielmehr auf das wesentliche Faktum, daß die Kohärenztheorie der Wahrheit aus einem Zusammenbruch des Gedankens entsprungen ist, daß die Adäquation zwischen Urteil und Sachverhalt überhaupt erkannt werden kann und daß diese Adäquation, selbst wenn sie erkannt werden könnte, mit irgendeinem Kriterium festgestellt werden müßte, das auf Objektivität Anspruch machen darf. Das könne aber in nichts anderem liegen als in der Konsistenz und Kohärenz verschiedener Evidenzen. Deshalb dürfe Wahrheit, oder zumindest als solche erkannte Wahrheit, nur noch als das Ganze eines kohärenten Systems von Sätzen verstanden werden. Insofern ist die Kohärenztheorie unter anderem aus einer Verzweiflung am Phänomen der Evidenz, das Brentano zum Herzstück seiner Wahrheitstheorie gemacht hatte, entsprungen. Und weil man überdies keine Erkenntnis und kein Kriterium für Wahrheit im Sinn der adaequatio mehr annahm, suchte man verständlicherweise nach einer anderen Bestimmung der Wahrheit, die zumindest scheinbar das ganze Problem des Kriteriums und der Erkenntnis der Übereinstimmung zwischen Urteil und Wirklichkeit vermeidet: Kohärenz.
So fest der Meinung der Gegensatz des Wahren und des Falschen wird, so pflegt sie auch entweder Beistimmung oder Widerspruch gegen ein vorhandenes philosophisches System zu erwarten und in einer Erklärung über ein solches nur entweder das eine oder das andere zu sehen. Sie begreift die Verschiedenheit philosophischer Systeme nicht so sehr als die fortschreitende Entwicklung der Wahrheit, als sie in der Verschiedenheit nur den Widerspruch sieht. Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus. Aber der Widerspruch gegen ein philosophisches System pflegt teils sich selbst nicht auf diese Weise zu begreifen, teils auch weiß das auffassende Bewußtsein gemeinhin nicht, ihn von seiner Einseitigkeit zu befreien oder frei zu erhalten und in der Gestalt des streitend und sich zuwider Scheinenden gegenseitig notwendige Momente zu erkennen.
[Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 3-4. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 15671-15672 (vgl. Hegel-W Bd. 3, S. 12)].
Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung
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Theorien der Wahrheit, die die Adäquationstheorie ersetzen, haben sich in vielen Formen dargestellt. Es gibt viele Wahrheitstheorien, die aus dieser Wurzel stammen, wie den Pragmatismus; eine wichtige unter ihnen ist aber auch die Kohärenztheorie. Die erste Frage, die sich angesichts der Kohärenztheorie der Wahrheit stellt, ist diejenige nach der Bedeutung dieses Terminus selbst. Denn die Kohärenztheorie ist eine überaus unklare Theorie, worauf ebenfalls Rescher hinweist. Man weiß bei vielen Autoren häufig überhaupt nicht wirklich, was mit Kohärenz gemeint wird noch worin genau der Bezug zwischen Kohärenz und Wahrheit bestehen soll. Das gilt selbst dann, wenn man Kohärenz als bloße Widerspruchsfreiheit begreift. 2. Was heißt Kohärenz? Unter Kohärenz kann sehr Verschiedenes verstanden werden: 2.1. Widerspruchsfreiheit oder Nichtwidersprüchlichkeit
Zunächst kann man unter Kohärenz einfach Widerspruchsfreiheit oder Nichtwidersprüchlichkeit verstehen. Wie wir sehen werden, kann man dieselbe sowohl Urteilen als auch Erkenntnissen als auch Sachverhalten bzw. der Wirklichkeit selbst zuschreiben. Die Nichtwidersprüchlichkeit oder Widerspruchsfreiheit, die in dieser ersten Bedeutung des Wortes als Kohärenz bezeichnet wird, kann wiederum entweder eine formale Widerspruchsfreiheit oder eine materiale sein. Unter einer formalen Widerspruchsfreiheit verstehen wir hier, daß die Wirklichkeit selbst sowie die wahren Urteile dem Widerspruchsprinzip notwendig gehorchen. Daher können weder des Sein noch wahre Urteile das Widerspruchsprinzip verletzen. Dabei besteht zwischen dem ontologischen und dem logischen Widerspruchsprinzip sowie zwischen der Weise, in der Sachverhalte dem ontologischen und Urteile dem logischen Widerspruchsprinzip gehorchen, ein wesentlicher Unterschied. Im Sein selbst und zwischen verschiedenen Sachverhalten kann es nämlich keinerlei wirklichen Widerspruch geben, zumindest wenn man eine
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KAPITEL 2
Deutung des Seins als in sich widersprüchlich ablehnt, wie Hegel und andere Philosophen, die eine ontologische Dialektik des Widerspruchs annehmen, dies voraussetzen.130 In der Sphäre der Urteile hingegen besagt das Widerspruchsprinzip etwas anderes: daß nämlich von zwei kontradiktorischen Urteilen nicht beide wahr sein können. Daher herrscht das Widerspruchsprinzip im Reich der Urteile nur, insofern es Widersprüche innerhalb wahrer Urteile ausschließt, nicht aber insofern es Widersprüche, die im Reich des Seins nicht existieren können, im Reich der Urteile ganz ausschlösse. Im Gegenteil, im Reich der Urteile kommen viele Widersprüche vor, sodaß ausschließlich im Reiche wahrer Urteile Widersprüche ausgeschlossen sind. 2.1.1. Formalontologische Widerspruchsfreiheit
Wenn Aristoteles damit recht hat, daß das Sein und Nichtsein ein und derselben Sache im selben Sinn und zur gleichen Zeit einander ausschließen, dann folgt daraus, daß die Wirklichkeit selbst, das Seiende selbst, frei von Widerspruch sein muß. Die schlechthin absolute Gültigkeit des Widerspruchsprinzips also, das Aristoteles im Buch G der Metaphysik hervorhebt und als gewissestes aller Prinzipien bezeichnet, garantiert die Widerspruchsfreiheit des Seins. Nur wenn man, wie etwa Hegel oder Marx, die universale Anwendbarkeit und Wahrheit des Widerspruchsprinzips für alle Wirklichkeit und alles Sein leugnet oder in Frage stellt, kann man diese Kohärenz der Wirklichkeit im Sinne der Widerspruchsfreiheit leugnen. 2.1.2. Formal-logische Widerspruchsfreiheit
Formale Widerspruchsfreiheit kann auch den Urteilen zugesprochen werden, wenn man nicht mehr das ontologische Widerspruchsprinzip, sondern das logische im Auge hat, das besagt: Von einem Paar einander kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile können nicht beide (zugleich 130
Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.
Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung
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und im selben Sinn) wahr sein. Wenn dieses Prinzip über die Wahrheit, das seinerseits im ontologischen Widerspruchsprinzip begründet ist, wie Alexander Pfänder in seiner Logik131 herauszuarbeiten sucht, zutrifft, dann muß formale Widerspruchsfreiheit auch allen wahren Urteilen zugesprochen werden. Im Gegensatz zum Sein, das nicht von Widersprüchen behaftet sein kann, kann es in Urteilen Widersprüche geben. Deshalb gilt diese formale logische Widerspruchsfreiheit nur von allen wahren, nicht von allen Urteilen schlechthin.132 2.1.3. Materiale Kohärenz bzw. materiallogische Kohärenz
Man kann unter Kohärenz ferner eine materiale oder materiallogische Kohärenz verstehen, nämlich meinen, daß verschiedene Fakten oder verschiedene Urteile nicht bloß dem Widerspruchsprinzip nicht widersprechen, und ihm vielmehr gehorchen müssen, sondern daß sie darüber hinaus den inhaltlichen (materialen) Gesetzlichkeiten nicht widersprechen können oder sollen, die der Natur der jeweiligen Sache entstammen. In der Logik kennen wir materiallogische Schlüsse, wie etwa, daß daraus, daß der Gegenstand A links von B sich befindet, (von demselben Gesichtspunkt aus) folgt, daß B rechts von A ist, oder daß wenn AF ein zukünftiges Ereignis meint und BF weiter in der Zukunft liegt als AF, jedes XP (jedes vergangene Ereignis) vor AF und BF stattgefunden haben muß, oder daß wir aus der Existenz von Schuld auf Freiheit schließen können. Keiner dieser Schlüsse gründet in rein formal-logischen Gesetzen, sondern in der Natur der jeweiligen Gegebenheit oder notwendigen Wesenheit. Solche materiallogischen Schlüsse, zu denen auch Analogieschlüsse zählen, beruhen nicht auf formal-logischen Wahrheitszusammenhängen zwischen den Prämissen (bzw. deren logischer Form) und der Konklusion, auf Grund deren die Behauptung von Schuld formal-logisch die der Freiheit implizieren würde, sondern vielmehr nur auf dem inhaltlichen Verständnis
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Pfänder, Logik. In diesem Sinne kann man auch den Kohärenzbegriff in O. Neuraths „Soziologie im Physikalismus“ entwickelte Kohärenztheorie verstehen, wenn auch nur von Sätzen spricht und die ontologische Fundierung der Logik außer Acht läßt.
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KAPITEL 2
der entsprechenden Sachen selbst.133 Oder wenn wir schließen, daß ein Mädchen, das ein Kind erwartet, sexuelle Beziehungen mit einem Mann (oder, wie die Griechen glaubten, auch mit einem Gott) gehabt haben, künstlich befruchtet worden oder daß ihr ein in vitro befruchtetes Ovum bzw. ein Embryo eingepflanzt worden sein oder (wie die Christen dies von der Jungfrau Maria glauben), vom Hl. Geist direkt empfangen haben muß, so beruht ein solcher Schluß nicht auf der formallogischen Beziehung zwischen dem Urteil, daß das Mädchen ein Kind erwartet, und der Konklusion, die daraus gezogen wird, sondern vielmehr auf der inhaltlichen Eigenart der menschlichen Fortpflanzung und den künstlichen oder wunderbaren Formen derselben. Dennoch werden wir eine Rede, in welcher solchen material-logisch aus einem Urteil folgenden Urteilen widersprochen wird, als widersprüchlich erkennen. Kohärenz beinhaltet also auch die Vermeidung von inhaltlich bedingten Widersprüchen und eine Widerspruchsfreiheit im Sein und im Urteil. Solange Kohärenz nur bedeutet, daß zwei Urteile, wie zufällig sie auch verbunden sein mögen, keine solche auf der Natur der Sachen beruhenden Gesetze verletzen bzw. zu ihnen in Widerspruch stehen dürfen, ist auch materiallogische Widerspruchsfreiheit eine Eigenschaft, die wir allen wahren Urteilen, sowie in anderem Sinne allen Sachverhalten, zuschreiben können, auch wenn wir selbstverständlich dort, wo keine strengen Wesensnotwendigkeiten vorliegen, mit der Behauptung ausnahmslos gültiger empirischer Gesetze und damit mit der Forderung der materialen Kohärenz aller Sachverhalte und aller wahren Urteile mit der allgemeinen Natur der Dinge vorsichtig sein müssen. Im übrigen bezieht sich der Terminus dieser Kohärenz nicht notwendig auf allgemeine Naturen der Dinge, sondern er kann sich auch auf rein faktische und individuelle Umstände beziehen. 133
Es gibt sowohl unmittelbare material bedingte Schlüsse - vgl. Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hrsg.), Logik, IV. Abschn., A, Kap. 7, S. 282-286 – als auch mittelbare material bedingte Schlüsse wie etwa auf Vergleichsrelationen, auf räumlichen oder zeitlichen Relationen, auf Zusammengehörigkeitsrelationen, auf Abhängigkeits- und Kausalrelationen, auf intentionalen Relationen u.a. aufgebaute Schlüsse, die niemals aus rein formal-logischen Faktoren und Gesetzen, sondern ausschließlich auf Grund der besonderen materialen Beschaffenheit von Gegenständen schlüssig sind. Vgl. zu den mittelbaren material bedingten Schlüssen Alexander Pfänder, Logik, zit., ebd., Abschn. 4 B, Kap. 9, S. 351-354.
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Damit kommen wir schon zu einem weiteren und tieferen Sinn von Kohärenz, der viel mehr bedeutet als bloße Widerspruchsfreiheit. 2.2. Kohärenz als intelligible und sinnvolle Beziehung zwischen Sachen (Sachverhalten), Erkenntnissen oder Urteilen
Unter Kohärenz kann man jedoch auch wesentlich mehr verstehen als Widerspruchsfreiheit und auch mehr als materiale Kohärenz im Sinne des „in Einklang mit bekannten Tatsachen und Naturen Stehen“. Man kann unter diesem Begriff eine intelligible und verstehbare, eine sinnvolle Beziehung meinen, in der verschiedene Sachen, Sachverhalte, oder auch Urteile zueinander stehen. In diesem Sinne entspricht Kohärenz dem, was wir früher im Rahmen der ontologischen Wahrheit als sinnvolle Soseinseinheiten bezeichnet und bereits diskutiert haben. Insoferne etwa der menschliche Körper eine sinnvolle Einheit von Organen, Funktionen, usf. darstellt, ist er ein kohärentes Ganzes, im Gegensatz zu den Stücken und Fetzen eines menschlichen Leibes, der von einer Bombe zerrissen wurde und dessen Glieder und Teile verstreut im Raum liegen. Wo immer eine solche sinnvolle Einheit der Dinge auch in Urteilen formuliert wird, besteht auch innerhalb derselben eine sinnhafte, von den Sachen selbst her verstehbare Einheit. In diesem Sinn könnte man von der Kohärenz eines Romans, einer psychologischen Beschreibung oder einer Interpretation eines Verbrechens durch einen Detektiv sprechen und dann meinen, daß die verschiedenen Urteile und Sätze, die ein solches Ganzes bilden, untereinander in sinnvoller und verstehbarer Weise verknüpft sind. Eine inkohärente Darstellung wäre eine solche, in der jedes innere verstehbare Band zwischen den einzelnen Urteilen fehlen würde. Auch von Erkenntnissen oder Erfahrungen könnte man sagen, daß sie nicht nur nicht widersprüchlich sein, sondern auch in sinnvoller gegenseitiger Beziehung zueinander stehen können. Dieser Begriff von Kohärenz liegt auch dem sogenannten Kohärenzprinzip, dem Grundsatz, daß alles mit einander zusammenhänge, zugrunde. Die Schichtentheorie etwa behauptet ontologische Kohärenzgesetze in diesem Sinn. Auch die Kohärenzfaktoren und Kohärenzmotive, die die Psychologie annimmt, d.h. Teile der Bewußtseinsinhalte oder Bewußt-
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KAPITEL 2
seinsgegenstände, die mit anderen auf Grund von Gestaltprinzipien und anderen Formprinzipien zusammenhängen, setzen diesen Kohärenzbegriff voraus, der keine notwendige, aber doch eine sinnvoll durch ein Formoder Gestaltprinzip begründete Verknüpfung voraussetzt. 2.3. Kohärenz als notwendige Verknüpfung von Urteilen, Wahrheiten, Erkenntnissen, oder Sachverhalten
Schließlich kann man unter Kohärenz noch mehr verstehen, was uns wieder auf die Diskussion der ontologischen Wahrheit zurückführt, nämlich eine schlechthin notwendige Verknüpfung verschiedener Merkmale und Eigenschaften einer Sache oder Wesenheit. Selbstverständlich findet auch eine solche notwendige Wesensbeziehung ihren Widerhall auf der Ebene der Urteile, deren Wahrheit in einer notwendigen gegenseitigen Beziehung stehen kann. In wieder anderer Weise bestehen notwendige Beziehungen in verschiedener Art auch auf der Ebene der Erkenntnis. Wenn man anerkennt, daß es so etwas wie notwendige Wesenssachverhalte und notwendige Wesenheiten gibt, so muß man auch diese tiefere Stufe der Kohärenz, ja diese prinzipiell neue Bedeutung von Kohärenz anerkennen. Wenn man sogar meint, daß alle Dinge, inklusive aller historischen Fakten, letzten Endes in notwendiger Beziehung zueinander stehen, wie dies etwa dem Hegelschen System oder gewissen deterministischen und immanentistischen Gesamtsystemen in der Philosophie entspricht, so behauptet man Kohärenz in diesem stärksten Sinn des Ausdrucks für alle Dinge überhaupt. Man kann sagen, daß eine solche Auffassung der Kohärenz der Wirklichkeit Freiheit, Kontingenz (wirkliche Zufälligkeit des Daseins) und viele andere Daten der Erfahrung leugnen oder radikal umdeuten muß. Überzeugt davon, daß es wirklich nicht-notwendige Tatsachen und Freiheit gibt, verwerfen wir eine solche Fassung der Kohärenz im Sinne einer absolut notwendigen Verknüpfung der gesamten Wirklichkeit energisch, halten es jedoch zugleich aus den früher erörterten Gründen für wahr und für notwendig zuzugestehen, daß innerhalb gewisser Bereiche der Wirklichkeit, und in solcher Weise, daß alle Seienden daran
Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung teilnehmen, schlechthin notwendige Wesensbeziehungen Kohärenz in diesem dritten Sinne (C) bestehen.
und
145 also
3. Kohärenz wovon? Über das Subjekt „der Kohärenz“
3.1. Urteile/Sätze
Auf die Frage, was das Subjekt der Kohärenz ist, kann man zunächst Urteilen oder Sätzen Kohärenz zuschreiben. Dabei ergeben sich noch einmal verschiedene Möglichkeiten: 3.1.1. Ein einziges Urteil
Man kann einem einzigen Urteil Kohärenz im Sinne der inneren Widerspruchsfreiheit (oder auch der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit) zuschreiben. Zweifellos ist es möglich, ein sich selbst aus materialen oder formallogischen Gründen widersprechendes Urteil zu formulieren. Wenn man etwa sagt, „Ich existiere nicht“, so widerspricht sich dieses Urteil jedenfalls materiallogisch. Denn der Inhalt dieses Urteils, die Nichtexistenz, widerspricht dem Subjektsein, das das betreffende Urteil formuliert oder denkt, so wie die cogitatio, die diesem Urteil zugrundeliegt, gemäß den Einsichten Augustins und Descartes‘, der Nichtexistenz widerspricht. Man könnte diesen Widerspruch auch als formallogischen interpretieren, wenn man in dem Urteil formallogisch ein Existenzurteil impliziert sieht, das dann inhaltlich im betreffenden Urteil geleugnet wird. Es gibt auch andere Formen der Kohärenz eines einzigen Urteils, die nicht seine innere Widerspruchsfreiheit betrifft, sondern vielmehr sein Entsprechen einer rein logischen Grammatik, wie Husserl sie in den Logischen Untersuchungen untersucht hat. So wäre die Aneinanderreihung von Begriffen „Ich“, „existieren“, „nicht“ inkohärent in dem Sinne, daß sie überhaupt kein Urteil formulieren, wenn man das möglicherweise hier intendierte Urteil auch vielleicht aus den aneinandergereihten Begriffen erraten wird. In anderen Fällen, wie „Ich“, „Rot“, „gehen“, eignen sich die aneinandergereihten Begriffe nicht einmal prinzipiell, um – in die
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urteilsmäßige Einheit gebracht – zu einem Urteil führen zu können. Es handelt sich also um in noch radikalerem Sinn inkohärente Begriffe bzw. ein inkohärentes und nichtzustandekommendes „Urteil“. Es gibt übrigens auch andere Formen der Verletzung oder Berücksichtigung der Gesetze reiner rein logischen Grammatik, indem nicht bloß sinnlos aneinander gereihte Gedankenarten diese Gesetze verletzen, sondern auch wider den Sinn der rein logischen Grammatik verbundene Begriffsarten kombiniert werden wie „Helfen bittet auf einem doch“. 3.1.2. Kohärenz als Relation zwischen verschiedenen Urteilen (einigen Urteilen)
Unter Kohärenz versteht man gewöhnlich jedoch nicht die innere Kohärenz als eine Eigenschaft eines einzigen Urteils, sondern vielmehr eine bestimmte Art von Relation zwischen verschiedenen Urteilen. Zunächst kann man einer Reihe von Urteilen Kohärenz dann zusprechen, wenn das eine das andere weder leugnet noch ihm per implicationem widerspricht. Auch hier können es wieder entweder formallogische Gründe oder materiallogische Zusammenhänge sein, die eine Reihe einiger Urteile widersprüchlich oder nicht widersprüchlich machen. Wenn man eine Reihe von Urteilen nimmt, die entweder direkt oder durch das, was aus ihnen folgt, anderen Urteilen derselben Reihe direkt widersprechen, so finden wir einen formallogischen Widerspruch und eine formallogische Inkohärenz zwischen solchen Urteilen. Wenn hingegen eine Reihe von Urteilen nur deshalb einen inneren Widerspruch enthält, weil die Natur der Sachen, von denen sie handeln, einen solchen bedingen, können wir von einem materiallogischen Widerspruch reden. Wenn etwa Daniel in seinem Urteil über die Ankläger der Susanna den Widerspruch aufdeckt, der zwischen ihren Äußerungen, unter welchem Baum der angebliche Ehebruch stattfand, bestehen, so handelt es sich um materiallogische Widersprüche. Denn nur, wenn wir die Natur der Bäume und des Aktes des Ehebruchs sowie die Wahrnehmungs- und Erinnerungsfähigkeiten der Menschen kennen und berücksichtigen, zeigt sich die Widersprüchlichkeit, daß derselbe Ehebruch unter zwei verschiedenen Bäumen stattfand. Abstrakt gesprochen könnte ein und dieselbe Handlung unter verschiedenen Bäumen stattgefunden haben. Man muß hier also etwas über
Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung
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die Natur menschlichen Handelns und die Eigenart von Bäumen verstehen, um den von Daniel aufgedeckten Widerspruch zu erkennen. 3.1.3. Kohärenz sämtlicher Urteile/Sätze
Als Träger von Kohärenz innerhalb von Urteilen kommen auch sämtliche Urteile in Frage. Man könnte die Kohärenz aller Urteile behaupten. Doch ergibt sich schnell, sobald man die Wahrheit des Widerspruchsprinzips einsieht, daß eine solche Kohärenz unmöglich bestehen kann, da es einander widersprechende Urteile gibt, ja daß sämtliche wahren Urteile zumindest denjenigen falschen Urteilen widersprechen, die ihre Wahrheit oder die in ihnen behaupteten Sachverhalte leugnen. 3.1.4. Kohärenz als Eigenschaft aller wahren Urteile/Sätze
Schließlich kann man Kohärenz nur allen wahren Urteilen zusprechen und damit zunächst die innere Widerspruchslosigkeit meinen, die ihnen zukommt. In diesem Sinne ist es zweifellos ein objektives Merkmal aller wahren Urteile, daß sie untereinander in keinem Widerspruch stehen können. Wäre ein solcher Widerspruch zwischen wahren Urteilen möglich, so wäre die Einheit der Wahrheit dahin und müßte das logische Widerspruchsprinzip geleugnet werden, d.h. vorausgesetzt werden, daß von einem Paar einander kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile auch beide wahr sein können. Versteht man unter Kohärenz hingegen eine sinnvolle oder notwendige Beziehung, so würde die Behauptung, daß alle wahren Urteile auch kohärent seien besagen, daß zwischen allen wahren Urteilen notwendige Zusammenhänge bestehen. Damit wären wir wieder bei einer Art deterministischer oder hegelianischer Philosophie angelangt, die keinen eigentlichen Platz für kontingente Existenz und Freiheit ließe und deren evidenter Gegebenheit widerspricht.
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KAPITEL 2
3.1.5. Kohärenz im Bereich der Erkenntnis und der Erfahrung
Kohärenz kann auch der Erkenntnis zugesprochen werden. Man könnte sagen, daß sämtliche Erkenntnisse solcher Art seien, daß sie einander nicht widersprächen, indem man etwa mit Platons Dialog Gorgias annimmt, daß Erkenntnis nur von Wahrheit möglich ist.134 Wo deshalb Widerspruch in Bereich des Erkennens vorliegt, besteht nicht wirklich reine Erkenntnis, sondern zumindest teilweise Irrtum. In diesem Sinne ist Kohärenz ein Wesensmerkmal der Erkenntnis, zumindest der Erkenntnis im engeren Sinn.135 Man kann selbstverständlich auch von der Kohärenz der Erfahrung oder einer Vielzahl von Erfahrungen sprechen, worunter man eine Mischung aus Erlebnissen, Erkenntnissen und Meinungen versteht, wird darunter jedoch, zumindest wenn man Erfahrung nicht ausschließlich als Erkenntnis betrachtet, kaum eine universale Kohärenz aller Erfahrungen überhaupt annehmen. Kohärenz ist dann vielmehr eine Eigenschaft, die etwa unsere intersubjektiv geteilte und mitteilbare Wirklichkeitserfahrung von den je individuellen Traumerfahrung abhebt, und der ersten innere Einheit und Nichtwidersprüchlichkeit zuspricht, während die zweite sehr oft widersprüchlich ist und gerade schon aus diesem Grunde als Traumerfahrung von der Realitätserfahrung unterschieden wird. 3.1.6. Kohärenz der Erkenntnis/Erfahrung einer einzigen Person
Kohärenz kann man in den verschiedenen Erkenntnissen oder Erfahrungen einer einzelnen Person ansetzen. In diesem Sinne ist zweifellos die Einheit und formale oder materiale Kohärenz unserer verschiedenen Wirklichkeitserfahrungen und Sinneswahrnehmungen ein wichtiges Kriterium und eine wichtige Grundlage unserer Wirklichkeitserfahrung. Wo wir inkohärente Erfahrungen haben, werden wir uns darum bemühen zu erkennen, welche der inkohärenten Erfahrungen auf Illusion, Täuschung
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Auf epistemologische Wahrheit als Wesensmerkmal der Erkenntnis im engeren Sinn sind wir in Kap. 2 von Wahrheit und Person eingegangen. Siehe dazu J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit, a.a.O., Teil I, Kap. 3.
Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung
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oder Irrtum beruhen. Auch hier kann die Kohärenz selbstverständlich eine formallogische oder eine material-inhaltliche sein. 3.1.7. Kohärenz in der Erkenntnis und Erfahrung verschiedener Personen
Selbstverständlich kann man auch von Kohärenz, sei es im Sinne der Widerspruchsfreiheit, sei es im Sinne einer sinnvollen inneren Verknüpfung, als Relation der Erfahrung verschiedener Subjekte sprechen. In diesem Falle könnte man etwa die gemeinsame Erfahrung der Außenwelt verschiedener Subjekte als kohärent bezeichnen und damit Kohärenz der intersubjektiven Erfahrung bzw. der Erfahrung verschiedener Subjekte zusprechen. Es kann umgekehrt sein, daß in bestimmten Bereichen, sei es in der Philosophie, sei es im Leben, sei es auf der Ebene der Sinneserfahrung, die Erfahrungen verschiedener Personen miteinander inkohärent sind. Je nach den Umständen wird man die Wurzel solcher Inkohärenz in verschiedenen Ursachen suchen, sei es in psychischer Erkrankung einzelner Personen, sei es in Hypnose, Täuschung Einzelner, sei es in der Schwierigkeit, der gemeinsamen Erfahrung auf der Ebene theoretischen Denkens und nachträglicher Mitteilungen über sie treu zu bleiben, (auf diese Weise kann man viele philosophische Meinungsverschiedenheiten erklären), sei es aus anderen Gründen. 3.1.8. Kohärenz der Erfahrung aller Subjekte
Man könnte auch von Gemeinsamkeiten und einer Kohärenz der Erfahrung aller Menschen sprechen, also diejenigen Momente menschlicher Erfahrung meinen, die allen Menschen als solchen gemeinsam sind. 3.1.9. Kohärenz als Eigenschaft objektiver Sachen und Sachverhalte
Selbstverständlich kann man Kohärenz nicht bloß auf der Ebene der Urteile oder der Erkenntnis und Erfahrung erkennen, sondern auch im Bereich der objektiven Sachen und Sachverhalte. Haben wir doch bereits anerkannt, daß das Widerspruchsprinzip alles Seiende und die gesamte Wirklichkeit beherrscht. Wenn dem jedoch so ist, muß auch alles Seiende zumindest in dem formalen Sinne widerspruchsfrei sein, daß zwei
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verschiedene Sachverhalte oder Dinge niemals einander widersprechen können. Die Einheit des Seins als Kohärenz der Wirklichkeit im Sinne der Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit wäre damit ein fundamentales Merkmal des Seins. Man könnte hier von Kohärenz als einer Form der ontologischen Wahrheit sprechen.136 Selbstredend gilt diese Art der Widerspruchsfreiheit nicht von allem, was in irgendeinem Sinne ist, zum Beispiel nicht von den rein intentionalen Gegenständen irriger Meinungen, die einander zwar auch nicht als bestimmte Seiende und Gegenstände bewußter Akte widersprechen können, aber selbstverständlich in ihrem Inhalt und den in ihnen vermeinten Sachverhalten Widersprüche einschließen. Dabei kann man unter Kohärenz wiederum sinnvolle Verknüpfungen zwischen Sachverhalten oder sogar notwendige Zusammenhänge verstehen. In diesen letzteren beiden Bedeutungen wird man Kohärenz manchen, nicht jedoch allen Sachverhalten zusprechen können. 4. Kohärenz womit? Zum Terminus der Kohärenz Man kann jedoch auch fragen, um Kohärenz näher zu bestimmen, womit denn Kohärenz eigentlich angesetzt werde. 4.1. Kohärenz mit sich selbst (innere Kohärenz)
Aus dem früher über die widerspruchsfreien und kohärenten einzelnen Urteile Gesagten geht bereits hervor, daß Kohärenz eine innere Eigenschaft eines Urteils oder Dinges sein kann. Dann verstehen wir unter Kohärenz die Widerspruchsfreiheit eines einzelnen Urteils oder auch die Widerspruchsfreiheit eines einzelnen Seienden. Diese Kohärenz mit sich selbst oder innere Konsistenz und Kohärenz wird jedoch selten mit dem Terminus Kohärenz bezeichnet.
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Diese Art von Kohärenz verteidige ich in Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.
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4.2. Kohärenz mit einigen wahren Urteilen, Erkenntnissen oder Sachverhalten
Meistens wird man Kohärenz als Relation zumindest einiger verschiedener Urteile, Dinge oder Sachverhalte verstehen. In diesem Sinne kann man einen Bericht oder ein Gesamtgefüge von Urteilen dann als kohärent bezeichnen, wenn es weder formallogisch noch materiallogisch Widersprüche zwischen den einzelnen Urteilen, Erkenntnissen oder Sachverhalten gibt, die man annimmt. Wirklichkeit, Sein unabhängig von dem bloßen Angenommensein durch ein Subjekt, muß notwendig in diesem Sinne kohärent sein, Urteile hingegen können sowohl kohärent als auch nicht kohärent sein, und wenn auch reine Erkenntnisse im engeren Sinn schlechthin und von ihrem Wesen her kohärent sind, so kann doch innerhalb der Erkenntnissphäre, insoferne sie mit Urteilen und falschen Annahmen gemischt sein mag, Inkohärenz in diesem Sinne bestehen. 4.3. Kohärenz aller Urteile, aller Dinge, aller Erkenntnisse
Kohärenz kann schließlich als eine Relation zwischen allen Gegebenheiten einer bestimmten Art verstanden werden. In diesem Sinne könnte man mit recht sagen, daß alle Seienden und alle Sachverhalte miteinander kohärent sein müssen, da es in der Wirklichkeit und im Sein keinen Widerspruch geben kann, wie Platon in dem zu Anfang dieses Kapitels zitiertem Text aus dem Gorgias zum Ausdruck bringt. Dies gilt auch alle realen Seienden, für alle echten idealen Gegenstände und idealen Wesenheiten. Für rein intentionale Gegenstände gilt ihre Kohärenz und Widerspruchsfreiheit freilich nur insofern auch sie bestimmte Seiende sind und etwa auch Hamlet nicht zugleich und im selben Sinn der Prinz von Dänemark sein und nicht sein kann, nicht für ihren Inhalt, der durchaus widerspruchsvoll sein kann, da der Geist widersprüchliche Gedanken und damit auch Gegenstände wie viereckige Kreise denken kann, deren Elemente Widersprüche einschließen. Die Gesamtkohärenz der Wirklichkeit, als die Widerspruchsfreiheit der gesamten Wirklichkeit, ergibt sich streng aus dem Widerspruchsprinzip. Aus der Eigenart der Sachgesetze ergibt sich ferner, daß auch Inkohärenz im Sinne des Widerspruchs zur Natur der Dinge oder gar zu
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notwendigen Sachverhalten nicht in der Wirklichkeit möglich ist, zumindest wenn diese sinnvollen oder notwendigen Sachgesetze solcherart sind, daß sie die Wirklichkeit schlechthin beherrschen. Wo es sich um Sollensgesetze handelt, kann selbstverständlich die Wirklichkeit auch von notwendigen Zusammenhängen abweichen. Kohärenz aller Urteile hingegen besteht in keiner Weise. Gibt es ja unter den Urteilen zahllose mögliche und wirkliche Paare einander kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile, von denen das Widerspruchsprinzip gerade besagt, daß sie nicht wahr sein können, eben weil sie inkohärent sind. 4.4. Kohärenz mit der bereits erkannten Wahrheit, Wirklichkeit oder mit der bereits gewonnenen Erkenntnis
Kohärenz als Erkenntniskriterium ist, wie wir sehen werden, oft mit diesem Sinn von Kohärenz befaßt. Wir können von der Widerspruchsfreiheit, oder sogar von der sinnvollen und notwendigen Einheit bestimmter Sachverhalte, Wahrheiten, oder Erkenntnisse mit bereits als wahr erkannten Urteilen oder als wirklich erkannten Sachverhalten sprechen. Wenn Kohärenz notwendige Verknüpfung bedeutet, so ergibt sich aus Kohärenz notwendig die Wahrheit dessen, was mit bereits erkannten Sachverhalten oder Wahrheiten notwendig verknüpft ist. Darauf beruht u.a. die Logik der formal-logischen Schlüsse. Kohärenz, insoferne sie eine bloß sinnvolle, aber nicht notwendige Verknüpfung neuer Sachverhalte, Erkenntnisse oder Urteile mit bereits erkannten Wahrheiten bedeutet, ist kein unfehlbares Kriterium für Wahrheit, wie wir sehen werden, spielt jedoch innerhalb der Kriteriologie der Wahrheit dennoch eine wichtige Rolle, auf die wir zurückkommen werden. In diesem Sinne ist jedoch Kohärenz zweifellos kein schlechthin notwendiges Kriterium der Wahrheit. Wenn Kohärenz bloße Widerspruchsfreiheit bedeutet, so ist, wie Fichte glänzend nachweist, auch wenn wir seinen allgemeinen philosophischen Ansatz in keiner Weise teilen und meinen, dieser widerspreche seinen diesbezüglichen Ausführungen, Kohärenz keineswegs genug, um Wahrheit zu garantieren. Denn etwas kann mit allen von uns erkannten Wahrheiten übereinstimmen, ohne deshalb auch schon wahr zu sein, wie etwa eine
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differenzierte Theorie von Luftgeistern, die mit keinem bekannten Faktum in Widerspruch steht, dennoch aber völlig falsch und willkürlich sein mag. 4.5. Kohärenz als Eigenschaft bzw. Relation aller wahren Urteile, aller Fakten, oder aller Erkenntnisse
Wie bereits vorher erwähnt, muß Kohärenz im Sinne der Widerspruchsfreiheit, wenn auch nicht im Sinne sinnvoller oder notwendiger Verknüpfung, als wesensnotwendige Eigenschaft sämtlicher wahrer Urteile anerkannt werden. In diesem Sinne wäre Kohärenz Merkmal der Wahrheit. Ebenso besteht eine Kohärenz aller wirklich bestehenden Sachverhalte und Wirklichkeiten, aber auch echter Wesenheiten und idealer Seiender, ja sogar tatsächlicher rein intentionaler Gegenstände insofern sie „schwache“ Seiende sind, weil das ontologische Widerspruchsprinzip unbedingt gilt. Und wenn wir die Erkenntnis im engeren Sinn meinen, und erkennen, daß diese Erkenntnis ihrem Wesen nach nur von dem möglich ist, was wirklich ist und daß wir im strengen Sinne niemals das Bestehen kontradiktorischer Sachverhalte erkennen können, so gilt das Prinzip der vollständigen inneren Kohärenz auch von aller Erkenntnis. Natürlich gilt es nur in einem negativen Sinne vom Inhalt rein intentionaler Gegenstände, weil Menschen ständig widersprüchliche Gedanken denken und Sachverhalte, wenigstens implizite, annehmen. 5. Kohärenz und Wahrheit Kohärenz kann in zumindest sieben verschiedenen Weisen in Bezug zur Wahrheit gesetzt werden. Sie kann 1) mit dem Wesen der Wahrheit identifiziert werden. Sie kann 2) als zum Wesen der Wahrheit gehörendes Merkmal betrachtet werden. Sie kann 3) als Wahrheitsbedingung oder 4) als Grund der Wahrheit, oder auch 5) als Kriterium für Wahrheit anerkannt werden. Sie kann 6) schließlich als Konsequenz oder Folge von Wahrheit betrachtet oder mit der 7) Erkenntnis der Wahrheit in Bezug gebracht werden. Wir wollen uns diesen sieben möglichen Interpretationen der Kohärenz im Hinblick auf Wahrheit im Folgenden zuwenden.
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5.1. Kohärenz darf nicht mit dem eigentlichen Wesen der Wahrheit identifiziert werden
Daß die Wahrheit eines Urteils nicht darin besteht, daß dieses Urteil, isoliert von allen anderen betrachtet, kohärent ist und sich nicht selbst widerspricht oder daß es nach den Gesetzen einer rein logischen Grammatik gebaut ist, liegt auf der Hand und dies brauchen wir daher nicht näher zu erörtern, weil offensichtlich der größte Teil falscher Urteile weder sich selbst noch einer rein logischen Grammatik widersprechen. Man denke an die Behauptung: „Die Außentemperatur aller Länder und Kontinente auf dieser Erde ist 5 Millionen Grad Celsius.“ Darüber, daß dieses sich offenbar nicht selbst widersprechende Urteil falsch ist, brauchen wir kein Wort zu verlieren. Wenn man Kohärenz als Wesen der Wahrheit selbst betrachtet, so wäre eine erste minimal plausible Form der Kohärenztheorie die, welche ein System oder ein Ganzes von Sätzen oder von Urteilen dann für wahr erklärt, wenn diese verschiedenen Sätze oder Urteile keinen logischen Widerspruch untereinander einschließen, sei es, daß ein solcher logischer Widerspruch ein rein formallogischer, sei es, daß er materiallogisch begründet wäre. In diesem Sinne könnte man behaupten, daß ein Ganzes von Urteilen dann wahr sei, wenn die in ihm enthaltenen Urteile in sich selbst und miteinander stimmig sind und keinen Widerspruch enthalten. Man könnte diesen Begriff der Kohärenz als Wesensbestimmung der Wahrheit auch dahingehend ausweiten, daß kein Urteil oder Satz in einem kohärenten System, und keine Folge eines solches Satzes, mit anderen Urteilen desselben Gesamtgefüges und mit deren logischen Konsequenzen im Widerspruch stehen darf. Sei es in diesem Sinn kohärent, sei es auch wahr. Nun kann man sich natürlich erstens nach dem näher zu bestimmenden Subjekt dieser Kohärenz fragen. Was wird hier mit einem System oder Ganzen von Urteilen (Sätzen) gemeint? Meint man das einzelne Urteil, so ist zweifellos weder seine logische Widerspruchsfreiheit, noch seine Gemäßheit den Regeln einer rein logischen Grammatik mit seiner Wahrheit zu identifizieren. Denn alle sinnvollen falschen Sätze entsprechen ganz offensichtlich ebenso diesem Kriterium.
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Meint man hingegen jedes Ganze, das aus mehreren (einigen) Urteilen besteht, und behauptet man dann, daß dasselbe schon deshalb wahr sei, weil die einzelnen Urteile einander nicht widersprächen, dann könnte man mit Fichtes Wissenschaftslehre sagen, daß zweifellos Wahrheit nicht in einer solchen Kohärenz bestehen kann, denn wir könnten, wie Fichte (im Widerspruch zur oben zitierten radikal kohärenztheoretischen Aussage) ausführt, ein System von kohärenten Sätzen über Luftgeister entwickeln, die niemand erkannt hat und für deren Existenz es keinerlei Anhaltspunkt gibt, weshalb alle diese kohärenten Urteile wahrscheinlich falsch wären.137 Gleichwohl könnte man ein solches System als ein in sich stimmiges, kohärentes und nicht widersprüchliches System von zahllosen Sätzen über diese Luftgeister entwickeln. Ein solches System wäre völlig widerspruchsfrei und nicht nur in sich, sondern auch mit allen uns bekannten wahren Urteilen kohärent. Nehmen wir an, daß ein solches System keinem einzigen als wahr bekannten Urteil widersprechen würde, so wäre es doch aus diesem Grunde allein in keiner Weise wahr. Im gegebenen Falle wäre ein solches System von Luftgeistern ein reines Produkt der Phantasie und jeder müßte zugeben, daß es mit höchster Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht der Wahrheit der Dinge entspricht, weil es auf keinerlei Evidenz beruhen würde und völlig willkürlich wäre. Die Wahrheit eines solches Systems könnte also nur einem äußersten Zufall zu verdanken sein und deshalb in keiner Weise angenommen werden. Nun könnte der Kohärenztheoretiker sagen, er meine mit einem kohärenten System von Sätzen nicht nur ein bestimmtes partikuläres Ganzes von Urteilen, er meine vielmehr eine kohärente Einheit aller Urteile überhaupt. Aber auch, einen solchen Kohärenzbegriff als Grundlage der Wesensdefinition der Wahrheit einzuführen, geht nicht an. Denn unter allen Sätzen überhaupt gibt es zweifellos viele, die anderen offensichtlich widersprechen. Deshalb ist es absolut unmöglich zu behaupten, alle Urteile die je gefällt wurden, seien wahr, weil sie kohärent seien. Denn sie sind ganz gewiß nicht alle kohärent, sondern widersprechen einander zu einem 137
Siehe Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, S. 31 ff.
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großen Teil. Dies gilt nicht nur für die Philosophie, sondern auch für das tägliche Leben, für Lügen, für Gerichtsprozesse und sonstige Urteile. Daher kann ganz gewiß Kohärenz als Übereinstimmung aller Sätze überhaupt nicht behauptet werden und erst recht nicht das Wesen der Wahrheit ausmachen. Allerdings gibt es Philosophen, die Kohärenz als solche nicht als logische Widerspruchsfreiheit definieren, sondern einerseits in einem stärkeren, andererseits in einem schwächeren Sinn als notwendige Verknüpfung aller Urteile, inklusive widersprüchlicher Urteile. So etwa nimmt, wie schon bemerkt, Hegel eine Art dialektische Kohärenz selbst im Widerspruch an und meint, daß alle Gedanken, einschließlich aller widersprüchlichen Gedanken, notwendig miteinander innerhalb der Entfaltung des Weltgeistes bestehen, also notwendig miteinander verknüpft und zugleich widersprüchlich sind.138 Doch ist dies 138
Vielleicht der bekannteste Satz dieses Inhalts stammt aus der “Vorrede” zu Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe Bd. 3/11: So wird auch durch die Bestimmung des Verhältnisses, das ein philosophisches Werk zu anderen Bestrebungen über denselben Gegenstand zu haben glaubt, ein fremdartiges Interesse hereingezogen und das, worauf es bei der Erkenntnis der Wahrheit ankommt, verdunkelt. So fest der Meinung der Gegensatz des Wahren und des Falschen wird, so pflegt sie auch entweder Beistimmung oder Widerspruch gegen ein vorhandenes philosophisches System zu erwarten und in einer Erklärung über ein solches nur entweder das eine oder das andere zu sehen. Sie begreift die Verschiedenheit philosophischer Systeme nicht so sehr als die fortschreitende Entwicklung der Wahrheit, als sie in der Verschiedenheit nur den Widerspruch sieht. Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird; ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus. Aber der Widerspruch gegen ein philosophisches System pflegt teils sich selbst nicht auf diese Weise zu begreifen, teils auch weiß das auffassende Bewußtsein gemeinhin nicht, ihn von seiner Einseitigkeit zu befreien oder frei zu erhalten und in der Gestalt des streitend und sich zuwider Scheinenden gegenseitig notwendige Momente zu erkennen.
Und ebd. 3/23-3/24: Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein. So widersprechend es scheinen mag, daß das Absolute wesentlich als Resultat zu begreifen sei, so stellt doch eine geringe Überlegung diesen Schein von Widerspruch zurecht. Der Anfang, das Prinzip oder das Absolute, wie es
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zuerst und unmittelbar ausgesprochen wird, ist nur das Allgemeine. Sowenig, wenn ich sage: alle Tiere, dies Wort für eine Zoologie gelten kann, ebenso fällt es auf, daß die Worte des Göttlichen, Absoluten, Ewigen usw. das nicht aussprechen, 3/24 was darin enthalten ist; – und nur solche Worte drücken in der Tat die Anschauung als das Unmittelbare aus. Was mehr ist als ein solches Wort, der Übergang auch nur zu einem Satze, enthält ein Anderswerden, das zurückgenommen werden muß, ist eine Vermittlung. Diese aber ist das, was perhorresziert wird, als ob dadurch, daß mehr aus ihr gemacht wird denn nur dies, daß sie nichts Absolutes und im Absoluten gar nicht sei, die absolute Erkenntnis aufgegeben wäre. Dies Perhorreszieren stammt aber in der Tat aus der Unbekanntschaft mit der Natur der Vermittlung und des absoluten Erkennens selbst. Denn die Vermittlung ist nichts anderes als die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität oder, auf ihre reine Abstraktion herabgesetzt, das einfache Werden. Das Ich oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln ist um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst. — Es ist daher ein Verkennen der Vernunft, wenn die Reflexion aus dem Wahren ausgeschlossen und nicht als positives Moment des Absoluten erfaßt wird. Sie ist es, die das Wahre zum Resultate macht, aber diesen Gegensatz gegen sein Werden ebenso aufhebt, denn dies Werden ist ebenso einfach und daher von der Form des Wahren, im Resultate sich als einfach zu zeigen, nicht verschieden; es ist vielmehr eben dies Zurückgegangensein in die Einfachheit.
Noch drastischer formuliert Hegel diesen Gedanken in seiner Ohlert-Rezension „Der Idealrealismus. Erster Teil. Auch unter dem besonderen Titel: Der Idealrealismus als Metaphysik in die Stelle des Idealismus und Realismus gesetzt. Von Dr. Alb. Leop. Jul. Ohlert“ 11/471-11/472: Der Herr Verfasser wäre glücklich zu 11/472 preisen, wenn ihm in der Welt, in der Natur und in dem Tun und Treiben wie im Denken der Menschen noch keine Widersprüche, wenn ihm noch keine sich selbst widersprechenden Existenzen vorgekommen wären; er sagt mit Recht, der Widerspruch hebe sich auf, aber daraus folgt nicht, daß „er nicht existiert“; jedes Verbrechen, wie jeder Irrtum, überhaupt aber jedes endliche Sein und Denken ist ein Widerspruch; so sehr, daß noch weiter sogar gesagt werden muß, daß es nichts gibt, in dem nicht ein Widerspruch existiert, der sich aber freilich ebensosehr aufhebt. Allein in dem selbst, was darüber vorgebracht ist, ist wohl der größte Widerspruch nicht zu verkennen, die Beschaffenheit des Geistes (Beschaffenheit ist ein Ausdruck, der für den Geist, vollends wo von der Natur desselben die Rede sein soll, wohl ungeeignet ist), nichts Widersprechendes denken zu können, soll selbst die Ursache sein, – von was? – davon, daß man Widersprüche erblickt, nicht mit den leiblichen Augen, die Natur soll keine darbieten, sondern mit den Augen des Geistes, d. i. daß er solche überhaupt in seinem Bewußtsein hat und sogar denkt; sie soll Ursache sein, daß man sie zu lösen sucht; wenn sie nicht existierten, wo es sei, in der äußeren oder inneren Erfahrung des Denkens, würde man nicht in Versuchung kommen können, sie lösen zu wollen. Wenn auch der Herr Verfasser dieselben auf das Verhältnis von Geist und Natur, von innerer und äußerer Erfahrung (willkürlich) beschränkt und solche Widersprüche nachher anführt, so ist er eben damit im Falle, von Widersprüchen zu wissen, sie zu denken, ihre Quelle anzugeben. – Der Herr Verfasser hat sich gegen das, was er in der Erfahrung, noch mehr aber im Denken unzähligemal muß vorgefunden haben, durch ein
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ein abzulehnender und außerdem überaus obskurer Gedanke, mit dem wir uns in diesem Kontext nicht näher beschäftigen wollen. Nach den bisherigen Ergebnissen darf man also gewiß nicht behaupten, ein kleiner Bereich von Urteilen oder Sätzen, die nicht in Widerspruch zueinander stehen, die also kohärent sind, wie das System von Sätzen über Luftgeister, seien damit eo ipso wahr. Man kann zweifellos nicht behaupten, daß die Kohärenz einiger Urteile miteinander oder auch mit den als wahr bekannten Urteilen bereits ihre Wahrheit ausmache. Ebensowenig darf man auch die Wahrheit von Urteilen mit der Kohärenz aller Urteile identifizieren, denn eine solche Identifizierung würde voraussetzen, daß alle Urteile überhaupt untereinander kohärent seien. Eine solche universale Kohärenz aller Urteile und Sätze, die ihre Wahrheit ausmachen soll, besteht aber offensichtlich nicht. Gehen wir nun zur inhaltlichen Bestimmung von Kohärenz zurück und betrachten eine neue Bedeutung dieses Terminus: Unter Kohärenz können wir auch, anstatt einer einfachen Übereinstimmung von Sätzen untereinander oder einer Übereinstimmung aller Sätze (die wegen der Widersprüchlichkeit vieler überhaupt nicht möglich ist) oder einer Übereinstimmung einiger wahrer Urteile mit einander, die Übereinstimmung aller wahren Sätze139 untereinander verstehen. Von dieser umfassenden Nichtwidersprüchlichkeit muß man zwar zugeben, daß sie Merkmal der Wahrheit ist, doch stellt auch die so verstandene Kohärenz keine korrekte Theorie des Wesens der Wahrheit dar. Auch Kohärenz als umfassende Widerspruchsfreiheit der Wahrheit in sich und als Übereinstimmung mit sämtlichen wahren Urteilen beantwortet überhaupt nicht die Frage, was die Wahrheit ist und worin die Wahrheit gewöhnliches Schulgeschwätze bereden lassen, die allerunwahrste Annahme, daß es keine Widersprüche in der Natur und im Bewußtsein gebe, blindlings zu machen.
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Oder auch in der Schulze-Rezension „Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten. Kritik der theoretischen Philosophie von Gottlob Ernst Schulze, Hofr. und Prof. in Helmstädt.“ Hamburg bei C. E. Bohn, 1801, 1. Band 728 S., Vorr. XXXII S.; 2. Band 722 S., Vorr. VI S. Ebd., 2/228-2/229. Hier wie im folgenden wird Satz nicht im vorher unterschiedenen linguistischen Sinn, sondern als Synonym mit den in Sätzen ausgedrückten Urteilen verstanden, also als Proposition, nicht als sprachlicher Satz.
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besteht. Denn indem man die so verstandene Kohärenz der Wahrheit und ihren Begriff definieren will, setzt man schon wieder Wahrheit im Sinn der adaequatio voraus, da es nicht nur um umfassende Widerspruchsfreiheit in sich, sondern um Freiheit des Widerspruchs zu allen wahren Urteilen geht; um diese aber aus dem Gesamtreich aller Urteile auszusondern, bedarf man bereits des Verstehens, daß Urteilswahrheit nicht in bloßer Kohärenz besteht. Und auch aus diesem Grunde kann man sagen, daß Kohärenz im Sinn der logischen Nichtwidersprüchlichkeit aller wahren Sätze in sich und mit allen anderen wahren Sätzen nicht das Wesen der Wahrheit, sondern nur ein Merkmal, eine Folge und, in rein logischer Hinsicht betrachtet, eine Bedingung von Wahrheit angibt. Umfassende Widerspruchsfreiheit aller Wahrheit in sich und mit aller anderen Wahrheit ist nicht bloß ein negatives Kriterium für Wahrheit in dem Sinne, daß nichts wahr sein kann, das diese Bedingung nicht erfüllt. Vielmehr ist umfassende innere Widerspruchslosigkeit der Wahrheit in sich und ihre Freiheit von Widerspruch zur gesamten Welt wahrer Urteile ein ausschließliches Merkmal der Wahrheit. In diesem umfassenden Sinne kann kein System von Lügen oder Irrtümern Widerspruchsfreiheit und Kohärenz besitzen. Um aber überhaupt zu bestimmen, welche Kohärenz Bedingung, ausschließliches Merkmal und teilweises Kriterium der Wahrheit ist, setzt man schon wieder in vielfacher Weise Wahrheit im Sinn der adaequatio voraus. Nicht nur beansprucht diese Aussage selbst für sich Wahrheit im Sinne der Adäquatio. Nicht nur setzt sie die Angemessenheit an die Wirklichkeit (Adäquation) jener wahren Urteile voraus, mit denen alle Wahrheit übereinstimmen muß. Vielmehr leuchtet die umfassende und notwendige Übereinstimmung aller wahren Urteile untereinander ausschließlich dann ein, wenn man auf Grund der einsichtigen Nichtwidersprüchlichkeit des Seins und auf Grund des Wesens der Wahrheit als Übereinstimmung mit tatsächlich bestehenden Sachverhalten ebenfalls einsieht, daß Wahrheit widerspruchsfrei sein muß und nur sie allein mit allen wahren Urteilen im Einklang stehen kann. Außerdem leuchtet das, was Widersprüchlichkeit und Widerspruchsfreiheit bedeutet, überhaupt erst von der behauptenden Struktur des Urteils und damit von ihrem Anspruch auf adaequatio her ein.
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KAPITEL 2
Im übrigen könnte man gegen jede Form der Kohärenztheorie als Wesenstheorie von Wahrheit einwenden, daß die Frage, worin die Wahrheit eines Urteils besteht, selber evidenter Erkenntnis fähig ist, und daß wir – abgesehen vom inneren Widerspruch jeder alternativen Wahrheitstheorie und ihrer Voraussetzung der Wahrheit als Übereinstimmung – einsehen können, daß ein Urteil, indem es einen Sachverhalt behauptet und indem es deshalb beansprucht, in seiner Setzung und Behauptung mit dem Selbstverhalten dieses Sachverhalts zusammenzutreffen, nur wahr ist, weil und insoferne es tatsächlich in seiner urteilsmäßigen Setzung mit dem Selbstverhalten der Dinge zusammentrifft. Es wird von der „Sache Wahrheit“ selbst unmittelbar einsichtig, daß die Wahrheit des Urteils eben in nichts anderem liegen kann als in dieser Korrespondenz. (Die Adäquationstheorie heißt auch oft Korrespondenztheorie der Wahrheit.) Dabei liegt Wahrheit nicht in irgendeiner Korrespondenz oder Adäquation, sondern nur in jener besonderen, ausführlich erörterten Form der Adäquation, die die Wahrheit des Urteils ausmacht. Insofern könnte man sich hier auch mit Brentano auf Evidenz als ein letztes unaufgebbares Wahrheitskriterium berufen, d.h. man könnte sagen: Die Struktur des Urteils ist höchst intelligibel und einleuchtend und auf sie gründet sich die evidente Erkenntnis, daß Urteilswahrheit nicht Kohärenz, sondern eine besondere Form der Korrespondenz ist. Es leuchtet ebenso ein, was die Behauptungsfunktion des Urteils ist und worin die Bezogenheit des Urteils auf einen Sachverhalt, den es behauptet, besteht und daß daher keine andere Eigenschaft des Urteils das Urteil wahr zu machen vermag als diese: daß es mit dem von ihm behaupteten Sachverhalt übereinstimmt. Die Unaufgebbarkeit der klassischen Adäquationstheorie leuchtet doppelt ein, wenn man Kohärenz als Wahrheit ohne den Begriff der Wahrheit als Adäquation definieren will. Sobald man dies versucht, sieht man, wie Fichte sagt, daß ganz absurde phantastische Systeme, die aber kohärent sind und auch mit allen bekannten wahren Urteilen übereinstimmen, auf Grund ihrer Kohärenz auch wahr sein müßten, was vom evidenten Wesen der Wahrheit her nicht der Fall ist. So braucht man sich also zur Widerlegung jedweder Kohärenztheorie als Wesenstheorie der Wahrheit nicht bloß darauf zu berufen, daß die Kohärenztheorie der Wahrheit, um überhaupt Kohärenz zudefinieren,
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schon wieder Übereinstimmung voraussetzt. (Dies stellt übrigens auch Nicolas Rescher in seinem Buch fest.)140 Vielmehr erwies es sich auch als unmittelbar evident bzw. als von der Struktur des Urteils selbst her einleuchtend, daß eben Wahrheit in der analysierten Art von Adäquation, nicht aber in Kohärenz als solcher besteht. Nun sind allerdings durch die bisherigen Analysen noch nicht sämtliche Möglichkeiten einer Kohärenztheorie erschöpft. Denn Kohärenz wurde nicht nur als partielle oder umfassende logische Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen definiert, sondern man könnte auch grundsätzlich verschiedene Bedeutungen von Kohärenz annehmen, z.B. die gegenseitige Bestätigung verschiedener Erfahrungen, etwa in einem Peirce’schen Sinn, oder auch im Sinn der Phänomenologen. „Kohärenz“ hätte dann Bezug auf das Netz von Erfahrungen und Sinneserfahrungen. Deren „Kohärenz“ in diesem neuen Sinne bestünde dann darin, daß die verschiedenen Erlebnisse, Sinneswahrnehmungen und Erkenntniserlebnisse einander bestätigen, d.h. daß sie nichts von einander Abweichendes feststellen. So würde man also nicht die bloße logische Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen oder Sätzen als Kohärenz bestimmen, sondern vielmehr über die inhaltliche Nichtwidersprüchlichkeit hinaus die gegenseitige Ergänzung und Bestätigung der verschiedenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erkenntnisakte als Kohärenz bezeichnen. Wenn dieses Phänomen der gegenseitigen Bestätigungen vieler Erfahrungen, also nicht ein rein logisches Nichtwidersprüchlichsein von wahren Sätzen, sondern die innere Einheit des Erkenntnisprozesses und der Erfahrung sowie deren Objektes selbst als etwas, was uns keine Widersprüche zeigt, und – darüber hinaus – die sachlich-materiale sinnvolle Verknüpfung der Natur der Dinge, die die Erfahrung uns erschließt, als Kohärenz definiert wird, dann muß man diese Theorie anders behandeln. Aber dieser Kohärenzbegriff führt eigentlich über unser Thema hinaus, weil die Kohärenztheorie in diesem Sinne eigentlich nicht mehr eine Theorie der rein logischen Wahrheit ist, wie sie uns hier beschäftigt, sondern vielmehr dann Kohärenz im Sinn einer inneren gnoseologischen Harmonie der Erkenntnisakte und einer eines entsprechenden ontologischen sinnhaften und notwendigen Zusammenhalts der 140
Siehe N. Rescher, The Coherence Theory of Truth.
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Dinge gedacht wird. Und das ist ein Gegenstand für Ausführungen über Erkenntnistheorie und Ontologie, aber nicht über die logische Definition oder das Wesen der logischen Wahrheit. Außerdem nähert sich die so verstandene Kohärenz der Evidenztheorie der Wahrheit, von der wir ausführlich gehandelt haben, der pragmatistischen oder auch der Konsenstheorie, von denen wir noch handeln werden. Auf jeden Fall kann die Wahrheit des Urteils ebensowenig auf die Kohärenz der Erfahrung oder des Erkenntnisprozesses reduziert werden wie auf Evidenz oder Übereinstimmung mit derselben, worauf wir bereits hingewiesen haben. In manchen Versionen fällt diese Interpretation der Kohärenztheorie auch mit verschiedenen erörterten Bedeutungen ontologischer Wahrheit zusammen. Es gibt jedoch, wie wir gesehen haben, noch andere Weisen, Kohärenz zu bestimmen und für das Wesen der Wahrheit zu halten. Man könnte der inneren Kohärenz eines Urteils die Kohärenz mit anderen Urteilen gegenüberstellen. Dabei könnte zunächst Kohärenz als Stimmigkeit eines Urteils mit manchen anderen Urteilen interpretiert werden. Man könnte dann die Kohärenz mit manchen anderen Urteilen näher bestimmen, z.B. als Kohärenz mit den Urteilen der Fachleute oder mit den Urteilen der Weisen. Wird Kohärenz in dieser Weise verstanden, ergibt sich ein Übergang von der Kohärenztheorie zur Konsenstheorie der Wahrheit, von der wir noch ausführlich handeln müssen. Und schließlich könnte man unter Kohärenz auch nur das Zusammenstimmen mit wahren Urteilen oder mit schon als wahr erkannten Urteilen verstehen. Wir sehen leicht, daß Kohärenz in keiner dieser Bedeutungen das Wesen der Urteilswahrheit ausmachen kann. Denn das Wesen der Wahrheit ist weder die notwendige Verknüpfung von Urteilen miteinander noch die Verknüpfung der Wahrheit von Urteilen miteinander. Denn es gibt ja evidenterweise viele Urteile, die wahr sind und die dennoch nicht notwendig mit anderen verknüpft sind. Außerdem können wir einsehen, daß die bloße notwendige Verknüpfung von Wahrheiten als solchen, z.B. die logische Verknüpfung verschiedener Urteile, die notwendig aus einander folgen, nichts für die Wahrheit beweist. Jeder Logiker weiß, daß ein Urteil gültig aus anderen Urteilen erschlossen werden kann, aber daß, wenn die Prämissen falsch sind, die Tatsache, daß die Konklusion aus den Prämissen folgt, die Wahrheit dieses Urteils weder beweist noch
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verbürgt. Deshalb scheidet auch von diesem Gesichtspunkt aus die Kohärenztheorie als korrekte Wesensanalyse der Wahrheit aus und erst recht kann eine bloße sinnvolle Verknüpfung oder Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen nicht das Wesen der Wahrheit ausmachen. Nichtwidersprüchlichkeit mit allen Urteilen ist unmöglich, Nichtwidersprüchlichkeit mit manchen Urteilen als solche beweist nicht einmal die Wahrheit, kann also erst recht nicht ihr Wesen ausmachen, usf. Also muß man alle erwähnten Formen von Kohärenz als Wesensbeschreibung der Wahrheit ausschließen. Vielleicht sollte man im Kontext einer Diskussion der Kohärenztheorie, aber auch der Evidenztheorie, auf einen anderen Grund aufmerksam machen, der dazu bewogen hat, die Adäquationstheorie der Wahrheit abzulehnen. Es geht dabei um einen besonderen neuen Grund für die Meinung, daß adaequatio nicht das Wesen der Wahrheit ausmachen kann. Es handelt sich hier nicht um die Unmöglichkeit der Erkenntnis der Adäquatio, und auch nicht um andere Probleme, auf die Brentano seine Verwerfung der Adäquationstheorie stützt, insbesondere, daß die Res scheinbar verfliegt, wenn man bestimmte Arten wahrer Urteile näher betrachtet. Vielmehr geht es um zwei Gedanken, auf die man auch in Brentanos Wahrheitsaufsätzen stößt und die u.a. Karen Gloy berücksichtigt hat. 1. Erkenntnis, so sagt man, könne nicht als eine kausale Wirkung oder ein Abbild der Wirklichkeit betrachtet werden, ohne daß sich eine solche Wahrheitskonzeption in verschiedene Widersprüche verwickeln und in einen Skeptizismus geraten würde. 2. Andererseits betrachtet man die Idee, daß Wahrheit eine Kohärenz oder Korrespondenz zwischen Urteil und Wirklichkeit sei, als eine zu materialistische Abbildtheorie, da ja Urteile kein Bild oder Abbild der Wirklichkeit sind. Wenn wir mit dem letzten Grund der Abweisung der Adäquationstheorie beginnen, dann läßt sich darauf erwidern, daß in ihm das eigentliche Wesen der adaequatio verfehlt wird. Alexander Pfänders Logik141 macht dies hinreichend klar, indem er zeigt, daß die Idee, daß das Urteil eine Art Kopie, eine Art Bild des Sachverhalts ist, völlig verfehlt ist. Das Urteil unterscheidet sich ja radikal vom in ihm behaupteten Sachverhalt. Es ist nicht ein Abbild, es ist vielmehr ein eigentümliches 141
Siehe A. Pfänder, Logik, a.a.O., Kap. 1.
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logisches Gebilde, das etwas behauptet, ja dessen innerstes Wesen von dieser behauptenden Funktion bestimmt ist. Es ist auch nicht dem Sachverhalt ähnlich, es ist ja kein Bild im buchstäblichen Sinn. Wenn man deshalb versteht, daß unter adaequatio gar kein Bild der Wirklichkeit gemeint ist, sondern ein ganz anderes Verhältnis, nämlich das logische Verhältnis des Zusammentreffens der behauptenden Setzung des Urteils mit dem Selbstverhalten der Sache, dann fällt dieser Einwand weg. Man kann in diesem Einwand aber auch einen ganz anderen Aspekt im Auge haben, nämlich den der Erkenntnis von Sachverhalten. In der Tat, wenn man die Erkenntnis als Abbild oder als kausale Wirkung von sinnlichen Ursachen betrachten wollte, dann müßte man Gloy durchaus zugestehen, daß eine solche Abbildtheorie der Erkenntnis die Erkenntnis auflösen würde. Denn Erkenntnis schließt eine Transzendenz, einen Zugang zu den Sachen selbst ein und kann nicht nur ein Abbild in unserem Geist sein. Denn wäre sie nur dies, dann könnten wir niemals feststellen, daß ein solches „Erkenntnisbild“ in unserem Geist mit einer Wirklichkeit außerhalb desselben, die wir als solche nie sehen und verstehen können, übereinstimmt. Daher muß jede Erkenntnistheorie, die überhaupt Erkenntnis als solche begründet, in der Lage sein, eine Transzendenz, ein Hinausgehen des Subjekts über irgendwelche Bilder oder immanente Bewußtseinsinhalte zu den Sachen selbst, zu den intelligiblen Formen und Strukturen der Wirklichkeit selbst oder zur Existenz der Wirklichkeit selbst, zu begründen. Denn sonst bewegt sie sich in einem Subjektivismus. So könnte man auf K. Gloys Einwand antworten, daß eine angemessene Erkenntnistheorie, die die primitive Epistemologie einer Abbild- oder einer bloßen Kausalrelation zwischen Objekt und Geist überwindet und den Zugang der Erkenntnis (in unmittelbarer Evidenz oder auch in Schlüssen und Schlußfolgerungen) zur Wirklichkeit begründet, nicht den besagten Einwänden untersteht. Eine nähere Ausführung der Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis behandelten wir im Kapitel über Erkenntniswahrheit des ersten Bandes. Sie gehört in eine erkenntnistheoretische Abhandlung, aber man sieht daraus, wie die Logik und die Erkenntnistheorie eng zusammenhängen. Wir haben bisher in erster Linie Kohärenz als Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen im Auge gehabt und darüber gesprochen. Man könnte aber bei einer Verteidigung der Kohärenz als Wesen der Wahrheit den primären
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Akzent auf zwei andere Bedeutungen von Kohärenz legen, von denen die erste bei Hegel und Bradley eine zentrale Stellung einnimmt, aber auch unabhängig von Hegels und Bradleys Kohärenztheorie eine wichtige Rolle spielt. Kohärenz könnte, wie oben erklärt, eine notwendige Verknüpfung von Urteilen und von deren Wahrheit meinen. Hegel und Bradley nehmen eine solche notwendige Verknüpfung der gesamten Wirklichkeit und Wahrheit an. Man könnte jedoch auch sagen, Kohärenz bestehe nicht ausschließlich in notwendigen Zusammenhängen, sondern auch dort, wo bloß eine sinnvolle Verknüpfung von verschiedenen Urteilen vorliege. In diesem Sinn spielt Kohärenz in einem kriminalistischen Fall als Kriterium eine wichtige Rolle, wenn alle Evidenzen und Zeugenaussagen sinnvoll miteinander verknüpft sind. Je nachdem, was man unter Kohärenz eigentlich versteht, ist natürlich die Frage, ob die Kohärenztheorie der Wahrheit eine gute Theorie irgendeiner der sieben Aspekte der Wahrheit darstellt, ganz verschieden zu beantworten, wie wir gleich sehen werden. Daß Kohärenz nicht das Wesen der Wahrheit ausmacht, können wir auch aufgrund einer unmittelbareren Einsicht in die evidente Struktur der Wahrheit erkennen. Wir können einfach verstehen, daß die notwendige Verknüpfung von Urteilen untereinander nicht das ist, was wir mit Wahrheit meinen. Dies geht schon daraus hervor, daß wir weiter fragen können: „Sind Urteile, die notwendig miteinander verknüpft sind, wahr?“. Und dies zu fragen hätte gar keinen Sinn, wenn Wahrheit überhaupt nichts anderes meinen würde, als eine solche notwendige Verknüpfung. Aber indem wir die Frage nach der Verbürgtheit der Wahrheit kohärenter Urteile stellen, fragen wir eben, ob kohärente Urteile auch in ihrer behauptenden Setzung von Sachverhalten mit dem Selbstverhalten dieser Sachverhalte oder der Sachen selbst zusammentreffen. Deshalb zeigt schon die Frage, ob Kohärenz Wahrheit verbürgt, oder ob kohärente Urteile auch wahr sein müssen, daß es zwei ganz verschiedene Probleme oder zwei ganz verschiedene Dinge sind, Kohärenz und die Wahrheit.
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5.2. Kohärenz macht nicht das Wesen der Wahrheit aus, stellt aber ein wichtiges Wesensmerkmal derselben dar
Beim Scheitern der Kohärenztheorien als Theorie vom Wesen der Wahrheit könnte man dem Problem der Bestimmung des Inhalts von „Kohärenz“, die man mit dem Wesen der Wahrheit definiert, eine weitere Lösung geben und sagen, Kohärenz sei eben nur die Nichtwidersprüchlichkeit aller wahren Sätze, die zweifellos vorliegt. Aber dann hat man jedoch schon wieder in der Definition der Wahrheit als Kohärenz Wahrheit im Sinn der adaequatio vorausgesetzt. Denn man kann bei Beschränkung der Kohärenz auf diejenige wahrer Urteile deren Wahrheit nicht wieder als Kohärenz fassen, ohne in eine zirkuläre Definition zu fallen. Beschränkt man Kohärenz auf wahre Urteile, ist es natürlich ganz richtig, daß Kohärenz ein Merkmal der Wahrheit ist. So formuliert die Kohärenztheorie eine notwendige Bedingung der Wahrheit überhaupt: nämlich daß jede Wahrheit (jedes wahre Urteil) mit allen anderen Wahrheiten in Einklang stehen muß, daß nicht etwas wahr sein kann, was anderen als wahr erwiesenen Urteilen widerspricht. Und in diesem Sinne ist Kohärenz zwar sicher keine richtige Wesensdefinition der Wahrheit und auch kein hinreichendes Kriterium für Wahrheit, aber sehr wohl eine positive Wahrheitsbedingung bzw. ein zum Wesen der Wahrheit gehörendes Merkmal. Aus diesem Grunde ist auch Inkohärenz ein negatives Kriterium für das Nichtbestehen von Wahrheit, indem man nämlich ein Urteil, das anderen als wahr erwiesenen Urteilen widerspricht, von dem Bereich möglicher wahrer Urteile ausschalten kann. Gerade weil sie tatsächlich ein Wesensmerkmal von Wahrheit ist, verwenden wir Kohärenz oft als Kriterium für Wahrheit bzw. Inkohärenz mit als wahr erkannten Urteilen als Kriterium für Unwahrheit. Wir sagen, jemand habe eine These aufgestellt, aus der sich diese und jene logische Konsequenz ergibt. Diese oder jene logische Konsequenz widerspreche aber einem Sachverhalt, den der Dialogspartner oder wir selbst als wahr erkannt hätten. Also sei seine These nicht wahr, weil sie nicht mit anderen als wahr erwiesenen Urteilen kohärent sei. In diesem Sinne eines positiven Kohärenzkriteriums der Wahrheit und vor allem eines negativen Kriteriums der Inkohärenz und Widersprüchlichkeit
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als Beweis der Falschheit verwendet auch Platon ein Kohärenzkriterium der Wahrheit in seinen Dialogen. Nach den bisherigen Überlegungen ist also Kohärenz weder das Wesen von Wahrheit noch ein ausreichendes positives Kriterium für Wahrheit, d.h. es geht nicht an zu behaupten, daß ein Urteil einfach deshalb, weil es nicht mit anderen, auch mit bekanntermaßen wahren, Urteilen in Widerspruch stehe, auch schon wahr sei. Es wird im erwähnten Argument Fichtes gezeigt, daß man ein mit allen als wahr erkannten Sätzen durchaus in Einklang stehendes System der Luftgeister entwickeln könnte, das aber deshalb noch keineswegs wahr wäre. Also ist Kohärenz mit wahren Urteilen nicht ein ausreichendes positives Kriterium für Wahrheit, wohl aber ein Wesensmerkmal derselben und deren Bedingung sowie ein negatives Wahrheitskriterium. Wenn man Kohärenz, wie berechtigterweise Evidenz, als Erkenntnisquelle der Wahrheit sehen wollte, so wäre Kohärenz nicht nur niemals selber die Erkenntnis, durch die man Wahrheit als solche erkennt, was auf der Hand liegt, sondern so dürfte man auch nicht einfach auf Grund der Feststellung der Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils zu uns bekannten wahren Urteilen auf dessen Wahrheit schließen, was wir schon bei unserer Ablehnung der Kohärenz als Kriterium für Wahrheit ausführten. Für uns ist hier entscheidend: Kohärenz ist offensichtlich nicht selber eine Erkenntnis; Kohärenz muß im Gegenteil in einer Erkenntnis festgestellt werden. Also antwortet Kohärenz nicht auf die Frage einer Wahrheitstheorie, die nach der Erkenntnisform, durch die Wahrheit erkannt wird, fragt. 5.3. Kohärenz als Wahrheitsbedingung
Wenn wir die Kohärenztheorie in all ihren Formen als Theorie über das Wesen der Wahrheit zwar ablehnen, aber zumindest im Sinne der Widerspruchsfreiheit als Wesensmerkmal der Wahrheit annehmen, müssen wir nunmehr noch auf die Frage nach Kohärenz als Wahrheitsbedingung übergehen. Wiederum hängt die Beantwortung dieser Frage entscheidend von der inhaltlichen Bestimmung von Kohärenz ab. Wenn man zunächst die Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen als Kohärenz im Auge hat, so ist die innere Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils tatsächlich eine
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Bedingung für Wahrheit, wenn sie auch nicht das Wesen der Wahrheit ausmacht. Ein Urteil kann nur dann wahr sein, wenn es sich nicht selbst widerspricht. Denn wenn es sich selbst widerspricht, verletzt es mit dem Widerspruchsprinzip die Bedingung jeder Wahrheit. Wenn das Urteil hingegen als kohärent bezeichnet wird, weil es mit allen anderen Urteilen nichtwidersprüchlich wäre, so ist solche Kohärenz unmöglich, weil es eben widersprechende und also wahre und falsche Urteile gibt. In bezug auf denselben Gegenstand widersprechen sich kontradiktorische Urteilspaare, die also wahre und falsche Urteile einschließen. So ist eine Nichtwidersprüchlichkeit aller Urteile unmöglich. Die Nichtwidersprüchlichkeit von Urteilen mit manchen anderen Urteilen ist eine Bedingung für Wahrheit. Es ist eine Bedingung dafür, daß ein Urteil wahr ist, daß es anderen wahren Urteilen nicht widerspricht. Das kann man erkennen, wenn man die Nichtwidersprüchlichkeit der Wahrheit versteht, d.h. wenn man versteht, daß innerhalb der Wirklichkeit selbst und deshalb auch innerhalb der Wahrheit, Widersprüche nicht vorkommen. Hegel und Marx würden dies im Sinne ihrer Auffassung, daß es eine dialektische widersprüchliche (antinomische) Struktur der Wirklichkeit gibt, nicht anerkennen können. Aber wenn wir einsehen, daß das Widerspruchsprinzip alle Seienden beherrscht, wenn wir also mit Aristoteles zur begründeten Erkenntnis gelangen, daß es das gewisseste und grundlegendste Prinzip ist, daß ein Sachverhalt unmöglich zugleich bestehen und zugleich nicht bestehen kann, dann folgt daraus auch, daß alle wahren Urteile, welche Sachverhalte so behaupten, wie sie sind, mit allen anderen wahren Urteilen in einem nicht-widersprüchlichen Verhältnis stehen. Also ist es gleichfalls unmöglich, daß aus einem wahren Urteil logisch korrekt abgeleitete Folgen entspringen, die mit anderen wahren Urteilen in Widerspruch stehen, weshalb die Kohärenz eines Urteils mit als wahr erkannten Urteilen Bedingung seiner Wahrheit ist. Es ist zwar möglich, daß im Falle der Aporien und scheinbaren Antinomien ein wahres Urteil in scheinbarem Widerspruch zu anderen wahren Urteilen steht, aber in einem wirklichen Widerspruch kann ein wahres Urteil zu anderen nicht stehen, wenn das Widerspruchsprinzip als ein ontologisches und deshalb auch als ein logisches Prinzip jene absolut grundlegende Bedeutung hat, die Aristoteles ihm zurecht zuerkennt.
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Zu einem anderen Sinn von Kohärenz können wir sagen, daß eine notwendige Verknüpfung von Urteilen miteinander nicht als Bedingung der Wahrheit anerkannt werden darf, außer wenn man mit Hegel behaupten wollte, daß alle historischen und kontingenten Urteile letzten Endes mit schlechthinniger Notwendigkeit aus dem absoluten Geist fließen und daß wir daher die Notwendigkeit aller Urteile annehmen müssen oder gar erkennen können.142 Auch Leibniz hat in gewisser Hinsicht die notwendige Kohärenz aller Urteile behauptet, weil er behauptet, daß die reale Welt die bestmögliche Welt ist und daß daher alles, was in der Welt ist, notwendig so geschaffen oder zugelassen werden mußte, wie es ist. Denn jede andere Welt wäre weniger gut als die Welt, in der wir leben. Insofern könnte man sagen, daß Leibniz’ metaphysische Theorie der bestmöglichen Welt zumindest dahin tendiert, daß alle Sachverhalte notwendig so sein müssen, wie sie sind – trotz seiner Unterscheidung kontingent-faktischer von notwendigen Vernunftwahrheiten. Gegen diese Version der Systemphilosophie hat Reinhard Lauth heftig protestiert, wo er meint, unter Berufung auf Fichte ein doppelt offenes System der Freiheit begründen zu können, das sowohl auf absolute (göttliche) als auch auf endliche Freiheit hin als auf letzte, auf keine Notwendigkeit reduzierbare Momente offen sei. Daß sich eine solche 142
Vgl. etwa Hegel, Phänomenologie des Geistes, Jubiläumsausgabe Bd. 3, „Einleitung”, 3/349-350: Daß diese Bedeutung des Gegenständlichen also nicht bloße Einbildung sei, muß sie an sich sein, d.h. einmal dem Bewußtsein aus dem Begriffe entspringen und in ihrer Notwendigkeit hervorgehen. So ist uns durch das Erkennen des unmittelbaren Bewußtseins oder des Bewußtseins des seienden 3/550 Gegenstandes, durch seine notwendige Bewegung der sich selbst wissende Geist entsprungen. Dieser Begriff, der als unmittelbarer auch die Gestalt der Unmittelbarkeit für sein Bewußtsein hatte, hat sich zweitens die Gestalt des Selbstbewußtseins an sich, d.h. nach eben der Notwendigkeit des Begriffes gegeben, als das Sein oder die Unmittelbarkeit, die der inhaltlose Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins ist, sich seiner entäußert und Ich für das Bewußtsein wird. – Von dem denkenden Ansich oder dem Erkennen der Notwendigkeit ist aber das unmittelbare Ansich oder die seiende Notwendigkeit selbst unterschieden, – ein Unterschied, der zugleich aber nicht außer dem Begriffe liegt, denn die einfache Einheit des Begriffes ist das unmittelbare Sein selbst; er ist ebenso das sich selbst Entäußernde oder das Werden der angeschauten Notwendigkeit, als er in ihr bei sich ist und sie weiß und begreift. – Das unmittelbare Ansich des Geistes, der sich die Gestalt des Selbstbewußtseins gibt, heißt nichts anderes, als daß der wirkliche Weltgeist zu diesem Wissen von sich gelangt ist; dann erst tritt dies Wissen auch in sein Bewußtsein und als Wahrheit ein.
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offene Philosophie auf Fichte stützen dürfe, kann ich nicht anerkennen, so lobenswert die Idee eines solchermaßen „offenen Systems“ auch ist. Wenn wir jedenfalls anerkennen, was, so meine ich, mit letzter Evidenz erkennbar ist, daß eben nicht alle Sachverhalte schlechthin notwendig sind, daß es kontingente Sachverhalte gibt, daß es also nicht-notwendige Dinge und wirkliche Freiheit gibt, (was in gewissem Sinne selbst Leibniz zugibt, der zwar denkt, daß diese Welt notwendig die best-mögliche ist, aber meint, daß zur bestmöglichen Welt gehört, daß in dieser Welt freie Subjekte sind und daß dieselben in ihrer Freiheit nicht eingeschränkt sind),143 so erkennen wir auch, daß endliche freie Personen Übel oder Böses wie Gutes tun können. Wenn man also die Freiheit in ihrer innerlich evidenten und aus einer Reihe von zwingenden Gründen erkannten Existenz erkennt, dann liegt schon in dieser Freiheit und in der aus ihr fließenden Möglichkeit, neben Gutem auch das Schlechte zu tun, eine Kontingenz in dem Sinne, daß es nicht notwendig ist, daß eine bestimmte Handlung so und nicht anders vollzogen wird, sondern daß dies eben Wirkung freier Entschlüsse und Taten ist. Sowohl wenn man also die echte Kontingenz und Nichtnotwendigkeit der Existenz der Welt und vieler Wesen in ihr anerkennt, als auch wenn man Freiheit anerkennt, muß man zugeben, daß eine notwendige Verknüpfung aller wahren Urteile weder besteht noch eine Bedingung für Wahrheit sein kann. Denn da es eben wirklich zufällige oder nichtnotwendige Sachverhalte gibt, kann auch die Wahrheit über diese nichtnotwendigen Sachverhalte nicht notwendig mit allen anderen Wahrheiten verknüpft sein; sie kann z.B. als Wahrheit über frei und nicht-notwendig gewählte Taten nicht eine notwendige Wahrheit oder mit allen anderen kontingenten Wahrheiten notwendig verknüpft sein. Deshalb muß man eine Theorie der universalen Notwendigkeit der Wirklichkeit verwerfen. Wenn man also anerkennt, daß es auch kontingente, nicht-notwendige Sachverhalte gibt, kann man die notwendige 143
Vgl. G. W. Leibniz, Essais de Theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du Mal, in: G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, hrsg. v. C. J. Gerhardt (Hildesheim: G. Olms, 1965), in 7 Bänden, Bd. VI, S. 21471.
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Kohärenz und Verknüpfung aller Urteile miteinander in keiner Weise als Eigenschaft oder als Bedingung der Wahrheit ansehen. Hingegen muß man die innere Kohärenz eines Urteils, daß es nämlich sich nicht selbst widerspricht und auch den Regeln einer rein logischen Grammatik der Urteilsbildung und Urteilskomposition gemäß ist, als notwendige Wahrheitsbedingung ansehen. Ein Urteil darf niemals sich selbst oder den allgemeinen Merkmalen des Urteils widersprechen. Denn wenn ein Urteil sich selbst widerspricht, setzt es einen Sachverhalt behauptend hin und leugnet denselben zugleich und ist damit notwendig falsch. Denn das evidente Widerspruchsprinzip zeigt, daß ein Urteil und sein eigenes kontradiktorisches Gegenteil niemals zugleich wahr sein können. Daher muß man sagen, die innere Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils ist eine Bedingung für die Wahrheit des Urteils. Wenn man hingegen Kohärenz als einseitige notwendige Verknüpfung eines Urteils mit manchen anderen Urteilen auffaßt, dann ist dies nur dann eine Wahrheitsbedingung, wenn man die „Kohärenz mit manchen Urteilen“ als die Kohärenz mit jenen Urteilen auffaßt, die von einem gegebenen Urteile notwendig vorausgesetzt sind. Dies gilt aber nicht für alle anderen Wahrheiten, weder die kontingenten noch die notwendigen. Denn weder kann jemals eine kontingente Wahrheit notwendig aus notwendigen Wahrheiten folgen, sondern sie nur notwendig voraussetzen (weil nichts so kontingent sein kann, daß es nicht etwas Notwendiges und notwendig Wahres voraussetzt), noch müssen alle notwendig wahren Urteile untereinander notwendig verknüpft sein. Denn nicht alle hängen untereinander zusammen. So steht z.B. der notwendige Sachverhalt, daß die Farbe Violett zwischen rot und blau liegt, in keiner notwendigen Beziehung zum notwendigen Sachverhalt, daß nichts gewollt werden kann, ohne vorher gedacht oder erkannt worden zu sein. Insofern kann man es nicht als Bedingung der Wahrheit bezeichnen, daß jedes notwendig wahre Urteil auch in notwendiger Verknüpfung mit allen anderen notwendig wahren Urteilen stehe. Wenn man hingegen die notwendige Verknüpfung eines notwendig wahren Urteils mit anderen notwendigen Urteilen, die mit dem betreffenden Urteil in notwendiger Verknüpfung stehen, als Kohärenz bezeichnet, dann ist allerdings Kohärenz die Bedingung für die Wahrheit mancher Urteile, nämlich für die Wahrheit jener Urteile, die mit anderen
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notwendigen Urteilen notwendig verknüpft sind. In diesem Sinne muß man Kohärenz im Sinne der notwendigen Urteilsverknüpfung als Bedingung der Wahrheit mancher notwendiger Urteile anerkennen. Dies gilt in einseitiger Richtung auch für kontingente Sachverhalte und Wahrheiten, daß sie – obgleich sie nicht aus notwendigen Wahrheiten folgen können – notwendig sowohl notwendige als auch kontingente Sachverhalte und Wahrheiten voraussetzen, daß also diese einseitige notwendige Beziehung und Kohärenz mit anderen Wahrheiten Bedingung ihrer Wahrheit ist. Wenn man die notwendige Verknüpfung mit bereits als wahr erkannten Urteilen als Kohärenz bezeichnet, dann kann man allerdings nicht behaupten, daß jedes Urteil notwendig mit allen bereits als wahr erkannten Urteilen verknüpft sein müsse, wenn es wahr sein soll. Denn wenn es einen kontingenten Sachverhalt betrifft, wie z.B. daß ich diesen Bleistift jetzt hier in die Luft werfe, dann ist die Wahrheit dieses Urteils, daß ich das jetzt getan habe, zwar mit einigen anderen notwendigen und kontingenten Wahrheiten, die von ihr vorausgesetzt sind, einseitig notwendig verknüpft, aber mit vielen anderen schon als wahr erkannten notwendigen und kontingenten Urteilen nicht. Denn nicht nur ist es ja überhaupt nicht notwendig, daß ich einen Bleistift halte oder geworfen habe und hätte ich dies genauso gut unterlassen können, sondern auch die bestehende einseitige (umgekehrte) notwendige Verbindung kontingenter Sachverhalte und Wahrheiten zu anderen vorausgesetzten Sachverhalten und Wahrheiten besteht hier nur zu manchen Wahrheiten. Kohärenz im Sinne einer gegenseitig oder einseitig notwendigen Beziehung kann daher nicht allgemein als notwendige Voraussetzung der Wahrheit betrachtet werden. Daher ist Kohärenz im Sinne „notwendiger Verknüpfung mit bereits als wahr erkannten Urteilen“ nicht eine allgemeine Bedingung für Wahrheit. Wohl aber ist es eine Bedingung für Wahrheit, wie wir gesehen haben, daß jene Urteile, die mit anderen wirklich notwendig zusammenhängen, wenn sie wahr sein sollen, auf Grund ihrer notwendigen Verknüpfung mit den sie bedingenden oder sie implizierenden, aus ihnen folgenden oder sonst mit ihnen notwendig verknüpften Wahrheiten auch diese Wahrheiten einschließen.
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5.4. Kohärenz als Grund der Wahrheit
Behalten wir im Auge, daß jeder Schluß einen mehrfachen Anspruch erhebt: (1) den Wahrheitsanspruch für Prämissen und Konklusion; (2) den Anspruch auf Folgerichtigkeit (Gültigkeit) des Schlusses; (3) den Anspruch auf einen Wahrheitszusammenhang zwischen Wahrheit der Prämissen und der Konklusion (daß die Prämissen die Wahrheit der Konklusion garantieren); und (4) den Anspruch auf einen Begründungszusammenhang, der über den Wahrheitszusammenhang und die Folgerichtigkeit hinausgeht.144 Die Erfüllung von Anspruch (3) setzt jene von (1) und (2) voraus; doch kann der Anspruch auf Begründungszusammenhang (4) erfüllt oder unerfüllt bleiben, auch wenn alle anderen Ansprüche erfüllt sind. In unserem Kontext interessiert uns in erster Linie der Begründungszusammenhang, der einschließt, daß die Erkenntnis der Wahrheit der Konklusion nicht in der Erkenntnis der Wahrheit der Prämissen bereits vorausgesetzt ist. Wenn also in einem Beweis nicht ein bloßer Wahrheitszusammenhang zwischen Prämissen und Konklusion, sondern auch ein Begründungszusammenhang vorliegt, könnte man dieses Verhältnis zwischen Prämissen und Konklusion als Kohärenz bezeichnen und geneigt sein, es mit der Wahrheit des Urteils zu identifizieren. Dies ist jedoch unter anderem deshalb unhaltbar, weil ein Begründungszusammenhang bestehen kann, auch wenn die Prämissen falsch sind und daher auch in ihrer Wahrheit begründete Schlußsatz falsch sein kann. Meint man hingegen eine andere Art von Grund, nämlich den zureichenden Grund der Wahrheit eines Urteils, der allein im Bestehen des behaupteten Sachverhalts liegt, und will man dessen Kohärenz mit dem Urteil die Wahrheit desselben nennen, so ist dagegen erstens zu sagen, daß der Grund nicht mit dem identisch ist, wofür er ein Grund ist. Der objektiv bestehende Sachverhalt ist zwar der Grund der Urteilswahrheit, aber nicht diese Wahrheit selbst, die dem objektiven Gedankeninhalt des Urteils in Relation zum Sachverhalt zukommt. Zweitens ist in diesem Fall eine Kohärenztheorie der Wahrheit mit einer Korrespondenztheorie identisch und bedeutet Kohärenz (als angemessenes Verhältnis zwischen Urteil und 144
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, IV, „Die Lehre von den Schlüssen“.
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Sachverhalt) dasselbe wie adaequatio, weshalb wir hier nicht näher auf diese Theorie einzugehen brauchen. 5.5. Kohärenz als Folge der Wahrheit
Wenn wir jetzt zu einer Diskussion der Folgen der Wahrheit übergehen, lassen sich wiederum verschiedene Fragen stellen. Eine notwendige Verknüpfung von Urteilen mit allen anderen Urteilen kann ebensowenig eine Folge der Wahrheit sein, wie sie keine Bedingung derselben ist, weil es, wie wir schon gesehen haben, überhaupt nicht wirklich so ist, daß alle Urteile notwendig miteinander verknüpft sind. Dies gilt nicht einmal für alle wahren Urteile. Wenn man Kohärenz als notwendige Verknüpfung mit manchen anderen Urteilen versteht, dann ist es wohl auch nicht berechtigt zu sagen, daß dieselbe eine Folge ihrer Wahrheit ist. Dabei ist noch einmal zwischen logischem Grund, Erkenntnisgrund und ontologischem Grund zu unterscheiden, die sich oft umgekehrt zu einander verhalten. Das ist eine Frage, die wir hier nicht weiter zu klären brauchen. Was ferner die Frage anlangt, ob eine notwendige Verknüpfung eines wahren Urteils mit einem gegebenen wahren Urteil, wo sie tatsächlich vorliegt, Folge oder Grund der Wahrheit ist, so würde ich antworten, ohne hier eine gründliche und präzise Analyse bieten zu können, daß die notwendige Verknüpfung eines wahren Urteils mit manchen anderen Wahrheiten in gewissen Fällen eine Folge der Wahrheit ist, in anderen Fällen wieder der Grund und in wieder anderen Fällen Bedingung von Wahrheit, wobei zu differenzieren ist, ob wir in einem rein logischen, ontologischen oder epistemologischen Sinne von einem Grund-FolgeVerhältnis reden. Ich kann mich hier damit begnügen festzustellen, daß ein interessantes weiteres philosophisches Forschungsfeld in der Frage liegt, wann und in welchem Sinne die diskutierten notwendigen Verknüpfungen Folgen, Gründe oder Bedingungen der Wahrheit sind.
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5.6. Kohärenz als Wahrheitskriterium
Wenn man Kohärenz im Sinne der Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils mit manchen anderen wahren Urteilen als Kriterium der Wahrheit ansehen will, dann ist dieselbe sicher als solche nicht ein zureichendes Wahrheitskriterium. Eine bloße Nichtwidersprüchlichkeit eines kontingenten Urteils mit anderen kann nicht als ein Kriterium für Wahrheit angesehen werden. Die bloße Tatsache, daß die Äußerung: „Ich habe heute früh beim Weggehen meinen Hund erschlagen“, nicht anderen bekannten Sachverhalten widerspricht, kann nicht als hinreichendes Kriterium dafür gewertet werden, daß sie wahr ist. Wenn die Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils mit schon als wahr erkannten das Kriterium ist, ließe sich noch einmal unterscheiden: 1) Ein mit allen schon als wahr erkannten Urteilen kompatibles Urteil: Dies ist natürlich ein dehnbarer Begriff, denn es kommt darauf an, wie viele wahre Urteile ich erkannt habe. Jedenfalls ist Kohärenz mit allen von mir als wahr erkannten Urteilen kein genügendes Kriterium für Wahrheit, denn nur daraus, daß ich kein anderes wahres Urteil oder keinen Sachverhalt kenne, der mit einem bestimmten Urteil unverträglich oder im Widerspruch zu ihm steht, folgt keineswegs des letzteren Wahrheit. Daher kann diese Art von Kohärenz unmöglich ein genügendes Kriterium für Wahrheit, sondern höchstens, unter bestimmten Umständen, für die vorläufige hypothetische Annahme von Wahrheit sein. Wenn ich heute sage, ich hätte meinen Hund erschlagen, können andere Menschen die Wahrheit dieser Aussage nicht einfach aufgrund der Tatsache erkennen, daß die Behauptung nicht im Widerspruch mit anderen ihnen als wahr bekannten Urteilen steht. Kohärenz in diesem Sinn ist also kein genügendes Kriterium für Wahrheit. 2) Wenn man hingegen die Nichtwidersprüchlichkeit mit allen wahren Urteilen als Kohärenz bezeichnet, dann ist dieselbe rein objektiv ein hinreichendes Kriterium für Wahrheit, weil unter allen wahren Urteilen auch jenes enthalten ist, daß das kontradiktorische Gegenteil meines wahren Urteils falsch ist, in unserem Beispiel: daß es nicht der Fall bzw. nicht wahr ist, daß ich meinen Hund nicht erschlagen hätte. Wenn deshalb ein Urteil mit allen anderen Urteilen, die überhaupt denkbar und die wahr sind, übereinstimmt, dann muß es auch wahr
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sein. Denn wenn ein Urteil falsch ist, muß es zumindest im Widerspruch mit jener Wahrheit stehen, die das kontradiktorische Gegenteil von ihm selbst aussagt, aber außerdem noch mit zahllosen anderen Urteilen, die mit diesem verknüpft sind oder es voraussetzen. So ist die Nichtwidersprüchlichkeit eines Urteils mit allen wahren Urteilen ein hinreichendes, aber kein praktikables Kriterium für seine Wahrheit, da kein Mensch alle wahren Urteile kennt. Wenn man hingegen bloß die Nichtwidersprüchlichkeit mit schon vom Menschen als wahr erkannten Urteilen nimmt, dann ist dieselbe kein hinreichendes Kriterium für Wahrheit. Nichtwidersprüchlichkeit kann dabei zunächst eine formallogische Nichtwidersprüchlichkeit meinen, d.h. daß ein Urteil nicht mit anderen als wahr bekannten Urteilen in einem direkten Widerspruch steht und deren kontradiktorisches Gegenteil behauptet. Wenn ich wahrheitsgemäß sage: „Am 26. Juni 1987 schien die Sonne in Liechtenstein“ und jemand anderer sagt: „Nein, an diesem Tag schien sie nicht“, ist offenbar eine der beiden Behauptungen falsch. Denn hier ist der Widerspruch der beiden Urteile ein formallogischer. Das eine Urteil besagt genau das kontradiktorische Gegenteil des anderen. Im Gegensatz dazu gibt es andere Widersprüche, die man als materiallogische Widersprüche bezeichnen mag. Wenn etwas anderen wahren Urteilen nicht formal, aber deshalb widerspricht, weil es im Gegensatz zum inhaltlichen Wesen einer Sache steht, wenn ich z.B. sage: „Dieser Mensch ist schwer schuldig, hatte aber überhaupt keine Freiheit, sondern hat aus purem Zwang heraus gehandelt und ist dadurch schwer schuldig geworden, daß er aus diesem Zwang heraus jemanden ermordet hat“, so liegt darin ein Widerspruch, und zwar nicht ein formallogischer. Denn die eine Teilbehauptung besagt, der Mensch habe aus Zwang gehandelt, die andere, er sei schuldig. Rein aus der Form dieser beiden Urteile kann man also keinen Widerspruch zwischen ihnen entdecken. Aber es besteht dennoch ein Widerspruch zwischen ihnen, der deutlich wird, wenn man die Materie, über die hier geurteilt wird, ins Auge faßt und erkennt, daß die Wesen der beiden hier bestehenden Wirklichkeiten, nämlich das von Schuld und das von Zwang, in einem Gegensatz zueinander stehen. Wenn jemand eine Zwangshandlung begangen hat, kann er dafür nicht schuldig sein. Also liegt hier ein
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Widerspruch, aber ein materiallogischer Widerspruch, d.h. ein Widerspruch, der aus der inhaltlichen Natur dessen, worüber das Urteil gefällt wird, aus der wesensnotwendigen Abhängigkeit der persönlichen moralischen Schuld von Freiheit, hervorgeht. In diesem Sinn könnte man auch von material bedingten psychologischen Widersprüchen reden und sagen, daß wenn man von einem leidenschaftlichen Liebhaber von Katzen sagen wollte, er habe seine Katzen alle erst gequält und dann ersäuft, dann stünde dies im Widerspruch zu allem, was wir über die Tierliebe des Betreffenden wissen. Also müsse es deshalb falsch sein, weil es im Widerspruch zu andern als wahr erkannten Urteilen stehe, zwar nicht einfach auf Grund formaler Logik, wohl aber auf Grund es Inhalts der entsprechenden Aussagen. Und je nachdem, wie zuverlässig unsere Erkenntnis dieser Inhalte ist und wie notwendig andere mit dem Wesen der erkannten Sache verbundene Eigenschaften in Widerspruch zu ihnen stehen, können wir auch solche materiale inhaltliche Widersprüche als Kriterium für Unwahrheit ansehen. Das Kriterium sollten wir natürlich auch noch einmal differenzieren. Denn dasselbe kann man negativ und positiv auffassen und beides ist natürlich ganz verschieden. Wenn man etwa ein Kriterium für Wahrheit darin sieht, daß ein Urteil weder formallogisch, noch materiallogisch in einem Widerspruch zu schon Erkanntem steht, dann ist dies natürlich kein ausreichendes Wahrheitskriterium. Wenn man z.B. sagt: „Heute, bevor Dr. Dolittle, ein Tierliebhaber, aus seinem Haus gegangen ist, hat er alle seine Katzen gestreichelt und mit Milch gefüttert“, dann liegt darin zwar kein Widerspruch mit anderen als wahr erkannten Sachverhalten, weder formallogisch noch materiallogisch. Im Gegenteil, es besteht sogar eine sinnvolle Entsprechung. Aber dies genügt offensichtlich nicht als Kriterium, weil die Wahrheit all der weitgehenden Behauptungen darüber, was Dr. Dolittle heute früh mit seinen Katzen angestellt hat, gar nicht aus den bekannten Wahrheiten hervorgeht. Die Tatsache, daß eine Aussage weder materiallogisch noch formallogisch einen Widerspruch zu anderen wahren Aussagen, die ich kenne, enthält, oder sogar sinnvoll mit ihnen verbunden ist, ist nicht genug um Wahrheit zu beweisen. Daher ist Kohärenz in diesem Sinne kein zwingendes oder hinreichendes positives Wahrheitskriterium.
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Als negatives Wahrheitskriterium hingegen besitzt die entsprechende materiallogische Inkohärenz durchaus grundlegende Bedeutung. Wenn man etwa erkennt, daß etwas zu bekannten Wahrheiten im Widerspruch steht, entweder formallogisch oder inhaltlich, kann man sagen, daß ein solcher Widerspruch mit schon als wahr erkannten Urteilen gültiges Kriterium für die Falschheit des bereits erkannten Urteilen widersprechenden Urteils ist. Hier gibt es natürlich viele Grade der Gewißheit und Wahrscheinlichkeit, je nachdem wie strikte erwiesen der materiallogische oder formallogische Widerspruch ist. Wenn daher jemand sagt, Dr. Dolittle habe vor seiner letzten Afrikareise alle seine Katzen ertränkt, dann liegt darin ein starker materiallogischer Widerspruch, der uns erlauben würde zu sagen: „Nach allem, was wir von der Tierliebe des Dr. Dolittle wissen, ist das unmöglich.“ Allerdings, wenn z.B. alle Katzen Dr. Dolittles AIDS oder sonst irgendeine schwere Krankheit gehabt hätten, dann wäre es natürlich nicht undenkbar, daß sogar Dr. Dolittle sie ertränkt hätte. Es wäre unwahrscheinlich, aber nicht undenkbar. Die psychologische Kohärenz mit dem Charakter eines Menschen ist natürlich viel weniger zwingend und die Widersprüchlichkeit in diesem Sinn ist sosehr ein Teil des Lebens, daß Menschen häufig Handlungen begehen, die im Widerspruch zu ihrem uns bekannten allgemeinen Charakter stehen. Dadurch, daß hier der Widerspruch nicht streng notwendig ein Widerspruch zu dem ist, was wir kennen, sondern ein bloßer Sinnwiderspruch, der unter Umständen in der Wirklichkeit bestehen kann, ist dieses Kriterium nicht zuverlässig. Denn es kann ja sein, daß jemand, der einen anderen sehr gut kennt, ihm nie eine bestimmte Handlung zutrauen würde, daß dieser dieselbe aber doch begangen hat. Und so ist ein auf bloßer sinnvoller Verbindung wahrer Urteile beruhender Widerspruch kein zwingendes, aber gleichwohl ein gutes prima-facie-Kriterium, eines „bis auf weitere Prüfung“. Wenn hingegen ein vom Wesen einer Sache her notwendiger Widerspruch eines Urteils mit schon als wahr erkannten Urteilen besteht, sei es ein notwendig materiallogischer oder formallogischer Widerspruch, dann ist dieser als negatives Kriterium für Falschheit vollständig hinreichend.
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Zu Kohärenz als Kriterium der Wahrheit können wir sagen, daß eine notwendige Verknüpfung von wahren Urteilen mit allen andern Urteilen, wie sie gar nicht besteht, so auch nicht ein Kriterium der Wahrheit sein kann. Denn ein wahres Urteil ist nicht mit allen anderen Urteilen notwendig verknüpft. Dies ist schon deshalb unmöglich, weil alle andern Urteile auch die falschen Urteile einschließen. Wenn man die notwendige Verknüpfung von Urteilen mit manchen anderen Urteilen nimmt, dann kann dieselbe allerdings ein Kriterium für Wahrheit sein, insoferne ein Urteil tatsächlich notwendig mit vielen schon als wahr erkannten Urteilen verknüpft ist. Dann ist die Wahrheit durch die notwendig mit ihr verknüpften Wahrheiten garantiert und dann können wir es tatsächlich als Kriterium der Wahrheit ansehen, daß wir zeigen, daß die Wahrheit eines bestimmten Urteils notwendig mit schon als wahr erkannten Urteilen verknüpft ist. Dies geschieht auch im Prozeß jeder logischen Deduktion, etwa in jedem Syllogismus, in dem man zeigt, daß aus bestimmten Prämissen notwendig die Wahrheit einer bestimmten Konklusion folgt. Wenn man dies gezeigt hat, daß also ein notwendiger Wahrheitszusammenhang zwischen der Wahrheit der Konklusion mit der Wahrheit der Prämissen besteht und wenn man zusätzlich die Wahrheit dieser Prämissen erkannt hat, dann ist das ein Kriterium für die Wahrheit der Konklusion. Mit anderen Worten, wir erkennen die Wahrheit eines Urteils, wenn wir zeigen, daß dieses Urteil notwendig mit anderen, schon als wahr erkannten, Urteilen verknüpft ist. Deshalb liegt in dieser Form der Kohärenz ein Kriterium für Wahrheit. Ja die notwendige Verknüpfung der Wahrheit von Urteilen mit anderen schon als wahr erkannten Urteilen, die in formaler Hinsicht ihren Grund in der formalen Syllogistik und im Fundament der Schlußtheorie und Beweistheorie hat, liegt der ganzen Sphäre angewandter Logik zugrunde. Wie Pfänder in seiner Logik herausarbeitet, ist ja ein Beweis nicht einfach der Nachweis, daß eine Konklusion notwendig aus bestimmten Prämissen folgt. Mit einem derartigen Nachweis kann man nur die Folgerichtigkeit einer Deduktion oder eines Syllogismus beweisen. Vielmehr ist für einen Beweis vorausgesetzt, daß nicht nur die Gültigkeit eines Schlusses und der notwendige Zusammenhang der Wahrheit der Konklusion mit jener der Prämissen aufgewiesen wird, sondern daß auch die
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Wahrheit der Prämissen feststeht. Der Beweis setzt also sowohl die Folgerichtigkeit des Schlusses als auch die Wahrheit der Prämissen voraus. So beweist die Folgerichtigkeit des Schlusses die einseitige notwendige Verknüpfung der Wahrheit der Konklusion mit jener der Prämissen: Wenn die Prämissen stimmen, stimmt auch die Konklusion. Die Wahrheit der Konklusion ist garantiert, wenn die Wahrheit der Prämissen feststeht und bewiesen, wenn überdies ein Begründungszusammenhang vorliegt. In diesem Sinne handelt die Logik und Syllogistik weitgehend von Kohärenz im Sinne der notwendigen Wahrheitsverknüpfung eines bestimmten Urteils mit anderen schon als wahr erkannten oder angesetzten Urteilen. Die Frage, ob Kohärenz als kohärente Verknüpfung mancher Urteile ein Wahrheitskriterium ist, hängt von dem weiteren Problem einer sinnvollen Verknüpfung verschiedener Urteile ab. Bei einer solchen hat man viel weniger im Auge als eine notwendige Verknüpfung. Wenn man z.B. sagt, daß die verschiedenen Urteile über die Welt, die aus unserer Sinneserfahrung hervorgehen, sinnvoll miteinander verknüpft sind, dann sagt man, daß diese Urteile einander ergänzen, daß sie nicht nur nicht-widersprüchlich sind, sondern daß sie sich sinnvoll zu einem Ganzen fügen. Angesichts der Prüfung der Kohärenz der Berichte über eine Tat, wie sie im Alten Testament bei dem Verhör der Susanna im Bade belauschenden und des Ehebruchs bezichtigenden beiden Alten durch Daniel durchgeführt wird, so fragt es sich erstens, ob die Urteile der Alten sich widersprechen. In diesem Fall haben die Berichte sich direkt widersprochen, wenn auch aus materiallogischen und nicht aus rein formallogischen Gründen. Aber es besteht auch die Frage, ob Geschichten, die zwei oder mehr Zeugen erzählen, nicht nur in dem Sinne kohärent sind, daß sie einander nicht widersprechen, sondern auch im Sinne, daß ein ganzes, verständliches und sinnvolles Bild aus diesen verschiedenen Berichten entsteht. Kohärenz von Berichten heißt dann, daß sie in Einklang mit der Psychologie eines Menschen, mit der Tatsächlichkeit der Welt und mit der Wirklichkeit stehen und daß sich aus diesen verschiedenen Urteilen eine sinnvolle Ganzheit ergibt. Wenn man Kohärenz in diesem Sinn, also nicht als notwendige Verknüpfung, aber auch nicht als bloße Widerspruchsfreiheit, sondern als
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sinnvolle Verknüpfung verschiedener Urteile, so daß dieselben sich zu einem sinnvollen Ganzen fügen, versteht, dann kann natürlich im einzelnen noch sehr viel unter Kohärenz in diesem Sinn verstanden werden. Denn es gibt ganz verschiedene Grade und Arten solcher sinnvoller Verknüpfungen. Denken wir an sinnvolle Verknüpfung eines Urteils mit einer Reihe von anderen Urteilen, oder noch spezifischer mit den Urteilen der Weisen oder den Urteilen der Fachleute oder jenen Urteilen, die aufgrund der verschiedenen Sinne erfolgen oder den Urteilen, die verschiedene Zeugen eines Ereignisses fällen, dann könnte man auf die Frage der Kohärenz als Wahrheitskriterium antworten: sinnvolle Verknüpfung ist nicht eine schlechthinnige Bedingung und deshalb erst recht nicht ein zwingendes Kriterium der Wahrheit, denn es gibt ja Fakten, die in einer sinnstörenden Diskrepanz mit sonstigen Erfahrungen stehen, etwa ganz wunderbare oder aber bizarre oder absurde Ereignisse, die mit den übrigen uns bekannten Tatsachen scheinbar in gar keinem Einklang stehen, aber doch wirklich vorgefallen sind. Insofern ist also Kohärenz in diesem Sinne nicht eine notwendige Bedingung der Wahrheit und daher auch weder eine notwendige Folge noch ein notwendiger Grund der Wahrheit. Aber als Kriterium der Wahrscheinlichkeit von Wahrheit ist sicher eine derartige sinnvolle Zusammenfügung von Urteilen zu einem Ganzen ein wichtiges Kriterium, das z.B. Detektive oder Historiker oder verschiedene Naturwissenschaftler, und auch Richter vor Gericht, häufig benützen. In einem Rechtsprozeß ist allerdings nicht eine solche sinnvolle Übereinstimmung der Urteile eines einzigen Menschen, sondern erst jene verschiedener Menschen ein wichtiges Kriterium bzw. eine Evidenz durch Zeugenaussagen. Dabei geht es allerdings nicht nur um Urteile selbst, sondern auch um die Fakten, die man beobachtet und die ihrerseits im Einklang mit den Zeugenaussagen stehen müssen. So geht es oft um Kohärenz zwischen beobachteten Sachverhalten und den Urteilen von Zeugen. Wenn dieselben alle zusammen ein einheitliches sinnvolles Bild ergeben, dann liegt in demselben u.U. ein Indizien- und zugleich Zeugenbeweis, der im Falle, daß eine solche Kohärenz ohne ihre Fundierung in der Wahrheit nicht erklärbar ist, zu einer Verurteilung oder zum Freispruch eines Menschen führen kann.
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Kohärenz in diesem Sinn kann daher in jenem Sinne und Maße als Kriterium der Wahrheit gelten, als kein anderes oder weniger fehlbares Kriterium vorhanden ist. 5.7. Kohärenz als Erkenntnis von Wahrheit
Als Theorie der Erkenntnis von Wahrheit scheidet die Theorie der Kohärenz, im Gegensatz zu jener der Evidenz, aus, denn Kohärenz als solche ist ja keine Erkenntnisform wie evidente Einsicht. Doch schließt dies nicht aus, daß auf Grund der Kohärenz verschiedener Erfahrungen und Erkenntnisse die Evidenz der einzelnen Erkenntnisse gestärkt oder sogar erst hervorgerufen wird. 6. Kohärenz als wichtiges Wahrheitskriterium des Detektivs, Ermittlers und Richters, sowie in der Hermeneutik von Texten Bei Detektiven, in der Literaturwissenschaft, in der Historie, in der man verschiedene Berichte, Texte oder Quellen zusammenfügt, ist Kohärenz eines der hauptsächlichsten Kriterien. Wenn eine Theorie mit allen verschiedenen Berichten oder Quellen und wenn diese mit allem anderen, was wir erfahren, übereinstimmen, nehmen wir an, eine historische oder detektivische Theorie sei wahr. So gibt es viele Fälle, wo Kohärenz (nicht so sehr im Sinn reiner logischer Widerspruchslosigkeit, sondern im Sinne sinnvoller Ganzheiten von Theorien) ein Hauptkriterium ist. Genauso bei Interpretationen von Kunstwerken. Wenn man etwa Shakespeares Romeo und Julia so interpretiert, daß die ersten beiden von 6 Zeilen mit den letzten nicht mehr übereinstimmen, und wenn dann jemand denselben Text mit Hilfe des Dominospiels der italienischen mittelalterlichen Kultur so erklärt, daß alle sechs Zeilen sich auf einmal zusammenfügen und innerhalb dieser Theorie kohärent erscheinen, dann ist das ein Grund zu sagen, eine solche geschlossene Theorie eines Teiles des literarischen Kunstwerks, in der die 6 Zeilen miteinander und mit dem ganzen Stück in Verbindung gebracht werden, sei ein Kriterium ihrer Wahrheit und ihrer Richtigkeit.
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Von diesem richtigen Punkt einer Theorie der Hermeneutik aus liegt der Fehlschluß nahe, daß deshalb, weil sie ein Kriterium für Wahrheit ist, Kohärenz auch dasselbe sei wie Wahrheit. Wenn man Kohärenz nicht bloß als Widerspruchslosigkeit annimmt, sondern wenn man eine innere Einheit oder gar das von Hegel verabsolutierte notwendige Verbundensein verschiedener Elemente in einem notwendigen Wesen als Kohärenz bezeichnet, dann kann diese Form von Kohärenz ein hinreichendes Kriterium dafür sein, daß wir etwas für wahr halten oder daß wir etwas als wahr erkennen. Sogar wenn wir nur ein Puzzlespiel zusammenfügen und wirklich jeder Teil sich zusammenfügen läßt und wenn außerdem das Ganze nicht irgendein komisches abstruses Gebäude ist, sondern ich aus tausend Puzzlestücken etwa genau die Kuppel des Doms von Florenz zusammenbekomme, dann ist das zumindest für die Zwecke des Puzzlespielers ein hinreichendes Kriterium dafür, daß er die rechte Lösung gefunden hat, daß seine Lösung die richtige ist. Natürlich könnte es prinzipiell sein, daß doch der eine Stein anders verwendet wird als er gedacht war oder es könnte auch sein, daß man mit denselben Puzzlestücken zwei verschiedene Formen machen könnte. In solchen Fällen von Kohärenz ist dennoch das sinnvolle Zusammenpassen der Teile ein zureichendes Kriterium dafür, daß man etwas für wahr ansieht, aber es kann natürlich auch sein – vor allem, wenn es nicht so ein einfaches primitives Ding wie ein Puzzle, sondern etwa ein philosophischer Text ist –, daß eine Theorie, die ein philosophisches Werk wie ein ganz geschlossenes System, wo alles zusammenstimmt, interpretiert, weniger berechtigt ist als eine, die Widersprüche in einem Philosophen zuläßt, aber dafür all den verschiedenen Erkenntnissen tiefer gerecht wird, die er vielleicht nicht miteinander verbunden und mit manchen Irrtümern vermischt hat. In diesem Sinn würde ich hinsichtlich der Kohärenztheorie als hermeneutischer Theorie sagen, daß durchaus eine nicht-kohärente Interpretation eines Textes richtiger sein kann als eine kohärente. Und deshalb kann man nicht einmal hier, wo Kohärenz am ehesten ein gültiges Wahrheitskriterium ist, allgemein sagen, daß Kohärenz ein hinreichendes Kriterium ist, um die Erkenntnis der Richtigkeit oder Wahrheit einer Interpretation zu erkennen.
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7. Neuerliche Bemerkungen zu den Motiven der Kohärenztheorie Wenn man die Motive der Kohärenztheorie der Wahrheit prüft oder sich danach fragt, warum überhaupt die Kohärenztheorie im strengen Sinn als Theorie über das Wesen der Wahrheit entstanden ist, dann lassen sich verschiedene Gründe nennen: Einmal gibt es die bereits erwähnten Schwierigkeiten, die in der Adäquationstheorie der Wahrheit als solcher und vor allem in der Erkenntnis der Übereinstimmung von Urteilen mit der Wirklichkeit (in der Verifizierung) liegen. Mit dem Skeptizismus von Hume und Kant, nach dem wir die Dinge an sich, so wie sie in sich selber sind, überhaupt nicht erkennen können, ist natürlich erst recht eine Erkenntnis, die die Adäquation oder Entsprechung von Urteilen mit der Wirklichkeit beweist, nicht mehr möglich, zumindest im letzten Sinne. Es gibt zwar bei Kant noch die Idee der Wahrheit, wie Palacios nachweist,145 ja Kant setzt in vieler Hinsicht noch die klassische Adäquationstheorie der Wahrheit voraus, da er Urteile, die mit Erscheinungsgegenständen übereinstimmen, als wahr betrachtete. Das ist sicher richtig, aber in einer anderen Hinsicht folgt daraus, daß Kant leugnet, daß wir die Wirklichkeit so erkennen können, wie sie in sich ist, daß diese Position zumindest leicht zu derjenigen führt, daß wir letzten Endes nur noch eine Kohärenz unserer Erfahrung, das sinnvolle Zusammenspielen unserer Erfahrung, feststellen können, an der Stelle von Wahrheit. Denn erstens setzt selbst die Anwendung der Adäquationstheorie auf unsere Urteile über Erscheinungen – entgegen Kants Leugnung der Erkennbarkeit des Dings an sich – an sich bestehende Sachverhalte über Erscheinungen voraus, mit denen unsere Urteile über sie übereinstimmen müssen, um wahr zu sein. So ist mit Wahrheit als der wirklichen Adäquation von Urteilen mit dem Selbstverhalten der Erscheinungen ein Ding an sich, ein absoluter Punkt gegeben, sowie man Wahrheit im Sinn der Übereinstimmung auffaßt, da für jede Wahrheit über Erscheinungen
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Siehe J.M. Palacios, El idealismo transcendental: Teoría de la Verdad, S. 19 ff., 155 ff.
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das an sich Bestehen von Sachverhalten über Erscheinungen vorausgesetzt ist. Dieselbe Voraussetzung von an sich bestehenden Sachverhalten und der Übereinstimmung unserer Urteile mit diesen ist natürlich auch bei der Kohärenztheorie gegeben, weil man in dieser sagen muß: „Ja es ist wirklich wahr, daß etwas kohärent ist“. Und dann hat man wieder etwas, nämlich Wahrheit als Übereinstimmung, als ein An sich, vorausgesetzt. Gleichwohl bleiben Skepsis und Zweifel an der Erkenntnis eines Seins und einer Wirklichkeit, an der man die Übereinstimmung von Urteilen messen kann, ein Grund für die Aufgabe der Lehre von der Wahrheit als Adäquation. Wenn man die Wahrheit im Sinn der Übereinstimmung annimmt und also sagt, daß ein Urteil wahr ist, wenn es mit den Erscheinungen, so wie sie uns wirklich erscheinen, übereinstimmt, dann hat man mit diesem Wahrheitsbegriff zwar wieder etwas, was an sich besteht, gesetzt. Denn Wahrheit als Übereinstimmung mit der Welt, wie sie uns erscheint, ist wirklich wahr, weil sie an sich selbst mit der Welt, wie sie uns erscheint, übereinstimmt. Doch wäre ein solches „Ding an sich“, das ausschließlich in Sachverhalten über Erscheinungen bestünde, eine jämmerliche Angelegenheit, wenn man es an der Aspiration der Philosophie, Wahrheit über Freiheit, Person, Seele, Gott und Unsterblichkeit zu erkennen, mißt. Wenn man von der Wahrheit von Urteilen über Dinge an sich redet, welche in der Philosophie eine fundamentale Rolle spielt, so muß man, insoweit man nicht (mit Kant) den „transzendentalen Schein“ von Urteilen über Dinge an sich akzeptiert, die objektiv falsch und doch unvermeidlich sind, nach einem andern Wahrheitsbegriff suchen, den man dann in der Kohärenz zu finden hoffen mag. Dieser Grund für das Entstehen der Kohärenztheorie der Wahrheit ist verwandt mit der erwähnten Entwicklung der modernen Naturwissenschaft und Mathematik. Denn in dem Moment, in dem man zweifelte, daß es Axiome und Grundprinzipien gibt, die schlechthin vorgegeben und erkennbar sind, daß es also etwa evident ist, daß zwei gerade Linien in einer Ebene sich niemals schneiden oder daß zu einer gegebenen Linie nur eine einzige gerade Linie möglich ist, die durch einen gegebenen Punkt außerhalb der Linie geht und die gegebene gerade Linie nie schneidet, lag
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eine neue Wahrheitstheorie in der Mathematik nahe. Wenn man zweifelt, wie seit dem Aufkommen der nicht-euklidischen Geometrien, daß dieser Satz evident sei, wenn man dennoch zugleich die Kohärenz dieses Satzes mit den anderen Postulaten der euklidischen Geometrie erfaßt, so verschiebt sich leicht die einzig richtige Theorie über die Urteilswahrheit, nach der die Wahrheit in einer Übereinstimmung des Urteils mit dem behaupteten Sachverhalt liegt, in Richtung einer Kohärenztheorie der Wahrheit. Man sagt darum: „Wahre Axiome gibt es nicht. Daher ist ein System der Mathematik oder Physik nicht dadurch bestimmt, daß seine Sätze oder Urteile mit einer vorgegebenen Wirklichkeit oder mit vorgegebenen mathematischen Wesenheiten übereinstimmen, sondern nur dadurch, daß es ein kohärentes System ist. Man kann ganz verschiedene und einander vom Standpunkt der Adäquationstheorie aus widersprechende kohärente Systeme entwickeln. Und deshalb ist ihre Wahrheit nichts anderes als ihre Kohärenz.“ Gewiß, auch hier setzt man an vielen Stellen Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung voraus, aber dies hindert nicht, daß dieses Motiv sicher eine Rolle in der Entstehung der Kohärenztheorie gespielt hat. In gewisser Hinsicht liegt auch der Theorie von Thomas Kuhn über die Revolution der Wissenschaften eine Kohärenztheorie der Wahrheit zugrunde, weil er annimmt, daß die verschiedenen Erscheinungen und Erfahrungen im Kontext eines Paradigmas, irgendeines wissenschaftlichen Modellbildes zusammenpassen sollen. Und solange man sie alle wie Bruchstücke eines Puzzle zusammenfügen könne, sei es genau dies, was der Begriff Wahrheit meine. Aber eine solche „Wahrheit“ ist weder zeitlos noch steht sie in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, sondern die jeweiligen Modellbilder werden durch die wissenschaftlichen Revolutionen wieder durch jeweils ganz andere Modellbilder ersetzt. Daraus folgt, daß man in dieses neue und allen früheren widersprechende Modellbild vielleicht sogar alle Stücke und Erfahrungen und Teiltheorien zu einem neuen kohärenten Ganzen wird einfügen können. So ist die Entwicklung der Wissenschaft gleichsam nur ein stets wachsendes kohärentes System von Teilbehauptungen mit bestimmten, sich wandelnden Modellvorstellungen oder Paradigmen, die ihrerseits mit
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beobachtbaren empirischen Fakten in Einklang stehen. Wenn diese Kohärenz durch neue Beobachtungen zusammenbricht, muß man eben wieder ein neues Paradigma entwerfen. So sind auch Kuhns Ideen bezüglich der Revolutionen der Wissenschaften und die von ihm verteidigte Kohärenztheorie der Wahrheit durch den Zusammenbruch der Idee einer Evidenz bezüglich der Übereinstimmung von wissenschaftlichen Urteilen mit der Wirklichkeit entstanden. Fassen wir zusammen: Die Skepsis hinsichtlich der Erkenntnis von Wahrheit im Sinn der Übereinstimmung und insbesondere einer Erkenntnis des Seins, wie es in sich selber ist, ist wohl der Hauptgrund dafür, daß alternative Wahrheitstheorien wie die Kohärenztheorie entwickelt wurden. Dafür, daß ein solcher Skeptizismus in der jüngeren Philosophie zur Herrschaft kam, war zunächst David Hume verantwortlich, der Kant, wie dieser selbst formuliert, aus seinem „dogmatischen Schlummer“ weckte. Kant versuchte, diesen Skeptizismus zu überwinden. Letztendlich sind aber auch all die nach Kant in der reinen Vernunft begründeten Urteile, die sich auf die durch subjektive Anschauungsformen und Denkformen geprägte Erscheinungswelt beziehen, nicht Urteile über objektiv bestehende Sachverhalte, etwa darüber daß A wirklich die Ursache von B ist, sodaß die Wahrheit von Kausalurteilen als eine eigentliche Übereinstimmung unserer Urteile mit jener Wirklichkeit, die unabhängig vom menschlichen Geist besteht, zusammenbricht. So betrachtet, muß man in Kants kritischer Philosophie ein Hauptmotiv für die Entstehung der Kohärenztheorie der Wahrheit, ja deren Herrschaft, wenigstens in versteckter Form, erblicken. Ähnliches gilt für die „habits of experience“, die nach David Hume auf Grund von Gesetzen der Assoziation zu unseren Allgemeinurteilen führen, die sich eigentlich nur auf wegen Kohärenz der gewohnheitsmäßigen Erscheinungen erzeugte Illusionen beziehen. Zumindest ein weiterer historischer Grund für die Entwicklung der Kohärenztheorie liegt im Skeptizismus, wie er im österreichischen Positivismus infolge des vorhergehenden Empirismus in England erschienen ist. Denn in all diesen Philosophien kann letztlich kein Kriterium für eine Erkenntnis zu finden sein, mit deren Hilfe die Übereinstimmung von Urteilen mit einer Wirklichkeit, die unabhängig vom Geist bestünde, möglich würde. Daher wird es verständlich, daß man versucht, die
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Wahrheit selbst umzuinterpretieren, um das für solche Philosophien unlösbare Problem zu vermeiden, daß wir, um die Wahrheit von Urteilen zu erkennen, eine Wirklichkeit, die uns vorgegeben ist, feststellen und dann sehen müßten, ob unsere Urteile mit dieser vorgegebenen Wirklichkeit übereinstimmen. Wenn es eine solche Erkenntnis, ja ein an sich Sein der Dinge gar nicht gibt, dann ist es verständlich, daß eine Kohärenztheorie oder eine Konsenstheorie oder irgendeine andere alternative Theorie des Wesens der Wahrheit entsteht. Zwar ist es selbstverständlich auch unter den genannten Voraussetzungen möglich zu sagen: Wahre Urteile sind diejenigen, die mit den Erscheinungen, so wie sie uns gegeben sind, übereinstimmen. Insofern ist es nicht direkt eine Konsequenz des Idealismus, daß man das Wesen der Wahrheit umdeutet. Ja noch mehr: Selbst ein Kantianer muß, wie jeder andere Denker auch, unweigerlich die Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung als das einsehen, was wir mit wahr meinen und dasselbe an vielen Stellen seines Systems voraussetzen. Ein anderes Motiv für das Entstehen der Kohärenztheorie der Wahrheit liegt wohl in der Verwechslung der Kohärenz als Kriterium und als Wesen der Wahrheit. Eine derartige Verwechslung liegt auch Brentanos ganz anders gearteter Evidenztheorie der Wahrheit zugrunde, wie wir gesehen haben. Zwar sieht Brentano mit Recht in wirklich evidenter Erkenntnis, die uns einsichtig wird, das höchste Kriterium dafür, daß etwas wahr ist. Dann jedoch geht er weiter und sagt, darin liege das Wesen der Wahrheit, daß jemand, der mit Evidenz urteilt, so urteilen würde. Dies sei alles, was Wahrheit bedeute. Daran haben wir schon Kritik geübt. Diese Tendenz, die Erkenntnis, mit der wir Wahrheit erkennen, oder das Kriterium, mit Hilfe dessen wir Wahrheit feststellen, mit dem Wesen der Wahrheit selbst zu identifizieren, ist sehr groß. Es gibt noch eine ganze Menge weiterer Gründe für die Kohärenztheorie, etwa in Hegels Metaphysik, nach der „die Wahrheit das Ganze“ ist. In dieser These würde ich ein anderes Hauptmotiv der Kohärenztheorie sehen, wie sie vor allem bei Bradley aufscheint, aber ebenso in der Verzweiflung des jungen Hegel über die Widersprüche in der Geschichte der Philosophie, über die Nichtkohärenz der Philosophie als ganzer, die wohl mitentscheidend zu seiner späteren Philosophie geführt hat. Es war
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und ist ja ein Urärgernis für jeden, der die Philosophiegeschichte betrachtet, und überhaupt für jeden Menschen, wenn er sieht, welche Meinungsgegensätze über alle Dinge herrschen. Denn wenn er betrachtet, daß der eine sagt, man dürfe Menschen beliebig töten, der andere sagt, nein, dies dürfe man unter keinen Umständen, so scheint nur bornierte Willkür einen solchen Streit einfach für eine Seite entscheiden zu können. Der eine sagt, es gibt Gott, der andere sagt, es gibt keinen. Der eine sagt, es gibt Freiheit, der nächste leugnet sie. Einer behauptet, es gebe Erkenntnis, der andere, es gäbe sie nicht. Der eine sagt, Geister seien wirklich, der andere reduziert alles auf Materie. Darin liegt ein Skandalon (auf Grund dessen jeder sich oft fragt, ob seine eigenen Anschauungen denn wahr sein können, ja ob es überhaupt Wahrheit gibt. Wenn man mit der Welt solcher Widersprüche konfrontiert ist und nicht nur irgendwelche Nichtswisser oder Toren, sondern sehr ernsthafte Wissenschaftler und Philosophen solche einander ausschließende Positionen einnehmen, dann muß man sich fast fragen: „Kann man solchen Streit überhaupt entscheiden?“. Hegel geht zunächst davon aus, dies sei nicht möglich. Das ist die Hegelsche Skepsis, die Kierkegaard als Geheimnis der Hegelschen Philosophie bezeichnet hat.146 Hegel meint, es gäbe keinen Weg, auf dem man diesen Streit dadurch entscheiden kann, daß man sagt, diese und jene Auffassungen seien nicht richtig, schlecht begründet, usw. und die anderen seien wahr. Darin aber, daß er bezweifelt, daß man in solchen widerspruchsvollen Meinungen der Philosophen die wahre Seite ausfindig machen könnte, liegt ein Hauptmotiv Hegels dafür, nach einer Theorie zu suchen, in der alle Gegensätze Teile eines übergreifenden Ganzen sind, sodaß er sagt, sie seien letzten Endes gar nicht wirklich widersprüchlich, sondern alle nur Phasen in einer dialektischen geschichtlichen Entwicklung, in der die Idee der Freiheit und der absolute Geist, die absolute Idee, sich historisch entfalten bis zum Höhepunkt des preußischen Staates und – im Reich des 146
Siehe Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (Ges. Werke 16. Abteilung) Teil I und II. (Düsseldorf/Köln, Diederichs, 1957/1958), Bd. I, I. Teil, VII, 22, Anm., S. 29-30. Zweiter Teil, 1. Abschnitt, Kap. 1, 2, 4, bes. S. 98 ff., vgl. auch ebd., S. 318 (244).
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„absoluten Geistes“ – der Hegelschen Philosophie, worin alles gipfle. Demnach wäre jede Phase, jeder Widerspruch in der Philosophie, ein notwendiges Element, ein Schritt gewesen hin zu diesem vollkommensten, perfekten Ganzen der Hegelschen Philosophie. Das ist gewiß eine kühne, wenngleich natürlich genauso oder noch absolutistischere Theorie als alle Versuche, die Streitigkeiten zwischen Philosophen zu entscheiden, weil Hegel damit nicht nur sich selber wiederum im Gegensatz stellt zu allen, die nicht Hegelianer sind (und es gibt sehr gute Gründe dafür, nicht zu meinen, daß Hegels Philosophie, wie er meint, „das Selbstgespräch Gottes mit sich selbst“ oder der preußische Staat das vollkommenste Wunderwerk von Ordnung und Kultur und Sinn in der Geschichte seien), sondern er erhebt den Anspruch, als einzige und erste Theorie das Geheimnis der dialektisch sich entfaltenden Vernunft durchschaut und alle anderen Auffassungen als untergeordnete Momente seiner eigenen integriert zu haben. Dennoch ist es verständlich, daß Hegel nach einer Theorie sucht, in der man, statt zu entscheiden, woran er verzweifelt war, daß eine Position wahr und eine andere falsch sei, annimmt, daß alle Positionen Teile eines übergreifenden Ganzen der eigenen Position seien. Unter dieser Voraussetzung kann man Wahrheit nicht mehr als Übereinstimmung dieser Theorie mit der Wirklichkeit denken, sondern muß sie sozusagen als Ganzes aller Teile eines großen welthistorischen Puzzlespiels auffassen, in welchem das Leben des Ganzen aus allen diesen Elementen gefügt ist. So gleiche Wahrheit einer Pflanze, die alle Phasen und Ausdrucksformen des Lebens in sich birgt. Ähnlich stehen die Dinge bei Dilthey, wo allerdings der neue Gedanke auftaucht, daß die Geschichte ein Lebensprozeß sei und alle Kulturen, alle Meinungen, weil sie eben Ausdruck dieses Lebens seien, gleiches Recht hätten. Alle diese Ideen, die aus einer Verzweiflung an einer Erkenntnis einer objektiven Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung von Urteilen mit vorgegebenen Sachverhalten, welche die Falschheit der kontradiktorisch entgegengesetzten Urteile entspringen, können mehr oder minder verständlicher Weise zu einer Kohärenztheorie der Wahrheit führen, in der dann irgendeine Form eines umfassenden Sinnzusammenhangs gefunden wird.
Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung
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Bei Hegel besteht Kohärenz allerdings nicht in Widerspruchslosigkeit, sondern im Gegenteil im Widerspruch bzw. in der Ganzheit aller Meinungen in ihrer Widersprüchlichkeit, die in der Synthese jeweils „aufgehoben“ sind. Im Lichte unserer kritischen Analyse müssen wir diese and ähnliche Ideen gänzlich von uns weisen. Kohärenz als Nichtwidersprüchlichkeit ist sicher eine notwendige Bedingung und ein Wesensmerkmal der Wahrheit. Wenn man sie als Widerspruchslosigkeit eines bestimmten Systems von Sätzen mit all denen, die wir schon als wahr erkennen, betrachtet, dann ist Kohärenz sicher nicht eine hinreichende, wenn auch eine notwendige Bedingung für Wahrheit. 8. Abschließende Bemerkungen über Wahrheit als adaequatio als Grundlage des einzigen vollkommenen kohärenten Systems – und über die Unmöglichkeit und Widersprüchlichkeit jedes Versuchs, Wahrheit selber als Kohärenz zu deuten Die analysierten Motive der Kohärenztheorie beweisen in keiner Weise, daß Wahrheit wirklich Kohärenz ist. Ganz im Gegenteil, diese Theorie widerspricht sich sogar selber. Denn wenn man sagt, Wahrheit bestehe nicht in der Übereinstimmung unserer Urteile mit der Wirklichkeit, sondern nur in ihrer inneren Kohärenz, behauptet man, daß das wirklich so ist: „Darin besteht die Natur der Wahrheit“. Und diese Behauptung ist nicht wieder nur deshalb wahr, weil sie kohärent mit anderen Urteilen ist, sondern hier wenigstens erhebe ich offenbar den Anspruch, daß dieses Urteil über Wahrheit als Kohärenz wahr ist, weil es mit dem wirklichen Wesen der Wahrheit übereinstimmt. Wenn ich sage, „Wahrheit ist nicht Übereinstimmung, Wahrheit ist Kohärenz“, setze ich Wahrheit im Sinne der adaequatio voraus. Außerdem muß ich nicht nur dafür Wahrheit voraussetzen, daß ich sage, Wahrheit besteht wirklich darin, kohärent zu sein, sondern ich muß auch Wahrheit als adaequatio voraussetzen, um festzustellen, daß etwas überhaupt kohärent ist. Mit anderen Worten, wenn ich frage, „Ist ein System wirklich kohärent?“, dann muß ich bei bejahender Antwort stets voraussetzen, daß wirklich der eine Satz mit dem anderen übereinstimmt. Und diese Feststellung der Kohärenz kann nicht
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KAPITEL 2
wieder nur kohärent und deshalb wahr sein, sondern hier muß der Kohärenztheoretiker den Anspruch erheben zu erkennen, daß wirklich das eine Urteil mit dem anderen in einem nichtwidersprüchlichen Verhältnis steht. Und für diese These wenigstens beansprucht er wieder Wahrheit als Adäquatio. Darum setzt jede Kohärenztheorie der Wahrheit und jede andere, von der Adäquationstheorie abweichende Theorie der Urteilswahrheit überhaupt, sofern sie eine Theorie über das Wesen der Wahrheit ist, wieder die Urgegebenheit von Wahrheit als adaequatio voraus, was wir in diesem Teil für die Brentanosche Evidenztheorie der Wahrheit und für die Kohärenztheorie der Wahrheit gezeigt zu haben hoffen. Dies schließt keineswegs aus, daß letztendlich vollkommene Kohärenz ausschließlich in der Wahrheit im Sinne der adaequatio besteht. Es ließe sich zeigen, daß auch bei philosophischen (und teilweise sogar bei dichterischen) Texten und in der Geschichte der Philosophie insgesamt Kohärenz nur zwischen allen jeweiligen wahren Erkenntnissen und Urteilen liegt, wie sie bei jedem Philosophen zu finden sind. Nur diese gibt das wirklich kohärente Bild, nicht das Ganze all der Meinungen und Äußerungen oder irriger Systeme von Philosophen, sondern nur das Ganze dessen, was sie wirklich gesehen haben, was sie wirklich eingesehen haben, was wirklich wahr ist. In diesem Sinn kann man gerade durch die Auffassung des Wesens der Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit erst jene wirkliche innere Einheit und Kohärenz finden, die das Skandalon der Widersprüche, wenn nicht beseitigt, so doch erklärt. Es sind nämlich nicht ausschließlich diese Widersprüche zu betrachten, sondern all die vielen Einzeleinsichten, die meist sogar von großen Irrtümern vorausgesetzt sind. Wenn man diese Erkenntnisse, diese überall verstreuten wahren Urteile oder Spermata tou logou (Bruchstücke des einen Logos), von ihren falschen Verallgemeinerungen oder von falschen Thesen, die sich an sie angeschlossen haben, befreien könnte, dann würde man ein wirklich kohärentes Ganzes der Philosophie bekommen, weil dasselbe nur in der Wahrheit möglich ist. Die letzte Kohärenz aller wahren Urteile ist nur in der Wahrheit gegeben. Denn jedes falsche System und jeder einzelne Irrtum, wenn man sie mit wahren Urteilen konfrontiert, erweisen sich letzten Endes als nichtkohärent – durch innere Widersprüchlichkeit oder durch Widerspruch mit anderen Wahrheiten.
Die Kohärenztheorie der Wahrheit – eine kritische Untersuchung
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Mit anderen Worten: Die Wahrheit als Übereinstimmung der Urteile mit der Wirklichkeit ist die einzige Erklärung eines wirklich kohärenten und vollständigen Systems bzw. einer summa veritatis, denn in jedem anderen, auch noch so kohärenten Teilsystem oder in jeder Theorie, auch wenn ihre Teile völlig miteinander und auch mit anderen allgemeinen Wahrheiten zusammenstimmen sollten, ist, wenn sie falsch sind, doch irgendwo ein Widerspruch zu irgendwelchen Wahrheiten verborgen. Es ist unmöglich, daß es ein vollständig kohärentes System, das auch mit allen anderen wahren Sätzen kohärent ist, geben könnte, das falsch wäre. In diesem Sinne kann nur die Wahrheit in ihrer Ganzheit volle Kohärenz besitzen.147
147
Aber da wir natürlich nicht alle wahren Urteile kennen, genügt für uns die Kohärenz einer auch noch so entwickelten Theorie mit anderen bekannten Inhalten nicht, um zu beweisen, daß sie wahr ist.
II. TEIL
WAHRHEIT – KONSENS – DISKURS
KAPITEL 3 KONSENSTHEORIEN UND DISKURSTHEORIEN DER WAHRHEIT
Eine der weiteren möglichen Folgen des Zweifels an der Erkennbarkeit von Wahrheit im Sinne der Korrespondenz zwischen Urteil und Sachverhalt ist zweifellos die Konsenstheorie der Wahrheit. Das Wort, das aus dem Lateinischen stammt, kommt vom Verb consentire/consentiri (buchstäblich: „zusammen fühlen“ oder „gemeinsam fühlen“, oder auch „gemeinsam meinen“) und bedeutet Übereinstimmung, meist verschiedener Personen. Konsens besteht, wenn Personen mit einander übereinstimmen und derselben Meinung sind; er kann sich in verschiedener Weise ausdrücken, etwa in sprachlich ausgedrückten Urteilen oder auch, wenn man Gelegenheit hatte und ganz frei war, die Zustimmung zu verweigern, dies aber nicht tat, in dem berühmten Schweigen, dessen überzeugende Interpretation das römische Rechtsprinzip gibt: qui tacet, consentiri videtur. Die Konsenstheorie der Wahrheit setzt an die Stelle der Wahrheit als einer Übereinstimmung zwischen Urteil und Sachverhalt die Wahrheit als Gegenstand des Konsenses. In ihrer radikalsten Form, als Wesenstheorie der Wahrheit, meint sie entweder, daß Wahrheit nichts als ein konsensbestimmtes Konstrukt sei oder daß sie nur darin bestehe, daß ein Urteil Gegenstand eines Konsenses sei. In ihren milderen Abarten beschränkt sich die Konsenstheorie auf eine Theorie über Wahrheitskriterien und meint etwa, daß Konsens ein hinreichendes Wahrheitskriterium darstelle oder auch nur, daß er eine notwendige Folge der Wahrheit sei, ohne dabei notwendigerweise zu behaupten, daß der Konsens nicht aus anderen Gründen zustandekommen könne, und deshalb ohne notwendigerweise zu behaupten, daß sein Bestehen ein hinreichendes Wahrheitskriterium sei.148 148
Vgl. Mitchel Berbrier, “From Logos to Pathos in Social Psychology and Academic Argumentation: Reconciling Postmodernism and Positivism in a Sociology of Persuasion”, Argumentation, (1997); 11(1): 35-50. In der Zusammenfassung des Papers durch den Autor im Philosopher’s Index heißt es: “Postmodern perspectives hold knowledge and truth to be intersubjective, consensus-driven social constructions... Abandoning these artificial distinctions in both
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KAPITEL 3
Bei Charles S. Peirce verbindet sich ein Verständnis des Wesens der Wahrheit als Konsens mit einem Moment des Pragmatizismus, sodaß man seine Wahrheitstheorie als Verbindung zwischen Konsenstheorie und einer ausgeprägten pragmatistischen Handlungstheorie der Wahrheit ansehen kann. Das letztere Moment kommt im folgenden Satz sehr deutlich zum Vorschein: ...Wahrheit besteht weder in mehr noch in weniger als in jenem Charakter eines Satzes (Urteils), welcher nichts anderes ist als daß der Glaube an den Satz uns, bei hinreichender Erfahrung und Reflexion, zu einem solchen Verhalten (Handeln) führen würde, wie es zu einer Erfüllung der Wünsche, die wir zum gegebenen Zeitpunkt haben, dienlich wäre. Zu behaupten, daß Wahrheit mehr als dies meint, heißt, daß sie überhaupt keinen Sinn hat.149
Die heute verbreitetste und philosophisch seriöseste Form der Konsenstheorie der Wahrheit ist wohl diejenige der Diskursphilosophie und Diskursethik, die insbesondere auf Habermas, den wohl subtilsten, wenn auch vielleicht obskursten Verteidiger einer Konsenstheorie, in Form einer Diskurstheorie, der Wahrheit zurückgeht und auf die wir ausführlicher eingehen werden. Auch bei Kant kann man, neben Aussagen, welche die Adäquationstheorie der Wahrheit und solchen, die die Kohärenztheorie der Wahrheit verteidigen, Elemente einer „transzendentalen Konsenstheorie der Wahrheit“ finden, indem Denknotwendigkeiten und gemeinsame subjektive Strukturen angenommen werden, die zu allen Menschen gemeinsamen und von ihnen notwendig für wahr gehaltenen Postulaten und Prinzipien führen, welche bei Kant in wesentlichen Aussagen an die Stelle der Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung von Urteilen mit der Wirklich-
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epistemology and method would enable this social psychology, reconstituted as a ‘sociology of persuasion’, to contribute greatly to illuminating the processes of truth and knowledge construction in social interaction.” Vgl. auch die Verteidigung des Konsenstheorie der Wahrheit bei Arthur Fine, “Truthmongering: Less is True,” Canadian Journal of Philosophy (1989); 19 (4): 611-616. Ch. S. Peirce, Collected Papers, Bd. V, S. 375, Anm. 2. Vgl. auch Torjus Midtgarden, “Peirce’s Speculative Grammar from 1895-1896: Its Exegetical Background and Significance”, Transactions of the Charles S. Peirce Society, 2001 Winter; 37(1): 81-96.
Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit
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keit treten.150 Bevor wir auf die Konsenstheorie der Wahrheit und ihre vielfältigen Varianten als solche eingehen, d.h. auf die Theorie, daß Wahrheit ihrem Wesen nach im Konsens bestehe oder daß Konsens ihre Bedingung, ihre Folge oder ihr geeignetes Kriterium sei, wollen wir zunächst einmal fragen, was Konsens heißt und seinem Wesen nach ist. 1. Was ist und was heisst ‚Konsens‘? Unter Konsens verstehen wir eine Übereinstimmung im Urteil oder in der Überzeugung (unter Umständen auch eine andere Art von ‚Übereinstimmung‘ von anderen Akten bzw. deren Resultaten, wie politischer Entscheidungen für einen Amtsträger oder eine Partei, die uns aber hier im Rahmen einer Untersuchung über das Wesen der Wahrheit nicht angehen, da es in ihnen nicht direkt, sondern höchstens ganz indirekt, um Urteile und Wahrheitsansprüche geht). Konsens ist dabei nicht eine Eigenschaft einzelner Akte, sondern entweder eine objektive Relation zwischen ihnen, die keineswegs selber Aktcharakter besitzt, sondern sich nur aus gewissen Gleichheiten oder Ähnlichkeiten verschiedener Akte ergibt, oder sie ist ein ausdrückliches und bewußtes Teilen derselben Überzeugungen und hat somit den Charakter eines bewußten Aktes der Zustimmung oder Übereinstimmung mit anderen Personen oder, besser gesagt, eines gegenseitig ineinandergreifenden und auf einander bezogenen Aktgeflechts, das zu einem gemeinschaftlichen und in personaler Form geteilten Urteilen mehrerer Personen führt, wobei selbstverständlich jeder einzelnen Person ihre je eigene Erkenntnis, ihre je eigenen Überzeugungen und Urteilsakte zugehören, die niemand anderer „für sie vollziehen” und die kein Zeitgeist, Volksgeist oder Weltgeist ihr abnehmen kann, worauf Soeren Kierkegaard in unübertrefflich deutlicher Weise hingewiesen hat.151 Wohl aber können verschiedene Personen ihre Urteilsakte in Gemeinschaft mit anderen 150
151
Vgl. Dietmar Koveker, „Zwischen ‚objektiver Gültigkeit‘ und ‚subjektivnotwendigem Probierstein‘ der Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung, (1995); 49 (2): 274-293. Vgl. Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, zit.
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KAPITEL 3
vollziehen oder auch die von ihnen für wahr gehaltenen Urteile öffentlich in einem bewußten Konsens zum Ausdruck bringen oder bekennen. Dabei ist es, insbesondere im Kontext einer Diskussion der Konsenstheorie der Wahrheit, wichtig festzuhalten, daß die bewußten Akte, die einem Konsens, insbesondere im zweiten Sinne, zugrundeliegen, nicht notwendig Akte des Urteilens, in denen ein Urteil, das einen Wahrheitsanspruch erhebt, gefällt wird, sein müssen. Es kann sich jemand vielmehr auf ein Konsenspapier, Gesetz oder einen Text einigen, den der Einzelne, wenigstens teilweise, gerade nicht für wahr hält, aber vielleicht als minus malum gegenüber anderen und schlimmeren Texten oder Gesetzen betrachtet, weil er der Meinung ist, daß die volle Wahrheit keine Chance auf Konsens hat und weil Konsens der Mehrheit für viele Bereiche des Lebens in einer demokratischen Gesellschaft Bedingung ist. Konsens hat hier also nicht die Bedeutung eines gemeinsam angenommenen Urteils, sondern eher des Annehmens oder Akzeptierens (acceptance) von, oder der Zustimmung zu, etwas (agreement). Während man den Ausdruck „Konsens“ in dem Falle, in dem er eine Übereinstimmung im Urteil bedeutet, als Zustimmung oder Übereinstimmung fassen und als consent ins Englische übersetzen kann, könnte man Konsens im Falle einer bloßen Akzeptanz von etwas oder Einigung auf etwas als agreement übersetzen, was ein Einverständnis oder „sich einverstanden Erklären“ bedeutet.152 Kehren wir aber zu den beiden genannten Grundbedeutungen von Konsens sowie deren Eigenschaften zurück: Da steht auf der einen Seite das bloße objektive Resultat bzw. die objektive Relation des Konsenses, in dem verschiedene Urteile, Urteilsakte oder auch ihr sprachlicher Ausdruck zu einander stehen können, und auf der anderen eine Art „kommunikatives Handeln“ in dem Sinne eines bewußten Übereinstimmens mit anderen. Diese beiden Formen von Konsens sind wesensverschieden von einander. Wenden wir uns zunächst der ersten Bedeutung von Konsens zu und sehen wir dabei von jenem Konsens ab, der eigentlich nur als Akzeptanz oder agreement bezeichnet werden sollte. Wir fassen also jenen Konsens
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Engelhardt legt mit recht Gewicht auf diese Unterscheidung zwischen Konsens und Akzeptanz. T. H. Engelhardt, Jr., The Foundation of Bioethics, 2nd ed. (New York and Oxford: Oxford University Press, 1996), pp. 13 ff.
Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit
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im strengen Sinne ins Auge, der nur dort vorliegt, wo Personen in ihren je eigenen, verschiedenen Akten dieselben Urteile für wahr halten. Die Konsens genannte rein objektive Übereinstimmung zwischen Akten oder ihren Resultaten und Inhalten (den logischen Urteilsgebilden) zielt auf eine volle oder partielle Ähnlichkeit oder Gleichheit, nicht aber auf eine Ähnlichkeit oder Gleichheit zwischen Akten als solchen ab, da ja auch Urteilsakte, in denen ganz entgegengesetzte Inhalte angenommen werden, als Akte einander ähnlich sind. Vielmehr bezieht sich Konsens nur auf eine besondere Art der Ähnlichkeit oder Gleichheit von Akten, die aufs engste mit deren Inhalten bzw. mit den logischen Urteilsgebilden verbunden sind, die in verschiedenen Akten für wahr gehalten werden. Konsens bezieht sich auf die Relation der Akte des Urteilens und der Überzeugung zu deren Inhalten bzw. zu jenen logischen Entitäten, die ihnen entsprechen und ohne welche diese Akte unmöglich wären. Konsens verschiedener Personen bedeutet also nur jene Verwandtschaft und Verbindung von Akten, die allein der Tatsache entspringt, daß Menschen dieselben Urteile für wahr halten und überzeugt sind, daß dieselben Sachverhalte, die im Urteil behauptet werden, tatsächlich bestehen. Der erste Begriff von Konsens also enthält – im Gegensatz zur Kohärenz – schon ein Moment, das über eine rein logische Eigenschaft der Urteilsgebilde hinausweist und einen Bezug zu einem Urteilsakt, bzw. zu den diesem zugrundeliegenden Überzeugungen eines personalen Subjekts voraussetzt. Konsens in seiner zweiten Grundbedeutung hingegen meint in der Tat ein noch wesenhafteres Moment personaler bewußter Akte, die auf einander und auf die Inhalte des jeweils anderen Urteils bezogen sind: nämlich einen Akt oder ein Aktgeflecht des einseitigen oder gegenseitigen Zustimmens bzw. des „mit einander Übereinstimmens“, setzt also einen bewußt erfahrenen Bezug zu anderen, bekannten oder unbekannten, wirklich oder vermeintlich erkannten, oder auch nur vermuteten, Akten voraus. Was aber heißt Konsens oder ‚Übereinstimmung‘ genau? Wir müssen innerhalb dieses unklaren Begriffs153 wenigstens die folgenden ganz 153
Die Unklarheiten der Konsenstheorien und dialogischen Diskurstheorien der Wahrheit reichen noch weiter als sie hier dargestellt werden. Manche dieser
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KAPITEL 3
verschiedenen Fälle unterscheiden, wobei wir, entsprechend unserem Thema, der Konsenstheorie der Wahrheit, von jenen Fällen und Bedeutungen von Konsens absehen, in denen dieser Ausdruck nur die Annahme eines Kompromisses oder praktischer Ziele bedeutet. 1.1. „Rein objektiver Konsens“ und seine drei Arten: Konsens als bloße Gleichheit des objektiven, aus Begriffen bestehenden und von Personen gefällten Urteils; als objektive Übereinstimmung der Überzeugungen, und als rein statistisch erfaßbarer ‚linguistischer Konsens‘
Wir können unter Konsens eine rein objektive Gleichheit des Urteils oder der Überzeugungen verstehen, ohne daß irgendeine einseitige oder gegenseitige Kenntnis oder Erkenntnis einer objektiv bestehenden Gleichheit von Urteilen und Überzeugungen vorzuliegen braucht. Aus diesem Grunde und nicht weil die unmittelbaren Bezugspunkte des Konsenses selber, die Termini, zwischen denen Konsens besteht, nicht Akte eines oder mehrerer bzw., im Falle eines breiten politischen Konsenses oder eines Konsenses der Mehrheit, vieler oder gar aller Menschen wäre, sondern weil in den hier gemeinten Fällen von Konsens keinerlei gegenseitige Kenntnis des Urteils anderer Personen den Konsens prägt und auch nicht in bestimmter Weise in ihn einfließt, sprechen wir hier von einem rein objektiven Konsens. Konsens in dieser Bedeutung ist also nicht die ausdrückliche, einseitig, beiderseitig oder gegenseitig bekannte Übereinstimmung der Urteile verschiedener Personen und der diesen Urteilen zugrundeliegenden Überzeugungen, eine Bedeutung von Übereinstimmung, auf die wir zurückkommen werden, sondern die rein objektive Einhelligkeit oder Gleichheit im Urteil oder der Überzeugung.
Theorien verwechseln mitunter sogar den bloßen Wahrheitsanspruch eines Urteils mit der Wahrheit, etwa Habermas, wenn er schreibt: „Wahrheit ist ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, wenn wir sie behaupten.“ (J. Habermas, „Wahrheitsheorien“, S. 211-265.)
Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit
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Es kommt zumindest dreierlei in Frage, was unter einem solchen rein objektiven Konsens verstanden werden kann und was selber wieder verschiedene Subkategorien umfaßt:154 1) Konsens als objektive Gleichheit des (geglaubten, für wahr gehaltenen) Urteils: Man kann erstens unter Konsens die objektiv gleichen oder zumindest einander implizite bestätigenden Überzeugungsinhalte (Urteile im Sinne behauptender logischer Bedeutungseinheiten) verstehen, insofern sie Gegenstand der Überzeugungen oder Urteilsakte von Personen sind. Bezüglich der im letzten Nebensatz dieser Definition ausgedrückten Einschränkung erinnern wir an dieser Stelle an einen schon angesprochenen diffizilen Aspekt der Konsenstheorie der Wahrheit bzw. der vorgängigen Frage, worin Konsens besteht: nämlich an die Schwierigkeit, klar und präzise zu erfassen, was dieser objektive Konsens eigentlich ist, da er niemals „rein objektiv,“ d.h. niemals ohne jeden Bezug zu Akten denkender Subjekte ist. Im Gegensatz zur Kohärenz, die Urteilen (Urteilsinhalten) rein objektiv zukommt und nichts mit den persönlichen Überzeugungen jener Menschen zu tun hat, die diese Urteile für wahr halten, kann man nämlich als Träger des Konsenses niemals rein objektiv gleiche Urteile ansehen, sondern nur Urteile, von denen zumindest vorausgesetzt wird, daß sie von einigen oder allen Menschen gefällt werden. Konsens setzt also immer über die rein objektiven logischen Gebilde der Urteile hinaus ein Moment der Überzeugung oder des Glaubens derjenigen Personen voraus, die das Urteil fällen und für wahr halten. Konsens hat also, selbst in seinen rein objektiven Aspekten, einen Bezug zu Subjekten, der bei der Wahrheit von Urteilen als solchen und bei ihrer Kohärenz ganz wegfällt. Daß die Idee des Konsenses selber, auch in dessen objektiven Formen, immer einen Bezug zur Urteilsakten und Überzeugungen von Menschen voraussetzt, kann man auf der Ebene politischen Konsenses leicht erkennen. Wenn z.B. auch sämtliche Bürger eines Staates bei einer Wahl oder in Beantwortung eines Fragebogens dasselbe Urteil fällen, dazu aber unter schrecklichen Drohungen eines totalitären Staates gezwungen werden, so herrscht kein Konsens zwischen ihnen und den Regierenden, auch wenn weiterhin vollkommene Gleichheit des Inhalts oder Kohärenz 154
Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“; zit.
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KAPITEL 3
zwischen den von diesen Personen ausgedrückten Urteilen besteht. Es kommt also auch in dieser ersten Form rein objektiven Konsenses zur objektiven Gleichheit der Urteilsinhalte hinzu, daß sie von den entsprechenden Individuen behauptet bzw. für wahr gehalten werden müssen, damit von Konsens die Rede sein kann. Die von einer Person tatsächlich in Urteilsakten und Behauptungsakten gedachten und behaupteten Urteile (Urteilsinhalte) unterscheiden sich eindeutig von rein objektiven Urteilen, wenn diese als rein logische Gebilde betrachtet werden oder ganz ohne Überzeugung gefällt werden oder hinsichtlich ihrer Wahrheit oder Falschheit geprüft werden, welche, im Gegensatz zum Konsens, völlig unabhängig von der Frage sind, ob wirkliche Personen diese Urteile fällen, und damit überhaupt nichts zu tun haben. Ein Urteil ist objektiv falsch, auch wenn es niemand auf der Welt für wahr hält, und umgekehrt bleibt es wahr, auch wenn niemand auf der Welt es fällt. Schon daraus ergibt sich übrigens die Unhaltbarkeit eines konsenstheoretischen Begriffs der Wahrheit, da die Wahrheit des Urteils Eigenschaft des rein logischen Urteilsgebildes und der Begriff der Urteilswahrheit ein Begriff ist, der eine Eigenschaft rein logischer Urteilsgebilde bezeichnet, während Konsens wesenhaft mit Urteilsakten und Überzeugungen verbunden ist und Urteile gerade in ihrer Verbundenheit mit diesen betrachtet; deshalb kann, was Wahrheit ist, in keiner Weise von Akten der Zustimmung abhängen. Doch betrachtet dieser erste objektive Begriff von Konsens den Bezug von Konsens auf Übereinstimmung nur als stillschweigende Voraussetzung und bezieht sich direkt nicht auf die von Personen rein innerlich gehabten Überzeugungen und nicht einmal auf das für wahr Halten von Urteilen oder auf die von Personen behaupteten Sachverhalte als Gegenstände innerer Überzeugungen, die man als solche schwer testen kann, sondern stützt sich vielmehr einfach auf das Verstehen des objektiven Urteils, das in einem Behauptungsakt gefällt oder in einer Überzeugung für wahr gehalten wird, aber eine eigenständige logische Entität darstellt. Man kann also statt den (kaum meßbaren) inneren Überzeugungen und den ihnen als immanente Inhalte entsprechenden Urteilen sowie deren Gegenständen – den Sachverhalten – die aus Begriffen bestehenden objektiven Urteilsgebilde, die jemand für wahr hält, zum Anhalts- und Ausgangspunkt wählen, und dort von Konsens sprechen, wo Menschen in
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ihren Akten die Wahrheit dieser Urteile behaupten. (Um diesen Konsens zu realisieren und jedenfalls, um ihn feststellen zu können, müssen diese Urteile freilich sprachlich ausgedrückt sein, aber der hier gemeinte objektive Konsens der ersten Art baut nicht auf diesen sprachlichen Formulierungen und Sätzen, sondern auf den in diesen ausgedrückten objektiven Gedanken auf.) Konsens wäre dann der Einklang zwischen objektiven Urteilen, und zwar nicht im Sinne der Bolzanoschen „Sätze an sich“, sondern der Urteile, wie sie in Behauptungsakten behauptet werden und deren Inhalt darstellen. Das Urteil im Sinne des objektiven Urteilsinhalts läßt sich in concreto viel leichter erfassen als die zugrundeliegenden Akte, da es gleichsam unabhängig von den – unserem Blick ja immer letztlich verborgenen – geheimen inneren Überzeugungen eines Menschen besteht, auch wenn es diesen normalerweise entspringt und man, um von Konsens zu reden, wenigstens eine allgemeine innere Annahme der Wahrheitsansprüche dieser objektiven Urteile durch Personen annimmt. 2) Konsens auf der Ebene der objektiven Übereinstimmung zwischen Überzeugungsakten und inneren Urteilsakten bzw. deren Inhalten. Zweitens kann man sich mit dem Ausdruck eines objektiven ‚Konsenses‘ auf die personalen Akte der Überzeugung, des Annehmens oder Glaubens, der urteilsmäßigen Zustimmung oder Verwerfung selber beziehen; diese Akte des „beliefs“ (des Glaubens oder des Meinens) müssen zwar notwendig einen Inhalt haben, den man das ‚Urteil‘ in dem in Kapitel 3 von Wahrheit und Person erörterten Sinne nennen kann, unterscheiden sich jedoch, als individuelle, personale Akte von dem rein logischen behauptenden Urteilsgebilde. Dieses ist ja deutlich sowohl von Urteilsbzw. Behauptungsakten, auch wenn es in diesen behauptet werden kann und dann gleichsam deren ‚Inhalt‘ bildet, als auch von sprachlichen Sätzen, in denen es ausgedrückt werden kann, verschieden. Der Terminus ‚Überzeugung‘ kann zwar – ebenso wie ‚Urteil‘ – nicht nur einen Akt, sondern auch dessen Inhalt (ein objektives Urteil als Inhalt der Überzeugung) meinen, und zwar dann, wenn man die Überzeugung in ihrem objektiven Sinne als Inhalt der Überzeugung nimmt, d.h. als das Urteil, welches Gegenstand des Überzeugungsaktes ist, oder sogar als den vom Urteil gemeinten und behaupteten Sachverhalt.
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KAPITEL 3
Die Ebene, auf der hier Konsens oder Dissens bestehen, ist nicht mehr das reine objektive Urteil, und nicht einmal mehr jenes objektive Urteil, von dem in allgemeinen Zügen angenommen wird, daß es jemand tatsächlich fällt oder von dem er sogar selber sagt, daß es seiner Überzeugung entspricht. Vielmehr ist hier der Bezugspunkt und Träger des Konsenses die Gesamtheit der wirklich innerlich für wahr gehaltenen Urteile selbst, insofern sie den wirklichen Überzeugungen von Menschen entsprechen. Mit diesem weniger leicht feststellbaren, aber in personalen Akten begründeten Konsens kommen wir dessen Wesen viel näher als in dem Falle, wo Ausgangspunkt des Konsensbegriffs nur die objektiven Urteile sind, die von Personen gefällt werden. Ja nur im Falle des Vorliegens solcher innerer Akte der Überzeugung finden wir objektiven Konsens, denn solange die von Menschen gefällten Urteile nicht ihrer inneren Überzeugung entsprechen, handelt es sich nur um scheinbaren Konsens und um eine der Person selber äußere Ebene objektiver logischer Urteilsgebilde, die leichter zugänglich sind als innere Akte, aber die eigentlich nur deshalb als objektiver Konsens angesehen werden können, weil sie als Anzeichen der inneren Überzeugungen der Menschen interpretiert werden. Erst wenn der Konsens sich auf diese inneren Akte selber stützt, ist er deshalb echter Konsens, welcher eben niemals eine rein logische Gegebenheit ist, sondern wesenhaft auf diesem Moment der inneren Überzeugung (des belief) beruht. Eine klare Abgrenzung dieses eigentlichen Konsenses vom ersten Typ objektiven Konsenses läßt sich dadurch erreichen, daß es etwa zur sokratischen Auffassung des Konsenses gehört, auf Konflikte zwischen den beiden Ebenen des Konsenses hinzuweisen. Es gibt nämlich neben dem Konsens, der sich auf der bewußten Ebene geteilter Überzeugungen entfaltet, noch eine ganz andere Dimension des von Sokrates gemeinten Konsenses, nämlich die Übereinstimmung eines Menschen mit jenen Urteilen, die sich auch dann rein objektiv als logische Konsequenzen aus den von ihm gefällten Urteilen ergeben, wenn sie seinen persönlichen Überzeugungen nicht entsprechen, sondern zu diesen im Widerstreit stehen. Auf der Ebene der objektiven, von jemandem gefällten, Urteile, bzw. der logisch aus diesen folgenden Urteilsinhalte, besteht etwa schon
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Konsens mit dem von Sokrates Gesagten, auch wenn die bewußten inneren Überzeugungen der Gesprächspartner des Sokrates in heftigem Dissens zu Sokrates’ Aussagen stehen, oder umgekehrt. Sokrates versucht also, den Widerspruch aufzudecken, der zwischen diesen beiden Ebenen von Konsens oder Dissens bestehen kann. In einem derartigen sokratischen Dialog wie dem Gorgias etwa, im Zwiegespräch mit Kallikles, sagt Sokrates, in frei wiedergegebenem Gedankengang: „Was Du (bewußt) behauptest und wovon Du überzeugt bist, das Urteil, mit dem ich keineswegs übereinstimmen kann, daß das Gute mit der Lust identisch und nichts anderes als sie ist, widerspricht den logischen Konsequenzen des eben von Dir Zugegebenen: daß es nämlich schlechte oder neutrale Lust gibt; mit dieser Aussage aber hast Du die zuvor von Dir behauptete Identität des Guten mit der Lust geleugnet und mit dieser Verwerfung Deiner früheren These stimme ich ganz überein.“ Mit anderen Worten: Es besteht Dissens zwischen Sokrates und Gorgias auf der Ebene ihrer bewußten Überzeugungen, nicht aber auf der Ebene der von Gorgias bloß implizierten, rein objektiven Urteile, die dieser per implicationem gefällt hat und die dieselben sind, die Sokrates ganz bewußt für wahr hält. Die Verschiedenheit dieser beiden Ebenen, auf denen objektiver Konsens oder Dissens bestehen, kann sich auch in der umgekehrten Richtung zeigen und in den Worten zum Ausdruck kommen: „Mit Deinen wirklichen Überzeugungen stimme ich überein, nicht ab er mit dem, was Du hier eben behauptet oder impliziert hast; denn wenn Du damit recht hättest, so wäre nicht mehr S P, was doch Deiner wirklichen Überzeugung entspricht.“ Wir können die Unterscheidung zwischen dem in einem Satz ausgedrückten Urteil und der Überzeugung als Termini, zwischen denen Konsens bestehen kann, noch klarer sehen, wenn wir an lügenhafte oder verleumderische Behauptungen denken, durch deren Möglichkeit oder Wirklichkeit deutlich wird, wie weit das von jemandem gefällte Urteil von seinen Erkenntnissen und inneren Überzeugungen abweichen kann. Wir nehmen hier den Urteils- und Behauptungsakt in einem anderen Sinn als Reinach, der das Bestehen lügenhafter Behauptungen nicht anerkennt, sondern meint, daß ausschließlich jener Akt, dem die innere Überzeugung vom geurteilten Sachverhalt zugrundeliegt, ein Urteils- oder
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KAPITEL 3
Behauptungsakt sein kann, und daß daher eine Lüge nur eine Scheinbehauptung ist. Es geht hier um zwei evidenterweise verschiedene Akte und deshalb primär um eine terminologische Frage, ob man beide Behauptungen nennen will oder nicht. Allerdings hat diese Frage auch eine inhaltliche Seite, die über die terminologische Frage hinausgeht: Findet sich auch in der Lüge eine Behauptung, worunter man sowohl den Behauptungsakt als auch den objektiven Behauptungsinhalt, das ausgesprochene Urteil, das einen Sachverhalt behauptet, verstehen kann? Ist es nicht evident, daß eine Lüge nur dann wirklich eine Lüge ist, wenn sie auch tatsächlich eine Behauptung war, und zwar eine Behauptung des Bestehens von Sachverhalten, von denen der Lügner weiß oder zumindest glaubt, daß sie objektiv nicht bestehen?155 Wenn der Lügner nur den äußeren Habitus einer Behauptung annähme in der Weise, in welcher wir dies in den von Roman Ingarden als QuasiUrteil bezeichneten Gedanken finden,156 könnte er nicht lügen. Das QuasiUrteil ist jenes bloß scheinbare Urteil, durch das etwa ein Romanschriftsteller die Welt des Romans aufbaut, indem er diese scheinbar wirklich beschreibt, so als bestünde sie unabhängig von dem Roman und als würde er Urteile über sie fällen, während in Wirklichkeit diese ‚Urteile‘ QuasiUrteile sind und nur den Habitus eines Urteils aufweisen. Ein solches Quasi-Urteil, gerade weil es keine wirkliche Behauptung ist und deshalb keinen Wahrheitsanspruch erhebt, kann unmöglich eine Lüge sein. Lüge kann nur sein, was einen Wahrheitsanspruch macht; und dies gilt nur vom Urteil. Also muß in der Lüge eine Behauptung, und da diese nichts anderes ist als ein sprachlich zum Ausdruck gebrachtes Urteil, auch ein Urteil zugrunde liegen. 155
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Es gibt freilich noch schwierige Fälle der Lüge, wenn jemand das Falsche nur behaupten will, aber, ohne es zu wissen, Wahrheit redet. Dies ist ein Fall der Lüge, in dem kein wirkliches, sondern nur ein vermeintliches Wissen der Falschheit des eigenen Urteil vorliegt. Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk; sowie Josef Seifert, “Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment. An exposition of Its Logical Aspects and a Critical Evaluation of Its Value in the Context of Understanding the Literary Work of Art”, in: Adam WĊgrzecki (Hrsg.) Roman Ingarden a filozofia noszego czasu (Kraków: Polskie Towarzystwo Filozoficzne, 1995).
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Allerdings fehlt in der lügenhaften Behauptung ein anderer rein innerer Urteilsakt, der gleichsam die Seele des echten Behauptens und seines Sinnes ist und dessen Fehlen in der Lüge in gewisser Weise Reinach recht gibt, daß es sich bei dieser nur um eine Scheinbehauptung handelt, nämlich um eine Behauptung, der zwar auch ein Urteilsakt entspricht, der aber rein nach außen gerichtet ist und dem kein innerer Urteilsakt, welcher der eigentlichere Urteilsakt ist, zugrundeliegt.157 In diesem Sinne ist in der Tat die Lüge nur eine Scheinbehauptung und nur scheinbar ein Urteil, weil die in ihr liegende Behauptung das dieser zugrundeliegende reale Urteil nur vortäuscht. Auch wenn wir in diesem Sinne Reinach recht geben, müssen wir auf alle Fälle zwei ganz verschiedene Arten von Scheinbehauptung unterscheiden: die lügnerische und die des Quasi-Urteils. In dem Reich der Urteile und Überzeugungen müssen wir noch weitere Unterscheidungen treffen, auf deren Hintergrund wir besser verstehen werden, was unter Konsens zu verstehen ist. Es ist zunächst der hier und jetzt, in einem bestimmten Zeitpunkt, vollzogene Urteils- oder Behauptungsakt von der Überzeugung, die sich ihrem Wesen nach nicht in dem winzigen Zeitraum erschöpft, in welchem sie bewußt vollzogen wird, sondern in dauernder, überaktueller Form in der Person besteht, verschieden. Während der Behauptungsakt oder auch der ausdrücklich vollzogene, rein innere Urteilsakt sich in der Zeitspanne erschöpft, in der er vollzogen wird, bleiben Überzeugungen bestehen und können jahrelang oder lebenslang in der Person fortleben. Es hätte keinen Sinn zu sagen, was von einem Behauptungsakt durchaus gilt: „Um 16.15 Uhr war ich vom Sachverhalt X überzeugt; danach trank ich Kaffee und um 17 Uhr war ich wieder davon überzeugt, etc.“ In ihrer eigentlichsten Gestalt beeinflussen solche reale, überaktuelle Akte, wenn sie selber oder ihr Gegenstand ein entsprechendes Gewicht und entsprechende Tiefe besitzen, auch das aktuelle Bewußtsein und prägen es. Aristoteles bezeichnet eine derartige Seinsform menschlicher Akte als hexis (Gewohnheit oder Haltung) und die Scholastiker als habitus, in mißverständlicher Weise, weil dort zwischen dem habitus im Sinne einer durch Übung erworbenen Gewohnheit oder auch einer Handlungs157
Vgl. Adolf Reinach, ebd., und Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.
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disposition, und habitus im Sinne echter überaktueller Akte und Haltungen nicht scharf unterschieden wird. Diese überaktuellen Stellungnahmen, Tugenden und Grundhaltungen sind aber ganz von Gewohnheiten verschieden und auch viel mehr als Handlungsdispositionen, was besonders klar im Falle überaktueller kognitiver Akte wie Kennen und Wissen, sowie im Falle theoretischer Stellungnahmen wie Überzeugungen sichtbar ist, die ja evidenterweise weder Gewohnheiten noch Handlungsdispositionen sind. Doch auch die überaktuellen Willenshaltungen und Stellungnahmen sind in sich selber geistige Akte und überaktuelle intentionale Antworten und wesenhaft mehr als Handlungsdispositionen. Sie können auf individuelle Gegenstände oder (wie die Liebe) auf ‚Objektpersonen‘ gerichtet sein, oder aber auf allgemeine Güterbereiche antworten (wie Tugenden und Grundhaltungen).158 Überzeugungen im Sinne der überaktuellen ‚beliefs‘ gehören diesem überaktuellen, und zwar dem kognitiven Bereich menschlicher Akte an; sie können zwar in Behauptungsakten und Urteilsakten zum Ausdruck kommen, bzw. zu diesen führen, müssen dies aber nicht. Sie können auch unabhängig von jedem Behaupten in einem Menschen bestehen. Auch die Inhalte der Überzeugung können in Urteilen zum Ausdruck gebracht werden, müssen dies aber nicht. Man könnte mit Reinach zwischen vernehmungsbedürftigem sozialem Akt (wie dem Versprechen, der Mitteilung oder dem Befehl), die nur sind, was sie sind, wenn sie von einer anderen Person vernommen werden, und 158
Die ausführlichste und tiefgründigste Untersuchung des Unterschieds zwischen aktuellem und überaktuellem Bewußtsein ist diejenige von Dietrich von Hildebrand in seinen Werken Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine Untersuchung über ethische Strukturprobleme (1918), 3., durchgesehene Auflage (Vallendar-Schönstatt: Patris Verlag, 1982), sowie Das Wesen der Liebe; Dietrich von Hildebrand. Gesammelte Werke III (Regensburg: J. Habbel, 1971), 2e Aufl., (Hg.) Paola Premoli De Marchi (Milan: Pompiani, 2003). Vgl. auch Josef Seifert, „Grundhaltung, Tugend und Handlung als ein Grundproblem der Ethik. Würdigung der Entdeckung der sittlichen Grundhaltung durch Dietrich von Hildebrand und kritische Untersuchung der Lehre von der ‚Fundamentaloption‘ innerhalb der ‚rein teleologischen‘ Begründung der Ethik,“ in: Clemens Breuer (Hg.), Ethik der Tugenden. Menschliche Grundhaltungen als unverzichtbarer Bestandteil moralischen Handelns. Festschrift für Joachim Piegsa zum 70. Geburtstag, 311-360.
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dem einsamen, rein inneren Akt unterscheiden, der seinen vollen Sinn in sich behält, ganz gleich ob er vernommen wird oder nicht.159 Jemand könnte in diesem Lichte das Behaupten als einen Urteilsakt betrachten, dessen Inhalt (das objektive Urteil) auch sprachlich ausgedrückt wird, oder als einen Akt, in welchem ein einsamer innerer Urteilsakt nur nach außen verlautet oder schriftlich zum Ausdruck gebracht wird. Doch sind solche Beschreibungen ungenau und irrig. Denn wir müssen nicht nur zwischen Behauptungsakt und Behauptung im Sinne eines logischen Urteils unterscheiden; und nicht nur drückt die Behauptung dieses logische Urteil und nicht eigentlich einen Urteilsakt aus, der nur, in Husserl’scher Terminologie, kundgegeben wird. Vielmehr besteht zwischen dem sozialen und vernehmungsbedürftigen Akt der Mitteilung und auch der Aussage (einer gewissen Dimension des ausdrücklichen Behauptens und Hinstellens eines Sachverhalts) und einem rein inneren und keineswegs vernehmungsbedürftigen Urteilsakt keine notwendige Beziehung, wie wir im Falle der Lüge gesehen haben und wie wir auch am Beispiel des rein inneren Urteilsaktes, der sich nicht in einer Aussage und Behauptung äußert, sehen können. Im Unterschied zum zeitlich punktuellen Urteilen, das sowohl sprachlich ausgedrückt als auch ein rein innerer Urteilsakt sein kann, bzw. zum Behaupten, das ein über einen inneren Urteilsakt als solchen hinausgehender Akt des in den interpersonalen Raum Hinstellens und der Feststellung ist, können Überzeugungen überaktuell bestehen. Ja sie bestehen eigentlich niemals nur punktuell wie der Behauptungsakt, und brauchen auch nicht sprachlich und nicht einmal rein gedanklich ausgedrückt und ‚ausformuliert‘ zu werden.160
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Zum Wesen sozialer Akte vgl. Adolf Reinach, „Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes“, in: Reinach, Adolf, Sämtliche Werke. Texkritische Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (19051914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917); hrsg. v. Karl Schuhmann Barry Smith (München und Wien: Philosophia Verlag, 1989), 141-278, sowie John F. Crosby, „Reinach’s Discovery of the Social Acts,“ Aletheia (1983), 3, 143-194. Deshalb würde es dem Akt des Behauptens widersprechen, wenn jemand mitteilen würde, er habe etwas behauptet und auf die Frage, wo und vor wem er denn diese Behauptung aufgestellt habe, antworten wollte: „Ich habe das nur ganz still in
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Überzeugungen im Sinne der inneren Akte dürfen allerdings nicht mit dem Urteil selbst identifiziert werden, um dessen Wahrheit es uns ja geht. Insofern sich Konsens gerade auf diese Ebene der Überzeugungen und, noch präziser gesprochen, auf deren Beziehungen zu einander und zu ihren objektiven Urteilskorrelaten bezieht, bewegt sich die Konsenstheorie der Wahrheit in gewisser Weise von der Ebene der Wahrheit des logischen Urteils selber fort und auf die Akte der Überzeugungen und Behauptungen zu; denn erst auf dieser Ebene besteht eigentlich Übereinstimmung. Dabei ist ferner dasjenige, was eigentlicher Gegenstand des Konsenses ist und hinsichtlich dessen der Konsens besteht, nicht etwa die Überzeugungsakte oder Urteilsakte als solche (zwischen denen Einigkeit oder inhaltliche Gleichheit bestehen kann), sondern das in dieser Überzeugung für wahr gehaltene Urteil, also eine logische Entität, die aus Begriffen besteht und kein individueller Akt ist, aber dennoch zugleich dessen Inhalt ausmacht. Das Urteil ist es, worüber Konsens besteht; eigentlicher Gegenstand des Konsenses aber ist der in diesem Urteil behauptete Sachverhalt selber: wir stimmen darin überein, daß p, bzw. daß S in der Tat P ist. Bedenken wir all dies, sehen wir ein: Wirklicher Konsens besteht niemals einfach ‚auf dem Papier‘, und nicht einmal nur dann, wenn wirklich gleiche inhaltliche Urteile von Subjekten ausgedrückt werden, sondern erst dann, wenn diese Urteile auch von allen Subjekten, zwischen denen Konsens besteht, für wahr gehalten bzw. entweder geglaubt werden oder Gegenstand ihrer aus Erkenntnis geborenen Überzeugungen sind. Dabei kann ein solcher Konsens partiell oder vollständig sein, was im strikten Sinne von der Wahrheit eines Urteils nicht gelten kann und schon deren Verschiedenheit von Konsens bestätigt. Darüber hinaus gilt: wenn diese Urteile nur aus Angst, aus psychologischem oder politischem Druck gefällt werden oder rein politischen Zwecken entspringen, die mit dem Inhalt der gefällten oder auch schriftlich ausgedrückten Urteile nichts zu tun haben, oder wenn sie gar Lügen und Verleumdungen sind, ist ihr gleicher Inhalt keineswegs Zeichen wirklichen Konsenses, was in verschiedenem Grade zutrifft, je nachdem ob diese meinem Kämmerlein so vor mich hin behauptet.“ Hingegen wäre es ganz normal zu sagen: „Ich habe diese meine innere Überzeugung niemals geäußert.“
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Urteile Folgen irrationaler psychischer Faktoren sind. Auch wenn Urteile einer demagogischen Meinungsmache entspringen, die dem Einzelnen nicht bewußt wird (und die nicht hindert, daß ein Opfer solcher Demagogie wirklich und aus ehrlicher Überzeugung urteilt, wohl aber, daß diese Überzeugungen rational fundiert wären), oder wenn sie Lügen sind, fundieren sie keinen echten Konsens noch bringen sie ihn zum Ausdruck, sondern erwecken einen reinen Schein des Konsenses: Konsens bezieht sich also auf Urteile und auf Sachverhalte als Gegenstand von Überzeugungen oder Urteilsakten, und ist daher letztlich schwer oder gar nicht meßbar, vor allem dann nicht, wenn man an vortheoretische, unausgesprochene oder verschüttete Überzeugungen denkt, in Bezug auf die etwa jener moralische und praktische Konsens des vernünftigen Menschenverstandes herrscht, den Kant so hochhielt und von dem er zu Recht bemerkte, daß er im Falle theoretischer Erkenntnisse keineswegs in derselben verbreiteten Form existiert wie im ethischen Bereich, auch wenn sogar dieser moralische und praktische Konsens immer schon, und speziell heute, sehr problematisch geworden ist und höchstens in einer tieferen und unbewußteren Schicht menschlichen Bewußtseins und menschlicher Intersubjektivität herrscht oder angenommen werden kann. Wenden wir uns einem weiteren Wesensmerkmal des Konsenses überhaupt zu. Nur zwischen rationalen und personalen Wesen kann Konsens herrschen. Die Subjekte, zwischen denen Konsens im echten Sinn besteht, sind dann alle Personen, die von denselben Sachverhalten überzeugt sind und dieselben Urteile für wahr oder für falsch halten. Das Bestehen oder Nichtbestehen des Konsenses in diesem Sinne ist völlig unabhängig von seiner – einseitigen oder gegenseitigen – Feststellung oder Feststellbarkeit. Er könnte zwischen Menschen und Marsbewohnern bestehen. (3) Konsens als rein statistisch erfaßbarer ‚linguistischer Konsens’: Schließlich kann man als Bezugspunkt des Konsenses auch den bloßen sprachlichen Satz oder das Zeichen wählen, wie allein ihn eine Meinungsumfragen-Statistik zu erfassen versucht, doch letztlich nur eine Zählung abgegebener Stimmen oder Wahlergebnisse objektiv feststellen kann, wenn auch nur innerhalb bestimmter Grenzen (da es etwa immer einen Prozentsatz wahlberechtigter Stimmen gibt, die nicht wählen). Dieses Niveau objektiven Konsenses bietet den Vorteil strikter Erfaßbarkeit, bei der man von allem Meinen und Denken der Subjekte
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absehen kann. Der Nachteil ist jedoch, daß das bloße Ankreuzen einer Zeile auf einem Meinungsumfragenformular oder einem Wahlzettel, oder das Aussprechen oder Niederschreiben von Sätzen weder eindeutig Überzeugungen noch Urteile signalisiert und daher auch selber kein Konsens ist, sondern einen solchen höchstens andeutet, und auch dies nur dann, wenn diese Stimmen ganz freiwillig und bewußt denkend abgegeben wurden. In einem rein objektiven Feststellen von Sätzen verliert man jede Kontrolle und Erkenntnis davon, ob überhaupt ein Subjekt diese Sätze selbst angekreuzt, gelesen, oder verstanden hat und aus welchen vielleicht ganz irrelevanten Gründen es sie, vielleicht völlig ohne Zustimmung und Überzeugung, ausgesprochen oder niedergeschrieben hat. Damit verliert man den eigentlichen, wesenhaft personalen, Bezugspunkt des Konsenses, der eben auf der Ebene von Personen und nicht auf Papier oder in gesprochenen Sätzen, sondern erst dann besteht, wenn Personen dieselben Urteile für wahr halten und dieselben Sachverhalte durch die von ihnen für wahr gehaltenen Urteile behaupten. Zwar legt man, vor allem im Kontext demokratischen Konsensverständnisses, des häufigen Gebrauchs von Statistiken usf., dem Konsensverständnis meist nur den dritten, rein objektiven Sinn des Terminus ‚Konsens‘ zugrunde, aber in Wirklichkeit besteht Konsens objektiv nur auf der Ebene wirklich gleicher Überzeugungen (des zweiten Phänomens objektiven Konsenses) und gelten die dritte und erste Form nur dort als Ausdruck eines echten Konsenses, wo sie Zeichen und Ausdruck der zweiten sind. Statistiken, Abstimmungen und Wahlen stellen Formen des Versuches dar, einen rein objektiv bestehenden oder nicht bestehenden Konsens zu ermitteln, wobei man voraussetzt, daß die Sätze oder sonstigen sprachlichen Ausdrucksmittel der Überzeugungen von Menschen die inneren Überzeugungen der betreffenden Subjekte angemessen zum Ausdruck bringen. Eine objektive Feststellung des Konsenses in diesem dritten Sinne beschränkt sich meist auf die ganz äußere Feststellung von Sätzen oder Zeichen, die die Zustimmung zu bestimmten Urteilen zum Ausdruck bringen sollen. Wie bereits gesagt, sehen wir hier von jenen Abstimmungen und Wahlergebnissen ab, wo diese gar kein Urteil einschließen, sondern etwa einen Kandidaten bevorzugen oder eine bestimmte Verord-
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nung oder ein Gesetz nur für das geringere Übel halten; hier spielt der Konsens, oder besser: die Zustimmung, eine ganz andere Rolle, die mit unserem Thema des Wesens der Wahrheit wenig oder nichts zu tun hat. Abgesehen davon aber, daß es bei Wahlen und in anderen Fällen des sprachlich ausgedrückten Konsenses oft nicht direkt um Urteile oder Überzeugungen, sondern um andersartige Präferenzen geht, kann man auch dort, wo Volksabstimmungen oder andere Ausdrucksformen des äußerlich meßbaren Konsenses an sich Urteile zum Ausdruck bringen, nie in die Seele eines Menschen hineinblicken und feststellen, ob er wirklich jenen Aussagen zustimmt, denen er zuzustimmen scheint. Dies gilt nicht nur dort, wo Druck ausgeübt wird oder Sanktionen drohen, wenn jemand ehrlich seine Meinung zum Ausdruck bringt, sondern zeigt, weit darüber hinaus und in noch allgemeinerer Weise, den begrenzten und trügerischen Charakter und Wert statistischer Meinungsumfragen und Wahlergebnisse, wenn man ein objektives Urteil über den demokratischen Konsens einer Mehrheit fällen will, da die betreffenden Ergebnisse oft durch demagogische, rein psychologische oder andere irrationale Faktoren, wie Bestechungen oder rein persönliche Vorteile, die jemand aus einem bestimmten Abstimmungsergebnis zieht, gesteuert und bestimmt werden. Konsens im Sinne dieser rein äußerlich schriftlich oder mündlich fixierten objektiven Übereinstimmung ist jedoch wohl derjenige Sinn von Konsens, der den meisten Konsenstheorien der Wahrheit zugrundeliegt, die sich im Äußerlichen demokratischer und politischer Meinungsermittlung bewegen. Dabei geht man von der nicht unproblematischen Meinung aus, daß trotz der vielen Formen der demokratischen Stimmenmanipulation, der blinden Zustimmung Vieler zu vorgegebenen oder über Werbung suggerierten Texten usf. auf diese statistische Weise „objektiver Konsens“ ermittelt werden könne, der auch dem eigentlichen Niveau entspricht, auf dem allein wirklicher Konsens bestehen kann. Da jedoch in der überwiegenden Zahl der Fälle eine äußere Konsensbildung und Konsensermittlung auf der dritten oben genannten Ebene der sprachlichen Sätze, der Unterschriften oder ausgefüllten Fragebögen ohne jede vorhergehende Reflexion und oft sogar ohne jedes Verständnis der ‚Wählenden‘ oder ‚Zustimmenden‘ für den Inhalt solchen ‚Konsenses‘ zu Stande kommt, ist ein solcher Konsens fragwürdig und oft nahezu wertlos. Trotzdem besteht in der Demokratie – im Prozeß demokratischer
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Meinungsbefragung, in Wahlen, usf. – ausschließlich die Möglichkeit, Konsens auf dieser dritten Ebene bzw. in diesem dritten Sinne zu ermitteln. Verantwortliche Politiker statt Demagogen und Meinungsmachern werden freilich darum bemüht sein, daß der rein verbale und statistische erfaßbare Konsens einem wirklichen Konsens entspricht. Vor allem ist es eine Aufgabe, möglichst durch entsprechende Information sicherzustellen, daß es sich nicht nur um einen oberflächlichen und willkürlichen, weil auf purer Ignoranz beruhenden, sondern um einen wohl informierten und rationalen Konsens handelt. Platon nennt einen solchen rein verbalen und oft nur auf Demagogie oder Schein beruhenden Konsens Homologie (wörtlich: das Gleiche reden) und erkennt an, daß diese auch auf Schein oder irrationaler Meinung beruhen kann, wovor Sokrates Kriton ausdrücklich warnt.161 Sokrates betrachtet also die Erkenntnis, und insbesondere die gemeinsam sorgfältig geprüfte und erarbeitete Erkenntnis, als Quelle echten Konsenses. So verwendet Platon in anderen Zusammenhängen denselben Ausdruck Homologie (den man auch im buchstäblichen Sinne „als das gleiche Wort – den gleichen Sinn – reden“ übersetzen kann, in dem tieferen, zweiten, Sinne des Teilens derselben Überzeugung, und zwar eines solchen Teilens der Überzeugung auf Grund von Erkenntnis oder auch in dem (dritten) Sinne ausdrücklicher und gegenseitig bewußter, durch Dialog vermittelter Übereinstimmung.162 Doch ändert all dies nichts an der Tatsache, daß der tiefere und eigentliche Konsens (auf der zweiten Ebene objektiven Konsenses) demokratisch nur in sehr unverläßlicher Weise ermittelt werden kann und daß in einer Demokratie die Ermittlung des Konsenses einer Mehrheit auf die äußere Ebene der Sätze, Wahlstimmen, ausgefüllten Formulare etc. beschränkt bleibt. Wenn nun gar noch Konsens vieler oder der Mehrheit im Sinne einer rein statistischen und oft auf irrationalen Elementen und purer Demagogie aufgebauten Übereinstimmung nicht nur als Wahrheitskriterium gilt, sondern gar als Wesen der Wahrheit angesehen wird, handelt es sich um tiefgreifende Verzerrungen. Doch führt uns dies bereits über die Frage 161 162
Vgl. Platon, Kriton 49 c-d. So etwa im Euthydemos 292 b, wo es über die Übereinstimmung darüber geht, daß das Gute zugleich das Schöne sei.
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nach der Natur des Konsenses hinaus zum Problem seines Verhältnisses zur Wahrheit. Bevor wir uns dieser in unserem Zusammenhang entscheidenden Frage zuwenden, müssen wir noch eine ganz andere Bedeutung von Konsens von den bisher behandelten abgrenzen. 1.2. Als solcher erlebter Konsens – die ausdrückliche Übereinstimmung, die ein einseitiges oder gegenseitiges Wissen um die Übereinstimmung voraussetzt
Ganz von dem rein objektiven Konsens verschieden ist ein ‚subjektiv erlebter‘ Konsens, d.h. eine solche Übereinstimmung, die ein Wissen, eine Erkenntnis oder einen Glauben einschließt, auf Grund deren jemand sich bewußt wird, sein eigenes Urteil mit jenem anderer Personen zu teilen. Dieser sich von den diversen erörterten Formen rein objektiven Konsenses unterscheidende zweite prinzipielle Fall von Konsens liegt dann vor, wenn einige Personen miteinander übereinstimmen und zumindest eine dieser Personen um diese Übereinstimmung weiß. Die mit einander Übereinstimmenden haben hier also nicht nur objektiv dieselbe Überzeugung, was sich in vielen Fällen auch darin äußert, daß sie dieselben Urteile fällen. Im dem gegenwärtig erörterten Sinne von Konsens nennen wir jedoch den rein objektiven Einklang zwischen ihren Urteilen, die Tatsache, daß sie dieselben Urteile für wahr und falsch halten und dieselben Sachverhalte urteilen, oder auch rein statistischen oder politischen äußeren Konsens, der sicher seine große Bedeutung in einer Demokratie besitzt, noch nicht Konsens. Die rein objektive Übereinstimmung zwischen der subjektiven Überzeugung verschiedener Subjekte ist also nicht Konsens in dem hier gemeinten Sinne. Erst wenn man von dieser „Übereinstimmung im Urteil“ auch weiß, kann man in diesem zweiten grundlegenden Sinn von Konsens reden. In manchen Fällen ist eine derartige Übereinstimmung nur einem bekannt, z.B. wenn ein Autor ein Buch geschrieben hat und ein anderer sein Buch liest und mit ihm übereinstimmt, oder wenn ein Zeuge eines Gesprächs zweier anderer seine Übereinstimmung mit dem einen noch nicht zum Ausdruck gebracht hat. Während Konsens im vollen Wortsinn gegenseitiges Wissen um die gemeinsame Überzeugung einschließt, kann also das dem Konsens
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zugrundeliegende Wissen um die Zustimmung eines anderen auch einseitig sein. So mag ein wissenschaftlicher Autor befriedigt wissen, er stehe in Übereinstimmung mit hundertzwanzig Autoren, die er in Anmerkung 828 seiner letzten Veröffentlichung zitiert hat. In diesem Fall wissen die anderen, vielleicht gar nicht mehr lebenden, Autoren nichts von einem Konsens, aber unser wissenschaftlicher Autor weiß, daß er mit ihnen übereinstimmt. In diesem Fall besteht nicht nur der rein objektive Tatbestand des Konsenses als Einklang, als Einhelligkeit im Urteil, sondern es liegt auch ein einseitiges Wissen um diese Gemeinsamkeit im Urteil vor. Diese Form von Konsens ist einem Robinson Crusoe, solange er – vor seiner Begegnung mit Freitag – in völliger Einsamkeit auf einer Insel lebt, unmöglich, während er natürlich Gliedern einer Gruppe von Personen, zwischen denen objektiver Konsens herrscht, wohl bekannt sein kann. So dürfen wir von Konsens im Sinne einer ausdrücklichen Übereinstimmung von zwei oder mehreren Personen sprechen, die zumindest einseitig von der Überzeugung des anderen wissen und daher nicht bloß objektiv derselben Überzeugung sind, sondern auch von dieser Selbigkeit der Überzeugung des Anderen Kenntnis haben, was erst das Erlebnis der Übereinstimmung, des Konsenses in diesem neuen Sinne, ermöglicht. Dabei kann selbstverständlich der Konsens sowohl vermeintlich als auch wirklich sein; er kann ferner (auf der dritten oben unterschiedenen Ebene von ‚Konsens‘) bloß verbal sein, nicht jedoch die inhaltlichen Überzeugungen selbst betreffen, die sich ja meist nicht hinreichend in einem Satz oder einigen Sätzen, über die man übereinstimmt, ausdrücken lassen. So sehen wir, daß Konsens im vollen Sinne einseitigen oder gegenseitigen Wissens um vorliegende Übereinstimmung mehrere Momente umfaßt: 1) die Selbigkeit des Inhalts einer Überzeugung oder eines Urteils verschiedener Personen, 2) Irgendeine sprachliche Formulierung (Behauptung) oder sonstige Kundgabe, die dann den unmittelbar faßbaren äußeren Ausdruck der Gedanken, über die Übereinstimmung bzw. Konsens besteht, bildet. 3) das einseitige oder gegenseitige Wissen um die Selbigkeit des Urteils, das nur auf dem Boden der Wahrnehmung des Innenlebens anderer
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Personen erreicht werden kann mit allen einer solchen Erkenntnis anhaftenden Schwierigkeiten.163 Die Überzeugung, das eigene Urteil mit anderen Menschen zu teilen, kann, insbesondere wenn einem sämtliche der vielen Formen, das innere Leben fremder Personen zu erkennen (auf Grund von Mitteilungen, Ausdrucksphänomenen, Handlungen, oder indirekten Erkenntnissen durch Dritte, etc.) offenstehen, in einer Art empathischer Evidenz oder einem sicheren Glauben erfaßt werden; es kann aber eine solche einseitige oder gegenseitige Übereinstimmung auch mehr oder weniger blind angenommen werden und daher möglicherweise auf Illusion beruhen bzw. eine bloß scheinbare Übereinstimmung sein. Eine Erkenntnis bzw. eine auf Vertrauen oder Glauben beruhende Sicherheit der Gleichheit des Urteils oder der Überzeugung kann wenigstens drei grundsätzliche allgemeine Formen besitzen: (1) Sie kann einseitig sein: etwa ich weiß, daß eine andere Person mein Urteil teilt, die andere Person weiß es nicht. (2) Sie kann beidseitig bestehen: ich und auch die andere Person weiß um die Gleichheit unseres Urteils, aber keiner von uns weiß, daß der andere ebenfalls darum weiß. (3) Sie kann drittens voll gegenseitig sein und das gegenseitige Wissen um den Konsens einschließen, indem ich nicht nur von der Gleichheit des Urteils der anderen Person weiß, sondern auch weiß, daß der andere darum weiß und umgekehrt, wie dies für engere Gemeinschaften wie Familien oder Freundschaften, aber auch – in begrenzterem Maß – für lockerere und keineswegs enge Gemeinschaften wie Clubs oder Interessengemeinschaften typisch ist.164 Wenn mehrere Subjekte in einem eigentlicheren und präziseren Sinne Konsens erreichen, fällen sie nicht nur dieselben Urteile, was auch in völliger Isolation voneinander geschehen kann, sondern wissen auch von 163
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Vgl. Edith Stein, Zum Problem der Einfühlung (Halle a.d.S.: Buchdruckerei des Waisenhauses, 1917), Reprint (München: Kaffke, 1980), sowie Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Gesammelte Werke Bd. VII (Bern und München: Francke Verlag, 1973), 6. Aufl. Vgl. dazu Dietrich von Hildebrand, Metaphysik der Gemeinschaft. Untersuchungen über Wesen und Wert der Gemeinschaft, 3., vom Verf. durchgesehene Aufl., Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke IV (Regensburg: J. Habbel, 1975).
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dem gleichen Urteil und der gleichen Überzeugung des Anderen, entweder indem sie mit einander sprechen, sich gegenseitig verständigen und ausdrücklich übereinstimmen, oder indem sie, um ihre Meinung gefragt, dieselbe gemeinsam zum Ausdruck bringen, wie z.B. in Appenzell in der Schweiz die Landsmänner durch das Erheben des Schwerts ihre Meinung zum Ausdruck bringen oder bis vor kurzem brachten. Zusätzlich bestehen ungezählte weitere Unterschiede, etwa hinsichtlich der Fragen: ob es sich um eigentliches Erkennen oder Wissen von der Übereinstimmung, oder nur um ein Vermuten, oder aber um wohl fundierten Glauben handelt; auf welche Ebene und welche der drei Formen der rein objektiven Übereinstimmung sich dieses Wissen bezieht (nur auf das verbal oder durch eine Stimme ausgedrückte Urteil, auf das objektive Urteil, das jemand gefällt hat, oder auch auf die innere Überzeugung, bzw. den Urteilsakt selber), etc. 1.3. Konsens als eigener Akt ausdrücklicher gegenseitiger Übereinstimmung, die über das gegenseitige Wissen der Gleichheit des Urteils wesenhaft hinausgeht
In noch vollerem Sinne liegt Konsens erst dann vor, wenn beide (alle) Subjekte des Konsenses um die Zustimmung und Selbigkeit der Überzeugung des Anderen nicht bloß wissen, sondern wenn es zur Erfahrung des Konsenses und der Übereinstimmung, durch gegenseitige Erkenntnis der anderen Person und ihrer Überzeugungen, durch Bewußtsein vom Wissen, den Überzeugungen oder dem Glauben des Anderen, und durch eine intersubjektive, gemeinsame Erfahrung der Übereinstimmung kommt. Erst im Falle des gegenseitigen Wissens um solche Übereinstimmung, im Unterschied zum bloß einseitigen Wissen, liegt Konsens im Vollsinn und vielleicht in der ursprünglichsten Bedeutung des Wortes vor. Und es ist dieses neue Phänomen, das der Rede von Konsensbildung, vom Dialog als Mittel zur Konsensbildung usf., und damit auch der Habermas’schen Theorie zugrundeliegt.
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1.4. Konsens als bloße implizite Übereinstimmung: Die sokratische Auffassung von Konsens
Viertens können wir eine bloß implizite Übereinstimmung als Konsens bezeichnen. In diesem Sinne ist es vielleicht weniger üblich, von Konsens zu sprechen, aber diese Bedeutung von Konsens kommt eine Reihe von Malen in den platonischen Dialogen vor, wo Sokrates sagt, sein Gegner stimme schon mit ihm überein, obwohl er dies ganz ausdrücklich und heftig leugnet. Erst nachdem er diesen impliziten Konsens festgestellt hat, versucht Sokrates, diesen Konsens aufzuzeigen und in einen ausdrücklichen Konsens zu verwandeln, etwa im Dialog Gorgias, wo er drei verschiedenen Gegnern, dem Gorgias, dem Polos und dem Kallikles nachweist, daß eigentlich Gorgias, Polos, und Kallikles schon immer gegen sich selbst und mit Sokrates übereinstimmten, z.B. darin, daß Lust nicht identisch mit dem Guten ist, etwa indem sie zugegeben hatten, daß es Formen der Lust gibt, die nicht gut sind. Diesen Konsens stellt Sokrates fest – schon lange bevor der andere zustimmt (oder geärgert und beschämt verstummt, wie Kallikles zum Schluß des Dialogs Gorgias).165 165
Vgl. Platon, Gorgias, 482 a-c: Denn dieser Sohn des Kleinias führt freilich bald solche Reden, bald solche; die Philosophie aber immer S482b die nämlichen. Und eben sie sagt das, worüber du dich jetzt wunderst; du warst ja auch selbst dabei, als es gesagt wurde. Entweder also widerlege jener das, was ich eben behauptete, daß also Unrechttun und nicht dafür Bestraftwerden nicht das ärgste aller Übel sei; oder wenn du dies unwiderlegt läßt, bei dem Hunde, dem Gott der Ägyptier, so wird Kallikles niemals mit dir stimmen, o Kallikles, sondern dir mißtönen das ganze Leben hindurch. Und ich wenigstens, du //II239// Bester, bin der Meinung, daß lieber auch meine Lyra verstimmt sein und mißtönen möge, oder ein Chor, den ich anzuführen hätte, S482c und die meisten Menschen nicht mit mir einstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als daß ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müßte.
Ebd.: S457e ... Weshalb nun sage ich dies? Weil mir dünkt, du sagest jetzt etwas nicht Folgerechtes und nicht zusammenstimmend mit dem, was du vorher sagtest von der Redekunst. Ich fürchte mich aber, dich zu widerlegen, damit du nicht denkest, ich sage es nicht im Eifer auf die Sache, daß sie uns offenbar werde, sondern auf dich. S458a Bist du nun eben ein solcher als ich, so möchte ich dich gern durchfragen; wo nicht, so würde ich es lassen. Und von welchen bin ich einer? Von denen, die sich gern überweisen lassen, wenn sie etwas Unrichtiges sagen, auch gern selbst überführen, wenn ein anderer etwas Unrichtiges sagt; nicht unlieber jedoch jenes als dieses. Denn für ein größeres Gut
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So könnte man davon sprechen, daß kraft der Voraussetzungen und Implikationen von Urteilen und Überzeugungen eines Anderen implizit schon Konsens oder Übereinstimmung mit den eigenen Überzeugungen herrschen kann, selbst wenn keinerlei ausdrücklicher Konsens vorliegt, ja wenn dieser sogar ausdrücklich zurückgewiesen wird. 1.5. Konsens als Frucht und Teil ‚kommunikativen Handelns‘
In seiner zweiten grundsätzlichen Form, einer ausdrücklichen und bewußten Übereinstimmung zwischen verschiedenen Personen, die einseitig oder gegenseitig von der Gemeinsamkeit ihres Urteils wissen, ist vorausgesetzt, daß sie von einander und speziell von ihren Urteilen Kenntnis haben. Dies kann auf verschiedene Weisen geschehen, etwa dadurch daß einer aus Handlungen oder objektiven und schriftlich fixierten Urteilen und anderen Gedanken erkennt, wie jemand anderer urteilt. Es kann aber auch durch direkte Kommunikation geschehen, also durch vernehmungsbedürftige soziale Akte wie Mitteilungen, Antworten auf gestellte Fragen, etc., und gerade dieser Begriff eines erst durch Kommunikation vermittelten Konsenses ist es, auf den sich insbesondere Jürgen Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit stützt, wie wir sehen werden. Kommunikation in einem engeren Sinne tritt dort auf, wo Menschen sich nicht gleich bei der ersten Äußerung ihrer jeweiligen Ansichten einig sind, sondern sich erst nach einem voraufgehenden Dissens über ein Problem verständigen. In diesem Falle sprechen wir erst dort von Kommunikation, wo diese dazu dient, eine Verständigung, die nicht von vornherein bestand, herzustellen. Kommunikatives Handeln in dieser Bedeutung des Ausdrucks zielt auf eine gemeinsame Urteilsbildung oder auf eine Entscheidung zwischen alternativen Handlungs- oder Deutungsmöglichkeiten ab. halte ich jenes um soviel, als es ja besser ist, selbst von dem größten Übel befreit zu werden, als einen andern davon zu befreien. Denn nichts, denke ich, ist ein so großes Übel für den Menschen, als S458b irrige Meinungen über das, wovon jetzt die Rede ist unter uns. Behauptest nun auch du, ein solcher zu sein, so wollen wir weiter reden; dünkt dir aber, daß wir es lassen müssen, so wollen wir es immerhin lassen und die Unterredung aufheben.
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1.6. Konsens als „Konsensfähigkeit“: Vier grundsätzlich verschiedene Bedeutungen von Konsensfähigkeit
Als sechste Grundbedeutung von Konsens, die wir ebenfalls bei Habermas finden. könnte man den Konsens seinem Wesen nach nicht auf das beschränken, was de facto Gegenstand eines Konsenses ist, sondern als Konsensfähigkeit verstehen, also nicht als tatsächliche Übereinstimmung interpretieren, zumindest nicht notwendigerweise, sondern als Fähigkeit, zu einem Konsens zu gelangen bzw. als Eigenschaft eines Urteils, zum Gegenstand des Konsenses werden zu können. Dabei kann man auch unter Konsensfähigkeit radikal verschiedene Dinge verstehen: (1) Erstens kann die prinzipielle Konsensfähigkeit gemeint sein: d.h. daß es im Prinzip möglich ist, über einen Sachverhalt, bzw. über die Überzeugung und das Urteil, deren Gegenstand ein bestimmter Sachverhalt ist, zu einer Übereinstimmung zu gelangen. Auch sie könnte noch in doppeltem Sinne verstanden werden, deren erster einen rein idealen Charakter trägt: (A) Erstens ist nämlich an und für sich wirklich jede wahre Aussage konsensfähig, wenn man an die prinzipielle Möglichkeit denkt, daß ein ideal erkennendes Subjekt Erkenntnis über jede Sache und jeden Sachverhalt erlangen kann und dabei von dem evidenten Grundprinzip ausgeht, daß jedes Seiende erkennbar ist (omne ens est verum).166 Man könnte von einer prinzipiellen kognitiven Einlösbarkeit aller berechtigten (auf objektiver Wahrheit beruhenden) Wahrheitsansprüche sprechen. Wenn zumindest ein die Wahrheit erkennendes Subjekt vorausgesetzt wird, sind übrigens falsche Urteile selbst in diesem prinzipiellen Sinne nicht universalen Konsenses fähig. Diese Konsensfähigkeit setzt sowohl eine Adäquationstheorie der Wahrheit als auch ein Verständnis der Möglichkeit des Erkennens voraus. (B) In einem zweiten Sinne kann prinzipielle Konsensfähigkeit ein allwissendes Wesen oder einen ideal und vollkommen Erkennenden ausschließen und sich nur auf prinzipielle zwischen-menschliche Konsensfähigkeit beschränken. Hinsichtlich des Reiches zwischenmenschlicher Konsensfähigkeit darf man keine schlechthinnige kognitive Kommuni166
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1.
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kabilität behaupten, weil dem Menschen häufig Erkenntnis fehlt und deshalb in vielen Fällen innerweltlicher und religiöser Erfahrung nur eine Mitteilbarkeit, Kommunikation und Konsensbildung möglich sind, die nicht auf reiner Erkenntnis, sondern auf dem Glauben an das Zeugnis und Wort Anderer beruhen und nur durch die Vermittlung von zwischenmenschlichen oder religiösen Akten des gegenseitigen Vertrauens oder Glaubens möglich sind. Da die totale Privatheit einer Erfahrung in dem Sinne, daß diese ausschließlich einer einzigen bestimmten menschlichen Person zugänglich wäre, das Teilen einer Erkenntnis und vielleicht sogar eine entsprechende Mitteilung über ein solches Erlebnis und eine auf dem Vertrauen auf diese Mitteilung beruhende Überzeugung Anderer unmöglich machen könnte, wäre auch hinsichtlich solcher Inhalte zwischenmenschlicher Konsens ausgeschlossen. (2) Neben dieser absolut idealen Konsensfähigkeit, deren Universalität sich nur auf vollkommen und rein erkennende und nicht auf im Unwissen oder Irrtum befindliche Subjekte bezöge (1 A), und der wesenhaft begrenzteren idealen zwischenmenschlichen Konsensfähigkeit (1 B) stünde der Begriff einer universalen realen zwischenmenschlichen diskursiven Vermittelbarkeit von Geltungsansprüchen bzw. Wahrheitsansprüchen, bei entsprechender Argumentation. Mit dem Begriff der realen Einlösbarkeit stehen wir vor einem ganz anderen Problem, das wir nicht in derselben Weise behandeln können wie die These der idealen Konsensfähigkeit. Eine solche reale Konsensfähigkeit unter Wahrheit erkennenden Subjekten kann einerseits (im Gegensatz zur rein idealen) auch bei falschen Thesen eintreten, wenn z.B. faktisch sophistische Methoden alle Menschen von inhaltlich Falschem überzeugen. Andererseits hängt Wahrheit der Korrespondenztheorie voraus) nicht von der Erreichbarkeit universalen realen Konsenses ab. Wenn z.B. unüberwindliche subjektive Hindernisse hinsichtlich einer Erkenntnis (seien dies intellektuelle, methodologische, moralische, rein psychologische, oder auch erkenntnistheoretische Hindernisse auf Grund der Privatheit von Erkenntnissen) in zumindest einer der für Konsens in Frage kommenden Personen bestünden, dann wäre die reale universale diskursive Vermittelbarkeit aller Wahrheitsansprüche unmöglich.
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(3) Drittens kann man unter „diskursiver Einlösbarkeit von Geltungsansprüchen“ (Habermas) oder Konsensfähigkeit die tatsächliche und empirisch von begrenzten Gruppen jener Menschen, zwischen denen Konsens herrscht (die prinzipiell auch die ganze empirische Menschheit umfassen könnte), nachprüfbare bzw. diskursiv vermittelte Konsensfähigkeit oder auch „begründete Akzeptabilität“, die in „Diskursrationalität“ wurzelt, verstehen.167 Diese empirische, aber nicht-universale und auch nicht rein faktische Konsensfähigkeit – die wir den ersten beiden als einer absoluten oder zwischenmenschlichen „Konsensfähigkeit an und für sich“, gegenüberstellen möchten – läßt sich erst dann feststellen, wenn der Konsens tatsächlich erreicht ist. Auch wenn zu Beginn einer Diskussion die verschiedenen Teilnehmer derselben nicht übereinstimmen, so wird es oft im Lauf eines Gesprächs möglich, durch Argumente, durch Unterscheidungen und Erklärungen, durch Dialoge, durch Beweise, oder durch welche Methoden auch immer, zu einem Konsens zu gelangen.168 Die empirische Erreichbarkeit und die Begründetheit des Konsenses, die wir theoretisch streng von einander trennen, werden von Vertretern dieser Theorie, z. B. Habermas, vermischt: Diskursive Einlösbarkeit von Geltungs- oder Wahrheitsansprüchen meint Konsens, nicht aber im Sinne jeder zufällig zustandegekommenen Übereinstimmung, sondern in dem Sinne, daß „jeder andere, der in ein Gespräch mit mir eintreten könnte, demselben Gegenstand das gleiche Prädikat zusprechen würde.“169
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Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999), S. 104 ff.; 155 ff.; 178. Habermas hebt (ebd., S. 87) hervor, daß Michael Dummet, Karl-Otto Apel und Hilary Putnam das Wahrsein nicht mit einem „Für-wahr-gehalten-Werden“ identifizieren, während seine eigene Position in dieser Hinsicht in mancher Hinsicht mit der von ihm (ebd., S. 87 ff.; 98-99) diskutierten Position Gadamers verwandt ist, die einen „Diskursbegriff der Wahrheit“ enthalte. Hermeneutische und analytische Philosophie seien „zwei komplementäre Spielarten der linguistischen Wende“. (Vgl. Habermas, ebd., S. 65 ff.; 44 ff.) Vgl. eine Verteidigung der Konsenstheorie der Wahrheit im Habermas’schen Sinne: Herbert Scheit, Wahrheit – Diskurs – Demokratie. Studien zur ‚Konsensustheorie der Wahrheit‘ (Freiburg: Karl Alber Verlag, 1987/1991). J. Habermas, „Wahrheitstheorien“, a.a.O., S. 219. L. Bruno Puntel, a.a.O., S. 152.
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4) Denn sie unterscheidet sich von einem vierten Phänomen, einer rein verbalen Konsensfähigkeit. Gewiß besteht auch die zweite Art von empirischer Konsensfähigkeit in mehr als im bloßen Behaupten mehrerer Menschen, daß sie übereinstimmen. Finden wir doch oft, daß jemand uns beistimmt, wir merken aber bald, daß er den Sinn unserer Aussagen nicht verstanden hat und wir aus seinen Äußerungen schließen müssen, daß er nicht wirklich mit uns übereinstimmt, sondern im Gegenteil ganz anderer Ansicht ist. Das kommt besonders häufig in der Philosophie vor. Manchmal besteht umgekehrt eine solche verbale Konsensfähigkeit gerade nicht, obwohl ein wirklicher Konsens vorliegt – nämlich überall dort, wo es Streit um Formulierungen und Worte gibt, obwohl der Sache nach Übereinstimmung herrscht. Im Gegensatz dazu kann ein verbaler Konsens bestehen, obwohl die Überzeugungen der Einzelnen, die ihren gemeinsamen Urteilen bzw. Aussagen zugrundeliegen, ganz verschieden von einander sind. So wird das Glaubensbekenntnis eines von der objektiven Tatsächlichkeit der Auferstehung überzeugten Christen und das eines Schülers Bultmanns, der den Inhalt des Credo für rein mythisch und vom Subjekt abhängig hält, verbal übereinstimmen, nicht aber inhaltlich. 1.7. Konsens als intersubjektive „Verifizierbarkeit“, Falsifizierbarkeit oder „Nachprüfbarkeit“
Sechstens kann man unter Konsens die intersubjektive oder interpersonale Verifizierbarkeit verstehen, d.h. nicht nur die tatsächliche Übereinstimmung, sondern, so könnten wir interpretieren, die begründete Übereinstimmung, oder vielleicht noch genauer, die auf Erkenntnis beruhende Übereinstimmung. Unter diesem Begriff der intersubjektiven Verifizierbarkeit oder intersubjektiven Verifikation – das ist ein Kriterium, das vor allem in den neo-positivistischen Kreisen des Wienerkreises, also bei Carnap, Reichenbach u.a., aufgekommen ist – versteht man im Grunde mehr als Konsens, nämlich nur einen solchen Konsens, der es erlaubt, daß man seine Erkenntnisgrundlagen intersubjektiv verifiziert, daß also verschiedene Subjekte aufgrund von Experimenten, Versuchen, Beobachtungen oder auf irgendeine andere Weise ihre inhaltlich gleiche Überzeugung begründen oder zu eigentlicher Erkenntnis gelangen können. Je
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nachdem ob die hier erwartete Verifikation intellektuelle Evidenz, Beweis oder Verifikation durch Sinneswahrnehmung ist, haben wir es mit einer Verbindung zwischen Konsenstheorie und Evidenztheorie, wie Brentano sie vertritt, mit einer pragmatischen, oder mit einer pragmatizistischen Theorie wie jener von Peirce, oder auch mit einer Version des Positivismus und Empirismus zu tun. Wenn schließlich intersubjektive Verifikation nur noch im Sinne diskursiver Vermittelbarkeit durch Argumentation (diskursiv einlösbarer Geltungsansprüche) verstanden wird, wie bei Habermas, geht es eigentlich nur noch um Konsensfähigkeit, d.h. um Intersubjektivität als solche. 1.8. Konsens als bloßer Wegfall von Widerspruch
Schließlich könnte man Konsens siebtens verstehen als bloßen Wegfall des Widerspruchs zwischen den Meinungen mehrerer. (Wer nicht gegen uns ist, ist für uns). Konsens würde dann nur heißen, „im Einklang mit anderen Auffassungen stehen“ in dem Sinne von „anderen Auffassungen nicht widersprechen“. In dieser Bedeutung bestünde also Konsens nicht mehr darin, dieselbe Überzeugung zu teilen oder gar ein beiderseitiges Wissen als Grundlage der gleichen Überzeugung zu haben, und Konsens bestünde auch nicht in einer objektiven oder impliziten Gleichheit der Überzeugung, sondern nur negativ im Nichtwiderspruch. 2. Konsens hinsichtlich seiner Subjekte Jetzt können wir den Konsens weiter bestimmen, indem wir ihn nicht nach seinem Wesen, sondern nach seinen Subjekten differenzieren. Auch in dieser Hinsicht kann man unter Konsens Verschiedenes verstehen:
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2.1. Verschiedenheiten der Subjekte hinsichtlich ihrer Zahl
Zunächst kann man die Subjekte des Konsenses einfach hinsichtlich der Zahl differenzieren. In dieser Weise läßt sich der Konsens sehr verschieden fassen: 2.1.1. Konsens als Übereinstimmung Aller
Wollte man den Konsens als die Übereinstimmung aller interpretieren, so könnte man dieses „Alle“ wieder verschieden deuten, einmal im Sinne der Übereinstimmung aller Völker und Nationen, etwa in der Weise des im Mittelalter, aber auch im 19. Jahrhundert häufig verwendeten „Gottesbeweises ex consensu (omnium) gentium“, also eigentlich im Sinne des Konsenses einer Mehrheit der Menschen innerhalb aller Völker.170 Man könnte den Konsens aller auch buchstäblich als Konsens aller Individuen verstehen und meinen, es gäbe gewisse Inhalte, über die buchstäblich alle Menschen übereinstimmen. Gerade diese Idee eines absolut universalen Konsenses ist auch in der Idee der Transzendentalphilosophie von Anschauungsformen und vor allem von Kategorien, Denkformen und Urteilen, welche Bedingungen der Möglichkeit allen Erfahrens und allen Denkens, und deshalb allen Menschen gemeinsam sind, verborgen, und gerade diese Art eines absolut universalen Konsenses tritt in der Transzendentalphilosophie wenigstens in einem gewissen Ausmaß an die Stelle der Wahrheit im Sinne der adaequatio. 2.1.2. Konsens als Übereinstimmung Vieler (einer Mehrheit).
Zweitens kann man den Konsens seinen Subjekten nach als Übereinstimmung vieler oder einer Mehrheit innerhalb bestimmter Gruppen, historischer Epochen, Sippen, Rassen, Völker oder auch als Konsens einer großen Zahl oder Mehrheit von Individuen überhaupt bestimmen.
170
Vgl. auch Hartmut Rosenau, „Der ‚consensus gentium’ – fundamentaltheologische Erwägungen zu einem vernachlässigten Gottesbeweis“, Theologie und Philosophie (1994); 69 (4): 481-492.
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2.1.3. Konsens als Übereinstimmung zweier.
Schließlich könnte man noch bescheidener sein und nur die Zustimmung von mehr als einer Person als genügende Basis für Konsens ansehen. 2.1.4. Konsens als Übereinstimmung eines einzigen Menschen mit sich selber
Ja man könnte mit der leisen sokratischen Ironie sogar vom Konsens ein und derselben Person als genügender Basis einer Wahrheitstheorie sprechen, wenn man an deren verschiedene explizite oder implizite Aussagen denkt. Der Konsensbegriff nähert sich dann dem Kohärenzbegriff. 2.2. Konsens vom Standpunkt der „Qualität“ der Subjekte aus: Konsens der Weisen, etc.
Vom Standpunkt der Subjekte aus braucht man Konsens jedoch nicht nur hinsichtlich der Zahl der Individuen oder Gruppen zu betrachten, zwischen denen der Konsens besteht, sondern mag vielmehr primär die Qualität jener im Auge haben, mit denen oder zwischen denen Konsens besteht. Mit Qualität kann man dabei noch ganz Verschiedenes im Auge haben: 2.2.1. Qualität der theoretischen Begründetheit
„Qualität“ kann zunächst die Qualität der theoretischen Begründetheit der betreffenden Überzeugungen meinen. Selbst die allgemeinen begabungsmäßigen Voraussetzungen der Subjekte des Konsenses, oder die Qualität von deren wissenschaftlichen oder sonstigen akademischen Voraussetzungen, die an sich ein hohes Gewicht besitzen mögen und in anderen Fällen genügen könnten, um ihre Meinung wahrscheinlich zu machen, genügen für die Erfüllung der Bedeutungsintention dieses ersten Sinnes von „Qualität“ noch nicht, wozu vielmehr die Qualität der Begründetheit des Wissens selbst verstanden wird, die auch im Falle höchst qualifizierter Wissenschaftler, die aus
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Angst, Menschenfurcht oder sonstigen affektiven und unsachlichen Gründen urteilen, keineswegs vorliegen muß. 2.2.2. Die Qualität der Persönlichkeiten, die Subjekte des Konsenses sind
Mit „Qualität“ kann man auch weniger auf die Begründetheit von Überzeugungen abzielen, sondern vielmehr die Qualität der Persönlichkeiten und der in ihnen bestehenden allgemeinen Bedingungen der Wahrheitserkenntnis im Auge haben. Dabei kann sich diese Qualität der Subjekte, zwischen denen Konsens besteht, noch einmal auf ganz verschiedene Faktoren beziehen: auf die wissenschaftliche Qualifikation, auf den moralischen Charakter, oder auf den Fleiß und die Gründlichkeit der Arbeiten oder Leistungen der betreffenden Personen, auf das Maß beruflicher Erfahrung, etc. 1. Qualität des Konsenses der Wissenden: In diesem Sinne könnte man etwa den Konsens der Wissenden, der Wissenschaftler, der Fachleute, der Schachgroßmeister, oder der Gelehrten höher bewerten als den Konsens der Menge und deren Konsens als Kriterium für Wahrheit auf dem jeweiligen Gebiet ihrer Qualifikation ansehen, nicht hingegen den Konsens der Narren, derer, die nichts von irgendeinem der erwähnten Bereiche wissen. Für jemanden, der diesen Qualitätsstandard eines Konsenses fordert, wird daher die demokratische Übereinstimmung einer Menge oder sogar einer absoluten Mehrheit von Toren über ein schwieriges wissenschaftliches oder mathematische Problem, oder einer Masse von des Schachspiels Unkundigen über die Eröffnungstheorie dieses königlichen Spiels, nichts oder wenig zählen, während die Übereinstimmung jener, die um die betreffenden Sachverhalte wissen und sie genau erforscht haben, ein bedeutendes Kriterium und Anzeichen der Wahrheit jener Urteile bedeuten kann, über die sie übereinstimmen. 2. Moralische Qualität: Ganz anderer Art ist jene Qualität der Subjekte eines Konsenses, die nicht von dem Maß ihres Wissens bestimmt ist, sondern von Tugenden, die sich direkt auf intellektuelle Werte beziehen, wie Wahrheitsliebe und Weisheit, oder auf die allgemeinen Tugenden und guten Grundhaltungen eines Menschen. Dieser Qualitätsmaßstab der Subjekte eines Konsenses gründet auf der Erkenntnis, daß auf vielen
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Gebieten, etwa auf dem Gebiet der ethischen Erkenntnis, weniger das Maß der Studien oder des neutralen Wissens ausschlaggebend ist, sondern vielmehr der Besitz jener freien Haltungen, durch die der Geist erst in die Lage versetzt wird, die Wahrheit zu erkennen und die betreffenden Gegenstände und Werte adäquat zu erkennen. In diesem Sinne ist für ethische Erkenntnis, aber allgemeiner gesprochen, für philosophische Erkenntnis der Wirklichkeit das Maß dessen, was jemand weiß oder studiert hat, viel weniger wichtig als seine Wahrheitsliebe und Weisheit, aber auch seine sittliche Grundhaltung, die im positiven Falle sein geistiges Auge für die Erkenntnis der moralischen Werte öffnet, im Falle einer schlechten Haltung ethische Wertblindheit hervorruft.171 Aus diesem Grunde gilt der Konsens der Weisen oder der Guten, der Heiligen, etc. im Falle ethischer Urteile viel, der Konsens der Bösewichte oder Lügner nichts, wenn die Frage ist, wer den Wert der Wahrhaftigkeit oder der Gerechtigkeit oder konkrete Forderungen, die aus diesen Werten fließt, am besten beurteilen könne. 3. Erfahrung, Fleiß und Gründlichkeit oder Qualität der Leistungen der Subjekte, zwischen denen Übereinstimmung herrscht – der Konsens erfolgreicher Politiker, Senatsmitglieder, Parlamentarier, Sportler oder Großmeister: Ganz anderer Art ist jene Qualität des Konsenses, die einem Urteil durch seine Subjekte und deren Erfahrung und Bewährung in theoretischen oder praktischen Tätigkeiten erwächst; in diesem Sinne von Qualität ragt der Konsens von Menschen, die auf Grund solcher Erfolge und Erfahrungen ein gediegenes Urteil haben oder die sich ihrem Forschungs- oder Tätigkeitsbereich mit viel Fleiß und Ausdauer zugewandt haben, über den Konsens von unerfahrenen, faulen und schlampigen Personen weit hinaus. So wird etwa das Urteil eines erfahrenen Meisters in 171
Vgl. dazu Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis. Eine Untersuchung über ethische Strukturprobleme. Habilitationsschrift. (München: Bruckmann, 1918), vollständig abgedruckt in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band 5. Halle: Niemeyer. 1922. S. 462-602. Sonderdruck der Habilitationsschrift, ebd. 1921. Reprint Vols. 3-6 (1916-1923) 1989. Bad Feilnbach 2: Schmidt Periodicals; 2. Auflage (unveränderter reprographischer Nachdruck, zusammen mit der Dissertation Die Idee der sittlichen Handlung), hrsg. v. der Dietrich-von-Hildebrand-Gesellschaft (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969), S. 126-266.
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einem Handwerk oder das eines viele Jahre in gediegener Forschung zugebracht habenden Wissenschaftlers wesentlich mehr Gewicht haben als das eines theoretisch noch so kenntnisreichen Menschen, der aber weder die nötige Erfahrung noch die gediegenen Leistungen und den nötigen Fleiß mitbringt, durch dessen Früchte erst man das entsprechende Gebiet der Forschung oder Praxis gründlich kennenlernt. Je mehr dabei die jeweilige Qualität derer, zwischen denen Konsens besteht, mit den Inhalten verbunden ist, um die es bei einem Urteil geht, desto mehr verdient eine solche Qualität der Subjekte des Konsenses bei der Bestimmung seines Gewichtes zu zählen; je weniger, desto weniger. Wenn etwa alle Weltraumfahrer, Fußballer oder Modelle über einen ethischen Inhalt oder eine sonstige philosophische Frage übereinstimmen, so sollte diese Qualität der Träger des Konsenses null Bedeutung für die Beurteilung seines Gewichtes haben, sind sich hingegen alle, die etwas von Fußball verstehen, über eine Frage, den Fußball betreffend, oder alle Logiker über eine logische, alle Großmeister über die besten Eröffnungszüge, oder alle Heilige über eine moralische Frage einig, so gilt ein solcher Konsens viel. Diese „Qualität“ des Konsensus zählt gerade auch dann, wenn man keine Gelegenheit hat, die erste Art von Qualität, jene der Begründetheit des Wissens, festzustellen – vielleicht weil einem auf dem betreffenden Sachgebiet jede Qualifikation mangelt. 2.2.3. Qualität von Autoritäten, nicht Personen
Häufig zielt aber „Qualität“ nicht auf den moralischen Charakter und die persönlichen Bedingungen der Wahrheitserkenntnis ab, sondern vielmehr auf ein Amt oder eine Person, die – im Gegensatz zu praktischen Autoritäten, d.h. Personen, denen wir Gehorsam schulden – den Charakter einer „theoretischen Autorität“ auf einem bestimmten Gebiet hat, wie etwa, in jeweils ganz verschiedener Weise und Hinsicht, eminente Kenner oder Gelehrte eines Fachgebiets auf diesem, oder erfahrene Feldherrn in Entscheidungen über militärische Strategie auf ihren jeweiligen Gebieten nicht nur praktische Autorität besitzen, indem sie gültige Befehle erteilen können, sondern auch theoretische Autoritäten darstellen, die gleichsam für die Wahrheit des von ihnen Behaupteten bürgen. In einem ganz neuen Sinn
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redet man von theoretischer Autorität dort, wo man eine besondere göttliche Führung oder Erleuchtung eines Propheten, Apostels oder gar des Gottmenschen, annimmt. (Wenn der Christ an diesen glaubt, so ist Christus oder die vom Heiligen Geist inspirierte Schrift selbstredend die höchste theoretische Autorität. Katholiken erkennen auch die Vertreter des Lehramts als Inhaber einer göttlichen und rein religiös begründeten theoretischen Autorität an, die ihre Quelle nicht in der Intelligenz oder dem überlegenen Wissen ihrer Träger, sondern in einem göttlichen Auftrag, Charisma und einer göttlichen Leitung hat.) Philosophisch gesehen ist nur die prinzipielle ‚Form‘ dieser Art von theoretischer Autorität zugänglich, nicht ihre tatsächliche Realität. In diesem Fall wird man die Qualität des Konsenses nicht nach der Qualität der individuellen Persönlichkeiten bemessen, sondern hinsichtlich der Arten und des Ranges theoretischer Autoritäten differenzieren, insofern diese mit größerer oder geringerer Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit die Wahrheit kennen. So wird etwa der Historiker den Konsens mit verschiedenen Quellen je nach deren Qualität und Vertrauenswürdigkeit bewerten. In noch viel ausschlaggebender Weise wird natürlich für den gläubigen Christen oder für den gläubigen Mohammedaner der Konsens mit einer Heiligen Schrift, die sie – in wohlbegründeter oder unbegründeter Weise – als unfehlbar annehmen, ein letztes Wahrheitskriterium sein. Für den gläubigen Katholiken wird nicht nur der Konsens mit der Schrift, sondern auch und in besonderer Weise – da er sich menschlicher Irrtumsanfälligkeit in der Interpretation der Schrift bewußt ist – der Konsens mit einer als unfehlbar anerkannten Lehrautorität Gewicht besitzen. Der Katholik meint also mit „Konsens“ nicht nur den Konsens mit den Weisen und Gelehrten, die sich im übrigen oft widersprechen, sondern den Konsens mit einer Autorität, die nach seinem Glauben mit Sicherheit die Wahrheit kennt und weder sich selber noch der Vernunft je widerspricht. Wenn diese Autorität sich tatsächlich auf das unfehlbare göttliche Wissen selbst stützt, wie der katholische oder orthodoxe Christ glaubt, und der Heilige Geist die Kirche vor Irrtum bewahrt, ist Konsens mit dieser unfehlbaren theoretischen Autorität tatsächlich ein unfehlbares Wahrheitskriterium. Die Rolle der Qualität der Subjekte eines Konsenses tritt jedoch auch ganz außerhalb des religiösen Kontextes auf. So mag der Anwalt oder
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Richter sagen: Fünf verschiedene, aber dem Gericht unbekannte Zeugen behaupten, den Täter eines Verbrechen bezichtigen zu können. Dann aber kommt ein sechster und dem Gericht als wahrhaftig wohl bekannter Zeuge und sagt: „Ich kenne den Menschen, der das Verbrechen gesehen hat.“ In diesem Fall verbürgt dieser eine Zeuge die Wahrheit seiner Aussage. Wenn also ein einziger zuverlässiger Zeuge – von dem mit Sicherheit angenommen werden kann, daß er im Besitz der wahren Erkenntnis und nicht auf Mutmaßungen angewiesen ist – aussagt, und wenn das Gericht überzeugt ist, daß er wahrhaftig ist, so wird – bei Fehlen anderer Evidenzen – Übereinstimmung mit diesem einen Zeugen als ein hinreichendes und besseres Kriterium der Wahrheit betrachtet werden als die Übereinstimmung mit Hunderten anderen Zeugen. Auch in diesem Fall ist es nicht ausschließlich die Qualität von Personen an sich, sondern zusätzlich die Tatsache oder Vermutung, daß derjenige, der eine bestimmte Aussage macht, in sicherem Besitz wahrer Erkenntnis über den Gegenstand seiner Aussage ist, was den Konsens mit ihm wertvoll macht. 2.2.4. Qualität des Konsenses nach dem Grad seiner dialogischen Vermittlung
Schließlich könnte man noch in einer vierten Hinsicht den Konsens seiner Qualität nach differenzieren: Man könnte Konsens mit jenen meinen, mit welchen hinreichende Verständigung oder Dialog stattgefunden hat. Dies führt zu einer neuen Art der Qualität des Konsenses. Die bloße Tatsache des Konsenses, ohne daß man genau versteht, was der Gesprächspartner eigentlich meint, wie er zu seinen Überzeugungen gekommen ist, welche Einflüsse oder Zufälligkeiten seine Meinung prägen, mag als relativ wertlos angesehen werden. Was zähle, sei ausschließlich die Übereinstimmung mit jenen Menschen, mit denen in ausreichendem Maß Dialog stattgefunden hat. So finden wir bei Sokrates häufig Äußerungen, in denen dieser sagt, die Übereinstimmung mit all den anderen, die um ihn herum stehen, kümmere ihn nicht. Ihn kümmere vielmehr nur die Übereinstimmung mit seinem Gesprächspartner oder sogar nur jene mit sich selber. So sagt Sokrates etwa in dem tiefsten platonischen Text über Konsens und seine sekundäre Bedeutung und die hohe Bedeutung seines tieferen Sinnes:
Konsenstheorien und Diskurstheorien der Wahrheit SOKRATES: //II238// O Kallikles, wenn nicht dem Menschen, einigen so, andern so, dasselbige begegnete, sondern einem etwas ganz Eigentümliches vor allen andern, so wäre es nicht leicht, S481d einem andern seinen Zustand zu bezeichnen. Ich sage dies aber, weil ich bemerke, daß wir beide, ich und du, uns jetzt in gleichem Zustande befinden. Wir lieben nämlich beide, jeder zwei, ich den Alkibiades, des Kleinias Sohn, und die Philosophie, du das athenische Volk und den Sohn des Pyrilampes. Ich bemerke nun allemal an dir, so gewaltig du auch sonst bist, daß was immer dein Liebling behaupte, und wie er behaupte, daß sich etwas verhalte, du ihm niemals widersprechen kannst, sondern S481e umwendest bald so, bald so. Denn in der Gemeine, wenn du etwas gesagt hast, und das Volk der Athener meint nicht, daß es sich so verhalte, so wendest du wieder um und sprichst wie jenes will; und mit dem Sohn des Pyrilampes, dem schönen Jünglinge, geht es dir ebenso, nämlich des Lieblings Beschlüssen und Reden vermagst du nicht zuwider zu sein. So daß, wenn sich jemand darüber, was du jedesmal sagst um dieser geliebten Beiden willen, wundern wollte, wie ungereimt es doch ist, du ihm vielleicht, wenn du die Wahrheit sagen wolltest, erwidern würdest, daß, wenn nicht jemand machen könnte, S482a daß dein Liebling aufhöre, dergleichen zu sagen, du auch nicht aufhören würdest, dasselbe zu sagen. Denke dir also, daß du nun auch dergleichen von mir hören müßtest, und wundere dich nicht, daß ich dir dies sage, sondern mache, daß die Philosophie, mein Liebling, aufhöre, es zu sagen. Denn eben sie, lieber Freund, behauptet immer, was du jetzt von mir hörst, und sie macht mir weit weniger zu schaffen, als jener andere Liebling. Denn dieser Sohn des Kleinias führt freilich bald solche Reden, bald solche; die Philosophie aber immer S482b die nämlichen. Und eben sie sagt das, worüber du dich jetzt wunderst; du warst ja auch selbst dabei, als es gesagt wurde. Entweder also widerlege jener das, was ich eben behauptete, daß also Unrechttun und nicht dafür Bestraftwerden nicht das ärgste aller Übel sei; oder wenn du dies unwiderlegt läßt, bei dem Hunde, dem Gott der Ägypter, so wird Kallikles niemals mit dir stimmen, o Kallikles, sondern dir mißtönen das ganze Leben hindurch. Und ich wenigstens, du //II239// Bester, bin der Meinung, daß lieber auch meine Lyra verstimmt sein und mißtönen möge, oder ein Chor, den ich anzuführen hätte,
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KAPITEL 3 S482c und die meisten Menschen nicht mit mir einstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als daß ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müßte. 172
Im selben Dialog drückt er den gleichen Gedanken auch im Gespräch mit Polos aus: SOKRATES: Recht also hatte ich, daß weder ich noch du, noch sonst ein Mensch lieber würde Unrecht tun wollen als Unrecht leiden; denn es ist übler. POLOS: So zeigt es sich. SOKRATES: Siehst du nun wohl, Polos, daß, wenn man den einen Beweis neben den andern stellt, wie er ihm gar nicht ähnlich ist. Denn dir stimmen alle andern bei, außer mir; mir aber ist es genug, daß du nur einzig und S476a allein mir beistimmst und Zeugnis gibst, und deine Stimme allein abfordernd lasse ich die andern alle gehn.
Und warum denkt Sokrates gering von einem zufälligen oder schwankenden Konsens vieler? Weil die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit jemandem, mit dem Sokrates sich nicht unterhalten, mit dem er nicht diskutiert und mit dem er nicht argumentiert hat, vielleicht ganz unbegründet und ein bloßer Spiegel irrationaler Strömungen ist und ihm deshalb weder positiv noch negativ von Belang zu sein scheint. Erst nach einem entsprechenden Gespräch, nach entsprechender Dialektik, nach einem Dialog, nach Abwägen aller Gründe – erst dann sei der Konsens mit anderen über eine Frage von Bedeutung – wenigstens in der Philosophie. So könnte man den Konsens hinsichtlich seiner Qualität vom Grad seiner Wohlfundiertheit und zugleich dialogischen Vermittlung her bestimmen. 2.2.5. Der Konsens mit der Philosophie und der Wahrheit
Und noch viel wichtiger ist der Konsens mit sich selber, den man auch als Kohärenz bezeichnen kann, am höchsten jedoch der Konsens mit der Wahrheit. Sokrates setzt in verschiedenen Stellen der platonischen Dialoge die Übereinstimmung mit jenen Menschen, die häufig ihre Meinung 172
Platon, Gorgias 481 c – 482 c.
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wechseln, in einen Kontrast zu jener Übereinstimmung, die zwischen Sokrates und der Philosophie bestehe. So etwa im Gorgias oder im Gastmahl. Hier ist mit Konsens die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und mit der Wahrheit selbst gemeint. Sokrates vergleicht die Wahrheit und Philosophie hier mit einer Person, mit der man dieselben Überzeugungen teilt. Er hebt hervor, daß – während die menschlichen Geliebten, wie Alkibiades, sich nach den wechselnden Meinungen des athenischen Volks richten und dementsprechend auch ihre Meinungen ändern – die Philosophie niemals ihre Meinung ändere, sondern stets „dasselbe sage“. Während die Freunde und das Volk einander oft widersprächen, bleibe die Philosophie immer frei von jedem Widerspruch. Ob Sokrates hier nur um des Dialogs willen die Wahrheit personifiziert oder annimmt, daß im ontischen Kern des Phänomens der Wahrheit, wie es uns begegnet, sich ein personales göttliches Wesen enthüllt, bleibe hier dahingestellt. Jedenfalls spricht Sokrates hier von jener Art der Übereinstimmung, die den Konsens direkt mit dem Begriff der Adäquation in ein Verhältnis bringt. Auf der Basis dieser vorläufigen Klärung dessen, was mit Konsens gemeint werden kann, können wir nun über das Verhältnis zwischen Konsens und Wahrheit sprechen. 3. Die Konsenstheorie der Wahrheit als Theorie über das Wesen der Wahrheit und Einwände gegen dieselbe Konsenstheorien der Wahrheit sind überaus verbreitet und, da sie von vielen als eine feste oder sogar einzige Grundlage der Demokratie angesehen werden, umgeben sie sich, trotz ihrer philosophischen Unklarheit und Irrigkeit, mit dem Nimbus, Fundament jeder Demokratie zu sein. Die verbreitetsten Formen dieser Anschauung sind nicht Theorien im eigentlichen Sinne, sondern wenig durchdachte vorwissenschaftliche und vorphilosophische Ideen, die deshalb auch keinen bestimmten Autor haben. Es
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gibt aber auch eminente Philosophen, die eine Konsenstheorie der Wahrheit vertreten, wie Jürgen Habermas.173 Dabei kann, ähnlich wie in den bereits erörterten Wahrheitstheorien, das Verhältnis zwischen Wahrheit und Konsens jeweils sehr unterschiedlich bestimmt werden. Abgesehen von der Möglichkeit, sich einfach „Konsens anstatt Wahrheit“ als „bescheideneres persönliches oder auch politisches Ziel“ vorzunehmen, kann man das Wesen der Wahrheit als Konsens auffassen (‚Wahrheit als Konsens‘, wie Herbert Scheit sich ausdrückt) oder aber auch im Konsens ein Kriterium der Wahrheit, eine Folge der Wahrheit, eine Bedingung der Wahrheit, oder auch einen Weg zur Wahrheit erblicken.174 In ihrer radikalsten Form identifiziert die Konsenstheorie Wahrheit entweder mit dem Konsens selber oder mit dessen, als Konstrukt verstandenem, Objekt, also mit Inhalten, Urteilen oder auch Theorien und Wahrheitstheorien verschiedenster Art, deren einzige Quelle der Gültigkeit der Konsens wäre. Träfe dies zu, so wäre jede Fiktion oder Annahme, solange sie Gegenstand des Konsenses wäre, wahr und würde sie allein diesem Konsens selber ihre Wahrheit verdanken. Betrachten wir diese letztere beiden Weisen, die Konsenstheorie als eine Bestimmung des Wesens der Wahrheit zu begreifen: In ihrer ersten Form hält die Konsenstheorie allein die Konsenstheorie der Wahrheit für wahr. In dieser Interpretation besagt die Konsenstheorie also, Wahrheit heiße nichts anderes als daß etwas Gegenstand des Konsenses sei. Wahrheit bestehe eben einfach in dem Inhalt oder Gegenstand der intersubjektiven 173
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Thomas Kuhns Wissenschaftstheorie vertritt wohl primär eine Kohärenztheorie der Wahrheit, indem beim Eintreten inkohärenter Folgen wissenschaftlicher Erklärungen, welche einer Kombination von theoretischen Modellen oder Paradigmen und empirischen Beobachtungen entspringen, neue Paradigmen entwickelt werden, in deren Rahmen die beobachteten Sachverhalte widerspruchsfrei erklärt werden können. Doch kann man ihn wegen der Art, in welcher neue Paradigmen angenommen werden müssen, auch zu den Vertretern einer Konsenstheorie der Wahrheit rechnen. Zu einer anderen Art der Unterscheidung (zwischen a. Wahrheit statt Konsens, b. Wahrheit als Weg zur Wahrheit und c. Wahrheit als Konsens) vgl. Herbert Scheit, Wahrheit – Diskurs – Demokratie: Studien zur ‚Konsensustheorie der Wahrheit‘, S. 24-39.
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Übereinstimmung und habe ihre Quelle in dem intersubjektiven Konsens, der in den verschiedenen erwähnten Bedeutungen gedeutet werden kann. In der zweiten Bedeutung hingegen schöpft zwar auch jede Aussage ihre Wahrheit aus dem Konsens und allein aus der Tatsache, daß sie Gegenstand oder Inhalt dieses Konsenses ist, aber dies kann auch die Adäquationstheorie der Wahrheit oder die Kohärenztheorie der Wahrheit sein. Da Wahrheit hier nicht damit identifiziert wird, daß etwas Gegenstand des Konsenses ist, sondern jedweder möglicher Inhalt, sobald er nur Gegenstand des Konsenses ist, auch wahr ist, so kann es dieser Art der Konsenstheorie der Wahrheit, die einfach eine bestimmte Form historischen, sozialen oder anthropologischen Relativismus ist, entsprechen, daß zu einer bestimmten Zeit gerade nicht die Konsenstheorie der Wahrheit wahr ist, weil nicht sie, sondern eine ihr kontradiktorisch entgegengesetzte Anschauung über Wahrheit Konsens findet. Eine Untersuchung all der verschiedenen Versionen der Konsenstheorie, die das Wesen der Wahrheit mit dem Gegenstand des Konsenses identifizieren, wäre überaus zeitraubend und ist auch unnötig, da in einer solchen Untersuchung zahlreiche Wiederholungen unvermeidbar wären. Es genügt vielmehr, wenn wir – anstatt hier noch einmal auf all die verschiedenen Bedeutungen und Dimensionen von Konsens einzugehen und sie auf die verschiedenen konsensualistischen Wesenstheorien der Wahrheit anzuwenden – die Gültigkeit dieser Wahrheitsdefinition durch Konsens an einigen wenigen Fällen prüfen, die vom theoretischen Standpunkt aus die einleuchtendsten sind. Nehmen wir zunächst den Konsens aller Menschen. Nehmen wir an, alle Menschen überhaupt teilen eine bestimmte Überzeugung, etwa diejenige, daß sie selbst sterblich sind, daß die Erde sich um die Sonne dreht, 2x2 4 ist, oder daß Farben Ausdehnung voraussetzen. Diesbezüglich besteht auch tatsächlich weitgehend ein wirklicher und expliziter Konsens aller, es sei denn bei Wahnsinnigen wie dem Hyde-Park Redner, der einmal in meiner Jugend behauptete, wer ihm folge, werde und könne buchstäblich niemals sterben. Man könnte im Falle der Aussage der Sterblichkeit des Menschen bestreiten, daß diese Gegenstand eines universalen Konsenses sei, lehren doch viele Philosophen und Religionen die Unsterblichkeit der menschlichen Seele oder Person. „Sterblich“ wurde aber eben von uns nicht als
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Leugnung der Unsterblichkeit oder eines ewigen Lebens verstanden, sondern in dem Sinne, daß jeder Mensch einmal physisch stirbt und daß zumindest jeder Mensch prinzipiell sterben kann, selbst wenn er in der Gefriertruhe kryokonserviert wird oder durch neue Gentherapie seine Jugend zurückerhalten oder nach einem Unfall ein neues Hirn transplantiert bekommen könnte, durch welche Prozedur manche Leute ewiges Leben für erreichbar halten, doch ohne die Möglichkeit des Todes jedes Menschen zu bestreiten. Können wir also sagen, der Konsens darüber, daß alle Menschen sterblich sind, sei dasselbe wie die Wahrheit des Urteils, daß alle Menschen sterblich sind? In einer Beantwortung dieser Frage sehen wir leicht, daß eine derartige Identifikation der Wahrheit mit Konsens eine unhaltbare These ist: 3.1. Der erste Einwand gegen die Identifikation der Wahrheit mit dem Gegenstand des Konsenses aus der Evidenz der Verschiedenheit beider
Wollte ich behaupten, „der Satz: ‚alle Menschen sind sterblich ist wahr‘ heißt nichts anderes als daß Übereinstimmung darüber herrscht, daß sie sterblich sind“, so sehen wir zunächst ein – und das wäre mein erstes Argument gegen die Theorie – daß die Wahrheit des Urteils evidenterweise nicht dasselbe ist wie die Übereinstimmung aller und daß demzufolge die beiden Ausdrücke „wahr“ und „Gegenstand der Übereinstimmung Sein“ nicht dasselbe sind. Denn die Wahrheit des Urteils, daß alle Menschen sterblich sind, besteht ganz offensichtlich nicht darin, daß die Menschen darin übereinstimmen, sondern daß sie tatsächlich sterben können. Ihre Wahrheit hängt also offenbar nur davon ab, daß es wirklich so ist, daß alle Menschen sterblich sind. Das Urteil „alle Menschen sind sterblich“ setzt einen Sachverhalt, nämlich daß es so ist, daß alle Menschen sterblich sind; es behauptet diesen Sachverhalt. Und allein deshalb erhebt es den Anspruch auf Wahrheit, d.h. den Anspruch darauf, mit diesem Sachverhalt übereinzustimmen. Wenn es also wirklich mit diesem Sachverhalt übereinstimmt, wenn es wirklich so ist, daß alle Menschen sterblich sind, dann ist das Urteil wahr, auch wenn niemand übereinstimmt, wie Sokrates in der oben zitierten Textstelle aus dem Gorgias sagt.
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Umgekehrt: Als alle Menschen überzeugt waren, daß die Erde das Zentrum der Welt oder als eine Mehrheit der Menschen dachten, Sklaverei sei legitim, war dies offenbar nicht wegen einer solchen allgemeinen Überzeugung wahr. Das Wesen der Wahrheit als Übereinstimmung des setzenden, behauptenden Hinstellens eines Sachverhalts mit diesem Sachverhalt bzw. mit dem Selbstverhalten der Sachen selbst, ist so evident und so deutlich das, worin das Wesen der Wahrheit besteht, daß wir schlicht einsehen können, daß Konsens als solcher nicht identisch mit der Wahrheit ist. Wir sehen dies gerade dann leicht ein, wenn wir an den Fall denken, der am stärksten der Konsenstheorie recht zu geben scheint, in dem nämlich nicht nur einige, sondern alle Menschen über einen Sachverhalt übereinstimmen, der tatsächlich besteht, wie die Sterblichkeit des Menschen. Daß in dieser ihrer Übereinstimmung unmöglich das Wesen der Wahrheit des Urteils „alle Menschen sind sterblich“ liegen kann, sondern ausschließlich in dem Übereinstimmen mit dem Sachverhalt ihrer tatsächlichen Sterblichkeit, sehen wir am besten ein, wenn wir den entgegengesetzten Fall betrachten. Nehmen wir nämlich umgekehrt an, alle Menschen würden darin übereinkommen, daß sie unsterblich sind, aber sie wären nicht unsterblich, jeder müßte sterben, oder nehmen wir an, alle Menschen stimmten überein, daß es berechtigt sei, Juden, Neger oder Zigeuner ihrer Rasse wegen zu töten. Dann leuchtet ein, daß diese Urteile falsch wären, und zwar nicht deshalb, weil ihnen der Konsens ermangeln würde, sondern deshalb, weil es nicht stimmt, daß niemand tatsächlich stirbt bzw. daß kein Mensch tatsächlich sterblich ist oder daß Menschen anderer Rassen wie Kaninchen getötet werden dürften. Der Unterschied zwischen dem Wahrsein eines Urteils und seinem Gegenstand des Konsenses Sein ist ein letzter und evidenter. Indem wir den Fall erwägen, daß der Sachverhalt, der in dem Urteil, über das Konsens besteht, behauptet wird, nicht besteht, sehen wir sofort deutlich ein, daß der Konsens zwar unverändert weiter bestehen bleiben könnte, daß aber das betreffende Urteil offensichtlich falsch wäre, weil der Sachverhalt, der in ihm behauptet wird, eben nicht bestünde. Oder nehmen wir an, alle Menschen stimmten darin überein, daß Gott als Schöpfer und Ursprung von allen Dingen existiert, so sehen wir klar
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und deutlich ein, daß die Wahrheit des Urteils „Gott existiert“ nicht darin besteht, daß alle Menschen darin übereinstimmen. Wir sehen klar und deutlich ein, daß, wenn Gott nicht tatsächlich existierte, das Urteil „Gott existiert“, falsch wäre unbeschadet der Tatsache, daß alle übereinstimmend Gottes Existenz behaupten würden. Ja es wäre sogar die Meinung, Gott existiert, wegen des universalen Konsenses ein noch schlimmerer Irrtum als der Irrtum eines Einzelnen. Es wäre ja ein Irrtum, dem alle Menschen erliegen würden. Dieser Einwand gegen die Konsenstheorie der Wahrheit aus dem evidenten Wesen der Wahrheit als Korrespondenz (adaequatio) steckt auch in Edmund Husserls Widerlegung des Relativismus: Was wahr ist, ist absolut, ist „an sich“ wahr; die Wahrheit ist identisch eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen. Von der Wahrheit in dieser idealen Einheit gegenüber der realen Mannigfaltigkeit von Rassen, Individuen und Erlebnissen sprechen die logischen Gesetze und sprechen wir alle, wenn wir nicht etwa relativistisch verwirrt sind.175
Husserl beginnt seine Kritik des Relativismus mit der Einsicht in das Wesen der Wahrheit, aus der die Widersinnigkeit der Rede von Wahrheit für jemanden folgt: Husserl weist die Absurdität der These nach, ein Wesen einer anderen Spezies sei an die obersten logischen Grundsätze nicht gebunden.176 „Wahrheit für eine Spezies“ ist prinzipiell ebenso widersinnig wie der „individuelle Relativismus“, der eine Wahrheit für ein Individuum derjenigen für ein anderes entgegensetzen will: Der individuelle Relativismus ist ein so offenkundiger und, fast möchte ich sagen, frecher Skeptizismus, daß er, wenn überhaupt je, so gewiß nicht in neueren Zeiten ernstlich vertreten worden ist....Den Subjektivisten... kann man nicht überzeugen, wenn ihm ... die Disposition mangelt einzusehen, daß Sätze, wie der vom Widerspruch, im bloßen Sinn von Wahrheit gründen, und daß ihnen gemäß die Rede von einer subjektiven Wahrheit,
175 176
Logische Untersuchungen, Bd. I, Prolegomena, Kap. 7, § 36, S. 125, Zeile 9-15. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, § 36, S. 124-125.
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die für den einen diese, für den andern die entgegengesetzte sei, eben als widersinnige gelten müsse.177
Relativismus in jeder Form, auch der „spezifische Relativismus“, der die Wahrheit auf den Menschen als solchen relativieren möchte, kommt darauf hinaus, zeigt Husserl, den Sinn des Wortes ‚Wahrheit‘ zu ändern, ja deren Wesen umzudeuten und dem absoluten Wesen der Wahrheit zu widersprechen: Somit kommt der Relativismus darauf hinaus, daß er den Sinn des Wortes Wahrheit total ändert, aber doch den Anspruch erhebt, von Wahrheit in dem Sinne zu sprechen, der durch die logischen Grundsätze festgelegt ist, und den wir alle, wo von Wahrheit die Rede ist, ausschließlich meinen.178
Ganz genau dieselbe Umdeutung des Wesens der Wahrheit finden wir in der Konsenstheorie der Wahrheit. So leuchtet es im Licht all dieser Überlegungen zunächst aus dem Wesen der Wahrheit und aus dem Wesen des Urteils selbst und seines Verhältnisses zum Sachverhalt ein, den das Urteil behauptet, daß Wahrheit in der Übereinstimmung mit dem Selbstverhalten der Sachen besteht, nicht im Konsens aller Menschen. 3.2. Argument aus der „logischen Zirkularität“ und Sinnlosigkeit der Bestimmung des Wesens der Wahrheit durch Konsens, weil damit jeglicher 179 Sinn des Wortes ‚Konsens‘ zerstört wird
Zweitens können wir nicht bloß von der inneren Evidenz, daß Wahrheit nicht in Konsens, sondern in Übereinstimmung liegt, ausgehend argumentieren, sondern zeigen, daß diese Definition „Wahrheit besteht im Konsens“ logisch widersprüchlich bzw. zirkulär ist, was dann hervortritt, 177
178
179
Vgl. Edmund Husserl, ebd., Bd. I, § 35, S. 123, 2-13. Vgl. auch ebd., § 36, S. 124: „und widersinnig ist in der Tat die Rede von einer Wahrheit f ü r den [aus den vorhergehenden Sätzen geht hervor, daß gemeint ist „für das einzelne Subjekt“] oder jenen.“ Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, I, § 36, S. 126. Vgl. ebd., § 36, S. 125, 9-15. Vgl. dazu auch Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus. Vgl. dazu auch Puntel, a.a.O., S. 170 f., sowie D. Mans, Intersubjektivitätstheorien der Wahrheit, S. 13.
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wenn man fragt: „Was heißt denn Konsens?“ In Antwort auf diese Frage muß man sagen, Konsens heißt, daß man dieselben Urteile fällt oder dieselben Überzeugungen hat. Dabei stellt sich die weitere Frage: „Dieselben Überzeugungen zu haben, was heißt das?“ In Antwort auf diese Frage wird man als Konsenstheoretiker der Wahrheit weiter erklären, indem man sagt, das heiße, daß man überzeugt sei, daß die Urteile, die man gemeinsam vertritt, wahr sind, daß also mehr als ein Mensch ein bestimmtes Urteil für wahr hält. Fragt man nun weiter: „Und was heißt denn hier Wahrheit?“, muß der Konsenstheoretiker sagen: „Das heißt, daß man gemeinsam vom Urteil überzeugt ist“. “Und was heißt, gemeinsam überzeugt sein vom Urteil?“ Darauf wird selbst der härteste Verteidiger der Konsenstheorie als Theorie über das Wesen der Wahrheit gezwungen sein zu antworten: „Überzeugt sein, daß das Urteil wahr ist“. Spätestens hier ergibt sich ein völliger Zirkel in der Definition. Ja es würde überhaupt nicht mehr verständlich werden, was denn Konsens heißt. Denn um Konsens zu verstehen, um das Wesen von Übereinstimmung zu verstehen, muß man verstehen, daß verschiedene Subjekte ein Urteil gemeinsam für wahr halten. Aber wenn das „für wahr Halten“ nicht mehr hieße als „übereinstimmen“, dann würden sie nur übereinstimmen, daß sie übereinstimmen. Das Wesen des Konsenses bricht also zusammen, wenn man Wahrheit als Konsens definiert. Denn um überhaupt Konsens als solchen zu verstehen, muß man nicht nur verstehen, daß ein Mensch mit anderen übereinstimmt, sondern man muß verstehen, daß er mit ihnen übereinstimmt in der Überzeugung, daß ein bestimmtes Urteil wahr ist. Und dessen Wahrheit kann der Idee der Wahrheit nach nicht nur in der Übereinstimmung bestehen, wenn überhaupt der Ausdruck Konsens noch irgendetwas Sinnvolles bedeuten soll. Man kann sagen: um Konsens haben zu können, muß Wahrheit etwas anderes bedeuten als Konsens. Man kann diesen Einwand auch so formulieren: Wahrheit als Übereinstimmung ist die Bedingung dafür, überhaupt zu verstehen, was Konsens heißt. Denn Konsens heißt gerade, daß verschiedene Personen davon überzeugt sind, daß ein gegebenes Urteil wahr ist. Es würde also die Seele bzw. das Wesen und die Verstehbarkeit von Konsens überhaupt aufheben, wenn man Wahrheit nur noch als Konsens definieren würde. Wir finden hier etwas Ähnliches wie in der Kritik der Evidenztheorie der Wahrheit, wo wir erkannten, daß Evidenz und das Erleben von Evidenz
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schon einen Wahrheitsbegriff voraussetzen, der nicht selbst wiederum nur Evidenz ist oder durch Bezug auf sie bestimmt werden kann. Und gerade diese von Evidenz verschiedene Wahrheit wird in der evidenten Erkenntnis sichtbar. Evidenz als Evidenz ist deshalb gar nicht verstehbar ohne Wahrheit als Übereinstimmung oder also nicht bloß als „in Evidenz bestehend“ zu erkennen. Ähnlich und noch schärfer können wir auch gegen die Konsenstheorie argumentieren. 3.3. Argument aus der logischen Widersprüchlichkeit bzw. Selbstaufhebung der Konsenstheorie der Wahrheit als solcher
Der folgende Einwand, daß sich die Konsenstheorie der Wahrheit als Theorie jederzeit selber aufheben kann, geht schon aus oben gegebener zweiter Interpretation dieser Theorie hervor, derzufolge auch jede andere Theorie, die also der Konsenstheorie er Wahrheit widerspricht, wahr sein könnte, wenn sie Gegenstand des Konsenses wird. Damit hebt sich die Konsenstheorie der Wahrheit selbst auf, sobald Konsens darüber besteht, daß sie falsch ist. Der hier liegende Widerspruch ist demjenigen gleich, den Husserl als logischen Widerspruch jeder Form des individuellen oder allgemeinen Relativismus eigen ist, wenn er schreibt: -.. und widersinnig ist in der Tat die Rede von einer Wahrheit f ü r den oder jenen. Widersinnig ist die offengehaltene Möglichkeit, daß derselbe Urteilsinhalt (wir sagen in gefährlicher Äquivokation: dasselbe Urteil) je nach dem Urteilenden beides, wahr und falsch, sei.180
Husserl erkennt auf das deutlichste in Logische Untersuchungen, daß die Wahrheit von Urteilen ihre Quelle unmöglich in der Konstitution der Spezies Mensch oder irgendeiner anderen Spezies haben kann. Wenn Wahrheit ihre Wurzel in der Konstitution des Menschen hätte, so bestünde sie ohne diese Konstitution gar nicht. Diese Behauptung ist widersinnig. Denn (und hier ist Husserl ganz augustinisch!): der Satz, „Es gibt keine Wahrheit“ ist gleichwertig mit dem Satz, „Es besteht die Wahrheit, daß
180
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, ebd., § 36, S. 124-125.
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keine Wahrheit besteht.“ Die Widersinnigkeit der Thesis verlangt die Widersinnigkeit der Hypothesis.181 Es könnte sich nach der Konstitution einer Spezies die für sie gültige Wahrheit ergeben, daß es diese Konstitution gar nicht gibt.182 So ergeben sich aus dem Relativismus „Widersinnigkeiten über Widersinnigkeiten“.183 Ähnlich wie Husserl in den Logischen Untersuchungen argumentiert, daß jeder allgemeine Relativismus, nach dem die Wahrheit nur durch eine Denknotwendigkeit und Konstitution durch das menschliche Subjekt konstituiert werde, sich logisch selbst aufhebt, weil dann sich dann aus der Konstitution ergeben könnte, daß dieselbe gar nicht bestehe, können wir auch gegen die Konsenstheorie des Wesens der Wahrheit argumentieren, sobald diese alles für wahr hält, was Gegenstand des Konsenses ist, daß es aus dieser Theorie folge, daß die Konsenstheorie der Wahrheit selber falsch wird, sobald sie nicht mehr Gegenstand des Konsenses ist, daß sie sich also folgerichtig selbst aufheben kann, also logisch widersprüchlich ist, was ihren Charakter einer rationalen Theorie vernichtet. 3.4. Argument aus der logischen Widersprüchlichkeit bzw. Selbstaufhebung der Konsenstheorie der Wahrheit durch die widersprüchlichen Inhalte des Konsenses und aus der empirischen Evidenz, daß Konsens (Für wahr Halten) nicht gleich Wahrheit ist
Viertens könnte man argumentieren, daß die Konsenstheorie deshalb nicht als Wesenstheorie der Wahrheit in Frage kommt, weil ja in vielen Fällen Konsens besteht oder bestanden hat, in denen offensichtlich der Gegenstand dieses Konsenses später widerlegt, wieder umgestoßen und durch einen Konsens gegenteiligen Inhalts abgelöst wurde. So wurde der Konsens aller Menschen, daß sich die Sonne um die Erde dreht, erschüttert und hat dem gegenteiligen Konsens Platz gemacht. Wenn deshalb der Konsens als solcher die Wahrheit wäre, dann würden sich daraus die Widersprüche ergeben, daß wenn einmal der Konsens aller Menschen über einen Gegenstand bestanden hat, dann wieder der gegentei181 182 183
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, Kap. 7, § 36, S. 127. Ebd., S. 127. Ebd., S. 127-128.
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lige Konsens aller Menschen besteht, alle Inhalte gemäß der Konsenstheorie sowohl wahr als auch falsch sein können bzw. daß zu jedem wahren Urteil zugleich der kontradiktorische Gegensatz wahr sein kann, was logisch absurd ist. Auf diese Weise können wir einsehen, daß offensichtlich der Konsens als solcher nicht identisch sein kann mit der Wahrheit, es sei denn man behaupte, die Wahrheit selbst wäre widersprüchlich, womit man jedoch die Fundamente jeglicher Erkenntnis und jeden sinnvollen Diskurses vernichten würde. Auch die Tatsache, daß oft Gegenstände eines Konsenses durch empirische Beobachtungen widerlegt wurden, z.B. die Idee, daß Mond oder Planeten aus einer himmlischen Materie bestehen, wie Aristoteles gemeint hat, bestätigt diese Kritik. Denn hier wurde der Gegenstand des Konsenses durch Experimente, Beobachtungen nach dem ersten Mondflug usw. widerlegt. Dasselbe gilt für offensichtlich falsche Ideen über den Blutkreislauf, etc. obwohl darüber durch das ganze Mittelalter und die Antike hindurch weitgehender oder vollständiger Konsens bestanden hatte. Konsens erstreckt sich also, wie wir diesen Einwand zusammenfassen, auf viele Urteile, die später empirisch widerlegt werden. Auch darin zeigt sich deutlich, daß Konsens über falsche Urteile bestehen und daher mit Wahrheit nicht einfach identisch sein kann. So können wir die ersten fünf Argumente, aus denen wir die Theorie, daß die Wahrheit im Konsens besteht, ablehnen, zusammenfassen: Erstens aus dem Grund der inneren Einsichtigkeit des Wesens von Wahrheit eines Urteils und der Verschiedenheit derselben vom Konsens; zweitens aus dem Hinweis darauf, daß, um überhaupt zu verstehen, was Konsens ist, man die Verschiedenheit der Wahrheit des Urteils vom Konsens verstehen muß, da man sich sonst im Kreis dreht und überhaupt nicht erklären kann, was Konsens heißt; drittens ergibt sich aus der Behauptung, daß das Wesen der Wahrheit in Konsens bestehe, die Ungereimtheit, daß die Konsenstheorie der Wahrheit selber durch ihre Anwendung auf sich selber falsch werden kann, wenn diese ihre Falschheit Gegenstand eines Konsenses wird; viertens können nach der Konsenstheorie Widersprüche in der Wahrheit auftreten, indem alle Menschen zu einer Zeit von einer Sache überzeugt, und später vom Gegenteil überzeugt sein können, sodaß von jedem Inhalt überhaupt zugleich sein Gegenteil wahr sein könnte; es ergibt sich fünftens die offensichtliche Unrichtigkeit dieser These daraus, daß viele Urteile,
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über die ein breiter oder sogar universaler Konsens geherrscht hatte, später empirisch oder mit apriorischen Methoden widerlegt wurden. Daraus schon zeigt sich, daß Konsens als solcher nicht Wahrheit ist, ja daß, wie wir später sehen werden, Konsens als solcher Wahrheit nicht verbürgt. 3.5. Argument aus der Unmöglichkeit, die Wahrheit aller Urteile aus Konsens ableiten zu wollen – die Wesensgrenzen des Konsenses im Verhältnis zur Totalität aller wahren Urteile
Ein sechstes Argument ist noch schlichter: Wenn überhaupt Konsenstheorie der Wahrheit als Theorie über das Wesen der Wahrheit verstanden wird, könnte sie höchstens über allgemeine oder sinnlich verifizierbare Wahrheiten, die jedermann zugänglich sind, als adäquate Theorie aufgefaßt werden. Sobald es sich hingegen um wahre Urteile handelt, die sich auf individuelle und persönliche Gegenstände beziehen, die völlig privater Natur sind in dem Sinne, daß sie nur mir bekannt sind, wie das Urteil, daß ich leichtes und von niemandem bemerktes Kopfweh oder daß ich einen Wunsch habe, jemand anderen zu töten, kann die Wahrheit dieser Urteile sicher nicht in einem Konsens bestehen. Denn niemand anderer weiß von den betreffenden Sachverhalten, und doch sind die sie behauptenden Urteile wahr. Dasselbe gilt auch von der Unendlichkeit wahrer Urteile in der Mathematik, Schachtheorie, jeglicher Form unendlicher Reihen, die kein menschlicher Geist je in ihrer ganzen Ausdehnung zu denken vermag und deren Wahrheit daher unmöglich darin bestehen kann, Gegenstand eines Konsenses zu sein, der sich nur auf eine relativ eng begrenzte Sphäre im Gesamtreich von Urteilen beziehen kann. Der Konsenstheoretiker muß also entweder seine Wahrheitstheorie aufgeben oder behaupten, eine Mehrheit aller Urteile könnten deshalb, weil sie weder Gegentand des Konsenses noch des Dissenses seien, weder wahr noch falsch sein, was absurd ist. Dieser Punkt ist nicht nur eine Erläuterung dessen, was die Konsenstheorie eigentlich betrifft, nämlich nur allgemein zugängliche Urteile, sondern ist auch die Grundlage eines weiteren Argumentes gegen die Identifizierung von Konsens und Wahrheit.
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Wenn man Konsens nämlich weiter hinsichtlich der Zahl derer, die miteinander übereinstimmen, bestimmt, könnte man sagen: Nicht nur der Konsens aller, der Konsens vieler, oder sogar der Konsens weniger oder zweier sei Konsens. Dieser wäre vielmehr mit sich selber allein möglich. In dieser Wendung der Theorie würde natürlich Konsens nicht mehr im selben Sinn verstanden werden, weil im Begriff des Konsenses der Gedanke an verschiedene Personen, die über dasselbe Urteil übereinstimmen, unvermeidlich gedacht ist. Aber lassen wir es zu und sagen immerhin: „Ich stimme mit mir selbst überein“. Sokrates spricht sogar in durchaus berechtigtem Sinn von diesem Konsens mit sich selber, wenn er sagt, daß die Partner seiner Dialoge und auch das Volk der Athener häufig miteinander und mit sich selbst in Widerspruch stünden, daß hingegen nur die (wahre) Philosophie selbst immer dasselbe sage und immer mit sich selbst in Einklang stehe. Konsens in diesem Sinne ist aber ähnlich mit Kohärenz und ihre Gleichsetzung mit Wahrheit kann mit denselben Argumenten widerlegt werden wie diese. 3.6. Darlegung und Kritik der Habermas’schen Version der Konsens-Theorie der Wahrheit – Ist Wahrheit durch rationalen Diskurs erreichter Konsens?
Wenden wir uns nun der weiteren Darstellung und vor allem Kritik der intelligentesten Form der Konsenstheorie der Wahrheit zu, die wir bereits in allgemeinen Zügen dargestellt haben. Habermas versucht, seinen „Diskursbegriff der Wahrheit“ als „Konsensfähigkeit“ und als dadurch „gerechtfertigte Behauptbarkeit“ von einem gewöhnlichen Konsensbegriff der Wahrheit zu unterscheiden. Habermas vertritt keine absolut geschlossene oder reine Konsenstheorie der Wahrheit, indem er von einem „über alle verfügbaren Evidenzen hinausweisenden Anspruch“ und einem „realistischen Stachel“ spricht, der uns verbiete, Wahrheit auf „gerechtfertigte Behauptbarkeit“ zu reduzieren,184 aber verfällt knapp nach der Formulierung dieser Erkenntnis in die dem Deutschen Idealismus nahestehende
184
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 288; 292-293.
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These, daß eine „wahre Aussage“ nicht nur eine „im jeweiligen Kontext“, sondern eine „in allen möglichen Kontexten gerechtfertigte“ Aussage bedeute,185 wobei aber diese „Rechtfertigung“ keinen Rekurs auf objektive Evidenz der Sachen selbst bedeutet, sondern nur einen rein intersubjektiven Verständigungshorizont, eine Welt reiner doxa, voraussetze. Habermas’ „Diskursrationalität“ und damit „Konsensrationalität“ ist untrennbar nicht nur von dem schon im Deutschen Idealismus und Kant steckenden Subjektivismus, sondern auch von dem, was er in seiner Diskussion Heideggers als „Detranszendentalisierung der welterzeugenden Spontaneität“ und damit als Verschiebung von einem transzendentalen auf ein historisch-kulturelles Ich und historische Gemeinschaften, bezeichnet.186 „Dieser [„der begründete Konsens“] gilt als Wahrheitskriterium, aber der Sinn von Wahrheit ist nicht der Umstand, daß überhaupt ein Konsens erreicht wird, sondern: daß jederzeit und überall, wenn wir nur in einen Diskurs eintreten, ein Konsens unter Bedingungen erzielt werden kann, die diesen als begründeten Konsens ausweisen. Wahrheit bedeutet ‘warranted assertibility’.“187
185
186
187
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 288-289. Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 35: Mit diesem Konzept wird Heidegger der Detranszendentalisierung der welterzeugenden Spontaneität in der Form einer Historisierung des Sinnaprioris gerecht, ... Vgl. auch Jürgen Habermas, ebd., S. 57 ff.; 63-64. Habermas, ebd., S. 239 f. Vgl. den Vergleich zwischen Husserl und Habermas und die Kritik an Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit von David Detmer, “Habermas and Husserl on Positivism and the Philosophy of Science” in: Lewis E. Hahn (Ed.), Perspectives on Habermas (Chicago: Open Court, 2000). Vgl. auch Darrel Moellendorf, “Consensus and Cognitivism in Habermas’s Discourse Ethics”, South African Journal of Philosophy (2000) June; 19(2): 65-74. Zur Kritik der rechtlichen Anwendung der Habermas’schen Konsenstheorie der Wahrheit vgl. Ota Weinberger, “Legal Validity, Acceptance of Law, Legitimacy: Some Critical Comments and Constructive Proposals”, Ratio Juris (1999) December; 12 (4): 336-353; ders., „Argumentation in Law and Politics“, Communication and Cognition (1995); 28 (1): 37-54. Weinberger entwickelt dort eine Kritik an der Diskursphilosophie von Habermas, Apel und Alexy. Vgl. auch
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„Warranted assertability“ kann man hier als begründete oder nachprüfbare Behauptbarkeit deuten. Auch Nachprüfbarkeit, ein bei Habermas wichtiger Begriff, bedeutet jedoch keine echte kognitive Nachprüfung (Evidenz oder empirische Verifikation) von Wahrheitsansprüchen, sondern nur noch praktische oder experimentelle ‚subjektive Überprüfung‘, also eine Art sozialer und konsensorientierter ‚Nachprüfung‘ oder eines psychologischen Nachfühlenkönnens anstatt objektiv fundierter Kognitionen: ...; die Wahrheit einer in Diskursen behaupteten Proposition bedeutet, daß jedermann mit Gründen veranlaßt werden kann, den Geltungsanspruch der Behauptung als berechtigt anzuerkennen.188
Die subjektive Wende im Begriff der Nachprüfbarkeit macht sich bei Habermas auch dort geltend, wo er den Geltungsanspruch, auf den er Wahrheit reduziert, für ein bloßes Aufrechterhaltenkönnen (vor Gericht, diskursiv) von Rechtsansprüchen erklärt oder – im Unterschied zum kontrollierbaren Handlungserfolg einer Theorie, der für die Objektivität der Erfahrung Kriterium sei – für die Einlösung eines Geltungsanspruchs in „erfolgreicher Argumentation“.189 Hier betrachten wir diese erkenntnistheoretisch ganz verschiedenen Positionen jedoch unter einer einheitlichen Kategorie, weil sie alle unter Konsens eine verifizierbare bzw. „begründete“ Übereinstimmung verstehen. Je nachdem welche Evidenzen oder Erfahrungen sie als Fundament einer „Verifikation“ oder „Begründung“ zulassen und welchen Erkenntnis-bzw. Wahrheitswert sie jenen „Kennt-
188 189
die Kritik an Apels Konsenstheorie der Wahrheit und deren Verleich mit der Wahrheitstheorie des jungen Fichte: Vittorio Hösle, „Die Transzendentalpragmatik als Fichteanismus der Intersubjektivität“, Zeitschrift für philosophische Forschung, (1986); 40: 235-252. Vgl. ferner Alessandro Ferrara, “A Critique of Habermas’s Consensus Theory of Truth”, Philosophy and Social Criticism (1987); 13: 39-67, sowie Paul Healy, “Is Habermas’s Consensus Theory a Theory Of Truth?”, Irish Philosophical Journal (1987); 4: 145-152. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 389. Habermas, ebd., Nachwort. Zur Kritik der Konsenstheorie als kriteriologische Wahrheitstheorie vgl. auch Friedrich Kambartel, „Wahrheit und Begründung“, Dialektik (1999); 1: 37-52.
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nissen“, die „verifizierbar“ sind, zuweisen, unterscheiden sich die einzelnen Positionen radikal von einander. Auch Kamlah und Lorenzen vertreten eine derartige Theorie: Wir stellen auf diesem Wege [durch interpersonale Verifizierung], durch diese ‚Methode‘, Übereinstimmung zwischen dem Sprecher und seinen Gesprächspartnern her, eine Übereinstimmung, die in der sokratischen Dialogik ‚Homologie‘ genannt wurde.190 ‚Wahr‘ und ‚falsch‘ werden in dieser Theorie zu Beurteilungsprädikatoren, die durch ausdrückliche Vereinbarung (Homologie und Konsens) festgelegt werden.191
Diese auch als ‚dialogische Theorie der Wahrheit‘ bezeichnete Theorie ist also eine konstruktivistische und relativistische Theorie, die letzten Endes die ‚intersubjektive Verifikation‘ selbst auf faktischen oder diskursiv erreichten Konsens reduziert, der durch Vereinbarung festgelegt wird. Im Grunde finden wir hier in modernem Gewand die reinste Sophistik der Wahrheitstheorie, die an die Stelle der aletheia (des Wahrseins) eine reine doxa (ein Wahrscheinen) setzt. So bestehen Brücken zwischen Konsenstheorie der Wahrheit, konstruktivistischen Wahrheitstheorien und Empirismus.192 Habermas’ „warranted assertability“ (begründete oder nachprüfbare Behauptbarkeit) wird also wieder durch Erfolg und letzten Endes, wie Puntel bemerkt,193 durch Konsens bestimmt, der allein darüber entscheidet, welche Argumentation erfolgreich, triftig und begründet oder deren 190
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193
„Homologie“ bedeutet wörtlich „Gleiche Rede“. Vgl. W. Kamlah und P. Lorenzen, Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens, S. 120. Vgl. zur Kritik der Wahrheits- und wertbezogenen Konsenstheorien der Wahrheit von Jürgen Habermas Herbert Keuth, „Erkenntnis oder Entscheidung: Die Konsenstheorien der Wahrheit und der Richtigkeit von Jürgen Habermas“, Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie (1979), 10, 375-393. Zur Kritik dieser stark vom Positivismus geprägten Habermas-Kritik vgl. Hans Albert, „Realität und Wahrheit: zu Herbert Keuths Kritik am kritischen Rationalismus“, Zeitschrift für philosophische Forschung (Oktober-Dezember 1979), 33, 567-587. Vgl. etwa Victor Kraft, „Konstruktiver Empirismus“, Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie (1973), 4, 313-322. Puntel, ebd., S. 153 ff.
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Gegenteil ist. Habermas formuliert an anderer Stelle, an der er seine in diesem Zitat auch an Sir Karl Popper gemahnende Theorie mit dem Begriff der „superassertability“ von Crispin Wright194 identifiziert, folgendermaßen: Demzufolge ist eine Aussage wahr genau dann, wenn sie unter den anspruchsvollen Kommunikationsbedingungen rationaler Diskurse allen Entkräftigungsversuchen standhält.195
Doch widersteht Habermas einer einfachen Zustimmung zu dieser Bestimmung der Wahrheit mit dem Hinweis auf die Verschiedenheit zwischen Wahrheit und „diskursiver Überlebensfähigkeit“196 und scheint die letztere nur noch als „Beleg der Wahrheit“, also als Wahrheitskriterium anzusehen, mit dem wir uns zufriedengeben müßten.197 Wäre Konsensfähigkeit durch den Erfolg des Diskurses und seine tatsächliche Erzielbarkeit definiert, würde man zwar die Konsensfähigkeit erst am Ende eines Gesprächs feststellen können, und erst dann, wenn der Konsens tatsächlich erreicht ist, aber man würde dennoch mit der Konsensfähigkeit noch nicht die Tatsächlichkeit des Konsenses meinen, sondern futurologistisch nur die empirische Konsensfähigkeit, die tatsächliche Erreichbarkeit von Übereinstimmung, als Konsensfähigkeit bezeichnen. Übrigens ist auch eine solche empirische Konsensfähigkeit, die Habermas innerhalb der idealen Gesprächssituation durch vier Chancengleichheiten aller Diskursteilnehmer, also demokratisch, bestimmt,198
194
195
196 197
198
Vgl. Crispin Wright, Truth and Objectivity (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1992). Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze „Richtigkeit versus Wahrheit“, S. 289. A,a,O., S. 289. Ebd., S. 290. Habermas weist in diesem Zusammenhang auf seine Übereinstimmung mit Durkheim und Piaget hinsichtlich einer „sozialen Konzeption der Wahrheit“ hin, die nach Piaget notwendig daraus resultiere, daß man „jedes äußere oder innere Absolute“ ablehne (ebd., S. 290, Anm. 29). Puntel, ebd., S. 156 f. Vgl. die Kritik an Habermas von Sergio Belardinelli, “La teoria consensual de la verdad de Jürgen Habermas”, Anuario Filosofico (1991); 115-123.
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selbst nach Erreichen des tatsächlichen Konsenses, nicht leicht festzustellen. Den erörterten Behauptungen entspricht auch Habermas’ Auffassung der Geltung moralischer Urteile, die „sich an der inklusiven Natur eines zwischen Konfliktparteien erzielten normativen Konsenses bemißt“.199 All dies steht unter dem von Habermas wiederholt angesprochenen „nachmetaphysischen Rechtfertigungsbedarfs“ im Rahmen einer idealistischkantischen oder analytisch-empiristischen Philosophie, welche echte Evidenz und Erkenntnis einer absoluten Wahrheit ausschließt, wobei Habermas sich kritisch mit C. Lafonts Deutung der Diskurstheorie der Wahrheit auseinandersetzt, die den klassischen Adäquationsbegriff der Wahrheit voraussetzt und die Diskursethik nur im Sinne einer Unterstellung deutet, der Gegenstand dieses diskursiv vermittelten und intersubjektiv geteilten Wahrheitsanspruches entspräche den wirklichen Sachverhalten.200 Jürgen Habermas stellt diese „Ontologisierung von verallgemeinerungswürdigen Interessen“ seiner These einer „Erzeugung einer Welt von Normen“ durch soziale und intersubjektive Diskursmomente gegenüber und nimmt den aus jeder Konsenstheorie der Wahrheit folgenden Relativismus voll an.201 Dies geht auch aus den letzten Sätzen seiner gesammel199 200
201
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 300. Jürgen Habermas, ebd., S. 307 ff. Vgl. auch C. Lafont, “Pluralism and Universalism in Discourse Ethics”, in: A. Nascimento (Hrsg.), A Matter of Discourse. Community and Communication (Hampshire: Averbury, 1997). Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 309. Vgl. auch ebd., S. 70, wo im Zusammenhang einer Diskussion der „diskursiven Rationalität“ davon die Rede ist, daß a priori notwendige Geltung nur „für die jeweilige Sprachgemeinschaften“ bestehe. Unter dieser Voraussetzung muß, wie Habermas sagt, das Sinnapriori der „sprachlichen Weltbilder im Plural auftreten und die allgemeine Geltung eines transzendentalen Apriori verlieren“ (ebd., S. 70). Habermas gibt wohl den folgenden von ihm bei Humboldt gefundenen und schönen Gedanken auf: „Ein gemeinsamer Blick auf die Wirklichkeit als ein zwischen den ‚Weltansichten‘ verschiedener Sprachen ‚in der Mitte liegendes Gebiet‘ ist eine notwendige Voraussetzung für sinnvolle Gespräche überhaupt.“ (Habermas, a.a.O., S. 73). Vgl. auch Habermas, ebd., S. 75-86. Vgl. auch Josef Seifert, “Texts and Things”, in: Annual ACPA Proceedings (1999), Vol. LXXII, 41-68.
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ten Aufsätze zum Wahrheitsproblem hervor, in denen er ausdrücklich betont, daß nach seiner Theorie die Menschenwürde und die in ihr gründenden Menschenrechte „sich nur im Kontext einer auf gegenseitiger Anerkennung beruhenden Gemeinschaft konstituieren“ und daß es keine „angeborenen Rechte“ einer Person vor der Vergemeinschaftung gebe (dies nennt er eine „falsche These“). Dabei geht aus dem Zusammenhang hervor, daß er dabei nicht nur meint, daß die Person wesenhaft Glied einer Gemeinschaft und auf diese von Natur aus zugeordnet ist, sondern daß erst durch deren gegenseitige Anerkennung und Konsens diese Würde und Menschenrechte sich konstituieren, daß sie also keine ontologische Grundlage haben. Damit ist es auch nicht objektiv wahr, daß der Sachverhalt besteht, daß jede Person diese Würde und Menschenrechte besitzt, sondern dies ist in dem „postmetaphysischen Begründungszusammenhang“ von Habermas nur Gegenstand einer auf einem diskursiv vermittelten Konsens beruhenden Anerkennung. So schließt er sein Werk (gesammelter Aufsätze) über Wahrheit mit den Worten: Um so mehr hilft die Einsicht, daß eine Einigung auf verpflichtende Normen (für gegenseitige Rechte und Pflichten) nicht abhängt von der wechselseitigen Wertschätzung kultureller Leistungen und Lebensstile, sondern von der Unterstellung, daß jede Person als Person den gleichen Wert hat.202
Indem er in diesem an sich schönen Text diese Grundlage der Menschenwürde und Menschenrechte eine Unterstellung nennt, wird deutlich, daß er beide nur im Sinne eines Gegenstandes eines sozialen und interkulturellen Verständigungs- und Einigungsprozesses begreift. Damit aber ist es nicht im Sinne der Adäquationstheorie der Wahrheit wahr, daß jeder Mensch dieselbe ontologische Würde als Person besitzt, weil der Sachverhalt besteht, daß es tatsächlich so ist, daß es auch nicht einmal im Sinne einer Hypothese für objektiv wahr gehalten wird, sondern daß die Wahrheit der Menschenwürde und Menschenrechte nur auf einem sozialen und historischen Konsens, auf einer Einigung im Sinne einer Unterstellung beruht.
202
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 333.
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KAPITEL 3
Dies erinnert stark an Kants Postulatsgedanken, bei dem man ebenfalls Sätze als wahr annimmt (postuliert), die man als Ergebnis der theoretischen Philosophie für objektiv unbegründet und sogar falsch halten muß. In ähnlicher Weise verschiebt sich über den Gedanken der Unterstellung der Wahrheitsgehalt einer Aussage, der ihr nur zukommen kann, weil sie dem gemeinten Sachverhalt entspricht, auf ein „Gegenstand eines Konsenses Sein“. Sosehr Habermas eine neue Form der Konsenstheorie entwickelt, so wenig kann er die Irrtümer und Widersprüche jeder Konsenstheorie der Wahrheit verändern oder diese grundsätzlich falsche Theorie durch seine Sondervariante derselben wahr machen; alle gegen die allgemeinen Fehler jeglicher Konsenstheorie als Wesenstheorie der Wahrheit bereits vorgebrachten Einwände treffen auch auf die Habermas’sche Variante derselben zu. Dazu kommen weitere Widersprüche der Theorie, die sich aus den Ideen eines begründeten Konsenses (warranted assertibility) oder eines kritischen Konsenses und aus allen von ihm genannten Qualifizierungen des Konsenses ergeben. Denn all diese Qualifizierungen setzen nicht nur Wahrheit als Übereinstimmung mit den bestehenden Sachverhalten voraus, wenn sie behaupten, der Konsens sei Wahrheit, sondern auch wenn sie Unterschiede zwischen unbegründetem und begründetem Konsens oder das Vorliegen der Begründetheit eines bestimmten Konsenses behaupten. Dazu kommt, daß letzten Endes auch von einem angemessen begründeten Konsens nur dort die Rede sein kann, wo wir Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung unserer Urteile mit bestimmten Sachverhalten und ihrer begründenden Rolle oder wenn wir zumindest die Glaubwürdigkeit oder Plausibilität gewisser Meinungen behaupten, welche den Konsens begründen und ihrerseits ein Fundament in wirklich bestehenden Sachverhalten und damit in Wahrheit im Sinne der Adaequatio voraussetzen. 4. Konsens als Wahrheitskriterium – Argumente und Einwände Damit kommen wir zur Konsenstheorie in einem ganz anderen Sinne: Übereinstimmung nicht als Wesen, sondern als Kriterium für Wahrheit verstanden. Dabei unterscheiden wir positive von negativen Wahrheitskri-
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terien, bzw. Kriterien der Wahrheit von solchen der Falschheit. Behalten wir also die vorher unterschiedenen Bedeutungen von Konsens im Auge und wenden sie nun auf die Frage des Konsenses als Wahrheitskriterium an: Wenn wir Konsens zurecht als Kriterium für Wahrheit bezeichnen, so kann damit sicher nicht bloß ein rein negatives Wegfallen von Widersprüchen mit der Meinung anderer gemeint sein; denn dieses kann unmöglich als ein positives Kriterium für Wahrheit gelten. Wenn jemand sagt: „Eben sehe ich, daß ein Mann im Nachbarhaus, das Ihr nicht sehen könnt, einbricht“, so ist die Tatsache, daß dieses Urteil nicht im Widerspruch mit irgendeiner anderen mir bekannten Meinung steht, weder unbedingt ein Grund für meine Zustimmung (denn ich könnte den anderen Menschen ja als Gewohnheitslügner oder als Spaßvogel kennen) noch gar ein Beweis für seine Wahrheit. Die Person, die mir dies erzählt hat, könnte z.B. einen Aprilscherz machen und aus diesem Grunde sagen, daß beim Nachbarn jemand einbricht oder etwas anderes Aufregendes erzählen, von dem sie weiß, daß es keinen mir bekannten Tatsachen widerspricht. Das im Aprilscherz enthaltene Urteil über den sich eben ereignenden Einbruch steht vielleicht auch nicht im Widerspruch mit der Meinung von irgend jemand anderem, weil gerade niemand auf das Haus hinblickt oder in ihm weilt, doch ist es offenbar falsch. Eine derartige Nichtwidersprüchlichkeit meines Urteils mit anderen ist also gewiß weder ein Grund, das Vorliegen eines Konsenses zu behaupten, noch ein Kriterium für Wahrheit. Umgekehrt wäre es selbstverständlich ein gültiges Kriterium für die Falschheit mindestens eines von verschiedenen Personen gefällten Urteils, wenn zwischen ihnen keine Übereinstimmung bestünde. Wo zwischen verschiedenen widersprüchlichen Meinungen kein Konsens besteht, ist dies ein sicheres Indiz für die Falschheit zumindest einer von ihnen. Konsens im Sinne ausdrücklicher oder auch impliziter Übereinstimmung kann mit dem Gesichtspunkt der „Quantität“ und der „Qualität“ der Subjekte des Konsenses verbunden werden, sodaß jemand sagen möchte: „Wenn alle Menschen oder wenigstens alle Sachkundigen oder Weisen über etwas übereinstimmen, so liegt darin zwar kein sicheres Kriterium für Wahrheit; denn es könnte sein, daß alle Weisen und alle Menschen gemeinsam demselben Irrtum erliegen. Aber immerhin liegt darin doch ein gewisser Hinweis auf Wahrheit, da es unwahrscheinlich ist, daß sich alle
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KAPITEL 3
Menschen oder all jene, die sich auf einem bestimmten Gegenstandsgebiet sehr gut auskennen, irren.“ Freilich setzt dieses Kriterium bestimmte unbezweifelbare Evidenzen über das Wesen der Erkenntnis überhaupt, aber auch empirischere Erkenntnisse über die Erkenntnisfähigkeit des Menschen und ihre Reichweite, über eine wenigstens unter manchen Menschen verbreitete Wahrheitsliebe etc. voraus. Auf diesem Hintergrund nur ist die Annahme, daß Konsens unter Sachkundigen nur dadurch erklärbar sei, daß ihm Wahrheit zugrunde liegt, berechtigt und deshalb das Vorliegen der genannten Formen des Konsenses ein Wahrheitshinweis, bzw. ein gewisses Kriterium oder besser gesagt ein Anzeichen für die wahrscheinlich bestehende Wahrheit, allerdings nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen. Denn auch in der Naturwissenschaft, in der viele Arten von Hypothesen, Annahmen und theoretische Interpretationen vorliegen, die keineswegs klar gegeben sind, ist Konsens keineswegs ein Gewißheit begründendes Wahrheitskriterium.203 Dieses Kriterium besitzt jedoch einen gewissen Wert und kann unter bestimmten Umständen sogar zu einer theoretisch nahezu und moralisch schlechthin gewissen und begründeten Überzeugung führen, nämlich dann, wenn man guten Grund hat anzunehmen, daß der Konsens ausschließlich aus der Wahrheit stammen kann. Das ist in besonderen Fällen anzunehmen. Denken wir an den Fall, in dem ein Richter vor Gericht fünf Zeugen separat verhört und diese Zeugen zu verschiedenen Zeiten dasselbe Ereignis gesehen haben. Der Richter weiß, daß keiner dieser Zeugen hat miteinander konferiert hat. In einem solchen Fall kann ich sagen: „Wenn sich aus diesen fünf Zeugenberichten ein vollständig kohärentes Bild ergibt und zwischen den Aussagen dieser fünf Zeugen keinerlei Widerspruch, sondern perfekter objektiver Konsens besteht, kann auch ein gewissenhafter Richter diese Übereinstimmung der Zeugen als hinreichende Evidenz für Wahrheit annehmen.“ In ähnlicher Weise darf dort die Nichtübereinstimmung im Urteil als Evidenz der Falschheit genommen werden, wo wie bei Daniels Richt203
Vgl. die auf Mill aufbauende Kritik am Konsens als Wahrheitskriterium in der Wissenschaft bei Miriam Solomon, “Consensus in Science” in Tian Yu Cao, (Ed.), The Proceedings of the Twentieth World Congress of Philosophy, Volume 10: Philosophy of Science.
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spruch gegen die Ankläger der Susanna deren Nichtübereinstimmung über Fakten, hinsichtlich derer im Fall der Realitätswahrnehmung Übereinstimmung herrschen müßte, eindeutiges Kriterium der Falschheit ist. Wo die Tatsachen leicht erkennbar sind und nicht zu übersehen sind, folgt mit größerer oder geringerer Gewißheit daraus, daß verschiedene Zeugen hinsichtlich solcher Fakten nicht miteinander übereinstimmen, daß das, was sie sagen, falsch sein muß. Umgekehrt, wenn Zeugen miteinander nicht über ganz simple, sondern über äußerst komplexe Begebenheiten oder Situationen übereinstimmen, wo nur Realitätswahrnehmung diese Übereinstimmung erklären kann, darf ich schließen, daß das, was sie sagen, wahr ist. Dabei ist es nicht einfach die Tatsache, daß sie übereinstimmen oder nicht übereinstimmen, die das Kriterium für Wahrheit ist, sondern vielmehr die besondere Natur der Erkenntnisart und des Gegenstandes, um den es sich handelt. Diese sind solcherart, daß anders als durch Wahrheit oder durch wirklichkeitsgemäße Erkenntnis ein solcher Konsens gar nicht erklärbar wäre. Diese Form des Konsenses als Kriterium für Wahrheit und des Dissenses als Kriterium für Falschheit wird man in der Kriminologie, im Bereich der Rechtssprechung oder vielleicht auch im Bereich historischer Quellenanalyse und anderer Wissenschaften anwenden wie in der Geographie. Wenn wir etwa ein Land nicht kennen, aber fünf verschiedene Personen, die zu verschiedenen Zeiten und unabhängig voneinander einen Plan oder eine Landkarte dieses Landes hergestellt haben, über jedes Detail übereinstimmen, werden wir darin ein Kriterium für Wahrheit erblicken. Oder wenn historische Quellen alle übereinstimmend dasselbe sagen und dabei unabhängig voneinander sind, dann werden sie vom Historiker, der mehr als ein Lebensalter zurückliegende Ereignisse erforscht, es sei denn bei der Vermutung abgekarteter Geschichtsfälschungen, als Wahrheitskriterium anerkannt werden, insbesondere da die Geschichtswissenschaft hauptsächlich nur Konsens und Konkordanz der Quellen als Wahrheitskriterium besitzt. Denn der Historiker selbst kennt ja niemanden, der diese historischen Ereignisse erlebt hat, und kann die betreffenden Tatsachen nicht selber prüfen wie der Chemiker oder Physiker. Also ist Konsens für ihn durchaus ein wichtiges Kriterium, allerdings nicht einfach wegen des Konsenses als solchem, sondern vielmehr weil historische
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KAPITEL 3
Sachverhalte oder Verbrechen so viele Details einschließen, die beobachtet werden müssen, daß man – wenn eine falsche Zeugenaussage oder eine falsche historische Quelle vorliegt –, annehmen muß, daß die verschiedenen falschen Berichte einander auch widersprechen würden, daß hier keine Übereinstimmung möglich wäre. So ist in solchen Fällen aufgrund der besonderen Gegenstands- und Erkenntnisart aus dem Konsens vieler ein Kriterium für Wahrheit zu gewinnen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß dieses Kriterium absolut unfehlbar ist. Denn es könnte z.B. im Prinzip der Fall sein, daß viele verschiedene historische Quellen – vielleicht aufgrund derselben lügenhaften mündlichen Äußerungen eines Menschen, die verloren wurden – Konsens aufweisen. Deshalb muß der Historiker nicht nur den Konsens der Quellen, sondern auch die Verläßlichkeit der Zeugen, die Frage, ob einem Konsens Fälschungen zugrundeliegen können, usf. prüfen. Man kann also auf keinen Fall einfachhin den Konsens als Kriterium der Wahrheit nehmen. Immerhin ist er ein entscheidendes Kriterium innerhalb anderer Überlegungen und Wahrheitskriterien. Wenn man Konsens hingegen im Sinne einer ausdrücklichen Übereinstimmung mit Autoritäten versteht, von denen man überzeugt ist, daß sie im sicheren Besitz der Erkenntnis oder der Wahrheit sind, dann ist der Konsens mit diesen Autoritäten, die Wahrheit verbürgen, ein schlechthin sicheres Wahrheitskriterium – allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Bedingung, unter der Konsens hier Kriterium ist, auch erfüllt ist, daß es sich also um schlechthin zuverlässige Wahrheitszeugen handelt. Wenn z.B. die heilige Schrift unfehlbar wahr ist, und wenn es ferner feststeht, daß die Interpretation dieser Schrift durch einen Menschen richtig ist, dann ist damit notwendig gegeben, daß der ausdrückliche und erwiesene Konsens mit dieser Schrift Wahrheit verbürgt. Oder wenn wirklich, wie ein Katholik glaubt, als Dogmen verkündete Lehren unfehlbar wahr sind, wenn man also glaubt, daß durch Gott selbst oder den Heiligen Geist die Schrift sowohl als auch die dogmatischen Lehren der Kirche auf unfehlbarer Offenbarung beruhen und ihre Wahrheit durch ein besonderes Geschenk des Heiligen Geistes gesichert ist, dann ist die Übereinstimmung mit diesen Lehren ein zwingendes Kriterium für Wahrheit. Deshalb wird z.B. in der Theologie die Übereinstimmung mit einem Text, der als unfehlbar anerkannt wird, etwa in der evangelischen und der katholischen
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Theologie mit der Bibel, in der katholischen Kirche außerdem mit jenen Lehren der Kirche, die dogmatisch als Glaubensinhalte verkündet wurden, als Wahrheitskriterium verwendet. Auch die Moslems oder Mitglieder anderer Religionen, die eine Inspiration und Unfehlbarkeit ihrer heiligen Texte annehmen, nehmen gleichermaßen Konsens mit diesen als Wahrheitskriterium an. Hier hängt alles davon ab, ob die Voraussetzungen stimmen, unter denen das Konsenskriterium steht. Wenn es wirklich unfehlbar geoffenbarte Inhalte gibt, dann ist die explizite Übereinstimmung mit ihnen ein unfehlbares Zeichen für Wahrheit. Wenn es sie nicht gibt, dann natürlich nicht. Deshalb hängt hier alles von der soliden und begründeten Quelle dieser Überzeugung von Unfehlbarkeit ab. Und diese Erkenntnis der Unfehlbarkeit einer Quelle muß andere Kriterien außer Konsens verwenden. Eine andere Art von begründetem Konsens, der aus einer intersubjektiven bzw. von mehreren Subjekten geteilten und kritisch vermittelten Erkenntnis erwächst, etwa die im Dialog mit Sokrates erreichte Übereinstimmung aufgrund von Argumenten und infolge einer eingehenden Prüfung der Sachverhalte, ist gleichfalls ein wichtiges Wahrheitsindiz. Unter Umständen ist ein solcher kritisch erreichter Konsens nur mit einem einzigen Menschen, mit dem ich ein Problem eingehend besprochen habe, wertvoller als der Konsens aller oder der Konsens einer großen Anzahl von Menschen. Und dies ist deshalb so, weil es hier nicht nur um faktischen Konsens geht, sondern um einen wertvolleren, nämlich einen aus Erkenntnis, eingehender Prüfung und Diskussion entspringenden Konsens. Es handelt sich hier um intersubjektiv geteilte Erkenntnis, die zwar Akt des je einzelnen Subjektes bleibt, aber doch gemeinsam erworben wird. Die Tatsache, daß zwei Menschen dasselbe sehen und sich über die Gründe ihrer Übereinstimmung verständigen, ist sicher ein gewisses, wenn auch an sich kein unfehlbares Kriterium für Wahrheit. Letzten Endes ist auch hier Evidenz das noch weitaus tragendere Kriterium. Denn die Frage bleibt immer bestehen, aufgrund welcher Evidenz und welcher Begründung der Konsens erreicht worden ist. Verdeutlichen wir dies anhand eines einfachen Beispiels aus der Schachtheorie: Ein „Matt in zwei Zügen“ wird nach einigen Versuchen von zwei Freunden zusammen „gefunden“; sie übersahen dabei aber eine andere Antwort auf den ersten Zug und so irren
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KAPITEL 3
sie sich. Ihr Konsens ist also wertlos, weil er auf unzureichender Evidenz und falschen Annahmen beruhte. Wenn ich also nicht die Evidenz der Erkenntnisse, die Grundlagen einer Verständigung sind, erfasse, dann kann ich auch den Wert eines Konsenses als Wahrheitskriterium nicht beurteilen. Denn selbst wenn der Konsens zwar aus einer eingehenden Prüfung, aber nur daraus entspringt, daß man gewisse Hypothesen für wahrscheinlich hält, die nicht wahr sind, so kann die bloße Tatsache, daß man sich über dieselben nach langen Gesprächen verständigt hat, kein gültiges Kriterium oder gar zwingendes Kriterium für ihre Wahrheit sein. Daher hängt auch bei dieser Form des begründeten Konsenses alles davon ab, wie gut die erkenntnismäßige Begründung und Evidenz jener Erkenntnis ist, welche die Überzeugung des einzelnen Gesprächspartners begründet und damit auch die Quelle des Konsenses ist. Das führt uns wieder zurück zu einem anderen Kriterium, das außerhalb des Konsenses liegt, nämlich der Evidenz in ihren vielfältigen, dem jeweiligen Gegenstandsbereich angemessenen Formen. Dasselbe könnte man über alle Formen von Konsens als Kriterium sagen. Letzten Endes beruht auch dort, wo der Konsens als zuverlässiges Kriterium für Wahrheit akzeptiert wird, das letzte Fundament der Gültigkeit des Konsenskriteriums für Wahrheit nicht im Konsens als solchem, sondern in der Evidenz jener Wahrheiten und Erkenntnisse, in denen der Konsens begründet ist. Deshalb kann dieser letzten Endes nur aus Evidenz seine Gültigkeit beziehen. Dies führt uns zu einem für die gegenwärtige Diskussion wichtigen Resultat: Konsens und Evidenz als Kriterien der Wahrheit stehen nicht in einem Gegensatz zueinander, sondern das erstere setzt das letztere voraus. Die beiden stehen auch nicht bloß nebeneinander. Vielmehr ist Evidenz die grundlegendste Form der Erkenntnisgewißheit und somit das ursprünglichste Wahrheitskriterium. Zu seiner Erkenntnis letztbegründenden Klarheit und Deutlichkeit kann Konsens gleichsam nur ein zusätzliches und untergeordnetes Kriterium sein. Man könnte und sollte dieses Verhältnis zwischen Evidenz und Konsens sicher viel eingehender und genauer erforschen. Man wird trotz der letztfundierenden Rolle der Evidenz als Kriterium umgekehrt sagen müssen, daß der Konsens über eine Evidenz eine gewisse Bestärkung derselben bringt, und daß vor allem angesichts unserer von uns
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selber oft am wenigsten bemerkten eigenen Vorurteile das Prüfen unserer echten Evidenzen und falsch angenommenen Pseudoevidenzen im Feuer der Kritik und im Dialog uns fruchtet, teilweise deshalb, weil uns im Dialog unsere eigenen Gründe klarer werden, teilweise weil sie sich in der Diskussion als Argument für andere bewähren. Eine zusätzliche Bestärkung unserer Urteile durch Konsens erwächst einfach aus der Tatsache, daß der Mensch ein Gesellschaftswesen ist und gewöhnlich seine Überzeugung nicht ganz alleine hegt, sondern sie mit jemandem teilen will. Auch diese Natur des Menschen als soziales Wesen bedingt eine in gewissem Maße berechtigte Bestärkung der eigenen Überzeugung durch Übereinstimmung mit anderen. Dennoch entsteht, insbesondere in der Philosophie, aber auch in anderen Bereichen der Wahrheitserkenntnis, eine Perversion, wenn der Konsens gegenüber der Evidenz die Oberhand gewinnt. Selbst dort, wo die Qualität der Person, deren Zustimmung ich als Kriterium der Wahrheit anerkenne, verlangt, daß ich im Zweifelsfalle mein eigenes Urteil dem des Wissenden und Weiseren und damit einer Form des Konsenses unterwerfen soll, verlangt auch dieses vertrauensvolle Annehmen des Urteils des anderen oder mehrerer anderer, die sich im Konsens mit einander befinden, eine Evidenz über Grundlagen und Berechtigung dieses Vertrauens. Dies gilt auch für religiösen Glauben. Es besteht in diesem Belang eine Priorität der Evidenz vor jedwedem Konsens als Wahrheitskriterium. Wenn er tatsächlich evidente Erkenntnis besitzt, sollte ein Mensch gegen alle Übrigen an dieser festhalten. Der Widerspruch zu Mehrheitsmeinungen ist durchaus berechtigt, wenn die Evidenz echt ist. Vor allem darf man die soziale Komponente und Bestärkung durch die Überzeugung Anderer als solche nie als ein letztes Kriterium nehmen. Selbst wenn Konsens eine Hilfe zur Vertiefung der Evidenz und zur Bestärkung im Festhalten an eigenen Evidenzen sein kann, so ist also demnach das Verhältnis zwischen diesen beiden Kriterien so, daß die Evidenz das fundierende und letztliche ist und der Konsens ein abgeleitetes, sekundäres.
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KAPITEL 3
5. Konsens als Wahrheitsbedingung? Es darf sicher nicht mit Recht behauptet werden, daß Konsens im Sinne ausdrücklicher Zustimmung oder Gleichheit des Urteils Mehrer Bedingung für Wahrheit ist. Das geht schon daraus hervor, daß es Dinge gibt, die nur ein einziger Mensch wissen kann, bei deren Erkenntnis also Konsens gar nicht in Frage kommt. Wenn es etwa um ein ganz persönliches Geheimnis geht, um ein Gefühl oder eine Intention meines privatesten Innenlebens, dann kann gewiß weder ausdrückliche noch stillschweigende Übereinstimmung mit anderen Menschen, die ja von meinem Geheimnis nichts wissen oder auch nur ahnen, Bedingung für Wahrheit sein. Hinsichtlich solcher privater Inhalte kann nicht einmal die Konsensfähigkeit mit einem einzigen Menschen Wahrheitsbedingung sein. Denn es ist möglich, daß niemand ein seltsames individuelles Erlebnis eines anderen Menschen überhaupt versteht oder ihm glaubt, was in ihm vorgegangen ist, selbst wenn er es ihm mitteilt. So ist es gewiß nicht Bedingung der Wahrheit der Aussagen, in denen jemand ein ganz merkwürdiges Erlebnis, das er hatte, schildert, daß irgend jemand anderer diesen zustimmt. Es bleibt vielmehr wahr, daß jemand dieses Erlebnis gehabt hat, auch wenn nur er allein davon weiß und keinen Anderen davon überzeugen kann. Deshalb allein schon ist auch Konsens im Sinne intersubjektiver Verifizierbarkeit keinesfalls Bedingung der Wahrheit.204 Wenn Konsens bloß Wegfallen des Widerspruchs, und in diesem Sinn in Einklang Stehen mit anderen Urteilen bedeutet, dann ist Konsens nur dann Bedingung der Wahrheit, wenn es um einen Widerspruch oder Konsens mit schon als wahr feststehenden Urteilen geht. Wenn man „reinen Konsens“ (d.h. ohne auf bereits als wahr erwiesene Urteile zu rekurrieren) im Auge hat, selbst wenn man diesen sowohl der 204
Wenn allerdings Konsens – das haben wir wegen der Ausgefallenheit dieses Konsensbegriffs überhaupt nicht als eine Bedeutung von Konsens festgehalten – die Übereinstimmung mit einem alle Wahrheit erkennenden Wesen meinen würde, also etwa Konsens mit dem göttlichen Wissen, dann wäre selbstverständlich Konsens eine notwendige Bedingung der Wahrheit, aber das ist wohl ein Begriff von Konsens, den kein Mensch verwenden wird.
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Quantität als auch der Qualität seiner Subjekte nach maximal steigert (Konsens aller, der Weisen, derer, die einen rationalen Diskurs geführt haben), so kommt er ebenfalls als notwendige Bedingung der Wahrheit nicht in Frage. Betrachtet man hingegen Konsens im Sinne der rein objektiven Übereinstimmung mit solchen, die schon Wahrheit wissen, so ist Konsens eine Bedingung für Wahrheit, wenn wirklich feststeht, daß derjenige, mit dem man in Konsens steht, die Wahrheit über die betreffende Angelegenheit kennt. Darauf baut Brentanos Wesensdefinition der Wahrheit durch ihren Bezug zur Evidenz auf. 6. Konsens als Wahrheitsfolge? Es ist auch als Folge der Wahrheit offenbar nicht schlechthin notwendig, daß tatsächlicher Konsens eintritt. Das geht schon aus dem bisher Gesagten hervor. Denn wenn es Wahrheiten gibt, über die aus den verschiedensten Gründen überhaupt kein Konsens unter Menschen zu erreichen ist, wie im Falle von Tatsachen, die nur ein bestimmter Mensch kennt, dem niemand glaubt, dann ist damit die Wahrheit seiner Aussage keineswegs ausgeschlossen. Es ist durchaus vereinbar mit der Wahrheit einer Aussage, daß niemand mit ihr übereinstimmt. Wenn man Konsens hingegen als prinzipielle Konsensfähigkeit versteht, als Möglichkeit, Konsens zu erreichen, dann stellt sich das Problem anders dar und kommt es in erster Linie darauf an, was für eine Erkenntnis oder was für eine Wahrheit in Frage steht. Wenn es eine Wahrheit ist, die prinzipiell jedermann zugänglich ist, wenn es also um einen prinzipiell durch Sinneswahrnehmung, intellektuelle Einsicht, Beweis oder andere Erkenntnisformen feststellbaren und „intersubjektiv verifizierbaren“ Sachverhalt geht, dann ist gewiß die prinzipielle Konsensfähigkeit als Folge der Wahrheit und der Erkenntnisfähigkeit gegeben, während Irrtümer prinzipiell davon ausgeschlossen sind, daß eine durch Erkenntnis begründete Konsensfähigkeit aus ihnen folgen würde. Also keineswegs, wenn eine Annahme oder Schlußfolgerung irrig ist, wohl aber wenn sie wahr und allgemein erkennbar ist, ist im Prinzip mit ihrer Wahrheit und allgemeinen Erkennbarkeit auch die Möglichkeit des Konsenses und zwar
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eines nicht auf sophistischer Rhetorik, sondern auf Erkenntnis beruhenden Konsenses gegeben. In diesem Sinn ist sicher eine prinzipielle Konsensfähigkeit unter allen, die sie erkennen können, eine Folge der Wahrheit. Nur heißt dies keineswegs, daß die tatsächliche Erreichbarkeit dieses Konsenses eine notwendige Folge von Wahrheit wäre. Es ist nicht notwendig, daß diese prinzipielle Möglichkeit, Konsens, und zwar in Erkenntnis begründete Übereinstimmung über eine Wahrheit zu erlangen, auch tatsächlich eintritt. Es kann ja Hindernisse in einem Menschen geben, die ihn an der Erkenntnis und deshalb auch daran hindern, zuzustimmen. Wenn man etwa mit Cicero205 annimmt, daß in sittlichen Fragen trotz der großen Meinungsgegensätze, die hinsichtlich ihrer bestehen, objektive Erkenntnis und ganz evidente Erkenntnis über gerecht und ungerecht möglich ist, dann wird eine solche Wahrheit und Evidenz der Erkenntnis des Gerechten nicht dadurch in Frage gestellt, daß in ethischen Fragen kein tatsächlicher Konsens aller oder auch nur vieler erreichbar ist. Cicero sagt, daß der Grund dafür, daß so viele Meinungsgegensätze über Fragen der Gerechtigkeit bestehen, während über Fragen der Sinneserkenntnis keine ähnlichen Gegensätze der Anschauung bestehen, nicht darin liege, daß es über Gerechtigkeit keine Evidenz gäbe. Im Gegenteil, so sagt er, wäre es wahnsinnig zu behaupten, daß es keine objektive Gerechtigkeit gebe oder daß es z.B. nicht objektiv ungerecht sei, wenn ein Interrex in Rom vor kurzem ein Gesetz erlassen habe, demzufolge jeder Römer ohne irgendwelche Verhöre oder Gerichtsuntersuchungen hingerichtet werden konnte, einfach nach dem willkürlichen Willen des Diktators. Cicero sagt mit Recht, jedermann könne erkennen, daß das ungerecht ist. Gleichermaßen, wenn jemand Testamente fälsche, erkenne dies jeder als Unrecht, wenn er nur ehrlich denke und rede. Cicero zählt einen langen Katalog von Dingen auf, von denen in der Tat jedermann einsehen kann, daß es vollkommen evident ist, daß die von ihm beschriebenen Handlungen objektiv ungerecht oder gerecht sind. Und dann fragt er: Warum bestehen dann so große Gegensätze der Meinungen? Er antwortet mit zwei Gründen darauf, die voll überzeugend sind: Einmal würden auf unser sittliches Urteil von Kindheit an Anschläge aller Art ausgeübt. Ammen, Lehrer, Eltern, öffentliche Meinung, Volks205
Siehe Cicero, De legibus I, 48-53.
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mengen usf. versuchen, unsere Urteile über sittliche Fragen zu beeinflussen. Daher sei es ganz verständlich, daß unser sittliches Urteil unter dem Attentat dieser verschiedensten sozialen Einflüsse verwirrt werden könne. Sodann sagt Cicero, in jedem Menschen, ja in jedem seiner Sinne lauere eine Bestie, die Lust, die ihn bewege und motiviere, das Angenehme zu suchen und das, was gerecht ist, nicht anzuerkennen, wenn es seiner Lust und seiner Neigung, oder seinen Machtgelüsten widerspricht. Diese zwei Begründungen warum in Fragen der Ethik kein Konsens im selben Sinn wie in Fragen der Sinneserkenntnis erreicht werden kann, genügen durchaus, um den oft zur Begründung des ethischen Relativismus hervorgehobenen Mangel an ethischem Konsens zu erklären – ohne behaupten zu müssen, daß es in diesem Falle keine objektiv erkennbare Wahrheit gebe. Damit leuchtet auch die objektive Evidenz der ethischen Erkenntnis ein, sowie daß diese in keiner Weise durch den ethischen Dissens widerlegt werden kann. Dies tritt noch deutlicher hervor, wenn man bedenkt, daß Konsens niemals selber die Erkenntnisform oder das letzte Kriterium ist. Wahrheit kann nie durch Konsens als solchen festgestellt werden. Das sollte schon daraus einleuchten, daß Konsens einfach eine Übereinstimmung ist, wobei jedes der mit einander übereinstimmenden Urteile nach einer anderen Begründung verlangt als der Übereinstimmung selbst. Dies gilt selbst für den Fall, in dem wir etwas für wahr halten, weil es eine andere Person sagt. Auch hier bedürfen wir eines von Konsens verschiedenen Grundes für unser Vertrauen. Die Erkenntnis, die dem Konsens zugrunde liegt, selbst wenn wir aus dem Konsens erkennen, daß etwas wahr ist, kann nicht selber Konsens sein, da etwa die Einsicht, in welcher Weise Konsens Wahrheitskriterium ist, oder worin die Glaubwürdigkeit des einhelligen Zeugnisses Vieler wurzelt, immer schon andere Erkenntnisse vorsaussetzt, welche nicht durch Konsens gewonnen sind. In vielen Fällen verstehen wir also auf Grund der besonderen Erkenntnis- und Objektsphäre, um die es geht, daß wir aus Konsens Wahrheit erkennen können. Aber selbst dann kann weder der Konsens als solcher diese Erkenntnis sein noch (und erst recht nicht) der hinreichende Grund für die Erkenntnis des Erkenntniskriteriums des Konsenses sein.
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7. Konsens und Ethik – Ein besonderer Fall der Konsenstheorie der Wahrheit und ihre Kritik Es gibt einen besonderen Fall, in dem sowohl die Konsenstheorie der Wahrheit eine Rolle spielt als sie auch gerade dort besonders unangemessen ist, obgleich Vielen das Gegenteil der Fall zu sein scheint. 7.1. Konsens als schöpferische Instanz für sittliche Normen
Im Rahmen der Ethik begegnet uns die Konsenstheorie der Wahrheit in verschiedener Gestalt. Eine erste Form wäre die These, daß der Konsens sittliche Normen schaffe. Ausgehend von Kant und einer freien Interpretation von Thomas von Aquin hat die autonome Ethik im Rahmen der katholischen Moraltheologie in verschiedenen Formen die These eines schöpferischen Gewissens entwickelt, das, oft durch Konsens, Normen schafft oder sogar erfindet.206 Der Hinweis auf Geschichte, Kultur, Akzeptanz von Normen, Konsens der Moraltheologen usf. deutet an, daß nicht das Gewissen des Einzelnen, eine göttliche Autorität oder ein Lehramt, sondern vielmehr der Konsens als normensetzend, normenschaffend angesehen wird. Nun kann der Konsens tatsächlich überall dort Normen und Gesetze begründen oder schaffen, wo diese den Charakter von Spielregeln oder vielleicht auch jenen von positiven Gesetzen haben. Überall dort jedoch, wo die sittlichen Normen dem intelligiblen und notwendigen Wesen der Dinge entstammen, die wir als notwendige 206
Zur Kritik dieser Auffassungen vgl. besonders Andreas Laun, Das Gewissen. Oberste Norm sittlichen Handelns, bes. S. 37 ff., wo die einschlägigen Auffassungen von Auer, Böckle, Pesch, Schillebeecks und anderen kritisch erörtert werden. Autonomie wird dann als ‚schöpferische Vernunft‘ verstanden, aus der heraus die Erneuerung der Moraltheologie zu leisten wäre. Vgl. C. Kowarz, „Kreativität im Bereich der christlichen Ethik“, 262-265, bes. S. 265. Vgl. auch W. Korff, Norm und Sittlichkeit (Mainz, 1973), und Alphons Auer, Autonome Moral und christlicher Glaube. Vgl. auch Andreas Laun, „Das Gewissen – sein Gesetz und seine Freiheit. Anmerkungen zur heutigen Diskussion“, S. 31-64.
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Wesenheiten und notwendige Wesensgesetze bezeichnet haben,207 ist es ganz unmöglich, daß der Konsens Normen schafft oder daß irgendeine andere Instanz objektive Normen schafft. Auch wenn es sich um wahrscheinliche Normen handelt, insoferne sie sich in den konkreten Situationen aus den allgemeinen Wesensgesetzen anwenden lassen, handelt es sich nicht um ein Schaffen, sondern um den Versuch, mit aller gebotenen Klugheit, das in der konkreten Situation Geforderte zu finden. Was für ein Nominalismus und Positivismus in der Ethik und im Staat würde daraus folgen, daß z.B. die Gesellschaft durch bloßen Mehrheitskonsens eine wirkliche Norm schaffen könnte, Ungeborene zu töten, alte Menschen oder Angehörige einer bestimmten Rasse zu ermorden, und alle denkbaren Greuel der Menschheit durch Mehrheitskonsens zu sanktionieren! Der Konsens ist eindeutig nicht der Schöpfer ethischer Normen. Nicht in ihm, sondern in dem abwertend als bloßes „Ableseorgan“ bezeichneten Erkennen sittlich relevanter Strukturen erblicken wir gerade den Weg des Zugangs zu den objektiven moralischen Normen. 7.2. Konsens als Kriterium für das Bestehen sittlicher Normen
Ganz anders ist die Idee, daß der Konsens Kriterium für das Bestehen objektiver ethischer Normen sei. Diese Auffassung geht von zwei Ideen aus, einer richtigen, die sich in Kants Kritik der praktischen Vernunft findet, und einer falschen. Die richtige ist diejenige, daß im Gegensatz zu theoretischen Erkenntnissen, zu denen vielen das nötige Talent und die nötige Vorkenntnis fehlt, die sittliche Wahrheit prinzipiell jedermann bekannt und in jedes Menschen Herz eingeschrieben ist bzw. daß prinzipiell jeder Mensch dazu in der Lage ist, sie zu erkennen. Falsch hingegen ist zweifellos die Meinung, daß es keine wesentlichen Hindernisse der adäquaten Erkenntnis der Menschen – gerade in sittlichen Erkenntnissen – gäbe. Ganz im Gegenteil gibt es hier mehr Quellen der 207
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1.
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KAPITEL 3
Wertblindheit und des Irrtums als irgendwo anders.208 Sei es die Subsumptionsblindheit, sei es die partielle konstitutive oder Verdunkelungsblindheit, sei es die Abstumpfungsblindheit oder die totale sittliche Wertblindheit – in zahlreichen Formen kann die ethische Werterkenntnis abgeschwächt oder sogar verhindert werden. Aus diesem Grund kann in der Ethik die Meinung der Mehrheit keineswegs maßgeblich sein. Sokrates geht darauf auch ausführlich im Kriton ein, wo er die Notwendigkeit betont, die Meinung der Mehrheit, der Menge usf. in Fragen wie der, ob man der staatlichen Strafe entfliehen dürfe, lügen dürfe, usf., kritisch zu prüfen. Ganz anders ist es, wenn der Konsens mit solchen Autoritäten besteht, von denen wir eine höhere oder gar eine unfehlbare Erkenntnis erwarten dürfen, wie dies in der Idee der allgemeinen und speziellen Unfehlbarkeit in der katholischen Kirche geglaubt wird. Für den Gläubigen ist der Konsens mit dem authentischen Lehramt in seinen höchsten Äußerungen supremes Wahrheitskriterium. 7.3. Konsens und Konsensfähigkeit als Wesen ethischer Wahrheit
Am allerwenigsten kann die Meinung überzeugen, daß die Wahrheit über sittliche Normen im Konsens selber bestehe könne. Dies widerspricht dem evidenten Wesen der Wahrheit, es widerspricht ferner sich selbst, da dann der Konsens auch darüber eintreten könnte, daß Wahrheit nicht im Konsens besteht – ein evidenter Widersinn, wenn das Wesen der Wahrheit der Konsens wäre. Die Kritik dieses Standpunkts folgt aus dem oben Gesagten deutlich.
208
Vgl. die Untersuchungen dazu in Dietrich von Hildebrand, Sittlichkeit und ethische Werterkenntnis, Kap. 1 ff.
III. TEIL
WAHRHEIT UND ERFOLG KRITIK PRAGMATISCHER UND FUNKTIONALISTISCHER UMINTERPRETATIONEN DER WAHRHEIT
KAPITEL 4 PRAGMATISTISCHE, PRAGMATIZISTISCHE UND NEOPOSITIVISTISCHE WAHRHEITSTHEORIEN
Es gibt eine Reihe von Wahrheitstheorien, die Wahrheit in Bezug zu „Erfolg“ setzen. Solche Wahrheitstheorien werden mit Namen wie Charles Sanders Peirce,209 William James, John Dewey,210 Hegel211 und Nietzsche,212 und auch mit einer Seite der Wahrheitstheorie von Habermas (neben der Diskurstheorie und Elementen einer Kohärenztheorie sowie einer Popper’schen Theorie der Wahrheit als Teile seiner komplizierten Wahrheitstheorie) verbunden.213 In anderer, aber sehr radikaler Form 209
210
211
212
213
Charles Sanders Peirce, Collected Papers, hrsg. v. C. Hartshorne und P. Weiss, 6 Bde (Cambridge, Mass, 1965-1967). See The Collected Works of John Dewey, edited by Jo Ann Boydston, 37 volumes (Carbondale: Southern Illinois University Press, 1967-1991). Zur These einer Art höherer pragmatischer Idee und Rechtfertigung der Wahrheit bei Hegel vgl. Walter Zimmerli, „Die Wahrheit des ‚impliziten Denkers‘: Zur Logikbegründungsproblematik in Hegels ‚Wissenschaft der Logik‘“. Stud Phil (Schweiz), 41 (1982), 139-160. Vgl. die einschlägigen Texte und ihre Kritik in Josef Seifert, „Friedrich Nietzsches Verzweiflung an der Wahrheit und sein Kampf gegen die Wahrheit“ in: Dietrich von Hildebrand (Hrsg.), Rehabilitierung der Philosophie, S. 197 ff.; ders., „Ideologie und Philosophie. Kritische Reflexionen über Marx-Engels ‚Deutsche Ideologie‘ – Vom allgemeinen Ideologieverdacht zu unzweifelbarer Wahrheitserkenntnis“. Die brillante Wahrheitstheorie von Jürgen Habermas scheint mir nicht nur in der angedeuteten Weise äußerst schillernd zu sein, sondern auch dadurch, daß es unklar bleibt, ob er das Wesen der Wahrheit beschreiben oder nur Kriterien oder Methoden der Wahrheitsfindung beschreiben will. Auch bleibt unklar, ob er die Erkenntniswahrheit oder die Urteilswahrheit im Auge hat. Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, „Einleitung: Realismus nach der sprachpragmatischen Wende“, S. 7 ff. Vgl. etwa ebd., S. 14: „Die folgenden Beiträge sind Ausdruck des erneuten Interesses an Fragen eines pragmatistischen Erkenntnisrealismus, der den Spuren des linguistischen Kantianismus folgt.“ Pragmatismus wird hier als „ein praktisches Zurechtkommen mit der Welt“, einem „Coping-Verhalten“, identifiziert, das zu einem Übergang
274
KAPITEL 4
werden Erfolgstheorien der Wahrheit auch vom Diamat und dem dialektischen Materialismus vertreten, wobei die Wahrheit einer Aussage als deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit entweder überhaupt geleugnet oder als eine dünne, bedeutungslose, rein scholastische Frage angesehen und zur Bedeutungslosigkeit degradiert wird. Man denke, wie diese Entthronung der Wahrheit,214 die Karl Marx deutlich zum Ausdruck gebracht hat, nicht nur in der berühmten 11.,215 sondern auch in der zweiten seiner Thesen über Feuerbach, erscheint: Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage.216
214 215
von Hermeneutik zu formaler Pragmatik und von „kommunikativer Rationalität“ zur „Interaktion zwischen sprachlicher Welterschließung und innerweltlichen Lernprozessen“ führen soll, deren eigentliche Wurzel in dem erwähnten „praktischen Zurechtkommen mit der Welt“ bestehen soll (ebd., S. 14). Habermas sieht seine Position auch mit dem Pragmatismus Richard Rortys verwandt. (ebd., S. 17). Wenn Habermas ferner davon spricht, daß Karl-Otto Apel „gegen Wittgensteins Kontextualismus der Sprachspiele“, gegen Heideggers Idealismus der sprachlichen Welterschließung und gegen Gadamers Rehabilitierung der Vorurteile einen „pragmatisch transformierten Kant aufgeboten“ habe (Habermas, a.a.O., S. 66), zeigen sich gewisse Sympathien Habermas’ für eine solche pragmatische Wende. Vgl. Dietrich von Hildebrand, „Die Entthronung der Wahrheit“, S. 309-339. Karl Marx, Thesen über Feuerbach (niedergeschrieben in Brüssel im Frühjahr 1845), 11: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.
216
[Marx: Thesen über Feuerbach, S. 7. Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 32422 (vgl. MEW Bd. 3, S. 7)]. Vgl. auch John F. Crosby, „Evolutionism and the Ontology of the Human Person“, Review of Politics, 38 (April, 1976), S. 208-243. [Marx: Thesen über Feuerbach, S. 3, S. 32418 (vgl. MEW Bd. 3, S. 5)].
Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien
275
Eine rein pragmatische und dadurch eo ipso auch relativistische Auffassung der Wahrheit217 wird ebenso vom Faschismus und Nationalsozialismus in verschiedensten Versionen vorgebracht.218 Man muß natürlich zwischen diesen Theorien sowie deren diversen Varianten differenzieren. Dennoch läßt sich allgemein sagen: Wahrheit wird hier durch Nützlichkeit oder Erfolg bestimmt. Dabei stellt sich natürlich zuerst die Frage: 1. Was heißt Nützlichkeit oder Erfolg? 1. Erstens könnte man Erfolg einfach als Sieg einer Idee verstehen, insofern sie zur Verwirklichung von einem Individuum oder Staat gesetzter politisch-gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Ziele verhilft. Im Privatleben bestünde der Erfolg in diesem Sinne im Nutzbringen einer Theorie, der ich in meinem Leben oder Betrieb folge, darin, daß diese Theorie mir persönlich bei der Erreichung meiner Ziele nützt, z.B. wirtschaftlich oder zur Durchsetzung meiner Rechtsansprüche, usw. Wir können in dieser Weise Erfolg einer Theorie als einen politisch-gesellschaftlichen oder auch privaten Nutzen für die Realisierung der jeweiligen subjektiven Ziele definieren, der daraus resultiert, daß jemand eine bestimmte Theorie oder Ideologie vertritt oder anwendet. Dieser Nutzen kann direkt einfach daraus erwachsen, daß man der Theorie folgt, oder indirekt daraus, daß man andere davon überzeugt, daß die eigene Theorie stimmt. Im letzteren Fall erwächst dann der Nutzen z.B. daraus, daß sehr viele, vereint in einer bestimmten Ideologie, um irgendeine Angelegenheit, sagen wir einen bestimmten politischen Sieg einer Partei und Durchsetzung ihrer Ziele, kämpfen und sie durchsetzen. In offiziellen Textbüchern des Diamat liest man zu seiner Verwunderung, daß die Wahrheit der marxistisch-leninistischen Ideologie durch den direkten Nutzen des Marxismus in diesem Sinne, nämlich durch den Sieg der Revolution 1917 und auch durch alle späteren Siege und Eroberungen 217 218
Vgl. dazu Martin Cajthaml, Kritik des Relativismus, zit. Vgl. dazu auch Dietrich von Hildebrand, Memoiren und Aufsätze gegen den Nationalsozialismus 1933-1938, sowie Josef Seifert, (Hrsg.), Dietrich von Hildebrands Kampf gegen den Nationalsozialismus.
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KAPITEL 4
des Weltkommunismus bewiesen worden sei. Hier wird also der mit der Wahrheit einer Ideologie oder mit deren Beweis identifizierte Erfolg in einem politisch-kriegerischen Sinne gedeutet, der entweder mit der „realen Wahrheit“ des Dialektischen Materialismus oder mit dessen Wert, oder auch mit dem sicheren Beweis seiner Wahrheit identifiziert wird. In ähnlicher Weise wird im Rahmen einer Wesenstheorie der Wahrheit im Nationalsozialismus Wahrheit durch politisch-ökonomischen Erfolg definiert, wenn behauptet wird, wahr sei, was dem deutschen Volke nütze und dann eine Liste nützlicher Folgen der nationalsozialistischen Partei angeführt wird, welche die Wahrheit des Nationalsozialismus „in der Praxis“ beweisen sollen. In diesem Fall wird „Nutzen“ durch größere Macht, militärische Siege oder auch durch wirtschaftlichen Erfolg des deutschen Volkes definiert. 2. Zweitens könnte man Erfolg nicht bloß als einfachen politischgesellschaftlichen Sieg oder subjektiven Nutzen in dem Sinne verstehen, daß dasjenige, was ein Individuum, eine Partei, oder ein Volk sich subjektiv als Ziel setzen und für nützlich betrachten, eintritt, sondern tiefer als politisch-gesellschaftliches Gut denken. Dann würde „Erfolg“ nicht subjektiven Kriterien unterworfen und mit einer bloßen subjektiven Nützlichkeit (in Bezug auf bestimmte von einem Volk oder einer Partei gesetzte Zwecke) gleichgesetzt, sondern im Sinne einer Idee des Guten, eines sittlich Guten oder einer Wohlfahrt des Individuums oder des Staates verstanden, die objektiver Natur sind und weit tiefer reichen als die Erfüllung subjektiver Machtambitionen oder als der objektive, aber keineswegs notwendig wertbestimmte Vorteil in kriegerischen Handlungen. Im Gegensatz zum „rein pragmatischen“ hat der zweite Erfolgsbegriff eine objektive Grundlage und unterscheidet sich daher von dem bloßen politisch-gesellschaftlichen Sieg einer Ideologie. Veranschaulichen wir uns den gewaltigen Unterschied dieser beiden Erfolgsbegriffe an einem Beispiel: Im ersten, rein militärischen und wirtschaftlichen Sinn war der Nationalsozialismus eine Zeitlang erfolgreich und hat gesiegt, aber dieser Erfolg und Sieg entsprang einer grundfalschen Auffassung über den Menschen und einer Terrorherrschaft, durch deren politische Herrschaft Bürger und ihre Gewissen unterdrückt und Millionen von Unschuldigen ermordet und durch und durch ungerechte Eroberungskriege gewonnen wurden. Die militärischen Erfolge selber trugen zur weiteren Ausdehnung
Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien
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und Festigung des Naziterrorregimes und zu dessen „Erfolg“ bei. Ein derartiger „wertfreier“ Erfolg sagt nicht nur überhaupt nichts über die Wahrheit der Theorie, sondern war keinerlei echter Erfolg, denn diese Erfolge bedeuteten nur einen Sieg des Bösen und der Unmenschlichkeit und die „erfolgreiche“ „arische“ Gesellschaft, das deutsche Volk, dem angeblich „genutzt“ wurde, zog zwar wirtschaftliche Vorteile aus diesen Siegen, wurde aber durch sie kurzfristig und noch mehr langfristig in größtes Unglück gestürzt und erlitt Übel aller Art. Eine intelligentere pragmatische Wahrheitstheorie könnte daher die marxistischen und nationalsozialistischen sowie ähnliche Formen des Pragmatismus und eines rein subjektiven „Erfolgsbegriffs“ zurückweisen und unter Erfolg, der die Wahrheit verbürge oder gar mit dieser identisch wäre, nur Erfolg in der axiologischen Bedeutung des Wortes (Erfolg im zweiten Sinn) verstehen. Eine Theorie sei dann wahr, wenn man infolge ihrer Vorhersagen oder vor allem ihrer Anwendung in der Gesellschaft besser lebe, wenn Ordnung und Frieden hergestellt würden, wenn Menschen ihr eigentliches Gut erlangten. Nur dies sei unter Nutzen zu verstehen. Nutzen sei also der Sieg des objektiv Guten und des gesamtheitlichen Gutes der Bürger, des bonum comune, in dem Sinne von „an ihren Früchten werdet ihr sie (die Wahrheit einer Theorie) erkennen“. Wahrheit einer politischen Theorie oder eines Parteiprogramms bestünde also nur in deren Geeignetheit, Erfolg in diesem Sinne herbeizuführen und auch die Wahrheit einer Religion bestünde in nichts anderem als darin, entsprechende geistige, kulturelle, psychologische und moralische Früchten zu zeitigen. In dem letzteren Sinne verteidigt Hermann Lübbe einen psychologisch-anthropologischen pragmatischen Wahrheitsbegriff in der Religion, deren Wahrheit in der durch sie ermöglichten „Kontingenzbewältigung“ liege.219 3. Drittens könnte man von Erfolg mit Rücksicht auf das reine Interesse an Ideen als solchen und ihren Einfluß, ihre intersubjektive historische Herrschaft, oder auch das Erreichen des Konsenses über sie, vor allem des 219
Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung (Graz: Styria, 1986). Daß aus einer – in Analogie zu einem Placebo-Medikament – zur Kontingenzbewältigung benutzten Religion auch kein echtes Gut der wirklichen „Kontingenzbewältigung“ resultiert, werden im Kapitel über Wittgenstein zeigen.
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KAPITEL 4
Konsenses Vieler, reden, etwa im Sinne des Hegelschen „Zeitgeistes“, während dessen Dauer und intersubjektiv-historischer Herrschaft ein Ideenkomplex die Gesellschaft und Politik der Zeit prägt. In diesem ihrem historischen Sieg als Idee habe sie ihre Wahrheit – eine unendlich gefährliche und falsche, relativistische Theorie, deren grausige Folgen das 20. Jahrhundert bewiesen hat. Eine Philosophie hätte Erfolg in diesem Sinne und sei daher zu ihrer Zeit wahr, wenn sie an vielen oder allen Universitäten vertreten werde. Dabei kann Erfolg einer Philosophie einmal nichts weiter bedeuten, als daß die Werke, die sie formulieren, gekauft oder obendrein sogar gelesen werden. Erfolg einer Philosophie kann aber auch einen bedeutungsvolleren Sinn haben und meinen, daß sie von der Fachwelt ernstgenommen und an Universitäten vertreten oder zumindest kritisch diskutiert wird. In einem noch weiter reichenden Sinne hätte eine Philosophie Erfolg, wenn sowohl sehr viele oder sehr angesehene Denker als auch weite Kreise, Gruppen oder Gesellschaftsschichten von einer Idee überzeugt werden, wenn Ideen also breiten Konsens erzielen. Je nach den früher nach Quantität, Qualität usf. unterschiedenen Arten von Konsens könnte man hier viele weitere Unterarten unterscheiden: bei allen oder bei bestimmten Gruppen, bei den Wissenden oder Weisen, bei den Massen, usf. So kann der intersubjektiv-historische Sieg einer Idee auch dann als Erfolg betrachtet werden, wenn gar kein weiterer Nutzen aus ihm erwächst und wenn vielleicht sogar das Volk, von dem eine Idee angenommen wird, so arm und machtlos ist und ein so elendes Militär besitzt, daß überhaupt kein praktischer Erfolg eintritt. Erfolg im dritten Sinne liegt also rein auf der Ebene der Rezeption oder Annahme einer Überzeugung und meint daher den reinen Erfolg der Ideen im Bewußtsein von Menschen; so könnte man diesen Sachverhalt auch definieren. 4. Viertens schließlich könnte man „Erfolg“ als jene Erfahrungen definieren, die durch eine Theorie vorhergesagt werden. In diesem völlig neuen, für den Pragmatismus und Neopositivismus charakteristischen Sinn bestünde der „Erfolg“, der eine Theorie bestätigt, etwa in den Ergebnissen der Experimente, durch die eine Hypothese verifiziert wird. Erfolg in. diesem Sinne, wie er etwa im Wienerkreis verstanden wurde, ist mit dem Prozeß der Verifikation identisch. Die Wahrnehmungen also, die eine Theorie verifizieren, bzw. der in ihnen wahrgenommene und von der
Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien
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Theorie vorhergesagte Sachverhalt, sind ihr „Erfolg“ in diesem Sinne. Diese Idee von „Erfolg“ nähert sich am ehesten der Adäquationstheorie der Wahrheit. Man sollte „Erfolg“ in dieser Bedeutung eindeutiger definieren, nämlich nicht als die Wahrnehmungen und Erfahrungserlebnisse selber, durch die eine Theorie wirklich oder vermeintlich bestätigt wird, sondern als das Eintreten der durch eine Hypothese oder Theorie vorhergesagten Sachverhalte oder deren notwendiger Folgen und deren (intersubjektiv verifizierbare) Feststellung. Wenn jemand eine Theorie entwirft, etwa eine physikalische Theorie über die Reduktion oder das Wegfallen der Schwerkraft im Weltraum, und wenn die Erfahrung der Weltraumfahrer diese von der Theorie vorhergesagten Phänomene bestätigt oder aufgrund dieser Theorie ein Sputnik oder Apollo-Satellit seine Bahn vorhersagegemäß durchläuft und nicht unerwarteterweise an einem Planeten zerschellt, wie andere Satelliten, die nach einer anderen Theorie konstruiert werden, so ist damit der Erfolg dieser Theorie und eo ipso, denkt der Pragmatist, auch ihre Wahrheit erwiesen. In dieser Deutung versteht man also unter Erfolg all jene Erfahrungen und Konsequenzen, die von dem Inhalt der Theorie her zu erwarten waren und von ihrer Annahme her vorhersagbar sind. 5. In einem fünften Sinne, der vielen Momenten des Marxismus, aber auch Heideggers und der sprach-pragmatistischen Wende der analytischen Philosophie entspricht, bestimmt Habermas ‚Erfolg‘, indem er diesen in komplizierter und vielfältiger Weise deutet: 1) als aus einem „intelligenten Umgang mit einer riskanten Welt“ sich ergebende Folgen; 2) als eine Art von „sozialer Dimension“ der „Rechtfertigung von Problemlösungen gegenüber Einwänden anderer Diskussionsteilnehmer“; 3) als Lernvorgänge, die von der „Revision eigener Fehler zehren“.220 4) Wo Jürgen Habermas von einer „teleologischen Rationalität“ als von einem „intentionalen Abzielen auf Realisierung gesetzter Zwecke“ redet, 220
Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 36-37: „Aus pragmatischer Sicht ist die Wirklichkeit nichts Abzubildendes; sie macht sich einzig in den Beschränkungen, denen unsere Problemlösungen und Lernprozesse unterworfen sind, performativ – als das Ganze der verarbeiteten und zu erwartenden Widerstände – geltend.“
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KAPITEL 4
scheint er Erfolg mit dem Resultat einer solchen teleologischen Rationalität und Wahrheit mit der Geeignetheit einer Theorie, dieses hervorzurufen, gleichzusetzen; an anderen Stellen beziehen sich seine Erfolgs- und die damit verbundene Wahrheitstheorie nur auf 5) aus rationalen Präferenzen und Erfolgserwartungen hervorgehende und ihnen entsprechende Ergebnisse. Gelegentlich scheint er Wahrheit auch mit 6) dem „illokutionären und perlokutionären“ Erfolg zu identifizieren. Dabei ist es im Habermas’schen Pragmatismus die Idee der „kommunikativen Rationalität“, die „einigende Kraft der verständigungsorientierten Rede“, die letztlich einen Bezug auf eine „intersubjektiv geteilte Lebenswelt“ herstellt. Somit identifiziert Habermas Wahrheit mit „einem Horizont ..., innerhalb dessen sich alle auf ein und dieselbe objektive Welt beziehen können“. Habermas identifiziert also Wahrheit mit „kommunikativem Erfolg“ und „kommunikativer Rationalität“, wodurch er sie relativieren würde.221 So ist es, wie man sieht, sehr schwer, Habermas’ Position eindeutig zu identifizieren. Auch gibt es eine Reihe von Stellen, in denen er den Erfolg nicht mit dem Wesen der Wahrheit zu identifizieren scheint, sondern in ihm nur ein Wahrheitskriterium erblickt.222 2. Ist Erfolg gleich Wahrheit? Evidente Irrtümer und Widersprüche pragmatischer Wahrheitstheorien Gehen wir wieder die verschiedenen Möglichkeiten einer konsequenzialistisch/utilitaristischen Wahrheitstheorie durch. Erstens können die verschiedenen Bedeutungen von Erfolg als Wesen, bzw. als Grundlage der Definition betrachtet werden: „Wahrheit ist das, was Erfolg hat“.
221
222
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 110137. Vgl. Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 288: Obwohl Wahrheit kein Erfolgsbegriff ist, gehen wir davon aus, daß eine nach unseren Maßstäben erfolgreiche Rechtfertigung von ‚p‘ für die Wahrheit von ‚p‘ spricht.“
Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien
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Gegen eine derartige Reduktion der Wahrheit auf Erfolg oder, präziser gesagt, auf das, was Erfolg bringt, läßt sich auf vielfältige Weise argumentieren. Es ist erstens evident, daß Wahrheit nicht mit Erfolg in irgendeiner der genannten Bedeutungen identifizierbar ist. Zeigen wir das, indem wir diese Versionen der Erfolgstheorie und der pragmatischen Wahrheitstheorie, nach der Ordnung ihrer Plausibilität nach, von der plausibelsten beginnend, knapp analysieren. AD 4: Selbst wenn man jene (vierte) Bedeutung von Erfolg nimmt, die der Wahrheit am nächsten kommt, nämlich die Erfahrungen, die eine Theorie verifizieren oder auch, besser gesagt, das Eintreten der Wirkungen, die man aufgrund einer Theorie erwarten muß, so liegt in diesem Erfolg nicht das Wesen der Wahrheit. Betrachten wir dies im Licht einer weiteren wichtigen dreifachen Unterscheidung zwischen: (a) Erfolg im Sinne der Verifikation bzw. des „verifizierten Eintretens“ des einer Theorie oder Aussage direkt entsprechenden und von ihr behaupteten Sachverhalts; (b) Erfolg im Sinne des tatsächlichen Bestehens oder Eintretens des von einer Aussage oder Theorie direkt behaupteten Sachverhalts, gleichgültig ob es verifiziert wird oder nicht; (c) Erfolg im Sinne des Eintretens von Sachverhalten, die nicht selber in einer Aussage oder Theorie behauptet werden, wohl aber von ihr erwartet werden können und durch sie (besser oder leichter) erklärbar werden. Daß – im Sinne von (b) – das Bestehen oder Eintreten des behaupteten Sachverhalts Grund ist, die diesen Sachverhalt direkt behauptende Aussage oder Theorie wahr zu nennen, liegt auf der Hand, wird jedoch weder sinnvoll als „Erfolg“ bezeichnet, sondern besteht eben in der Korrespondenz der Aussage mit dem Sachverhalt, noch ist es der „Erfolg“ oder die Bewährung der Theorie durch das Bestehen oder Eintreten des behaupteten Sachverhalts, was ihre Wahrheit ausmacht, sondern diese besteht in ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit als solcher. Man kann in dem Sinne von (b) Theorien vielmehr Erfolg nur zusprechen, weil sie wahr sind und dem Sachverhalt entsprechen und weil diese Wahrheit ihren „Erfolg“ begründet, nicht aber ausmacht. Erst recht aber garantiert oder konstituiert Erfolg weder im Sinne von (a) noch in dem von (c) Wahrheit.
282
KAPITEL 4
Hinsichtlich der Falschheit der These (a) läßt sich diese an Hector Malots Roman Heimatlos exemplifizieren, wo die Wahrheit über die im Bergwerk seines Onkels mit Remis verschütteten Bergarbeiter eindeutig nicht mit dem Prozeß der Verifikation dieser Tatsache oder mit einer verifizierten Tatsache identifiziert werden kann. Denn wenn z.B. jemand sagt, in dem Kohlenbergwerk, in dem 120 Bergarbeiter verschwunden sind, lebt kein einziger Mensch mehr, dann ist die Wahrheit dieses Urteils zunächst völlig unverifizierbar, aber dieses Urteil bleibt wahr oder falsch, völlig unabhängig davon, ob irgend jemand fähig ist, diese Aussage zu verifizieren. Wenn man etwa später findet, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem dieses Urteil gefällt wurde, alle Minenarbeiter wirklich tot waren, dann erkennt man, daß das Urteil wahr war, aber es war damals ganz unmöglich, es zu verifizieren. Und wenn das Bergwerk durch irgendeinen Umstand so verschüttet wird, daß niemand je feststellen kann, ob alle Kumpeln damals tot waren, dann bleibt das ursprüngliche Urteil doch wahr oder falsch, je nachdem, ob wirklich in dem Bergwerk niemand mehr oder ob noch jemand gelebt hat. So kann Wahrheit in ihrem Wesen nicht von Erfolg, selbst nicht im Sinn des „verifizierten Gegenstands der Urteils“, abhängig sein. Eine derartige Unreduzierbarkeit der Wahrheit auf Erfolg gilt natürlich erst recht für „Erfolg“ in den anderen Bedeutungen. Denn ob die Aussage, daß in dem Bergwerk noch jemand lebte, irgendeinen sonstigen politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Erfolg bringt oder viele Menschen oder niemanden überzeugt, intersubjektive Herrschaft erlangt, dem Zeitgeist entspricht, etc., das hat mit ihrer Wahrheit, wie wir klar und deutlich einsehen, überhaupt nichts zu tun. Wenn wir Erfolg im Sinne von (c) – also im Sinne von durch eine Theorie erwarteten oder vorhergesagten Fakten – zur Grundlage einer Wesensdefinition von Wahrheit machen wollten, können wir feststellen, daß sehr oft falsche Ideen Erfolg in diesem Sinn haben. Aus dem Erfolg der nicht-euklidischen Geometrien in der Physik und Weltraumschiffahrt etwa folgt nicht im geringsten ihre Wahrheit, da das, was hier empirisch festgestellt wird, gleichermaßen kompatibel mit der Wahrheit der euklidischen Geometrie ist und durch sie erklärt werden kann, auch wenn nicht-euklidische Theorien die Resultate empirischer Wissenschaften leichter und schneller erklären können. Desungeachtet bleiben diese
Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien
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Geometrien im Widerspruch zum Wesen des Raumes und können die Naturphänomene nur deshalb besser erklären, weil eben das Licht sich nicht auf einer absolut geraden Linie fortbewegt und diese Naturphänomene daher zu ihrer Erklärung entweder die kompliziertere sphärische euklidische Geometrie verlangen oder durch die Axiome einer nicht-euklidischen Geometrie, und zwar leichter, berechnet werden können. In ähnlicher Weise kann eine psychologische Theorie, der zufolge der Mensch durch nichts als durch Sexualtrieb oder durch einen, zu Ressentiments führenden und meist frustrierten, Machttrieb bestimmt wird, die meisten historischen Phänomene leichter erklären als eine Ethik, die auch andere mögliche Motivationen menschlicher Handlungen anerkennt, bleibt aber desungeachtet falsch und wird durch die gemeinten empirischen Ergebnisse keineswegs als wahr erwiesen. Ebenso wird eine Theorie der Gerechtigkeit, die der Gerechtigkeit viele ihr nicht zugehörige Merkmale der Ungerechtigkeit zuschreibt, und deshalb viel besser auf unsere ungerechten Verhaltensweisen, auf die empirische, reale, soziale und politische Welt paßt und daher als politische Theorie mehr Erfolg hat, dadurch keineswegs wahr. AD 2: Auch im Sinn der objektiv wertvollen Konsequenzen (Erfolg im zweiten Sinne) kann Wahrheit unmöglich auf Erfolg reduziert bzw. durch diesen definiert werden. Das geht bereits daraus hervor, daß auch falsche Ideen positive moralische Werte begründen oder motivieren können. Wählen wir ein Beispiel dafür. Es kann z.B. jemand aufgrund der Tatsache, daß er meint, er sterbe am nächsten Tag, ein wunderbarer Mensch und moralisch besser werden, als er ohne diese falsche Meinung geworden wäre. Er kann sich mit aller Kraft bemühen, an seinem vermeintlich letzten Lebenstag noch das Beste zu tun. Sein Irrtum kann also im sittlichen Sinn sehr erfolgreich sein, aber er hört deshalb nicht auf, ein Irrtum zu sein, wenn der Mensch noch Jahrzehnte lang weiterlebt. Oder ein ganzes Dorf kann fälschlich meinen, es sei umringt von Löwen, die seine Bewohner im nächsten Moment zerfleischen könnten. Diese Meinung kann völlig falsch sein, aber dazu führen, daß die Bewohner des Dorfes technisch hochstehende Gebäude errichten, Befestigungswerke anlegen, bisher unbewältigte praktische Probleme lösen, für den Kampf mit den Löwen trainieren, sportliche Leistungen erbringen, sodaß die Gemeinde in vielfältiger Weise floriert und zwar aufgrund der Illusion, daß
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KAPITEL 4
man sich auf einen Kampf mit Löwen vorbereiten müsse. So sieht man, daß auch falsche Urteile in diesem Sinn durchaus erfolgreich sein können. Selbst das Urteil der Nationalsozialisten, daß die Juden keine gleichwertigen Menschen seien, hat – durch den Neid auf die erfolgreichen Juden sowie rassistischen Haß und Ressentiment als Basis der politischen Machtausweitung Hitlers – nebst allen greulichen Konsequenzen auf begrenzten Sektoren wirtschaftlich oder technisch positive Effekte gezeitigt wie die heute noch benützten von den Nazis gebauten Strassen. Aber wer möchte leugnen, daß der Rassismus Hitlers ein Irrtum, und zwar ein dummer und zugleich in seinen direkten und hauptsächlichen Wirkungen dämonischer Irrtum war? Die praktischen „Erfolge“ dieser idiotischen und zugleich teuflischen Rassen-Ideologie vermindern evidenterweise nicht im mindesten deren Irrtum. Gewiß war sogar dieser Irrtum oder besser diese Lüge mit ein Grund des Erfolges Hitlers in Deutschland. Seine politische Ideologie war aufs Engste mit seinem politischen Erfolg verwoben und doch von Grund auf falsch. Hitlers rassistische Ideologie hatte auch Erfolg in dem dritten Sinn, daß sie nicht nur viele Ressentiments erzeugte, daß Hitler nicht nur mit großer Schläue auf dem mit Haß und Ressentiment geladenen Geist vieler Deutscher mit seiner Ideologie des Rassismus gespielt hat und nur deshalb zum politischen Erfolg gekommen ist, weil er in den Juden einen Sündenbock gesucht hat, um die Leute von anderen politischen Unzufriedenheiten abzulenken. Seine Ideologie hatte vielmehr auch „Erfolg“ in dem Sinne, daß die nach dem Worte Göbbels’ oft wiederholte Lüge von Tausenden, ja von Millionen geglaubt wurde. All dieser „Erfolg“ hat jedoch überhaupt nichts mit der Frage der Wahrheit der nazistischen Ideologie zu tun. Die Frage, ob die Juden gleichwertige Menschen sind oder nicht und gleiche Würde wie die Arier besitzen oder nicht, hängt in keiner Weise davon ab, ob diese These oder ihr Gegenteil intersubjektiven oder historischen Erfolg hat oder von den Massen geglaubt wird. Das läßt sich leicht und deutlich erkennen. So beweist auch allgemein die Herrschaft von Ideen, die Verbreitung von Ideen zu einer bestimmten Zeit an angesehenen Universitäten, oder was immer man sonst noch als Erfolgskriterium nehmen kann, sicher in keinerlei Weise die Wahrheit einer Ideologie oder fällt gar mit dieser
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zusammen. Denn es mag wohl sein und ist überaus häufig der Fall, daß zu einer bestimmten Zeit irgendeine ganz falsche Idee intersubjektivhistorisch gesehen Riesenerfolge feiert. Wenn aber Erfolg im Sinne der intersubjektiven Annahme von Ideen deren Wahrheit nicht beweist, also kein Kriterium von Wahrheit ist, so kann man erst recht nicht den Erfolg als Wesen der Wahrheit bezeichnen. Wahrheit einer Idee unterscheidet sich evidenterweise von deren intersubjektiver Annahme und auch die Wahrheit einer erfolgreichen Idee würde immer noch darin liegen, daß die Idee mit der Wirklichkeit übereinstimmt, nicht darin, daß sie Erfolg hat. Die Verschiedenheit zwischen Erfolg und Wahrheit geht indirekt und per implicationem auch daraus hervor, daß dieser Erfolg nicht einmal eine Bedingung oder ein Kriterium für Wahrheit ist. Übrigens setzt auch jede Erfolgstheorie der Wahrheit, genauso wie dies im Falle der Kohärenz- und Konsenstheorie der Wahrheit gezeigt wurde, Wahrheit im Sinne der Adäquation voraus und widerspricht sich also selber. Denn sie beansprucht ja für sich Wahrheit in dem Sinne, daß sie uns erschließen möchte, daß diese wirklich im „Erfolg“ besteht. Betrachten wir etwa den folgenden Satz von Habermas, in dem er den von ihm befürworteten diskursphilosophisch geprägten Pragmatismus ausdrücklich der Korrespondenztheorie der Wahrheit gegenüberstellt: Das Repräsentationsmodell der Erkenntnis, das ... „Wahrheit“ als die Korrespondenz zwischen Vorstellung und Gegenstand bzw. Satz und Tatsache begreiflich macht, verfehlt den kognitiv-operativen Sinn der „Bewältigung von Problemen“ und des „Gelingens“ von Lernprozessen...223
Aber erhebt nicht gerade dieses Urteil, in dem die Korrespondenztheorie der Wahrheit verworfen wird, Anspruch darauf, daß es wirklich so ist, daß eine Korrespondenztheorie der Wahrheit den „kognitiv-operativen Sinn der ‚Bewältigung von Problemen‘” – und zwar genau im Sinne der Adäquationstheorie der Wahrheit – verfehle?! Der Widerspruch jeder Abart des pragmatistischen Ersetzens der Wahrheit als adaequatio ist unvermeidlich! Oder betrachten wir jene Stelle, an der Habermas seine Diskurstheorie bzw. Konsenstheorie der Wahrheit mit seinem Pragmatismus verbindet: 223
Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, S. 37.
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KAPITEL 4 Demnach ist eine Aussage genau dann wahr, wenn sie unter den anspruchsvollen pragmatischen Voraussetzungen rationaler Diskurse allen Entkräftungsversuchen standhalten würde, d.h. in einer idealen epistemischen Situation gerechtfertigt werden könnte.224
Auch in dieser Formulierung, in der direkte Bezüge zu Sir Karl Poppers Erkenntnistheorie und gewisse Anklänge an Franz Brentanos Evidenztheorie der Wahrheit unüberhörbar sind, liegt wieder eindeutig ein korrespondenztheoretischer Anspruch darüber, worin die Wahrheit einer Aussage wirklich besteht. Die Wahrheit als Entsprechung mit den vorgegebenen Sachverhalten über das Wesen der Wahrheit wird hier nicht weniger vorausgesetzt als in der Adäquationstheorie der Wahrheit selber, kraft deren wir einer solchen pragmatisch-konsenstheoretischen Auffassung des Wesens der Wahrheit widersprechen müssen. Jürgen Habermas selber räumt den „contraintuitiven“ Charakter dieser prozeduralen Wahrheitstheorie ein, weil „Wahrheit offensichtlich kein Erfolgsbegriff ist“,225 aber er zieht aus dieser Einsicht nicht die einzig haltbare Konsequenz: die Verwerfung seiner eigenen Theorie als evidentermaßen falsch und widersprüchlich, sondern revidiert seine frühere Theorie der Wahrheit als „rationaler“ und durch Diskurs und Widerstand gegen Einwände gegangener „rationaler Behauptbarkeit von Sätzen“ im Sinne eines „pragmatisch gefaßten, nicht-epistemischen Wahrheitsbegriffs“.226 Dabei scheinen von Jürgen Habermas auch durchgehend die Probleme des Wesens der Urteilswahrheit und der Wahrheitsvergewisserung, d.h. der Rechtfertigung und Kriterien von Wahrheit, vermengt zu werden.227 Um noch einmal auf „Erfolg“ im Sinne des Pragmatizismus von Peirce und der Verifizierung, bzw. jener Erfahrungen, in denen wir ein Urteil verifizieren, zurückzukommen, so zeigt sich wohl schon im Wortsinn von Verifikation, daß in dieser unmöglich das Wesen der Wahrheit liegen kann. Auch hier führt Definition der Wahrheit durch Verifikation zu einem Zirkel. Verifikation heißt ja „Bestätigung“ von Wahrheit. Wenn jemand in das verschüttete Bergwerk eindringt und dann sieht, ob von den 120 dort 224 225 226 227
Vgl. Habermas, ebd., S. 48-49. Ebd., S. 50. Ebd., S. 50-51; 271 ff. Vgl. etwa ebd., S. 54-55.
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liegenden Menschen noch jemand am Leben ist, und wir diese Wahrnehmungen, in denen die Zahl der Lebenden festgestellt wird, als Verifikation bezeichnen, dann wird eben durch diese Wahrnehmungen bestätigt, daß das schon vorher gefällte Urteil wahr war. Bestätigung von Wahrheit setzt voraus, daß die Wahrheit nicht die Bestätigung ist. Ja es hat gar keinen Sinn mehr, die Wahrheit von etwas durch Wahrnehmung zu bestätigen, wenn die Wahrheit nichts anderes ist als diese Wahrnehmung. Wenn wir daher den eigentlichen Sinn des Wortes „Verifikation“ als Bestätigung von Wahrem betrachten, ist der Unterschied zwischen der Bestätigung selbst und der Wahrheit, die bestätigt wird, offenbar. Daraus zeigt sich, daß selbst durch den wahrheitsnächsten Sinn von Erfolg, nämlich Beobachtung und Verifikation, das Wesen der Wahrheit unmöglich definiert werden kann. Im übrigen gelten auch früher ausführlich entwickelte Argumente gegen die Evidenztheorie der Wahrheit ebenso gegen die Erfolgstheorie im seriösesten Sinn, nämlich in dem des Pragmatizismus von Peirce. Man kann außerdem, wohl zu recht, behaupten, daß nach Peirce „Erfolg“ im Sinne aller Erfahrungen, die einem Urteil bzw. seiner Verifikation entsprechen, primär ein Kriterium des Sinnes ist und nicht der Wahrheit. Denn schon der Sinn eines Urteils besteht nach Peirce in seinem „Erfolg“ (einer Idee von Erfolg, die Husserls Begriff der „Erfüllung“ von Meinungsintentionen durch Anschauungen nahekommt), d.h. in den Wahrnehmungen, durch die das Urteil in gewissem Sinn verifiziert wird oder die ihm entsprechen. Auch als Sinnkriterium ist die pragmatizistische Interpretation mehr als problematisch, aber das ist hier nicht unmittelbar unser Thema. 2.1. Erfolg – Bedingung oder notwendige Folge der Wahrheit?
Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, ob Erfolg eine Bedingung oder auch eine notwendige Folge von Wahrheit ist, so haben wir auch dies schon implizite für falsch befunden durch einige unserer Argumente dafür, daß Erfolg nicht das Wesen der Wahrheit ausmacht. Denn wir haben gezeigt, daß es, etwa über inner Zustände, wahre Urteile geben kann, denen niemand zustimmt, die deshalb auch nicht intersubjektiv verifizier-
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bar sind oder in sonst einem Sinne „Erfolg“ haben. Es gibt sogar wahre Urteile, etwa über Ereignisse über Milliarden Lichtjahre entfernte Sonnensysteme, deren Wahrheit kein Mensch jemals feststellen oder verifizieren kann. Durch diese Hinweise und einige Argumente dagegen, das Wesen der Wahrheit mit Erfolg in irgendeinem Sinne zu identifizieren, haben wir implizite auch schon abgelehnt, daß Erfolg eine notwendige Bedingung von Wahrheit ist. Wenn man im gesellschaftlich-historischen Sieg von Ideen eine notwendige Bedingung oder auch eine notwendige Folge der Wahrheit sieht, so darf man dies sinnvollerweise ausschließlich dann tun, wenn man eine Metaphysik oder Eschatologie voraussetzt, nach der nur das Wahre „am Ende“ siegen kann (was nicht ausschließt, daß im Laufe der Geschichte unzählige falsche Ideen siegen und herrschen). So meint Hegel, in der Geschichte und vor allem an deren Ende, nämlich in seinem eigenen System, werde die Wahrheit triumphieren. In einer weniger tiefsinnig durchdachten und in einem materialistischen System letztlich total irrationalen Version meint auch Marx, in der Ideologie der klassenlosen Gesellschaft, des Proletariats, werde am Ende der Geschichte das Wahre und Gute triumphieren. Auf ganz anderer Grundlage als ihre säkularisierten oder sogar atheistischen Pendants glauben auch die Christen, daß am Jüngsten Tag alles Wahre ans Licht kommen und triumphieren wird. Daß der Sieg der Wahrheit in der Geschichte nicht vollkommen ist und viel eher Irrtum und Bosheit triumphieren, liegt von Sodoma bis Auschwitz auf der Hand. Daß es keinen sichtbaren historischen Sieg der Wahrheit und des Guten gibt, schließt jedoch nicht aus, daß die Wahrheit am Ende, im Eschaton, siege. Wenn man den letzten eschatologischen „Erfolg“ als notwendige Folge der Wahrheit erkennt, so stellt sich natürlich die Frage, auf welcher metaphysischen Basis man einen solchen letzten Sieg der Wahrheit in der Realität behauptet. Geht man von einem theozentrischen Weltbild oder einer rein philosophischen Gotteserkenntnis228 aus und sagt, daß es 228
Wie ich sie etwa in Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen Arguments (Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 1996), 2. Aufl. 2000 und in: „Die natürliche Gotteserkenntnis als menschlicher Zugang zu Gott,“ in: Franz Breid (Ed.), Der Eine und Dreifaltige
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metaphysisch undenkbar ist, daß in einer von einem unendlich guten und personalen Gott geschaffenen Welt auf ewig Lüge und Falschheit triumphieren, daß es daher einen Augenblick oder eine „absolute Zukunft“ geben muß, wo die Wahrheit offenbar wird und sich durchsetzt und auch die Wirklichkeit gemäß der Wahrheit geordnet wird, dann hat man in Gott als höchster Einheit von Sein, Macht und Wert, sei es auf Grund der reinen Vernunft, sei es auf Grund eines theistischen Glaubens, einen soliden metaphysischen Grund für die Annahme, daß letzten Endes die Wahrheit triumphieren wird. Dabei kann auch der Theist aus der letzten metaphysischen und eschatologischen Einheit von Sein und Wert keinesfalls schließen, daß der historisch-innerweltliche Sieg von Ideen deren Wahrheit garantiere oder eine notwendige Folge oder Bedingung für Wahrheit sei. Daß dem nicht so ist, ergibt sich bereits daraus, daß zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene, und oft einander widersprechende, Ideen triumphiert haben. Wenn man jedoch nicht von einer Metaphysik der letzten Einheit von Sein und Wert, sondern etwa von einem marxistischen Weltbild ausgeht, so beraubt man sich überhaupt jeglicher metaphysischen Grundlage, um begründetermaßen einen Endsieg am Ende der Geschichte als notwendige Folge der Wahrheit einer Lehre behaupten zu können. Denn was soll garantieren, daß in einem rein materialistisch erklärten, dialektisch in Gegensätzen sich bewegenden Universum und in einer dialektisch sich bewegenden Entwicklung der Geschichte, das Proletariat (das angeblich am Ende in einer klassenlosen Gesellschaft übrigbleiben bzw. zu ihr führen wird, deshalb) eine wahre Ideologie vertreten wird? Nur wenn es feststeht, daß das Subjekt, das den Endsieg bestimmt, gut und allmächtig, und daß seine Erkenntnis irrtumsfrei ist, weshalb allein feststeht, daß das Gute und die Erkenntnis sich wegen der Ordnung der Welt durch Gott als den Urgütigen und Allmächtigen letzten Endes auch in der Realität durchsetzen wird – nur dann kann man begründen, daß am Gott als Hoffnung des Menschen zur Jahrtausendwende (Steyr: Ennsthaler Verlag, 2001), 9-102, zu begründen suchte und in „Zur Herkunft des Glaubens. Gründe und Hintergründe. Refexionen über das Problem einer Theodizee angesichts der Leiden und Übel in der Welt“ in: Glaube im Unglauben der Zeit (Augsburg: Dialogsekretariat, 1983) gegen diverse atheistische Einwände aus der Existenz der Übel in der Welt verteidigt habe.
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Ende die Wahrheit triumphiert. Auf einer materialistischen Grundlage hingegen kann man diese Behauptung überhaupt nicht rational rechtfertigen, sondern bleibt diese eine rein dogmatische und unbegründbare Beteuerung. Denn es könnte genauso gut sein, daß die klassenlose, am Ende übrigbleibende und nur aus materiellen historischen Gesetzen sich entwickelnde Gesellschaft von Irrtümern und Bosheit besessen sein oder die ganze Menschheit auslöschen wird. So gibt es innerhalb einer materialistischen Metaphysik überhaupt keine rationale Basis dafür, der Wahrheit einen historischen Endsieg zuzuschreiben und einen „historischen Pragmatismus“ zu verteidigen. Die Plausibilität und Anziehungskraft der marxistischen Ideologie für viele zehrt in der Tat von einer säkularisierten theistischen oder postchristlichen Vorstellung. Denn ohne einen letzten geistigen Sinngaranten, in dem Macht, Realität und Wahrheit zusammenfallen, läßt sich der historische oder eschatologische Sieg der Wahrheit überhaupt nicht rational begründen oder auch nur erwarten und erhoffen. So kann man in der marxistischen Geschichtsphilosophie eine radikal säkularisierte und in eine andere Welt übertragene jüdisch-christliche Theologie sehen, was auch für Ernst Blochs Prinzip Hoffnung gilt, insofern dieses Werk nicht rein als historisch-beschreibend zu kennzeichnen ist, sondern Hoffnung mit Recht als ein wesentliches Moment des Humanum betrachtet.229 Anders läßt es sich kaum erklären, warum man nicht der Dekadenz oder dem Irrtum, sondern der Wahrheit den Endsieg in der Gesellschaft und Geschichte zuschreiben kann. 2.2. Erfolg als Kriterium der Wahrheit?
Wenn man den Erfolg als Kriterium der Wahrheit betrachtet, so ist wohl aus dem Gesagten auch schon klar, daß Erfolg im Sinne der sachfernen Wirkungen und des Nutzens einer Ideologie in keiner Weise ein Kriterium für ihre Wahrheit sein kann. Wenn die Nationalsozialisten sagten, daß ihre militärischen Siege ein Beweis für die Wahrheit ihrer Ideologie seien, so liegt es auf der Hand, daß dies ein Unfug ist. Denn was soll es auch mit der 229
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1-3 (Frankfurt a. M:, Suhrkamp 1959).
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Wahrheit einer Ideologie zu tun haben, daß man bessere Waffen produziert und andere damit besiegen kann? Das stellt höchstens einen Beweis für die Güte ihrer Waffenproduktion oder für die Überlegenheit des Plans ihrer Waffen oder ihres technischen Könnens dar. Gleichfalls, wenn die Bolschewiken und spätere Generationen von Kommunisten behaupteten, es sei ein Beweis der Wahrheit der marxistischen Ideologie, daß sie den Sieg gegen den Zarismus und zahlreiche andere Siege errungen hätten, dann ist dies ebenso Unsinn. Denn wieso soll die Tatsache, daß sie besser bewaffnet waren, oder daß mehr Menschen ihre Anhänger als ihre Gegner gewesen sind, ein Beweis dafür sein, daß die kommunistische Ideologie wahr war? Angesichts des schwankenden Erfolgs der Völker in der Geschichte und der brutalen Kräfte im Menschen, die sie beherrschen, ist eine solche Meinung ein purer irrationaler Wahn. Auch Hegels Theorie, daß der Zeitgeist immer die historische Wahrheit verkörpere und daß das, was nicht dem Zeitgeist entspreche, schon deshalb als solches unwahr sei, hat zwar in der Hegelschen Metaphysik des sich in der Geschichte entfaltenden Weltgeistes ein Fundament, das die These vom Sieg der Wahrheit in der Geschichte begründen könnte. Da aber die Ideen Hegels von einem Gutes und Böses gleichermaßen wollenden Weltgeiste eher in Schopenhauers oder Nietzsches metaphysischen Pessimismus münden müßten und außerdem die Selbstentfaltung des Geistes in der Geschichte jeder Evidenz entbehrt und eine abenteuerliche Konstruktion ist, finden wir auch in Hegels Metaphysik keine objektive Begründung für den Endsieg der Wahrheit in der Geschichte oder am Ende der Geschichte. Eine solche angesichts der Mächte der Zerstörung und des Bösen in der Geschichte proklamierte „historische Theodizee“ und Lehre vom Endsieg der Wahrheit innerhalb oder am Ende der Menschheitsgeschichte könnte jedenfalls nur von einer Gotteserkenntnis kommen, wie sie hier nicht unser Thema ist. So ist auch bei Hegel der Sieg der Wahrheit am Ende der Geschichte von seiner apersonalen Gottesidee und Idee des Absoluten her nicht nur eine unwahrscheinliche Annahme, sondern wäre – selbst wenn Hegels diesbezüglichen Prophezeiungen einträten – ein durch und durch willkürliches Kriterium für Wahrheit oder ein unbegründbares Postulat ihrer historischen Wirksamkeit oder ihres Sieges, das weder der kritischen Analyse der evidenten wesenhaften Sachverhalte über das
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Verhältnis zwischen Wahrheit und intersubjektiver Herrschaft von Ideen noch empirischen Tatsachen standhalten kann.230 Erst recht gilt diese Kritik für geschichtsimmanente Erfolge, wenn dieselben die Wahrheit von Ideen beweisen sollen. Dann müßte man etwa sagen, daß der Nationalsozialismus wahr war, weil er gesiegt hat, zumindest für die Zeit, in der er gesiegt hat, wonach er falsch geworden sei, nachdem er wieder verschwand, was offenbar absurd ist. Ein Kriterium für Wahrheit in geschichtsimmanenten politischen, militärischen oder anderweitigen Erfolgen zu erblicken ist außerdem widersprüchlich, weil dieselben Ideen und Ideologien geschichtlich gesehen einmal siegen, dann wieder verlieren. Dann müßte aber gemäß dieser Theorie die Wahrheit einmal auf der Seite der Sieger, dann wiederum auf jener der Verlierer liegen. Obwohl also eine bestimmte Philosophie oder Ideologie immer dasselbe gemeint hätte, müßte sie bei ihrem Sieg in der Geschichte wahr sein, bei ihrer Niederlage falsch werden. Wenn man mit Erfolg hingegen meint, daß eine Überzeugung auf Dauer nur akzeptiert werden und historisch herrschen kann, wenn sie wahr ist, 230
Vgl. G.W.F. Hegel, Werke in 20 Bänden. Theorie Werkausgabe (Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1970) – ein Wiederabdurck von G.W.F. Hegel, Werke. Vollständige Ausg. durch einen Verein von Freunden des Verewigten: Ph. Marheineke [et al.] Berlin: Duncker und Humblot, 1832-1845. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, (Bd.) 12:11. (Jub. IX): Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz metaphysisch auf seine Weise in noch unbestimmten, abstrakten Kategorien versucht hat, so daß das Übel in der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen versöhnt werden sollte. In der Tat liegt nirgend eine größere Aufforderung zu solcher versöhnenden Erkenntnis als in der Weltgeschichte. Diese Aussöhnung kann nur durch die Erkenntnis des Affirmativen erreicht werden, in welchem jenes Negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet, durch das Bewußtsein, teils was in Wahrheit der Endzweck der Welt sei, teils daß derselbe in ihr verwirklicht worden sei und nicht das Böse neben ihm sich letztlich geltend gemacht habe. Hierfür aber genügt der bloße Glaube an den noÿV und die Vorsehung noch keineswegs. Die Vernunft, von der gesagt worden, daß sie in der Welt regiere, ist ein ebenso unbestimmtes Wort als die Vorsehung - man spricht immer von der Vernunft, ohne eben angeben zu können, was denn ihre Bestimmung, ihr Inhalt ist, wonach wir beurteilen können, ob etwas vernünftig ist, ob unvernünftig. Die Vernunft in 12/28 ihrer Bestimmung gefaßt, dies ist erst die Sache; das andere, wenn man ebenso bei der Vernunft überhaupt stehenbleibt, das sind nur Worte. Mit diesen Angaben gehen wir zu dem zweiten Gesichtspunkte über, den wir in dieser Einleitung betrachten wollen.
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dann kann das Kriterium des Erfolgs für Wahrheit unter sehr bestimmten Umständen durchaus berechtigt und sinnvoll sein. Denken wir an das Argument Gamaliels in der Apostelgeschichte, wo er zu den Juden sagt, sie sollten die Apostel nicht verfolgen oder töten. Denn wenn ihre Lehre eine rein menschliche sei, dann werde es mit ihr genauso gehen wie mit zahllosen anderen rein menschlichen Lehren, die innerhalb einer oder zweier Generationen ausgestorben sind. Man brauche sie also nur ihrem Schicksal zu überlassen. Wenn ihre Lehre aber von Gott sei, dann werde sie dauern. In diesem Fall sollten die Juden aber nicht gegen Gott kämpfen, indem sie die Apostel, welche göttliche Lehren vertreten, hinrichten. In seinem Argument sieht Gamaliel also in dem historischen Erfolg der Ideen des Christentums einen Beweis für ihre Göttlichkeit und Wahrheit. Warum? Nicht einfach aus dem Grund, daß Ideen, die ein so differenziertes und schwer zu akzeptierendes metaphysisch-religiöses System und eine Lehre wie das Christentum, die so viele harte Konsequenzen für das persönliche Leben der Menschen hat, auf einer rein menschlichen Basis nicht lange nicht bestehen bleiben kann. Gamaliel argumentiert vielmehr, daß die historische Erfahrung zeigt, daß wenn Menschen Philosophien oder Ideologien aller Art entwickeln, diese nach kurzer Zeit verändert werden oder aussterben. Man kann selbstverständlich fragen, ob dieses Argument aus dem Überleben und der Dauer des Christentums als solches genügend ist, um dessen Wahrheit zu beweisen. Dieses Gamaliel-Argument ist nicht nur für viele Christen, sondern in neuem Sinn für viele Katholiken einer der Gründe, warum sie von der Wahrheit der Kirche überzeugt sind. Sie argumentieren, daß es außerhalb der katholischen Lehre nirgends eine ähnlich langlebige und zugleich höchst differenzierte Lehre gibt, die über 2000 Jahre hindurch, und zwar inmitten wüstester historischer Debatten und Kontroversen und aller möglichen anderen Deutungen des Christentums und Einflüsse, sich als einheitliche Lehre durchgehalten hat. Der Platonismus etwa war im Gegensatz dazu schon unter Platons direkten Schülern nicht einheitlich und zerfiel nach einer Generation in alle möglichen Schulen, die von einander radikal verschieden waren. Andere Religionen sind in Sekten zersplittert, wie die Buddhisten. Sogar innerhalb der reformierten, lutherischen und anderer Christen haben sich die verschiedenen christlichen Bekenntnisse in Hunderte aufgespaltet. Überall
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ist irgendeine andere Kirche da, die etwas anderes glaubt. Und daß über eine Dauer von fast 2000 Jahren eine so schwer begreifbare, subtile und zugleich einfache metaphysisch-anthropologische, ethische, und religiöse Lehre erhalten blieb wie sie in den dogmatischen Formulierungen der Kirche von deren Anfängen bis zur Gegenwart ohne Bruch und Widerspruch zum Ausdruck kommt, mag der Katholik, aber selbst der Andersdenkende als einen einmaligen „Erfolg“, eine Art Wunder betrachten, das man nicht rein menschlich-natürlich erklären kann. Denn wo sonst Menschen zusammenkommen und über so schwierige fragen wie jene der christlichen Lehre sprechen, sind sie fast immer schon innerhalb einer Generation entzweit. Dieses Argument liegt übrigens auch Boccaccios „Lumpenbeweis“ zugrunde. Boccaccio bringt im Decamerone die Geschichte vom Juden Abraham und dem christlichen Kaufmann. Beide disputieren über den Glauben. Der Jude Abraham lehnt das Christentum völlig ab. Schließlich sagt er dem Christen, er wolle nach Rom gehen, um das Christentum im Zentrum der Christenheit kennenzulernen. Daraufhin sagt der Christ: „Um Gottes willen, gehe nur ja nicht nach Rom! Wenn Du den Papst und die Kardinäle siehst und all den Unfug und all die Greuel, die am päpstlichen Hof vorgehen, dann wirst Du jeden Glauben an das Christentum verlieren!“ Der Jude Abraham geht dennoch nach Rom und nach einigen Monaten schreibt er, er wolle jetzt zur Kirche übertreten und hätte sich bekehrt. Der Christ ist ganz verblüfft und schreibt: „Wieso um Gottes willen, wie kannst Du in Rom, im Sündenpfuhl, im Babel, zum Glauben gefunden haben?“ Und darauf antwortet der Jude sinngemäß: „Alles, was Du mir über die Übel und Korruption im Vatikan erzählt hast, ist wahr, ja wird durch die Tatsachen weit übertroffen. Eine Lehre aber, die durch so üble Menschen wie viele Kardinäle und Päpste es sind und durch so korrupte Menschen wie die Katholiken es oft sind, in über 1000 Jahren noch nicht zerstört worden ist, die kann nur göttlichen Ursprungs sein.“ Das ist natürlich, wenn man es so lesen will, ein merkwürdiges Argument und vielleicht in Boccaccios verächtlich vorgetragenem Ton in seinem von der katholischen Kirche auf den Index verbotener Bücher gesetzten Werk zynisch gemeint. Aber meines Erachtens ist dies ein ähnliches Argument wie das des Gamaliel in der Apostelgeschichte.
Pragmatistische, pragmatizistische und neopositivistische Wahrheitstheorien
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Nach diesem Argument wäre der Erfolg einer Idee im Sinne des Bewahrtwerdens einer Idee in einer Gemeinschaft oder in der Geschichte Ausgangspunkt der Argumentation. Und dieser Erfolg wird nicht deshalb als Wahrheitsbeweis gewertet, weil einfach irgendeine Idee historisch lange lebendig bleibt. Vielmehr wird hier eine besondere historische Tatsache als Wahrheitsbeweis gewertet, und angenommen, daß eine andere Erklärung dieses einzigartigen „Erfolges“ außer durch die Wahrheit oder durch einen göttlichen Einfluß nicht möglich ist. Die Diskussion der Erfolgstheorie der Wahrheit als Kriterium für Wahrheit durfte nicht abgeschlossen werden, ohne auf diese besondere Form des Arguments einzugehen, die nicht in Erfolg als solchem, sondern in einer menschlich nicht erklärbaren und der sonstigen Erfahrung des Erfolgs von Ideen in der Geschichte widerstreitenden Art des Sieges eines Glaubens einen Beweis für dessen göttlichen Ursprung und damit auch für dessen Wahrheit erblickt.
KAPITEL 5 FUNKTIONALISTISCHER WAHRHEITSBEGRIFF
Zwischen existentialistischem und utilitaristischem Wahrheitsbegriff, und beiden überaus verwandt, steht der funktionalistische Wahrheitsbegriff, der psychologische, soziale, politische, aber auch religiöse Formen annehmen kann und jeweils die Wahrheit einer Theorie oder eines Glaubens mit deren Funktion identifiziert. In dieser Hinsicht ist der funktionalistische Wahrheitsbegriff dem des Pragmatismus verwandt. Er ähnelt aber auch dem existentialistischen Wahrheitsbegriff, zwar nicht jenem, der das Engagement und frei gewählte Interesse des Subjekts hervorhebt, wohl aber dem, der die Auswirkungen von Ideen auf das Subjekt und die existentiellen Interessen desselben zum Angelpunkt des Wahrheitsbegriffs macht. Eine besondere Form des Funktionalismus finden wir nicht nur in diversen Religionsphilosophien und Religionspsychologien, von denen nur wenige ganz frei vom Funktionalismus sind, sondern auch innerhalb bestimmter religiöser und politischer Gruppen und Gesellschaftsschichten, denen mehr an politischen Funktionen von Ideen und Religionen als an deren Wahrheit liegt.231 Nach Ansicht mancher Interpreten liegt sogar im Kern mancher östlicher Religionen, wie des Buddhismus, in denen nicht so sehr ein Wahrheitsanspruch im Sinne der Korrespondenz von Urteilen mit der Wirklichkeit, sondern ein Weg zur Leidensfreiheit und inneren Erfüllung den Haupttenor religiösen Bewußtseins ausmache, ein Funktionalismus.232 231
232
Spaemann hat hinsichtlich einer Reihe von konservativen, aber auch progressiven französischen Autoren wie de Bonald gezeigt, daß ihrem Denken ein derartiger Ersatz der Wahrheitsfrage durch die Frage der Funktionalität von Ideen für das Ancien Régime zugrundeliegt. Vgl. Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration: Studien über L. G. A. de Bonald (München: Kösel, 1959). Vgl. etwa David Scott, “Buddhist Functionalism – Instrumentality Reaffirmed”, Asian Philosophy, (1995); 5 (2): 127-149. Der Autor untersucht die Frage, ob der Buddhismus am besten innerhalb einer funktionalistischen Wahrheitsauffassung
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KAPITEL 5
Auch wenn das Wahrheitspathos und die absolut grundlegende Rolle der Wahrheit als Fundament des Glaubens jede Spur von Funktionalismus aus dem Kern des Christentums, aber auch etwa aus dem ursprünglichen Judentum und dem Islam verbannt, die absolute Wahrheitsansprüche anerkennen, welche G. Elizabeth M. Anscombe insbesondere dem Monotheismus im Gegensatz zu polytheistischen Religionen zuordnet,233 so gibt es doch auch innerhalb vieler jüdischer, christlicher sowie anderer religiöser Trends und Bewegungen Elemente des Funktionalismus. Innerhalb der Religionsphilosophie von Hermann Lübbe etwa finden wir ein markantes Beispiel funktionalistischer Religionsauffassung und zumindest naheliegenderweise auch eine einem psychologischen Pragmatismus verwandte funktionalistische Auffassung religiöser Wahrheit, die Lübbe nach der Aufklärung und nach Kants Kritik aller transzendenten Wahrheitsansprüche über Gott für die einzige Weise einer Rettung des Wertes der Religion hält. In Lübbes Dialogen mit Robert Spaemann stehen wir vor
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verstanden werden könne, die insbesondere auch mit James‘s Pragmatismus, Dewey‘s Instrumentalismus und Braithwaite‘s ‚Empirizismus‘, aber auch Wittgenstein‘s ‚Sprachspieltheorie‘ verwandt ist. Indem er diese Frage zumindest teilweise bejaht, zieht der Autor auch zu Prozessphilosophien wie jenen Hartshornes und Jacobsons Parallelen. Innerhalb des Buddhismus behandelt er vor allem die traditionellen ethischen Theravada-Vorschriften, die Samadhi-Meditation und die Idee der Panna-Weisheit samt einigen Theravada Ritualen, um seine These zu erhärten. Er findet allerdings auch im Buddhismus Elemente von Wahrheitsansprüchen im Sinne der „Korrespondenz,“ wie etwa die Vipassana ‚Einsicht‘ und die Abhidharma Analyse, aber erblickt im innersten Kern des Buddhismus einen Funktionalismus, vor allem auch im Mahayana und Upaya. Den Madyamika, Tantras und Ch‘an (Zen) Schulen ordnet er einen klar hervorstechenden Funktionalismus zu. Und selbst den anfänglich ‚absolutistischer‘ wirkenden Positionen des ‚Pure Land Buddhismus‘ und der Nichirenischen Glaubenstraditionen, sowie Dharmakirti‘s Vijnanavada Erkenntnistheorie schreibt er wesentliche funktionalistische Züge zu. Vgl. G. Elizabeth M. Anscombe, “Paganism, Superstition and Philosophy (by Ms. G. E. M. Anscombe),” in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik (Heidelberg: C. Winter, 1998), S. 93-105. Vgl. auch zur teils kritischen Diskussion ihrer Auffassungen Josef Seifert, “A Response to: Paganism, Superstition and Philosophy (by Ms. G. E. M. Anscombe),” in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik, S. 107-117.
Funktionalistischer Wahrheitsbegriff
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einem der besten jüngeren Beispiele einer Diskussion solcher funktionalistischer Theorien religiöser Wahrheit.234 Nach diesem funktionalistischen Wahrheitsbegriff bedeutet die Wahrheit einer Theorie oder Religion, daß dieselbe eine Funktion erfülle, also, ähnlich wie im Utilitarismus, eine bestimmte Wirksamkeit entfalte und eine bestimmte Nützlichkeit besitze. In verschiedener Hinsicht unterscheiden sich diverse funktionalistische Wahrheitstheorien wesentlich von einander. Manchmal identifiziert man die Wahrheit mit einer rein äußerlichen Wirkung von etwas, wie dies etwa in einer traditionalistischen Bewegung innerhalb der katholischen Kirche Frankreichs geschah, deren Mitglieder die Funktion der katholischen Kirche für das Ancien Régime bejahten, dabei aber selber Atheisten waren; hier wurde die Wahrheit (oder auch der Wahrheitsersatz) einer Religion nur in ihrer politischen Rolle zur Bewahrung des Ancien Régime gesehen.235 Andere Auffassungen sehen die Funktion, welche den Wert oder die Wahrheit der Religion ausmache, in innerlicheren Auswirkungen auf das Bewußtsein und Glück des Menschen oder in psychologischen Wirkungen der Religion und ähnlichen Funktionen derselben. Lübbe entwickelt sein funktionalistisches und pragmatisches Wahrheitsverständnis der Religion in einem tieferen Sinne, indem er der Religion in erster Linie die Funktion der „Kontingenzbewältigung“ zuschreibt. Der Mensch könne nur dann gesund als Mensch leben, wenn er sich als kontingentes Wesen, das er objektiv ist, versteht und annimmt. Dies sei angesichts des Todes, der Leiden, aber überhaupt der Zufälligkeiten des 234
235
Vgl. Robert Spaemann, „Kritik der politischen Theologie“, in: Wort und Wahrheit 24, 1969, Heft 6; als ‚Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politischen Theologie‘, in: Zur Kritik der politischen Utopie, Stuttgart 1977, 57-76. Ders., „Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politischen Theologie“, in Wort und Wahrheit 24, Wenen 1969, 483-495. Vgl. Auch Georg Lohmann, „Neokonservative Antworten auf moderne Sinnverlusterfahrungen. Über Odo Marquard, Hermann Lübbe und Robert Spaemann,“ in: R. Faber, Hrsg., Konservatismus in Geschichte und Gegenwart (Würzburg: Verlag Könighausen & Neumann, 1991), S.183-20. Vgl. Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration: Studien über L. G. A. de Bonald, zit.
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KAPITEL 5
menschlichen Daseins ein für authentische menschliche Existenz unentbehrliches Moment, das jedoch nur die Religion leisten könne. Zur eigenen Kontingenzbewältigung sei deshalb Religion notwendig und in diesem Sinne funktionalistisch gesprochen wahr.236 Dabei kann diese Funktion der Religion an die Stelle von deren Wahrheit gesetzt werden, ohne zu behaupten, daß ihre Funktion die Wahrheit der Religion ausmache (eine solche Auffassung des „Abschieds der Religion von der Wahrheit“ nach der Aufklärung und der Notwendigkeit ihrer Beschränkung auf Funktionen ist wohl Lübbes Ansicht), oder man kann das Wesen der Wahrheit mit diesen Funktionen gleichsetzen. 1. Kritik funktionalistischer Wahrheits- und Religionsauffassungen Dieser Auffassung kann man zunächst entgegenhalten, daß gerade, abgesehen von rein äußeren politischen Wirkungen derselben, die Funktion einer Religion, vor allem die innere geistlich-spirituelle, nur durch das Festhalten bzw. den Glauben an ihre Wahrheit geleistet werden kann. In diesem Sinn hat Robert Spaemann gegen Lübbe Einwendungen erhoben und hat Lübbe repliziert237, daß, den neuesten Statistiken zufolge, PlaceboMedikamente selbst nachdem man ihre objektive medizinische Wirkungslosigkeit festgestellt bzw. ihren Charakter als Placebo-Medikament durchschaut habe, immer noch wirksam blieben. Doch kann dieses Argument kaum überzeugen, wenn man es mit Lübbe auf Religionen anwendet, da die Religion nicht oder kaum im Sinne einer lebhaften Phantasie, die hinsichtlich eines Placebo-Medikamentes vielleicht bei phantastisch veranlagten Menschen wirksam ist, wirken kann. Da sie sich auf die letzte metaphysische Ebene bezieht und auf die Frage der wirklichen Bestimmung und des wirklichen Ursprungs des Menschen, kann wohl jemandem, der nicht die Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung dieser Religion oder Metaphysik mit der Wirklichkeit annimmt, eine religiöse oder metaphysische Vorstellung in keiner Weise bei seiner „Kontingenzbewältigung“ helfen. 236 237
Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung. Siehe Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung.
Funktionalistischer Wahrheitsbegriff
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Vor allem jedoch geht es gar nicht primär um die Frage, ob auch eine funktionalistisch durchschaute Religion, Ethik oder Metaphysik sich zur Kontingenzbewältigung als wirksam erweisen kann. Vielleicht gibt es Menschen, die trotz vorausgesetzter Unwahrheit oder Nichtwahrheit ihrer Religion diese dennoch funktionalistisch wie ein durchschautes PlaceboMedikament autosuggestiv benützen. Damit ist jedoch der tiefere Einwand Spaemanns, den Lübbe nicht zu berücksichtigen scheint, nicht getroffen, nämlich der, daß es dem Wesen des Göttlichen, ja sogar dem Gottesbegriff widerspricht, wie Robert Spaemann im Anschluß an Anselm von Canterbury zeigt, daß das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, nur funktionalistisch umgedeutet werden könnte.238 Denn wenn es um des Menschen willen eine Funktion erfüllt, so wäre es sogar dem Menschen an Wert unterlegen und daher nicht mehr Gott bzw. die Einheit von Realität, Macht, und Gutheit, im höchsten, ja im unendlichen Sinne, die die göttliche Wesenheit des „Etwas, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“ ausmacht. An diese Erwiderungen Spaemanns möchten wir hier eine noch allgemeinere philosophische Überlegung, die die Frage nach dem Wesen der Wahrheit betrifft, anschließen. Es zeigt sich nämlich, daß sich der Funktionalismus ebenso widerspricht wie die existentialistische und die utilitaristische Wahrheitsdefinitionen. Denn wenn man im strikten Sinne (es sei hier nicht entschieden, ob Lübbe diese Auffassung vertritt oder nicht) Wahrheit mit Funktionalität identifizieren wollte, so würde man immer noch in diesem Urteil der Identifizierung der beiden Wahrheit als adaequatio voraussetzen. Denn indem man diese Theorie über die funktionalistische Natur der Wahrheit formuliert, darf man gewiß diese Theorie des Funktionalismus selbst nicht wiederum funktionalistisch deuten, denn sonst wäre sie als Aussage darüber, was Wahrheit ist, völlig wertlos und würde nur eine Anschauung darstellen, die bestimmte persönliche, psychologische oder existentielle Funktionen erfüllt. So kann auch diese Theorie gleich wie die früher auf dieser Basis kritisierten Auffassungen, nicht umhin, Wahrheit im klassischen Sinn als
238
Spaemann, Robert, „Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ‚Gott‘“, in: Robert Spaemann, Einsprüche. Christliche Reden, S. 13-35.
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KAPITEL 5
Übereinstimmung eines Urteils mit dem Selbstverhalten der Gegenstände vorauszusetzen. Dazu kommt, daß es dem Wesen der Wahrheit des Urteils, das einsichtig vor uns liegt, eindeutig widerspricht, als Funktionalität des Urteils bestimmt zu werden. Denn ganz offensichtlich können Funktionen aller Art auch von Illusionen und offenkundig falschen Meinungen ausgeübt werden. Selbst Hitlers Glaube an die Unwürde der Juden war von großer praktischer und politischer Wirksamkeit und besaß in der Geschichte des Nationalsozialismus seine „Funktion.“ Wird diese Theorie deshalb wahr? Aus ähnlichen Gründen wie jenen, die wir gegen den utilitaristischen und pragmatischen Wahrheitsbegriff schon geltend gemacht haben, kann die Funktionalität auch nicht als Kriterium für Wahrheit, als Bedingung für Wahrheit, als notwendige Folge von Wahrheit, etc. gelten. Dabei sei in keiner Weise geleugnet, daß Wahrheit praktische, politische und psychologische Funktionen ausüben kann und daß ein Inhalt, der wahr ist, wenn er zugleich wahr und tröstlich ist, sich zugleich als wirksam, vielleicht sogar als allein wirksam zur Kontingenzbewältigung, zur Antwort auf Leiden und dergleichen, sowie auch zur Bewältigung praktischer politischer Probleme erweist. Unsere Einwände gelten nicht der möglichen Funktion der Wahrheit, sondern nur der Reduktion des Wesens der Wahrheit auf Funktionalität sowie deren Deutung als eindeutiges Kriterium, als Bedingung oder als notwendige Folge der Wahrheit. Denn auch Irrtümer und Illusionen können praktisch und politisch wirksam sein und vielleicht sogar ähnlich gesundheitsförderliche und psychologisch befreiende Funktionen erfüllen wie wahre Überzeugungen.
IV. TEIL
EXISTENTIELLE WAHRHEIT UND VERITAS VITAE KRITISCHE UNTERSUCHUNG EXISTENTIALISTISCHER UND ANALYTISCHER WAHRHEITSTHEORIEN
KAPITEL 6 CHIFFRE-THEORIEN DER WAHRHEIT KRITIK DER WAHRHEITSTHEORIE VON KARL JASPERS UND VERWANDTER THEORIEN
Die unter diesem Titel zusammengefaßten Wahrheitstheorien sind vielfältiger Art und finden sich von der Gnosis an bis zu so radikalen Gegnern der Gnosis wie Voegelin, in seiner Deutung des 7. Briefes Platons. Am bekanntesten dürfte Karl Jaspers’ Fassung der Wahrheit als des Umgreifenden und seine Nietzsche-Deutung sein, nach der die zahllosen Widersprüche in Nietzsches Philosophie ein gelungener Versuch seien, die absolute Transzendenz der Wahrheit im Verhältnis zu unseren Urteilen auszudrücken.239 Diese Art von Theorie kommt wohl primär und fast ausschließlich als Theorie über das Wesen der Urteilswahrheit in Frage. Nach derartigen Theorien gibt es entweder keine Urteilswahrheit oder dieselbe bedeutet nur noch, daß das Urteil eine Chiffre für eine uns total unerkennbare Transzendenz sei. Eine solche Theorie ist zunächst überaus unklar, weil sie in keiner Weise erklärt, was mit absoluter Transzendenz und mit Chiffre gemeint sei. Soll damit zum Ausdruck gebracht werden, daß die Wahrheit, die ganze Wahrheit, die vollständige und umfassende Totalität aller wahren Urteile, jegliches menschliche Erkennen und Erfassen unendlich übersteigt und daß deshalb menschliches Erkennen niemals das Ganze aller Urteile erfassen kann und aus diesem Grunde die allumfassende Wahrheit gegenüber jeder vom Menschen erkennbaren Reihe wahrer Urteile absolut transzendent ist, eben weil menschliches Erkennen immer unvollständig bleibt? In diesem Sinne ist die alles umgreifende und in sich begreifende Wahrheit sicherlich im Verhältnis zu menschlichem Erkennen von 239
Vgl. Karl Jaspers, Von der Wahrheit (München, R. Piper & Co, 1958); ders., Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Gruyter Studienbuch, 4. Aufl. (Berlin: Gruyter, 1981).
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KAPITEL 6
„absoluter Transzendenz,“ wenn damit nur gemeint ist, daß sie sich jeder allumfassenden menschlichen Erkenntnis entzieht und jenseits derselben liegt, aber in keiner Weise kann daraus abgeleitet werden, daß nicht viele wahren Urteile vom menschlichen Geist erkannt werden oder daß irgendein Teil der allumfassenden Wahrheit in sich widersprüchlich sein oder irgendeiner der zahllosen von uns als solchen erkannten Teilwahrheiten widersprechen könnte, was evidentermaßen unmöglich ist, wie wir im Licht der Evidenz des Widerspruchsprinzips einsehen. Oder wird in der Chiffre-Theorie der Wahrheit in einer Art von Hegelianismus gerade dies gemeint, daß alle Widersprüche Teile der einen und unserem logischen Verstand ganz unzugänglichen Ganzheit der Wahrheit seien, die – gemessen an den von uns erfaßten Prinzipien des Widerspruchs und ausgeschlossenen Dritten – widersprüchlich sein könne bzw. jenseits jeden Gegensatzes einander kontradiktorisch widersprechender Urteile angesetzt werden müsse? So wäre Wahrheit nicht nur unendlich und uns in ihrer Ganzheit verborgen, sondern könnten wir auch die Wahrheit keines einzigen Urteils erkennen, ja die Wahrheit wäre irrational, widersprüchlich und durch die menschliche ratio gänzlich unerkennbar. Alle unsere Urteile, und besonders die einander widersprechenden, wären nichts als Chiffren, inhaltsleere Zeichen, für eine absolut transzendente und unserem Geist durch und durch unbegreifliche Wahrheit. Eine Chiffre-Theorie der Wahrheit im Sinne eines derart verschwommenen Transzendenzbegriffs jedoch vermag weder das Verhältnis der Urteile zur Wahrheit noch deren Wesen anzugeben.240 Außerdem mündet sie in Positionen wie die, daß radikaler Antisemitismus und Verteidigung der gleichen Würde des jüdischen Menschen beide, trotz ihres Widerspruchs, gleichermaßen bloße Chiffren seien für eine uns total unbekannte Wahrheit des Umgreifenden. Damit widerspricht diese Position jedoch der eindeutig zugänglichen Evidenz von Werten, der eindeutigen Falschheit von Irrtümern wie dem Rassismus, aber auch evidenten philosophischen Erkenntnissen wie denen des Cogito, der logischen Prinzipien, sowie allen bisher gewonnenen Erkenntnissen über 240
Zu den verschiedenen Begriffen von Transzendenz vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, Einleitung.
Chiffre-Theorien der Wahrheit
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das Wesen der Wahrheit, und verfällt so in eine unbegründete Skepsis und einen Irrationalismus, der klaren und deutlichen Einsichten, die unumstößliche Evidenz besitzen, widerspricht und den fundamentalen Unterschied zwischen unbezweifelbarer und evidenter Erkenntnis von Wahrheit und vollständiger Erkenntnis der Wahrheit nicht macht und daher verworren ist. Überdies widerspricht sich diese Theorie auch unweigerlich selber, indem sie offenbar für sich selber Wahrheit im Sinne der Adäquation voraussetzt, möchte sie uns doch auseinandersetzen, worin Wahrheit des Urteils nicht besteht und worin sie besteht. Wir brauchen diesen gleichen Widerspruch, der jede Wahrheitstheorie, welche das Urphänomen der Übereinstimmung des wahren Urteils umgehen oder ausschalten möchte, befällt und auf den wir schon mehrmals gestoßen sind, hier nicht noch einmal auszuführen. Einem ähnlichen Widerspruch verfällt auch jede Leugnung der Erkennbarkeit (Skepsis) sowie jede These der Relativität der Wahrheit (Relativismus). Denn beide Positionen setzen die Erkenntnis der Wahrheit voraus und erheben notwendigerweise den Anspruch auf eine objektive und eo ipso absolute Wahrheit für ihre eigenen Aussagen. Die Chiffre-Theorie der Wahrheit kann auch in keiner Weise den Wahrheitsbegriff der Religion aufklären, obwohl sie durch den Bezug zum „Umgreifenden“ diesem am nächsten zu kommen scheint. In der in Wittgensteins Ethik und Religionsphilosophie entwickelten Wahrheitstheorie, aber auch bei vielen Theologen inklusive katholischen Dogmatikprofessoren, etwa den „Theologen der Religionen“, die die Zeit der begrifflich-logischen Wahrheit für endgültig vergangen halten und meinen, Glaubensformulierungen seien nichts als Chiffren für eine uns unbekannte Transzendenz oder den Akt der Anbetung, kehren derartige Ideen wieder. Dabei bemerken diese Theologen häufig nicht, daß dem Begriff der Anbetung jeglicher Boden entzogen wird, wenn das Göttliche durch keinen menschlichen Begriff und kein wahres Urteil überhaupt soweit faßbar ist, daß man wahre und falsche Aussagen über Gott machen und unterscheiden kann. Denn Anbetung setzt die Wahrheit des Urteils voraus, daß Gott existiert und nicht nichts ist, daß er absolut und nicht von uns abhängig, heilig und nicht ein böser Weltwille ist, der uns zu seinem grausamen Spiel geschaffen hat und den wir mit Iwan Karamasoff und Sartre ablehnen müßten. Ohne wahre Urteile läßt sich also Anbetung
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überhaupt nicht denken. Deshalb liefert die Chiffrentheorie der Wahrheit nicht nur keine angemessene Erklärung der Wahrheit in Philosophie und Wissenschaft, sondern erklärt auch theologische oder metaphysische Wahrheit nicht, ja muß zu ihrer Leugnung führen und enthält überdies den notwendigen inneren Widerspruch, der jeder Umdeutung der Wahrheit des Urteils als adaequatio, die den geleugneten Wesenszug der Urteilswahrheit für sich beansprucht, anhaftet und sie innerlich aushöhlt und als irrig erweist.
KAPITEL 7 KRITIK SUBJEKTIVISTISCHER EXISTENTIALISTISCHER WAHRHEITSTHEORIEN 1. Grundbedeutungen von „existentieller Wahrheit“ Es gibt noch eine weitere Gruppe von verbreiteten „existentialistischen“ Interpretationen von Wahrheit, denen zufolge diese ebenfalls nicht in einer Übereinstimmung zwischen Überzeugungen bzw. Urteilen einerseits und Sachverhalten, die unabhängig von diesen bestehen, andererseits, liege, sondern vielmehr in einem Verhältnis von Überzeugung und Urteil zum existierenden Subjekt bzw. zu dessen Eigentlichkeit. Diese Theorie kann noch einmal in verschiedensten Weisen interpretiert werden. Ganz allgemein betrachtet, betonen die sogenannten existentialistischen Theorien der Wahrheit die Notwendigkeit, Wahrheit im Verhältnis zum Subjekt, seinen Haltungen, Einstellungen und Handlungen zu betrachten. 1.1. Die unbestreitbare Bedeutung der existentiellen Wahrheit (der veritas vitae)
Manche der existentialistischen Wahrheitstheorien betrachten ein existentielles Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit nicht als Wesen der Urteilswahrheit oder dessen, was wir so nennen, sondern nur als ein entscheidendes moralisches Erfordernis und betonen, daß es nie genügt, ein rein theoretisches Verhältnis zur Wahrheit zu haben. In diesem Sinne waren nicht nur Soeren Kierkegaard,241 sondern auch Augustinus oder John Henry Cardinal Newman,242 der den Unterschied zwischen reinem theoretischem Glauben (notional assent) and einem existentiell realen Glauben (real assent) und die Wichtigkeit des letzteren betonte, existentielle Denker, die in Form der „existentiellen Wahrheit“ als dem gelebten und angemessenen Verhältnis des Subjekts zur Wirklichkeit und vor allem zu 241
242
Vgl. vor allem Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken. John Henry Cardinal Newman, An Essay in Aid of A Grammar of Assent (Westminster, Md.: Christian Classics Inc., 1973).
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den Werten und Gütern eine neue Bedeutung der Wahrheit einführten, die in vielen Hinsichten der ontologischen personalen Wahrheit sowie der moralischen veritas vitae, die etwa Bonaventura so sehr betont, entspricht und eine der klassischen Bedeutungen des Wortes „wahr“ ausmacht. Wahrheit in diesem existentiellen Sinne des Wortes einer „gelebten Wahrheit“, die in unser Leben formend eingreift, eines „Tuns der Wahrheit“, wie das Evangelium dies nennt und wie es G. Elizabeth M. Anscombe zum Gegenstand interessanter philosophischer Überlegungen gemacht hat,243 könnte als adaequatio vitae ad rem („Angemessenheit des Lebens an die Sache“ – Sache dabei vor allem im Sinne moralisch bedeutsamer Wirklichkeit) verstanden werden und bedeutet nur eine Ergänzung zur adaequatio des Urteils an die bestehenden Sachverhalte und keineswegs deren Ersatz. Ja der klassische Wahrheitsbegriff wird hier eindeutig und ganz bewußt vorausgesetzt und keineswegs ersetzt. Wenn Soeren Kierkegaard die von ihm gewiß intendierte Wahrheit des Lebens „subjektive Wahrheit“ nennt, so hat er meist gerade diese Wahrheit des Lebens im Auge. Allerdings ist sein Ausdruck äußerst mißverständlich. Darüber hinaus findet sich bei Kierkegaard, etwa in seinem Lob des berühmten, unten zitierten, Lessing-Wortes, sowohl eine Verschiebung des Primats in Richtung existentieller Wahrheit als auch eine tiefgreifende Verwechslung der echten existentiellen und „subjektiven“ Wahrheit, dem geforderten „Subjektivwerden“ (im ersten Sinn existentieller Wahrheit), mit der grundlegend falschen und subjektivistischen Idee der „subjektiven Wahrheit“, die in Lessings Wort zum Ausdruck kommt, das mit dem Streben nach Wahrheit wenngleich „mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren“, eine theoretische und existentielle Absurdität darstellt. 1.2. Existentielle (subjektive) Wahrheit als Frucht der Loslösung vom Fundament der Wahrheit als adaequatio
Die existentialistische Wahrheitstheorie wird nämlich ganz anders verstanden, wenn das gelebte Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit für viel 243
Vgl. G. Elizabeth M. Anscombe, „Die Wahrheit ‚Thun‘“, in: Crespo, M. (Hrsg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik, S. 57-60.
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wichtiger erachtet wird als der Inhalt der Wahrheit und deren Wahrheitscharakter selbst, womit diese „existentielle Wahrheit“ nicht mehr die im Leben ergriffene und adäquat beantwortete tatsächliche Wahrheit meint, sondern subjektivistisch als „ehrliches Leben gemäß den eigenen subjektiven Maximen“ – sogar in Indifferenz gegenüber der Wahrheit – aufgefaßt wird. Auch ungeachtet der Tatsache, daß man dabei nicht notwendigerweise die klassische Wahrheitsdefinition als Übereinstimmung des Urteils mit den bestehenden Sachverhalten ganz zu leugnen braucht, vollzieht sich hier eine radikale Gewichtsverlagerung im Wahrheitsbegriff in Richtung „existentieller Wahrheit“, die sogar mit einer Gleichgültigkeit gegenüber der Frage gepaart ist, ob die festgehaltene Meinung objektiv wahr ist oder falsch. Ja diese Frage wird als eine für Menschen nicht passende oder sogar hohle Frage angesehen. In diesem Sinne kann man Lessings berühmtes und von Kierkegaard geliebtes Wort verstehen: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz -* Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ›Wähle!‹ Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ›Vater gib!‹ die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ 244
244
G. E. Lessing, Duplik, (1977), 213-215 . Vgl. auch Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, S. 874. (214-215) Digitale Bibliothek Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 20058 (vgl. Herder-HB Bd. 2, S. 206-207). Vgl. auch Soeren Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken.
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1.3. Existentielle Wahrheit als Umdefinition der Urteilswahrheit oder als Ersatz für diese
Wieder anders und noch radikal antithetischer zur klassischen Wahrheitsdefinition wird die existentielle Wahrheit verstanden, wenn man sie als Ersatz der ersteren und als Wesensdefinition der Wahrheit auffaßt. Wahr wären nach dieser Auffassung Anschauungen, Überzeugungen, Urteile etc., wenn sie die Authentizität der Existenz und Überzeugungen eines Subjekts gewährleisteten bzw. zum Ausdruck brächten. Wahr ist, was die existentiellen Bedürfnisse des Menschen ausdrückt oder was menschlicher Existenz Erfüllung verleiht, oder auch (in Verbindung mit einer funktionalistischen Wahrheitstheorie) was ihr Kontingenzbewältigung im Sinne Lübbes erlaubt, u.ä. 245 Noch mehr vom klassischen Wahrheitsverständnis der Adäquationstheorie verschieden wäre die existentialistische Auffassung der Wahrheit des Urteils als schöpferisch. Wahrheit wäre dieser Theorie vom „Subjektivwerden“ nach, die bei Kierkegaard anklingt, wenn sie auch keineswegs dessen tiefsten Intentionen entspricht, und die in immer weiteren Versionen innerhalb der sogenannten existentialistischen Philosophie auftaucht, eine Art „Entwurf“ des Subjekts bzw. eine Lebensform, die diesem Entwurf entspricht. Bei Sartre wäre die Grundidee der „existentialistischen“ Wahrheitsdeutung noch radikaler so zu fassen: Das Subjekt ist wesens- und damit wahrheitsschaffend.
245
Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung, sowie Robert Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie. Zehn Kapitel politischer Philosophie, (Stuttgart: Klett-Cotta, 1977); ‚Kritik der politischen Theologie‘, in Wort und Wahrheit 24 1969, Heft 6; als auch ders., „Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politischen Theologie“, in: Robert Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, zit., 57-76; ders., „Theologie, Prophetie, Politik. Zur Kritik der politischen Theologie“, in: Wort und Wahrheit 24, Wenen 1969, 483-495. Georg Lohmann, „Neokonservative Antworten auf moderne Sinnverlusterfahrungen. Über Odo Marquard, Hermann Lübbe und Robert Spaemann,“ in: R. Faber, Hrsg., Konservatismus in Geschichte und Gegenwart, S.183-20.
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2. Kritische Analyse der genannten Auffassungen
2.1. Existentielle Wahrheit als Veritas Vitae – ein grundlegender und wichtiger Begriff
Daß es im Verhältnis zur Wahrheit – insbesondere über Werte – nicht genügt, ihr gegenüber ein distanziertes oder rein theoretisches Verhältnis einzunehmen, sondern daß man das, was man für wahr hält, auch mit seinem Willen sich zu eigen machen und im Leben umsetzen sollte, ist klar, und eine solche Rolle der Freiheit und veritas vitae beginnt schon im intellektuellen Leben und dem Akt der Zustimmung zur Wahrheit,246 aber geht weit darüber hinaus in dem Tun der Wahrheit und in aktuellen und überaktuellen freien inneren Antworten auf die Wahrheit. Ein angemessenes existentielles Verhältnis eines Menschen zur erkannten Wahrheit, auf das sich ja auch das Urphänomen des Gewissens bezieht, ist ein entscheidendes moralisches Erfordernis. Zu betonen, daß es nie genügt, ein rein theoretisches Verhältnis zur Wahrheit zu haben, wie Soeren Kierkegaard und John Henry Cardinal Newman dies in tausenden Variationen hervorheben, sondern daß die Wahrhaftigkeit und Authentizität des menschlichen Lebens und der „existentiellen Wahrheit“ als dem gelebten und angemessenen Verhältnis des Subjekts zur Wirklichkeit und vor allem zu den Werten und Gütern, daß also die veritas vitae gefordert ist, ist ohne Zweifel richtig und wichtig. Dieser existentielle Sinn des Wortes einer „gelebten Wahrheit“, die in unser Leben formend eingreift, diese adaequatio vitae ad rem (Sache dabei vor allem im Sinne moralisch bedeutsamer Wirklichkeit) bildet ein echtes und unerläßliches Gegenstück und eine Ergänzung zur adaequatio des Urteils an die bestehenden Sachverhalte, jedoch keineswegs deren Ersatz. Ja der klassische Wahrheitsbegriff wird hier eindeutig und ganz bewußt vorausgesetzt und keineswegs ersetzt.
246
Vgl. Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso (Milano: Franco Angeli, 2002).
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2.2. „Existentielle (subjektive) Wahrheit“ als Loslösung der existentiellen Wahrheit von der Wahrheit des Urteils bei Lessing und manchen Stellen bei Soeren Kierkegaard
Damit berühren wir schon den erwähnten zweiten und völlig verschiedenen Sinn von „existentieller Wahrheit“, welcher die Wahrheit des Lebens und der menschlichen Existenz von der objektiven Wahrheit der Urteile, auf denen die echte veritas vitae aufbaut, abschneidet, wie dies in dem zitierten Lessingwort enthalten ist. Die existentielle Wahrheit jedoch darf nie den Primat vor der objektiven Wahrheit unserer Erkenntnisse und Urteile haben, denn der innerste Sinn all unserer Wertantworten und Taten sollte darin liegen, den Dingen, den Personen und der absoluten göttlichen Wahrheit und Wesenheit die ihnen gebührende Antwort zu geben. Der Sinn des geistigen Lebens der Person liegt nicht in diesem selbst als ein Glücksgefühl oder eine Befriedigung unserer Strebungen, sondern in der Angemessenheit an die Wahrheit und das Gute. Deshalb bricht dieser Sinn des geistigen Lebens der Person zusammen, wenn wir das Sein nicht erkennen, wie es ist, wenn unser Urteil falsch ist, wenn unser Wollen nur Scheinwerte bejaht und nicht das wahre Gute. Die Beziehung zur Wahrheit ist der Lebensnerv des Geistes. Deshalb ist jede Loslösung der existentiellen Wahrheit des Lebens von der Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit ein subjektivistischer und verhängnisvoller Schritt in eine Leere und ein geistiges Nichts, ein Schritt, der auch tief in Kants transzendentaler Dialektik der Kritik der reinen Vernunft sowie in seiner Idee der moralischen Postulate und in dem liegt, was Vaihinger die „als Ob-Philosophie“ nennt. Man darf auch nicht vergessen, daß eine veritas vitae, über die unser Gewissen Zeugnis ablegt, nur dann eine existentielle Wahrheit heißen darf, wenn unser Leben nach bestem Wissen und Gewissen auf der objektiven Wahrheit der Urteile über die Dinge, über Gott und über den Menschen beruht. Auch wenn wir tatsächlich unschuldigerweise im Irrtum sind, muß das innerste Prinzip menschlichen Lebens und Handelns der Wille zur Wahrheit sein. Zwar mag es moralisch besser sein, wenn jemand ehrlich seinen irrigen Ideen folgt als wenn er zwar eine objektive Wahrheit erkennt, aber die Wahrheit nicht tut, doch gilt dieses Lob der „existentiell gesuchten und
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ergriffenen, aber nur subjektiv als wahr vermeinten oder nur für wahr gehaltenen Wahrheit“ erstens nur dann, wenn der Mensch dasjenige, worauf er sein Leben gründet, für wahr im Sinne der adaequatio hält und nach der Wahrheit sucht. Sobald es ihm nicht mehr darauf ankommt, ob sein Leben auf der Wahrheit oder auf falschen und willkürlichen Ideen über Gott und die Welt beruht, sobald es ihm nur noch auf die Relation seines Lebens zu seinen persönlichen Lebensoptionen und Überzeugungen ankommt und nicht mehr um deren Wahrheit zu tun ist, sind auch der moralische Wert und der Sinn der existentiellen „subjektiven Wahrheit“ dahin. Ja sogar schon wenn man den theoretischen und ethisch relevanten Primat der Wahrheit jener Urteile, auf denen unser moralisches Leben aufbauen sollte, als eigentliche raison d’être menschlichen und sittlichen Lebens verkennt, tritt eine radikale Verfälschung der Lebenswahrheit ein und wird unser Leben letzten Endes auch existentiell „unwahr“. In dem Augenblick, in dem man deshalb dieser existentiellen Wahrheit einen ungebührlichen Vorzug gibt oder gar sie ganz von der Frage der objektiven Wahrheit loslöst, verfälscht man sie radikal, ja verwandelt sie in eine existentielle Unwahrheit. 2.3. Die radikale Loslösung des Lebens von der Wahrheit als adaequatio: Von deren Leugnung zur Umdeutung der Illusion und Lüge im außermoralischen Sinn in Wahrheit: Friedrich Nietzsche und die Geburt der „subjektiven Wahrheit“ im Werk einiger Existentialisten
Der Denker, welcher in neuerer Zeit diese radikal verschiedene Idee der „existentiellen Wahrheit“ mit aller Schärfe vertreten hat, ja sie beim rechten Namen genannt hat, als ein Leben ohne Wahrheit, wenn nicht sogar gegen diese, ist Friedrich Nietzsche. An Nietzsches Schriften zeigt sich, daß diese zweite Form des Begriffes der existentiellen Wahrheit einer Loslösung des Lebens von der Wahrheit entstammt. Um diese Idee der „existentiellen Wahrheit“ und ihre Geburt aus einer Loslösung von der Urteilswahrheit als adaequatio besser zu verstehen, holen wir hier weiter aus und stellen in knappen Zügen Friedrich Nietzsches Philosophie der Wahrheit und den Übergang vom Zweifel an der Erkennbarkeit der Urteilswahrheit als adaequatio zur angeblichen Befreiung von ihr dar, ein
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Thema, auf das wir ja schon in der Einleitung hingewiesen und worüber wir Nietzsche-Stellen zitiert haben, auf die wir nun näher eingehen möchten. In seinem Aufsatz über Schopenhauer als Erzieher schreibt Nietzsche folgendes: (In einem späteren Brief aber erklärt Nietzsche, er habe in diesem Aufsatz im Grunde über sich selbst, nicht über Schopenhauer geschrieben): Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung, Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtnis hat; ja es scheint mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man überall lesen kann, seit der Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor allem selbst revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete es sein könnten. Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden ; und nur bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie z.B. Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. „Vor kurzem‘, schreibt er einmal in seiner ergreifenden Art, „wurde ich mit der Kantischen Philosophie bekannt – und dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird als mich. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist’s das letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigentum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich. – Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe keines mehr.‘ Ja, wann werden die Menschen wieder dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen
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sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem ,heiligsten Innern‘ messen? ...247
Man kann die Entwicklung Nietzsches unmöglich verfolgen, wenn man seine Stellung zu Kant nicht begreift und deshalb sei diese hier kurz dargelegt. Nietzsches Verhältnis zu Kant ändert sich wesentlich, aber Kants Philosophie verfolgt ihn intensiv bis zu seinen Auseinandersetzungen mit Kant im Willen zur Macht (1887). Nietzsche bezeichnet in diesem Aufsatz zwar noch Schopenhauer als den „Befreier, der aus der Höhle des skeptischen Unmuts hinausführt“, doch fühlt man schon hier, daß das für Nietzsche selbst gar nicht sehr überzeugend ist – abgesehen davon, daß man Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung mit bestem Willen nicht als die Befreiung vom Skeptizismus bezeichnen kann. Doch was war denn diese tödliche Aushöhlung der Wahrheit durch Kant? – Man kann Nietzsche nicht verstehen, ohne zu sehen, wie wahr das ist, was er erkannt hat! Jeder „Kleistisch-natürlich“ empfindende Mensch wird es unmittelbar begreifen! Kants bis zu einem gewissen Grad berechtigter Ausgangspunkt ist die Situation, in der wir uns bei den sogenannten „sekundären Sinnesqualitäten“ (wie Farben, Töne) finden. Aus der Tatsache, daß diese nicht „unabhängig“ von jedem erkennenden Bewußtsein bestehen, schloß Kant sozusagen in einer von jedem Sachkontakt gelösten, immanenten „Logik“, dieses Prinzip lasse sich auch auf die „primären Sinnesqualitäten“, ja sogar auf alle Erkenntnis des Gegebenen ausdehnen. Dabei übersah Kant, daß diese „sekundären Sinnesqualitäten“ ihrem Wesen nach so wenig den Anspruch erheben, „unabhängig“ von jedem perzipierenden Subjekt zu bestehen – bei voller Wahrung ihrer objektiven Gültigkeit – daß es geradezu erstaunlich wäre, wäre es anders. So setzen etwa Worte, die ich jetzt spreche, bei den Zuhörern Gehörsorgane voraus, um als solche vernommen zu werden. Aber das hindert doch einsichtigermaßen nicht im 247
Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III, 3, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden; und Nietzsche-Index zur Ausgabe von K. Schlechta, Bd. 1, S. 302/ 3. Die von Nietzsche zitierte Kleist-Stelle stammt aus einem Brief vom 22. III. 1801. Vgl. Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe, 1964, hrsg. v. Helmut Sembdner, Bd. 6, Briefe 1793 – 1804, S. 163., III, 3.
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geringsten, daß diese Zuhörer im Hören und nur im Hören meine Worte als das erfassen, was sie objektiv sind, das heißt, als das, als was sie eigentlich „gemeint“ sind, unabhängig davon, ob sie hören oder taub sind. Zu behaupten, meine Worte würden nur dann „objektiv“ (weil unabhängig von jedem perzipierenden Subjekt) vernommen, wenn sie ein Physiker als flatus vocis mit einem Instrument feststellt, wäre offenbar eine konfuse und überdies beleidigende Feststellung; ähnliches gilt für alle Farben, Töne usw. Aber nun von diesem besonderen Fall auszugehen und zu sagen: „Wenn das bei Tönen so ist, daß ,objektiv‘ (jetzt nicht mehr im Sinne des ,eigentlich Gemeinten‘, sondern des ,unabhängig von jedem Subjekt‘) nur Schwingungen bestehen, warum kann man dieses Prinzip denn nicht auch auf die Schwingungen der Luft selbst, ja auf Raum und Zeit selbst ausdehnen? Warum kann man nicht überhaupt von allem, was wir erkennen, sagen, es bestünde nicht unabhängig von unserem Erkennen?!“ – darin liegt das unmittelbar erlebte und im folgenden zu klärende Mißverständnis Kants, wenn er diesen Gedanken auch nicht auf alle Gegenstände des Bewusstseins ausgedehnt und die Grenzidee eines Dinges an sich beibehalten hat.248 Schon die primären Sinnesqualitäten (wie Ausdehnung, Gestalt usw.), erst recht Raum und noch mehr die Zeit, Kausalität, Pflanzen und Tiere, vor allem aber andere Personen, erheben ihrem Wesen nach ganz elementar den Anspruch darauf, unabhängig von jedem Erkenntnissubjekt zu existieren, um objektiv zu sein, besser: um überhaupt zu sein. All dies erhebt den Anspruch, im Wesen von all dem liegt, unabhängig von jeder Erkenntnis so zu existieren, wie wir es erkennen. Dieses Bewußtsein begleitet jeden Menschen mit so elementarer Ursprünglichkeit, daß es fast
248
Natürlich liegt in dieser „Übertragung“ Kants nicht der eigentliche Ausgangspunkt für seine Lehre: Dieser liegt vielmehr darin, daß er bei seiner klassischen Fragestellung: wie sind synthetische Sätze apriori möglich? (in deren Beantwortung tatsächlich das Schicksal jeder Metaphysik liegt) völlig verschiedene Begriffe von „a priori“, „Erfahrung“, „Begriff“ nicht unterschied und deshalb notwendige, apriorische Urteile sich nicht anders denken konnte, als von jeder Erfahrung unabhängig. Vgl. zu diesem Thema mein Buch Erkenntnis objektiver Wahrheit, bes. S. 140 ff.; S. 163 ff.
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absurd scheint, über so Selbstverständliches zu sprechen249: In jedem Augenblick, in dem wir mit einem Menschen sprechen, hören, was er getan hat, was er tun wird, erkennen, was er ist, haben wir das urgegebene Bewußtsein, daß all dies: Raum, Zeit, Dinge, andere Menschen und ihre Erlebnisse eine objektive, im Sinne einer von unserer Erkenntnis 249
Diesen Uranspruch der „Außenwelt“ auf Unabhängigkeit, der jedem Kind elementar bewußt ist und den Kleist und Nietzsche so gewaltig ausdrücken, versucht Kant zu leugnen, bzw. umzudeuten: Er versucht, diesen elementaren „Unabhängigkeitsanspruch“, der einsichtigermaßen im Wesen von Raum, Zeit, anderen Personen usw. liegt, auf ein nur von uns ausgehendes „Urteil“ der Vernunft zurückzuführen, das den „Erscheinungen“ eine objektive, transzendente Realität „zusprechen“ soll: ja er geht sogar bis zu der Behauptung, nicht nur Dinge außer uns bestünden nicht als transzendente, von unserm Erkennen unabhängige Wirklichkeiten und stellten auch gar keinen derartigen Anspruch, sondern mit unserm erlebten Ich sei es ebenso, daß es sich dabei nur um Erscheinungen handle. Damit steckt Schopenhauer schon in Kant, und die genialen Einsichten des hl. Augustinus, aber auch von Descartes, sind völlig verloren: „... und es ist eine ebenso sichere Erfahrung, daß Körper außer uns (im Raum) existieren, als daß ich selbst nach der Vorstellung des inneren Sinnes (der Zeit) da bin; denn der Begriff ,außer uns‘ bedeutet nur die Existenz im Raume. Da aber das ich in dem Satze: ich bin, nicht bloß den Gegenstand der inneren Anschauung (der Zeit), sondern das Subjekt des Bewußtseins, sowie nicht bloß die äußere Anschauung (im Raume), sondern auch das Ding an sich selbst bedeutet, was dieser Erscheinung zum Grunde liegt: so kann die Frage, ob die Körper (als Erscheinungen des äußeren Sinnes) außer meinen Gedanken in der Natur als Körper existieren, ohne alles Bedenken verneint werden; aber darin verhält es sich gar nicht anders mit der Frage, ‚ob ich selbst als Erscheinung des inneren Sinnes (Seele nach der empirischen Psychologie) außer meiner Vorstellungskraft in der Zeit existiere‘, denn diese muß ebensowohl verneint werden...‘ (Prolegomena, § 49) u. vgl. auch Kritik d. r. V., l. Teil, II. Abschnitt Ausgabe B 69/70). Anderseits in Vorrede B XXVII-XXIX versucht Kant, zu zeigen, daß die Freiheit der Seele als Ding an sich zukomme, die Notwendigkeit der Erscheinung nach und behauptet also eine Freiheit ohne Zeit und die dem (zugleich absolut unbekannten) Ding an sich der Seele angehöre und andere Widersprüche mehr, auf die schon Schopenhauer hinweist. Zu sagen, auch unser Ich und damit alle seine Akte, (also auch Erkenntnis) – soweit sie uns bekannt sind – seien nur eine „Erscheinung“ und kein „Ding an sich“, ja diese Erscheinung erhebe nicht einmal einen Anspruch darauf, ein Ding an sich zu sein, sondern dies sei nur ein willkürliches Urteil und unsere eigene Schuld (B 69/70), dies führt zu unabsehbaren Widersprüchen.
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unabhängigen Realität beanspruchen. Um das ganz ohne viel Philosophie zu begreifen, braucht man nur den Sandmann von E. Th. A. Hoffmann zu lesen und die glühende Liebe des Nathanael zur Puppe Olympia zu verstehen, die dieser durch das Wunderglas Coppolas ganz wie einen Menschen sieht, in den er sich verliebt: Dort wird jeder Kleist verstehen, der sagt, daß er sich durch die Philosophie Kants „in seinem heiligsten Innern verwundet fühle.“ Das Bild des einer entsetzlichen Täuschung dienenden Wunderglases Coppolas, das zur Verwechslung einer bloßen Erscheinung der Marionette Olympia mit einer an sich bestehenden Person führt, verwendet Kleist in anderer Gestalt in dem von Nietzsche zitierten Brief, um den Eindruck zu schildern, den Kants Philosophie auf „sein innerstes Heiligtum“ gemacht hat: Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande...
und in einem andern Brief schildert er noch mehr den Schauder, den ihm dieser Gedanke erregt hat: ... Der Gedanke, daß wir hienieden nichts, gar nichts von der Wahrheit wissen, daß das, was wir hier Wahrheit nennen, nach dem Tode ganz anders heißt ... dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert. Mein einziges und höchstes Ziel ist gesunken, ich habe keines mehr. Seitdem ekelt mich vor den Büchern, ich lege die Hände in den Schoß, und ich suche ein neues Ziel, dem mein Geist, froh-beschäftigt, von neuem entgegenschreiten könnte. Aber ich finde es nicht, und eine innerliche Unruhe treibt mich umher, ich laufe auf Kaffeehäuser und Tabagien, in Konzerte und Schauspiele, ich begehe, um mich zu zerstreuen und zu betäuben, Thorheiten, die ich mich schäme aufzuschreiben, und doch ist der einzige Gedanke, den in diesem äußeren Tumulte meine Seele unaufhörlich mit glühender Angst bearbeitet, dieser: dein einziges und höchstes Ziel ist gesunken ... Ich kann nicht einen Schritt tun, ohne mir deutlich bewußt zu sein, wohin ich will.
Die Widernatürlichkeit der „kopernikanischen Wende“ und das Erschütternde wird hier deutlich, das in jener Übertragung der – dadurch
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übrigens ganz falsch gedeuteten – Verhältnisse der sekundären Sinneswahrnehmung auf das Gesamt unserer Erkenntnis liegt... Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. ... Ist’s das letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr.250
Das Tragische in unserer geistigen Verfassung scheint mir gerade darin zu liegen, daß diese kopernikanische Wende wie eine dunkle geistige Gegenwart uns alle schon so sehr entmutigt hat, ja daß wir gegen ihr Grauen schon so sehr abgestumpft sind, daß es heute schon als ganz „altmodisch“ oder „anmaßend“ erscheint, Kant widerlegen zu wollen. „Wir können hinter so große Geister nicht mehr zurück ... wir müssen an unserm Ort im Fluß der Geschichte denken ... die Wahrheit ist eben geschichtlich bedingt, zumindest unsere Erkenntnis der Wahrheit ... „: so und ähnlich heißen die verworrenen Äußerungen, in denen sich der Einfluß des „Alleszermalmers“ ausdrückt, von dem Nietzsche gesprochen hat – und der Einfluß Hegelscher Geschichtsphilosophie; und wer denkt nicht an die Erschütterung Heinrichs von Kleist darüber, „daß all die Wahrheit, die wir
250
Es war ein ähnlicher Gedanke, der Gabriel Marcel beim Tode seiner Mutter bis ins Innerste traf, als seine Tante ihm sagte, über das Schicksal der Toten wüßten wir nichts; es war derselbe Gedanke, der ihn beim Studium der idealistischen Philosophie erschütterte, als er sah, wie diese die Grunderfahrungen seines Lebens nicht zu deuten vermochte, außer in einer grauenvollen Weise diese Grunderfahrungen Lügen zu strafen. Die ganze Philosophie Gabriel Marcels scheint mir in gewissem Sinn um den Gedanken zu kreisen: es ist unmöglich, daß der tiefste Sinn unseres Lebens, der sich in der Beziehung zu einem geliebten Wesen enthüllt, dem wir auch nach dem Tod und wider den Tod die Treue bewahren – es ist unmöglich, daß die Realität dieses Sinnes nichts als Täuschung ist. Ausgehend von seiner eigenen Erfahrung und angeregt durch Martin Buber und William Ernest Hocking hat Gabriel Marcel diesen Gedanken entwickelt und mit dieser Waffe greift er den Idealismus im Punkte seines vielleicht tiefsten Grauens an: daß es in ihm keinen Ort für ein Du gibt. Schon Augustinus, aber nach Kant vor allem durch den großen Durchbruch der Philosophie in der klassischen, (realistischen) Phänomenologie ermöglicht, hat der frühe Husserl, Scheler, aber mit viel größerer Klarheit von Hildebrand diesen Grundirrtum Kants widerlegt, der in der „ kopernikanischen Wende“ liegt.
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hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr ist“, wenn er in Heideggers Sein und Zeit liest: Der Selbstmörder ..., sofern er ist und sich in diesem Sein verstanden hat, hat in der Verzweiflung des Selbstmords das Dasein und damit die Wahrheit ausgelöscht.251
So neu sich auch Heidegger gebärdet, in dem Augenblick, in dem er die Wahrheit durch den Selbstmord ausgelöscht sieht und als „eine Seinsweise des Daseins (= Menschen)“ erklärt, sagt er auf andere Weise dasselbe wie Kant, nur daß nach seiner Auffassung schon die Frage nach dem Ding an sich „den Skandal der Philosophiegeschichte“ ausmacht, wie er sagt. In einem nur um weniges später verfaßten Aufsatz (1873) „über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ fällt Nietzsche selbst ganz in den Kantischen Gedanken, und schon in diesem Aufsatz kündet sich die Spätphilosophie F. Nietzsches an, den man seitdem im Unterschied zum Alleszermalmer den alleszersetzenden, die Wahrheit bis zum Ende in den Seelen der Menschen auflösenden Denker nennen könnte. Nietzsche sagt in dem erwähnten Aufsatz, die Tatsache, daß wir immer dieselbe geordnete Welt wahrnehmen, ebenso wie die Tatsache, daß sich unsere Auffassung von der äußeren Welt durch die verschiedenen Sinneswahrnehmungen gegenseitig bestätige, beweise nichts für die Behauptung, daß die Dinge objektiv so seien, wie wir sie sehen. (Ich glaube, Nietzsche hat darin in gewissem Sinne recht, solange man nämlich dieser „Bestätigung“ nicht andere Erkenntnisse hinzufügt.) Ebenso: wie ein Traum, ewig wiederholt, durchaus als Wirklichkeit empfunden und beurteilt werden würde.
Dann fährt Nietzsche so fort: Es hat gewiß jeder Mensch, der in solchen Betrachtungen heimisch ist, gegen jeden derartigen Idealismus ein tiefes Mißtrauen empfunden, so oft er sich einmal recht deutlich von der ewigen Konsequenz, Allgegenwärtigkeit und Unfehlbarkeit der Naturgesetze überzeugte; er hat den Schluß gemacht: 251
Heidegger, Sein und Zeit (19. unveränd. Auflage), (Tübingen, Max Niemeyer, 2006), § 44, c.
Kritik subjektivistischer existentialistischer Wahrheitstheorien hier ist alles, soweit wir dringen, nach der Höhe der teleskopischen und nach der Tiefe der mikroskopischen Welt so sicher, ausgebaut, endlos, gesetzmäßig und ohne Lügen; die Wissenschaft wird ewig in diesen Schachten mit Erfolg zu graben haben, und alles Gefundene wird zusammenstimmen und sich nicht widersprechen. Wie wenig gleicht dies einem Phantasieerzeugnis: denn wenn es dies wäre, müßte es doch irgendwo den Schein und die Unrealität erraten lassen. Dagegen ist einmal zu sagen: hätten wir noch, jeder für sich, eine verschiedenartige Sinnesempfindung, könnten wir selbst nur bald als Vogel, bald als Wurm, bald als Pflanze perzipieren, oder sähe der eine von uns denselben Reiz als rot, der andere als blau, hörte ein Dritter ihn sogar als Ton, so würde niemand von einer solchen Gesetzmäßigkeit der Natur reden, sondern sie nur als ein höchst subjektives Gebilde begreifen. Sodann... Was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz? Es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen, das heißt, in seinen Relationen zu anderen Naturgesetzen, die uns wieder nur als Summe von Relationen bekannt sind. Also verweisen alle diese Relationen immer nur wieder auf einander und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch. Nur das, was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Sukzessionsverhältnisse und Zahlen, sind uns wirklich daran bekannt. Alles Wunderbare aber, das wir gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert und uns zum Mißtrauen gegen den Idealismus verführen könnte, liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeitund Raumvorstellungen. Diese aber produzieren wir in uns und aus uns mit jener Notwendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind, alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr wunderbar, daß wir in allen Dingen eigentlich nur eben diese Formen begreifen: Denn sie alle müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen, und die Zahl gerade ist das Erstaunlichste in allen Dingen. Alle Gesetzmäßigkeit, die uns im Sternenlauf und im chemischen Prozeß so imponiert, fällt im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbringen, so daß wir damit uns selbst imponieren. Dabei ergibt sich allerdings, daß jene künstlerische Metaphernbildung, mit der in uns jede Empfindung beginnt, bereits jene Formen voraussetzt, also in ihnen vollzogen wird; nur aus dem festen Verharren dieser Urformen erklärt sich die Möglichkeit, wie nachher wieder aus den Metaphern selbst ein Bau der Begriffe konstruiert werden konnte. Dieser ist nämlich eine Nachahmung der Zeit-Raum- und Zahlenverhältnisse auf dem Boden der Metaphern.
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KAPITEL 7 Nur durch das Vergessen dieser primitiven Metaphernwelt, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Körper sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, daß der Mensch sich als Subjekt, und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergißt, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit, Konsequenz: wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem ,Selbstbewußtsein‘ vorbei. Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach einem langen Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. 252
So kommt es zu Nietzsches Idee der Wahrheiten als Illusionen, die nur eine Funktion für unsere Existenz haben und uns mit „einer Ruhe, Sicherheit und Konsequenz“ leben lassen. Doch setzt dabei Nietzsche nicht nur die Einsicht in das Wesen der Wahrheit voraus, die es ihm erlaubt, von Illusion überhaupt zu reden, sondern allein die Frage: Und alles, was Sie jetzt über Wahrheit, Irrtum, Welt und Mensch gesagt haben, ist das auch nur eine Illusion? – wirft eine solche Gedankenkonstruktion um und erweist sie als widersprüchlich. Eine widersprüchliche Theorie kann aber unmöglich wahr sein, da sich die Wahrheit nicht widersprechen kann. Obwohl Nietzsche hier von Wahrheiten als „Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind“, redet, und nicht von existentieller Wahrheit, so hat doch gerade diese Idee von illusorischen „Pseudowahrheiten“ tief auf die Einführung der Idee einer subjektiven „existentiellen Wahrheit“ gewirkt, die sich eben ganz von der Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit losgelöst hat. 252
Friedrich Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke : kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München-Berlin-New York: Deutscher Taschenbuch Verlag; Walter de Gruyter, 1988), Band 1, S.875-890. Abschn. 1.
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Eine weitere Kritik betrifft die völlige Unterwanderung der wirklichen existentiellen Wahrheit im ersten Sinne (A) durch diese Idee einer letzten Endes nur illusorischen, aber doch existentiell zur Kontingenzbewältigung funktionierenden „Wahrheit“. Durch eine solche Idee von „subjektiver Wahrheit“, die nur noch für unsere Lebenssicherheit taugt, wird dem Geist seine „Substanz“ selbst ausgesogen: Die „Substanz“ des geistigen Menschen, die ich hier meine und die der ersten Bedeutung von existentieller Wahrheit zugrundeliegt, ist das im Menschen, was die Frage nach der Wahrheit über die wichtigsten Dinge stellt und auf diese ‚Wahrheit‘ angemessen antwortet. Das „eigentliche Sein“ der menschlichen Person erwacht sozusagen in dem Maße, in dem es mit einer von ihm selbst verschiedenen und unabhängigen Wirklichkeit in Beziehung tritt. Die Beziehung zu einer Wahrheit, die mit tatsächlich bestehenden Sachverhalten Übereinstimmt und unabhängig vom menschlichen Geist wahr ist, zu der sie aber in Beziehung treten kann, ist der Lebensnerv der Person und jeder echten Religion. In diesem Sinn sagt auch Platon im Phaidros: Du fragst: warum wollen doch alle Seelen mit so großem Fleiße die Gefilde der Wahrheit sehen? – So höre: Dort auf jenen lichten Flächen wächst die Weide des edelsten Teiles der Seele, und auf dieser Wiese finden die Flügel, welche die Seele beschwingen, ihre Nahrung ... Auf dieser Bahn, da schaut die Seele ... nicht die Wissenschaft, die stets am Gegenstande wechselt und mit dem, was wir in der Zeit wirklich nennen, spielt; nein, hier erkennt die Seele die Wissenschaft von dem, was wahrhaft und ewig da ist.
Wir wollen jetzt noch nicht die Frage stellen, welcher Art die Beziehung des menschlichen Geistes zu einer von ihm selbst unabhängigen Wirklichkeit sein muß, damit die Seele in ihrem Lebenszentrum erwache. Wir fragen hier noch nicht, was diese von ihm unabhängige Wirklichkeit selbst ist, was in ihr wechselnd, was notwendig und unveränderlich ist. Nur das eine wollen wir über das Verhältnis zwischen Urteilswahrheit als adaequatio und existentieller Wahrheit sagen: Die Frage nach der Wahrheit, danach, wie es wirklich ist, berührt den Lebensnerv des Menschen als geistiger Person: all unsern Fragens, all unsern Nachdenkens, aller unserer Urteile, aller unserer Philosophie – und natürlich erst
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recht aller Religion! Doch kann die fundamentale Bedeutung der Wahrheit für alles geistige Leben auch vom Atheisten anerkannt und verstanden werden. Es ist deshalb selbst von einem vorreligiösen, rein philosophischen Standpunkt aus eine furchtbare Lehre, die die Bedeutung eines Lebens auf dem Fundament der Wahrheit – vielleicht im Einflusse Bultmanns,253 Heideggers oder anderer Philosophen – leugnet:254 Mit der Frage, ob wir eine objektive Wirklichkeit erreichen können, wie sie ist, mit der Wahrheitsfrage steht und fällt der Sinn unserer geistigen Existenz und erst recht der Sinn aller Philosophie. Selbst ein Mensch, dem die Hoffnung geschwunden ist, je die Fülle der Wahrheit zu erreichen, hält doch an einigem fest, was er für unverrückbar wahr hält (selbst wenn er dies in seiner bewußten Reflexion vergißt) – ja, ohne das könnte er nicht einmal die Frage nach der Wahrheit stellen, ja nicht einmal zweifeln. Das zeigt schon Augustinus mit unübertrefflicher Klarheit: „Wer könnte dennoch zweifeln, daß er sowohl lebt, als auch sich erinnert, als auch erkennt, als auch will, als auch denkt, als auch weiß, als auch urteilt? Denn selbst, wenn er zweifelt, lebt er; wenn er zweifelt, erinnert er sich daran, woran er zweifelt; wenn er zweifelt, erkennt er, daß er zweifelt; wenn er zweifelt, will er sicher sein; wenn er zweifelt, denkt er; wenn er zweifelt, weiß er, daß er (etwas) nicht weiß; wenn er zweifelt, urteilt er, daß er seine Zustimmung nicht ohne genügenden Grund geben solle. Wenn deshalb jemand auch an allem andern zweifeln mag, so darf er doch an all diesem nicht zweifeln: Denn wenn das nicht (so) wäre, so könnte er an überhaupt nichts zweifeln.“255
In dieser und in vielen anderen Formulierungen geht Augustinus noch viel radikaler vom Zweifel aus als Descartes, und viel großartiger noch als 253
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Vgl. die Analyse Bultmanns in Karl Prümm, Gnosis an der Wurzel des Christentums (Salzburg, 1972), S. 107 ff. Hier denke ich auch an das Buch Lübbes über die Religion nach dem Zeitalter der Aufklärung, in dem eine funktionalistisch verstandene Wahrheit als Kontingenzbewältigung als einziges Motiv der Religion gilt und eine Religion, die auf einer Wahrheit über Gott und den Menschen beruhen würde, wie ein endlos überwundenes Relikt vergangener Zeitalter behandelt wird. Vgl. Hermann Lübbe, Religion nach der Aufklärung. Augustinus, De Trinitate, X, X, 14.
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dieser überwindet Augustinus den Zweifel, indem er „mit einem Schlage“ zeigt, wie mit der Wirklichkeit des Zweifels selbst notwendig zwei Arten absolut gewisser und unbezweifelbarer Erkenntnis gegeben sind: Die völlig gewisse Einsicht in die eigene Existenz, das über allen Zweifel erhabene Innesein der eigenen Existenz einerseits, und andererseits die absolut sichere Einsicht in das notwendige Wesen des Zweifels selbst, der in sich zusammenbrechen würde, den ich nie vollziehen könnte ohne all die genannten Erkenntnisse, die er notwendig voraussetzt; einmal die absolut gewisse Berührung der realen Welt im Innesein der eigenen bewußten Existenz, dann wieder die Erkenntnis notwendiger Wesenheiten. Diese beiden hat Dietrich von Hildebrand als die zwei archimedischen Punkte der Erkenntnislehre bezeichnet,256 an denen jede Möglichkeit des Zweifels zerschellt. Augustinus beleuchtet hier beide mit höchster Klarheit und zeigt zugleich, wie man ohne diese beiden Arten über allen Zweifel erhabener Erkenntnis nicht einmal zweifeln könnte. Als Ausgangspunkt für diese befreiendste und grundlegendste philosophische Erkenntnis fordert Augustinus nichts, als daß man den Zweifel an „allem“ betrachtet oder sogar zweifelt!257 Die Urgegebenheit der Wahrheit ist also so unentthronbar, daß jeder Mensch an vielem Wahren als absolut gewiß festhalten muß, um überhaupt zweifeln zu können oder auch, um mit Nietzsche von Illusionen zu
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Vgl. die Vorlesungsabschriften von Dietrich von Hildebrand, Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis (Salzburg 1964), Nachlaß, Kopie an den Bibliotheken der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der Pontificia Universidad Católica de Chile. Teilabdruck: „Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt“, Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen Hildebrands: ‚Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis‘“, Aletheia 6/1993-1994 (1994), 2- 27. In diesen tiefen Einsichten des hl. Augustinus aber die Ursache für den deutschen Idealismus, den Subjektivismus und Solipsismus vieler moderner Philosophien zu sehen, ist ganz abwegig. Auch ist die Einsicht Gabriel Marcels in die Urbezogenheit jedes Ich auf ein Du, in welcher Bezogenheit es überhaupt erst „zu sich selbst kommt“ und in der es von Anfang seines Lebens an erwacht, einerseits kein Ersatz für die augustinische Erkenntnis, anderseits steht sie in gar keinem Widerspruch zu ihr. Wie noch deutlicher werden wird, bildet sie sogar eine Ergänzung zu ihr.
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sprechen, von denen wir vergessen haben, daß sie welche sind und die unserem Leben Sicherheit geben. Obwohl Augustinus und später Descartes den Skeptizismus und Relativismus widerlegt haben, so ist doch bald nach Descartes – vor allem durch David Hume und Kant – die Möglichkeit, Wahrheit zu erkennen und selbst die Wahrheitsfrage tödlich getroffen worden, was Nietzsche wie kaum ein anderer Philosoph erkannte. Seitdem haben erschreckend viele Menschen und Philosophen diese Frage aus dem Bewußtsein zu verdrängen gesucht und hängen einer aus dem Verzicht auf wirkliche Wahrheit geborenen Idee einer rein persönlich existentiellen „Wahrheit“, die eigentlich nur dem Leben dienende Illusionen sind, die man nicht als solche durchschaut.258 Kants kopernikanische Wende, nach der sich nicht mehr unser Erkennen, sondern die Dinge nach unserem Geist richten sollen, war eine tödliche Wunde, die selbst die sinnvolle Frage nach der Wahrheit, geschweige denn das Bewußtsein ihrer Erkennbarkeit in der Neuzeit erhalten hat. Nietzsche selbst hat das so tief erkannt wie kaum ein anderer Denker – und darunter bis zur Verzweiflung gelitten. Zugleich aber hat er diese Wunde wie unauslöschlich eingebrannt in den Geist vieler – so sehr, daß man diese Wunde bereits wieder anfängt zu vergessen. Nietzsche erliegt dieser Wunde nicht wie Kleist in Verzweiflung und Selbstmord – obwohl er diese Verzweiflung an der Wahrheit zunächst als die angemessene Antwort schildert – sondern in Nietzsche verwandelt sich dieser „Tod der Wahrheit“, den er so tief erschaut hat, statt daß er ihn besiegt, in ein neues, unheimliches, gegen die Wahrheit gerichtetes Leben des Geistes, der – von der eigentlichen Lebensquelle abgeschnitten – nun jenseits von Gut und Böse, von wahr und falsch fortlebt. Und nur von diesem Punkt eines Lebens unabhängig von der Wahrheit, in
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Und vielleicht ist es diese Verdrängung und Abschiebung der Wahrheitsfrage, die die verhängnisvollsten Störungen in der Seele der Menschen hervorgerufen hat, und es wäre auch erstaunlich, wenn die Verdrängung dieser Urfrage des Menschen ohne neurotische und andere Störungen vor sich gegangen wäre. Hier liegt eine Richtung psychologisch-metaphysischer Forschung, zu der etwa Viktor Frankls Logotherapie überaus verdienstvoller Weise eine Tür aufgemacht hat, in der aber noch ungeheuer viel weiter gegangen werden müßte, um auch nur einen Bruchteil der psychologischen Gegebenheiten zu erfassen.
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Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, können Nietzsches Positionen zur Gottes- und Religionsfrage verstanden werden. Wir wissen aber noch immer nicht, woher der Trieb zur Wahrheit stammt: ... von der Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen, herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen. Nun vergißt freilich der Mensch, daß es so mit ihm steht; er lügt also in der bezeichneten Weise unbewußt und nach hundertjährigen Gewöhnungen – und kommt eben durch diese Unbewußtheit, eben durch dies Vergessen, zu dem Gefühl der Wahrheit.
Hier sieht man auch, wie die Tiefenpsychologie über Nietzsche von Kant herkommt, was Freud selbst teilweise zugegeben hat. Es ist entscheidend zu sehen, wie Nietzsche hier in genialer Weise ganz den Grundgedanken Kants entwirft: Nicht mehr und nicht weniger bedeutet Kants „kopernikanische Wende“! Zugleich schildert Nietzsche die Aushöhlung der bisherigen, der einzigen Idee der Wahrheit (die zumindest ein von der Philosophie unverdorbener, „naiver“ Mensch kennt), die in Kants Philosophie enthalten ist, so gewaltig, daß man den Kantischen Gedanken in dem Licht sieht, in dem er Kleist in die Verzweiflung getrieben hat. Endlich klingen schon hier Töne „dionysischer Musik“ an, mit der Nietzsche sich von der Verzweiflung Kleists „erlösen“ und jenseits der wahren, der einzigen Lebensquelle leben will. Zunächst bleibt entscheidend zu sehen, wie hier Nietzsche ganz die Philosophie Kants ergriffen hat, sie zugleich aber anders – meiner Überzeugung nach tiefer als Kant – versteht: Kants Tragik liegt darin, daß er sozusagen, um die Objektivität und Absolutheit der Wahrheit zu retten, die Erkenntnis für eine Art notwendigen Irrtum erklärte, nämlich für Anschauungen und Urteile, die nicht mit jener Wirklichkeit übereinstimmen, mit der sie übereinzustimmen scheinen, mit den Dingen an sich: dadurch will Kant uns aber doch wieder zu einer absoluten Wahrheit führen. Indem er auf die phantastisch-geniale Idee verfiel, die Erkenntnis-Ding-Relation auf den Kopf zu stellen, glaubt er die Wahrheit – auf andere Weise – neu begründet zu haben. Dabei widerspricht er sich selber in der erwähnten, fast unverständlich-krassen Weise: Indem er behauptet, die Erkenntnis erreiche nie „das Ding an sich“, sondern sei nur eine Anwendung von im Gemüte bereitliegenden
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Kategorien auf das Ding, will er ja „das Ding der Erkenntnis an sich“ begriffen haben. Wenn Kant nicht nur allgemein, sondern auch hier den wesenhaft rezeptiven Charakter aller Erkenntnis leugnet, dann ist ja auch, was er über die Erkenntnis sagt, nur eine spontane, konstruktive Tätigkeit des Verstandes und verliert damit jedes Interesse als Aussage über die Erkenntnis selbst. Die Erkenntnis als eine rezeptive, transzendierende und nicht transzendentale Tätigkeit des menschlichen Geistes ist eine so elementare Gegebenheit, daß sie zu leugnen sie schon wieder notwendig voraussetzt. In diesem Zusammenhang wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf folgende Tatsache richten: Einerseits ist Kant befriedigt mit dieser „Lösung“ des Erkenntnisproblems. Dabei übersieht er, wie es – ich sehe jetzt von dem besonders schwierigen Fall der sekundären Sinnesqualitäten ab259 – einen unermeßlichen Unterschied macht, ob ich das Seiende so erkenne, wie es unabhängig von meinem Geiste ist, oder ob ich immer einen notwendigen Irrtum begehe, ob ich die Wirklichkeit mit meinem Geiste erreiche oder nur eine auf den Menschen relative „Erscheinungswelt“, ob die Notwendigkeit meiner Erkenntnis nur in „Zwangsideen“ meines Geistes besteht oder den notwendigen Wesenheiten der Dinge selbst entstammt. Dabei entgeht Kant ferner, daß im Augenblick, in dem ich Raum und Zeit und die Verstandeskategorien als Produkte des Geistes erkläre (ob es ein sogenanntes transzendentales oder „das empirische Ich“ ist, das das vollbringt, bleibt völlig gleich), notwendig auch die anderen Menschen, ihre Akte, Freuden, Leiden, ja das ganze Leben dann notwendig nur eine Konstruktion („Illusion“, wie Nietzsche besser formuliert) ist. Die anderen Menschen kenne ich ja auch nur durch Raum und Zeit; schon wenn ich nur diese beiden wegnehme, bleibt vom andern Menschen-ansich (und allein dieser interessiert mich, wenn ich nicht ein metaphysischer Solipsist bin: so hat Gabriel Marcel die Philosophie Heideggers einmal bezeichnet) nichts mehr übrig: um wieviel mehr, wenn ich elementare Elemente der Wirklichkeit wegnehme, wie Realität, Einheit, Vielheit, 259
Vgl. D. von Hildebrand, „Independence and Objectivity“, wo sich vor allem auch eine eingehende phänomenologische Analyse der verschiedenen Begriffe von ‚subjektiv‘– ‚objektiv‘ findet. Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?; Che cos’è la filosofia?/What Is Philosophy?, Kap. 5.
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Kausalität, Substantialität, Negation etc., die Kant der unabhängig von meinem Geist existierenden Welt abspricht. Dabei übersieht Kant, daß – ungleich den sekundären Sinnesqualitäten, deren eigentliches Sosein (Farbe, Ton) zu begreifen Sinnesorgane voraussetzt – die ganze Natur, die äußere Welt, vor allem die anderen Personen (ganz zu schweigen von Gott oder all der Wahrheit, an die ich glaube!) ihrem Wesen nach autonomes Selbstsein „beanspruchen“, ja überhaupt nur sind, wenn sie unabhängig von unserem Erkennen sind und ein eigenes Sein „außer“ uns und jedem (auch noch so absoluten!) Geist haben. In dem Augenblick, in dem ich das leugne, wird nicht nur die Existenz von Raum und Zeit und anderen Menschen, sondern darüber hinaus noch meine eigene Existenz ihrer „Substanz“ entleert, innerlich ausgehöhlt und sinnlos. Anderseits aber ist Kant von einer halb edlen, halb unbegreiflichen Inkonsequenz, wenn er mitunter doch, zumindest im Bewußtsein sittlicher Forderungen und Postulate, annimmt, wir erreichen das Ding-an-sich.260 Nietzsche versteht dieselben Gedanken zunächst konsequenter (wodurch sie allerdings objektiv noch widersprüchlicher werden. Jeder konsequente metaphysische und epistemologische Irrtum widerspricht sich immer mehr, je konsequenter ich ihn durchdenke): Einerseits begreift er, daß der Mensch immer die Außenwelt, metaphysische Prinzipien und vor allem andere Personen und Gott als eine von seiner Erkenntnis unabhängige Wirklichkeit nimmt. Er versteht, daß unsere Erkenntnis dieser Welt in sich zusammenbricht und furchtbar ausgehöhlt wird, wenn ihr „Unabhängigkeitsanspruch“ nicht zu Recht besteht. Er versteht noch viel mehr, daß durch Kants kopernikanische Wende all unsere Erkenntnis in der Wurzel getroffen ist. Nietzsche sieht deshalb viel tiefer, wenn er das, was Kant als „Erkenntnis“, als „Wahrheit“ erklärt, „Illusionen“ nennt. Nietzsche begreift auch hier noch Kants Philosophie in dem nämlichen Sinne, der Kleist zur Verzweiflung getrieben hat. Nietzsche hat eine zu unmittelbare, zu ursprüngliche Beziehung zu den Dingen, um zu übersehen, daß „wahrhafte
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In bezug auf die „Vernunftideen“ (Gott, Seele, Welt) und Postulate ist dies zweifelhaft und z.B. Gott wird von Kant wirklich als vom Menschen bloß „gemachte Idee“ bezeichnet. Vgl. die Zitate in meinem Buch Erkenntnis objektiver Wahrheit, S. 137, Anm. 173.
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Wahrheit“ in einem transzendierenden Begreifen der Dinge an sich bestünde. Kant zerstört zuerst den Begriff der Wahrheit, „vergißt“ das aber sozusagen nachher wieder, ja er meint sogar, durch diese Zerstörung die Wahrheit wieder erreichen zu können. Sein letztes Ziel ist doch in gewissem Sinn wieder die Wahrheit (und zwar im eigentlichen Sinn des Wortes, nicht in seiner „Interpretation“). Nietzsche übernimmt mehr und mehr den „kopernikanischen Wahrheitsbegriff“ Kants, er übernimmt ihn und versteht ihn – wie Kleist – tiefer und konsequenter als Kant: als Verzweiflung an der Wahrheit.261 Aber Nietzsche verzweifelt nicht, obwohl dies sowie der Gedanke an Selbstmord immer wieder als Möglichkeit in ihm durchbrechen. Nietzsche übernimmt immer mehr den Kantischen Gedanken: – trotz namenloser Leiden und mit immer wiederkehrenden Widersprüchen – den Gedanken, daß wir in nichts die Wirklichkeit so erfassen, wie sie ist.262 Mit all dem aber haben wir noch nicht die „Eigenart‘ Nietzsches getroffen.
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Obwohl die existentielle Verzweiflung Kleists die einzigklassische Antwort auf das Verzweifeln an der Wahrheit darstellt, so liegt doch in diesem selbst, vor allem aber im „es im Zweifel nicht Aushalten“ von dem Nietzsche spricht, einerseits der innere Widerspruch, daß diese Verzweiflung in ihrer Motivation schon wieder viele Erkenntnisse einschließt, und andererseits auch eine unklassische Haltung. Da ja das Gegenteil, daß die Wahrheit nicht zu erreichen ist, niemals erkannt werden kann, weil es falsch ist und lauter Widersprüche birgt und „nichts Falsches kann erkannt werden“ (Platon), dürfte ein Mensch auch nie endgültig verzweifeln, sondern ein sehnsüchtiges, geduldiges Hoffen trotz aller Qual wäre die klassisch-menschliche Haltung im Zweifel: eine Bereitschaft zu verzweifeln, falls es keine Wahrheit über den Tod hinaus gibt und zugleich eine noch viel größere Bereitschaft und Sehnsucht, alles zu tun, solange zu warten, als gefordert ist, bis man die Wahrheit erreicht. Die Tiefe der Verzweiflung wenn es keine Wahrheit gibt – muß sich an der Tiefe der Hoffnung und Sehnsucht beweisen, solange zu warten, als auch nur ein Funke Hoffnung besteht, die Wahrheit zu finden. (Viele andere unklassische Elemente in Kleists edler Natur, z.B. ein großer Ehrgeiz, haben mit zum Selbstmord geführt.) Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (München-Berlin-New York: Deutscher Taschenbuch Verlag; Walter de Gruyter, 1988), Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral, S. 424 ff., I, 16.
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Nietzsche nimmt (in vielen erschütternden und bedeutsamen Übergängen, die wir hier nicht zeigen können) den Kantischen Gedanken weder mit Kants Befriedigung über den „Ausweg“ noch mit Kleists ergreifender Verzweiflung an, sondern mit einem „höhnischen Lachen“ sozusagen. Nietzsche greift die Wahrheitsfrage in dem einzigen Punkte an, in dem man sie (in einem bestimmten Sinn) ohne inneren Widerspruch angreifen kann. Nietzsche gibt sich an einem entsetzlich-tiefen Punkte mit Kants Gedanken „zufrieden“, vor dem Kant entsetzt fliehen würde, obwohl sein Gedanke philosophisch konsequent dorthin steuert – nämlich an dem Punkte eines Lebens ohne Wahrheit und einer Leugnung des Wertes der Wahrheit: Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen, schlimmen, fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte und doch – scheint es, daß sie kaum eben angefangen hat? Was Wunder, wenn wir endlich einmal mißtrauisch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Daß wir von dieser Sphinx auch unsrerseits das Fragen lernen: Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich ,zur Wahrheit‘? – In der Tat, wir machten lange halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens – bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehenblieben. Wir fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewißheit? Selbst Unwissenheit? – Das Problem vom Werte der Wahrheit trat vor uns hin – oder waren wir’s, die vor das Problem hintraten? Wer von uns ist hier Ödipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen. – Und sollte man’s glauben, daß es uns schließlich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher gestellt – als sei es von uns zum ersten Male gesehn, ins Auge gefaßt, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei und vielleicht gibt es kein größeres.263
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Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe. Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral, S. 424 ff.
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KAPITEL 7 Das Leben . . . geheimnisvoller – von jenem Tage an, wo der große Befreier über mich kam, jener Gedanke, daß das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe264
Dies nennt Heidegger in seinem Buch über Nietzsche mit Recht die „Grunderfahrung, die sein Denken bestimmt“. Man könnte hier auch beweisen, daß Heidegger sich in seinem Buch über Nietzsche ganz mit dieser „Grunderfahrung“ identifiziert. Wir wollen noch ein Zitat anführen, in dem Nietzsche noch deutlicher sagt, was diese „existentielle Grunderfahrung“ eigentlich ist: Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze „Mensch“ am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass dies jedes Mal unter den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass dazu die Gefährlichkeit seiner Lage erst in‘s Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft (sein „Geist“ –) unter langem Druck und Zwang sich in‘s Feine und Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten MachtWillen gesteigert werden musste: – wir vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species „Mensch“ dient, als sein Gegensatz… 265
Angesichts unzähliger solcher Stellen kann man nicht, wie es von vielen Autoren (z.B. in G. Thibons Buch über Nietzsche) versucht wird, Nietzsches Philosophie von dem Vorwurf reinwaschen, alle Greuel der Nazizeit (oder andere Verbrechen) zu rechtfertigen, wobei man sich auf die „Banalität“ der Nazizeit beruft. Auch Religion und der religiöse Akt betreffen immer die existentielle Wahrheit im ersten erwähnten Sinn, das existentielle, gelebte Verhältnis und die Beziehung des Menschen zum Höchsten, das er kennt oder anerkennt. In diesem weiten Sinn von Religion kann auch das Verhältnis 264
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Die fröhliche Wissenschaft, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke : kritische Studienausgabe, Bd. 3, IV. Buch, 324-1882. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse: Zur Genealogie der Moral, II. Hauptstück, „Der Freie Geist“, Aph. 44.
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des Atheisten zur Materie oder zum Menschen als dem höchsten Wesen religiösen Charakter haben, was man vor allem dann behaupten wird, wenn man mit Max Scheler die Unvermeidlichkeit des religiösen Aktes in irgendeiner Form oder Zerrform annimmt.266 Nietzsche lebt ein solches Pathos und verkündet eine solche „Religion des Atheismus“ und des Übermenschen. Doch angesichts der sinnvollen Entsprechung zwischen intentionalen Akten und deren Gegenständen ist der religiöse Akt oder sind die religiösen Akte des Glaubens, der Anbetung usf. in ihrer Reinheit und Vollständigkeit nur in dem Maße möglich, in dem jener unerfindbare Gegenstand des göttlichen Wesens erkannt und anerkannt wird, jenes id quo maius nihil cogitari possit, ohne das authentische Religion unmöglich ist. In merkwürdig luzider Weise hat Nietzsche gerade das erkannt. Zugleich betrachtet Nietzsche die Religion – ähnlich wie Marx – als eine Art Überbau. Ich zitiere Schwarz: Aber damit, daß man die Gottesfrage in den ideologischen Überbau verweist, hat man sie im Grunde schon vorentschieden. Denn alles in diesem Überbau ist, nach Marx, Illusion, „schlechtes Bewußtsein“. Für uns, die wir nicht gewillt sind, solche Vorentscheidung hinzunehmen, bleibt die Frage, ob Gott ist, von ungeheurem Gewicht. „Es handelt sich um uns selbst und um unser alles“, sagt Pascal. Schon der junge Marx schreibt: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“ (Seite 207) und „Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und ihnen entsprechende Bewußtseinsformen behalten ... nicht länger den Schein der Selbständigkeit“ (Seite 349). Somit ist „die Kritik keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft . . . Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, den sie vernichten will“ (Seite 210).267
Um Nietzsches Religionsphilosophie zu verstehen, muß man zwei radikal verschiedene Bedeutungen derselben unterscheiden, die seinen 266
267
Vgl. Max Scheler, „Probleme der Religion“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, 5. Aufl. (Bern und München: Francke Verlag, 1968), S. 101-354. Balduin Schwarz, Antwort an einen Atheisten (Reden zur Zeit, Bd. 26). (Würzburg 1968).
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radikal verschiedenen Haltungen gegenüber der „Wahrheit“ genau entsprechen. Einmal betrachtet er diejenigen Akte mit großer Tiefe, die allein Gott gebühren, und sieht eine Welt, in der es keinen Gott gibt, als Grund zur Verzweiflung an. Es gibt auch eine andere, haßerfüllte Religionsphilosophie bei Nietzsche, in der er dieselbe Lehre vom Tod Gottes als Quelle äußerster Erfüllung des Willens zur Macht und der Freude sieht. Um die erste und tiefere Form seiner Religionsphilosophie zu verstehen, müssen wir zunächst diejenige Haltung philosophisch erfassen, die ihr zugrundeliegt: Es gibt ein Zentrum in der Seele des Menschen, das wahre Lebenszentrum des Geistes, in dem der Mensch so auf die Wahrheit hingeordnet ist und auf die Wirklichkeit in der Fülle ihrer in sich ruhenden Bedeutsamkeit und Kostbarkeit, daß er entwurzelt wird, zerstört wird in dem Augenblick, in dem er verzweifelt, je die Wahrheit erreichen zu können. Lebt der Mensch in und aus diesem Zentrum, so ist der Augenblick, in dem ihm verkündet würde: Alle Güter, auf die antwortend du glücklich warst, alle Menschen, die du geliebt hast, alle Wahrheit, die du zu erkennen glaubtest, Gott selbst – all dies ist nicht unabhängig von dir, all dies wird mit deinem Tode „nichts“ mehr sein – dieser Augenblick ist dann sein Tod und Verzweiflung die einzig gebührende Antwort, aus der nichts ihn erretten kann und soll außer der Wahrheit, die eine solche Rede widerlegt. Dieses Zentrum ist jenes „heiligste Innere“, von dem Kleist spricht, es ist der Ort, von dem Platon gesprochen hat, der Ort der Seele, wo wir die Wahrheit lieben. Es ist jenes Zentrum in uns, in dem wir Antworten auf moralisch verpflichtende Güter geben und vor Grausamkeit, Bosheit, Neid, teuflischem Haß, Begehrlichkeit, Unreinheit, Untreue, Verrat, Verleumdung, Mord zurückschrecken, wo wir mit Sokrates den Tod nicht scheuen im Vergleich zu dem Abscheu über all dieses. Es ist der Ort in uns, wo wir uns nach unserer wahren Heimat sehnen, von der Platon im Phaidros ahnungshaft spricht. Wenn wir dort unsere Wurzeln haben, dann nehmen wir die Wirklichkeiten, auf die wir in all den genannten Akten antworten, notwendig als von uns unabhängig bestehende Wirklichkeiten ernst – oder wir verwerfen sie. Und in diesem Sinne versteht Nietzsche auch den religiösen Akt als einen Akt, dessen Sinn verlangt, daß Gott unabhängig von uns besteht.
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Sonst ist Gott nur die größte Lüge und die größte Illusion, von der man vergißt, daß sie eine ist. Die Position Kants in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft,268 der zur Folge Gott keine von unserem Geist unabhängige Wirklichkeit, sondern nur eine subjektive Schöpfung ist, ist deshalb für Nietzsche nicht eine Religionsbegründung, sondern der Erweis, daß Gott tot ist, in der kopernikanischen Wende und Relativierung und Subjektivierung der Gottesidee ist diese entthront worden: Excelsior! – Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren – du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten – du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluten in seinem Herzen trägt – es gibt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr – es gibt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen irgendeinen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden – Mensch der Entsagung, in alledem willst du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte niemand diese Kraft!269 Wohin ist Gott? Haben wir denn das Meer ausgetrunken? Was war das für ein Schwamm, mit dem wir den ganzen Horizont um uns auslöschten? Wie brachten wir dies zustande, diese ewige Linie wegzuwischen, auf die bisher alle Linien und Masse sich zurückbezogen, nach der bisher alle Baumeister des Lebens bauten, ohne die es keine Perspektiven, keine Ordnung, keine Baukunst zu geben schien?270
268
269
270
Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793, zweite vermehrte Auflage, 1794). Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft 285, in: Werke in drei Bänden; und Nietzsche-Index zur Ausgabe von K. Schlechta, Bd. II, S. 166-7. Gott ist tot (Toller Mensch), Die fröhliche Wissenschaft, in: Nietzsche, Werke, Bd. II, S. 7-274, S. 126: Nr. 124-125. Vgl. Eugen Biser, „Nietzsches Kritik des christlichen Gottesbegriffs und ihre theologischen Konsequenzen“, Philosophisches Jahrbuch 78 Jg 1971. Ders., „Gott ist tot“: Nietzsches Destruktion des christlichen Bewusstseins (München: Koesel, 1962). Siehe auch Balduin Schwarz, Antwort an einen Atheisten, S. 28, 31.
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KAPITEL 7
Und eine solche Auffassung widerspricht dem Sinn jedes Urteils ebenso wie jenem der veritas vitae, wie wir gesehen haben. 2.4. Kritik an der existentialistischen subjektiven Wahrheit als Ersatz der objektiven Wahrheit und als Umdeutung der Wahrheit in eine leidenschaftliche Übereinstimmung allein mit sich selber oder als Selbstschöpfung, in der wahr einfach das wäre, von dem ich will, daß es wahr sei
Wieder anders und noch radikaler antithetisch zur klassischen Wahrheitsdefinition wird die subjektive oder existentielle Wahrheit verstanden, wenn man sie als Ersatz der Urteilswahrheit und als Wesensdefinition der Wahrheit auffaßt. Diese Auffassung, nach der Anschauungen, Überzeugungen, Urteile etc. einfach dadurch wahr wären, daß sie die existentiellen Bedürfnisse des Menschen, die Authentizität seiner Existenz und seines Lebensprojekts sowie seine Überzeugungen gewährleisteten bzw. zum Ausdruck brächten, stellt eine radikale Umdeutung des Sinnes der Wahrheit dar, eine Theorie, in der die Lüge zur existentiellen Wahrheit erklärt und das evidente Wesen der Urteilswahrheit geleugnet wird. Auch die (in Verbindung mit einer funktionalistischen Wahrheitstheorie vorgebrachte) Idee, wahr sei, was zur subjektiven Kontingenzbewältigung beitrage, verkennt, daß die einzige des Menschen würdige Kontingenzbewältigung in einer Wahrheit liegen kann, welche auf die Rätsel der Kontingenz, des Leidens, des Bösen und des Todes Antwort gibt, und zwar eine Antwort, welche wahr ist, nicht irgendeine fiktive Selbsttäuschung darstellt.271 Die Sartre’sche Auffassung der Wahrheit des Urteils als schöpferisch verkennt den andernorts herausgearbeiteten rezeptiven Grundzug jedes Erkennens272 und setzt gegen dieses Urphänomen des Erkennens der Dinge, wie sie sind, einen „Entwurf“ des Subjekts, welcher seiner notwendig geforderten Begründung in der Wahrheit verlustig gegangen ist. 271 272
Siehe Fussnote 245. Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis; ders., Wahrheit und Person, Kap. 2; ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism. Vgl. Auch Dietrich von Hildebrand, Che cos’è la filosofia?/What Is Philosophy?, Kap. 1-2.
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Die Sartre’sche Grundidee, daß das Subjekt wesens- und damit wahrheitsschaffend und sich selbst schaffend sei, ja jene absolute willkürliche Freiheit im Schaffen der Wahrheit, sogar der ewigen Wahrheiten, besäße, die Descartes Gott zugeschrieben hat, stellt, wie wir im Licht der Analyse der Erkenntniswahrheit und der Urteilswahrheit sehen, einen Angriff auf die innerste geistige Substanz der Person dar.273 Wie alle ähnlichen Theorien springt auch hier der innere Widerspruch in die Augen: Wollen uns nicht Nietzsche und Sartre sagen, was der Kern menschlicher Freiheit und existentieller Wahrheit ist? Und setzt er damit nicht notwendig genau das voraus, was er leugnen möchte: daß Wahrheit darin liegt, im Erkennen und im objektiven Urteil dem zu entsprechen, was die Freiheit und jegliches sonstige Sein wirklich sind. Die Trennung der existentiellen Wahrheit von der Urteilswahrheit im Sinne der adaequatio erreicht in der komplexen Philosophie der Wahrheit Heideggers eine neue Form, der wir uns jetzt in der kritischen Erörterung des Streites um die Wahrheit zuwenden möchten. Dabei werden wir auch die allgemeine kritische Analyse des existentialistischen Wahrheitsbegriffs, des Themas dieses Kapitels, wesentlich erweitern.
273
Vgl. dazu Jean-Paul Sartres Nachwort zu René Descartes, Discours de la méthode (franz.-dt.); mit einem Vorwort von K. Jaspers und einem Beitrag J.-P. Sartres, „Descartes und die Freiheit“ (Mainz: Internationaler Universumverlag, 1948).
KAPITEL 8 HEIDEGGERS VERWERFUNG DER ADÄQUATIO-(ORTHÓTES) THEORIE DER WAHRHEIT UND KRITIK AN SEINER WAHRHEITSTHEORIE UND THESE VOM WESENSWANDEL DER WAHRHEIT
1. Einige positive Beiträge Heideggers zur Philosophie der Wahrheit Wir haben bisher zu wiederholten Malen, vorwiegend positiv würdigend, auf eine Reihe wichtiger Einsichten Heideggers in die Wahrheit hingewiesen. Heidegger beginnt seine Ausführungen über das Wesen der Wahrheit mit der Aufforderung, das Wesen der Wahrheit nicht wie eine Selbstverständlichkeit anzunehmen, deren Beantwortung man dem gemeinen Menschenverstand überlassen dürfe, sondern sie ganz neu zu überdenken. Was könnte angesichts der Wahrheit ein angemessenerer Aufruf sein? Heidegger versucht, die Frage nach der Wahrheit ganz neu zu stellen und das ans Licht zu bringen, was Wahrheit in ihrem eigentlichsten Wesen ist; er betont mit vollstem Recht die immense Bedeutung nach dem Wesen der Wahrheit und wie wenig diese den verbreiteten Verdacht, die unnützeste aller Fragen zu sein, bestätigt.274 Er weist mit ebensolchem Recht auf die Notwendigkeit hin, den Begriff der Übereinstimmung zu klären und nicht für selbstverständlich zu nehmen. Obwohl er dabei ganz statthafterweise verlangt, nicht den gemeinen Menschenverstand als Richtmaß dafür zu nehmen, was Wahrheit ist, so klingt hier bereits jene absolut neue und m.E. verkehrte und verworrene Wahrheitstheorie an, auf die wir im einzelnen kritisch eingehen werden.275 Scharfsinnig unterscheidet Heidegger einige Bedeutungen von Übereinstimmung und Ähnlichkeit, die sicherlich nicht gemeint sein können, wenn man die Wahrheit als Übereinstimmung, adaequatio oder homoiosis bestimmt: Wahrheit kann keine Ähnlichkeit zwischen Satz und Sachen 274
275
Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967), S. 178 f. Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 178-182.
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KAPITEL 8
(Sachverhalten) bedeuten, der Art wie die Ähnlichkeit zwischen zwei Geldstücken. Denn das Urteil (außer dem Urteil über das Urteil selbst) ist gänzlich von den durch es gemeinten Sachen und Sachverhalten verschieden; und selbst in dem Fall eines Urteils über das allgemeine Wesen des Urteils, eine bestimmte Gruppe oder Art von Urteilen, oder über ein bestimmtes Urteil, besteht seine Wahrheit nicht in der Übereinstimmung seiner Ähnlichkeit mit dem Urteil, das Gegenstand des ersten Urteils ist. In dem Falle des Urteils, „Das Geldstück ist rund“, etwa ist das Geldstück aus Metall, das Urteil überhaupt nicht stofflich: „das Geldstück ist rund, die Aussage hat überhaupt nicht die Art eines Räumlichen. Mit dem Geldstück kann man etwas kaufen. Die Aussage darüber ist niemals ein Zahlungsmittel…“276 Wenn wir auf die Art, wie etwas völlig Ungleiches, die Aussage, sich an Dinge angleichen könne, erwägen, so sehen wir ein, wie Heidegger in einem schönen Teil seiner Schrift ausführt, wie hier überhaupt kein dinghaftes Gleichwerden zwischen ganz ungleichartigen Dingen gemeint sein kann und gelangen zu einer sehr wichtigen phänomenologischen Einsicht: „Das Wesen der Angleichung bestimmt sich vielmehr aus der Art jener Beziehung, die zwischen der Aussage und dem Ding obwaltet.“277 2. Erste Darstellung der Gegenstände unserer Kritik der Heidegger’schen Philosophie der Wahrheit als Freiheit Doch anstatt von hier aus zu einer weiteren Analyse der einzigartigen Form der adaequatio überzugehen, die wir im Urteil finden278, wendet sich Heidegger zunächst von der Analyse der Art der „Angleichung“ des Urteils zur Untersuchung der nicht dem Urteil selbst, sondern dem Seienden zukommenden (der ontologischen) Wahrheit zu. Dabei geht Heidegger nicht mit derselben sachlichen und differenzierten Analyse, in welcher er zuvor die Weisen, in denen die Wahrheit als Übereinstimmung nicht verstanden werden dürfe, behandelt hat, auf das Wesen der ontologischen 276 277 278
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 183. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 183. Und im Kapitel 3 des Bandes Wahrheit und Person zu klären versuchten.
Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit
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Wahrheit ein, sondern ergeht sich statt dessen in mehr als obskuren Übergängen in etwas, was man nicht anders denn als dichterische oder pseudodichterische Sprach- und Gedankenspiele bezeichnen muß. So sagt er etwa in der für ihn fast zum Markenzeichen gewordenen gekünstelten Sprache, das „Entgegenstehende des Urteils“ müsse „ein offenes Entgegen durchmessen“ oder beim Verhältnis zwischen Ding und Aussage gehe es um ein „Verhalten“, das sich „zum Schwingen bringt“.279 Danach macht er wiederum einige sehr interessante Bemerkungen, die nähere Reflexion verdienen würden: Es gehe bei der Wahrheit des Seins gar nicht um ein Verhältnis, sondern um Seiendes, das ein Offenbares sei und seit ehedem als „Anwesendes“ gefaßt werde, usf. Nach diesen knappen Ausführungen wird wiederum die adaequatio mehr durch undurchsichtige Ausdrücke weiter umschrieben als sorgfältig untersucht, indem Heidegger Offenbares als „Richtmaß für vor-stellende Angleichung“ bezeichnet und sagt: „Das offenständige Verhalten selbst muß dieses Maß sich anweisen lassen.“ 280 Dann aber müsse „das, was die Richtigkeit erst ermöglicht, mit ursprünglicherem Recht als das Wesen der Wahrheit gelten.“281 Soweit, so gut. Heidegger könnte hier auf die ganz andere Bedeutung und Wesenheit der Wahrheit der Dinge, der ontologischen Wahrheit,282 hinweisen, aber, wie schon sein Versuch, ein einheitliches Wesen oder eine einheitliche Definition von Wahrheit zu finden, die all diese Arten von Wahrheit (des Seins, des Erkennens, des Urteils, des Lebens, usf.) umfaßt, verliert er sich in der Vermengung dieser Bedeutungen von Wahrheit so, als müßte man im Hinblick auf die ursprünglichere Wahrheit des Seins selbst die Wahrheit als Übereinstimmung ganz zurücktreten lassen, wenn nicht geradezu verwerfen, indem man auf den Grund der Ermöglichung der Richtigkeit blicke. Dieser wird nun in einem „Offenen für ein aus diesem waltendes Offenbares“ und zugleich als Freiheit gesehen, was eher die richtige Haltung charakterisiert, die der Erkenntnis der Wahrheit vorhergeht und 279 280 281 282
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 184. A.a.O., S. 185. Ebd., S. 185. Diese haben wir in Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1, ausführlich erörtert.
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sie ermöglicht, als das Wesen der Urteilswahrheit, obwohl er die Freiheit nicht auf die Haltung der Person gegenüber der Urteilswahrheit, sondern auf die Wahrheit des Urteils selber bezieht, so als könnte ein aus Begriffen bestehendes logisches Urteilsgebilde frei sein, und sagt: „Das Wesen der Wahrheit, als Richtigkeit der Aussage verstanden, ist die Freiheit“, ja die „Freiheit ist das Wesen der Wahrheit selbst.“283 Wie kann man aber dann noch Lüge und reinste Subjektivität von Wahrheit unterscheiden, wenn man sie als Freiheit begreift, fragt Heidegger sich selbst? Auch wenn Heidegger zunächst (durch die Bestimmung der Urteilswahrheit durch Merkmale, die eher von Akten der Überzeugung und des Urteilens oder von deren personalen Subjekten gelten) eine gewisse Übereinstimmung mit diesem Wahrheitsbegriff beibehält und sich noch im Rahmen einer Aufklärung der besonderen Art von Übereinstimmung zwischen Urteil und Sachverhalt zu bewegen scheint, so weicht er von dieser doch stark und zunehmend gänzlich ab. Er bestimmt zwar zunächst die Freiheit als „Freiheit für das Offenbare des Offenen“ oder als „Sein-lassen“ und „das Sicheinlassen auf das Seiende“, als Entborgenheit und Entbergung des Seienden, Termini, die noch die Idee einer adaequatio voraussetzen.284 Die Wahrheit aber, so meint Heidegger, könne überhaupt nicht, wie man bisher fast allenthalben annahm, und jedenfalls nicht in erster Linie, die Richtigkeit von Sätzen oder auch „das Stimmen“, sei es des Satzes, sei es der Sache, durch eine Angleichung an ihre Idee, bedeuten: „Die ‚Wahrheit‘ ist kein Merkmal des richtigen Satzes, der durch ein menschliches ‚Subjekt‘ von einem ‚Objekt‘ ausgesagt wird …“ Und von hier aus geht Heidegger einen radikalen Weg des Subjektivismus der Wahrheitsdeutung, und zwar in verschiedenen Weisen, auf die wir zurückkommen werden: zum Beispiel indem er die Wahrheit als Akt des Subjekts definiert, sei es als dessen Freiheit, sei es als dessen Entdeckendsein, sei es als Entbergung, etc.285 Insbesondere mit der Gleichsetzung der Wahrheit mit Freiheit hängt auch die These Heideggers zusammen, die Wahrheit sei so eng mit der 283 284 285
Ebd., S. 186. Ebd., S. 187-178. Vgl. a.a.O., S. 191 ff.
Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit
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Unwahrheit verbunden, daß gelte: „Die Wahrheit muß vielmehr aus dem Wesen der Unwahrheit kommen“.286 Diese These, die einen gewissen Aspekt der Erkenntniswahrheit, welcher das Fehlen derselben vorhergeht,287 zum Ausdruck bringt, hat nicht nur darin ihre Wurzel, daß evidenterweise die Wahrheit auch die Wahrheit darüber begreift, was unwahr ist, und in diesem Sinne jede Wahrheit die Unwahrheit enthält und einschließt, aber nicht als einen Teil von ihr, sondern als ihr Derivat und Gegenteil sowie als den Gegenstand der Wahrheit (über alle Unwahrheiten). Diese These Heideggers, die auch die Freiheit des Seinslassens des Seienden der Freiheit des Lügners, der das Seiende nicht sein läßt, gegenüberstellt, hat nicht einmal ihre Wurzel nur in der Identifizierung der Vergessenheit und des Unwissens, die in der Tat einen Gegensatz zur Erkenntniswahrheit bilden, mit dem Irrtum und der Unwahrheit als ganz anderen Gegensätzen zur Erkenntniswahrheit. (Das Unwissen, als ein privativer Gegensatz zur Erkenntniswahrheit, ist gerade nicht dasselbe wie Irrtum.) Heidegger hingegen sieht die absolut verschiedene Wesenheit unvollständiger Erkenntnis und des Irrens nicht.288 Heideggers Auffassung, daß die Wahrheit selbst zugleich Unwahrheit ist und die Entbergung zugleich Verbergung, hat ihre Wurzel auch nicht nur in der Verwechslung zwischen dem tatsächlichen Sachverhalt, daß sich in jeder unvollständigen Erkenntnis und ihrer Wahrheit auch ein Mangel an Erkenntnis verbirgt, mit der Meinung, daß in der Wahrheit der Erkenntnis selber die Unwahrheit stecke bzw. daß Erkenntnis im engeren Sinn sich gar nicht – als wesenhaft wahr – vom Irrtum unterscheide, und so spricht er auch von „falscher Erkenntnis“ und, in seiner künstlichen Sprache, davon daß „in-sistente Ek-sistenz des Menschen in die Irre geht.“289 Seine These hat auch nicht einmal ausschließlich darin ihren Grund, daß Heidegger richtig bemerkt, daß die Seinswahrheit nicht auf eine Richtigkeit reduziert werden kann und daß wir diese ontologische Wahrheit von der Urteilswahrheit unterscheiden und als deren Quelle erkennen müssen. 286 287 288
289
Ebd., S. 191. Vgl. Josef Seifert, Kap. 2. Vgl. Heidegger, op. Cit., S. 192-196. Vgl. auch Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit, I, Kap. 3. Heidegger, ebd., S. 197.
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KAPITEL 8
Vielmehr müsse Wahrheit ganz anderes bestimmt werden als durch orthotes und einen tieferen Ort bzw. ein Fundament im Sein haben; ja noch viel mehr: das Wesen der Wahrheit müsse nicht einerseits in den ontologischen, andererseits in den Dimensionen der Übereinstimmung aufgeklärt, sondern die ganze Bestimmung der Wahrheit als Richtigkeit sei ein Irrweg gewesen und müsse nun endlich überwunden werden. In diesem Zusammenhang vertritt Heidegger eine These, die seiner m.E. gänzlich unfundierten Behauptung der Seinsvergessenheit der ganzen abendländischen Philosophie seit den Vorsokratikern an Ehrgeizigkeit in nichts nachsteht: es habe bei Platon ein „Wesenswandel der Wahrheit“ stattgefunden und damit eine Art „Wahrheitsvergessenheit“: statt dem ursprünglichen Sinn der Wahrheit als Unverborgenheit (Âl®jðeia) sei die Richtigkeit, die adaequatio (die ÔrjðóthV) getreten, und dadurch sei der ursprüngliche Sinn der Wahrheit verstellt worden; auch sei von Platon die als Unverborgenheit und Freiheit zu bestimmende Wahrheit dem „Joch der Idee“ unterworfen worden.290 Und wie Heidegger sich angesichts der „allgemeinen Seinsvergessenheit“ als Wiederentdecker des Seins gebärdet, tritt er im Falle der angeblichen Wahrheitsvergessenheit aufs neue als eine Art Retter, diesmal der Wahrheit in ihrer ursprünglichen Bedeutung, auf, als einer, der den eigentlichen Sinn der Wahrheit wieder entdeckt habe, aber zugleich eine Art schicksalhafte Entwicklung, welche das ganze abendländische Denken vom ursprünglichen Wesen der Wahrheit entfernt habe, eher prophetisch verkünden und diagnostizieren zu müssen als überwinden zu können meint. Er möchte dabei keineswegs nur unsere offenkundige Ohnmacht und Grenzen hinsichtlich einer Umänderung von Bewegungen der Geistesgeschichte anerkennen, sondern behauptet eine Unfähigkeit, in unserer eigenen Philosophie das Wesen der Wahrheit zu entdecken. Mit anderen Worten vertritt er einen Geschichtsfatalismus und legt zugleich eine an Hegel gemahnende Rolle des Philosophen als eine Art „in seiner Zeit gefangenes Sprachrohr des Zeitgeistes“ nahe, anstatt die wahre Rolle des Philosophen als eines Kritikers der eigenen Zeit im Licht ewiger Wahrheit zu erkennen. 290
Zur Unrichtigkeit dieser These vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen.
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Der historische Relativismus ist tief in Heideggers Philosophie verwurzelt und wurde ebenso schonungslos wie exzellent, wenngleich von einer sehr problematischen Fichte’schen Warte aus, von Lauth als in sich widerspruchsvoll und contraevident kritisiert.291 So wird der sogenannte Wesenswandel der Wahrheit in der Geschichte mit einer Geschichte des Seins selbst verwoben. Die ganze Lehre Heideggers läuft auf „die Sage einer Kehre innerhalb der Geschichte des Seyns“292 hinaus, in welche die Frage nach dem Wesen und Wesenswandel der Wahrheit, die in „Wahrheit als Verbergung und Irre“ und einer „Überwindung der Metaphysik“ ende, mündet. All dies ist aufs engste mit Heideggers These verbunden, daß sich im Höhlengleichnis in Platons Staat ein Wesenswandel der Wahrheit ereignet habe. Was genau ist dieser „Wesenswandel der Wahrheit“? 3. Kritische, aufrichtige und allgemeine Vorbemerkungen über Heideggers Philosophie Wenn wir uns nun im folgenden dieser schon angedeuteten Wahrheitstheorie Heideggers und seiner Kritik der platonischen Lehre von der Wahrheit mehr im einzelnen und – trotz der Anerkennung der Wichtigkeit des von Heidegger geforderten echt philosophischen Unterfangens des Neudurchdenkens dessen, was Wahrheit ist, und ungeachtet einiger anderer wichtiger positiver Beiträge Heideggers zu einer Philosophie der Wahrheit – dennoch überaus kritisch zuwenden müssen, so schicke ich dieser Untersuchung einige Vorbemerkungen voraus, die sich mir geradezu aufdrängen: Schon als ich zum erstenmal in meiner Studentenzeit Heideggers Abhandlungen über die Wahrheit las, war ich von manchen außerordentlich bemerkenswerten Passagen und Einsichten Heideggers stark beeindruckt, wirkten jedoch andere Aspekte derselben ausgesprochen aufreizend auf mich und erschienen mir zutiefst falsch und in fataler Weise verwirrt, ja abstoßend; und ich habe in den vergangenen vierzig Jahren 291
292
Vgl. Reinhard Lauth, Die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit (Stuttgart: Kohlhammer, 1966). Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 201.
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KAPITEL 8
meine Meinung über diese gegensätzlichen Aspekte der Heideggerschen Philosophie der Wahrheit nicht geändert. Trotz meiner sich auf viele Punkte beziehenden und schon hinreichend zur Sprache gebrachten Bewunderung mancher Heidegger’schen Beiträge zur Philosophie der Wahrheit denke ich, daß seine Philosophie insgesamt, und ganz besonders seine Wahrheitstheorie, einen gewaltigen Irrweg darstellt, einen Kulminationspunkt der sechsten Krise der Philosophie.293 Aber während Ähnliches auch von Kant und dem späteren Husserl gesagt werden kann, treten bei Heidegger noch aufreizende Elemente hinzu, die sich nicht nur auf Irrtümer eingrenzen lassen, sondern die zu einer verbreiteten Verderbnis echter Phänomenologie und ihres Ideals der Klarheit der prise de conscience der Urgegebenheiten zugunsten eines zutiefst unehrlichen und verworrenen, aber auch aus anderem Grunde abstoßenden Philosophierens geführt haben und nicht zufällig zu Heideggers nationalsozialistischer Zeit und seinem schmählichen Verhalten gegenüber Husserl führten, sondern solches Verhalten gleichsam als Ausgeburt seiner letztlichen Identifizierung von Wahrheit und Irrtum und seiner subjektivistischen und absolut wertfreien und ethik-losen Philosophie der Eigentlichkeit, der Geschichte und des Menschen erscheinen lassen. Der Leser lasse den Autor seine Mißbilligung des ganzen Heidegger’schen Stils des Philosophierens und wesentlicher Teile seiner Philosophie der Wahrheit in Form von Fragen formulieren: 1) Was soll es heißen, das Wesen der Wahrheit, und nicht nur die Meinung Platons oder anderer Philosophen über sie, habe sich gewandelt? Ist eine solche These nicht entweder eine Folge der Verwechslung der grundlegend verschiedenen Bedeutungen und Arten von Wahrheit, die Heidegger in unmöglicher Weise einer einzigen Definition, einem einzigen Wesen der Wahrheit unterordnen möchte,294 obwohl er selbst innerhalb des Abschnitts über den „geläufigen Begriff der Wahrheit“ einige der früher gemachten Unterscheidungen zwischen ontologischer Wahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit sehr gut ausführt, worauf wir schon hingewiesen 293
294
Diese geht auch nach Beginn der 7. Ausfahrt weiter. Vgl. Balduin Schwarz, (Paula Premoli/Josef Seifert ed.), Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen Krisen und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 177-178.
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haben, oder gar nur ein effekthascherischer … Unsinn? Wie soll sich das Wesen der Wahrheit wandeln können? Ferner habe sich dieser Wesenswandel der Wahrheit selbst in Platons Höhlengleichnis vollzogen. Selbst wenn sich das Wesen der Wahrheit gewandelt haben könnte, wie soll es sich im Werk eines bestimmten Philosophen gewandelt haben? Für wie töricht muß Heidegger den Leser zu halten, um derart absurde Behauptungen aufzustellen und zu meinen, die Leser ließen sie ihm hingehen? Weiters wirkt Heideggers Verachtung der Logik aufreizend. Hat er schon in Sein und Zeit den Nachweis logischer Widersprüche einer Position als Argument für ihre Falschheit (einen der klassischen Wege philosophischer Kritik, den wir auch Heidegger nicht ersparen können und den wir bei Platon, Aristoteles, Augustinus, Bonaventura, Descartes, Leibniz, Husserl und anderen großen Denkern finden und der sich schon von der Einsicht in die absolute Gültigkeit des logischen und ontologischen Widerspruchsprinzips als zwingend erweist) herablassend und verächtlich, ohne jede weitere Begründung, als „plumpen Überrumpelungsversuch“ abgetan, so kümmert er sich in seiner Wahrheitstheorie auch nicht im mindesten um die logischen Widersprüche derselben, so als sei die Frage solcher Widersprüche irrelevant und trivial in einem so revolutionären Denker wie er selber, der wie ein Prophet seine Philosophie mehr verkündet als begründet. Dazu kommt Heideggers ungeprüfte und in den Raum gestellte Voraussetzung, daß wenn wir vom Sein, von der Erkenntnis oder vom Urteil sagen, sie seien wahr, derselbe Sinn und dieselbe Bestimmung des Wesens der Wahrheit zutreffen müßten, so als handelte es sich, wenn einmal von der Wahrheit des Seins, dann von jener des Erkennens, dann wiederum von der des Urteils die Rede sei, um ein und dasselbe Phänomen. Von einer solchen Gleichsetzung von Verschiedenem folgen allerdings viele Ungereimtheiten in Platons Lehre, wenn man eine ähnliche Verwirrung bei Platon voraussetzt, bei dem sie nicht besteht. Ohne eine solche beabsichtigte oder unbeabsichtigte Vermengung von grundverschiedenen Wahrheitsphänomenen läßt sich Heideggers Philosophie der Wahrheit nicht denken, aber eine solche Grundlage macht sie eben mehr zu einer vielleicht genialischen Sophistik als zu einer echten Philosophie.
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Werden daher die untereinander objektiv völlig verschiedenen Phänomene, die wir mit dem Wort „Wahrheit“ meinen, von Platon, der Natur der Sache gemäß, verschieden gekennzeichnet, so sei dies der von Heidegger pathetisch als „Wesenswandel der Wahrheit“ bezeichnete Vorgang, anstatt darin einfach Hinweise auf ganz verschiedene Bedeutungen und Bereiche der Wahrheit zu erblicken, die als solche aus rein objektiven Gründen, vom Wesen der Sache her, verschieden bestimmt und definiert werden müssen und überdies durchaus mit einander verträglich sind und nicht gegen einander ausgespielt werden dürfen. Außer all diesen und einer Reihe anderer inhaltlicher Gründe, die uns zu einer scharfen Kritik motivieren werden, ist die Art, in der sich Heidegger über seine größten Vorgänger erhebt, von einer unglaublichen Arroganz des vollkommen unberechtigten Anspruchs eigener überragender Größe des Wahrheitsverständnisses, obwohl er dieses überwiegend mehr verdunkelt hat als je ein Denker vor ihm. Zu alledem kommt, daß Heidegger sich trotz vieler schöner und schlichter Bemerkungen über die Wahrheit, wenn er zum Kern seiner Aussagen gelangt, in einer für den normalen Leser geradezu unerträglich komplizierten, gekünstelten und keineswegs von der Komplexität der Sachen her diktierten Kompliziertheit und Obskurität der Sprache und des Gedankens ergeht. Man kann nicht umhin, ihn jenes „Tief Scheinen Wollens“ zu bezichtigen, das Friedrich Nietzsche dem Tiefsein entgegensetzt: Wer sich tief weiß, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann: ...295
Wollen wir uns daher nicht im Dickicht unergründlichen Dunkels der Sprache und des Denkens verirren, müssen wir Heideggers ausdrückliche und implizierte Aussagen in ihren schlichten Sinn übersetzen und vor allem den Inhalt seiner revolutionär wirkenden Aussagen über die Wahr295
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 173, „Tief sein und tief scheinen“, II/S. 144. Und an anderer Stelle fügt Nietzsche hinzu: Das Publikum verwechselt leicht den, welcher im Trüben fischt, mit dem, welcher aus der Tiefe schöpft.
Menschliches, Allzumenschliches, 2. Band, 262, „Tiefe und Trübe“, I/S. 835).
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heit und seine Abschaffung der Wahrheit als „Übereinstimmung“-suigeneris im Licht einer kritischen Sachanalyse hinsichtlich ihrer Richtigkeit und Haltbarkeit prüfen und, wenn sie sich als unhaltbar erweisen, verwerfen. Ich möchte mir eine weitere Vorbemerkung über Heideggers Wahrheitstheorie gestatten: Trotz allem gegenteiligen Anschein, so als wäre Heideggers Philosophie der Wahrheit eine radikale Rückbesinnung auf das Sein und den ontologischen Sinn der Wahrheit und weg vom relativen und subjektiven Sinn von Wahrheit im Psychologismus und Transzendentalismus, wie er selbst behauptet,296 oder vielmehr so, als stünde sie jenseits des Subjektivismus des Deutschen Idealismus, ja (ein anderer aufreizender Anspruch) jenseits der ganzen Realismus-Idealismus Kontroverse (was ein Ding der Unmöglichkeit ist), steht Heideggers Philosophie der Wahrheit keineswegs jenseits dieses Unterschieds, sondern ist mindestens ebenso subjektivistisch wie jene Nietzsches, dessen Philosophie im allgemeinen und Wahrheitstheorie im besonderen er sich ja in seinem zweibändigen Nietzsche-Buch eingehend und überaus zustimmend zugewandt hat, oder Sartres.297 Heideggers radikal subjektivistische existentialistische Wahrheitsauffassung kommt etwa in seiner Bemerkung zum Ausdruck, der Selbstmörder habe mit seinem Selbstmord auch die Wahrheit ausgelöscht,298 aber auch in seiner Definition der Wahrheit als „Entdeckendsein des Daseins“, d.h. als Entdeckendsein des Menschen, welches eine sehr verschiedene Auffassung der Wahrheit als eine dem Sein selber angeblich zukommende Unverborgenheit bedeutet. Denn dieser Wahrheitsbegriff eines Entbergens und Entdeckendseins wird von Heidegger nicht etwa in Einklang mit der ganzen großen Tradition als ein mit der Wahrheit des Urteils als Übereinstimmung voll 296
Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, zit., S. 202: Jede Art von Anthropologie und alle Subjektivität des Menschen als Subjekt ist nicht nur, wie schon in „Sein und Zeit“, verlassen …, sondern der Gang des Vortrags schickt sich an, .. [zu einem] Weg des Denkens [zu gelangen], das, statt Vorstellungen und Begriffe zu liefern, sich als Wandlung des Besuchs zum Sein erfährt und erprobt.“
297 298
Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche (Bd. I und II). Feullingen, Günther Neske 1961. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (19. unveränd. Auflage), (Tübingen, Max Niemeyer, 2006), § 44.
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vereinbarer Begriff der Erkenntniswahrheit begriffen, sondern vielmehr in ausdrücklichen scharfen Gegensatz zur Idee der Wahrheit als adaequatio intellectus et rei gesetzt, also nicht so aufgefaßt, als würde das Subjekt eine ihm vorgegebene Wirklichkeit rezeptiv entdecken, wie dies jede Überwindung des Idealismus und Subjektivismus des Wahrheitsbegriffs voraussetzt. Vielmehr ersetzt Heidegger jedes solche das Subjekt transzendierende Entdecken durch einen immanenten Seinsmodus des „Entdeckendseins“, womit der eigentliche Sinn von „Entdecken“, der immer eine Vorgegebenheit des Seins voraussetzt, radikal umgedeutet und sogar aufgelöst wird.299 Zumindest von dieser existentialistischen Wahrheitstheorie, aber auch von der These der Wahrheit als Unverborgenheit gilt ferner keineswegs, daß Heidegger keine neue Wahrheitstheorie einführen oder nur die Grundlagen der immer schon vertretenen Adäquationstheorie der Wahrheit im Sein und Erkennen aufzeigen und somit nur die letzten Fundamente der Korrespondenztheorie und anderer Theorien der Wahrheit aufzeigen möchte.300 Vielmehr finden wir bei Heidegger eine, oder vielmehr mehrere, in ihrem sprachlichen Gewand sehr neue (aber inhaltlich in vielerlei Hinsicht alte) und mehrheitlich subjektivistische Deutungen der Wahrheit. Dies drückt sich (1) in seiner Bestimmung der Seinswahrheit als „Unverborgenheit vor dem menschlichen Subjekt“ (dem Dasein); (2) in seiner subjektiven und vor allem wertneutralen Idee von Wahrheit als „Eigentlichkeit“, der gemäß ihm Haß und Liebe als gleich ursprüngliche Formen der „Eigentlichkeit“ gelten, sodann auch (3) in seiner Definition der (Erkenntnis-)Wahrheit als „Entdeckendsein des Daseins,“ und damit in deren Verständnis als subjektiven „Zustand“ (mit gleichzeitiger Ablehnung des im Entdecken an sich liegenden Seinsbezugs) und ferner auch, und 299
300
Siehe M. Heidegger, Sein und Zeit, § 44, wo Heidegger seine Theorie der Wahrheit als Entdeckendsein des Daseins entwickelt, vor allem § 44 c, wo er seine These der Abhängigkeit der Wahrheit vom Menschen und der Auslöschung der Wahrheit selbst durch den Selbstmord vertritt. Vgl. auch Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967), sowie ders., Platons Lehre von der Wahrheit (2. Auflage). Bern, Francke 1954. Das behauptet etwa Georg Rompp, „Wesen der Wahrheit und Wahrheit des Wesens,“ Zeitschrift für philosophische Forschung (April-Juni 1986), 40, 181205.
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damit eng verknüpft: (4) in seiner Deutung der Wahrheit als Freiheit, die nicht nur jenes „Sein-lassen des Seienden“ meint, sondern auch eine Art schöpferische Wahrheitssetzung im Auge hat, wie wir sehen werden. 4. Kritik an Heideggers Kritik des platonischen Wahrheitsverständnisses und der Adäquationstheorie überhaupt durch seine Identifizierung der Wahrheit mit Unverborgenheit und seine These vom „Wesenswandel der Wahrheit“ in Platons Höhlengleichnis Die möglicherweise wichtigste und bekannteste Schrift Heideggers über die Wahrheit und insbesondere über den Wesenswandel der Wahrheit ist Platons Lehre von der Wahrheit. 4.1. Heideggers Grundthesen
Heidegger meint, den traditionellen Wahrheitsbegriff als einer irgendwie gearteten orthotes (Richtigkeit) bzw. als einer adaequatio zwischen Verstand und Wirklichkeit, als eine Entfremdung vom ursprünglichen Wesen der Wahrheit auffassen zu können. Die Wiederentdeckung des ursprünglichen Wesens der Wahrheit vermeint er insbesondere durch seine Platondeutung und Lesung des Höhlengleichnisses leisten zu können: Neben der Idee der Wahrheit als existentieller Eigentlichkeit und als „Entdeckendsein des Daseins“ entwickelt Heidegger vor allem die Idee der Wahrheit als Unverborgenheit, die er den Vorsokratikern zuschreibt, indem er den Sinn des griechischen Wortes aletheia, das von a (alpha privativum) und lethe (Schleier, Vergessen) kommt, als Unverborgenheit des Seins deutet und dann die These eines Wesenswandels der Wahrheit bei Platon aufstellt, der vor allem im Höhlengleichnis zum Ausdruck käme, ja sich in ihm ereignet hätte. Heidegger interpretiert also Platons Höhlengleichnis ganz im Hinblick auf Platons Lehre von der Wahrheit. Was Heidegger im Grunde zeigen will, ist Folgendes: Wenn man im Höhlengleichnis alle jene Stellen betrachtet, die etwas über Platons Lehre von der Wahrheit aussagen, zeichnet sich innerhalb des Höhlengleichnisses ein Wandel des Wesensbegriffs der Wahrheit ab, den Platon selber aber nicht als solchen
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erkenne. Dieser Wandel des Wesensbegriffs der Wahrheit vollziehe sich vielmehr stillschweigend und soll nun von Heidegger ans Licht gebracht werden. Zunächst, so will Heidegger zeigen, habe das Wort Wahrheit die urgriechische Bedeutung, die unserem Denken, das die Wahrheit immer als adaequatio intellectus et rei auffasse, fernliege, nämlich: a-lethes als das nicht Verhüllte, das Unverborgene. Als solches sei Wahrheit nicht eine Eigenschaft des Intellekts, d.h. eine wie immer geartete Übereinstimmung desselben mit dem Sein, sondern vielmehr eine Eigenschaft des Seins selbst. Wenn sich der Mensch von seinen Ketten und seiner elenden Existenz in der Höhle löse und zum wahreren Sein vordringe, so meine Wahrheit hier nichts als das Vordringen zum unverborgeneren Sein. Wenn schließlich der von den Fesseln Befreite und der Höhle Entflohene das alethestata, das Wahrste, schaue, so ergäbe es keinen Sinn, wie Heidegger zu Recht bemerkt, diesen Wahrheitsbegriff als Übereinstimmung zu deuten. Man müsse ihn vielmehr als Unverborgenheit verstehen, meint er. Auch die vierte Stufe des Bildes des Höhlengleichnisses, nämlich die Rückkehr des befreiten Gefangenen in die Höhle zu seinen Mitgefangenen, um nun auch diese zu befreien, zeigt nach Heidegger an, wie Platon im Herausgerissenwerden aus der Verborgenheit der Höhle in die Unverborgenheit des Freien außerhalb der Höhle, also in der Unverborgenheit des Seins, die Wahrheit verstanden wissen will. Es gäbe auf dieser Ebene keinen Sinn, Wahrheit in dem späteren abendländischen Sinn als Übereinstimmung zu deuten. Darin liegen manche tiefe Einsichten Heideggers, die allerdings mit sehr tiefgreifenden Verwechslungen gepaart sind. 4.2. Platons Idee der Wahrheit und der paideia und die These vom angeblichen Verlust der „anfänglichen Idee der Wahrheit“
Das ganze Höhlengleichnis soll nach Heidegger verdeutlichen, was Platon unter der paideia verstehe. Bildung werde von Platon in jenem ursprünglichen Sinne verstanden, den man so wiedergeben könne:
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„Bildung ist Prägung zumal und Geleit durch ein Bild.“301 Bildung ist noch genauer nach Platon eine Umwendung der ganzen Seele, eine Kehre, ja eine Be-kehrung (metanoia). So wie man die gegen Ausgang der Höhle liegende Wirklichkeit nur sehen kann, wenn man den ganzen Körper wende, so könne man auch die Welt der unwandelbaren, ewigen Ideen nur sehen, wenn man sich geistig völlig umwende. Heidegger führt aus, daß nach Platon Bildung eine „Versetzung“, ein langsamer Übergang des ganzen Menschen (holees tees psychees) von einem Bereich in einen anderen sei.302 Die Bildung geschieht nun aber durch das Erblicken der ewigen Ideen, durch das sich Ausrichten nach ihnen, indem man sie anschaut. Und so wird Wahrheit bei Platon in einem zweiten und ganz verschiedenen Sinne verstanden, als orthótes (Richtigkeit), als homoiosis (als Angleichung), als eine Richtigkeit des Sehens und Erkennens und als eine Angleichung des Geistes an die Idee in der Richtigkeit der Erkenntnis und des Urteils. An dieser Stelle vollzieht sich nach Heidegger eine Wandlung im Wesensbegriff der Wahrheit selbst. Durch diese Seite der platonischen Philosophie werde das alte, ursprüngliche Wesen der Wahrheit als Unverborgenheit preisgegeben und durch eine adaequatio intellectus et rei ersetzt und „so ruht das anfängliche Wesen der Wahrheit noch in seinem verborgenen Anfang“. So endet Heidegger seine Ausführungen über Platons Lehre von der Wahrheit, wobei er hinzufügt, daß erst in einer Zeit der geistigen Not, in der das Seiende oder das Sein selbst fraglich geworden sind, das anfängliche Wesen der Wahrheit als eine Proprietät des Seins selbst – als Unverborgenheit – und deren Bedeutung neu ergründet werden könnten. Und von diesen Voraussetzungen aus gelangt Heidegger dann zur oben angedeuteten Interpretation der Wahrheit als existentieller Entwurf, ja als Schöpfung des Subjekts. Im folgenden sollen die einzelnen Stufen im Gedankengang Heideggers verfolgt und kritisch untersucht werden, sowohl von einem systematischen Gesichtspunkt als auch von jenem einer adäquaten Platon-Interpretation aus. Da Heidegger zunächst zeigen will, daß und in welcher Weise Platon 301
302
Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit (Frankfurt: Klostermann, 51967), S. 217. Siehe M. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O., S. 26-27.
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das Wesen der Wahrheit als Unverborgenheit bestimmt, wollen wir uns zunächst vor Augen führen, wie Heidegger das Unverborgene bestimmt, um dann zu erkennen, ob diese Wesensbestimmung der Wahrheit Platons Lehre von der Wahrheit gerecht wird. 4.3. Kritik an der Subjektivierung der „Ontologischen Wahrheit“ durch ihre Deutung als Unverborgenheit
Wenn wir auch im Licht der Untersuchungen der ersten beiden Kapitel von Wahrheit und Person durchaus einen gültigen intrinsischen und extrinsischen Sinn einer ontologischen Wahrheit anerkennen, die sich nicht auf eine Adäquation zwischen Intellekt und Wirklichkeit reduzieren läßt, so ist es doch problematisch, dieselbe als „Unverborgenheit“ zu bezeichnen. Denn diese ist nicht nur ein relationaler Begriff, wie dies auch in der zweiten erörterten Grundbedeutung der ontologischen Wahrheit als Offenheit gegenüber Geist notwendig liegt, sondern wenn man die Seinswahrheit (nicht die Erkenntniswahrheit) als „Unverborgenheit“ im Verhältnis zum „Dasein“, d.h. zum menschlichen Subjekt, bezeichnet, so ist ein solcher Begriff ontologischer Wahrheit auch ein relativer Begriff, insofern ein und dasselbe Sein verborgen in Relation auf einen Intellekt A und unverborgen im Hinblick auf einen Intellekt B sein kann. Denn Unverborgenheit in diesem durch und durch anthropologischen und ausdrücklich nicht auf Gott bezogenen Sinne bleibt immer auf jemanden bezogen, dem etwas unverborgen oder verborgen ist. So wie alles Sein und alle Seinsdimensionen, die noch vor unsern geistigen Augen wie durch einen Schleier verborgen sind, nicht an sich verborgen sind, sondern nur für uns, da ja ein anderer Intellekt303 sie erkennen mag, so ist auch das Unverborgene des Seins nicht an sich unverborgen, sondern nur in Bezug auf den Blick bzw. das Erkenntnisvermögen eines bestimmten Subjekts oder eines Subjekts überhaupt. Sobald deshalb der Begriff der Unverborgenheit des Sein vor dem menschlichen Geist nicht zur Kennzeichnung der Erkenntniswahrheit, sondern zur Charakterisierung der Seinswahrheit oder der Urteilswahrheit 303
Und kraft seines Wesens ein göttlicher Intellekt.
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verwendet wird, folgt eine Relativität derselben, obgleich es in dem Sinne ontologischer Wahrheit als Erkennbarkeit ebenfalls eine Relation auf den Verstand gibt, aber eben eine, die nicht relativ auf den menschlichen Verstand gesetzt wird. Wenn nämlich Wahrheit als Unverborgenheit-voreinem-menschlichen-Geist gefaßt wird, kann dasselbe zugleich ontologisch wahr (für ein Subjekt) und nicht ontologisch wahr (für einen anderen) sein. Es scheint also, daß Heidegger anstelle der Intelligibilität und Erkennbarkeit (die objektiv das Seiende im Verhältnis zu einem erkennenden Intellekt überhaupt kennzeichnet) das tatsächliche Erkanntsein durch den Menschen (die Unverborgenheit des Seins vor dem Dasein) als ontologische Wahrheit ansetzt und damit die Seinswahrheit in einer Weise relational sieht, die, wenn Heidegger von der Wahrheit des Erkennens spräche, keinen Relativismus ausdrücken würde, da ja tatsächlich dem Erkennen derselben Sache durch ein Subjekt Wahrheit zukommen kann, die dem Erkenntnisleben des anderen Menschen, der dieselbe Sache oder denselben Sachverhalt nicht erkennt, fehlt, da Erkenntniswahrheit eine tatsächlich von Fall zu Fall verschiedene Relation des tatsächlichen Erkennens zum Erkannten ausdrückt. Sobald aber diese Relationalität auf den menschlichen Geist in den Begriff der Seinswahrheit als Unverborgenheit vor dem menschlichen Geist eingeführt und diese Unverborgenheit des Seins überdies noch in Gegensatz zur Wahrheit als adaequatio gebracht wird, muß dies zu einer Relativierung und Subjektivierung des Wahrheitsbegriffs führen, die deren objektivem Wesen widerspricht. Eine solche Subjektivierung wird durch ein weiteres Moment in Heideggers Wahrheitstheorie hervorgerufen, nämlich durch seine Konzeption der Erkenntniswahrheit als ein Entdeckendsein des Subjekts wie wenn es bei Erkenntniswahrheit um einen Zustand des Subjekts ginge anstatt um ein Verhältnis zwischen dem Akt des Entdeckens und etwas Entdecktem. Darauf werden wir gleich noch einmal zurückkommen. Sehen wir einmal von dem durch Friedländer hervorgehobenen philologischen Problem der Heideggerschen Übersetzung von aletheia als Unverborgenheit ab und nehmen an, daß in der Tat der anfängliche Begriff der Wahrheit der der Unverborgenheit gewesen ist, so kann damit zweierlei gemeint sein: einmal ein bestimmte Dimension der Erkenntniswahrheit bzw. deren Folge: wenn die Erkenntnis das Seiende so entdeckt
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wie es wirklich ist, so ist sie selber wahr und das Erkannte ist nun dem Erkennenden im Maße seiner Erkenntnis unverborgen. Andererseits kann Unverborgenheit einen zweiten grundsätzlichen Sinn von ontologischer Wahrheit meinen,304 nämlich die Erkennbarkeit und Intelligibilität des Seins, welche dieses immer und an sich, wenngleich in unendlich vielen Abstufungen, kennzeichnet und die eine Relation zum Intellekt darstellt: und zwar zum menschlichen nur eine begrenzte Offenheit und Unverborgenheit, zum göttlichen eine grenzenlose. Man könnte sagen, in diesem zweiten Sinne bedeutet ontologische Wahrheit als Unverborgenheit die ontologische Wahrheit im Hinblick auf die Erkenntniswahrheit, in welcher allein diese Unverborgenheit realisiert und aktualisiert wird. Wenn die Griechen, wie wir hier einmal des Argumentes willen Heidegger zugestehen möchten, die Wahrheit als Unverborgenheit bestimmen, so wohl auf Grund des Erlebnisses, daß der Mensch das Seiende nur ganz unvollkommen erkennt und daß die tieferen Schichten des Seins unserem Geist nicht einfachhin gegeben und zugänglich sind, sondern uns erst durch die harte Arbeit der „Entbergung“, von der Platon wie von einer Jagd und einem Heranpirschen an das Sein und an die Wahrheit über die Gerechtigkeit redet, zugänglich werden, und auch dann noch unvollkommen.305 Ja vielleicht schließt der Gedanke der Unverborgenheit die Überzeugung ein, daß das Tiefste des Seins uns Menschen überhaupt verborgen ist und von uns nicht erkannt wird, sondern daß die volle Erkenntnis und Wahrheit, die Weisheit, wie Sokrates in der Apologie sagt, nicht der Mensch, sondern nur Gott besitze. Das alethes als das Wahre, und das alethestaton im Sinne des im eigentlichsten Sinne Wahren und Seienden wäre dann nicht das uns jeweils Unverborgene, sondern im Gegenteil das dem menschlichen Geist Verborgenste und dennoch in sich Wahrste und deshalb auch nur der göttlichen Erkenntnis gänzlich Unverborgene, wie es in den Aristotelesund Thomas-Zitaten im ersten Kapitel von Wahrheit und Person über das Auge der Nachteule einen klassischen Ausdruck findet. Das Wahrste ist also dann zugleich das uns Verborgenste und das nur unendlicher Erkenntnis Unverborgene. 304 305
Vgl., Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1-2. Vgl. Platon, Politeia 4.423b-433b; Laches 194b ff.
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Gewiß, in dem Maß, in dem wir die Schleier lüften und in dem wir die Wirklichkeit erkennen, wie sie ist, und mit unserem Geist in sie eindringen, wird das Verborgene auch uns unverborgen. In diesem Sinne der Erkenntniswahrheit ist Wahrheit tatsächlich als eine Unverborgenheit und als eine Anwesenheit des Seins vor unserem erkennenden und verstehenden intentionalen Bewußtsein zu verstehen. In diesem Sinne ist auch die Wahrheit tatsächlich relational auf den erkennenden Geist bezogen. Aber dann sollte die Erkenntniswahrheit (in ihrer Relation zur ontologischen Wahrheit) als Unverborgenheit des Seins und damit von etwas, was entdeckt wird und nicht in einem Zustand des Subjekts besteht, verstanden werden. Und erst recht sollte der andernorts306 ausführlich untersuchte Begriff der einzigartigen Übereinstimmung nicht geleugnet werden, der ausschließlich im sich selber transzendierenden Sehen des Seins, wie es in sich ist, liegt. Jede Ablehnung dieser erkennenden Übereinstimmung leugnet den Sinn der Unverborgenheit selbst. Ja wenn dieser Begriff der Unverborgenheit von Heidegger als „das uns jeweils Anwesende“ gedeutet wird, wird auch der legitimerweise relationale Begriff der Erkenntniswahrheit in unzulässiger Weise relativiert. Für Platon ist ja das uns jeweilig anwesende sinnliche Objekt das uneigentlich Seiende und das, was nicht das wahrhafte Seiende ist. Wenn also die Menschen in der Höhle das ihnen je Anwesende der sinnlichen Erscheinung für das Wahre halten, irren sie sich nach Platon gewaltig. Platon sagt ja nirgends, daß die Schatten für die Bewohner der Höhle das Wahre seien, sondern nur, daß sie es dafür hielten. Deshalb kann man auch die Steigerung des alethes, des Wahren, zum alethestaton, dem Allerwahrsten, nicht primär im Sinne der Unverborgenheit, die sich auf das Offenstehen des Seins gegenüber dem Geist bezieht, und überhaupt nicht als Erkenntniswahrheit deuten, sondern muß sie in einem rein ontologischen Sinne verstehen, der weder das an sich für den Geist überhaupt Offenstehen (das transzendentale verum oder die Intelligibilität) noch das tatsächliche Anwesendsein des Dinges vor unserem Geist bedeutet. Das tiefere Wahre, auf das hin die Gefangenen zugeordnet sind, bedeutet einen höheren, eigentlicheren, dauernderen und deshalb wahreren 306
Vgl. Josef Seifert, Wahrheit und Person.
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Bereich der Wirklichkeit und des Seins selber, nicht deshalb, weil es uns unverborgen ist, sondern weil es die eigentlichere Wirklichkeit ist, das ontoos on, im Vergleich zu dem die anderen Seienden wie bloße Schatten sind.307 Die Ursache hievon erblickt Platon in einem objektiven ontologischen Sachverhalt und nicht in der Relation des Seins zu unserem Erkennen, die man Unverborgenheit nennen mag. Außerdem versteht er auch diese Anwesenheit unserem Geist gegenüber in einem objektivistischen Sinne und nicht im Sinne eines bloßen „uns jeweils Anwesendseins“. Denn die Wahrheit des Erkennens versteht er – wie auch Thomas – im Sinne einer Anwesenheit des in sich Seienden vor unserem Geist. Heidegger macht hier also schon durch die Wahl der Ausdrücke die klassische und objektivistische Idee der ontologischen Wahrheit und auch der Erkenntniswahrheit relativ, und zwar paradoxerweise, indem er das Unverborgene zu einer objektiven Eigenschaft des Seienden selbst erhebt, also scheinbar objektiviert. Aber „unverborgen“ meint eben wesenhaft eine relationale Eigenschaft und wenn man diese mit dem Sein selbst identifiziert, relativiert man dieses und reduziert es auf ein bloßes Scheinen oder Erscheinen, ein bloßes Präsentsein vor unserem Bewußtsein. Gerade die Idee der Unverborgenheit, die sich auf eine Dimension der Wahrheit des Erkennens bezieht, impliziert einen objektiven Sinn von Seinswahrheit, der dem Entdecken des Verborgenen entspricht und vorausliegt. Wenn deshalb Heidegger sich mit seiner Deutung der ontologischen Wahrheit als Unverborgenheit auf die griechische Sprache und den Wortsinn von aletheia beruft, dürfte er nicht in der Unverborgenheit den Charakter ontologischer Wahrheit erblicken, sondern müßte sagen, das hinter den Schleiern Verborgene sei das Wahre, das ontoos on. Die mallon onta, wie Platon sie nennt, bleiben was sie sind, nämlich in höherem Sinne Seiende, auch wenn sie dem menschlichen Erkennen verborgen sind.308 Durch eine solche Interpretation wäre auch der Sinn des griechischen Wortes getroffen, das folgende These voraussetzt: durch die Unvollkommenheit unseres Erkenntnisvermögens haben wir Schleier vor den Augen, die uns daran hindern, das Wahre im 307
308
Siehe J. Seifert, Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica (Milano: Vita e Pensiero, 1989), Kap. 9. Siehe Platon, Politeia, VII, 515 c 4, 5.
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Sinne des wirklich und im vollen Sinne Seienden, zu schauen. Nur durch eine Wende und Bekehrung können wir es schauen. Wie unpassend die Heideggersche Übersetzung der Wahrheit als „Unverborgenheit“ für den ontologischen Sinn von Wahrheit ist, der den Begriffen des „wahrer“ und „mehr“ Seins bei Platon zugrundeliegt, geht auch daraus hervor, daß Platon im Höhlengleichnis sagt, der mit Gewalt aus seinen Fesseln Befreite und aus der Höhle Herausgeführte halte die ihm vertrauten Schatten der Höhle für wahrer (alethestera) als das, was er jetzt sehe. Wenn man hier Wahrheit mit Unverborgenheit übersetzt, verliert der Text seinen spezifischen Sinn. Denn die Gegenstände der Höhle erscheinen ihm ja nicht als unverborgener, sondern sind es tatsächlich. Die Schatten sind ihm viel unverborgener als die Gegenstände außerhalb der Höhle, die im ontologischen Sinne wahrer (alethesteron), aber dem eben aus der Höhle ans Licht Gelangten ganz verborgen sind, ja angesichts deren er, in die Sonnenansicht der Welt gelangt, vorübergehend erblindet.309 Nicht ihr Charakter als im ontologischen Sinne „wahrere Welt“, wirklichere Welt, in höherem Sinne seiende Welt, nicht ihr Charakter des ontoos on, sondern nur die Wahrheit ihrer Erkenntnis (oder aber ihrer objektiven Erkennbarkeit) besteht in der Unverborgenheit dieser Welt vor dem geistigen Blick. Diese Unverborgenheit im Sinne der Intelligibilität alles Seienden besteht rein objektiv in jedem Seienden und sogar in Sachverhalten über nicht Seiendes, aber auch dann in Relation auf etwas anderes (ad aliud), nämlich auf den Geist, dem gegenüber alles Seiende im Prinzip offensteht. Nur wenn ein Geist die Wirklichkeit aktuell erkennt, ist diese Unverborgenheit aktualisiert, sonst bleibt sie Potentialität. Die aktuelle Unverborgenheit des Seins hingegen setzt tatsächliche Erkenntnis voraus. Und in diesem Sinne ist dem menschlichen Geist im Maß der jeweiligen Erkenntnis das Sein unverborgen, zum unendlich überwiegenden Teil aber verborgen. Nur dem absoluten göttlichen Geist ist das Sein vollkommen unverborgen. Nur seine Erkenntnis besitzt vollkommenste und vollständigste Wahrheit in diesem Sinn, wobei Heideggers Idee, daß unsere unvollständige Erkenntnis und Unwissenheit Unwahrheit sei, absolut unrichtig ist, da selbst die unvollständigste Erkenntnis absolut von 309
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O., S. 27-28.
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Unwahrheit verschieden ist, ja ihrem Wesen nach nicht irren kann; Irrtum und die ihm eigene Unwahrheit ist erst möglich, wenn unser Geist in seinen Urteilen über die Erkenntnis im strikten Sinne hinausgeht. So sehr auch die Erkenntniswahrheit menschlichen Erfassens der Dinge ihre eigene Objektivität besitzt, so wenig kann die Wahrheit des Seins auf sie beschränkt oder durch sie definiert werden, ja sie setzt eine ihr vorhergehende und sie begründende Wahrheit voraus, das Sein und seine Realität sowie seine objektive Intelligibilität, die unendlich weiter reicht als das „Entdeckendsein des Daseins“ oder die Unverborgenheit des Seins vor dem menschlichen Geist, die nur in Relation auf diesen Geist und nicht in sich dem Seienden, dem Wesen und dem Sein zukommt. Gerade wenn daher die ontologische Wahrheit von Heidegger als die Unverborgenheit des Seins, insbesondere mit Beschränkung auf menschliches Erkennen, bezeichnet wird, wird die ontologische Wahrheit relational und in eine Abhängigkeit vom menschlichen Entbergen bzw. Erkennen gesetzt, die der ihr eigenen Objektivität ebenso viel widerspricht, wie wenig sie der Erkenntniswahrheit widerspricht. Noch subjektivistischer im Verhältnis zur klassischen thomasischen Wahrheitsauffassung als die heideggersche Interpretation der „Unverborgenheit“ ist seine Interpretation des „ihm jeweils Anwesendseins“ oder des „ihm Seins“. Der Ausdruck „ihm Sein“ hat in Heideggers philosophischem Diskurs zwei Bedeutungen: einmal heißt es „ihm Scheinen“, und ihm subjektiv anwesend und unverborgen sein. Dies ist aber gerade der Gegensatz zur Wahrheit, will man nicht einen radikalen Relativismus behaupten, dem gemäß es zwischen Schein und Wirklichkeit überhaupt keinen Unterschied mehr gibt. Dann aber heißt das „ihm Sein“ zweitens das Unverborgensein, in dem sich ein Seiendes, das keineswegs nur scheint oder erscheint, dem Geist erschließt.310 Was aber hat Heidegger zur dritten Stufe des Höhlengleichnisses zu sagen?311 Fragen wir nach Platons sowie Heideggers Interpretation der Wahrheit auf der dritten Ebene des Höhlengleichnisses, aber zugleich auch 310
311
Welche Rolle nach Heidegger die Freiheit innerhalb Platons Lehre von der Wahrheit bei der Bestimmung der Wahrheit spielt, und darauf, wie Heidegger die Freiheit selber bestimmt, haben wir bereits behandelt. Siehe Platon, Politeia, 515 d 5 ff; 484 c 5.
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nach dem wirklichen Wesen von Wahrheit!312 Das Wahrste ist hier als das Beste schlechthin und als dasjenige gedacht, das hinter allen Schleiern unserer Erkenntnisgrenzen liegt und uns verborgen, nicht unverborgen ist. Das Wahrste ist im abschließenden Teil des Höhlengleichnisses und seiner Deutung durch Platon weder das Verborgene noch das Unverborgene als solches, sondern vielmehr die eigentlichere Wirklichkeit, das ontoos on, das uns in der Höhle verborgen ist, uns aber nach der Befreiung aus der Gefangenschaft der Höhle aber auch offenbar werden kann, das aber weder im einen noch im andern Fall aufhört, das eigentlich Wirkliche und, als das Höchste und Beste, zugleich das wahrste Sein zu sein. Wir dürfen hier nicht Sklaven der philologischen Bedeutungen und Wurzeln des Wortes aletheia werden, eine Bemerkung, die ihre Triftigkeit selbst dann behält, wenn Heidegger auf der Ebene der Philologie gegen Friedländer recht behalten sollte, was sehr zu bezweifeln ist.313 Wir können die platonische Lehre von der Wahrheit auch nicht von derjenigen vom Guten loslösen, dessen Entdeckung durch Anaxagoras als höchster Grund aller Dinge ja gerade von Sokrates gepriesen wird, auch wenn dieser es nicht wirklich konsequent als Ursache aller Dinge aufgefaßt hat. Die Frage nach dem Wahrsten, auf ihrer höchsten Ebene, läßt sich bei Platon nicht von der Frage nach dem Guten loslösen. Das alethestaton, das Wahrste überhaupt, ist zugleich das Gute selber. Wenn Platon also die Ideen als alethestera („wahrer“) als die Dinge bezeichnet, so kann man Wahrheit hier gewiß nicht mit „Unverborgenheit“ und als das „uns jeweils Anwesende“ übersetzen. Denn gerade die Idee des Guten bleibt das Wahrste in sich selber, wie wir im ersten Kapitel von Wahrheit und Person ausgeführt haben, auch wenn sie dem Menschen in der Höhle nicht anwesend ist. Denn die Idee des Guten erscheint bei Platon nicht zu Anfang, sondern als Letztes, „hintennach“ sozusagen. Sie macht auch nicht sosehr die Erscheinung, die Welt der Schatten, den in der Höhle Gefangenen zugänglich, sondern in ihrem Licht erkennt der Mensch, daß die Schatten eben Schatten und nicht die eigentliche Wirklichkeit sind. Sie eröffnet, nach dem Höhlengleichnis, auch nicht den Blick auf die Schatten oder ist primär das, was in den Schatten erscheint, sondern sie ist nur der 312 313
Siehe Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 29-30. Vgl. dazu auch Heidegger, ebd., S. 30.
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letzte Grund der Wirklichkeit und infolgedessen auch der erste Ursprung der Schatten. Sie ist das in sich Höchste und zugleich der letzte Grund und der erste Ursprung allen Seins, durch den alle Dinge ihr Sein und Wesen haben, wie es in der Politeia VI und VII heißt. Ohne die Idee des Guten könnte nichts bestehen, aber sie ist gerade deshalb das zunächst dem endlichen Geist Allerverborgenste, auch wenn sie in jeder Erfahrung implizite anwesend und mitgegeben sein mag. Ihre bewußte Erkenntnis jedoch steht erst am Ende des Erkenntnisweges. Hier zeigt sich wieder, daß man die Wahrheit, vor allem die ontologische Wahrheit, nicht einfach als Unverborgenheit bezeichnen darf.314 Das Urerlebnis für den Griechen ist gerade, daß das Wahre im Sinne der Gesamtheit des Seienden und des höchsten Wirklichen unserem erkennenden Zugriff weitgehend verborgen ist. Das „Unverborgene“ ist deshalb nicht ein Synonym für das im ontologischen Sinne Wahre, sondern bezieht sich, wie bereits mehrfach gesagt, viel eher auf die Erkenntniswahrheit. Eine philosophische Deutung von aletheia im Hinblick auf die Erkenntniswahrheit könnte also darauf hinweisen, daß die Erkenntniswahrheit darin besteht, das im ontologischen Sinne Wirkliche und Wahre zu entdecken, zu entbergen, ans Licht zu bringen. Die Wahrheit des Erkennens besteht eben darin, das verborgene wahre Sein unverborgen zu erkennen. Deshalb hat Heideggers Äußerung, der zufolge das Höhlengleichnis einen Wesenswandel der Wahrheit einschließt, keinen richtigen Sinn.315 Was nämlich Heidegger als völlig anderen Wesensbegriff der Wahrheit bezeichnet, nämlich die Unverborgenheit, ist in Wirklichkeit weder ein Gegensatz zur ontologischen Wahrheit in ihren verschiedenen Bedeutungen noch zur Wahrheit des Urteils als Übereinstimmung. Statt pathetisch von einem Wesenswandel der Wahrheit oder auch nur des Wahrheitsbegriffes zu reden, sollte man vielmehr erkennen, daß Unverborgenheit in korrekter Weise die Erkenntniswahrheit, ein Urphänomen innerhalb der Erkenntnissphäre, bezeichnet, das in vollem Einklang mit dem Wesen der Wahrheit als adaequatio steht und dieses einerseits in der Erkenntnis erst möglich macht und andererseits von ihm überhaupt 314 315
Siehe dazu Heidegger, ebd., S. 33. Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O.., S. 33.
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erst Sinn empfängt: Daß uns nämlich das Seiende und Wahre zunächst verborgen sind und daß deshalb am Anfang und vor dem menschlichen Erkenntnisprozeß, ja auch auf einer höheren Ebene, immer auch eine Entfernung vom Sein durch jene Verborgenheiten liegt, die unseren Blick auf das Seiende trüben. Im Maße meiner Erkenntnis ist mir zwar das Seiende unverborgen gegeben, aber seine Verborgenheit bleibt immer größer als seine Unverborgenheit. Ja man könnte das völlige Ideal der Unverborgenheit eines vollkommenen Erkennens im Gegensatz zum menschlichen Erkennen in einem Erfassen erblicken, vor dem alles Sein schlechthin unverborgen offen daliegt. Das Phänomen der Unverborgenheit, in dessen Erkenntnis Heidegger einen Wesenswandel der Wahrheit erblickt, ist daher so weit davon entfernt, einen Widerspruch zu den anderen Wahrheitsbegriffen einzuschließen, daß es überhaupt nur im Zusammenhang mit ihnen sinnvoll ist. Doch bevor wir dies zeigen, sollten wir noch bedenken, daß vielleicht in der dunklen Sprache Heideggers und vor allem bei Platons Rede von aletheia noch auf einen dem Seienden selbst eigenen Zug hingewiesen wird, dessen Anerkennung keine falsche Ontologisierung der Unverborgenheit ist, sondern auf ein wichtiges Phänomen hinweist. Wir meinen hier nicht nur die Gegebenheit des Erkennbarseins als solchen, sondern die höhere Intelligibilität jener Wesenheiten, die sich in höchst einsichtiger Weise dem Geist erschließen und in denen nicht die Dunkelheit für unser Verstehen des Kontingenten und rein Faktischen besteht. Dieses Einsichtige, von innen her Verstehbare und nicht bloß äußerlich Feststellbare ist das eigentliche Wahre. Heidegger weist auf diese Entdeckung Platons hin, wenn er hervorhebt, Platon bezeichne die Ideen als das emphanestaton, als das Leuchtendste. Damit kann nicht nur ein echter transzendentaler Wesenszug allen Seins gemeint sein, der je nach Art des Seienden ungeheuer modifiziert ist und sich, wie früher erörtert, von der Wirklichkeit und auch vom Wert abhebt. Nur die ewige Schönheit der Ideen oder eines ewigen und zugleich realen und notwendigen Wesens besitzt dieses Leuchtend- und Einleuchtendsein
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im vollkommenen Maß.316 Wenn Heidegger allerdings diesen Sinn von Unverborgenheit anerkennt, muß er jene Äußerungen ganz fallen lassen, in denen er von der „jeweiligen Wahrheit“ und der in der Höhle herrschenden Unverborgenheit u.a. spricht. Wo er das wahrste Seiende als das Leuchtendste oder Einleuchtendste bezeichnet, wird von Platon tatsächlich dem Seienden selbst Wahrheit und eine besondere Art der „Unverborgenheit“ zugesprochen, die nur ein objektives Apriori, etwas in sich selber Notwendiges und deshalb Einleuchtendes, besitzen kann. Doch beachte man, daß Platon hier nicht Unverborgenheit vor dem menschlichen Geist, sondern jene Intelligibilität, jenes Gestalthafte und Geformte des Seins meint, die es uns erst erlauben, es zu erkennen und sogar einzusehen. Wahrheit als das Leuchten des Seins steht dann im Gegensatz zum Chaos und dem Dunklen des Nichts, zum Schattenhaften des Sinnarmen oder Sinnleeren oder gar zum Widersinnigen, an dem die Fähigkeit zum Schauen gar nicht zu seiner Entfaltung kommen kann. Ähnlich wie die Sehkraft ohne Licht der Sonne nichts sieht, könnte der Intellekt nichts einsehen ohne das Licht der Intelligibilität des Seins.317 5. Die Funktionalisierung des Wahrheitsbegriffs und des Guten bei Heidegger Versuchen wir, noch näher zu verstehen, warum Heidegger behauptet, innerhalb des Höhlengleichnisses vollziehe sich ein Wandel im Wesen der Wahrheit und was er für die korrekte Deutung des platonischen Begriffs des Guten hält. 316
317
Siehe Platon, Politeia 508 d 5. Auf dieser Einsicht beruht auch der ontologische Gottesbeweis. Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen Arguments. Platon sagt übrigens ausdrücklich, daß die Idee des Guten weder die Wahrheit im Sinne der Wirklichkeit als Erkennbarkeit noch die Erkenntnis ist, sondern von beiden verschieden sei. Vgl. auch Josef Seifert, “The Idea of the Good as the Sumtotal of Pure Perfections. A New Personalistic Reading of Republic VI and VII”, in: Giovanni Reale and Samuel Scolnikov (Ed.), New Images of Plato. Dialogues on the Idea of the Good (Sankt Augustin: Academia Verlag, 2002), S. 407-424.
Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit
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Heideggers Interpretation der Ideenlehre bleibt stets dunkel, ja ist fast völlig unverständlich.318 Was soll es auch heißen, wenn Heidegger sagt, Platon bestimme die Wahrheit im Verlauf des Höhlengleichnisses plötzlich als das im Sehen Gesehene, das im Vernehmen Vernommene – und dies sei eine völlig neue Begriffsbildung der Wahrheit, die einen Wandel in ihrem Wesen als Unverborgenheit bedeute? Die Intelligibilität des Seins ist ja nicht nur die Grundlage für die Erkenntniswahrheit, wie wir gesehen haben, sondern ermöglicht auch die logische Wahrheit, die Urteilswahrheit. Die Wirklichkeit in ihrer Intelligibilität und Sinnhaftigkeit ist jene Wirklichkeit, die das Fundament jeden wahren Urteils und damit der urteilsmäßigen adaequatio ist. Die Wahrheit der Erkenntnis besteht notwendigerweise in einer besonderen homoiosis (Angleichung) und einer orthotes der Erkenntnis. Daß damit die Wahrheit relativ auf mein Sehen gemacht werde, ist eine grundlose Befürchtung Heideggers, die viel eher auf seine Philosophie zutrifft als auf jene Platons. Nicht eine Relativität der Wahrheit ist im Gedanken der orthotes impliziert, sondern nur eine wesenhafte Relation und Bezogenheit, kraft deren weder dem Erkennen noch den Urteilen als solchen Wahrheit als rein immanente Eigenschaft zukommt, sondern – wie Thomas ausführt – beiden nur in Relation auf einen anderen Terminus: nämlich in Bezug auf das Sein und auf die objektiv bestehenden Sachverhalte. Auch wenn Heidegger Aristoteles vorwirft, dieselbe Wesenswandlung des Wahrheitsbegriffs mitgemacht zu haben, bleibt ganz uneinsichtig, wo der Ansatzpunkt zu einem solchen Vorwurf liegen kann, wenn man das objektiv bestehende Band zwischen dem Sein selbst sowie der ontologischen Wahrheit zur Wahrheit des Erkennens und des Urteils andererseits beachtet.319 318
319
Zum Beweis der Wahrheit dieser Aussage siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O.., S. 35. Damit steht sie in schärfstem Gegensatz zur luziden Platon-Deutung Reales. Vgl. Giovanni Reale, Verso una nuova interpretazione die Platone, 20e Aufl. (Milano: Jaca Book, 1997); Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der „ungeschriebenen Lehren“, übers. v. L. Hölscher, mit einer Einleitung von H. Krämer, hrsg. und mit einem Nachwort von J. Seifert (Paderborn: Schöningh, 1993) Siehe dazu Aristoteles, Metaphysik, 1051 a 34; 1027 b 25. Vgl. auch Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 1-3.
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KAPITEL 8
Heideggers Platoninterpretation bedarf auch noch einer kurzen Untersuchung dessen, was die beiden Philosophen unter dem Guten bzw. unter dem Tauglichen, wie Heidegger übersetzt, verstehen.320 Dabei ist es schwer zu begreifen, warum Heidegger einen so unpassenden Ausdruck wie den des „Tauglichen“ verwendet, um den platonischen Ausdruck des agathon zu übersetzen. Denn mit dieser Übersetzung wird die Idee des Guten entweder als die Idee des Tauglichen an sich bestimmt, was sowohl sprachlich als auch philosophisch gesehen ein Unding ist, da das Taugliche immer ein „zu etwas tauglich Sein“ impliziert. Oder aber die Tauglichkeit des Guten besteht darin, sich selbst und die anderen Ideen zum Scheinen zu bringen, wie Heidegger erklärt. Dann aber muß man erklären, was die Idee des Guten selbst ist. Denn „das, dem allein am Scheinen seiner selbst gelegen ist“, beschreibt wohl eher Eitelkeit als das Wesen des Guten. Darin kann – abgesehen vom metaphorischen Gebrauch des Wörtchens „gelegen sein“ – unmöglich das Wesen des Guten bestehen. Sollte etwa Platon meinen, wenn er im II. Buch der Politeia sagt, die Götter seien die best möglichen Wesen,321 sie seien tauglich – für was? Das Höchste in der Metaphysik läßt sich unmöglich durch seine reine Funktion bestimmen, worauf besonders Robert Spaemann in seiner Interpretation des Proslogions Anselms als Bestimmung des Sinnes des Namens „Gott“ und in seiner Kritik am Funktionalismus Lübbes hingewiesen hat.322 Heidegger wendet sich gegen alle traditionellen Philosophien des Guten, indem er das agathon als das Taugliche bestimmt. Dabei entlädt Heidegger ein großes Ressentiment gegen alle Wertphilosophien. Sollen wir daraus schließen, daß Heidegger einen völlig neutralen Seinsbegriff und eine Metaphysik, in 320 321
322
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, S. 36-38. Platon betont insbesondere den unendlichen Wertcharakter Gottes, in dem alle Wertbeschränkung und alle Übel wegfallen. So nennt er im Zweiten Buch des Staates Gott gÅhhfmokn g_f Ülfmokn zi ¡xm oö bpi_oôi, so schön und gut wie überhaupt möglich“ [wörtlich: „am schönsten und am besten seiend bis zum Äußersten“ „(so sehr) im höchsten Maße schön und im höchsten Maß gut seiend wie (überhaupt) möglich.“]. Platon, Politeia II, 381 c. In Platons Phaidon und Phaidros finden wir ebenfalls die Idee Gottes als eines notwendig seienden Wesens, in dem Dasein und Wesen untrennbar eins sind. Vgl. Robert Spaemann „Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ‘Gott‘“, S. 1335.
Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit
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der es nur wertneutrale Fakten einerseits und subjektive Zwecke, für die Mittel tauglich sein können, andererseits gibt? Läßt nicht auch Heidegger unbemerkt den Gedanken des Wertes bzw. des in sich selber Kostbaren wieder in seine Metaphysik hereinschlüpfen?323 Sicher können wir Heideggers Aufsatz zugutehalten, daß man es sich oft allzu leicht gemacht hat, die Ausdrücke des Guten und der Wahrheit zu verwenden, ohne tiefer über ihren Sinn nachzudenken. Gerade dies versuchen die beiden Bände des vorliegenden Werkes zu unternehmen und gerade im Lichte eines solchen tieferen Nachdenkens über die Wahrheit erschließt sich der Sinn der ontologischen gegenüber der Erkenntnis- und Urteilswahrheit sowie die Tatsache, daß bei Platon die Anerkennung beider keinerlei Wesenswandel der Wahrheit, sondern vielmehr ein komplexes, wenn auch weiter zu differenzierendes Verständnis des Wesens der Wahrheit einschließt. Denn gerade nur in einer Erkenntnis, in der das Seiende unverborgen vor dem Geist liegt oder jedenfalls partiell aus seiner Verborgenheit gezogen wird, kann auch eine echte homoiosis liegen. Nur wenn es auf der Ebene der Erkenntnis und des Urteils adaequatio gibt, gibt es auch die Unverborgenheit des Seins. Darin liegt die Widersprüchlichkeit, ja Absurdität in Heideggers These vom Wesenswandel der Wahrheit, daß darin ja jeweils auch vorausgesetzt wird, was er leugnet, nämlich die volle Verträglichkeit beider Bedeutungen von Wahrheit. Ein anderer Einwand Heideggers gegen Platons Lehre von der Wahrheit betrifft den Vorwurf, Platon habe die Ideen zwischen Ding und Geist dazwischengeschaltet. Platon habe gemeint, das, was die Ideen an den Phänomenen zeigen, wenn man die Ideen selber geschaut habe, sei die Wahrheit, die aletheia. Ob nun Platon in den Ideen selbst das eigentlich Seiende erblickt oder nur betont, daß die Einzeldinge nur im Licht der zeitlosen Wesenheiten und eide angemessen erkannt werden können, auf keinen Fall impliziert seine These einen Wesenswandel der Wahrheit oder einen Wandel des Wahrheitsbegriffs. Vielmehr ergänzen sich der ontologische Wahrheitsbegriff des viele Grade aufweisenden „wahrhaftig Seins“, sowie der Begriff der Erkenntniswahrheit und der ganz andere der Wahrheit von Urteilen bzw. Sätzen im logischen Sinne dieses Wortes.
323
Siehe Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, a.a.O.., S. 36-37.
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KAPITEL 8
Über das Erkennbare, Wirkliche oder eigentlich Seiende gibt es wahre Erkenntnisse und wahre Urteile. Das eine ist unmöglich ohne das andere. 6. Der eigentliche „existentialistische Wahrheitsbegriff“ bei Heidegger im Unterschied zu jenem der Unverborgenheit
6.1. Darstellung des existentialistischen Wahrheitsbegriffs bei Heidegger
Bei Heidegger finden wir noch einen anderen Wahrheitsbegriff, den er vor allem in Sein und Zeit, aber auch in seinem Buch über Nietzsche und in anderen Werken entwickelt. Dieser spezifisch existentielle Wahrheitsbegriff versteht unter „Wahrheit” existentielle Eigentlichkeit. Die Wahrheit des Hasses liegt in einem nicht-konventionellen Haß, oder in einer nicht konventionellen Liebe, die einem „man haßt“, „man liebt“ oder schwachen Ausdrucksformen von Haß und Liebe entgegengesetzt sind. In diesem Sinn ist der wahre Mensch jener Mensch, der in seinen Leiden und Freuden, in seinem Haß und in seiner Liebe ganz ist. Heideggers Idee der Wahrheit als existentielle Eigentlichkeit einerseits und als Unverborgenheit im Sinne eines Seinsmodus des Daseins (= des Menschen) andererseits wird zwar von Heidegger der Idee der Wahrheit als adaequatio entgegengesetzt. Dennoch kann sich auch Heidegger nicht aus der „Schlinge der Wahrheit“ lösen und setzt voraus, daß die existentielle „Wahrheit“ eine Art von „Übereinstimmung“ ist (obwohl Heidegger die Bestimmung der Wahrheit als Übereinstimmung vehement zurückweist): nämlich eine Übereinstimmung zwischen der Struktur des existierenden Subjekts und dem Inhalt seiner Überzeugungen, sowie zwischen seiner Liebe, seinem Haß etc. und deren eigentlichem (wahren) Wesen. Wahr ist, was die Eigentlichkeit des Subjekts, seines Liebens wie seines Hassens, entfaltet, was Heidegger zunehmend als das deutet, was dem Selbstverständnis und der Selbstinterpretation des Subjekts entspricht und was ihm Existenz und Sein ermöglicht. Indem er die Wahrheit der Eigentlichkeit auf eine Art Verhältnis zu dem eigenen schöpferischen
Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit
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Lebensentwurf deutet, fühlt sich Heidegger mit Recht Nietzsches Philosophie des Übermenschen eng verwandt. Ein ähnliches Verständnis von existentieller Wahrheit finden wir auch in Bultmanns Theologie der Entmythologisierung, nach der etwa die Sätze des Credo nicht objektive Wirklichkeiten ausdrücken, die unabhängig vom Glaubenden bestehen, sondern vielmehr bloß sein eigenes Selbstverständnis und das, was ihm existentielle Erfüllung gewährt, ausdrücken. 6.2. Kritik der existentialistischen Wahrheitstheorie als Wesenstheorie der Wahrheit
In der kritischen Auseinandersetzung mit dieser Auffassung ist zunächst positiv zu sagen, daß sie ein sehr wichtiges Phänomen zum Ausdruck bringt, das eigentlich zwei Dinge umfaßt: einmal die alte, bei Bonaventura stark betonte Idee einer Wahrheit des Willens und Herzens, eine Wahrheit des Lebens; zum anderen die bei Kierkegaard Heidegger vorweggenommene geniale Idee der existentiellen Uneigentlichkeit des „man denkt“, „man stirbt“, „man glaubt“, im Gegensatz zum eigentlichen, personal vollzogenen Denken, Sterben oder Glauben. Doch in dem Augenblick, in dem dieser existentielle Wahrheitsbegriff an die Stelle der satzhaften Urteilswahrheit und Übereinstimmung treten soll, wie sich dies in Heideggers Platons Lehre von der Wahrheit und bei Nietzsche, sowie in Heideggers Nietzsche-Buch geltend macht, muß diese Wahrheitstheorie aus den folgenden Gründen kritisch zurückgewiesen werden: Erstens widerspricht die existentielle Wahrheitstheorie, welche die sogenannte „existentielle Wahrheit“ mit dem Wesen der Wahrheit identifiziert und durch sie die klassische Adäquationstheorie der Wahrheit verdrängen will, sich selbst, wenn sie als Ersatz für Wahrheit im Sinne der adaequatio genommen wird. Denn sie setzt notwendig jenen Wahrheitsbegriff und jenes klassische Wahrheitsverständnis voraus, das nicht bloß „traditionell“ ist, sondern eine ohne Widerspruch nicht leugbare Einsicht in das objektive Wesen der Wahrheit ausdrückt. Auch diese existentialistische Wahrheitstheorie erhebt ja unweigerlich den Anspruch, das zu sagen, was wirklich Wahrheit sei, worin Wahrheit wirklich bestehe. So
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KAPITEL 8
faßt Heidegger diese als ein „Entdeckendsein des Daseins“ oder als eine Übereinstimmung zwischen der Struktur der Eigentlichkeit des Subjekts und dem Inhalt ihrer Überzeugungen bzw. ihrer Aktvollzüge auf. Mit dieser Theorie jedoch, als einer Theorie darüber, worin Wahrheit bestehe, erhebt diese Auffassung notwendig den Anspruch darauf, das auszusagen, was wirklich die Wahrheit ist. Sie selbst also kann nicht umhin, für die in ihr enthaltenen Aussagen Wahrheit gerade in jenem Sinne vorauszusetzen, den sie durch die existentialistische Deutung von Wahrheit überwinden will. Daraus ergibt sich jedoch ein Selbstwiderspruch der Theorie, da diese allgemein aussagen möchte, worin Wahrheit besteht, aber im Inhalt dieser Aussage die Wahrheit existentialistisch bestimmen will, dabei jedoch unweigerlich bereits wieder eine „nicht-existentialistische“ Konzeption der Wahrheit als Übereinstimmung mit der Wirklichkeit voraussetzt. Es ist mit Heidegger (und auch mit Russells Typentheorie in den Principia Mathematica) Mode geworden, sich großspurig über jedes Argument hinwegzusetzen, das in der eigenen Theorie innere Widersprüche nachweist. Russell und Whitehead meinen, die Selbstanwendung (die Bedingung der meisten inneren Widersprüche) überhaupt ausschließen zu dürfen, um die scheinbaren mathematischen Antinomien, etwa die der Mengenlehre, zu vermeiden. Dabei übersehen sie, daß ein solches Prinzip weder nötig ist, um die Antinomien auszuschließen, noch als allgemeines Prinzip der Typentheorie oder der Unterscheidung Sprache-Metasprache haltbar ist. Denn bei seiner Behauptung würden die obersten logischen Prinzipien wie das des Widerspruchs auf sich selbst nicht anwendbar sein und damit würde der Logik und allgemeinen Ontologie jeglicher Boden entzogen. Außerdem fehlt die Typentheorie gegen die Evidenz, daß (im Gegensatz zu empirischen Allgemeinheiten wie dem „Barbier von Sevilla, der alle und nur diejenigen Männer Sevillas rasiert, die sich nicht selbst rasieren“) im Falle allgemeiner und notwendiger Prinzipien der sie Aussagende oder die sie behauptende Theorie, sich unmöglich von ihrem Inhalt ausnehmen können, wenn sie objektiv unter ihn fallen. Heidegger bemerkt noch einfacher und noch unverhohlener als Russell in den Principia Mathematica, es handle sich bei einem Argument aus dem Selbstwiderspruch einer Theorie um bloße „plumpe Überrumpelungsversuche“. Er scheint sich damit nicht bewußt zu sein, daß das Widerspruchs-
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prinzip, wie Aristoteles formuliert, das sicherste aller wahren Prinzipien ist und daß es deshalb einen Todesstoß für eine Theorie und einen vernichtenden Falschheitsbeweis derselben darstellt, wenn nachgewiesen wird, daß sie sich notwendig in einen Widerspruch verstrickt. Dieses von Platons Theaitetos bis Descartes, Schopenhauer oder Husserl verwendete Argument als „plumpen Überrumpelungsversuch“ abzutun kann höchstens rhetorischen Erfolg haben, ist aber philosophisch gesprochen Unfug, wie andernorts ausführlich begründet wurde.324 Abgesehen von diesem inneren Widerspruch leuchtet es auch aus der intelligiblen Struktur des Urteils ein, daß das Wesen der Wahrheit eines Urteils, und damit eines von jedermann vorausgesetzten hauptsächlichen Wahrheitsträgers, unmöglich mit der existentiellen Erfüllung von Subjekten identifiziert werden kann. Denken wir nur an einen Menschen, der sich eine Welt von Illusionen schafft, wie dies etwa in Anouilhs Leocadia anschaulich vor Augen geführt wird. Dort begegnet uns ein Mensch, der in einer Traumwelt lebt und in dieser Erfüllung findet, der sich alle möglichen Dinge einbildet, durch die er glücklicher zu leben meint als ohne solche Einbildungen. Ein solcher Mensch mag tatsächlich durch den Inhalt seiner Überzeugungen existentielle Erfüllung finden; diese sind aber offensichtlich nicht deshalb wahr. Damit soll keineswegs in Abrede gestellt werden, daß es auch eine existentielle Wahrheit geben kann und gibt. Diese liegt allerdings nicht primär in dem Phänomen des „Ich“ im Gegensatz zum „Man“, das Heidegger als Eigentlichkeit bezeichnet und das einfach die lebendigexistentiell vollzogene Wirklichkeit derjenigen Akte zum Ausdruck bringt, die von ihm als eigentlich bezeichnet werden. So spricht Heidegger in seinem Nietzsche-Buch von der Eigentlichkeit, die sich gleich ursprünglich in Liebe und Haß eines Menschen erweisen könne. Damit ist wohl gemeint, daß es sich bei eigentlicher Liebe oder bei einem ebensolchen Haß nicht um ein konventionelles Phänomen handelt, um ein „man haßt“ oder „man liebt“, das der Einzelne gleichsam anonym-gedankenlos 324
Siehe Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; ders., „Das Antinomienproblem als ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“ in: Prima Philosophia, Bd. 2, H 2, 1989.
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KAPITEL 8
mitmacht, sondern um eigentlichen persönlichen Haß, wie wir ihn etwa in der Gestalt Jagos in Shakespeares Othello finden. Dieses Phänomen der Eigentlichkeit und Authentizität ist gewiß ein wichtiges, das Heidegger besonders in den Blick gerückt hat, aber vor ihm noch viel deutlicher Kierkegaard, etwa in der Unwissenschaftlichen Nachschrift, herausgearbeitet hat. Diese Eigentlichkeit wird jedoch wohl kaum in akzeptabler Wortprägung als Wahrheit im existentiellen Sinn zu bezeichnen sein, da auch ein destruktiver, nihilistischer Geist, ein bösartiger Neid „eigentlich“ sein kann, deshalb aber noch nicht im tieferen existentiellen Sinne des Wortes wahr ist. Existentielle Wahrheit in einem viel tieferen Sinn zielt vielmehr auf das Phänomen ab, das Bonaventura als veritas vitae bezeichnet hat, das die Konformität der Existenz und Akte des Menschen mit seiner Berufung und der Wahrheit über den Menschen bedeutet, und zwar sowohl mit den Gütern und Wirklichkeiten, auf die hin der Mensch seiner Natur nach angelegt und zugeordnet ist, als auch mit seinem eigenen tieferen Wesen. In diesem Sinne ist die Erfüllung des Subjekts nicht subjektivistisch als bloß eigener Entwurf oder als bloße Übereinstimmung des Inhalts des Lebens mit dem eigenen Lebensprojekt oder als „Entdeckendsein des Daseins“ gedacht, sondern vielmehr als Übereinstimmung der Person mit der Wahrheit der Dinge und zugleich mit der Wahrheit des Subjekts selbst. Wahrheit im existentiellen Sinne, so verstanden, und in der Philosophie Wojtyáas in höchst neuer, aber zugleich klassischer Weise neu gedeutet,325 kann jedoch unmöglich als Ersatz für Urteilswahrheit aufgefaßt werden, insbesondere da jede existentielle Wahrheit die Urteilswahrheit bereits wieder voraussetzt. Denn das, was in der letztbestimmten Weise im existentiellen Sinne wahr ist, schöpft seine Wahrheit gerade aus einem Bezug zur Wirklichkeit jenseits des Subjekts, zur Welt der Werte und Güter, und zugleich zur eigenen Wirklichkeit des Subjekts. Dessen „in der 325
Vgl. Karol Wojtyáa, “Subjectivity and the Irreducible in the Human Being,” in: Analecta Husserliana VII (Dordrecht: D. Reidel, 1978), pp. 107-114; Karol Wojtyáa, Metafisica della persona. Tutte le opere filosofiche a saggi integrative, a cura di Giovanni Reale e Tadeusz StyczeĔ, (Milano: Bompiani, 2003). Vgl. Auch Josef Seifert, “Karol Cardinal Karol Wojtyáa (Pope John Paul II) as Philosopher and the Cracow/Lublin School of Philosophy” in: Aletheia II (1981), pp. 130-199.
Heideggers Verwerfung der Adäquatio-(Orthótes) Theorie der Wahrheit
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Wahrheit des Lebens Sein“ beruht gerade auf der Wahrheit im Sinne der adaequatio an die Wirklichkeit, die zur inneren Form des Lebens und Tuns der Person wird; man könnte geradezu von der Wahrheit als forma vitae sprechen. Im existentiellen Sinne des Wortes „wahr“ ist ein Leben, das mit den Forderungen, Gütern und Wirklichkeiten in Einklang steht, die auch in wahren Urteilen formuliert werden könnten und deren existentieller Ruf an die Person, sowie das Fühlen, Wollen und Tun derselben gleichfalls wieder in Form wahrer Urteile zu fassen ist.
KAPITEL 9 WITTGENSTEIN UND DAS PROBLEM „RELIGIÖSER WAHRHEIT“ – KRITISCHE REFLEXIONEN ÜBER WITTGENSTEINS WAHRHEITSBEGRIFF
Wie man Religionsfähigkeit als Wesenseigenschaft der Person deutet, ob im Sinne des Atheismus, im Sinne einer rein subjektiv-kreativen Sinngebung und Konstitution religiöser Objekte von einer bestimmten „Lebenswelt“ oder „Lebensform“ aus, oder als wirklichen oder möglichen Wahrheitsbezug im religiösen Glauben, an dieser Frage scheiden sich die Geister. Zahlreiche Deutungen der Religiosität des Menschen deuten oder erklären im Grunde diese Wesenseigenschaft der Person nicht, sondern bestreiten sie, indem sie jedes eigentliche Verhältnis der menschlichen Person zum Absoluten, zu Gott, leugnen oder ausschließen. Und zu diesen Philosophien zähle ich viele der Ansätze zu einer Religionsphilosophie, die wir bei Wittgenstein finden und die auch Wittgensteins Philosophie der Wahrheit zum Ausdruck bringen. Allerdings müssen wir von zwei verschiedenen und miteinander unverträglichen Gedankenlinien in Wittgensteins Religionsphilosophie reden. Die folgenden Reflexionen gelten primär der religionskritischen These Wittgensteins, religiöse Aussagen seien Unsinn. Die Wurzeln dieser Ansichten wie jener Wittgensteins, als einer unter Hunderten ähnlichen, finden sich in der subjektivistischen und letztlich relativistischen Deutung der Erkenntnis durch David Hume und der „kopernikanischen Wende“ Immanuel Kants, der gemäß alle Gegenstände des Bewußtseins, und insbesondere die „(transzendentalen) Ideen“ ‚Gott‘, ‚Seele‘, ‚Unsterblichkeit‘ vom menschlichen Geist konstituiert werden, sei es durch Assoziationen, ein transzendentales Ich, die Geschichte, Gesellschaft, Materie oder Sprache, weshalb ein Zugang zum Ding an sich, zu objektiver Wirklichkeit und Wahrheit a priori, noch vor aller Diskussion der Frage religiöser Wahrheit, ausgeschlossen ist.326 Auf diesem Boden 326
Mit Max Black und Elizabeth Anscombe könnte man leugnen, daß der Tractatus Wittgensteins empiristische Tendenzen aufweise oder dem Neopositivismus des Wiener Kreises nahestünde. Freilich läßt sich, wie übrigens auch für Humes und
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KAPITEL 9
operieren der weitaus größte Teil heutiger Religionsphilosophen. Ich meine hingegen sehr wohl, daß wir den Boden der Aufklärung, des Empirismus oder Kantianismus nicht als unverrückbare Basis heutigen Philosophierens oder als unabwendbares Schicksal zu betrachten brauchen, sondern aus dieser subjektivistischen Verengung der Philosophie, als ihrer größten Krise in der Geschichte abendländischen Denkens, herauskommen und einen kritischen Rückgang auf eine realistische und objektivistische Philosophie suchen müssen und finden können. Von vielen Aspekten dieser erkenntnistheoretischen Grundlagen der folgenden Reflexionen haben wir bereits gehandelt und verweisen auf weitere Werke.327
327
Carnaps Positionen, keine einzige philosophische These Wittgensteins empirisch begründen. Auch sucht Wittgenstein eine formale Ontologie. Doch bleibt er mit seiner Auffassung, notwendige Urteile seien sinnlos und entweder Tautologien oder Widersprüche, dem Kern des Empirismus verhaftet (Tractatus 4.46-4.4661). Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen; Adolf Reinach, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. I: Die Werke, Teil I: Kritische Neuausgabe (1905-1914), Teil II: Nachgelassene Texte (1906-1917), S. 531-550; ders., Über Phänomenologie, in: Adolf Reinach, Sämtliche Werke, Bd. I, ebd., S. 531-550; Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, aus dem Engl. übers. v. Fritz Wenisch, in: Hildebrand, Gesammelte Werke, Bd. I (Regensburg/Stuttgart: Habbel/Kohlhammer, 1976); ders., What is Philosophy?; ders., Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt, Teilveröffentlichung der Salzburger Vorlesungen Hildebrands: ‘Wesen und Wert menschlicher Erkenntnis’, Aletheia 6/1993-1994 (1994), 2- 27; Balduin Schwarz (posthum, hg. von Paola Premoli, Josef Seifert), Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen Krisen und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie; Fritz Wenisch, Die Philosophie und ihre Methode (Salzburg: A. Pustet, 1976); Josef Seifert, „Die ‘Siebte Ausfahrt’ als Aufgabe der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein (1986-1996). Rede zur 10-Jahres-Jubiläumsfeier der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein am 26. Oktober 1996“, in: Mariano Crespo (Hg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik, S. 19-55; ders., Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis; ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism; ders., Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una metafisica classica e personalistica; ders. Sein und Wesen; ders., Gott als Gottesbeweis.
Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“
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1. Wittgensteins Behauptung der Unsinnigkeit der Religion und ihre Gründe Ludwig Wittgenstein vertritt in vielen Passagen eine Auffassung von Religion und Ethik, in der er diesen Phänomenen respektvoll gegenüberstehen will, sie aber zugleich für Unsinn hält; ja Wittgenstein, der andernorts allgemeine Wesen überhaupt leugnet, behauptet von Ethik und Religion, daß „ihre Unsinnigkeit ihr Wesen ausmacht”.328 Man mag freilich mit Ramsey sagen, Wittgenstein spreche hier von einem „bedeutungsvollen Unsinn”329 oder habe ganz ähnliche Intentionen wie die Phänomenologen, indem er nicht absolute Werte als solche, sondern nur deren reduktionistische Erklärung und Zurückführung auf etwas anderes als Unsinn erkläre.330 Daß sich eine so wohlwollende Interpretation nicht halten läßt, 328
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Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg.v. Joachim Schulte (Frankfurt a.M., 1989), S. 18. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Theologie und Ethik, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt), Wittgenstein, in der von Peter Sloterdijk herausgegebenen Reihe Philosophie Jetzt! (München: Eugen Diederichs Verlag, 1996), S. 359-361. Die Stelle, an denen diese beiden Meinungen am schärfsten zusammengebracht werden, ist vielleicht der folgende Text: „Es kommt also auch gar nicht darauf an, ob die Worte wahr oder falsch oder unsinnig sind... Ich kann nur sagen: ich mache mich über diese Tendenz im Menschen nicht lustig; ich ziehe den Hut davor.“ (Ebd., S. 361). Diesen Ausdruck hat Frank Plumpton Ramsey in seinen Foundations of Mathematics and other Logical Essays (1931), (London: Routledge, 2001) geprägt. Vgl. auch Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief (Oxford UK & Cambridge USA: Blackwell Publishers, 1991, 2002), S. 22. Auch Allan Janik, Essays on Wittgenstein and Weininger (Den Haag/Amsterdam: CIPGegevens Koninklijke Bibiotheek/Rodopi, 1985), S. 76, schreibt diese Meinung Wittgenstein selbst zu. Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, S. 22 f. Vgl. auch ebd., S. 161 f., wo Barrett die Unterscheidung Wittgensteins zwischen relativen und absoluten Werturteilen erklärt und selber (S. 162) den absoluten Wahrheits- und Wertbegriff der Religion hervorhebt. Völlig andere Erklärungen werden von anderen Autoren gegeben. So hat, gestützt auf Wittgensteins eigene Bemerkung, er müsse anders leben, um ethisch anders zu denken, Albert William Levi, in The Biographical Sources of Wittgensteins Ethics, Telos 38 (Winter 1978-1979), 6376, die ethischen Grundideen Wittgensteins als Frucht „schuldhafter Homosexua-
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KAPITEL 9
gibt sogar derjenige Wittgenstein-Interpret zu, der ihr am nächsten steht bzw. sie zu vertreten scheint, Cyril Barrett.331 Abgesehen davon, daß diese Erklärungen daran scheitern, daß niemand Werte und Religion Unsinn nennt, wenn er nur ihre falschen Zurückführungen ablehnt, meint Wittgenstein, wie viele Texte zeigen, mit dem Unsinn von Religion und absoluten Werten gerade eben ...: Unsinn! Es liegt jedoch wohl auf der Hand, daß es ganz unmöglich ist, ernsthaften Respekt vor religiösem Glauben mit der Behauptung seiner Unsinnigkeit zu vereinbaren. Denn in welchem Sinn des Wortes kann Unsinn Gegenstand von Respekt sein? Man kann daraus zwei Schlüsse ziehen: entweder liegt in Wittgensteins Denken über Religion sehr viel Dunkles, Unergründliches und Widersprüchliches, sodaß er in der Tat in manchen Gedanken das respektiert, was er an anderer Stelle für Unsinn erklärt. Dafür sprechen viele der Stellen, in denen Wittgenstein sich sehr ernsthaft und mitunter tief mit Soeren Kierkegaard und mit den Fragen des Glaubens selbst, besonders des christlichen Glaubens (so etwa mit den Fragen des Heils, der Auferstehung und Liebe als Quelle religiösen Glaubens)332 auseinandersetzt, den Glauben scharf von Aberglauben unterscheidet, oder die Meinung Frazers über die Irrigkeit aller religiöser Anschauungen, unter Berufung auf die offenbar nicht als „irrig“ qualifizierbaren Anrufungen
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lität“ angesehen, eine Meinung, der andere sowohl aus biographischen wie aus allgemeineren Erwägungen heraus entgegentreten. Vgl. etwa Allan Janik, Essays on Wittgenstein and Weininger, S. 74 ff. Vgl. Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, S. 28, wo er sagt, er stimme den Wittgenstein-Kritikern zu, wenn sie hervorheben, daß ethische Aussagen, von denen Wittgenstein in seiner „Sinnlosigkeits-“ bzw. Unsinnigkeitsthese behauptet, sie könnten nicht wahr oder falsch sein, doch sehr wohl wahr oder falsch sein können und daß rassistische Nazis sich ethisch, gelinde gesagt, irren. In seiner Betonung einer Ich-Du-Beziehung zu Gott und der Unmöglichkeit, mit Gott ohne eine eigene persönliche Gottesbeziehung zu reden, ist Wittgenstein in mancher Hinsicht Kierkegaard oder auch Martin Buber oder Gabriel Marcel verwandt. Vgl. Ludwig Wittgensteins (vorwiegend zwischen 1945-1948 entstandene), Zettel, hrsg.v. G. Elizabeth M. Anscombe und G. H. von Wright (Berkeley and Los Angeles, 1967, 1970), 717: „Gott kannst du nicht mit einem Andern reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist. Das ist eine grammatische Bemerkung.“
Wittgenstein und das Problem „religiöser Wahrheit“
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Gottes des hl. Augustinus in dessen Confessiones, zurückweist.333 Oder aber man beharrt auf den vielen Stellen bei Wittgenstein, oft in denselben Werken,334 in denen deutlich wird, was noch klarer von vielen Wittgensteinianern gilt, daß er wirklich Religion für reinen Unsinn hält; und dies ist objektiv mit Respekt für sie unverträglich. In dieser Interpretation kann Wittgensteins These des unsinnigen Charakters aller religiösen Aussagen, konsequent weitergedacht, logischerweise nur dazu führen, Religion abzulehnen oder abschaffen zu wollen, eine Konsequenz des Neopositivismus, die bei verschiedenen Vertretern des kritischen Rationalismus kraß hervortritt.335 Derart weittragende Folgen einer philosophischen Position, die glaubt, so grundlegende Phänomene wie Ethik und Religion als Unsinn qualifizieren zu dürfen, bedürfen jedoch, angesichts des Gewichts der hier dramatisch sich stellenden Frage, der eingehendsten und genauesten kritischen Analyse. So müssen wir zunächst fragen: Warum hält Wittgenstein an vielen Stellen sowohl jede ethische wie jede religiöse Aussage für unsinnig? Diese seine These versucht Wittgenstein auf verschiedene Weisen zu begründen:
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Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, amended 2nd ed., hrsg. v./ed. Georg Henrik von Wright, übers. V./trans. Peter Winch (Oxford UK&Cambridge USA/Frankfurt a.M.: Basil Blackwell/Suhrkamp Verlag, 1977, 1980/1988), S. 33, bes. ibid., S. 45-46 (ca. 1944), S. 64, sowie S. 72 f., 80-81, 85-86. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Notizen zu James George Frazers ‚The Golden Bough’, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt), Wittgenstein, S. 412-428, bes. S. 412. Vgl. ebenfalls Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen/Philosophische Bemerkungen, Wiener Ausgabe, Michael Nedo (Hg.), Bd. 3 (Wien/New York: Springer-Verlag, 1995), S. 276 f., Nr. 3 ff. Vgl. auch den Kommentar über die schönsten Texte Wittgensteins in CV, S. 33, in Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief , S. 180-182. Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S. 29, 64. Im allgemeinen enthalten die Vermischten Bemerkungen fast durchwegs tiefe, von Kierkegaard und dem Evangelium inspirierte Texte über Religion und Gott, in denen der Gedanke, daß Religion Unsinn ist, ganz fehlt. Vgl. z. B. ebd., S. 31ff. Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft (Tübingen: J.C.B. Mohr/Paul Siebeck, 51980).
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(1) Als Voraussetzung seiner These, Ethik und Religion seien Unsinn, sieht Wittgenstein die Tatsache, daß von der Ethik und Religion notwendig Aussagen über absolute Werte gemacht werden.336 Die Unsinnigkeit religiösen Glaubens liegt nun nach Wittgenstein zunächst darin begründet, daß die Religion keinerlei rationale Begründung und Rechtfertigung für ihre Werturteile, keinerlei denkbare Verifikation für ihre wertbetonten Aussagen besitze, und zwar gerade dann, wenn sie nicht einfach sagt, „Gut ist, was Gott befiehlt“, sondern behauptet, Gott wolle das Gute, weil es in sich gut sei.337 Denn Urteile über absolute Werte, wie sie Religion und Ethik voraussetzen, seien inkohärente Ausdrucksweisen: der in ihnen liegende Versuch, über Fakten hinauszugehen, stelle einen Versuch dar, über die Welt hinauszugehen, und damit – sowie mit dem Fehlen jeder Nachprüfbarkeit338 – werde das Reich sinnvoller Sprache verlassen.339 Ob Wittgenstein ein überzeugendes Argument für diese aller Erfahrung widersprechende Aussage bietet, daß uns absolute Werte nicht klar und eindeutig als Eigenschaft von Seienden, z.B. von Personen oder gerechten Handlungen auf Grund ihres Wesens und Daseins gegeben seien, muß jedoch geprüft werden. (2) Sodann liegt der Grund der behaupteten Unsinnigkeit von Religion Wittgensteins Meinung nach noch in einem ganz anderen Faktor, nämlich darin, daß wir in der Religion über etwas Aussagen machen, von dem wir bildhaft reden, ohne daß es im nicht-bildhaften Ziel religiöser Aussagen – in den spezifisch religiösen Inhalten der Schöpfung der Welt, der Gnade, Schuld und Erlösung340 – irgendein etwas gäbe, wofür das religiöse 336
In diesem Punkte folgt ihm die Theorie Mackies. Vgl. J. L. Mackie, Ethics: Inventing Right and Wrong (New York: Pinguin Books, 1977). 337 Wittgenstein, Theologie und Ethik, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt), Wittgenstein, S. 359-361, bes. S. 359. Dort betont Wittgenstein, die (schon in Platons Eutyphro geäußerte) Auffassung, die Götter gebieten das Gute, weil es gut ist, und es sei nicht gut, weil Gott es gebiete, sei oberflächlicher, nicht tiefer als die erwähnte positivistische Zurückführung des Wertes auf einen unbegründeten Willen oder Befehl Gottes. 338 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über den religiösen Glauben, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt), Wittgenstein, S. 362-385, S. 370 f. 339 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über den religiösen Glauben, S. 362-385. 340 Wittgenstein, ebd., S. 16.
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„Gleichnis“ ein Gleichnis wäre.341 Es bleibe bei näherer Betrachtung des spezifisch religiösen (nicht bildhaften) Inhalts religiöser Aussagen schlechthin nichts übrig. Ein radikaler Agnostizismus hinsichtlich dessen, wofür religiöse Bilder sein sollen, bildet also den zweiten Grund für Wittgensteins These. (3) Drittens faßt Wittgenstein religiöse Aussagen als unsinnig auf, weil sie „gegen die Gesetze der Sprache gerichtet“ seien. Er meint aber eigentlich etwas anderes, nämlich: religiöse Gefühle und deren sprachlicher Ausdruck seien gegen die Wesensgesetze humaner Akte gerichtet. So staune man in der Religion über etwas (die Existenz der Welt), wovon wir uns nicht vorstellen können, es sei nicht der Fall, und das deshalb kein sinnvolles Staunen verdiene oder ermögliche, weil es „eine absolute Tautologie“ sei.342 In ähnlicher Weise begründet Wittgenstein seine These, daß Religion wesenhaft unsinnig sei, damit, daß es ein Mißbrauch der Sprache sei zu behaupten, man fühle sich religiös „sicher, egal was passiert“, weil Sicherheit gerade bedeute, sicher zu sein, daß bestimmte Dinge nicht passieren werden. Also handle es sich bei religiösen Gefühlen um absurde und sinnlose Gefühle.343 (4) Aus all diesen Gründen gehe es bei religiösen Sätzen nicht nur um unbegründbare und unverifizierbare Aussagen, sondern im Grunde um gar keine Aussagen, vielmehr um den bloßen Schein derselben. Durch seine Überlegungen über Quellen und Natur religiöser Glaubensaussagen geleitet, verbannt Wittgenstein in vielen Texten jeden sinnvollen Wahrheitsanspruch aus religiösen Aussagen und Glaubenssätzen, die eigentlich nur gegenüber dem Ungläubigen oder dem unvernünftig Religiösen selber „so tun“, als wären sie sinnvolle Aussagen, aber in denen im Grunde nichts gesagt oder behauptet wird, genauso wenig wie in einem Schachspiel oder einem Damespiel etwas über Damen jenseits dieser Spiele behauptet werde.344 Religion müsse daher nicht in der Weise sinnvoller Sätze mit Wahrheitsansprüchen, sondern rein anthropologisch 341 342 343 344
Wittgenstein, ebd., S. 19. Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, S. 15. Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften., S. 15-16. Zur Begründung dieser Wittgenstein-Interpretation vgl. Wayne Grennan, Wittgenstein on Religious Utterances, in: Sophia (Australien) Oktober 1976, 15, 13-18.
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und ganz subjektiv, wie ein bloß persönlich bevorzugtes Spiel, gedeutet werden.345 Diese Ansicht findet sich besonders in Ludwig Wittgensteins Lectures on Religious Belief.346 Wittgenstein zufolge bleiben deshalb für die religiöse Aussage nur andere Funktionen außer ihrem Wahrheitswert übrig, die Wittgenstein an verschiedenen Stellen je verschieden faßt: a) Manchmal als psychologische Funktion (unsinniger) religiöser Sätze, die nur „ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein“ sind. Anstatt dabei einen existentialistischen oder psychologistischen Wahrheitsbegriff einzuführen, demnach Wahrheit nur ein psychologischer und existentieller Persönlichkeitsausdruck oder existentielle Eigentlichkeit wäre, faßt Wittgenstein diese Deutung religiöser Wahrheit mit Recht als ihre Falscherklärung, ja als eine Sinnloserklärung auf, da eine Aussage, die einen Wahrheitsanspruch macht und eine bloße Äußerung eines Dranges wesensverschieden sind.347 b) In anderen Texten sieht Wittgenstein in der Religion ein spezifischeres psychologisch-sprachliches und zugleich prometheisches Motiv: nämlich sinnlos „gegen die Wände unseres Käfigs“ anzurennen, indem wir „über die sinnvolle Sprache“ und „über die Welt“ (was dasselbe sei) „hinauszugelangen“348 suchen, oder von „Hirngespinsten“, die gar keine Sachverhalte sein können,349 reden wollen. Dadurch würden wir aber die Grenzen menschlicher Sprache übersehen.350 Es scheint mir, daß keines der Argumente Wittgensteins gegen die wesentliche Beziehung zwischen Sinn, Wahrheit und Religion und für die 345
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Von diesem Weg Wittgensteins vom Objektivismus zum Anthropozentrismus von Sprachspielen in seiner Deutung des anthropomorphen Charakters der Religion handelt ein interessanter Artikel: N. H. G. Robinson, After Wittgenstein, in: Relig Stud (1976), 12, 493-507. Ludwig Wittgenstein, Lectures on Religious Belief, in: Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology & Religious Belief, ed. by Cyril Barrett (Oxford: Basil Blackwell, 1966/1970), S. 53-72, S. 53 ff. Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleinere Schriften, S. 19. Wittgenstein, ebd., S. 18. Ebd., S. 14. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Philosophische Betrachtungen/Philosophische Bemerkungen, Wiener Ausgabe, Michael Nedo (Hg.), Bd. 2 (Wien/New York: Springer-Verlag, 1994,) S. 3, Nr. 5-7.
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Konsequenzen, die er daraus im Sinne des unsinnigen Wesens der Religion zieht, klar, geschweige denn gültig ist. Das soll im folgenden klargestellt werden. Doch schon eingangs können wir thesenhaft formulieren, was es später zu begründen gilt: Die Existenz einer Welt, die – ebenso wie wir – auch nicht existieren kann, ist keinerlei Tautologie. Religiöse Aussagen haben einen klaren Sinn, von dem wir sehr wohl Wahrheit oder Falschheit aussagen können. Ebenso unhaltbar ist Wittgensteins Argument für die Unsinnigkeit der Religion aus einer Aktphänomenologie.351 Das Gefühl metaphysischen Staunens über das Dasein der Welt ist keineswegs sinnlos, und zwar sowohl deshalb, weil wir sehr wohl über etwas staunen können, dessen Nichtsein unmöglich ist (Gott), als auch aus dem Grunde, daß das Dasein der Welt kontingent und gerade nicht notwendig ist. Auch ist jenes Gefühl religiöser Geborgenheit keineswegs das absurde innerweltliche Gefühl, vor Unfällen u. dgl. „sicher zu sein, egal was passiert“, als das Wittgenstein es beschreibt. Erst recht sind jene Sachverhalte, auf die Lehren wie die der Existenz Gottes oder Schöpfung abzielen, kein Nichts, noch reduzierbar auf Gleichnisse, sondern verstehbare Aussagen, von denen man Wahrheit oder Falschheit aussagen kann, an deren Wahrheit man zweifeln kann, usf.352 Es leuchtet ein, wie wichtig eine sorgfältige kritische Untersuchung dieser Thesen, die Wahrheit ganz aus der Religion verbannen wollen, für jede Religionsphilosophie, Religion und Theologie, aber auch für unser Verständnis des Wesens der Wahrheit ist. Wenn Wittgenstein in den im Folgenden erörterten Texten, denen allerdings ganz
351
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Zur Frage, wie Wittgenstein zur Phänomenologie im allgemeinen steht und wie er den von Stumpf geprägten bzw. verfeinerten Sachverhaltsbegriff von Husserl übernahm, vgl. Nicholas F. Gier, Wittgenstein and Phenomenology. A Comparative Study of the Later Wittgenstein, Husserl, Heidegger, and MerleauPonty (Albany: State University of New York Press, 1981), S. 103-104. Vgl. auch Barry Smith, Wittgenstein and the Background of Austrian Philosophy, in Lernfellner, W.; Berghel, H., and Hübner, A. (Hrsg.), Wittgenstein and His Impact on Contemporary Thought, S. 31-35. Ders., “Logic and the Sachverhalt”, S. 5369. Ders., Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano (Chicago/LaSalle: Open Court, 1995). Mehr dazu in Josef Seifert, “A Response to: Paganism, Superstition and Philosophy (by Ms. G. E. M. Anscombe),” in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik. S. 107-117.
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andere gegenüberstehen, recht hat, ist Religion wirklich am Ende und gibt es in ihr weder Wahrheit noch Wahrheitsansprüche. 2. Was ist Wahrheit? Läßt sich von religiösen Aussagen Wahrheit oder Falschheit sinnvoll aussagen oder sind sie als unsinnige Sätze prinzipiell wahrheitsunfähig? Beginnen wir mit einer allgemeinen Untersuchung über Wahrheit und stellen wir danach die Frage: In welcher Weise ist die Rede von Wahrheit im Bereich von Glauben und Religion sinnvoll? Von der Wahrheit sprechen wir, insbesondere im Reich der Religion, in vielfachem und so grundsätzlich verschiedenem Sinne, daß das Wort bzw. der in ihm ausgedrückte Begriff ‚Wahrheit‘ kein echtes Allgemeines darstellt, sondern eine Fülle verschiedener Bedeutungen besitzt, zwischen denen, wie wir in der Sprache Wittgensteins sagen könnten, eine bloße ‚Familienähnlichkeit besteht. Was sind die wichtigsten dieser Bedeutungen? Oft hat der Ausdruck ‚Wahrheit‘ einen ontologischen Sinn und bezieht sich auf Seiendes, das wahr genannt wird. Auch hier sprechen wir von Wahrheit in verschiedener Bedeutung: manchmal im Sinne der Wirklichkeit, wie wenn wir von wahren (im Gegensatz zu erfundenen) Begebenheiten reden.353 Deshalb läßt sich die Wahrheit des Seins auch als „die Ungeteiltheit des Seins und dessen was ist“ definieren.354 Andere Male meinen wir mit ‚wahr‘ einfach seiend als Fundament der Wahrheit des Urteils. In diesem Sinne darf man nicht nur alles, was in irgendeinem Sinne wirkliche Existenz besitzt, sondern sogar Negationen 353
Thomas sagt, es verleihe das Sein (die Existenz) einer Sache Wahrheit. In Quaestio I, Artikel 1, von De Veritate sagt Thomas von Aquin: „Wenn die Wahrheit in der Übereinstimmung besteht, so kann sie im Prinzip in drei Weisen gefaßt werden, deren erste sie nach dem benennt, was der Wahrheit ordnungsgemäß vorausgeht und worin das Wahre begründet ist.“
354
„Indivisio esse et eius quod est”. Vgl. Edith Stein, Endliches und Ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinne des Seins, in: Edith Steins Werke, Bd. II, Hrsg. L. Gerber, 2. Aufl. (Wien, 1962); 3. unver. Aufl. (Freiburg: Herder, 1986), S. 257301, bes. 263-301.
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und das Bestehen des negativen Sachverhalts, „daß X wirklich nicht ist“, als seiend in jenem Sinne bezeichnen, in dem das Sein Grundlage der Wahrheit ist.355 Ludwig Wittgenstein sagt an manchen Stellen etwas Ähnliches, wenn er das Fundament von Sätzen in einem „es verhält sich so und so” erblickt356 oder im Tractatus (1; 1.12) die Welt als „alles, was der Fall ist“ inklusive dessen, „was alles nicht der Fall ist“, definiert. So kann also das Wort ‚Wahrheit‘ im ontologischen Sinn Wirklichkeit sowohl im engeren Sinn des tatsächlich Existierenden (das Wittgenstein als „Tatsachen“ anspricht) als auch im weiteren aller in irgendeinem Sinn bestehenden Sachverhalte meinen. Wenn wir hingegen vom wahren (im Gegensatz zum rein konventionellen, uneigentlichen) Menschen oder von der wahren Liebe reden, so meinen wir wieder etwas anderes mit ‚wahr‘: nämlich einen Menschen oder eine Liebe, die ihrer eigentlichen Bestimmung oder dem, was Platon und Augustinus als deren ewige Ideen bzw. Eide und Paradigmata bezeichneten, entsprechen.357 Wenn wir jedoch, ebenfalls im ontologischen Sinne, von Gott als der Wahrheit sprechen, so meinen wir mit der Wahrheit nicht mehr irgendeine Art der ontologischen ‚adaequatio‘ oder Entsprechung, sondern das Urbild des Seins und des Guten und zugleich den Inbegriff aller Wahrheit des Erkennens und der Urteile. In einem anderen, vom ontologischen Wahrheitsbegriff verschiedenen und strikte epistemologischen Sinne reden wir von Wahrheit, wenn wir mit Platons Gorgias sagen, die Erkenntnis sei immer wahr und niemals falsch, 355
Vgl. Thomas von Aquin, De Ente et Essentia, in: Opera Omnia (ut sunt in indice thomistico additis 61 scriptis ex aliis medii aevi auctoribus), 7 Bde, ed. Roberto Busa S. J. (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1980), Bd. 3, S. 583-587 (meine Übersetzung): Darum sagt der Philosoph: „Die Negation oder Privation des Seienden werde in einem Sinne seiend genannt.... Darum sagt auch Avicenna am Anfang seiner Metaphysik, es könne nur vom Seienden eine Aussage (enuntiatio) gemacht werden, weil das, worüber ein Satz (propositio) gebildet werde, notwendig unter der Erkenntnis befaßt sein müsse. Daraus wird deutlich, daß alles Wahre in gewissem Sinne ein Seiendes sein muß.“
356
357
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen – Philosophical Investigations, trans. Elizabeth Anscombe (Oxford: Basil Blackwell, 1958), 136, S. 52 f. Vgl. auch ders., Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung (Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1963), 2.04-2.06. Vgl. dazu Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1.
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was auch wiederum in verschiedener Weise verstanden werden kann: nämlich entweder als wesenhaft der Erkenntnis selber zugehörig oder nur als bloße Folge der Definition von Erkennen in dem Sinne, daß wir „falsche Erkenntnis“ eben nicht Erkenntnis nennen. Im Sinne objektiver Wesensnotwendigkeit der Irrtumsfreiheit des Erkennens liegt es in der Wahrnehmung sowie in der Erkenntnis im engeren Sinne selber begründet, daß sie nicht irren können, sondern daß der Akt des Irrens immer nur in solchen Überzeugungen und Urteilen liegen kann, die über das strikt erkennntismäßig Gegebene hinausgehen: die reine Wahrnehmung oder erkennende Aufnahme eines Seienden kann nie irren.358 Irrtumsfreiheit gehört hingegen zur Erkenntnis im weiteren Sinne, also etwa der auf Vertrauen auf Quellen aufgebauten historischen Erkenntnis, die viele Momente des Meinens oder Glaubens enthält, nur per definitionem.359 Im folgenden wenden wir uns hingegen einer ganz anderen, von der ontologischen und epistemologischen verschiedenen Bedeutung von ‚Wahrheit‘ zu, nämlich der Wahrheit des Urteils oder, wie Wittgenstein sagt, des Satzes, den er nicht scharf vom in ihm ausgedrückten Urteil unterscheidet.360 Jedes Urteil behauptet einen Sachverhalt: daß etwas ist
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Vgl. Platon, Gorgias S 454, II/200: SOKRATES: Und gar recht, meinst du. Du kannst es aber hieraus erkennen. Wenn dich jemand fragte, gibt es wohl einen falschen Glauben und einen wahren? Das würdest du bejahen, denke ich? GORGIAS: Ja. SOKRATES: Wie? Auch eine falsche Erkenntnis und eine wahre? GORGIAS: Keineswegs. SOKRATES: Offenbar ist also nicht beides einerlei. GORGIAS: Du hast recht. SOKRATES: Doch aber sind sowohl die Wissenden überredet als die Glaubenden.
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360
Vgl. auch Platon, Theaitetos, 64a ff., 166a - 167e, 178a - 179b. Diese gewaltigen, bei Platon, Aristoteles, Augustinus, René Descartes und vielen anderen Philosophen vorhandenen Thesen versuchte ich andernorts, näher zu begründen. Vgl. Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit, I. Teil, Kap. 3, sowie ders., Wahrheit und Person, Kap. 2. Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 136. Vgl. auch Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen/Philosophische Bemerkungen, Wiener
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oder daß es nicht existiert, daß es so oder nicht so ist, sich so oder anders verhält. Mit der Behauptung eines Sachverhalts im Urteil ist zunächst der Anspruch verknüpft, daß die Dinge objektiv so sind oder so geschehen sind, wie ich im Urteil behaupte, oder objektiv nicht so sind oder geschehen sind, ebenfalls genauso wie ich im Urteil behaupte. So liegt in jedem Urteil hinsichtlich seines Objekts ein Seinsanspruch; es wird das Bestehen eines positiven oder negativen Sachverhalts – der unabhängig vom Urteil selbst besteht – behauptet. Unter einem Sachverhalt verstehen wir eine eigenartige ontische Struktur, die sich von Dingen und deren Prädikaten und Attributen klar unterscheidet und innerhalb deren wir positive von negativen Sachverhalten unterscheiden müssen.361 Die allgemeinste Seinsform, die man im Unterschied etwa zu Dingen als Sachverhalt bezeichnen kann, kann daher präzise in der disjunktiven Sachverhaltsformel ausgedrückt werden: „das a-Sein [oder das nicht-a-Sein] eines B“, oder mit Wittgenstein „es verhält sich so und so“362 oder eben nicht so.363 Sachverhalte unterscheiden sich in vielen Hinsichten von Sachen und Gegenständen, können aber alle Arten von Gegenständen in sich einschließen. Sie können Sachen und Attribute, Begriffe oder Urteile enthalten, sie bestehen aber niemals einfach aus diesen. Nicht ein Mensch, eine Person überhaupt oder ein Tier und auch keine Ansammlung derselben, kann ein Sachverhalt sein, sondern nur daß diese Seienden existieren oder nicht existieren, so oder anders sind oder mit einander in Beziehung stehen. Sachverhalte sind auch keine logischen Begriffe noch bestehen sie aus diesen. Selbst Sachverhalte, die sich auf Begriffe beziehen, etwa der Sachverhalt, daß sich in einem Urteil mindestens drei Begriffe finden, beziehen sich zwar auf Begriffe, bestehen aber keineswegs aus ihnen wie das Urteil selbst. Besonders Anhänger der analytischen Philosophie könnten versucht sein, den Sachverhalt selbst für einen Satz oder für ein Urteil zu halten, da Wittgenstein, der meist Satz und Sachverhalt in ähnlicher Weise wie wir
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Ausgabe, Michael Nedo (Hrsg.), Bd. 3 (Wien/New York: Springer-Verlag, 1995), S. 118 ff. Vgl. Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140. Wittgenstein, ebd., 136, S. 52. Vgl. auch ders., Tractatus 1; 1.12. Vgl. Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 2-3.
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unterscheidet364, an verschiedenen Stellen das „es verhält sich so und so“, also den Sachverhalt, mit dem Satz zu identifizieren scheint. Doch leuchtet es sofort ein, daß ein solcher Reduktionismus, der den Sachverhalt mit dem Urteil (oder gar mit dem Satz) identifiziert, unhaltbar ist. Denn Sachverhalte bestehen nicht wesenhaft aus Begriffen wie das Urteil, sondern in sie gehen vielmehr nur möglicherweise Urteile oder Begriffe ein (im Falle logischer Sachverhalte in bezug auf Begriffe); normalerweise gehen gerade nicht Begriffe, aus denen hingegen das Urteil immer und wesenhaft besteht und gebildet ist, sondern vielmehr reale Gegenstände und deren Attribute in Sachverhalte ein, wie der Sachverhalt „das Weißsein dieses Schafes“ die weiße Farbe und das gegebene Schaf in sich befaßt. Der Unterschied zwischen Sachverhalt und Urteil geht aus einer weiteren Tatsache hervor: Sachverhalte, im Gegensatz zum Urteil, meinen nichts von ihnen Verschiedenes; sie können daher auch nicht wahr oder falsch sein, sondern nur bestehen oder nicht bestehen. Auch bestehen Sachverhalte überall in der Welt ganz unabhängig davon, ob sie in einem Urteil behauptet werden oder nicht. Sie sind zwar einzig möglicher direkter Gegenstand des Urteils,365 unterscheiden sich aber gerade dadurch von diesem, daß sie Gegenstände von Urteilen sind, aber selber keine Gegenstände haben oder Sachverhalte außerhalb ihrer selbst meinen. Da sie nichts meinen oder behaupten, können Sachverhalte auch nicht Urteile sein. Außerdem ergibt sich diese Verschiedenheit auch aus folgendem Umstand. Sachverhalte können ja gleich gut, außer Gegenstand des Urteils, auch Gegenstände von Fragen und anderen Gedanken sein. Niemand aber wird bei klarem Verstand denselben Sachverhalt mit dem Urteil, das ihn behauptet und zugleich mit der Frage, die nach seinem Bestehen fragt, oder dem Wunsch, der sich auf ihn richtet, identifizieren.366
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Vgl. Wittgenstein, Tractatus, 2.232; 4.016; 4.02-4.024. Indirekt sprechen natürlich Urteile über die Sachen und Personen, die in die Sachverhalte „eingehen“ bzw. in Bezug auf die Sachverhalte bestehen. Man könnte freilich noch verschiedene Sachverhalte unterscheiden wie ‚Frageverhalte‘ oder Urteilsverhalte, je nachdem ob man auf sie in der Frage oder dem Urteil abzielt. Vgl. Kevin Mulligan /Karl Schuhmann / Barry Smith,
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Erst recht ist natürlich ein Sachverhalt, wie daß Napoleon gegen Rußland in den Krieg zog, kein Satz im sprachlichen Sinne. Denn während dieser aus Worten zusammengesetzt ist, die ihrerseits aus Silben, Vokalen und Konsonanten bestehen und bestimmten Sprachen angehören, trifft schon nichts von alledem auf die im Satz ausgedrückten Urteile als Bedeutungseinheiten zu,367 die in der deutschen oder französischen Sprache ausgedrückt werden, aber jeweils dieselben sind, und erst recht nicht auf Sachverhalte, die offenkundig nicht verschiedenen Sprachen angehören können wie Sätze. Auf die erörterte Gegebenheit des Sachverhalts in seiner eigentümlichen ontischen Struktur zielen wir in vielen Redeweisen ab, etwa wenn wir sagen, daß etwas ist oder daß es nicht ist, daß es so oder daß es nicht so ist oder daß es sich so oder anders verhält.368 Daraus ergibt sich unmittelbar eine Fülle von psychologisch und anthropologisch relevanten Beziehungen zwischen Sachverhalten und bestimmten Akten der Person. So ist es klar, daß nicht nur das objektive logische Gedanken- bzw. Bedeutungsgebilde des Urteils sich nur auf Sachverhalte beziehen kann oder muß, sondern ebenso der personale Urteilsakt, nicht nur viele Fragen, die sich in ganz anderer, die Antwort offen lassender Weise auf Sachverhalte beziehen als das Urteil, sondern auch der Akt des Fragens, nicht nur der Überzeugungsinhalt, sondern auch der Akt der Überzeugung, des Glaubens usf. Bei jedem Urteil müssen wir nicht nur den sprachlichen Satz, sondern auch den bewußten personalen Akt des Urteilens vom Urteil selbst unterscheiden. Dieses ist nämlich kein personaler Akt, kein bewußtes Etwas, sondern ein logisches Gebilde besonderer Art, das aus Begriffen
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“Question: An Essay in Daubertian Phenomenology,” in: Philosophy and Phenomenological Research, 47 (1987), 353-384. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, II, 1,1, „Ausdruck und Bedeutung“. Auch Ausdrücke wie „Tatsachen“, „Begebenheiten“, „Begebnisse“, „Ereignisse“, „Fälle“, „Geschehen“ oder „Geschehnisse“, „Fakten“ usf. zielen gewöhnlich auf (real) bestehende Sachverhalte ab. Ähnliches gilt für Redeweisen wie „es gibt X“, „es gibt X nicht“, „es ist der Fall, daß...“, usf. Dasselbe gilt für das englische „there is..“, das italienische „ci sono...“ und „c’è...“, das französische „il-y-a....“, das spanische „habe...“ und viele andere.
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bzw. Bedeutungseinheiten gebildet ist und aus ihnen besteht. Der personale Akt des Behauptens, Urteilens oder Glaubens ist jeweils ein individuell einmaliger, wenn auch das Glauben, wie Wittgenstein sagt, nicht ein einzelner zeitlich punktueller Akt der Person, wie das Behaupten, sondern ein dispositioneller oder überaktueller Akt, eine überaktuelle theoretische Antwort ist.369 Das Urteil hingegen als logisches Gebilde ist nicht individuell in mir und Dir verschieden, sondern allgemein in dem Sinne, daß es von vielen Personen als dasselbe Urteil gefällt werden kann. Der Urteilsakt besteht nicht aus Begriffen, sondern ist ein je individuelles Erlebnis, ein Akt. Das logische Urteilsgebilde ist also kein Akt, sondern eine Entität sui generis, die aus Begriffsbedeutungen besteht. Im Urteil als logischem Gebilde finden wir mindestens drei Begriffe, den Subjektsbegriff, den Prädikatsbegriff und die Kopula, die beide verbindet und zugleich die Behauptungsfunktion bzw. die Urteilsfunktion, ausübt. Der positive oder negative Sachverhalt wird Gegenstand von Urteilen dann, wenn sein Bestehen behauptet wird. Mit der Behauptung gelangen wir zum Wesen des Urteils. Dabei zeigt es sich, daß die Kopula des Urteils, wie Pfänder sieht, zwei sehr verschiedene Funktionen ausübt und, wie Hedwig Conrad-Martius mit Recht hinzufügt, auch eine ontologische Bedeutung hat.370 Das gilt auch für religiöse Urteile. Im Urteil ‚Gott ist Mensch geworden‘ besitzt der im Wörtchen ‚ist‘ ausgedrückte Begriff einmal jene Funktion, die Pfänder als die Hinbeziehungsfunktion bezeichnet, sodann aber auch jene, die er Behauptungsfunktion nennt und die den gemeinten Sachverhalt als solchen setzt, sein Bestehen behauptet.371 Drittens liegt in der Kopula ein ganz allgemeiner ontologischer Sinn, den Pfänder nicht bemerkt, ja implizite leugnet, wenn er der Kopula ausschließlich zwei Funktionen zuspricht und von den ‚rein 369
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Dieser letztere Begriff stammt von Dietrich von Hildebrand, Ethik, in: Dietrich von Hildebrand, Gesammelte Werke, Band II (Stuttgart: Kohlhammer, 1973), Kap. 1725; ders., Das Wesen der Liebe, Kap. 1-2. Hedwig Conrad-Martius, Das Sein (München: Kösel Verlag, 1957), S. 19-42. Pfänder, Logik (Tübingen: Ambrosius Barth/M. Niemeyer, 31963), S. 42 ff. Die Funktionen der Kopula brauchen freilich nicht im Wörtchen ‚ist‘ ausgedrückt zu werden, sondern können sprachlich auch im Verb mit ausgedrückt sein. Vgl. auch (Mariano Crespo, Hrsg.), Logik.
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funktionierenden Begriffen‘ redet:372 die Kopula aber sagt in Wirklichkeit über ihre beiden reinen Funktionen hinaus auch das Sachverhaltssein aus. Dies geschieht nicht nur in abstraktester Weise (als Aussagen des ‚Sachverhaltsseins‘ überhaupt), sondern das Urteil weist dem Sachverhalt die ihm jeweils eigene Seinsweise zu, bevor es ihn behaupten kann. Es kann sich dabei sowohl um das reale wie um das rein ideelle Bestehen von Sachverhalten handeln, die als solche zuerst ontologisch gekennzeichnet werden müssen, bevor sie behauptet werden können. All dies gilt auch für religiöse Urteile. Im Urteil „Gott ist Mensch geworden“ schreiben Kopula und der verbale Sinn des Wortes „geworden ist“ dem Sachverhalt voll realen Charakter, voll wirkliches Sachverhaltsein zu, das sich etwa radikal von den fiktiven Sachverhalten unterscheidet, auf die sich die quasi-Urteile im literarischen Kunstwerk beziehen.373 Von diesen Bedeutungsmomenten und Funktionen der Kopula im Urteil sind für die Wahrheitsfrage der ontologische Sinn der Kopula als den Sachverhalt meinend und die Behauptungsfunktion als ihn setzend am entscheidendsten. Das Urteil setzt einen Sachverhalt, nicht so als ob es ihn schüfe oder hervorbrächte, sondern in der Form ‚behauptender Setzung‘. Die scharfe Abgrenzung der behauptenden Setzung von jeder schöpferischen Setzung gehört zu den schönsten Teilen der Logik Pfänders: Im Urteil dagegen wird der Anspruch gemacht, in der Hinordnung der Prädikatsbestimmtheit auf den Subjektsgegenstand zusammenzutreffen mit einer Forderung des Gegenstandes selbst. Das Urteil ist eben kein Machtspruch über den Gegenstand; es ist seinem eigensten Wesen zuwider, dem Subjektsgegenstand irgendeinen Zwang anzutun, ihm irgendetwas zuzuordnen, was er nicht von sich aus fordert. Das Urteil, das zunächst völlig frei ist in der Wahl seines Subjektsgegenstandes, das also von sich aus seinen Subjektsgegenstand selbstherrlich bestimmt, will dann doch der sich völlig anschmiegende Interpret des gewählten Gegenstandes sein und sich ihm in jeder Hinsicht unterwerfen. Jede diktatorische Geste, jede leiseste Bedrückung des Gegenstandes durch das Urteil ist eine Sünde
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Pfänder, ebd., S. 42-44, 156-162. Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk. Vgl. auch Josef Seifert, “Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment”, zit., und Josef Seifert, (with Barry Smith) The Truth about Fiction, zit.
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KAPITEL 9 wider den Geist des Urteils und verunreinigt das intellektuelle Gewissen...374 ... Es liegt im Wesen des Urteils, seine Selbstherrlichkeit gegenüber der Gegenstandswelt von sich aus frei und absolut aufzugeben und in diesem Sinne absolut objektiv sein zu wollen.375
Das Urteil, und zwar genauso das religiöse wie das naturwissenschaftliche oder historische, besagt, meint, behauptet, daß ein Sachverhalt besteht. In seiner behauptenden Setzung – und das leuchtet aus seinem Wesen ein – erhebt das Urteil notwendig den Anspruch, mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammenzutreffen und infolgedessen selbst wahr zu sein. Dieser notwendig mit dem Urteil „S ist P“ als Behauptung verknüpfte Wahrheitsanspruch kann in einem Wahrheitsurteil entfaltet werden: „Dieses Urteil ‚S ist P‘ ist wahr“. Freilich kann dieser Wahrheitsanspruch, der unzertrennlich mit dem Wesen des Urteils verknüpft ist, erfüllt sein, das Urteil kann wirklich wahr sein, oder unerfüllt sein, das Urteil kann in der Tat falsch sein. Auch Wittgenstein definiert das Urteil, das er als Satz bezeichnet, in den Philosophischen Untersuchungen dadurch, daß es wahr oder falsch sein kann.376 Und die Wahrheit des Urteils verlangt einerseits zu ihrem Verstehen das Verstehen der Eigenart der behauptenden Funktion des Urteils, und andererseits das Verstehen der eigentümlichen Seinsweise und Autonomie des Sachverhalts, dessen Bestehen die Kopula behauptet und in der Übereinstimmung mit dem das Urteil wahr ist.377
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Alexander Pfänder, Logik, 3. Aufl. (München: A. Barth/M. Niemeyer, 1963), S. 43 f. Vgl. ebd., S. 81. Etwa in Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 136: „Im Grunde ist die Angabe von ‚Es verhält sich so und so‘ als allgemeine Form des Satzes die gleiche, wie die Erklärung: ein Satz sei alles, was wahr und falsch sein könne.“ (136, S. 52). Vgl. auch ebd., 225, S. 86; 554 f., S. 146. ...und man könnte ein Kind lehren, Sätze von anderen Ausdrücken zu unterscheiden, indem man ihm sagt: „Frag dich, ob du danach sagen kannst, ‚ist wahr‘. Wenn diese Worte passen, so ist es ein Satz.“ (137, S. 53).
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Vgl. Pfänder, Logik, S. 69-82, wo auch die falschen Auffassungen der Wahrheit des Urteils als Für-Wahr-Halten (Konsens) usf. kritisiert werden.
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So vorläufig diese Bestimmung der Wahrheit auch ist, Wahrheit kommt einem Urteil kraft jenes Adäquationsverhältnisses zu, das darin besteht, daß ein Urteil in seiner Setzung eines von ihm selbst unabhängigen und als solchen intendierten Sachverhalts mit dem Selbstverhalten der Sachen zusammentrifft, daß sich also die Sachen wirklich so verhalten, wie das Urteil dies behauptet. Bei aller Infragestellung dieser klassischen, doch stets neu phänomenologisch zu durchdringenden Lehre von der Urteilswahrheit durch Wittgenstein finden wir viele Texte, die einer solchen Wahrheitsauffassung verpflichtet sind, besonders im Tractatus.378 Die Wahrheit des Urteils, als sein Zusammentreffen in der behauptenden Setzung mit dem Selbstverhalten der Dinge, ist immer objektiv und kann niemals nur für jemanden oder eine Gruppe bestehen. Die Wahrheit eines Urteils selbst aber unterscheidet sich selbstverständlich von dessen Wahrheitsanspruch, der jedem, wahren und falschen, Urteil anhaftet. Ja es ist evident, daß ein Urteil nur deshalb falsch sein kann, weil es einen Wahrheitsanspruch macht. Eine Frage, die keinen Wahrheitsanspruch macht, kann gerade deshalb niemals falsch sein. Die Wahrheit des Urteils unterscheidet sich also evidenterweise vom Wahrheitsanspruch. Wahrheit des Urteils besteht nur dann wirklich, wenn sein Wahrheitsanspruch, den auch das falsche Urteil macht, erfüllt ist, wenn also das Urteil nicht bloß den Anspruch auf Wahrheit erhebt, sondern wenn es tatsächlich mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Das Urteil „Der Schnee ist weiß“ ist dann nur dann wahr, wenn der Schnee tatsächlich weiß ist, wenn der Sachverhalt
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Allerdings ist die Fassung der Wahrheit von Aussagen im Traktatus oft unklar, indem der Sinn der adaequatio verkannt und eine Art Gleichheit der Form zwischen Sachverhalt und Satz postuliert wird. Vgl. Hermann Oetjens, „Wittgensteins Regeldiktum als Selbstkritik seiner Wahrheitstheorie im „Tractatus“, Grazer Phil Stud (1980), 10, 53-64. Der Autor argumentiert, daß Wittgenstein im Traktatus die Wahrheit als eine Relation zwischen Zeichen und bezeichnetem Gegenstand auffaßt, die durch die Identität ihrer logischen Form miteinander verknüpft sind, wobei Wittgenstein diese logische Form für intuitiv einsehbar hält: sie zeige sich, sei jedoch nicht sagbar. Nach Philosophische Untersuchungen hingegen sei der Appell an die Intuition eine „unnötige Ausrede“. Die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit werde in dieser Spätphilosophie Wittgensteins aber überhaupt nicht mehr erklärt.
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besteht, daß er weiß ist. Gleichermaßen ist das Urteil „Gott existiert” wahr, wenn Gott wirklich existiert. 3. Wahrheit im Bereich von Weltbild und Religion und Kritik an Wittgensteins Ausschaltung religiöser Wahrheitsansprüche Wenden wir die Ergebnisse unserer allgemeinen Untersuchung über Wahrheit auf die Religion an. All das Gesagte gilt, wie für jedes Urteil und seinen Gegenstand, auch für das Glaubensurteil, das immer in jedem Glauben, daß enthalten ist.379 Dabei gilt es nur für den Glauben, daß, daß er sich direkt nur auf Sachverhalte und nur indirekt auf Gegenstände und Personen beziehen kann, nicht für den Glauben an eine Person, der nur Personen gelten kann und eher ein Akt des Vertrauens auf eine Person sowie darauf, daß sie mir die Wahrheit sagt, ist. Im religiösen Glaubensakt haben wir also sowohl, als Adressaten des Glaubens an eine Person, eine Person vor uns, wie wir andererseits notwendig im ‚Glauben, daß‘ uns auf Sachverhalte beziehen. Und wenn wir im religiösen Urteil überzeugt sind und aussagen: „Gott ist Mensch geworden“, so behaupten wir diesen Sachverhalt genauso urteilsmäßig wie irgendeinen anderen Sachverhalt. Auch wenn wir nicht ein religiöses Urteil fällen wie „Christus ist auferstanden“, sondern vielmehr unseren Glauben bekennen, so bringen wir zwar den personalen Akt des Glaubens, das credo, zum Ausdruck bzw. geben diesen Akt kund, aber wir schließen doch notwendig in das Bekenntnis dessen, daß und was wir glauben, das Urteil ein, daß sich das Geglaubte so verhält wie wir im Glauben bekennen, ansonsten wir ja das, was zu glauben wir bekennen, nicht glauben würden. Wenn wir unseren Glauben an den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde bekennen, bringen wir zugleich unsere Glaubensüberzeugung von der Richtigkeit dieses Glaubens zum Ausdruck und welchen Glauben immer wir haben, bekennen eben dies: Allah wird unser Richter sein; Gott ist unser aller Schöpfer; Jesus Christus ist von den Toten auferstanden, usf. Im 379
Zum Unterschied zwischen Glauben an und Glauben, daß sowie ihrer Beziehung vgl. Dietrich von Hildebrand, Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes (Regensburg, 1968); 4., unveränderte Aufl. (St, Ottilien, 41992), S. 236-245.
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Glauben, daß etwas ist, halten wir ferner ein Urteil für wahr. Mein Urteil „Es gibt keinen Gott“ oder „Gott hat alles Sichtbare und Unsichtbare geschaffen“ erhebt unweigerlich den Anspruch darauf, wahr zu sein. Und das Urteil ist nur wahr, wie Aristoteles einsah, wenn es behauptet, daß das ist, was wirklich der Fall ist, oder daß das nicht ist, was wirklich nicht der Fall ist. Das erste der von uns als Beispiele gewählten Urteile ist also nur dann wahr, wenn es wirklich keinen Gott gibt, wie der prae-Vaticanum IIAtheist (wie sich Hans Albert witzig bezeichnete) behauptet;380 das zweite ausschließlich dann, wenn es einen lebendigen Gott, Schöpfer aller sichtbaren und unsichtbaren realen Seienden, gibt. Im Lichte des Gesagten ist Wahrheit auch immer objektive Wahrheit und nicht etwa auf eine kulturell bestimmte Sprachgruppe relativ, wie Wittgenstein meint, wenn er sagt, daß „die Wahrheit...“ und das Weltbild „zu unserem Bezugssystem gehören“,381 oder daß ein Weltbild eine „Art von Mythologie“ sei, deren Sätze eine ähnliche Funktion wie Spielregeln hätten.382 Spielregeln machen keinen Wahrheitsanspruch und urteilen nicht über die wirkliche Welt, ebensowenig wie kulturell bedingte Sitten. In seiner Reduktion der religiösen Glaubensaussagen auf kulturell bedingte Sprachspiele383 verfehlt Wittgenstein den gewaltigen Unterschied zwischen einer Religion und einem Theater oder Sprachspiel, in dem kein Wahrheitsanspruch vorliegt. Den auf Grund der Unbegrenztheit seiner Anwendung allzu konfusen und vagen Charakter des Begriffs „Sprachspiel“ sieht Wittgenstein selbst, ja er stellt sogar zu Recht die
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Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft. Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, hrsg.v. G. Elizabeth M. Anscombe und G.H. von Wright (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969), 83, S. 29. Barrett versucht, Wittgenstein weitgehend vom Einwand, er sei relativistisch gewesen, zu befreien. Vgl. Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, Kap. 7, „Relativism“, ebd., S. 145 ff. Wittgensteins Begriff des „Sprachspiels“ ist alles andere als präzise und schließt neben vielen Satz- und Sprachformen auch alle möglichen Funktionen der Sprache, aber auch die verschiedenen in der Sprache ausgedrückten Gedanken ein. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 23, 27. Eine sehr gründliche Untersuchung dieses Begriffs bietet Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, S. 112-144.
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Frage, ob ein so vager Begriff überhaupt ein Begriff sei.384 In der Reduktion religiösen Glaubens auf kulturell bestimmte Weltbilder und Sprachspiele ist Wittgensteins Religionsphilosophie auch Feuerbachs atheistischer Religionsdeutung eng verwandt.385 G. Elizabeth M. Anscombe bemerkt in einem Aufsatz: „Wittgenstein selbst schrieb in einem seiner vielen Notizbücher in dem Sinn einer Verneinung bzw. Frage, ob es für die christliche Religion etwas ausmachen würde, ob ‚Christus irgendeine der von ihm berichteten Dinge tatsächlich vollbracht oder sogar überhaupt existiert habe.‘“386 G. Elizabeth M. Anscombe bringt gewisse Zweifel daran zum Ausdruck, ob Wittgenstein selber diese Äußerung ernst gemeint habe, aber sieht sie in vielen seiner Anhänger deutlich präsent. Sie charakterisiert diese Auffassung so: (1) „Es gibt nichts wie das Wahrsein einer Religion. Dies wird etwa angedeutet, wenn man sagt: ‚dieser religiöse Satz gleicht nicht einem Satz der Naturwissenschaft.‘“ (2) „Religiöser Glaube läßt sich eher der Verliebtheit eines Menschen als seiner Überzeugung vergleichen, etwas sei wahr oder falsch.“ Anscombe drückt diese Überzeugung Wittgensteins und seiner Anhänger, eine Überzeugung, die sie verwirft, auch so aus: ”Alle Religionen sind wirklich einerlei: sie sind nur viele verschiedene Wege zum gleichen Ziel.“ Sie urteilt sehr mit Recht, daß eine solche Auffassung gedankenlos ist oder, wenn sie nicht einfach hingesagt ist, sondern ernsthaftem Nachdenken entspringt und seriös ist, sei sie „ein schlechter Ausdruck ... des Kernes des alten und neuen Heidentums: nämlich das Abhalten verschiedener Gottesdienste und die Verehrung verschiedener 384
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Vgl. Ludwig Wittgenstein, Sprachspiele und Lebensformen, in: Thomas H. Macho (ausgew. und vorgestellt), Wittgenstein, S. 236-267, bes. S. 254 ff. (Nr. 68 ff.). Unterschiede und Ähnlichkeiten zu Feuerbach arbeitet Stephen P. Thornton in seinem Aufsatz Facing up to Feuerbach, in: Int J Phil Relig. (April 96), 39 (2), S. 103-120, heraus. Die deutsche Übersetzung dieser und der folgenden Stellen des Textes Prof. Anscombes stammen von mir. Die wahrscheinlich gemeinte Stelle wurde publiziert in Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S. 32. Vgl. G. Elizabeth M. Anscombe, Paganism, Superstition and Philosophy (by Ms. G. E. M. Anscombe), in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik, S. 93-105.
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Götter sowie der Haß der Ausschließlichkeit der wahren Religion.“387 Diese Idee, daß jedes Volk seine Götter habe und was zähle, nur „die Tiefe (der Religion) im menschlichen Herzen sei“, verfehlt, so Anscombe, das Wesen der Religion und ihres Wahrheitsanspruchs. Man könnte hier eine Parallele zu Bultmann ziehen, der behauptet, „an einen Gott, den Schöpfer Himmels und der Erde“ zu glauben, bedeute nicht, daß man glaube, Gott habe wirklich Himmel und Erde geschaffen, sondern nur, daß man sich selbst als Geschöpf verstehe und dadurch ein sinnvolleres Leben lebe. In dieser Heideggerschen Interpretation der Religion mit ihrem existentialistischen Wahrheitsbegriff388 könnte Bultmann wie Wittgenstein gesagt haben, daß es für den christlichen Glauben wenig oder keine Bedeutung habe, ob Christus überhaupt gelebt habe oder für uns gestorben sei. Einen ähnlichen Immanentismus und Relativismus finden wir auch in gewissen Formen eines christlichen Traditionalismus im Sinne von Charles Maurras und L.G.A. de Bonald und auch bei Spengler.389 Der Grund für diese Thesen Wittgensteins liegt wohl weniger in Kant, dessen Denken auch viele Spuren in Wittgenstein hinterließ, als im Empirismus und Neopositivismus des Wiener Kreises, der Wittgenstein stark beeinflußte und wahre, ja sogar sinnvolle Sätze nur in solchen Sätzen erblickte, die eine empirische Bestätigung oder Verifikation durch Sinneswahrnehmungen zuließen. Auch in Poppers negativer Version dieses Kriteriums durch Falsifizierbarkeit wird diese Art der Erkenntnistheorie ebenfalls nicht grundsätzlich überwunden. Und von ihr aus sind an sich religiöse Aussagen, zumindest im gegenwärtigen Leben, nicht wahrheitsfähig, weil sie nicht einmal sinnvolle Aussagen sind, da ihre empirische 387 388
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Anscombe, ebd. Hans Jonas warnte protestantische und katholische Theologen, daß Heideggers Philosophie und durch sie inspirierte Theologien absolut mit dem christlichen Glauben unverträglich sind. Vgl. Hans Jonas, The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology (New York: Harper & Row, 1966). Vgl. dazu Robert Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien über L.G.A. de Bonald, bes. S. 115 ff.; 181-211. Zu dem Einfluß Spenglers auf Wittgensteins Kulturbegriff und seine Idee der „Familienähnlichkeiten“ vgl. Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S. 14 f.
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Verifizierbarkeit (nach Carnap) oder wenigstens ihre empirische Falsifizierbarkeit (nach Popper) Bedingung ihres Sinnes und Charakters als Urteil sei. Auch der evangelische Theologe Pannenberg meint, der Glaube könne nur sinnvolle Wahrheitsansprüche stellen, weil prinzipiell die leibliche Auferstehung durch Wahrnehmungen der Knochen Christi widerlegt werden könnte. Es ist hier nicht der Ort, die Gleichsetzung des Glaubens mit wahrnehmungsmäßig verifizierbaren oder bloß ‚falsifizierungsfähigen‘ empirischen Hypothesen à la Popper, kritisch zu untersuchen.390 Hinsichtlich Wittgensteins Ausschaltung der Wahrheitsfrage aus dem Reich religiöser Aussagen zitiert Elizabeth Anscombe ein sehr interessantes Gespräch, das sie mit Wittgenstein über diese Frage führte: Speaking of such matters I once asked him whether, if he had a friend, an African whose plan or possibility after being in England for a bit, was to go back home and take a training and then practise as a witch doctor, whether he, Wittgenstein, would want to stop him from doing this. We walked in silence for a space and then he said: “I would, but I don’t know why.” We talked of it no more. I incline to think that a vestige of the true religion spoke in him then;....391
Wittgenstein verkennt die Absurdität der Idee einer relativen Wahrheit eines Weltbilds nur „für mich“, wenn er sagt: Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin.
390
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Vgl. Josef Seifert, „A Response to: Paganism, Superstition and Philosophy“ (by Ms. G. E. M. Anscombe), in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik, S. 107-117. Vgl. auch Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Sonderauflage (München: Verlag C.H. Beck, 1962). Vgl. auch Max Scheler, „Probleme der Religion“, in: Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, S. 101-354; Vgl. auch Josef Seifert, “The Uninventable Glory of God as the Deepest Reason for Our Faith in Jesus Christ”, in: Roy Varghese (Ed.), Theos (1999). G. Elizabeth M. Anscombe , ebd., S. 102.
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Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.392
Die Idee eines „für mich wahren“ Urteils und gar die eines Glaubensurteils, das gar keinen Anspruch auf Wahrheit machen würde, wie eine Spielregel des Schachspiels, ist absurd. Denn ein religiöses Urteil ist genausowenig eine Spielregel oder auch ein Spiel wie ein anderes Urteil. Als Urteil aber kann es nur objektiv wahr oder falsch, nicht „wahr für mich“ sein. Denn eine Wahrheit des von mir gefällten Urteils „für mich“, aber „nicht für Dich“, oder „für den Christen“, nicht aber „für den Moslem“, mit anderen Worten, die „Subjektivität der Wahrheit“ des Glaubens und des Wissens, die Wittgenstein behauptet,393 ist schlechthin sinnlos, wenn es um Aussagen über Gott und die Welt geht. Daß etwas nur für einen Spielenden „wahr sein“ kann, gilt in gewissem Sinne für subjektiv konstituierte und etwa in Spielen geschaffene Objekte. Selbst bei Spielobjekten wie der Dame im Schach im Unterschied zur Dame im Damespiel, ist diese „Relativität“ und „Subjektivität“ nicht eine der Wahrheit, sondern bloß des (auf ein Regelsystem ‚relativen‘) Seins der Spielwelt und der Sprache. Auch diese letztere gilt nur dann, wenn wir mit denselben sprachlichen Ausdrücken wie „Dame“ verschiedene Gegenstände und Regeln meinen. Dann gilt etwa „die Königin kann sich gerade und diagonal von einem Ende des Spielbretts zum andern bewegen“ und ist für das Schachspiel in diesem Sinne wahr, nicht aber für die Dame im Damespiel. Sobald aber der Sachverhalt eindeutig bestimmt ist, selbst wenn er wie im Schachspiel durch Spielregeln konstituiert wird (wie die
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Wittgenstein, Über Gewißheit, 94, S. 33. Vgl. ebd., 93-95. Ähnlich auch ebd., 108, S. 37; 138, S. 44. Habermas übt Kritik an diesen Anschauungen Wittgensteins in seinen Vorstudien zur Theorie kommunikativen Handelns (FfM 1984, S. 60 ff.), und auch in seinem Aufsatz „Sprachspiel, Intention und Bedeutung“, in: Wiggershaus (Hg.), Sprachanalyse und Soziologie (Frankfurt a.M., 1975), S. 319340. Fergus Kerr, Theology after Wittgenstein (Oxford, 1986) und Cyril Barrett, Wittgenstein on Ethics and Religious Belief, sowie Hordern, Hudson und D.Z. Phillips liefern weitere Beispiele einer Wittgensteinrezeption auf dem Gebiet der Religionsphilosophie. Wittgenstein, Über Gewißheit, 179, S. 54.
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Schachsachverhalte),394 kann es nur objektive und absolute Wahrheit geben. Denn sowohl die Urteile über die Regeln des Schachspiels als auch, und erst recht, jene über die in diesem königlichen Spiel geschaffene Spielwelt, und erst recht Urteile über die notwendigen Sachverhalte, die in der Endspieltheorie des Schachspiels ihren Ausdruck finden und ewige Wahrheiten darstellen, sind keineswegs nur für Schachspiele, sondern absolut wahr.395 Die Wahrheit solcher Aussagen besteht eben in ihrer Übereinstimmung mit den wirklichen Sachverhalten (in diesem Falle den wirklich in einem Spiel geltenden Regeln und ‚Figuren‘, sowie den darauf aufbauenden bzw. darauf bezüglich Gesetzen), eine Idee der Wahrheit als adaequatio, die auch Wittgenstein mitunter – wenn auch oft in sehr zweifelhafter Weise, in der er sie zugleich „irreführend“ nennt oder auch behauptet, „Der Satz sagt ... seinen Wortlaut!“ und die Wahrheit von Vorhersagen von deren künftigem Geschehen loslösen will396 – anzuerkennen scheint.397 Das gilt erst recht für die geglaubten Inhalte. Natürlich enthält auch die relativistische Religionsphilosophie, wie sie John Hick im Anschluß an Wittgenstein entwickelt, sowie die darauf
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Vgl. dazu auch Wittgensteins Gedanken in: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Wiener Ausgabe, Michael Nedo (Hg.) , Bd. 5 (Wien/New York: Springer-Verlag, 1996), S. 156, Nr. 5 (wo Wittgenstein eine Art von platonischer ewiger Idee des Schachspiels erwägt); S. 157, Nr. 4. Vgl. auch Josef Seifert, Schachphilosophie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989), wo vier grundsätzlich verschiedene Arten von „Gesetzen“, die das Schachspiel beherrschen, unterschieden werden, von denen nur die erste Konventionen sind. 395 Vgl. Josef Seifert, Schachphilosophie, Kap. 2-3. 396 Etwa Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, S. 3, Nr. 5. 397 Etwa Wittgenstein, Über Gewißheit, S. 57. Zum Wahrheitsbegriff Wittgensteins vgl. auch ebd., 200, 205f, 222, 514f, 549, 607. Die klarste Aussage Wittgensteins zugunsten der Korrespondenz (Adäquations-)theorie der Wahrheit bei Wittgenstein sehe ich in Wittgenstein, Bemerkungen/Philosophische Bemerkungen, Wiener Ausgabe, Michael Nedo (Hg.) , Bd. 3 (Wien/New York: SpringerVerlag, 1995), S. 294, Nr. 6, und ebd., S. 295, 4, scheint Wittgenstein auch eine Adäquationstheorie negativer Urteile über negative Sachverhalte zu verteidigen. Vgl. auch ebd., S. 304, 253/1 ff., Nr. 1-7, wo auch so etwas wie ein Sachverhaltsbegriff angedeutet ist.
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aufbauende sogenannte Theologie der Religionen etwas Wahres:398 Ein Bekenntnis des Glaubens als solches, wenn es nur den eigenen Glaubensakt bekennt und nichts weiter sagt als „Ich glaube an Gott den Allmächtigen“, während der Atheist sagt: „Ich hingegen glaube an keinen Gott“, kann nicht einem anderen widersprechen. Denn es kann ja wirklich ein Mensch ein A, ein anderer, ein ‚Nicht-A‘ glauben. Wittgenstein und Hick hingegen beziehen dies auch auf die Gegenstände und Urteile des Gläubigen. Auch diese könnten einander nicht widersprechen, sondern ihr Pluralismus wäre der Verschiedenheit vieler Spiele gleich, die zwar auch verschiedenen Regeln gehorchen, aber einander nicht widersprechen. Der Glaubensinhalt des Theisten und Atheisten wäre dann nicht wahr oder falsch, sondern nur ein „Leben in einer anderen Welt“, das „Teilen einer anderen Lebensform“, oder das Spielen eines anderen Spiels, wie Wittgenstein in seinen letzten Gedanken über Religion kurz vor seinem Tod behauptet.399 Für Wittgenstein leben der religiöse Mensch und der nicht-religiöse gleichsam in zwei Spielwelten und bewegen sich auf verschiedenen Ebenen, ohne einander zu widersprechen, ein Gedanke, der aus Wittgensteins allzu konfuser und vager Sprachspielidee stammt und eng mit seiner Idee, daß alles Sehen letztlich ein „Sehen als“ von einer bestimmten Perspektive aus darstellt, 398
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Vgl. nur eines von vielen Werken Hicks, die die Quelle der total relativistischen wittgensteinianischen „Theologie der Religionen“ bilden: John Hick, A Concluding Comment On Religious Pluralism, in: Faith Phil (October 1988), 5, 449-455. Vgl. Wilhelm Lütterfelds, „Weltbild-Glaube. Ein vorrationales Fundament unserer Lebensform?“, in: J.P. Galvez/R.D. Baldrich (Hg), Wittgenstein und der Wiener Kreis (Cuenca, 1998), 115-153; S. 144. Vgl. Karl Brose, „Religion und Ethik beim späten Wittgenstein: Zu Themen in Über Gewißheit“, in: Wittgenstein Stud (1994), wo Wittgensteins Religionsphilosophie bis zu seinen letzten Aufzeichnungen in Über Gewißheit bis unmittelbar vor seinem Tod am 29. April 1951, von den frühen Tagebuch-Notizen der Jahre 1914-1916 und dem ETHIK-Vortrag von 1929 über die Vorlesungen über den religiösen Glauben von 1938 bis zu den Philosophischen Untersuchungen (1947-1949) sowie den Aufzeichnungen in Über Gewißheit verfolgt werden. Zur scharfen Kritik an der These, daß Religion nur eine kulturell relativierbare „Lebensform“ oder ein aus dieser stammendes Sprachspiel sei, vgl. Patrick Sherry, “Is Religion A ‘Form Of Life’?”, in: American Philosophical Quarterly (April 1972), 9, 159-167.
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ausdrückt.400 Aber sobald wir an das im Glauben gefällte Urteil denken, ist jeder derartige an Wittgenstein anschließende Relativismus absurd, ja uroborisch und hebt sich selber auf. Denn der Begriff einer „relativen Wahrheit“ ist überhaupt ein Unbegriff und zielt auf etwas Absurdes ab; zugleich setzt er notwendig eine objektive und absolute Wahrheit im Sinne der Adäquationstheorie für die eigenen Urteile voraus und hebt sich deshalb selber auf.401 Den Wahrheitsanspruch des Urteils und sein Abzielen auf ihm selber transzendente Sachverhalte zu leugnen ist geradeso absurd im Bereich der Religion wie irgendwo sonst. Das Urteil: ‚Es gibt einen lebendigen Gott, der von der Welt verschieden ist, ihr ewig vorhergeht und sie geschaffen hat‘ kann nur entweder wahr oder falsch sein; wenn es wahr ist, ist es in sich und deshalb auch für jedermann wahr, ganz gleichgültig, ob er dies glaubt oder nicht; ist es falsch, ist es in sich falsch und für niemanden wahr. Es kann nur fälschlicherweise für wahr gehalten werden, nicht aber nur für jemanden wahr sein. Denn wahr ist meine Aussage über das Dasein Gottes nur dann, wenn Gott wirklich ist, und dann ist sie objektiv und auch dann wahr, wenn die ganze Welt leugnet, daß Gott sei. In diesem Zusammenhang ist die von Wittgenstein abweichende Deutung interessant, die G. Elizabeth M. Anscombe dieser Lehre eines religiösen Pluralismus während ihrer Liechtenstein-Vorlesungen gab. Sie betonte dort, daß die Verehrung verschiedener Götter im Heidentum durchaus akzeptabel war und daß erst im Judentum und Christentum jener absolute Wahrheitsanspruch der Religion auftritt, der keine anderen Götter außer dem einen, wahren Gott duldet. Dabei müssen wir aber, wie ich in meinen Kommentaren zu G. Elizabeth M. Anscombes Ausführungen betonte, zwischen dem jedem Wahrheitsanspruch eigenen Ausschließen des Gegenteils und dem neuen Anspruch des Eingottglaubens unterscheiden. Denn auch das Urteil „Zeus und Aphrodite sind Götter“ erhebt einen Wahrheitsanspruch und schließt die gleichzeitige Wahrheit der Leugnung dieser Aussage aus, auch wenn er die Existenz vieler anderer Götter 400
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Vgl. etwa H. R. T. Roberts, “The Concept Of ‘Seeing-As’ In Wittgenstein’s Philosophy of Religion”, Indian Phil Quart (Oktober 1979), 7, 71-82. Zur Idee „uroborischer“, d.h. „sich selbst verschlingender“ oder „sich selbst auffressender“, Philosophien vgl. John Visvader, “The Use of Paradox in Uroboric Philosophies”, in: Phil East West (Oktober 1978), 28, 455-467.
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keineswegs leugnet; der Eingottglaube erhebt – zu dem Wahrheitsanspruch des Urteils „Es gibt einen Gott“ den zusätzlichen Anspruch, daß es nur einen einzigen Gott gibt.402 Wittgensteins Ansichten über Religion liegt nicht nur ein Relativismus, sondern auch eine Konsenstheorie der Wahrheit nicht fern. Nach der Konsenstheorie der Wahrheit wäre z.B. die Wahrheit der Aussage „Gott existiert“ nichts anderes als daß viele oder alle oder wenigstens zwei Menschen darüber übereinstimmten, daß Gott existiert oder daß sie alle dasselbe religiöse Sprachspiel, das von ihrem weltanschaulichen Hintergrund her bestimmt ist, spielen. Denn jedes Spiel baut auf einem Konsens hinsichtlich der positiv bestimmten Spielregeln auf. Dasselbe gälte für Recht oder Unrecht, ja für alle Dinge. Aber sehen wir nicht sofort ein, daß die These, auch ethische und religiöse Urteile seien nichts als derartige Sprachspiele ohne Wahrheitsansprüche falsch ist? Dies tritt am klarsten hervor, wenn wir an Ideologien denken, die ja unter Wittgensteins allgemeinen Religions- und Weltanschauungsbegriff fallen und von denen er von seiner Religions- und Weltanschauungslehre her kein Recht hat zu behaupten, daß sie objektiv wahr oder falsch sein könnten. Wurde etwa dadurch, daß viele Nazis glaubten, die Juden seien Untermenschen, ihr Urteil wahr? Und widerspricht sich ferner nicht die Konsenstheorie der Wahrheit selbst, da sie ja behauptet, daß es wirklich so ist, daß Wahrheit nur im Konsens besteht? Also erhebt sie für sich unweigerlich den Anspruch auf objektive Wahrheit im Sinne ihrer Übereinstimmung mit dem Wesen von Wahrheit. 4. Kritik einer schlechten Phänomenologie religiöser Akte als Quelle der Wittgensteinschen These der Unsinnigkeit der Religion Wittgensteins Phänomenologie religiöser Akte als „absurde Widersprüche zur Eigenart solcher Akte wie Staunen“ haben wir als weitere 402
Vgl. G. Elizabeth M. Anscombe, “Paganism, Superstition and Philosophy”, in: Mariano Crespo (Hrsg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik , S. 93-105. Vgl. dazu auch Josef Seifert, “A Response to: Paganism, Superstition and Philosophy”, in: ebd., S. 107-117.
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Quelle der Thesen Wittgensteins über die Unsinnigkeit der Religion erkannt. So staune man in der Religion über etwas (die Existenz der Welt), wovon wir uns nicht einmal vorstellen könnten, es sei nicht der Fall. Deshalb verdiene die nüchtern betrachtete Existenz der Welt keinerlei sinnvolles Staunen, ja könne ein solches gar nicht erwecken, wenn man nur denke. An anderer Stelle behauptet Wittgenstein nicht nur eine notwendige Existenz der Welt, die ja keine Tautologie sein müßte,403 sondern nennt die Existenz der Welt „eine absolute Tautologie“, welche, weil sie eine Tautologie sei, kein sinnvolles Staunen begründen könne.404 Aus einer ähnlichen religionsphänomenologischen Erwägung heraus begründet Wittgenstein seine These, daß Religion wesenhaft unsinnig sei, damit, daß es ein Mißbrauch der Sprache sei zu behaupten, man fühle sich religiös „sicher, egal was passiert“, weil sicher zu sein gerade heiße, „es sei physisch ausgeschlossen, daß mir bestimmte Dinge passieren, und deshalb ist es Unsinn zu behaupten, ich sei sicher, egal, was passiert.“405 Also handle es sich bei religiösen Gefühlen um absurde und sinnlose Gefühle.406 Auch G. Elizabeth M. Anscombe weist auf diese Stelle hin.407 In Wirklichkeit ist Wittgensteins Argument für die Unsinnigkeit der Religion aus einer Aktphänomenologie unhaltbar und überdies unglaublich oberflächlich. Das Gefühl metaphysischen Staunens über das Dasein der Welt ist nämlich keineswegs sinnlos. Und zwar ist dies erstens deshalb der Fall, weil wir sehr wohl über etwas staunen können, dessen Nichtsein unmöglich ist. In diesem Sinne können wir über die unerhörte Komplexität der Zahlen und ihrer Gesetze oder der logischen und mathematischen Prinzipien der Endspieltheorie des Schachspiels staunen, obwohl diese 403
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Vgl. dazu Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen Arguments, Kap. 2 Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, S. 15. Ludwig Wittgenstein, ebd., S. 16. Ebd., S. 15-16. “Wittgenstein’s own example was about feeling oneself to be absolutely safe.” In der Anmerkung fügt sie hinzu: “In his’Lecture on Ethics’, published in The Philosophical Review, 1965.” G. Elizabeth M. Anscombe, Paganism, Superstition and Philosophy, S. 93-105, S. 104. Auf deutsch erschien der von Anscombe zitierte Wittgenstein-Text in Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg.v. Joachim Schulte (Frankfurt a.M., 1989), S. 15-16.
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absolut notwendig sind. Wittgensteins Beispiele, etwa das, wir könnten über die Größe eines Hundes nur staunen, weil es kleinere Hunde gibt, bezieht sich nur auf einen winzigen Ausschnitt im Reich des Staunens und auf einen ganz bestimmten engen Sinn von Staunen, wird aber von ihm fälschlich als Wesensaussage über alles Staunen genommen. Wir können aber in jenem Sinn, der nach Platon der Anfang der Philosophie ist, sehr wohl über notwendig Seiendes staunen. Erst recht gilt dies von Gott, dem unendlichen Quell alles Seins und Verstehens und dem Inbegriff aller Heiligkeit, sowie dem einzigen Wesen, das realiter notwendig existiert, daß wir über Gott anbetend staunen können, ohne daß wir deshalb anzunehmen brauchten, es könne ihn auch nicht geben. Ganz im Gegenteil gilt hier gerade unser Staunen der Tatsache, die der frühere Findlay als Beweis für die Nichtexistenz Gottes annahm, daß zwar für alle (sonstigen) realen Seienden gilt, daß sie auch nicht existieren können, nicht aber für Gott. Außerdem aber können wir über die Existenz der Welt (Wittgensteins Beispiel) auch aus dem zweiten Grunde staunen, daß für sie gilt, was Wittgenstein für den einzigen Gegenstand des Staunens hält: nämlich daß das Dasein der Welt, zumindest der real existierenden Welt, aus verschiedenen strikten Beweisen heraus als kontingent erkannt wird und also gerade nicht notwendig ist, weshalb wir uns sehr wohl das Nichtsein der Welt vorstellen und daher darüber staunen können, „daß überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts.“408 Denn die Welt, über deren Existenz wir hier staunen, ist nicht die Totalität alles dessen, was der Fall oder nicht der Fall ist, sondern die reale, lebendige, wirkliche Welt. Tatsachen, wie daß wir nicht ewig gelebt haben, einmal nicht existierten und deshalb im Licht der Wahrheit ab esse ad posse valet illatio auch nicht hätten sein können und daß andere existierende Individuen derselben menschlichen Natur möglich sind, beweisen hinreichend die Nichtnotwendigkeit unserer Existenz; und was für den Menschen, die höchste Kreatur auf Erden, gilt, gilt ebenso für alle anderen realen Seienden in der Welt. Deshalb existiert diese kontingent, ist nicht notwendig, weshalb wir uns mit Leibniz sehr
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Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 11.
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wohl darüber wundern dürfen, daß die Welt ist und nicht vielmehr nicht ist.409 Auch jenes Gefühl religiöser Geborgenheit, auf das Wittgenstein sich als weiteres Beispiel bezieht, ist keineswegs das absurde innerweltliche Gefühl, als das Wittgenstein es beschreibt. Ein solches Gefühl empirischer Sicherheit vor Unfällen „egal was passiert“ wäre wirklich ein Unsinn, wie Wittgenstein erkennt. Das Gefühl religiöser Geborgenheit hingegen bezieht sich auf die absolute göttliche Liebe und unerschütterliche Hoffnung auf Gott, die auch dann nicht zuschanden wird, wenn wir in unserem irdischen Leben Tod, Unglücksfälle aller Art oder das Martyrium erleiden müssen. Diese Geborgenheit bezieht sich auf die ewige göttliche Liebe und unser ewiges Heil, worin nichts Absurdes liegt, und keineswegs auf eine absurde „irdische Sicherheit vor Unglücksfällen, egal welche Unglücksfälle wir erleiden“. Daher bringt Wittgenstein in den hier erörterten Ausführungen absolut nichts über die Natur der Gefühle des Staunens und der Sicherheit vor, was beweisen könnte, daß religiöse Gefühle und Wahrheitsansprüche ‚unsinnig‘ seien. 5. Wahrheit und Wahrheitserkenntnis im religiösen Glauben und Kritik der Elemente existentialistischer, konsensualistischer und sprachpragmatistischer Wahrheitstheorien bei Wittgenstein Die Wahrheit (wie auch die Falschheit) einer Glaubensaussage kann auch nicht in einer existentialistischen Erklärung gesucht werden, der gemäß das Urteil ein bloßer Ausdruck von Akten oder Gefühlen des Subjekts wäre, was Wittgenstein an manchen Stellen behauptet, wodurch er jede adaequatio-Theorie der Wahrheit aufhebt, auch wenn manche Interpreten dies bestreiten.410 Daß das Urteil einen Sachverhalt behauptet, 409
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Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 11; vgl. auch ders., Gott als Gottesbeweis, Kap. 10-11. Selbst wenn „Welt“ den notwendigen Sachverhalt meint, daß irgend etwas der Fall oder nicht der Fall ist (Tractatus, 1; 1.12), können wir staunen, daß überhaupt notwendig etwas der Fall und wahr ist und doch nicht nichts der Fall oder nichts mehr sein kann. Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, S. 19. Vgl. zur These, daß Wittgenstein nicht jede Korrespondenztheorie der Wahrheit im
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gilt auch für das Urteil des gläubig das Credo betenden Menschen, der bekennt: „Gott existiert“, „Gott ist der Schöpfer aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge“, oder „Er ist auferstanden von den Toten am Dritten Tage“.411 Auch in diesen auf der Grundlage des christlichen Glaubens gefällten Urteilen liegt die These, ja die in einem unbedingt als wahr behaupteten Urteil ausdrückbare Aussage, „Christus ist auferstanden, er ist wahrhaft auferstanden“. Einen Wahrheitsanspruch finden wir ebenfalls in den Urteilen der Gläubigen jeder anderen Religion, ganz gleich ob dieser Wahrheitsanspruch erfüllt ist oder nicht. Wittgensteins Idee, daß es sich hier gar nicht um Sätze, die wahr oder falsch sein könnten, handle, sondern um Spiele bzw. Sprachspiele, die bestimmten Regeln unterstünden, ohne Wahrheitsansprüche zu erheben, kann verschieden gedeutet werden: man könnte sagen, die hier von Wittgenstein implizierte Theorie der Wahrheit sei letzten Endes sprachbehavioristisch und beinhalte eine Sprachtheorie, die – wenn sie auf religiöse Aussagen angewendet werde – ein Mißverständnis derselben als „bloßes Sprachverhalten“ darstelle, analog zu Gilbert Ryles Theorie des Geistes.412 Man kann Wittgensteins Theorie aber auch im Sinne eines
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Reich der Religion aufhebt, etwa Hilary Putnam, Wittgenstein on Religious Belief, in: Rouner, Leroy S (Hrsg.), On Community, (Notre Dame, Ind.: Univ Notre Dame Pr, 1992). Zu einer scharfen Kritik dieser Wittgenstein vom Autor zugeschriebenen Auffassung vgl. Michael Martin, Wittgenstein’s Lectures on Religious Belief, in: Heythrop J (July 91), 369-382. Es wäre ein interessanter Gegenstand einer Untersuchung über das Verhältnis zwischen Erkenntnis, Logik und Religion festzustellen, ob es neben dem apodiktischen Urteil oder innerhalb desselben noch verschiedene logische Gewichte und Phänomene gibt, die es uns erlauben, die evidenter rationaler Einsicht entsprechende Apodiktizität von Urteilen auch in rein logischer Hinsicht von einer Art ‚rein moralischer Apodiktizität‘ und diese noch einmal von einer ‚Apodiktizität‘ jener Urteile, die auf vernünftig begründete Glaubensansprüche oder spezifisch religiös fundierte Überzeugungen zurückgehen, zu unterscheiden. So wäre der Begriff der apodiktischen ‚Modalität‘ des Urteils noch ein sehr abzustufender Begriff, der von der bisherigen Logik nur sehr grob gefaßt wird, abgesehen davon daß die Modalität von Sachverhalten und von Erkenntnisgewißheiten häufig mit der rein logischen Modalität verwechselt werden. Vgl. Gilbert Ryle, The Concept of Mind (London, 1949). Vgl. auch meine Kritik an dieser Auffassung in J. Seifert, Das Leib-Seele-Problem und die gegenwärtige
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Relativismus und eines gewissen an William James gemahnenden pragmatistischen Wahrheitsbegriffs deuten.413 Dabei könnte man in Wittgensteins Idee der Religion noch einen individuellen subjektiven und einen sozio-kulturellen Relativismus unterscheiden, wobei der erstere in seiner Wittgensteinschen Version existentialistische Elemente enthält.414 Solange man nun innerhalb der relativistischen Position verbleibt, kann man höchstens einen Gott anerkennen, der Objekt unserer Setzung ist, Objekt unseres Bewußtseins, abhängig von den Menschen, die ihn annehmen. Vielleicht nimmt ein Relativist nicht an, daß alle Wahrheit unmöglich ist, sondern daß sie sich bloß auf Objekte unseres Bewußtseins bezieht. Dann handelt es sich nicht um einen Wahrheitsrelativismus, sondern um einen ontologischen Relativismus bzw. Seinsrelativismus oder Daseinsrelativismus. Gott wird dann wie in Kants Kritik der reinen Vernunft als bloße, von unserer Vernunft erzeugte „transzendentale Idee“ angesehen. Daß ein solcher Gott, der nur als Objekt menschlichen Bewußtseins, zur Befriedigung seiner Interessen und Bedürfnisse oder als Erfüllung einer Funktion der Kontingenzbewältigung – oder auch als Postulat der sittlichen Vernunft – existiert, kein Gott ist, geht aus der folgenden Überlegung hervor. Wenn Gott als das erkannt wird, „worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“, dann kann ein solcher Gott nur entweder gar nicht sein oder er muß unabhängig vom menschlichen Denken und Bewußtsein existieren. Denn der Mensch, der real lebt und denkt und bewußt erkennt, und der diese Gottesidee überhaupt erst hervorbrächte, wäre, wie Anselm im Proslogion sagt, größer als eine solche von ihm abhängige Idee. Ein Gott, der nicht uns geschaffen hätte, sondern den wir geschaffen hätten, der von unseren subjektiven Akten konstituiert würde, wäre kein Gott; er wäre nicht das Wesen, über dessen
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philosophische Diskussion (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989), S. 15-24. Auch John W. Cook argumentiert so in seinem Aufsatz Wittgenstein and Religious Belief, in: Philosophy (1988), 63, 427-452. Zu den Parallelen zwischen Ludwig Wittgenstein und William James vgl. Graham Bird, William James (London: Routledge & K Paul, 1987). Vgl. etwa Jens Glebe- Moeller, Two Views of Religion in Wittgenstein, in Richard H. Bell, (ed.), The Grammar of the Heart (San Francisco: Harper & Row, 1998), S. 98-111.
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Vollkommenheit hinaus nichts Größeres gedacht werden könnte. Im Gegenteil, er wäre sogar dem überaus endlichen Menschen, der lebt, erkennt, will und liebt – und Gott erfunden hätte, unterlegen.415 Dasselbe gilt von jedem religionsphilosophischen Relativismus: Er zersetzt die Gottesidee und richtet sich somit gegen den Kern der Religion. Wenn man den Glauben an Gott ohne seine objektive Wahrheit festhalten möchte, wenn man das subjektive Bekenntnis des Glaubens bewahren will, aber die Objektivität der Wahrheit leugnet, bleibt vom Glauben und der Religion nichts übrig. Denken wir an die funktionalistische Wahrheits- und Religionstheorie. Dieser Theorie zufolge dürften wir den Aussagen des Credo oder der Metaphysik nicht objektive Wahrheit im Sinne ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zusprechen. Vielmehr bedeute ihre Wahrheit nur, daß dieser Glaube eine politische Funktion der Befreiung oder, nach anderen Autoren wie Lübbe, existentielle Funktionen der Kontingenzbewältigung erfülle416 oder von einer Bedrohung durch die totale Sinnlosigkeit des Lebens retten könne. Was immer aber die Funktion religiöser Aussagen über Gott sein mag, ihre Funktion ist evidenterweise nicht mit ihrer Wahrheit zu verwechseln. Auch Illusionen können uns trösten und zur Bewältigung von Tragödien führen. Sind sie deshalb wahr? Gewiß nicht. Sind sie wertvoll? Nicht dann, wenn sie falsch sind. Denn es entspricht der Würde menschlicher Existenz, daß sie Trost nur in der Wahrheit, nicht in irrigen, aber funktionierenden Glaubensinhalten suchen soll. Außerdem setzt jede funktionalistische Wahrheitstheorie notwendig die Adäquationslehre voraus; zumindest setzt sie voraus, daß Wahrheit wirklich nur in ihrer Funktionalität liegt – und diese angebliche Wahrheit ließe sich nicht durch die Funktionstheorie selber erklären, wie wir gesehen haben.
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Vgl. dazu die ausgezeichneten Ausführungen von R. Spaemann, „Funktionale Religionsbegründung und Religion“, in: Die religiöse Dimension der Gesellschaft, hrsg. P. Koslowski (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1985), S. 9-25. Ich denke hier an H. Lübbes Religion nach der Aufklärung und seine Diskussion mit R. Spaemann über die funktionalistische Religionsbegründung. Bei Lübbe selbst bleibt es übrigens unklar, ob er wirklich die Religion selber und ihre „Wahrheit“ auf ihre Funktionen reduzieren will.
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6. Kritik von Wittgensteins Meinung, daß alles Reden über Gott rein „anthropomorph“ und deshalb der Gegenstand der Religion „wahrheitsunfähig“ und total unerkennbar sei: Zur Überwindung von Wittgensteins ‚ontologischem‘ Relativismus und Agnostizismus Wir haben einen weiteren besonderen Grund kurz gestreift, aus dem Wittgenstein objektive Wahrheit über ökonomische, naturwissenschaftliche oder medizinische Sachverhalte zugibt, aber über Gott leugnet: wie wir gesehen haben, meint er, die Religion verwende Gleichnisse und Bilder, hinter denen „nichts liege“.417 Daher sei Religion sinnloser Anthropomorphismus. Um daher Wahrheitsansprüche und zumindest um die mögliche Erfüllung solcher religiöser Urteile zu rechtfertigen, setzt man gewisse metaphysische und epistemologische Sachverhalte voraus, auf die ich im Folgenden kurz eingehen möchte. Wittgenstein will mit der eben zitierten Aussage nicht nur manche, sondern alle religiösen Aussagen als unsinnig anthropomorph verstanden wissen. Daher haben nach ihm religiöse Ideen, wie die der Personalität Gottes oder Gottes als Adressat des Gebetes, nur eine mythologische Bedeutung in dem Sinne, daß „Sprachspiele wie Gebete gespielt werden“.418 Sie können uns nichts über die jenseits der Erfahrung liegende Wirklichkeit lehren und nichts Sinnvolles über sie aussagen. Wittgenstein leugnet hier das, was wir als reine Vollkommenheiten bezeichnen können. Er wendet hier zunächst Erkenntnisse des Vorsokratikers Xenophanes an: Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte.419
Dabei deutet Xenophanes selbst diese Aussage nicht im Sinn des Agnostizismus oder Atheismus, sondern will im Gegenteil von solchen 417
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Diese These findet sich in besonders unklarer, aber deutlich ausgesprochener Form in Ludwig Wittgenstein, Lectures on Religious Belief, in: Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology & Religious Belief, S. 53-72, bes. S. 70-72. Vgl. D. Z. Phillips, The Concept of Prayer (London, Routledge & K Paul, 1965). Fr. 15. Vgl. H. Diels-W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. Aufl. (Berlin, 1951-52), 3 Bde Bd. I.
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anthropomorphen Aussagen wesenhaft begrenzter Vollkommenheiten die Aussagen über reine Vollkommenheiten abgrenzen und schreibt Gott daher selber Einzigkeit, Geist, Allwissen, alles erhaltende Macht und Herrschaft zu. Wittgenstein hingegen übersieht gerade diese gewaltige Einsicht, die wir Xenophanes, Anselm von Canterbury, Duns Scotus und anderen großen Philosophen verdanken. Worin besteht diese Einsicht? Darin, daß wir (1) im Falle aller transzendentalen Seinsbestimmungen (wie Sein, Wesen, Etwassein, Wert/gut, etc.), aber auch (2) hinsichtlich gewisser Vollkommenheiten, die nicht alle, sondern nur manche Seiende in der Welt besitzen (wie Substantialität, Leben, Erkenntnis, Freiheit, Gerechtigkeit, Weisheit), wie auch (3) hinsichtlich exklusiv göttlicher Attribute wie notwendige reale Existenz, anfanglose und immer gegenwärtige Ewigkeit, Allwissen usf. mehrere entscheidend wichtige Einsichten gewinnen können: (1) Der Besitz all dieser reinen Vollkommenheiten ist schlechthin besser als ihr Nichtbesitz oder als was immer mit ihnen unverträglich ist. (2) Diese reinen Vollkommenheiten sind alle mit einander verträglich und schließen einander niemals aus, was schon aus logischen Gründen aus dem ersten Wesensmerkmal reiner Vollkommenheiten hervorgeht: wenn A und B reine Vollkommenheiten wären, aber einander ausschlössen, könnte der Besitz von A nicht absolut besser sein ihr Nichtbesitz, wenn B auch eine reine Vollkommenheit ist, die zu besitzen absolut besser ist als ihr Nichtbesitz, dabei aber A ausschlösse. (3) Die reinen Vollkommenheiten erlauben Unendlichkeit, ja sie sind immer nur uneigentlich sie selber, wenn sie begrenzt sind. Begrenztes Sein ist nicht das Sein selbst, endliche Liebe nicht die Liebe selbst, endliche Gerechtigkeit nicht die Gerechtigkeit selber, begrenzte Erkenntnis ist nicht voll Erkenntnis, sondern teils Ignoranz, und endliche Weisheit ist nicht volle Weisheit, nicht die Weisheit selbst.420
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Vgl. zu diesem auf Gedanken von Xenophanes bis Anselms Monologion und Duns Scotus zurückgehenden Begriff der „reinen Vollkommenheit“ und der Analyse des hier Gemeinten Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 5. Wittgenstein ist hier auch der Theologie von Josef Fuchs und anderen verwandt, die Ideen Gottes wie Gesetzgeber, Schöpfer und Richter für Anthropomorphismen halten. Vgl. Josef Seifert, „Gott und die Sittlichkeit innerweltlichen Handelns. Kritische philosophische Reflexionen über den Einfluß anthropomorphen und agnostischer
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Der katholische Moraltheologe Josef Fuchs, der, wie Wittgenstein, solche reinen Vollkommenheiten leugnet und alle inhaltlichen religiösen Aussagen für anthropomorph und daher in letzter Konsequenz für unsinnig hält, schließt daraus, daß man Gott nicht als Herrn über Leben und Tod oder als Gebieter und als Schöpfer, der die Seele unmittelbar schaffe oder auch als Richter, deuten dürfe, ohne in Anthropomorphismus zu fallen und menschlich-allzumenschliche Vorstellungen auf Gott zu übertragen. Diese Auffassung nähert sich jener Konzeption der Religion, die wir bei Wittgenstein finden und die Religion und Aussagen über Gott als Mythen deutet, durch die der Mensch seine Phantasievorstellungen auf einen unbekannten Gott überträgt, von dem er nichts weiß, weshalb religiöse Bilder unsinnige Bilder wären, „hinter denen nichts liegt“. Ein derartiger Subjektivismus, wie er etwa auch Bultmanns Entmythologisierungsprogramm zugrundeliegt, kann nur überwunden werden, wenn dem Menschen eine ungeheuerliche Erkenntnis möglich ist, die (nach Xenophanes) Anselm von Canterbury zu philosophischer prise de conscience brachte. In der Tat können wir diesen tiefsten Grund, aus dem Wittgenstein Religion Unsinn nennt, nur überwinden, wenn wir einsehen können, daß das Sein und das Leben und Geist, daß die Erkenntnis und die Freiheit nicht ihrer Natur nach begrenzt sind wie Ochsen und Pferde und Menschen. Nur dann dürfen wir einen objektiven Wahrheitsanspruch für die Aussagen erheben: Gott IST, Gott ist das Leben selbst, das Sein selbst, höchste Einheit und Macht und Güte, allwissend und allgerecht, und im höchsten und realsten Sinne Person. In jeder dieser Aussagen setzen wir die Einsicht voraus, daß diese Attribute schlechthin gut sind, daß es schlechthin besser ist, sie zu besitzen als sie aus irgendeinem Grunde nicht zu besitzen. Nur weil diese sogenannten reinen Vollkommenheiten ein Tor zum Unendlichen sind und in ihrer schrankenlosen und Unendlichkeit erlaubenden Eigenart erkannt werden, dürfen wir diese reinen Vollkommenheiten Gott zuschreiben und können also überhaupt nicht-mythologische, sondern objektiv wahre Aussagen über Gott machen.421 Diese Möglichkeit wird einerseits von
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Gottesvorstellungen auf Ethik und Moraltheologie“, in: Forum Katholische Theologie I, 1 (1985). Siehe dazu J. Seifert, Essere e persona, cit., Kap. 5.
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Wittgenstein bestritten, wird aber andererseits von Wittgenstein nicht radikal ausgeschlossen. Ja dasjenige, wovon man nach dem Ende des Tractatus nur schweigen soll, weil man von ihm nicht reden könne, muß nicht als sinnloses Nichts gedeutet werden, sondern könnte bei Wittgenstein, wie das Antlitz des Anderen bei Levinas, der Hinweis auf etwas Wichtiges und positiv Transzendentes sein, von dem man nur nicht reden kann, weil es unsagbar ist, wie Wuchterl Wittgenstein interpretiert. Allerdings bleibt Wittgensteins Deutung der „reinen Vollkommenheiten“ auch in dieser Deutung extrem vage.422 Die Erkenntnis reiner Vollkommenheiten ist nicht nur für die philosophische Gotteslehre grundlegend, sondern genauso für die Religion. Wenn diese nämlich als Produkt subjektiver Vernunftschöpfungen oder kultureller Faktoren behauptet wird, wie bei Wittgenstein, ist sie eigentlich Atheismus und nicht mehr Religion, so schöne religiöse Sprache sie auch noch gebrauchen mag. Und wenn der Gottesbegriff und die Religion rein als Funktionen von kulturabhängigen oder individuell bevorzugten Sprachspielen oder auch funktionalistisch im Hinblick auf irgendwelche politische, psychologische, soziale, existentielle oder ähnliche „Zwecke“ gedeutet werden, so bleibt ebenso trotz allen höflichen Lobes der Religion bei Wittgenstein von dieser selbst nichts übrig. Dasselbe gilt für die Jungsche Deutung Gottes als immanentes Objekt archetypischer seelischer Strukturen. Durch derartige subjektivistische Interpretationen der Gottesidee werden die objektiven Inhalte des Glaubens nur noch Mythen und vom Wesen des Christentums bleibt nicht mehr erhalten als bei Feuerbach und Marx-Engels. Nur auf der Grundlage objektiver Wahrheit haben Gott und Religion ihre Bedeutung und deshalb fällt mit der Möglichkeit, 422
Vgl. dazu eine sehr freie, aber interessante Wittgenstein-Interpretation in ihren Beziehungen zu Levinas: Kurt Wuchterl, Religion bei Wittgenstein und Lévinas, in: Rudolf Haller und Johannes Brandl (Hrsg.), Wittgenstein. Eine Neubewertung. Towards a Re-evaluation (Wien: Verlag Hölder-Pichler-Tempsky, 1990) S. 313322. Nach dieser Interpretation wäre das Unsagbare weder das Nichts noch Unsinn im gewöhnlichen Sinne, sondern ein Transzendentes, das nicht mehr in menschliche Sprache gefaßt werden kann und das der frühe Wittgenstein als Mystik bezeichnete. Was dieses ‚Unsagbare‘ dann aber ist und ob es in irgendeiner Weise erkennbar sei oder Gegenstand wahrer Aussagen sein könne, darüber schweigen Wittgensteins eigene Texte und auch Wuchterl.
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objektiv wahre oder sogar sinnvolle Aussagen über religiöse Gegenstände zu machen, auch aller Sinn der Religion und werden deren Aussage Sätze ohne Wahrheitsanspruch und folglich sinnlose Sätze. Dies, und damit der Irrtum jedes metaphysisch-religiösen Seinsrelativismus, besonders wenn dieser die in ihm liegende atheistische Zerstörung der Religion nicht begreift, wird allerdings erst dann deutlich sichtbar, wenn man den innersten Sinn der Religion nicht in der existentiellen Tröstung des menschlichen Subjekts, sondern in Anbetung, Liebe und Glaube sieht. Denn in der Liebe oder Anbetung wendet sich der Mensch Gott nicht um des Menschen willen, sondern um seiner selbst willen zu und antwortet auf ihn als den Urheiligen und Guten, er liebt ihn um seiner selbst willen. Gerade in dieser ethischen Transzendenz liegt das innerste sich selbst transzendierende Wesen der Person und der Religion. Und so wie der Jüngling in Hoffmanns Erzählung Der Sandmann verzweifelt, als er seine geliebte Olympia als bloßen Trug, die in Wirklichkeit eine bloße Puppe ist, erkennt, so bräche auch der Sinn der Gottesliebe und Anbetung, und damit der Religion, vollends zusammen ohne das Fundament objektiver Wahrheit. Ja ohne die objektive Wahrheit der Urteile des Philosophen oder des Gläubigen über Gott sollte man lieber Atheist als ein relativistischer Christ oder Anhänger einer anderen Religion sein. Positiv ausgedrückt enthüllt sich im Lichte einer Analyse der Anbetung und Liebe als religiöser Grundakte die objektive Wahrheit und ihre Erkenntnis als Fundament jedes sinnvollen religiösen Aktes. Wie schon erwähnt liegt in jedem Glauben religiöser Art, etwa daran, daß Gott existiert oder daß Christus zugleich Gott und Mensch ist, der Charakter des Urteils und damit des Wahrheitsanspruchs, d.h. der Gläubige ist überzeugt – wenn er überhaupt glaubt –, daß sein Urteil wahr ist, weil es mit den wirklichen Sachverhalten übereinstimmt.
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7. Kritik an Wittgensteins theologischem Agnostizismus und seiner Leugnung jedes vernünftigen Glaubensgrundes und Erkenntnischarakters des religiösen Aktes und an den sich daraus ergebenden Folgen für seine Philosophie der Wahrheit und seinem Ausschließen der Möglichkeit einer neben der Erkenntniswahrheit im strengen Sinn bestehenden Glaubenswahrheit Es gibt noch einen rein erkenntnistheoretischen Grund für Wittgensteins Lehre von der Unsinnigkeit der Religion. Wittgenstein leugnet jeden Erkenntniswert und jedes Erkenntnisfundament der Religion. Es gibt für ihn keinerlei Kriterien der Wahrheit des Glaubens und der Glaubwürdigkeit seiner Zeugen, und überhaupt kein positives Verhältnis zwischen Vernunft und Glauben. Es fragt sich natürlich, ob Wittgenstein darin nicht recht hat, oder was ein Glaubensurteil und sein Wahrheitsanspruch mit einem Erkennen und Kriterien zu tun haben könnte, und hier berühren wir eine andere Wurzel der Ideen Wittgensteins über Religion: die Idee ihrer radikalen Unerkennbarkeit und Unverifizierbarkeit, die sie zu sinnlosen Sätzen mache, wie Wittgenstein im Unterschied zu Kierkegaard, von dem er allerdings viele seiner Ideen über Religion übernimmt,423 meint. Bei Wittgenstein erscheint der Glaube zunächst als Gegensatz zum Erkennen, und dafür gibt es auch gewissen Anlaß in der Wirklichkeit. Wir glauben das, was wir nicht erkennen. Wenn wir’s erkennten, bräuchten wir es nicht mehr zu glauben. Auch erscheinen die Glaubensinhalte, vor allem des christlichen Glaubens, so paradox, wie die Gottheit eines Menschen, daß jedes Wissen über etwas, was allem unserem Wissen zu widersprechen scheint, daß nämlich ein historisch geborener Mensch anfanglose göttliche Person sein könnte, eine groteske Absurdität darzustellen scheint. Wenn wir die Frage stellen, wie sich Wissen und Glauben oder Wahrheitserkenntnis und Glauben an Wahrheit zueinander verhalten, sollten jedoch drei Dinge betont werden. Erstens, daß es gewisse Gegenstände des Glaubens gibt, wie etwa, daß wir frei sind, daß es absolute Werte, daß es Schuld gibt, daß es eine Seele gibt, daß es Gott gibt, die auch Gegenstand
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Vgl. etwa Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S. 31 ff.
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philosophischer Erkenntnisse sein können.424 Also gibt es Dinge, wie Thomas von Aquin sagt, die zugleich Gegenstände des Glaubens und der vernünftigen Erkenntnis sein können, wo also die vernünftige Erkenntnis den Wahrheitsanspruch des Glaubens im Prinzip rational bestätigen kann. Daher liegt hier eine partielle Bestätigung der Inhalte des Glaubens durch Philosophie, nämlich all jener Inhalte wie objektiver Werte, absoluter sittlicher Imperative, der Freiheit, der Seele und Unsterblichkeit und Gottes, die wir auch philosophisch erkennen können.425 Religionen, die diese Inhalte leugnen, sind deshalb auch aus rein philosophischen Gründen falsch und nur die wenigen Religionen, die alle diese erkennbaren Wahrheiten anerkennen, können wahr sein. Ihre tatsächliche Anerkennung im Glauben ist aber nicht hinreichend durch die schwierige Erfüllung dieser „Minimalbedingung“ gewährleistet, die ja auch irgendein Prophet, der Unsinn redet, aber keine philosophisch einsehbare Wahrheit leugnet, erfüllen würde. Dies führt uns zu einer ganz anderen Beziehung zwischen Glauben und Erkenntnis. Zweitens stehen Erkennen und Glauben in engem Verhältnis zueinander, weil die Grundlage eines rationalen, vernünftigen Glaubens immer ein bestimmtes Erkennen sein muß. Denn wenn wir annehmen, daß keinerlei Erkenntnis die Fundierung des Glaubens der Wahrheit von Aussagen ist, dann stellen wir ja Glauben und Religion auf dieselbe Stufe wie Aberglauben oder willkürlichste Meinung. Aber auch Wittgenstein unterscheidet zwischen Aberglauben und Religion. Dann muß er aber auch die Konsequenz aus dieser Unterscheidung ziehen und zugeben, daß es so etwas wie vernünftige Gründe des Glaubens gibt. Deshalb ist etwa für den christlichen Glauben im Sinne des Paulus-Wortes „Scio cui credidi“ („Ich weiß, wem ich geglaubt habe“) vorausgesetzt: daß eine Glaubwürdigkeit, 424
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Vgl. Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis; sowie ders., Essere e persona, cit., Kap. 9-15. Die Gründe, aus denen ich diese Inhalte auch heute philosophisch begründbar halte, habe ich verschiedentlich dargelegt, etwa in Josef Seifert, Leib und Seele. Ein Beitrag zur philosophischen Anthropologie (Salzburg: A. Pustet, 1973); ders., Das Leib-Seele Problem und die gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine kritisch-systematische Analyse; ders., Was ist und was motiviert eine sittliche Handlung? (What Is and What Motivates a Moral Action?), (Salzburg: Universitätsverlag A. Pustet, 1976); ders., Gott als Gottesbeweis.
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die etwa in der inneren Herrlichkeit und in der unerfindbaren inneren Gutheit der Liebe oder Barmherzigkeit Gottes, wie sie durch die Gleichnisse oder Taten Christi uns vor Augen geführt wird, bestehen kann. Auch Wunder oder andere Ereignisse, die auf die Wahrheit der religiösen Offenbarung hindeuten, können diese innere Glaubwürdigkeit begründen. Und auf diese Weise ist Erkennen zwar nicht eine hinreichende Begründung des Glaubens, wohl aber dessen unerläßliche Voraussetzung und in diesem Sinn glaubensbegründend. Das Erkennen von Wahrheit unterscheidet sich dennoch dadurch vom Glauben selbst, daß der Glaube über alles rein vernunftmäßig Gewußte hinausgeht, und den „Sprung ins Dunkel des Glaubens“ wagt, indem der Gläubige eine über all das Licht der Vernunft hinausgehende Wahrheit glaubend annimmt. Drittens können wir vom Glaubenserkennen selbst sprechen, d.h. wir können davon ausgehen, daß der Gläubige selbst nicht aufgrund rein rationaler Argumente oder Erkenntnisse, sondern aufgrund anderer Quellen des Erkennens, nämlich des im begründeten Glauben an die Zeugen der Wahrheit, ein Erkennen dessen besitzt, was er glaubt. Vielleicht ist ein Erkennen aufgrund des Glaubens, dieses dritte Verhältnis zwischen Erkennen und Glauben, nicht so erstaunlich, wenn man an die menschliche Erfahrung denkt. Denn der Großteil unseres Erkennens oder dessen, was wir als Erkennen bezeichnen, ist ja ein Erkennen aufgrund von irgendeinem Glauben, z.B. wenn ich sage: Ich weiß, daß das und das geschehen ist, was meine Freunde, meine Frau oder meine Kinder mir erzählen, so ist dieses Erkennen nicht ein Erkennen, das ich aus eigener Erkenntnis gewonnen habe, sondern etwas, was ich weiß – und von dem ich sinnvollerweise sage „ich weiß das“ – weil ich in diejenigen Personen, durch die diese Information zu mir gelangt ist, Vertrauen setze, an ihr Wort glaube. Ganze Wissenschaften, wie die Geschichtswissenschaft, beruhen auf einem solchen Erkennen aufgrund des Glaubens. Wenn wir es aber als ein universales Phänomen begreifen, daß aufgrund der Erkenntnis der Glaubwürdigkeit einer Person das, was uns durch diese Person als wahr mitgeteilt wird, aufgrund des Aktes des Glaubens gewußt wird, dann ist es vielleicht weniger erstaunlich, daß ein höheres und ähnliches Verhältnis zwischen Wissen und Glauben auch im Bereich der Religion denkbar ist, und daß deshalb der Gläubige „das was er glaubt“ nicht einfach als Gegensatz zum Erkennen, sondern mit Recht als ein Erkennen durch
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Glauben betrachten kann. Freilich sind die Ansprüche des religiösen Glaubens an unser Glauben an so viel höher als im normalen Leben, daß hier sowohl eine unvergleichliche Glaubwürdigkeit gegeben sein muß, als auch diese nicht einfach erkannt wird, sondern ihre Annahme selbst ein Moment des Glaubens enthält. Allerdings ist dies analog auch schon für den Glauben im außerreligiösen Sinne, den wir auf das Wort eines Menschen setzen, wahr. Aus diesen drei Gründen bzw. dem recht verstandenen dreifachen Verhältnis zwischen Glauben und Vernunft fallen also Wittgensteins Thesen über die Unsinnigkeit der Religion wegen der radikalen Unmöglichkeit, deren Wahrheit zu erkennen, bzw. wegen der radikalen Irrationalität des Glaubensaktes, dahin. So können wir an dem tiefen Verhältnis zwischen Person, Wahrheit, Erkenntnis und Religion festhalten, ohne daß wir Wittgenstein die Religion auf die Sphäre des Unsinns herabrücken zu lassen brauchten. Ja kraft des innerlichen Verhältnisses zwischen Vernunft und Glauben können wir den Glauben sogar als Erfüllung und Krönung der Vernunft ansehen. Der Glaube wird im Licht dieser Analyse als vernünftige Unterwerfung des eigenen Urteils bzw. als vernünftige Annahme eines Urteils einer fremden Person erkannt. Wir haben auch erkannt: der Glaube, daß, der sich auf die Wahrheit von Sätzen bezieht, ist nur durch das Vertrauen auf Personen und den Glauben an sie möglich. Die Glaubwürdigkeit derjenigen Person, der wir glauben, erkennen wir zwar, doch nicht vollständig, sondern wir müssen sie auch in jenem Vertrauen und jener Liebe als glaubwürdig anerkennen, die auch Wittgenstein, wie erwähnt, in diesem Kontext als tiefsten Grund religiösen Glaubens nennt. Für den Glauben gilt daher: intelligere ad credendum necesse est. Dies läßt sich auch mit Augustinus formulieren: intelligo ut credam (ich erkenne, um zu glauben und kann nur sinnvoll glauben, wenn meinem Glauben vernünftige Erkenntnis vorhergeht); aber es gilt zugleich auch für den Glauben, daß ebenso wie für den Glauben an: credo et amo, ut intelligam (es gibt auch eine Erkenntnis, die ohne Glauben und die ihn begründende Liebe unmöglich ist, im Sinne der dritten genannten Beziehung zwischen Glauben und Erkenntnis). So können wir unsere Ausführungen mit der vielleicht tiefsten Einsicht Wittgensteins, dessen allgemeine Anschauungen über Religion und dessen Wahrheitstheorie wir hier so hart zu kritisieren hatten, und mit
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seinem zentralen Gedanken schließen, daß die Liebe die höchste Quelle des Glaubens ist: Dieser Text führt zum neuen Thema Liebe und Erkenntnis, welches wir hier nicht behandeln können.426 Was neigt auch mich zu dem Gedanken an die Auferstehung Christi hin? Ich spiele gleichsam mit dem Gedanken. – Ist er nicht auferstanden, so ist er im Grab verwest, wie jeder Mensch. Er ist tot und verwest. Dann ist er ein Lehrer wie jeder andere und kann nicht mehr helfen; wir sind wieder verwaist und allein. Und können uns mit der Weisheit und Spekulation begnügen. Wir sind gleichsam in einer Hölle, wo wir nur träumen können, und vom Himmel, durch eine Decke gleichsam, abgeschlossen. Wenn ich aber WIRKLICH erlöst werden soll, – so brauche ich Gewißheit – nicht Weisheit, Träume, Spekulation – und diese Gewißheit ist der Glaube. Und der Glaube ist Glaube an das, was mein Herz, meine Seele braucht, nicht mein spekulierender Verstand. Denn meine Seele, mit ihren Leidenschaften, gleichsam mit ihrem Fleisch und Blut, muß erlöst werden, nicht mein abstrakter Geist. Man kann vielleicht sagen: nur die Liebe kann die Auferstehung glauben. Oder: Es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt. Man kann sagen: Die erlösende Liebe glaubt, auch an die Auferstehung; hält auch an der Auferstehung fest. Was den Zweifel bekämpft, ist gleichsam die Erlösung. Das Festhalten an ihr muß das Festhalten an diesem Glauben sein. Es heißt also: sei erst erlöst und halte an Deiner Erlösung (halte Deine Erlösung) fest – dann wirst Du sehen, daß Du an diesem Glauben festhältst. Das kann also nur geschehen, wenn Du Dich nicht mehr auf die Erde stützst, sondern am Himmel hängst. Dann ist alles anders und es ist ‚kein Wunder‘, wenn Du dann kannst, was Du jetzt nicht kannst. (Anzusehen ist freilich der Hängende wie der Stehende, aber das Kräftespiel in ihm ist ja ein ganz anderes und er kann daher ganz anderes tun, als der Stehende.)427
Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit verschiedenen Wahrheitstheorien schien es unerläßlich, auch die im Rahmen seiner Ethik und Religionsphilosophie liegende Wahrheitstheorie Wittgensteins, die viele
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Vgl. Max Scheler, Liebe und Erkenntnis (1916), in: ders., Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre (Gesammelte Werke), Bd. 6. 3e. Aufl. (Bonn: Bouvier Verlag, 1987). Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, S. 33.
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KAPITEL 9
Ähnlichkeiten zu existentialistischen Wahrheitsbegriffen aufweist und sich sonst kaum einordnen läßt, kritisch zu untersuchen.
V. TEIL
WAHRHEIT, KORRESPONDENZ UND ADÄQUATION KRITIK UNGENÜGENDER VERSIONEN DER KORRESPPONDENZTHEORIE, SEMANTISCHER UND SYNTAKTISCH STRUKTURELLER THEORIEN DER WAHRHEIT
KAPITEL 10 ALFRED TARSKIS PHILOSOPHIE DER WAHRHEIT UND VERWANDTE WAHRHEITSTHEORIEN UND MIT IHNEN VERBUNDENE THEORIEN DER VERMEIDUNG LOGISCHER ANTINOMIEN (BEI GÖDEL, RUSSELL, MEINONG UND ANDEREN AUTOREN) – EINE KRITISCHE UNTERSUCHUNG 1. Tarski’s ‚semantische Wahrheitstheorien‘ und ihre Kritik Eine der einflußreichsten Wahrheitstheorien der zeitgenössischen Philosophie ist die Wahrheitskonzeption Alfred Tarskis, der sich in seinem berühmtesten und einflußreichsten Werk über den Gegenstand428 der klassischen Adäquations- bzw. Korrespondenztheorie der Wahrheit verpflichtet weiß, ja diese neu und besser zu formulieren versucht, zugleich aber eine ganz andere, semantische, und wie wir sehen werden, auch eine 428
Vergleiche Alfred Tarski, „Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“, deutsche Originalausgabe in: Studia filosofica comentarii societatis filosoficae polonorum societatis 1, Lemberg, 1935, s. 264-405 (mit dem Nachwort von 1935); Der Text ist wiederabgedruckt in Francesca Rivetti Barbò, L’antinomia del mentitore nel pensiero contemporaneo da Peirce a Tarski (Milano: Vita e Pensiero, 1964), S. 265: Ich möchte nur erwähnen, daß es sich in der ganzen Arbeit ausschliesslich darum handelt, die Intentionen zu erfassen, welche in der sog. ‚klassischen‘ Auffassung der Wahrheit enthalten sind (‚wahr – mit der Wirklichkeit übereinstimmend‘) im Gegensatz z.B. zu der ‚utilitaristischen‘ Auffassung (‘wahr – in gewisser Hinsicht nützlich‘).
Vgl. auch Luis Fernandez Moreno, „Tarskian Truth and the Correspondence Theory“, Synthese, (2001) January; 126 (1-2): 123-147. Der Autor geht dort auf die Frage ein, in welchem Ausmaß Tarski eine Korrespondenztheorie der Wahrheit vetritt. Er faßt seinen Artikel im Philosopher’s Index 2002 so zusammen: “Tarski’s theory of truth brings out the question of whether he intended his theory to be a correspondence theory of truth and whether, whatever his intentions, his theory is, in fact, a correspondence theory. The aim of this paper is to answer both questions. The answer to the first question depends on Tarski’s relevant assertions on semantics and his conception of truth. In order to answer the second question Popper’s and Davidson’s interpretations of Tarski’s truth theory are examined; to this end both Tarski’s definition of truth in terms of satisfaction and the T-sentences are taken into account.”
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strukturell-linguistische, nicht-semantische Wahrheitstheorie einführt. Man kann bei ihm neben diesen drei Wahrheitstheorien auch noch Spuren einer Kohärenztheorie der Wahrheit entdecken.429 Wir werden uns im Folgenden jedoch hauptsächlich mit Tarskis Korrespondenztheorie der Wahrheit, die er gerade als Stärkung oder sogar als einzig haltbare Version der Korrespondenztheorie auffaßt, und mit seinen semantischen und strukturell-linguistischen Wahrheitstheorien, die er als Alternativen zur Korrespondenztheorie darstellt und zu denen er in wachsendem Maß neigt, beschäftigen. Tarski meint in seinem berühmten Aufsatz, nur durch seine neue semantische Fassung der Korrespondenztheorie der Wahrheit könnten die sonst unvermeidbaren Antinomien, wie die des Lügners, vermieden werden.430 Zwar gesteht er selber zu, daß sich für diese Paradoxien schon vor Einführung seiner eigenen Theorie eine mehr oder minder befriedigende Lösung habe finden lassen, aber der Grundtenor seiner Ausführungen ist der, daß eine wirklich solide Lösung erst unter Voraussetzung seiner semantischen Wahrheitstheorie möglich sei, zumindest in überzeugender Weise. Daher müssen wir im zweiten Teil dieser Ausführungen zu Tarskis Lösungsversuch logischer Antinomien Stellung beziehen, weil die Meinung, dieser Versuch sei gelungen und sogar der einzig haltbare Versuch einer Lösung der Antinomien sein Hauptargument für die Einführung seiner von ihm selber in ihrer Radikalität kaum begriffenen Umgestaltung der Korrespondenztheorie der Wahrheit ist. Wie erwähnt, findet sich bei Tarski auch eine andere strukturell-syntaktische Wahrheitstheorie. Diese Wahrheitstheorien, die Alfred Tarski auch in anderen Werken weiterentwickelt hat, sollen im Folgenden einer eingehenden Kritik unterzogen werden.431 Wo nicht anders vermerkt, werde ich mich dabei auf 429
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Vgl. Ansgar Beckermann, „Wittgenstein, Neurath und Tarski über Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung, (1995); 49 (4): 529-552. Vgl. Tarski, ebd. S. 264 f. Vgl. auch Alfred Tarski, „Die semantische Konzeption der Wahrheit“ in Sinnreich, J. (Hrsg.), Zur Philosophie der idealen Sprache (München 1972), S. 53-100 (englische Originalausgabe 1944). Vgl. auch Tarski, „Grundlegung der wissenschaftlichen Semantik“, in: Berka, K./Kreiser, L., Logik-Texte. Kommentierte Auswahl zur Geschichte der modernen Logik (Berlin 1971), S. 350-356,
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den wichtigsten Aufsatz A. Tarskis, „Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“432, beziehen. Trotz des kritischen Charakters meiner Ausführungen sollen weder die großen Verdienste, die Alfred Tarskis Wahrheitsdefinitionen für die Entwicklung der mathematischen symbolischen Logik und der Computerwissenschaften gespielt haben, geschmälert noch die Tatsache verkannt werden, daß Tarski einen einflußreichen und bahnbrechenden Versuch unternommen hat, die klassische Wahrheitstheorie zu retten und in einer für die moderne philosophische Welt zugänglichen Weise neu zu formulieren. Ich kann allerdings meine Überzeugung nicht verhehlen, daß Tarski dieser Versuch nicht gelungen ist, und zwar insbesondere deshalb nicht, weil seine – weit von der vorbildlichen phänomenologisch-realistischen Methode der Wahrheitstheorie eines Adolf Reinach433 oder Alexander Pfänder434 entfernte – philosophische Methode es ihm nicht erlaubte, das eigentliche Grundproblem seines Aufsatzes richtig zu fassen oder gar, es zu beantworten. Worin besteht dieses Grundproblem? Darin, eine „sachlich zutreffende und formal korrekte Definition des Terminus ‚wahre Aussage‘ zu konstruieren“.435
Originalausgabe 1936); ebenfalls Tarski, „Der Wahrheitsbegriff in den Sprachen der deduktiven Disziplinen“, in: Berka-Kreiser, a.a.O., S. 356-359 (Originalausgabe 1932). Zu einer kurzen verhältnismässig klaren Darstellung vergleiche auch L. Bruno Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie, eine kritisch-systematische Darstellung (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2. Aufl., 1983); S. 41-69. 432 a.a.O. 433 Adolf Reinach, „Zur Theorie des negativen Urteils“, S. 95-140. 434 Alexander Pfänder, Logik, zit. 435 „Die semantische Konzeption der Wahrheit“ in: J. Sinnreich, (Hg), Zur Philosophie der idealen Sprache (München 1972) S. 264.
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1.1. Fehler der philosophischen Methode und unzureichende Gründe Tarskis für die Verwerfung der bisherigen Versuche einer Definition von Wahrheit für die normale Sprache (Umgangssprache)
Tarski geht von der lapidaren Behauptung aus, daß zwar die Bedeutung des Terminus „wahre Aussage“ in der Umgangssprache436 und jeder anderen „semantisch geschlossenen Sprache“ (in der nicht zwischen Sprache L und Metasprache M unterschieden und eine Anwendung von Urteilen der Sprache L auf metasprachliche Aussagen nicht ausgeschlossen werde) recht klar und verständlich zu sein scheine, aber alle Versuche einer genaueren Präzisierung dieser Bedeutung bis dahin erfolglos geblieben seien. Das Hauptkennzeichen dieser Erfolglosigkeit sieht Tarski437 darin, daß dieser traditionelle Wahrheitsbegriff, wenn er, zumindest ohne Beachtung der von ihm eingeführten Sprachebenen, auf die Umgangssprache angewendet werde, notwendigerweise zu Paradoxien und Antinomien führe.438 Puntel stellt diese Auffassung so dar: Nach Tarski treten solche Antinomien in den semantisch-geschlossenen Sprachen notwendigerweise auf. Eine semantisch-geschlossene Sprache ist diejenige, die neben den Aussagen auch die Namen der Aussagen (Anführungsnamen, deskriptiv-strukturelle Namen) und außerdem semantische Terme wie ‚wahr‘ in bezug auf diese Sprache enthält. Eine solche Sprache ist nach Tarski notwendig inkonsistent: indem sie nämlich die angegebenen Sprachebenen in ihrer Unterschiedenheit nicht beachtet, führt sie zu Antinomien. Eine solche Sprache ist die Umgangssprache: Universalismus – d.h. alles und jedes ohne Berücksichtigung der 436
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Dieser Ausdruck ist unglücklich gewählt, da er gewöhnlich auf weniger schöne, weniger differenzierte oder auch auf besondere typische Ausdrucksweisen hinweist, die man der korrekten, poetischen oder feineren Verwendung einer Sprache gegenüberstellt. Wenn man den Terminus „Umgangssprache“ hingegen durch „normale Sprache“ ersetzt, ist dieser Terminus nicht nur ungebräuchlich und häßlich, sondern ebenfalls unklar, weil er ja nicht „abnormaler“ Sprache oder der Sprache abnormaler Menschen gegenübergestellt werden soll, sondern den „technischen“ und symbolischen formalisierten Sprachen. Wir verwenden den Ausdruck „Umgangsprache“ daher wie Tarski als terminus technicus und als reinen Gegenbegriff zu „formalisierter Sprache“. Tarski, .a.O., S. 264 f. Vgl. dazu auch L.B. Puntel, Wahrheitstheorien, a.a.O., S. 56.
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Unterschiede zwischen den Sprachstufen auszudrücken – ist ‚vermutlich die wesentliche Quelle aller sog. semantischen Antinomien‘.439
Anstatt auf die nach Tarskis eigener Anschauung schon vor seiner Theorie möglichen und sogar mehr oder minder befriedigenden Lösungen einzugehen, oder zu zeigen, daß ohne seine neue Wahrheitstheorie eine Lösung der Antinomienproblematik nicht denkbar sei, setzt Tarski dies einfach voraus und schreitet dann zuerst zu seiner neuen semantischen und dann linguistisch strukturellen, nicht-semantischen Wahrheitstheorie fort. Darin allein schon liegt ein philosophischer bzw. methodologischer Fehler. Denn vor der Entwicklung einer so weittragenden neuen Theorie der Sprache und der Wahrheit sollte zuerst genau geklärt werden, ob ein solches Vorgehen nötig ist. Es verhält sich hier ähnlich wie bei Kants ‚Antinomie der reinen Vernunft‘ in der Kritik der reinen Vernunft, wo viel zu schnell angenommen wird, daß unter der Voraussetzung einer realistischen Philosophie Antinomien unvermeidbar sind. Und ohne genaue Analyse geht Kant dazu über, eine radikal neue Erkenntnistheorie zu entwickeln, welche die Existenz des Dings an sich und den rezeptiv-entdeckenden Charakter der Erkenntnis bestreitet und damit nicht nur dem evidenten Wesen des Erkennens, sondern auch sich selber widerspricht.440 Ähnlich wie Kant, auf die erwähnte Voraussetzung aufbauend, mit seiner widerspruchsvollen ‚Lösung‘ der Antinomien und seiner widerspruchsvollen und dem evidenten Wesen des Erkennens widersprechenden Deutung desselben in der ‚kopernikanischen Wende‘ einen zweiten unberechtigten Schritt tut,441 geht Tarski viel zu leicht von der Voraussetzung aus, Antinomien und logische Paradoxien ließen sich nicht lösen, wenn man die bisherige klassische Theorie der Wahrheit als Adäquation auf nicht-formalisierte Sprachen überhaupt anwende und für formalisierte Sprachen nicht präziser 439
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Puntel, ebd., S. 56 f. Er bezieht sich dabei auf Tarskis Wahrheitstheorie, Tarski, a.a.O., S. 278. Vgl. meine Kritik der Kant’schen Darstellung und Lösung der Antinomien: Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; ders., „Das Antinomienproblem als ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“. Zum evidenten Widerspruch einer solchen Theorie zum Wesen des Erkennens und ihrem Selbstwiderspruch vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves, zit.
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bestimme, und geht, von dieser Annahme ausgehend, dazu über, den gigantischen Bereich aller in normaler Sprache gemachten Aussagen von der Adäquationstheorie der Wahrheit auszuschließen und auch für die formalisierten Sprachen eine radikal neue Auffassung der Anwendbarkeit des Wahrheitsbegriffs einzuführen. Die Unnötigkeit eines solchen weiteren Schritts kann man dadurch aufzeigen, daß man eine Lösung für die Antinomien und logischen Paradoxien bietet, die durchaus im Rahmen einer klassischen Wahrheitstheorie als Theorie der Wahrheit von Aussagen im Rahmen dessen, was Alfred Tarski ‚Umgangssprache‘ nennt, verbleibt. Doch unabhängig von der Frage, ob Tarski oder wir in der Sicht dieser Frage recht behalten, bleibt es ein gravierender methodologischer Fehler, durch eine allzu kurze Erwähnung und ohne sorgfältige Untersuchung der Antinomienproblematik eine so umwälzende und gefährliche These zu vertreten wie die der Unhaltbarkeit eines Festhaltens am Adäquationsbegriff der Wahrheit in den natürlichen Sprachen (ordinary language). Eine weitere Problematik442 der Methode Tarskis ergibt sich daraus, daß dieser von einer ‚Konstruktion‘ der Definition der Wahrheit spricht, anstatt zu erkennen, daß eine Definition der Wahrheit nicht konstruiert werden darf, sondern vom vorgegebenen Wesen der Wahrheit her abgelesen werden muß. Wenn wir die rezeptive Struktur jeder und insbesondere jeder philosophischen Erkenntnis verstehen, werden wir einsehen, daß eine Darlegung dessen, was Wahrheit ist, welche zu den allergrundlegendsten Gegebenheiten überhaupt gehört, unmöglich durch eine Konstruktion, sondern vielmehr nur durch eine sorgfältige Untersuchung der intelligiblen Gegebenheit, die wir Wahrheit nennen, erreicht werden kann. Wir müssen das Wesen dieser einsichtigen Gegebenheit ‚Wahrheit‘ entdecken, zu sehen lernen – und nicht konstruieren. Auch der weitere methodologische Schritt Tarskis, „jedenfalls werde ich mich bei dieser Konstruktion keines semantischen Begriffes bedienen, wenn es mir nicht vorher gelingt, ihn auf andere Begriffe zurückzuführen“,443 geht von einer unbegründeten und unbegründbaren methodologischen Voraussetzung aus und enthält zwei fehlerhafte 442 443
Tarski, a.a.O., S. 265. Tarski, a.a.O., S. 265.
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Annahmen bzw. Grundlagen. Erstens versäumt es Tarski, die Bedeutung des keineswegs klaren Ausdrucks „semantischer Begriff“ zu klären. Zweitens bedient Tarski sich von Anfang an einer reduktionistischen Methode, die einen solchen „semantischen Begriff“ nicht annehmen will, wenn es nicht vorher gelänge, ihn auf andere Begriffe zurückzuführen. Wieso soll es aber nicht ursprüngliche und auf andere Begriffe unzurückführbare ‚semantische Begriffe‘ geben? Zunächst zum ersten Problem: Was heißt überhaupt ein ‘semantischer Begriff’? 1) Aus einer der sehr verschiedenen Wahrheitsdefinitionen Tarskis, die wir im folgenden eingehend erörtern werden, ergibt sich, daß mitunter sprachliche Sätze in ihrer Bedeutungsfunktion und in ihrer Bezogenheit auf die in ihnen ausgesagten Sachverhalte jene ‚semantischen Elemente‘ sind, die Tarski meint und die er durch eine syntaktisch-strukturelle Definition ersetzen möchte. Ist dann jeder Begriff, der die Bedeutungen sprachlicher Zeichen und Zeichenfolgen ausmacht, ein ‚semantischer Begriff‘ wie dies in der Idee „semantisch geschlossener Sprachen“ vorausgesetzt wird? Offenbar kann dies in vielen Passagen seiner Beiträge zum Wahrheitsproblem nicht der Intention Tarskis entsprechen, weil diese Verwendung des Ausdrucks „semantischer Begriff“ auf jede Wortbedeutung bzw. auf jedes Wort, insofern es etwas meint, zutrifft und Tarski gerade semantische Begriffe der Metasprache M von den Bedeutungen der Objektsprache L und allgemein von nicht-semantischen Begriffen unterscheiden möchte. 2) Also muß Tarski eine zweite Bedeutung von ‚semantischen Begriffen‘ zugrundelegen. Versteht er dann unter „semantischen Begriffen“ solche, die von der Sprache handeln? Semantische Begriffe wären dann etwa Begriffe wie „Wort“, „Satz“, „Fragesatz“, „Behauptungssatz“, oder noch konkreter Begriffe, welche die Sprachzugehörigkeit eines Satzes oder seine Worte, Silben, grammatische Konstruktion, etc. betreffen. Da sich in diesem Fall, wenn man Begriffe von rein sprachlichen Gegebenheiten semantische Begriffe nennen wollte, Semantik nicht von Sprachwissenschaft oder orthographischem, lexikalischem oder grammatischem Wissen unterschiede, wird offenbar auch dies von Tarski nicht unter „semantischem Begriff“ gemeint oder entspricht jedenfalls nicht der eigentlichsten Bedeutung dieses Ausdrucks bei Tarski.
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3) Sind dann allein jene Begriffe „semantisch“ in Tarskis Sinn, die nicht, oder jedenfalls nicht nur, die oben angegebenen rein sprachlichen Gebilde und Formationen meinen, sondern die von jenen Bedeutungseinheiten, Fragen oder Urteilen handeln, die in der Sprache oder in Sätzen ausgedrückt werden? So würden etwa Aussagen über „Wortbedeutungen“, „Gedankenarten“, die in Sätzen ausgedrückt werden, wie „Fragen“, „Befehlen“, „Urteilen“ usf., wie sie etwa Pfänder in seiner Lehre vom Begriff oder auch in seiner Lehre von den Urteilsarten unterscheidet, „semantische Begriffe“ verwenden. Semantische Begriffe dieser Art sind etwa ‚Wortbedeutung‘, ‚gegenständliche Richtung‘ von Begriffen, ‘Hauptbegriff’ (wie er in Substantiven vorliegt), „Nebenbegriff“ usf.444 Meint Tarski dann mit ‚semantischen Begriffen‘ nur die der Semantik als Lehre von den Bedeutungen sprachlicher Zeichen eigenen Meta-Begriffe, die von Bedeutungen handeln? Semantik besteht dann gerade in der Erforschung der sprachlicher Zeichen und Zeichenfolgen, die eine Bedeutung haben, oder dieser Bedeutungen selbst. Spricht also Semantik als „meta-sprachliche“ Disziplin über die Bedeutungen von Worten bzw. über Worte, insofern sie Träger von Bedeutungen sind? Zweifellos schwebt Tarski in der Idee der Metasprache, die über die Objektsprache spricht, und deren Stufen M1, M2, etc., diese Idee von semantischem Begriff öfters vor. 4) Ich bin jedoch der Ansicht, daß Tarski unter „semantischen Begriffen“ noch andere Begriffe im Auge hat, die eigentlich „transsemantisch“ sind, weil sie nicht von den immanenten Bedeutungen sprachlicher Gebilde handeln, sondern vielmehr von solchen Eigenschaften in Sprache ausgedrückter Gedanken oder Urteile, die diesen nicht qua Bedeutungseinheiten zukommen, sondern vielmehr nur aus ihrem Gegenstandsbezug stammen können (wie Wahrheit oder Falschheit)? Ein semantischer ‚Wahrheitsbegriff’ würde dann Eigenschaften von Urteilen445 444
445
Vgl. Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hg.), Logik, „Die Lehre vom Begriff“, ebd., S. 129-179; oder „Die Lehre vom Urteil“, ebd., S. 31-128. Nicht von ‚Sätzen, obwohl Tarski in seiner doppeldeutigen Verwendung von ‚Satz‘ den sprachlichen Satz oft mit dem objektiv begrifflichen Urteilsgebilde zu identifizieren scheint‘, und auch nicht von Urteilsakten, sondern von den objektiven Urteilen (Urteilsinhalten), die aus Begriffen gebildet sind und etwas behaupten.
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meinen, die diese nur aus einer Beziehung zu unabhängig von ihnen bestehenden Sachverhalten besitzen. 5) Oder meint Tarski gar mit ‚semantischem Begriff‘ bzw. mit ‚semantischer Wahrheitsdefinition‘ eine solche (semantisch-)strukturelle Wahrheitsdefinition, die – entgegen dem üblichen Begriff von ‚semantisch‘ – von den Bedeutungselementen der Sprache ganz absieht und die Wahrheit ganz immanent für sprachliche Zeichen als solche definieren will, wie wenn man sagen will: „Eine Aussage ist wahr, wenn in ihr das erste Wort ‚wenn‘, das dritte ‚so‘ und das zweite und vierte identisch sind“? Diese letzte Bedeutung von semantisch, die auch Tarski selbst meist nicht „semantisch“ nennt, obwohl er sie in dem Aufsatz „Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen“, welcher der Verteidigung einer semantischen Wahrheitsdefinition gewidmet ist, behandelt, ist eigentlich das Gegenteil dessen, was ursprünglich mit dieser Bezeichnung gemeint werden soll. Versteht man eine „semantische Wahrheitstheorie“ in diesem Sinn, der eigentlich das Gegenteil des Sinnes von ‚semantisch‘ darstellt, so führt dies dazu, daß man nach Tarskis eigener Aussage alle semantischen Elemente der Sprache in den vorherigen Bedeutungen von „semantisch“ durch nichtsemantische strukturelle ersetzen will. Beckermann liefert eine gute Erklärung der Wende Tarskis von einer semantischen Wahrheitstheorie (in den Bedeutungen 2-3, die weder Tarski noch Beckermann untereinander und von 4 differenziert) zu deren Reduktion auf nicht-semantische Begriffe (ein Ausdruck der den verschiedenen Bedeutungen von semantisch entsprechend wiederum ganz verschiedene Bedeutungen besitzen kann). Seine Hauptthese steht im Einklang mit unseren Ergebnissen in diesem Kapitel: Beeinflußt von Neuraths skeptischer Kritik, habe Tarski die (letztlich widersprüchliche) Theorie vertreten, daß die von ihm vorerst mit Entschiedenheit verteidigte und formulierte semantische Wahrheitstheorie nur dann aufrechterhalten werden könne, wenn aus ihr alle semantischen Wortbedeutungen eliminiert würden.446 446
Eine Tarski’sche Position, die schon die diversen Redundanztheorien der Wahrheit vorwegnimmt. Vgl. Ansgar Beckermann, „Wittenstein, Neurath, et Tarski sur la
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Wie soll aber auch nur in Hinsicht auf die ersten drei, geschweige denn auf die vierte Bedeutung von ‚semantisch‘ eine derartige Reduktion von Wahrheit auf nicht-„semantisch-strukturelle“ und rein strukturellsprachliche Bestimmungen, denkbar sein oder begründet werden, wie Tarski dies vorschlägt? Ja ist nicht der Wahrheitsbegriff nicht nur unreduzierbar auf nicht-semantische oder rein strukturell linguistische Momente, sondern ein semantische Begriffe in allen Bedeutungen zwar voraussetzender, aber notwendigerweise trans-semantischer Begriff? Der Wahrheitsbegriff kann nämlich als solcher niemals auf der bloßen Ebene von Zeichen, aber ebensowenig auf der reiner sprachlicher Bedeutungen, auch nicht der ‚Meta-Bedeutungen‘ von Metasprachen, deren Gegenstand andere Bedeutungen von Objektsprachen niedrigerer Ordnung sind, sondern nur auf jener des Verhältnisses zwischen in der Sprache ausgedrückten Urteilen und von diesen Urteilen verschiedenen Sachverhalten begriffen und definiert werden? Und wieso soll dieses Verhältnis der Bedeutung umgangssprachlicher oder metasprachlicher Aussagen zu den in ihnen behaupteten und jenseits ihrer selbst liegenden Sachverhalten nicht der Aufklärung fähig sein? Etwa wegen der Antinomien, von denen uns nicht weiter gezeigt wird, daß sie aus der Anwendung der klassischen Wahrheitsdefinition auf die Umgangssprache folgen oder deshalb, weil von Tarski auf das seit der Antike wohlbekannte Lügner-Paradox verwiesen wird? Soll ein flüchtiger Hinweis auf dieses Paradox hier genügen, wo es um präzise Unterscheidungen und Analysen geht, durch die allein nachgewiesen werden könnte, daß das Antinomienproblem sich im Rahmen der auf Urteile, die in der natürlichen Sprache (ordinary language) ausgedrückt werden, angewandten klassischen Wahrheitsdefinition nicht lösen läßt? In einer von Puntel zu Recht wiederholt bemängelten Ambiguität sagt Tarski auf derselben Seite, er wolle eine präzise Wahrheitsdefinition geben vérité“/„Wittgenstein, Neurath und Tarski über Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung (Oktober-Dezember 1995), 49 (4), 529-552. Der Autor versucht zu zeigen, daß die drei verschiedenen Wittgenstein, Neurath und Tarski zugeschriebenen Wahrheitstheorien (die Korrespondenztheorie dem ersten, die Kohärenztheorie dem zweiten und die semantische Wahrheitstheorie dem dritten) nicht so säuberlich trennbar sind und auch Wittgenstein im Traktatus eine semantische Wahrheitstheorie vertrete.
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und: er beabsichtige keine weitergehende Analyse der im täglichen Leben geläufigen Bedeutung des Terminus wahr durchzuführen, von der jeder Leser in höherem oder geringerem Grade eine intuitive Kenntnis besitze. Wie kann er eine solche Untersuchung unterlassen wollen und zugleich danach streben, jene Intentionen zu erfassen, welche in der sogenannten klassischen Auffassung der Wahrheit enthalten sind, die sich auf jedes, in gleich welcher Sprache ausgedrücktes, Urteil anwenden läßt? Wie kann er unterlassen wollen, das zu klären, was wahr im Sinne des ‚mit der Wirklichkeit übereinstimmend‘ sei? Ferner ist an der Methode Tarskis auszusetzen, daß er die Frage des Trägers der Wahrheit nicht weiter erörtert. Ohne weiteres nimmt er an, daß Wahrheit sprachlichen Gebilden zukomme und deshalb im wesentlichen von der Sprache abhänge, die Gegenstand seiner Erwägungen sei.447 Ja derselbe Ausdruck könne in einer Sprache eine wahre, in einer anderen eine falsche Aussage oder ein sinnloser Ausdruck sein, eine These, die leicht zum Relativismus führt, weil sie Wahrheit letztlich auf die jeweilige Sprache relativ setzt.448 Dabei scheint Tarski die Bedeutungseinheit, die die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ausmacht, d.h. das Urteil als objektives Gedanken- bzw. Bedeutungsgebilde, das ausschließlich in einem ‚absoluten Sinne‘ entweder wahr oder falsch sein kann, mit der Relativität der Definition bestimmter sprachlicher Ausdrücke im Sprachgebrauch zu verwechseln, die es möglich machen, daß derselbe sprachliche Satz in verschiedenen Sprachen oder Fachsprachen ganz verschiedene Bedeutungen zum Ausdruck bringt und deshalb in der einen wahr, in der anderen falsch sein kann. Nur aufgrund dieser Relativität des sprachlichen Ausdrucks bzw. des Verhältnisses, kraft dessen verschiedene Bedeutungen (für deren Objekte verschiedene Definitionen gelten) in denselben sprachlichen Ausdrücken wiedergegeben werden können, kann von einer Relativität der Wahrheit auf die je verschiedene Sprache die Rede sein. Besser wäre es freilich zu sagen, daß sprachliche Sätze nicht als solche wahr oder falsch sind, sondern vielmehr nur im Hinblick auf die in ihnen 447
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Zu einer in manchen Hinsichten analogen Kritik vgl. Jonathan Harrison, “The Trouble with Tarski”, Philosophical Quarterly, (1998); 48 (190): 1-22. Tarski, a.a.O., S. 265. Vgl. auch Wilhelm K. Essler, „Was ist Wahrheit?“, in: Preyer, Gerhard (ed), Language, Mind, and Epistemology: On Donald Davidson’s Philosophy (Dordrecht: Kluwer, 1994).
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ausgedrückten Bedeutungen und Urteile und deren Wahrheit bzw. Falschheit wahr oder falsch genannt werden. Hätte Tarski die Frage des Trägers der Urteilswahrheit näher untersucht und mit Husserl ideale logische Bedeutungseinheiten von schwankenden Wortbedeutungen unterschieden,449 so hätte er die leicht einsehbare Tatsache gefunden, daß Wahrheit keineswegs solchen sprachlichen Sätzen, sondern vielmehr den in ihnen ausgedrückten Urteilen zukommt und hätte nicht – und erst recht nicht mit solcher Leichtigkeit – eine Relativität der Wahrheit auf die jeweilige (Umgangs-)Sprache L behaupten können. Denn dann wäre es ihm zunächst als evidente Wahrheit einleuchtend gewesen, daß und warum sprachlich gleiche Ausdrücke ganz verschiedene Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen vermögen und nur deshalb einmal ‚wahr‘, ein anderes Mal ‚falsch‘ sein können, weil eben nicht die sprachlichen Gewänder, sondern die in ihnen ausgedrückten Bedeutungseinheiten (Propositionen) wahr oder falsch sind. Die Relativität betrifft nicht deren Wahrheit, sondern nur deren sprachliches Gewand bzw. deren Relation zu ihrem sprachlichen Ausdruck. Sodann ist es, erkennt man die Bedeutungseinheiten und nicht sprachliche Sätze als Wahrheitsträger an, ebenso evident, daß gänzlich verschiedene sprachliche Sätze wie ‚der Hund bellt‘ und ‘the dog is barking’ genau dieselbe Bedeutungseinheit zum Ausdruck bringen und Träger genau derselben Wahrheit sein können. Eine weitere These, die Tarski seinen Überlegungen voranstellt, verdient schon von einem rein methodologischen Standpunkt aus kritische Korrektur: Nämlich die These, daß das Schlußergebnis seiner Erwägungen hinsichtlich der Wahrheit in der Umgangssprache gänzlich negativ sei, ja daß in dieser weder eine Definition des Wahrheitsbegriffs noch ein konsequenter und mit den Gesetzen der Logik übereinstimmender Gebrauch des Wörtchens ‚wahr‘ möglich sei. Infolge dieser Annahme, die später Davidson und andere Nachfolger Tarskis zu überwinden suchten,450 möchte Tarski die Problematik des Wahrheitsbegriffs nur auf die nach wissenschaftlichen Methoden aufgebauten formalisierten Sprachen der 449 450
Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Vgl. Donald Davidson, “Radical Interpretation”, Dialectica, (1973); 27: 314-328. Vgl. ferner David Larson, “Tarski, Davidson, and Theories of Truth”, Dialectica, (1988); 42: 3-16. Vgl. auch James C. Klagge, “Convention T Regained”, Philosophical Studies, (1977); 32: 377-381.
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deduktiven Wissenschaften beschränken. Was für eine Reduktion des Wahrheitsproblems! Und wie schnell gelangt Tarski zu einer so gewaltigen Konsequenz, die die Wahrheitsproblematik sowohl in allen philosophischen Disziplinen (außer der formalisierten symbolischen Logik) inklusive seines eigenen Aufsatzes, der ja nicht in formalisierter Sprache dargelegt wird, als auch in zahlreichen anderen Wissenschaften als etwas abstempelt, das nicht der Analyse oder des widerspruchsfreien Gebrauches fähig sei? Soll damit behauptet werden, daß sämtliche inhaltliche Wahrheiten, die wohl auch die Wahrheit der inhaltlichen logischen Prinzipien, welche allen formalisierten Sprachen zugrunde liegen, einschließen, als bloße Leerformeln aufgegeben werden müssen? Nicht einmal auf alle formalisierten Sprachen ließe sich eine rigorose Anwendung der Wahrheit als Korrespondenz durchführen. Innerhalb der formalisierten Sprachen unterscheidet Tarski zunächst die ‚ärmeren‘, d.h. jene, die keine Unendlichkeiten zulassen. Nur für sie gelte Tarski’s Wahrheitstheorie bzw. lasse sich Wahrheit definieren; nicht für die reicheren, die Unendlichkeiten zulassen.451 Für diese gelte seine Wahrheitsdefinition nicht; für sie könnten wir also niemals eine korrekte Definition des Wahrheitsbegriffs ‚konstruieren‘, wie er sich ausdrückt.452 An diesem Vorgehen ist nicht nur dies auszusetzen, daß hier die weittragendsten Konsequenzen ohne hinreichende philosophische Begründung hingesetzt werden, sondern daß auch nicht genügend darauf reflektiert wird, daß die wissenschaftlich aufgebauten formalisierten Sprachen auf Aussagen der normalen Umgangssprache zurückgehen, in denen allein der Sinn der formalisierten Sprachen erklärt sowie die Gründe für ihre Einführung formuliert werden können, und in denen damit die Wurzel der formalisierten Sprachen liegt. Soll also in dieser Sprache, ohne die und ohne deren Wahrheit die formalisierten Sprachen überhaupt nicht denkbar wären, der Wahrheitsbegriff keine Rolle spielen oder keiner Aufklärung 451
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Vgl. dazu David DeVidi, Graham Solomon, “Tarski on ‚Essentially Richer’ Metalanguages”, Journal of Philosophical Logic, (1999); 28 (1): 1-28. Vgl. auch Elke Brendel, in: Georg Meggle, (Hrsg.) „Was können wir über das Wissen wissen? Erkenntnistheoretisches aus semantischer Perspektive“ in: Analyomen 2, Vol. I: Logic, Epistemology, Philosophy of Science (Hawthorne: de Gruyter, 1997). Tarski, a.a.O., S. 266.
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fähig sein? Schon durch ein bloßes Aufwerfen dieser Frage hätte Tarski einsehen können, wie wenig begründet seine diesbezüglichen Äußerungen waren und daß sich seine Position selbst widerspricht. Denn der Sinn und die Wahrheit seiner eigenen Darlegungen setzt notwendig voraus, daß deren Wahrheit ein klar gegebenes und der Aufklärung fähiges Wesen besitzt, das es erlaubt auch in der Objektsprache und Umgangssprache L ausgedrückte Urteile, ja jedes Urteil überhaupt, als wahr oder falsch zu erkennen. Wir wollen uns also im Folgenden von solchen Voreiligkeiten und methodologisch-reduktionistischen und dogmatischen Voraussetzungen freihalten und das Problem, ob Tarskis Wahrheitsdefinition haltbar ist, mit den Sachen selbst konfrontieren. 1.2. Die ‚semantische Wahrheitsdefinition‘ Tarskis in ihrem ersten Sinn: als rein additiv-repetitive Fassung der klassischen Adäquationstheorie und ihre Kritik
Tarski geht von der Meinung aus, daß von allen bisher gegebenen Formulierungen der Korrespondenz- bzw. Adäquationstheorie der Wahrheit die semantische Definition die natürlichste sei: „Eine wahre Aussage ist eine Aussage, welche besagt, daß die Sachen sich so und so verhalten, und die Sachen verhalten sich eben so und so.“ (268) Während ich dies den additiv-repetitiven Charakter seiner Wahrheitstheorie nennen möchte, reden manche andere Autoren vom enumerativen Charakter der Tarski’schen Wahrheitstheorie453 und üben daran Kritik. Von dort gelangt Tarski zu seinem berühmten allgemeinen Wahrheitsschema: „X ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn P“ (268), wobei X der Name für irgendeine Aussage ist und P eben diese Aussage (sic!) sein soll. Als Beispiel, das diese leere Formel inhaltlich füllt, bringt Tarski im selben Aufsatz das berühmte Beispiel „‚es schneit‘ ist dann und nur dann wahr, wenn es schneit.“ (269) 453
Vgl. Bo Mou, “The Enumerative Character of Tarski’s Definition of Truth and Its General Character in a Tarskian System”, Synthèse, (2001) January; 126 (1-2): 91121. Vgl. auch Jaakko Hintikka, “Theories of Truth and Learnable Languages” in: S. Kanger, (Ed), Philosophy and Grammar, (Boston: Reidel, 1981), S. 37-58.
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Abgesehen von der radikalen Unklarheit des ‚Anführungsnamens‘, womit er nämlich „jeden Namen einer Aussage (oder eines beliebigen anderen sogar sinnlosen Ausdrucks)“ (268) bezeichnet haben will, wobei selbstverständlich sinnlose Namen oder vor allem nur aus sinnlosen Begriffskombinationen bestehende Gedanken454 unmöglich wahr sein, ja nicht einmal Wahrheitsansprüche erheben können, fragt es sich, was Tarski damit meint, wenn er die erwähnte Definition der Wahrheit als semantisch bezeichnet. Meint er damit, daß die Bedeutung der Worte in Rechnung gesetzt werden soll? Daß er die Sprache also hinsichtlich ihrer Bedeutung betrachte und nicht einfach hinsichtlich ihres syntaktischen oder strukturellen Aufbaus? Legt er also die erste, oben erörterte Bedeutung von ‚semantisch‘ zugrunde, wenn er etwa ‚es schneit‘ als semantischen Ausdruck faßt und den dritten und vierten, wenn er diesem Ausdruck das Prädikat ‚wahr‘ zuweist? Selbst wenn er ‚semantisch‘ in dem Sinn von Begriffen von sprachlichen Ausdrücken oder von ihren Bedeutungen oder sonstigen Eigenschaften (wie etwa Wahrheit) meint, was seine Theorie ganz nahe an die klassische Adäquationstheorie der Wahrheit heranrückt, so ist es keineswegs klar, warum die gegebene Wahrheitsdefinition ‚semantisch‘ sein soll. Denn wenn auch in ihr zweifellos die Bedeutungsfunktion der Sprache berücksichtigt wird, so liegt darin nicht das Entscheidende der Wahrheitsproblematik noch das hauptsächliche bestimmende Merkmal in Tarski’s eigener Wahrheitsdefinition. Denn er bezieht sich auf ein Selbstverhalten der Sachen, also auf Tatsachen oder ontologische Sachverhalte, die sich zweifellos außerhalb der Sprache und ihrer semantischen Bedeutungen bzw. Funktionen befinden. Es handelt sich also auch bei Tarski im Grunde um den Versuch, das zu definieren, was die Wahrheit in ihrem objektiven logischen Sinne ist und nicht nur darum, einen ‚rein semantischen Wahrheitsbegriff‘ zu entwickeln. Es geht ja sichtlich bei dieser Wahrheitsdefinition nicht um Bedeutungen als solche, und erst recht nicht um eine immanent-linguistische Wahrheitsdefinition, sondern um das Verhältnis zwischen der Bedeutungseinheit des Urteils
454
Zur Idee einer rein logischen Grammatik vgl. neben Edmund Husserl, Logische Untersuchungen II, I, 2, auch Josef Seifert, Wahrheit und Person..
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bzw. des objektiven im Satz ausgedrückten Gedankens zu dem Selbstverhalten der Sachen.455 Dabei ist allerdings selbst gegen diese Version der Korrespondenztheorie der Wahrheit (die ihm als plausibelste und natürlichste Definition der Wahrheit erscheint) in ihrer Tarski’schen Formulierung vorzubringen, daß sie eigentlich nicht zum Ausdruck zu bringen versucht, worin die Wahrheit einer Aussage besteht, diese also in keinem Sinn dieses Wortes definiert,456 sondern vielmehr eine additive Wahrheitsdefinition genannt werden kann, indem sie einfach nach einem ‚und‘ einen Sachverhalt (den er nicht von der Aussage selber unterscheidet) setzt „und die Sachen verhalten sich eben so und so“ und betont, daß sowohl dieses Selbstverhalten der Sachen als auch eine Aussage besteht, welche besagt, daß die Sachen „sich so und so verhalten“; und daß ferner diese Aussage nur dann wahr sei, wenn diese Addition einer Aussage und des entsprechenden Verhaltens der Sachen bestehe. Damit wird jedoch weder erklärt (sondern vielmehr vorausgesetzt), worin die Wahrheit der Aussage besteht, noch wird die hier offenbar als notwendig und hinreichend gemeinte Bedingung der Wahrheit im Selbstverhalten der Sachen von anderen notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Wahrheit unterschieden, durch die man die Wahrheit zu definieren versuchen könnte und die gleichfalls eine Äquivalenz mit der Wahrheit von Aussagen ergäben, aber offensichtlich von der Wahrheit selbst völlig verschieden wären. In diesem Zusammenhang könnten wir etwa Brentanos Versuch anführen, die Wahrheit von Sätzen dadurch zu definieren, daß sie solche Sätze bzw. Urteile seien, mit denen ein mit Evidenz urteilendes Subjekt einverstanden wäre, bzw. denen ein allwissendes Subjekt seine Zustimmung gäbe. Damit formuliert Brentano zweifellos eine notwendige und hinreichende Bedingung, aus der die Wahrheit eines Urteils entnommen werden kann, keinesfalls jedoch deren Wesen, wie wir früher gezeigt haben. Tarski zeigt also nicht, wie dies etwa Alexander Pfänder tut, 455
456
Vgl. etwa den bereits zitierten Satz Tarskis: „Eine wahre Aussage ist eine Aussage, welche besagt, daß die Sachen sich so und so verhalten, und die Sachen verhalten sich eben so und so.“ (a.a.O., S. 268). Darauf weisen eine Reihe anderer Autoren kritisch hin. Die Möglichkeiten einer Definition der Wahrheit müßten eigens untersucht werden.
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worin denn tatsächlich die Wahrheit einer Aussage bestehe, sondern begnügt sich damit, diese einfach durch eine nicht weiter erklärte und offensichtlich für hinreichend und notwendig gehaltene Bedingung aufzuklären. Zu sagen, es schneie, sei eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn es tatsächlich schneit, kommt zwar an die Idee der Wahrheit im Sinne der Adäquation heran, und ist deshalb auch durchaus zu begrüßen, aber eine solche Formulierung erklärt nichts von dem, was Wahrheit ist, bzw. worin Wahrheit besteht. Z.B. könnte man genauso gut sagen: „Der Sachverhalt, ‚es schneit‘ besteht nur dann, wenn es schneit.“ Auch dieser Satz wäre notwendig wahr. Jedoch bezieht er sich nicht auf die Wahrheit, sondern auf eine Bedingung bzw. Implikation des Bestehens eines Sachverhalts. Der Satz wiederholt nur denselben Sachverhalt, dessen Bestehen und dessen Bedingung seines Bestehens zuerst geurteilt wurden. Eine additiv-repetitive Wahrheitstheorie leistet deshalb der von Ramsey und Ayer vertretenen Redundanztheorie der Wahrheit und ähnlichen Wahrheitstheorien wie der Revisionstheorie der Wahrheit Vorschub, weil Tarski die Wahrheit in einer Weise definiert, die sie im Verhältnis zum einfachen Feststellen des Sachverhalts redundant und überflüssig erscheinen läßt.457 457
Vgl. dazu Puntel, S. 70 ff. Vgl. auch Anil Gupta und Nuel Belnap, The Revision Theory of Truth (Cambridge, MA: MIT Press, 1993). Gupta und Belnap beziehen sich ausdrücklich und vollständig auf Tarskis semantische Wahrheitsdefinition und sein Beispiel vom „Schnee“ (vgl.a.a.O., S. 3 ff.). Obwohl sie behaupten (S. 28 ff.), daß sie „disquotationalism“ und „deflationalism“ im Verhältnis zur Wahrheit ablehnen, gelangen sie zu einer ähnlichen Auffassung des „Intensionalismus“, dem zufolge die Satzpaare „Schnee ist weiß“ und „es ist wahr, daß Schnee weiß ist“, „intensional äquivalent“ seien. (A.a.O., S. 28). So ist es schwer, ihre Revisionstheorie der Wahrheit klar von der Redundance-Theory of Truth und von einer deflationären Wahrheitstheorie zu unterscheiden. Auch was die Resententialtheorie der Wahrheit, die von manchen Autoren als Alternative und Korrektur der Redundanztheorie vorgeschlagen wird, sein soll, bleibt verworren. Vgl. Winfried Franzen, „Zur neueren Wahrheitsdiskussion. Redundanztheorie versus Korrespondenztheorie der Wahrheit“, Zeitschrift für philosophische Forschung (Jänner-März 1981), 35, 73-89; ders., Zur Redundanztheorie der Wahrheit: Ein historischer und systematischer Überblick“, Conceptus, Erster Teil 12 (1978), 54-69; Zweiter Teil 13 (1979), 47-62.
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Schon aus der Möglichkeit, Brentanos definiens der Wahrheit, nämlich die Übereinstimmung eines Urteils mit dem Urteil eines mit Evidenz Urteilenden, anstatt des „und es schneit“ in der Äußerung Tarskis einzusetzen: „‚es schneit‘ ist dann und nur dann eine wahre Aussage, wenn [es schneit] diese Aussage mit dem Urteil eines mit Evidenz Urteilenden übereinstimmt“, was eine gleichermaßen wahre Aussage ist wie: „es schneit [ist nur] dann und nur dann [wahr], wenn es schneit“, zeigt, daß Tarski den eigentlichen Sinn und das eigentliche Wesen dessen, was Wahrheit ist, mit seinen rein additiven Formulierungen nicht trifft.458 Die Definition Tarskis, so können wir sagen, beschreibt nur bestimmte Gruppen von wahren Aussagen oder die Umstände, unter denen Sätze wahr sind, nicht aber worin tatsächlich ihre Wahrheit besteht. Sie sieht gleichermaßen völlig von der Frage ab, ob Sätze oder Begriffe, oder ob komplexe begriffliche Gebilde wie Urteile Träger der Wahrheit sind und daher wahr sein können. In diesem Punkte schließen wir uns der Kritik an, die Puntel, Black und Tugendhat vorbringen.459 1.3. Tarskis rein immanent-linguistischen Wahrheitsdefinitionen bzw. die nichtsemantische strukturelle Wahrheitstheorie Tarskis und ihre Kritik
In einer ganz anderen Richtung, nämlich der der fünften oben unterschiedenen Bedeutung von ‚semantisch‘ bzw. des Übergangs von Tarskis semantischer zu einer nicht-semantischen Wahrheitstheorie, entwickelt Tarski seine Wahrheitstheorie, wenn er die sogenannten strukturell-deskriptiven „Namen“ einführt, um das Wesen der Wahrheit mit ihrer Hilfe zu bestimmen. ‚Strukturell-deskriptiv‘ möchte er solche
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Black hat eine ähnliche Kritik vorgebracht. Nach seiner Meinung hat Tarski eine Definition vorgelegt, die den Philosophen keineswegs befriedigen kann, indem sie keinerlei allgemeine Definition oder Bestimmung des Wesens der Wahrheit beinhalte, sondern nur eine Gruppe von Sätzen identifiziert, die wahr seien. Vgl. M. Black, “The Semantic Definition of Truth”, Analysis (8/1948), 49-63. Vgl. dazu auch Puntel, a.a.O. S. 65. Vgl. Puntel, a.a.O. S. 47-69.
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Namen nennen, von denen sich aus dem Zusammenhang ergibt, daß sie nach Tarskis Meinung drei Funktionen erfüllen sollen460: (1) Einmal sollen sie eigentlich nicht bloße Namen, sondern Aussagen oder zumindest zusammengesetzte Begriffe sein, die angeben, aus welchen Buchstaben, Konsonanten oder Vokalen einzelne Worte bestehen. Tarski selbst bringt das Beispiel461 „so entspricht z.B. dem Namen ‚Schnee‘ der Name: ‚ein Wort, das aus den sechs aufeinanderfolgenden Buchstaben: ES, C, HA, EN, E, E besteht‘“.462 (2) Zweitens sagt Tarski in anderem Zusammenhang, sie sollen ‚Namen sein, die beschreiben‘, d.h. Aussagen oder zusammengesetzte Begriffe, welche die Ordnung der Aufeinanderfolge von Worten beschreiben. Tarski kommt in Hinsicht auf diese Art von ‚beschreibenden Aussagenamen‘ manchmal zu einer rein immanent linguistischen Wahrheitsdefinition, die nur noch die Satzstrukturen und Aussagenamen in diesem Sinne bzw. die Aussageformen betrachtet und von ihnen Wahrheit aussagt, etwa wenn er sagt: „Eine Aussage ist wahr, wenn das erste Wort in ihr ‚wenn‘, das dritte ‚dann‘, und das zweite und vierte Wort identisch sind.“ Ein solcher deskriptiver Name gibt die formal-linguistische Struktur eines Satzes und das Vorkommen zweier inhaltlich bestimmter Worte und einer Variablen in ihm an. Dabei wird – durch die Beschränkung Tarskis auf formalisierte Sprachen – zunächst von der erwähnten Vieldeutigkeit der normalen Sprache abgesehen, in der einerseits jedes Wort verschiedene Bedeutungen haben und deshalb derselbe Satz in einer Sprache (bzw. in einem Wortverständnis) wahr, in einer anderen nicht wahr sein kann, und in der andererseits ganz verschiedene sprachliche Ausdrücke dieselbe Wahrheit ausdrücken können. So drückt etwa der Ausdruck ‚der Hund bellt‘ denselben Gedanken wie ‘the dog is barking’ aus, einen Gedanken, der gerade dann wahr ist, wenn der gemeinte Hund bellt bzw. weil der hier behauptete Sachverhalt tatsächlich besteht. Schon aus diesem doppelten Grund der Möglichkeit, denselben Gedanken in verschiedenem sprachlichen Gewand, und in derselben sprachlichen Formulierung ganz verschiedene Gedanken, auszudrücken, ist 460 461 462
Tarski, a.a.O., S. 269 f. Ebd., S. 270. Ebd., S. 270.
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eine rein linguistisch-strukturelle Wahrheitsdefinition für die normale oder natürliche Sprache (Umgangssprache) unmöglich.463 Denn derselbe Gedanke kann in vielen sprachlichen Ausdrücken und in vielen Sprachen ausgedrückt werden und derselbe sprachliche Ausdruck kann ganz verschiedene Gedanken ausdrücken, von denen einige wahr, andere falsch sein können. Ja dieselben Behauptungssätze können nicht nur verschiedene Urteile, sondern auch das ausdrücken, was Roman Ingarden Quasi-Urteile nennt, nämlich in Behauptungssätzen ausgedrückte Gedanken in Romanen und anderen literarischen Werken, die keine Behauptungen darstellen, die wahr oder falsch sein können, sondern andersartige Gedanken, die gleichsam Nachahmungen von Urteilen sind und auftreten als ob sie Urteile wären, aber nur die Funktion haben, die Welt der literarischen Kunstwerke aufbauen.464 Auf Grund der vielfältigen Bedeutungen fast aller Worte der Umgangssprache ist es unmöglich, eine rein immanente semantischstrukturelle Wahrheitsdefinition oder Bestimmung der Wahrheit irgendeines Satzes der normalen Sprache zu geben. Es ist deshalb – im Kontext der rein linguistischen (und im dritten Sinn dieses Ausdrucks ‚semantischen‘) Wahrheitsdefinition – bei Tarski nur die Rede von der formalisierten Sprache, innerhalb derer jedes Wort oder Symbol hinreichend präzise definiert ist. Denn innerhalb der normalen Sprache ließe sich die erwähnte Vieldeutigkeit nicht vermeiden und deshalb kein immanent sprachliches Kriterium angeben, das zeigen könnte, daß eine präzise bestimmte sprachliche Aussage ein wahres Urteil ausdrückt bzw. wahr ist. 463
464
Ich halte mit anderen Autoren den von Tarski verwendeten Ausdruck ‚Umgangssprache‘ hier für weniger glücklich, weil er mehr den Gegensatz zur Hochsprache als den zu einer formalisierten und durchdefinierten Sprache, in welcher die beiden erwähnten Eigenschaften der normalen Sprache wegfallen, zum Ausdruck bringt und eher das heißt, was die englische Sprache ‚slang‘ nennt. Damit verdeckt der Ausdruck aber, was Tarski beabsichtigt: nämlich von allen nicht formalisierten Sprachen zu reden. Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk.. Vgl. auch Josef Seifert, “Ingarden’s Theory of the Quasi-Judgment. An exposition of Its Logical Aspects and a Critical Evaluation of Its Value in the Context of Understanding the Literary Work of Art”, in: Roman Ingarden a filozofia noszego czasu.
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Nur in formalisierten Sprachen kann man gewissermaßen rein linguistische Beschreibungen von Sätzen zu einer scheinbar hinreichenden Grundlage dafür machen, ihnen das Prädikat wahr zuzuweisen. Nur hier kann man daher überhaupt sinnvollerweise jene Tarskische Wende zu einem immanent linguistischem Wahrheitsbegriff, der sich ganz von dem Sinn von Wahrheit und sogar von den eigentlichen Bedingungen für Wahrheit loslöst, vollziehen. In Wirklichkeit liegt es auch hier – genau wie in der Umgangssprache – nicht an der linguistischen und im fünften Sinne strukturellen Form der Aussagesätze, sondern an den in ihnen (ohne Doppeldeutigkeiten oder Äquivokationen) ausgedrückten Gedanken und an deren Beziehung zum ihnen je entsprechenden Sachverhalt, daß sie wahr oder falsch sind. Also gibt es keine wirklich rein semantische noch eine strukturell-formale Wahrheitsdefinition. Das erkennt Tarski in gewisser Hinsicht dort an, wo er semantische Beschreibungen der Aussagenamen mit seiner oben erwähnten additiven Formulierung der Korrespondenztheorie der Wahrheitstheorie verbindet und damit den Sachverhalt als trans-semantischen Faktor einführt.465 Auf diese Weise gelangt er zu seiner für philosophische Zwecke wahrhaftig unnötig komplizierten Definition bzw. Angabe der Bedingungen der Wahrheit konkreter Sätze, die aber im wesentlichen wieder zu einer ähnlichen Neufassung der Korrespondenztheorie der Wahrheit führt, wie sie oben als ‚additive‘ Wahrheitstheorie erörtert und für unsere Zwecke hinreichend kritisiert wurde. So schreibt Tarski: ein Ausdruck, der aus zwei Worten gebildet ist, von denen das erste aus den zwei aufeinanderfolgenden Buchstaben: E, ES, das zweite aus den sieben aufeinanderfolgenden Buchstaben: ES, CE, HA, EN, EI, TE, ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn es schneit.466
In Wirklichkeit handelt es sich hier um zwei ganz verschiedene Gesetze über Sätze:
465
466
Hier werden von ihm die Sachverhalte als ‘truth-makers’ begriffen. Vgl. Peter Simon/Barry Smith/Kevin Mulligan, “Truth-Makers,” pp. 287-322. Tarski, ebd., S. 270.
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(1) Das erste Gesetz besagt, daß jede Aussage wahr sei, die aus vier Teilen bestehe: nämlich aus (a) dem Wort wenn, (b) einer Aussage X, (c) dem Wort dann, (d) derselben Aussage wie b: X. Dieses Gesetz sieht ganz davon ab, daß hier erstens vorausgesetzt wird, daß es sich jeweils um dieselben Bedeutungen der Worte handelt, daß zweitens dieses Gesetz viele andere Voraussetzungen hat und außerdem nicht absolut gilt, und daß drittens ein solches oder ähnliches ‚Gesetz‘ keineswegs die Frage beantwortet, worin die Wahrheit solcher Gesetze besteht und worin sie gründet. Es ist aus Tarskis eigener Bemerkung, daß dieselbe linguistische Einheit in einer Sprache ein wahres Urteil, in einer anderen ein falsches ausdrücken und in einer dritten eine sinnlose Aneinanderreihung von Lauten sein kann, klar, daß dieses Gesetz nicht von den Sätzen im Sinne linguistischer Einheiten als solchen gilt, sondern nur von ihren jeweiligen Bedeutungen und ganz bestimmten Bedeutungen der Begriffe, die die Aussage X ausmachen. Zweitens ist die Wahrheit dieses Gesetzes dadurch bedingt, daß es sich nicht um in sich widersprüchliche und unmögliche Aussagen handelt, die gar keinen Bezug zur Wirklichkeit bzw. zu tatsächlich bestehenden Sachverhalten haben können. Drittens beantwortet dieses Gesetz gar nicht die Frage, worin diese Wahrheit besteht bzw. worin sie gründet. Es würde sich zeigen, daß diese Wahrheit ähnliche Grundlagen hat wie die notwendige Wahrheit analytischer und anderer nicht-informativer Sätze, wie sie Fritz Wenisch und andere Philosophen eingehend untersucht haben.467 (2) Tarski formuliert im zitierten Satz auch ein zweites Gesetz, das nicht von Aussagen als solchen spricht, sondern von einer Aussage einer bestimmten Struktur mit „wenn“ und „dann“, die zugleich zwei identische (gleichlautende) Aussagen in sich enthält, von denen die erste im „wennSatz“ als wahr behauptet wird. Daraus folgt logisch die Wahrheit der Aussage als ganzer, wie Tarski sie charakterisiert. Auch hier führt Tarski den Grund für die Wahrheit dieser Aussage nicht an; noch viel weniger erklärt er ihre Wahrheit.
467
Vgl. Fritz Wenisch, “Insight and Objective Necessity – A Demonstration of the Existence of Propositions Which Are Simultaneously Informative and Necessarily True?”, Aletheia 4 (1988), S. 107-197.
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Diese Wahrheit gründet objektiv eben darin, daß die Wahrheit einer genau (auch zeitlich und hinsichtlich aller Umstände) bestimmten Aussage notwendig die Wahrheit jeder genau gleichen Aussage (Proposition) impliziert. Deshalb ist es auch wahr, daß wenn X (eine bestimmte Aussage) wahr ist, dann auch X (dieselbe bestimmte Aussage) wahr ist. Deshalb ist auch die allgemeine Aussage, die den von Tarski gemeinten logischen, aber von ihm unzureichend und rein linguistisch beschriebenen Charakter hat und von allen wahren Aussagen X, die mit wahren Aussagen X identisch sind, Wahrheit aussagt, ebenfalls wahr. All diese nichtinformativen Aussagen (wenn es wahr ist, daß es schneit, ist es wahr, daß es schneit, etc.) sind, allerdings nur unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß es sich bei ‚X‘ um eine sinnvolle (im Gegensatz zu ‚gibberisch‘) und nicht-widersprüchliche Aussage handelt, notwendig wahr und stimmen notwendig mit Sachverhalten überein – auf Grund ihrer Struktur einerseits und aufgrund der Wahrheit des Identitäts- und Widerspruchsprinzips, andererseits. Wiederum zeigt sich, wie negativ es sich philosophisch auswirkt, wenn Bedingungen der Wahrheit, wie z.B. die strukturelle analytischtautologische Natur eines Satzes, mit einer Beschreibung der Natur der Wahrheit verwechselt werden. Denn solche ‚Sätze‘ sind genauso wie alle anderen Urteile eben nur deshalb wahr, weil die in ihnen gesetzten Sachverhalte notwendig bestehen – was in ihrem Fall durch ihre strukturelle Natur (als Urteile, nicht als Sätze) gewährleistet ist.468 Alexander Pfänder hat in seiner Logik469 gerade diesen Punkt geklärt und die hier liegenden Sachverhalte einer ungleich genaueren philosophischen Klärung unterzogen als Tarski. So formuliert Tarski das Gesetz: jeder Ausdruck, der aus vier Teilen besteht, von denen den ersten das Wort „wenn“, den dritten das Wort „so“, den zweiten und den vierten dieselbe Aussage bildet, ist eine wahre Aussage;
468
469
Wie wir gleich sehen werden, gilt dies nicht absolut, da auch analytische Urteile noch weitere Wahrheitsbedingungen außer ihrer Form haben: z.B. die nichtwidersprüchliche Natur des Subjektsbegriffs und des Verhältnisses zwischen Subjekt und Prädikat. Pfänder, Logik, S. 31 ff.; 69 ff.
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Dieses Gesetz über Sätze sieht ganz davon ab, daß hier erstens vorausgesetzt wird, daß es sich jeweils um dieselben Bedeutungen der Worte handelt und nicht um verschiedene Bedeutungen, die nur in denselben sprachlichen Ausdrücken gemeint werden, was Tarski ja zugibt, indem er sein Gesetz nur für formale Sprachen mit präzise definierten Symbolen behauptet; und daß zweitens ein solches ‚Gesetz‘ keineswegs die Frage beantwortet, worin die Wahrheit solcher analytischer Aussagen besteht. Diese Wahrheit besteht eben darin, daß solche Aussagen, die den von Tarski gemeinten logischen, aber von ihm unzureichend und rein linguistisch beschriebenen konditional-analytischen Charakter haben, unter den oben genannten Voraussetzungen notwendig mit Sachverhalten übereinstimmen – auf Grund ihrer Struktur einerseits und aufgrund des Identitäts- und Widerspruchsprinzips andererseits. Drittens wird von Tarski‘s angeblichem ‚Gesetz‘ übersehen, daß solche von ihm beschriebenen Sätze und auch die in diesen ausgedrückten Urteile keineswegs notwendig wahr sind, was anzunehmen allerdings zu Antinomien führen würde, auch in den formalisierten Sprachen, sondern daß sie vielmehr ausschließlich dann wahr sind, wenn die betreffenden Sachverhalte, die den „gleichen Aussagen“ (welche den zweiten und vierten Teil dieser Gesamtaussagen bilden) entsprechen, selbst möglich sind und keinen notwendigen Sachverhalten widersprechen, und wenn sie insbesondere nicht in sich selber widersprüchlich sind oder widersprüchliche Begriffe enthalten, wie etwa der Satz „wenn jemand, der immer lügt, die Wahrheit sagt, so sagt jemand, der immer lügt, die Wahrheit“. In dieser Variante des Lügner-Paradoxes, wenn sie in Tarskis Form angeblich immer wahrer Sätze gegossen wird, ist die Gesamtaussage keineswegs wahr, weil die beiden Aussageteile (der zweite und vierte Teil) gar nicht wahr sein können und im Sinne einer logischen Paradoxie gerade dann falsch wären, wenn sie wahr wären. Denn auch die notwendige Wahrheit analytischer oder hypothetischer Urteile der angegebenen Sorte ist nicht unabhängig von bestimmten ontologischen Voraussetzungen wie der Möglichkeit (Nichtwidersprüchlichkeit) der von solchen analytischen Urteilen gesetzten Sachverhalte und der in ihnen enthaltenen Begriffe. So sind die analytischen Sätze ‚Alle existierenden viereckigen Kreise existieren‘ oder ‚alle viereckigen Kreise sind viereckig‘ falsch, weil die in solchen Urteilen entworfenen Sachverhalte unmöglich sind und die
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entsprechenden Gegenstände gar nicht existieren können, so wie Kreise nicht viereckig sein können und außerdem keine Kreise wären, wenn sie viereckig wären. An allen diesen philosophischen Problemen geht Tarski vorbei, wenn er von einer ‚strukturellen Wahrheitsdefinition‘ spricht, die im Grunde überhaupt keine Wahrheitsdefinition ist, sondern nur die Angabe der sprachlichen Form, in der normalerweise wahre analytische oder andere nicht-informative hypothetische Urteile ausgedrückt werden.470 1.4. Die philosophischen Mängel der semantischen und der nicht-semantisch strukturellen Neufassung der Adäquationstheorie durch Tarski
Auch die langen Ausführungen Tarskis darüber, wie man vom Beispiel „es schneit“ und von den Umständen, unter denen diese Aussage wahr ist, aus über eine Aussagenvariable zu einer allgemeinen Wahrheitstheorie kommen könne (272), zeichnen sich mehr durch unnötige Komplikationen als durch philosophische Klärung des Sinnes von Wahrheit aus. Es zeigt sich im Verlauf seiner Untersuchungen immer deutlicher,471 daß Tarski nicht zu einer philosophischen Untersuchung der Natur der Wahrheit vordringt und insbesondere nicht nach deren Wesen und Träger fragt. Offenbar hält er Worte oder auch strukturell-deskriptive Namen für die Träger von Wahrheit, was offensichtlich nicht stimmt, da dieselben Bedeutungen in zahllosen verschiedenen Sprachen und Namen ausgedrückt werden können und – ebenso evidenterweise – niemals sprachliche Sätze, sondern nur die in ihnen ausgedrückten komplexen Bedeutungseinheiten (die Urteile) wahr sein können. Auch unterscheidet Tarski nicht zwischen der Angabe strukturell-deskriptiver Namen bzw. Aussagen, die (als analytische oder andere nicht-informative Urteile) wahr sein müssen, und einer Definition der Wahrheit. Angesichts dieser philosophischen Unklarheiten ist es schwer zu verstehen, wie Tarskis Auffassung der Wahrheit zu solchem Ruhm gelangte. Denn weder die logischen Gesetze und Träger, noch das Wesen der Wahrheit werden von ihm einer Klärung 470 471
Tarski, a.a.O., S. 277 f. Vgl. vor allem ebd., S. 273 f.
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auch nur nähergebracht, geschweige denn daß er eine solche Klärung leisten würde. Aufgrund seiner Erwägungen gelangt Alfred Tarski zur Feststellung, „daß der Versuch, eine korrekte semantische Definition des Ausdrucks ‚Wahrheit‘ aufzubauen, auf wesentliche Schwierigkeiten stößt.“ (276). Damit meint er im Grunde, daß sich für die Wahrheit umgangssprachlicher Ausdrücke keine präzise Definition finden oder Wesensanalyse geben läßt. Eine solche Schlußfolgerung ist in keiner Weise durch seine vorhergehenden Untersuchungen, die, wie erwähnt, die eigentlichen philosophischen Fragen unberührt lassen, gerechtfertigt. Aufgrund seiner höchst unvollständigen philosophischer Ausführungen zu behaupten, daß alle bisherigen Versuche gescheitert seien, die Wahrheit von Urteilen, die in der Umgangssprache ausgedrückt werden, in ihrem Wesen zu bestimmen, kann nicht philosophisch ernstgenommen und erst recht nicht für ein korrektes oder gar abschließendes Urteil in dieser Frage angesehen werden. Sollen die philosophisch äußerst unbefriedigenden und an Differenzierung mangelnden Ausführungen Tarskis eine solche weitreichende Folgerung, die zu einer Neuformulierung der ganzen Erkenntnistheorie und Logik führt, rechtfertigen? Viele andere mögliche Erklärungen des Wesens der Wahrheit als Übereinstimmung – außer den wenigen, die Tarski vorgebracht hat – werden hier außer acht gelassen und dann wird aufgrund der unzureichenden Zurückweisung einiger weniger und sehr unvollkommener Wahrheitsdefinitionen, die Tarski anführt, behauptet, alle entsprechenden Versuche seien gescheitert (278). Die Logik dieser Folgerung ist wohl nicht besser als: nicht A; nicht B; ergo nicht C, D, E, F, G....
1.5. Weitere Kritik von Tarskis nicht-semantischer und rein linguistischstruktureller (syntaktischer) Wahrheitstheorie der formalisierten Sprachen
Wenn nun Tarski in § 2 seines Aufsatzes dazu übergeht, den Wahrheitsbegriff nur noch für die formalisierten Sprachen, und zwar auch dort nur für die ärmeren, zu rechtfertigen, müssen wir an seinem Vorgehen zunächst aussetzen, daß er den Sinn dessen, was er unter formalisierter
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Sprache und formalisierter deduktiver Wissenschaft meint, keineswegs zureichend erklärt. Zu behaupten, daß in solchen Sprachen „der Sinn eines Ausdrucks durch eine [Wort-]Gestalt eindeutig bestimmt sei“ (280), ist schlechthin falsch. Der Sinn eines Ausdrucks ist nämlich wesenhaft niemals durch seine Gestalt eindeutig bestimmt. Der Sinn kann ganz allgemein gesprochen einem sprachlichen Ausdruck oder Symbol nur durch bedeutungsverleihende Akte gegeben werden, nicht durch eine Beschreibung seiner Gestalt. Nicht durch irgendeine physische oder hörbare Gestaltqualitäten, sondern nur durch das Denken in der Form bedeutungsverleihender Akte kann also auch in den formalisierten Sprachen einem sprachlichen Ausdruck seine Bedeutung zugewiesen werden. Ganz anders verhielte es sich freilich, wenn unter dem ‚Sinn‘ eines Ausdrucks einfach nur Formen bzw. Erklärungen eines Symbols durch andere gemeint wären. Dann hätte man aber nicht nur eine rein formalisierte, sondern eine von jeder Bedeutung der verwendeten Symbole absehende Sprache, von denen jedoch Tarski selber sagt, daß er formale Wissenschaften von Sprachen ohne Bedeutung nicht berücksichtige (280). 1.6. Tarski über wahre und beweisbare Sätze und seine Annäherung an den Begriff der Wahrheit als Adäquation mithilfe seines Begriffs des ‚Erfülltseins‘ und Bedenken gegen diesen Ersatz der Idee der Korrespondenz
Indem Tarski auf das Hauptproblem seines Aufsatzes, nämlich die Definition der Wahrheit, zurückkommt, verwirft er zu Recht die Identifizierung eines wahren mit einem beweisbaren Satz (303). Zwar kann er durch seinen früher dargelegten Begriff der Beweise (304) die an sich berechtigte Äußerung nicht begründen, alle beweisbaren Aussagen seien wahr, wohl aber betont er mit Recht, daß nicht alle wahren Aussagen beweisbar sind (304). Anschließend an diese trefflichen Ausführungen macht Tarski jedoch Äußerungen, die am Wesen der Wahrheit vorbeizugehen scheinen (305 ff.). Am ehesten kommt er diesem noch nahe, wenn er den Begriff des Erfülltseins an die Stelle des traditionellen Begriffs der Übereinstimmung
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setzt (307 ff.). Was aber soll an diesem Begriff gegenüber jenem der Übereinstimmung mit den Sachverhalten klarer oder deutlicher sein, was soll durch ihn gewonnen werden? Schon daraus, daß Tarski den Fall im Auge hat, in dem eine gegebene Aussagefunktion nur eine freie Variable enthält und von jedem einzelnen Gegenstand, für den die Gleichung gilt, sinnvoll behauptet werden kann, daß er die gegebene Funktion erfülle (308), zeigt sich, daß das Erfülltsein in Tarskis Sinn in diesem Zusammenhang nicht Wahrheit zu definieren vermag. Denn Wahrheit ist erstens von der Anwendbarkeit der Gleichung oder eines Axioms auf einen einzelnen Fall verschieden. Zu sagen, daß die Lichtstrahlen unter die Postulate nichteuklidischer Geometrien fallen, daß es „zur Geraden gar keine oder unendlich viele Parallelen gibt“, oder daß für sie die Formel gelte Xy (wo y „gerade Linie“ bedeutet) = , ist keineswegs dasselbe wie zu sagen, „es ist wahr, daß es zu einer gegebenen Geraden (oder zu einem Lichtstrahl) unendliche viele (oder gar keine) Parallelen gibt“, oder zu sagen „die Ausdehnung einer geraden Linie ist unendlich“. Dasselbe gilt erst recht, wenn die Formel nicht mathematischer Natur ist, sondern sich etwa nur auf konventionell festgelegte Dinge, wie Spiele, bezieht. Die Anwendbarkeit einer Formel auf ein Endspiel eines Schachspiels bedeutet nicht, daß dieses Spiel oder die in ihm konventionell festgelegten Regeln „wahr“ sind. Wenn Erfüllung gar nur die Einsetzbarkeit eines Namens in eine Gleichung mit einer Variablen bedeutet, so hat dies offenbar nichts mit Wahrheit zu tun, bzw. unterscheidet sich radikal von der Übereinstimmung mit bestehenden Sachverhalten, die allein die Wahrheit eines Urteils zu begründen bzw. darzustellen vermag. Damit zeigt sich auch die Unklarheit des Ausdrucks und Begriffes des ‚Erfülltseins‘ und wie wenig dieser geeignet ist, den klassischen Adäquationsbegriff zu ersetzen. Auch aus einem weiteren Umstand geht hervor, daß der Begriff des Erfülltseins (334 ff.) ungleich unklarer als jener der Korrespondenz oder Adäquatio ist, obwohl auch diese der Klärung bedürfen. Das ‚Erfülltsein‘ gibt es ja auch im Falle von Spielen, die nichts mit Wahrheit und Übereinstimmung mit Sachverhalten zu tun haben, etwa bei Schachspielen, in denen einzelne Partien die Regeln und andere schachliche Gesetze oder Ratschläge eines Meisterspielers erfüllen.472 Erfüllen in dem weiten 472
Vgl. Seifert, Schachphilosophie, Kap. 2.
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Tarskischen Sinne hat also nichts mit Wahrheit zu tun und ist außerdem ein viel allgemeinerer Begriff, von dem das Erfülltsein einer Aussage durch den ihr entsprechenden Sachverhalt höchstens eine mögliche Form ist. Also kann unmöglich die Erklärung von Wahrheit durch den Begriff des Erfülltseins als Fortschritt in der Klärung des Wahrheitsbegriffes gelten. Das Einfache, zu klären, was die Wahrheit eines Urteils ist, wird von Tarski nicht vollbracht, sondern andere allgemeinere Dinge werden erklärt. Er selbst gibt zu, daß der Begriff des Erfülltseins durchaus mehrdeutig ist,473 bestimmt aber weder diese vielen Bedeutungen klar noch hält er sie de facto für getrennt. Dabei zeigen sich rasch die Folgen dieser Verwirrung für die Wahrheitstheorie (347 ff.). 1.7. Kritik der atomischen Theorie der Wahrheit von allgemeinsätzen
Noch an einem weiteren Punkt der Theorie Tarskis nehmen wir Anstoß, an seiner atomistischen Erklärung von Allgemeinurteilen. Wenn er etwa die Folge f von Individuen sowie die Folge F, deren Gliederklassen von endlichen Folgen von Individuen gebildet werden, gemeinsam eine gegebene Aussagefunktion „erfüllen läßt“ (356), dann löst er den Wahrheitsanspruch eines Universalurteils in den aller einzelnen Aussagen, die unter ihn fallen, auf. Ist dies jedoch haltbar? Spricht jedes Universalurteil, auch wenn es nicht die Form eines Allsatzes, sondern scheinbar die eines Singulärurteils annimmt, wie „der Mensch ist sterblich“ oder „die Gerade ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten“, wirklich nur von den konkreten einzelnen individuellen Fällen, auf die es hinweist? Hat es nicht selbst einen allgemeinen Sachverhalt zum Gegenstand? Ist daher nicht auch sein Wahrheitsanspruch ein einfacher und nicht einer, der sich in eine potentiell unendliche Vielfalt individueller Urteile auflösen oder auf diese reduzieren ließe, was vielleicht auf andere Universalurteile wie „jeder Mensch in diesem Haus besitzt einen Paß“ zutrifft? Jedes singuläre Urteil, indem es einen Namen oder ein Demonstrativpronomen verwenden muß, um einen individuellen Sachverhalt, und jedes Partikularurteil, das allgemeine Begriffe niedrigerer Ordnung, also spezifischerer Art, enthält, 473
Tarski, a.a.O., S. 346.
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ist niemals selbst in dem ihm übergeordneten Universalsatz in solcher Weise enthalten, daß seine Wahrheit einfach aus dem Universalurteil allein folgen würde oder daß dessen Wahrheitsanspruch sich in die Wahrheitsansprüche aller unter ihn fallenden Singulärurteile und Arturteile auflösen ließe. Umgekehrt ist ein echtes Universalurteil, das nicht über eine bestimmte Anzahl von Individuen oder Unterarten, sondern über die Natur oder Art von etwas urteilt, immer mehr als die Gesamtheit von Partikularoder Singulärurteilen. Seine Wahrheit ist nicht auf die Wahrheit der Summe von Partikular- und Singulärsätzen reduzierbar, die unter ihn fallen. Diese Unreduzierbarkeit gilt vor allem dort, wo die allgemeinen Naturen, um die es sich handelt, schlechthin notwendig sind und deshalb für alle wirklichen, künftigen, vergangenen und unendlich viele mögliche Welten gelten. Zwar folgt aus strikten Arturteilen oder universalen Urteilen (im Unterschied zu solchen, die nur den Normalfall, den typischen Fall oder den Idealfall meinen) die Wahrheit aller möglichen einzelnen Urteile, die wirklich unter das allgemeine Urteil fallen, d.h. auf die dieses anwendbar ist, in gewisser Weise aus diesem und ist in einem ganz bestimmten Sinn ‚in ihm enthalten‘, jedoch beinhalten Singuläraussagen und Partikularsätze stets mehr als das ihnen übergeordnete Allgemeinurteil selbst (und umgekehrt). Da diese Singulärurteile weitere Voraussetzungen wie etwa die Existenz eines Individuums, auf das sie zutreffen, haben, folgen sie nicht einfach aus dem Universalurteil. Die Unreduzierbarkeit von Singulärurteilen auf Allgemeinurteile und umgekehrt geht also auch daraus hervor, daß ein Universalurteil wie ‚alle Menschen sind sterblich‘ ganz gleich wahr bleibt, auch wenn die unter es fallenden Partikular- oder Singulärurteile nicht wahr wären, weil die über das Universalurteil hinausgehenden Bedingungen von deren Wahrheit (etwa die Existenz von bestimmten Individuen) nicht vorliegen. Denn die Wahrheit eines Singularurteils hängt – außer von jener des übergeordneten Universalurteils – auch von dem Vorliegen weiterer Fakten ab. So ist der Satz ‚der Pole Theobald Sigfridowid Tarskieowicz ist sterblich‘ nicht wahr, wenn ein solcher Mensch gar nicht existiert, was die Bedingung seiner Sterblichkeit ist, nicht mehr lebt, oder wenn er kein Pole ist. Also kann die Wahrheit des Allgemeinurteils unmöglich auf jene von Einzelurteilen, die
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in vielen Fällen Existenz, Leben usf. von Individuen voraussetzen, die nicht im Universale als solchem gründen, reduziert oder gegründet werden. Vor allem behauptet das Universalurteil (etwa „alle Menschen sind sterblich“) oder das Arturteil (etwa „der Mensch ist ein leib-geistiges Wesen“) einen bestimmten allgemeinen Sachverhalt, in Übereinstimmung mit dem es wahr ist, und nicht eine Vielfalt atomistischer Sachverhalte, so als ob es sich in eine Unzahl einzelner Aussagen auseinanderlegen ließe. Eine ganz andere Frage ist die erkenntnistheoretische, ob im Falle induktiver Allgemeinheiten die Wahrheit des nur durch Erkenntnisse aller unter das Universale fallenden einzelnen Fälle und durch die Zuhilfenahme der sogenannten „Regel der unendlichen Induktion“, oder auch durch eine vollständige Induktion,474 erkenntnismäßig begründet werden kann. Auch wenn wir dies bejahen, so läßt sich der Wahrheitsanspruch selbst nicht in unendlich viele Wahrheitsansprüche atomistischer Einzelaussagen auflösen. Auch daß über unendliche Klassen keine Wahrheit aussagbar sei und daß andererseits gelte „x ist eine w a h r e A u s s a g e – symbolisch xeWr – dann und nur dann, wenn xe As und wenn jede unendliche Folge von Klassen x erfüllt“ sei475, ist offensichtlich falsch (da es z.B. weder für Singuläraussagen noch für umgangssprachliche Aussagen gilt) und läßt sich durch Tarskis philosophische Ergebnisse ebenso wenig begründen wie die Einführung einer Metametawissenschaft, die auf die voreilige Ausschaltung des traditionellen Wahrheitsbegriffs zurückgeht476. Unzureichend bleibt auch Tarskis Kritik des relativen Wahrheitsbegriffs bei Hilbert (318 ff.). Und ebensowenig bringen die vielen Definitionen und Sätze Tarskis (323 ff.) eine philosophische Klärung dessen, was Wahrheit bzw. was deren Verhältnis zu den zugrundeliegenden Sachverhalten sei oder begründen seine Forderung nach einer Einführung verschiedener Axiome für jede metatheoretische Ebene (333 ff.).
474 475 476
Alexander Pfänder, (Mariano Crespo, Hrsg.), Logik, S. 383. Tarski, a.a.O., S. 313, Definition 23. Ebd., § 1; vgl. auch ebd., S. 314.
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1.8. Kritik an Tarskis Verwechslung von Wesen und Kriterium der Wahrheit und an der These, das Widerspruchsprinzip folge aus der Wesensbestimmung der Wahrheit statt umgekehrt von dieser vorausgesetzt zu sein, sowie an der These, die Klasse aller wahren Sätze bilde ein widerspruchsfreies deduktives System
Auch verwechselt Tarski, so scheint es, Wesen und Kriterium der Wahrheit, denn er erhebt den Anspruch (358 f.), daß seine Definition der wahren Aussage auch ein allgemeines Kriterium der Wahrheit bieten solle. An dieser Stelle könnte man eine enge Beziehung zwischen Tarskis und Poppers Wahrheitstheorie feststellen, auf die wir gleich zurückkommen werden. Ferner ist die Idee Tarskis (346, 358 ff.), daß das Widerspruchsprinzip aus dem Wahrheitsbegriff folge, unbegründet. Ganz im Gegenteil setzen die in wahren Urteilen behaupteten Sachverhalte schon für ihr Bestehen und ihren Sinn notwendig das Widerspruchsprinzip voraus, und zwar das ontologische Widerspruchsprinzip, das besagt, daß dasselbe nicht zugleich sein und nicht sein kann, bzw. daß nicht zwei kontradiktorische Sachverhalte zusammen bestehen können. Auch setzt Wahrheit das logische Widerspruchsprinzip voraus, daß von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Urteilen nicht beide wahr sein können. Die Widerspruchsfreiheit aller wahren Sätze folgt weiters aus dem Satz vom Widerspruch, der gerade eine solche Widerspruchsfreiheit der Wahrheit bzw. der Wirklichkeit behauptet, und nicht, wie Tarski annimmt, aus dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten, der nur eine dritte Möglichkeit außer Sein oder Nichtsein, wahr oder falsch ausschließt. Aus dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten folgt daher, daß es keinen Zustand jenseits von ontologischen oder urteilsmäßigen kontradiktorischen Gegensatzpaaren gibt, was auch in einer widerspruchsfreien Welt möglich wäre, wie es ja zu konträren Gegensätzen wie „Der Tisch X ist ganz schwarz“ und „der Tisch X ist ganz weiß“, die nicht beide wahr sein können, unendlich viele dritte Möglichkeiten gibt. Ebenso unhaltbar ist Tarskis Behauptung, daß der Satz vom Widerspruch und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, gemeinsam mit dem schon erwähnten Satz über die Folgerungen aus den wahren Aussagen, daß diese nämlich selbst wahr sein müssen, zeigen, daß die
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Klasse aller wahren Aussagen ein widerspruchsfreies und vollständiges deduktives System bilde.477 Daß die Klasse aller wahren Sätze ein vollständiges deduktives System bilden solle, ist erstens nicht wahr, da es viele der Freiheit entspringende und andere kontingente Sachverhalte gibt, die sich nicht aus anderen Sachverhalten deduzieren lassen und folgt zweitens nicht im geringsten aus den erwähnten Prinzipien. Solche leicht hingestreuten Aussagen gibt es in Tarskis Aufsatz viele478. Auch die Behauptung, daß die Klasse aller beweisbaren Sätze ebenfalls ein widerspruchsfreies (obwohl nicht notwendig vollständiges) deduktives System bilden müsse,479 ist unrichtig und setzt fälschlich voraus, daß nur deduktive Beweise möglich seien. Es gibt aber auch andere Beweise, die sich auf das Wesen bestimmter Wirklichkeitsbereiche stützen und unmittelbare Schlüsse anwenden, ebenso wie es viele Arten induktiver Beweise gibt, die Tarskis Äußerungen darüber, daß die Klasse aller beweisbaren Sätze ein widerspruchsfreies deduktives System bilden müsse, in keiner Weise entsprechen. Wir haben auch schon auf die Künstlichkeit der Begriffe einer rein semantischen ebenso wie einer nicht-semantischen, rein syntaktischstrukturellen, Wahrheitsdefinition hingewiesen. Es geht bei den rein strukturell-wahren Sätzen in Wirklichkeit erstens nicht um rein sprachliche Sätze, die gar nicht wahr sein könnten, sondern um wahre Urteile, die in diesen Sätzen ausgedrückt sind; zweitens sind, selbst im abgeleiteten Sinn von Wahrheit, den wir Sätzen (stellvertretend für die in ihnen ausgedrückten Urteile) zuschreiben können, Sätze nicht aus rein strukturelllinguistischen Gründen wahr, sondern weil sie Urteile ausdrücken, die aufgrund ihrer Struktur (weil sie analytische oder andere nicht-informative Urteile sind) wahr sind (vorausgesetzt, daß ihr Subjektsbegriff nicht selbst widersprüchlich ist). Daraus folgt jedoch nicht im geringsten, daß ihre Wahrheit, die in ihrer Übereinstimmung mit dem behaupteten Sachverhalt
477
478 479
Tarski, ebd., S. 359: „Diese beiden Sätze...zeigen, daß die Klasse aller wahren Aussagen ein widerspruchsfreies und vollständiges deduktives System bildet.“ Vgl. Etwa Tarski, ebd., S. 359 ff. Ebd., S. 359.
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besteht, eine andere Wahrheit sei oder anders definiert werden müsse als die von Tarski als semantische bezeichnete.480 Fassen wir noch einmal die Hauptpunkte unserer Kritik der Wahrheitstheorie Tarskis zusammen: 1.9. Hauptpunkte der Kritik an Tarskis Wahrheitstheorie – eine Zusammenfassung
1. Es scheint uns, daß in Tarskis semantischer Wahrheitsdefinition, wenn diese auch – und das bildet ein Hauptverdienst dieses Philosophen – eine Äquivalenz mit der Adäquationstheorie der Wahrheit anstrebt, niemals das eigentliche Wesen der Wahrheit zum Ausdruck gebracht wird. Das Selbstverhalten der Sachen, das Bestehen von Tatsachen oder Sachverhalten, mit denen das wahre Urteil übereinstimmen soll, wird im Sinne einer bloßen Addition mit bestimmten Sätzen, die als wahr bezeichnet werden dürfen, dargestellt; durch die Konjunktion „und“ werden das Bestehen des Sachverhalts und der Satz, der das wahr zu nennende Urteil zum Ausdruck bringt, verbunden. Das genügt aber nicht, um das Wesen der Wahrheit zu klären, was schon daraus hervorgeht, daß andere zureichende Bedingungen für Wahrheit statt des Sachverhalts, mit dem ein wahres Urteil übereinstimmen muß, um wahr zu sein, gleich gut mit dem Ausdruck ‚x ist wahr dann und nur dann, wenn...‘ verbunden werden können. Aus diesen Fehlern folgt die Schwäche der Wahrheitsdefinition Tarskis, daß die bloß durch ein „und“ ausgedrückte Beziehung zwischen Satz bzw. Urteil und Sachverhalt nicht genügt, um Wahrheit zu definieren oder zu charakterisieren. Denn sowohl der Satz als auch das Urteil könnten in einer solchen rein additiven Wahrheitsdefinition unter Umständen durch ganz andere notwendige und hinreichende Bedingungen der Wahrheit ausgetauscht werden (wie etwa durch die Übereinstimmung mit einem allwissenden Wesen, mit einem ‚mit Evidenz urteilenden Subjekt‘, usf.), ohne eine solche (sicher als Definition inkorrekte) formal-additive „Definition“ der Wahrheit im Stile Tarskis falsch wäre. In diesen Fällen 480
A.a.O., S. 360.
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würde jedoch gerade nicht das zum Ausdruck gebracht, was Wahrheit ist, sondern nur eine notwendige oder hinreichende Bedingung derselben, die von ihrem Wesen zu unterscheiden ist, wie wir schon in früheren Kapiteln über Brentano, die Kohärenz- und die Konsenstheorie der Wahrheit gesehen haben. Um zum Ausdruck zu bringen, worin Wahrheit besteht, muß auf die spezifische Struktur des Urteils und auf jenes Zusammentreffen der urteilenden Setzung eines Sachverhalts mit dem Selbstverhalten dieses Sachverhalts bzw. mit dem Verhalten der Sachen selbst, zum Ausdruck gebracht werden. 2. Weil Tarski diese schlichte und evidente Tatsache, das Wesen der Wahrheit, niemals zum Ausdruck bringt, sieht er sich gezwungen, eine ungeheuer komplizierte Theorie der Wahrheit verschiedener Sprachen und verschiedener Ansatzpunkte zu entwickeln und viele Wahrheitsdefinitionen (die ‚semantische‘ additiv-repetitive, die enumerative, die durch das „Erfülltsein“, die strukturelle, usw.) zu entwerfen, anstatt in die schlichte Gegebenheit dessen einzudringen, was Wahrheit ist und was, wie er selber sagt, jedermann in seiner vorphilosophischen Erkenntnis bekannt ist. Wahrheit in diesem Sinn ist letztlich eine schlichte Urgegebenheit, die einfach zu fassen ist; und sie ist prinzipiell genau dasselbe in formalisierten Sprachen, in der Umgangssprache und in Metasprachen jeder Ordnung. 3. Der eigentliche Träger der Wahrheit, die komplexe Bedeutungseinheit und jenes besondere objektive Gedankengebilde des Urteils, das allein wahr und falsch sein kann, wird von Tarski nicht deutlich, wenn überhaupt, als solches gefaßt. Das Urteil als Träger der Wahrheit wird mit dem Satz, dem sprachlichen Gebilde, das nur der Leib des Urteils ist, welches durch den Satz ausgedrückt wird, identifiziert. 4. Deshalb gelangt Tarski unserem Urteil nach zum Irrtum, daß die Wahrheit eines Urteils bzw. eines Satzes nur relativ auf die jeweilige Sprache sei, was eben nur von der Sprache, die von Wortdefinitionen und vom Wortgebrauch abhängt, nicht von Urteilen und Bedeutungseinheiten gilt. Tarski verkennt, daß die Wahrheit überhaupt nicht von Sätzen, sondern von den in ihnen ausgedrückten Urteilen getragen wird. Diesen kommt jedoch Wahrheit im absoluten und nicht in einem relativen Sinne zu. Ein Urteil, d.h. ein ganz bestimmtes Bedeutungsgebilde, kann nur
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entweder wahr oder falsch sein, und ist dies absolut nicht in Abhängigkeit von irgendeiner Sprache oder einem Sprechenden. 5. Aus den erwähnten Schwächen ergibt sich ferner der monströse, die ganze Philosophie und alle Wissenschaften, die sich nicht formalisierter Sprachen bedienen, erschütternde Gedanke, daß Tarski glaubt, für die Umgangssprache könne überhaupt keine klare und tragfähige Definition der Wahrheit von Urteilen gegeben werden. Darin irrt er, weil für jedes Urteil, ganz gleich, ob es in symbolischer oder formalisierter Sprache, oder in der Umgangssprache (normalen bzw. einfach nicht-formalisierten Sprache) formuliert wird, für jedes behauptende Gedankengebilde, das wir als Urteil bezeichnen, in genau gleicher Weise die Definition bzw. das Wesen von Wahrheit gilt: jedes solche Urteil, inklusive dieses, setzt bzw. behauptet seiner Natur nach einen Sachverhalt und erhebt damit einen Wahrheitsanspruch, d.h. erhebt den Anspruch, in seiner behauptenden Setzung mit dem Selbstverhalten der Sachen übereinzustimmen bzw. zusammenzutreffen. 6. Es zeigt sich der Irrtum in Tarskis These, für die in normaler Sprache formulierten Aussagen lasse sich keine klare Wahrheitsdefinition geben, ferner daraus, daß seine eigene Theorie völlig an die Anwendbarkeit und das Verständnis von Wahrheit innerhalb nicht-formalisierter Sprachen gebunden ist. Für seine eigenen Aussagen beansprucht Tarski, daß sie wahr sind und zwar genau deshalb, weil seine in umgangssprachlichen Sätzen ausgedrückten Gedanken mit dem Selbstverhalten der Sachen übereinstimmen. Diese ganz besondere Form und dieser irreduzible Modus der Übereinstimmung bzw. Korrespondenz macht Wahrheit aus. Indem aber Tarski dies und die Wahrheit seiner umgangssprachlich ausgedrückten Urteile, auf denen seine Theorie aufbaut, voraussetzt, widerspricht er sich selbst. 7. Von daher ergibt sich die Kritik der Idee einer Konstruktion eines Wahrheitsbegriffs, was dem Wesen der rezeptiven Erkenntnis widerstreitet. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, worin Wahrheit objektiv besteht. 8. Der sogenannte ‚semantische Wahrheitsbegriff‘ ist nicht semantisch und eine semantische Wahrheitsdefinition ist unmöglich, weil Wahrheit – welchen Begriff von ‚semantisch‘ man auch zugrundelegt – immer trans-
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semantischer Natur ist und ein Verhältnis zwischen Urteile (Sprache in Tarskis Sinn) und Sachverhalt impliziert. 9. Die Idee des Erfülltseins, die Tarski an die Stelle der Übereinstimmung setzen will, wenn er über die rein additive Wahrheitsdefinition hinausgeht, erweist sich als unhaltbar, weil sie im Fall der Definition von Wahrheit durch Erfülltsein einen viel allgemeineren Begriff, der meist mit Wahrheit nichts zu tun hat, an Stelle der Korrespondenz (Adäquation) setzt. Wir haben erkannt, daß der von Tarski an die Stelle der Wahrheit gesetzte Begriff des Erfülltseins wesentlich künstlicher und vieldeutiger ist als der der Übereinstimmung.481 Denn wie erwähnt, können Schemata in ganz verschiedener Weise erfüllt werden, können Universalien, Spiele, Spielregeln, Handlungen, Versprechungen usf. in Individuen oder individuellen Fällen erfüllt werden, ohne daß hier jene Relation der Adäquation vorläge, wie sie die Wahrheit eines Urteils ausmacht. Und Tarski bezieht sich bei seiner Erklärung der ‚Erfüllung‘ auch auf derartige Fälle. 10. Tarskis rein ‚strukturell-syntaktische Wahrheitsdefinition‘ bezieht sich in Wirklichkeit nicht auf die sprachliche Struktur, sondern auf eine bloß durch die Definition von Symbolen oder durch bedeutungsverleihende Akte verliehene Bedeutung der Sprachstrukturen, welche im Falle analytischer und ähnlicher nicht-informativer Urteile eine Garantie ihrer Wahrheit darstellt (wenn auch nur unter bestimmten Voraussetzungen wie der Widerspruchsfreiheit der im Urteil erscheinenden Begriffe); daher ist eine rein strukturell-linguistische Wahrheitsdefinition unhaltbar und vergißt ihren Ursprung. Etwas, was weder eine notwendige Bedingung von Wahrheit ist noch deren Wesen ausmacht, zum Ausgangspunkt der Wahrheitsdefinition zu wählen, ist außerdem mehr als unphänomenologisch und geht an der Sache (Wahrheit) ganz vorbei. Dabei wird ein linguistisch-struktureller und abgeleiteter Grund für die Wahrheit einer Aussage mit dem Wesen dieser Wahrheit, die nicht in der strukturellen Eigenart eines Satzes, sondern in dessen Übereinstimmung mit der Wirklichkeit liegt, verwechselt. 11. Wir haben bereits gesehen, daß Tarski die Frage, welche Aussagen wahr sind, mit einer Definition des Wesens von Wahrheit verwechselt. Dies zeigt sich besonders deutlich in seiner Analyse strukturell481
Darauf weist Tarski selbst (a.a.O. S. 347) hin.
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deskriptiver Namen von Aussagen und vor allem von jenen Aussagen, die aufgrund ihrer formalen Struktur, als analytische oder andere nichtinformative hypothetische Urteile, wahr sind. Die Angabe von Bedingungen, unter denen Urteile einer bestimmten Art wahr sind, hat nichts mit einer Bestimmung des Wesens bzw. mit einer Definition von Wahrheit zu tun, sofern Wahrheit sich überhaupt durch Angabe ihrer wesentlichen Merkmale (und nicht durch Erklärung anderswoher schon verständlicher und erklärbarer Begriffe) definieren läßt.482 12. An einem weiteren Punkt der Theorie Tarskis nahmen wir Anstoß, an seiner atomistischen Erklärung allgemeiner Urteile. Wenn er etwa die Folge f von Individuen sowie die Folge F, deren Gliederklassen von endlichen Folgen von Individuen gebildet werden, gemeinsam eine gegebene Aussagefunktion „erfüllen läßt“ (356), dann verquickt er Sinn und Wahrheitsanspruch universaler, partikulärer und singulärer Urteile und löst den Wahrheitsanspruch eines Universalurteils fälschlich in den aller einzelnen Aussagen, die unter ihn fallen, auf, wie wir dargelegt haben. 13. Ebenso kritisierten wir seine Verwechslung zwischen der Frage nach dem Wesen der Wahrheit mit der Feststellung hinreichender Bedingungen für Wahrheit. 14. Dabei ist die noch grundsätzlichere Kritik angebracht, daß der Versuch einer Wahrheitsdefinition selbst problematisch ist und eine Tendenz zum Reduktionismus enthält. Im letzten, weil es sich bei der Urteilswahrheit um ein irreduzibles Datum einer einzigartigen Form von Übereinstimmung mit der Wirklichkeit handelt, kann Wahrheit auch nicht durch irgendetwas anderes oder als etwas anderes als sie selbst definiert werden.483 Dennoch kann sie in einem Sinn ‚definiert‘ werden, den Tarski gerade versäumt, indem nämlich in eindeutiger und unmißverständlicher Weise auf jene besondere Form der Korrespondenz, das Zusammentreffen zwischen behauptender Setzung eines Sachverhalts im Urteil und dem Selbstverhalten dieses Sachverhalts, hingewiesen und in diesem Sinne die Wahrheit als Übereinstimmung eines Urteils mit der Wirklichkeit oder mit den von ihm selbst unabhängigen Sachverhalten, definiert wird. Und genau
482 483
Vgl. Tarski S. 270 ff. Auch darauf weist Tarski selber an manchen Stellen hin.
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diese schlichte philosophische Erkenntnis und richtige ‚Definition‘ von Wahrheit verfehlt Tarski.484 Dafür gibt es noch einen weiteren Grund, der uns schon zu einem weiteren Thema führt, nämlich zu Tarskis versuchter Lösung des Antinomienproblems, vor allem des Lügners. Zur Diskussion dieses Hauptarguments Tarskis für die Einführung seiner semantischen Wahrheitsdefinition und für deren Beschränkung auf formalisierte Sprachen endlicher Ordnung, werden wir gleich nach einem zusammenfassenden Urteil über seine Wahrheitstheorie übergehen. 15. Wenn Tarski deshalb die Frage aufwirft, ob sein Mißerfolg bei der Suche nach einem für formalisierte Sprachen konsequent anwendbaren Wahrheitsbegriff zufälligen Charakter habe und etwa nur an der Unvollkommenheit der tatsächlich angewandten Methoden liege,485 so müssen wir diese Frage insoferne bejahen, als Tarskis Ergebnis keineswegs notwendig aus der Natur der Sache hervorgeht, insoferne aber verneinend beantworten, als Tarskis Scheitern sich keineswegs zufällig aus seinem methodologischen Ansatz ergibt. Die von ihm genannte Schwierigkeit, auf die Tarski selbst stößt und die er in das Gebiet der Metawissenschaft verweist,486 ergibt sich nämlich zwingend aus den erörterten Fehlern in seiner Wahrheitsdefinition und aus seiner versuchten, aber inkorrekten Lösung des Antinomienproblems, auf die wir gleich eingehen werden. 16. Also gelangen wir nicht nur zu einer Ablehnung der meisten Elemente der Wahrheitstheorie Tarskis, sondern auch zu einer Ablehnung seiner Idee, daß der Ausdruck „wahre Aussage“ nicht eindeutig sei, und – zur Vermeidung seiner Mehrdeutigkeit – für nicht-formalisierte Sprachen durch den relativen Terminus einer in bezug auf eine gegebene Sprache „wahre Aussage“ ersetzt werden müsse (388) oder gar auf die normalsprachlichen Aussagen nicht mehr anwendbar sei. 17. Bei aller Schärfe unserer Kritik der rein semantischen und der linguistisch-strukturellen (nicht-semantischen) Wahrheitstheorien Tarskis halten wir fest, daß wir sein Ziel, nämlich die klassische Wahrheitstheorie
484 485 486
Vgl. Etwa Tarski, a.a.O. S. 265. Tarski, a.a.O. S. 369. Tarski, a.a.O. S. 369.
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als Korrespondenz (Adäquation) neu zu begründen, und viele andere Elemente seiner Einsichten durchaus teilen. 2. Kritik an Tarskis Objektsprache-Metasprache-Dichotomie und an seinem Lösungsversuch der Antinomien durch seine Neufassung des Wahrheitsbegriffs
2.1. Tarskis Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache und die durch sein Verbot der Grenzüberschreitung geschaffene Dichotomie zwischen beiden
R. Carnap und A. Tarski487 entwickelten hinsichtlich der logischen Paradoxien, die in enger Beziehung zum Wahrheitsproblem stehen, einen ähnlichen Lösungsversuch wie Russell in seiner ‚Typentheorie‘.488 Eine Auflösung der ‚logischen Paradoxien‘ sei nur mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache zu erreichen. Die Objektsprache mache Aussagen über bestimmte Gegenstandsbereiche, aber nicht über die Sprache selbst. Die Metasprache hingegen sei jene Sprache, 487
488
Vgl. Alfred Tarski, Logic, Semantics, and Metamathematics (Oxford: Oxford University Press, 1956). Vgl. Donald Davidson, “The Emergence of Thought”, Erkenntnis (1999); 51 (1): 7-17. Vgl. auch Hannes Leitgeb, “Truth As Translation – Part A”, Journal of Philosophical Logic, (2001), August; 30 (4): 281-307; ders., “Truth As Translation – Part B”, Journal of Philosophical Logic, (2001), 2001 August; 30 (4): 309-328. Vgl. ebenfalls Wolfgang Stegmüller, Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik. Eine Einführung in die Theorien von A. Tarski und R. Carnap (Wien 1957; zweite unveränderte Aufl., 1977), S. 38 ff. Vgl. auch John F. Crosby, “Refutation of Skepticism and General Relativism”, in: D. von Hildebrand, (Hrsg.), Rehabilitierung der Philosophie, S. 103-123; sowie Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; auch in einer vom Autor revidierten und korrigierten Version auf Spanisch erschienen: Superación del escándalo de la razón pura. La ausencia de contradicción de la realidad, a pesar de Kant. Biblioteca filosófica “El Carro Alado”. Traducción Rogelio Rovira (Madrid: Ediciones Cristianidad, 2007); sowie ders., „Das Antinomienproblem als ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“.
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in der Sätze über die Sprache vorkämen, über die diversen Satzteile, Strukturen etc. der Objektsprache. So gehöre insbesondere jeder Satz, in dem die Ausdrücke ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ vorkommen, der Metasprache an.489 Weiters unterscheidet man Metasprachen verschiedener Ordnung (M1, M2, M3, etc.). In einer Metasprache zweiter Ordnung würden z.B. Sätze über Sätze vorkommen, in denen die Wahrheit oder Falschheit anderer Sätze der Objektsprache behauptet werden. Vermeide man strikte, das, was in der Metasprache über die Objektsprache gesagt werde, auf die Sätze der Metasprache selbst anzuwenden, so ließen sich die logischen Paradoxien vermeiden. Gerade dieses Verbot, irgendeinen Satz der Metasprache über ‚alle Sätze‘ oder ‚die Wahrheit aller Sätze‘ auf sich selber oder auf andere Sätze der Metasprache anzuwenden, führt zu jener im Titel dieses Abschnitts als Dichotomie bezeichneten Trennung beider, die ich als unbegründet und falsch ablehne, was ich eingehend begründen werde. Wenn Tarski meint, seine Kritiker dadurch abtun zu können, daß die „in ihrer alltäglichen wissenschaftlichen Arbeit an die Anwendung deduktiver Methoden nicht gewöhnten Philosophen geneigt seien“, „alle formalisierten Sprachen mit einer gewissen Geringschätzung zu behandeln, indem sie diesen ‚künstlichen‘ Gebilden die einzige natürliche Sprache – die Umgangssprache gegenüberstellen“,490 dann irrt sich unser Autor wieder. Zwar mag es Philosophen geben, die alle formalisierten Sprachen mit Geringschätzung behandeln. Dies ist aber keineswegs für das Suchen nach einer universalen Bedeutung von Wahrheit in allen formalisierten und Umgangssprachen vorausgesetzt; erst recht nicht dafür, um die Existenz einer einheitlichen Bedeutung von Wahrheit auf allen sprachlichen Ebenen, und universaler logischer Gesetze, die für sie alle gleichermaßen gelten, zu behaupten. Wenn daher Tarski fordert, um eine auf seinem Weg aufgebaute Theorie der Wahrheit als widerspruchsfrei zu erkennen, daß jeweils die Metasprache höherer Ordnung widerspruchsfrei sei, auf deren Boden man eine zutreffende Definition der Wahrheit aufstelle und aus ihr diejenigen Sätze, welche in der Theorie der Wahrheit als Axiome angenommen 489 490
W. Stegmüller, Das Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 39. Tarski, a.a.O., S. 392.
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werden, ableiten könne, befindet er sich wiederum im Irrtum bzw. kann diese Forderung unmöglich von seinen Voraussetzungen her erfüllen.491 Im übrigen zeigt sich hier492 eine von Tarski ausdrücklich erwähnte Ähnlichkeit zu Gödel. Die Forderung Tarskis, aufgrund seiner Definition der Wahrheit die Widerspruchsfreiheit einer deduktiven Wissenschaft nur auf dem Boden einer Metawissenschaft beurteilen zu können, deren Ordnung höher sei als jene der Wissenschaft selbst,493 und das Ergebnis der Gödel‘schen Untersuchungen, „daß es im allgemeinen unmöglich ist, die Widerspruchsfreiheit einer Wissenschaft zu beweisen, falls man den Beweis auf dem Boden einer Metawissenschaft von gleicher oder niedrigerer Ordnung durchzuführen versuche“,494 so gründen diese Aussagen eben in dem Mißverständnis, es könne keine schlechthin universal gültigen Evidenzen geben und in der Meinung, die Begründung einer Erkenntnis müsse jeweils dadurch erreicht werden, daß diese Erkenntnis selbst wieder zum Gegenstand einer Theorie höherer Ordnung werden müsse. Dies würde nur dann gelten, wenn Tarski damit recht hätte, daß es keine schlechthin allgemeinen und auf alle sprachlichen Ordnungen anwendbaren Prinzipien geben könne, was wir widerlegen möchten, oder wenn Gödel bewiesen hätte, daß alle Aussagen eines Systems innerhalb desselben formal unentscheidbar sind, weil sie immer Gegenstand anderer Beweise oder Begründungen sein müßten, deren Grundlagen in einem System höherer Ordnung liegen müßten. In Wirklichkeit können zwar wirklich nicht alle Aussagen innerhalb eines deduktiven Systems bewiesen werden, aber nicht deshalb, weil wir in einem unendlichen Regress immer weitere Metasprachen oder Metawissenschaften höherer Ordnung aufsuchen müßten, und deshalb in jeder Theorie innerhalb derselben unentscheidbare Aussagen hätten, wie Tarski meint,495 sondern vielmehr deshalb weil es durch sich selbst evidente und einsichtige Prinzipien gibt, die unmöglich begründbar wären, wenn sie durch andere Prinzipien eines deduktiven Systems bewiesen werden müßten und zu deren Einsichtigkeit vielmehr gerade dies gehört, daß sie 491 492 493 494 495
„Nachwort“, a.a.O., S. 399 f. A.a.O., S. 400 ff. Tarski, a.a.O. S. 400. Tarski, ebd. S. 400. Tarski, a.a.O. S. 401.
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keiner Begründung durch Beweis fähig und bedürftig sind und zugleich für sämtliche mögliche Systeme jeder möglichen Ordnung gelten. Wenn man einmal erkennt, daß aus dieser Annahme keineswegs die von R. Carnap, Gödel und Tarski angenommenen Antinomien folgen,496 so haben wir die Grundlagen für eine erforderliche post-gödelsche und post-tarskische Wissenschaftstheorie und Auflösung der Antinomien gelegt. Sicher müßten unsere Grundthesen und, wie wir meinen, Einsichten weiter entfaltet, begründet und erforscht werden.497 Doch mag das hier Gesagte zumindest dafür ausreichen, um zu erkennen, daß die von Gödel, Tarski und anderen Autoren gewiesenen Wege nicht die einzig möglichen, ja nicht einmal richtige Wege sind, um die Frage nach dem Wesen der Wahrheit bzw. nach ihrer Definition, oder um die großen Probleme der logischen Antinomien zu lösen. Erst recht ist die von Tarski vermutete Geringschätzung für formalisierte Sprachen nicht erforderlich, um einzusehen, daß eine Beschränkung der Wahrheitsdefinition auf formalisierte Sprachen, und ein Aufgeben des Versuches als hoffnungslos, den ursprünglichen Sinn des Wortes Wahrheit zu entdecken, wie er sowohl auf die nicht-formalisierte Sprache und Umgangssprache als auch auf die formalisierten Sprachen Anwendung findet, als völlig unberechtigten Reduktionismus der Wahrheitstheorie zu erkennen. Ja, wie wir gesehen haben, setzen Tarskis eigene Untersuchungen, die ebenfalls in der Umgangssprache geführt und erklärt werden, ständig voraus, was er leugnet: nämlich ein Verständnis der Wahrheit umgangssprachlicher Aussagen und die Anwendbarkeit von gewissen Sätzen über alle objektsprachlichen Aussagen auf diese selbst. Ein solches Verständnis oder Vorverständnis muß sich aber auch philosophisch aufklären lassen, was auch möglich ist, wie wir gesehen haben. Ohne formalisierte Sprachen zu verachten oder ihren großen Wert 496
497
Vgl. dazu auch R. Karna, „Die Antinomien und die Unvollständigkeit der Mathematik“, Monatshefte für Mathematik und Physik, Band 41 (Leipzig 1934, S. 263-284); und ders., „Ein Gültigkeitskriterium für die Sätze der klassischen Mathematik“, ibid., Band 42 (Leipzig 1935, S. 163-140); ders., Logische Syntax der Sprache, (Wien 1934). Vgl. auch Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant. Ein Werk über logische und mathematische Antinomien ist in Vorbereitung.
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im Rahmen der mathematischen Logik, der Mathematik und anderer Gebiete zu übersehen, können wir Tarskis Ansicht durchaus nicht teilen, er habe in den Erörterungen des § 1 nachgewiesen, daß der Wahrheitsbegriff und andere ‚semantische‘ Begriffe in ihrer Anwendung auf die Umgangssprache – bei Verwendung der normalen Gesetze – „unbedingt zu Verwicklungen und Widersprüchen führen“498. Diesbezüglich werden wir erkennen, daß unsere Kritik der Tarski‘schen Theorie radikal verschiedene philosophische Folgerungen und Schlüsse hinsichtlich der logischen Paradoxien und Antinomien und ihres Verhältnisses zum Wahrheitsbegriff als richtig erkennt als Tarski. Ein erster Teil der A. Tarski‘schen Lösung des Antinomienproblems liegt in seiner Wahrheitstheorie, deren einschlägige Teile wir deshalb im Rahmen unserer kritischen Untersuchung teils wiederholen, teils im folgenden auch in erweiterter Form darstellen und einer kritischen Prüfung unterziehen müssen. 2.2. Allgemeine Kritik an Tarskis Konstruktion einer Dichotomie zwischen Objektsprache und Metasprache und seinem Verbot der ‚Selbstanwendung‘ 2.2.1. Führt die Anwendung der Adäquationstheorie der Wahrheit auf Gedanken, die in der normalen Sprache ausgedrückt werden, wirklich zu logischen Antinomien? Die Fragwürdigkeit dieser Thesen
Abgesehen von den schon vorgebrachten kritischen Überlegungen zu Alfred Tarskis semantischem Wahrheitsbegriff müssen wir uns Tarskis Meinung kritisch zuwenden, daß die Wahrheit im Sinne der Adäquation, wie er sie durch seinen semantischen Wahrheitsbegriff besser fassen zu können glaubt, sobald sie von der Umgangssprache prädiziert werde, zu offenbaren Widersprüchen führe, insbesondere zur sogenannten Antinomie des Lügners. Zumindest seien Situationen bekannt, in denen scheinbar unproblematische oder sogar evidente Behauptungen von eben diesem Typus der als wahr bezeichneten Ausdrücke der Umgangssprache zu Widersprüchen führen. Also sei die scheinbar so einleuchtende Wahrheitsdefinition, die Aristoteles gibt und die Alfred Tarski in ihrer objektiven 498
Tarski, a.a.O. S. 392-393.
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Einschränkung auf endliche nicht-formalisierte Sprachen erkannt habe, sobald sie für umgangssprachliche Ausdrücke verwendet werde, aufgrund der Antinomien fragwürdig. Alfred Tarski unterläßt dabei jede ernsthafte Untersuchung der grundlegenden Fragen, wie denn eine Wahrheitsdefinition, die auf formalisierte Sprachen beschränkt sei, die Wahrheit von umgangssprachlichen Sätzen, die es offenbar gibt und die Tarski voraussetzt, erklären soll, ebenso wie er es unterläßt, die evidente Tatsache zu erklären, daß und warum die Wahrheit der in formalisierten Sprachen oder in der Umgangssprache ausgedrückten Urteile eine Übereinstimmung der Urteile mit Sachverhalten und daher eben niemals eine rein semantische Eigenschaft sprachlicher Gebilde ist, gleich welchen Begriff von ‚semantisch‘ man verwendet. Gleichermaßen läßt er das Problem unbehandelt, ob es denn nicht evident ist, daß wirklich bestehende Sachverhalte auf Grund der evidenten Wahrheit des Widerspruchprinzips unmöglich einander widersprechen können, und daß deshalb wahre Aussagen über sie, deren setzende Behauptung von Sachverhalten mit dem Selbstverhalten der Sachen selbst übereinstimmt, niemals widersprüchlich sein können. Von einer solchen Untersuchung her würde sich zweifellos die Erkenntnis ergeben, daß die Lügnerantinomie nicht in der klassischen Wahrheitsdefinition einerseits und in möglicherweise wahren Aussagen andererseits ihre Ursache hat, sondern vielmehr in in sich widersprechenden Annahmen, also in Sachverhalten, die es prinzipiell überhaupt nicht geben kann. Sowohl die Darstellung des Lügnerparadoxes als auch dessen Auflösung bleiben dementsprechend bei Alfred Tarski unbefriedigend – ein formalistisches Spiel, in dem weder die Natur der Wahrheit noch die von ihr vorausgesetzten Prinzipien oder Sachverhalte geklärt werden.499 Viel eindrucksvoller sind diesbezüglich die von Charles Sanders Peirce 1868 vorgelegten Analysen des Lügners und der Gründe und Struktur der widersprüchlichen Behauptung dieser logischen Paradoxie.500 Zu meinen, daß der ‚Universalismus‘ der Umgangssprache und ihre ‚universalistische Tendenz‘ der Grund für Antinomien wie die Lügner499 500
Tarski, a.a.O. S. 271. Siehe Peirce, Collected Papers, 5, S. 340.
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antinomie sei, läßt sich unschwer als falsch erkennen.501 So läßt sich auch die Behauptung Tarskis keineswegs rechtfertigen, daß durch seine Untersuchungen die Möglichkeit eines konsequenten und dabei mit den Grundsätzen der Logik und dem Geist der Umgangssprache übereinstimmenden Gebrauchs des Ausdrucks ‚wahre Aussage‘ und, was daraus folgen würde, die Möglichkeit des Aufbaus irgendwelcher korrekter Definitionen dieses Ausdrucks ‚wahr‘, in Frage gestellt seien. Keine dieser Behauptungen.Tarskis502 läßt sich rechtfertigen, wie wir sehen werden. Die Meinung Tarskis, daß nur durch die Einführung der Unterscheidung zwischen Sprache und Metasprache503 Antinomien vermieden werden könnten, und vor allem daß diese sich nur durch ein striktes Verbot der Selbstanwendung von Sätzen der Metasprache ausschließen ließen504 – eine Lösung, die der Russell‘schen Typentheorie ganz ähnlich ist – läßt sich durch eine Reihe kritischer Überlegungen, die wir im folgenden ausführen möchten, widerlegen. 2.2.2. Eine antizipatorische Kritik Tarskis durch Peirce und Schröder
Auch diesbezüglich scheint Charles Sanders Peirce in seinen Collected Papers 5 viel richtiger identifiziert zu haben505, daß dem Lügner eine widersprüchliche Annahme zugrunde liegt. Peirce arbeitet dabei506 eine Weise heraus, in der die Aussage des Lügners sinnlos ist, was durchaus damit verträglich ist, daß sie in anderer Hinsicht nicht jedes Sinnes beraubt ist. Ausgezeichnet führt er aus, indem er Paulus Venetus507 folgt, daß nicht kein Satz, wie Russell und Tarski meinen, sondern jeder Satz über sich 501 502 503 504
505 506 507
Tarski, a.a.O., S. 278. Tarski, ebd., S. 279. A.a.O., S. 282 f. Vgl. Bertrand Russell/Whitehead, Principles of Mathematics, 2nd ed. (London, 1937). A.a.O., S. 211 ff. A.a.O., S. 34 f. Sophisma der Aurea, Nr. 50. Vgl. auch Bonaventura, De Mysterio Trinitatis V, 48, 5. Vgl. dazu auch J. Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit“, Franziskanische Studien 59 (1977), 38-52.
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selbst spricht, indem jeder Satz seine eigene Wahrheit mitbehauptet. Doch gehen wir der Reihe nach diese Widerlegungen durch: 2.3. Kritik der Position Tarskis im Einzelnen 2.3.1. Einsichten Tarskis und Fälle unberechtigter ‚Selbstanwendung‘ metasprachlicher Aussagen auf sich selbst
Zweifellos gibt es eine Reihe berechtigter Anliegen und echter Einsichten Tarskis in seiner Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache. So gibt es jenen Unterschied, welcher der Distinktion zwischen Sprache und Metasprache entspricht, es gibt ein Reden über Dinge und ein Sprechen über Sprache, und auch (was ganz verschieden ist) ein Urteilen von Sachverhalten in der Welt außerhalb von Urteilen und ein Urteilen über Urteile. Vor allem gibt es den Unterschied zwischen Aussagen über nicht-sprachliche Dinge und über sprachliche Gebilde. Ob für die Erfassung dieses Unterschiedes die Ausdrücke und die Kategorien ‚Objektsprache‘ und ‚Metasprache‘ glücklich gewählt sind oder schon ein starres und unberechtigtes Auseinanderreißen verschiedener Ordnungen nahelegen, bleibe dahingestellt. Eine weitere Einsicht Tarskis betrifft die Tatsache, daß es eine Art von über sich selber Sprechens metasprachlicher Aussagen gibt, die unsinnig und logisch unzulässig ist. Mit anderen Worten ist unsere Kritik an dem Verbot jeglicher Selbstanwendung von metasprachlichen Urteilen durchaus mit der Meinung Ernst Schröders508 verträglich, daß es einen Sinn von ‚über sich selbst Sprechen‘ gibt, der bei bestimmten Aussagen unmöglich bzw. logisch unzulässig ist; und darin sei die folgende Form des LügnerParadoxes begründet: „ich sage hiermit eine Unwahrheit“, oder „gegenwärtige Aussage ist unrichtig“, „die von jemand ohne allen Bezug auf vorangegangene oder nachfolgende Aussagen für sich hingestellt“ ist.509 Diese Art der Selbstanwendung eines Reflexionsurteils ohne ein anderes Urteil zu haben, auf das es sich bezöge, ist tatsächlich unzulässig, aber nicht weil kein Urteil auf sich selbst bezogen sein kann oder weil kein 508 509
1891, in seinen Vorlesungen über die Algebra der Logik, S. 7-8. a.a.O. S.7, a.a.O. S. 244.
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Urteil einer Metasprache über sich selbst oder ein anderes Urteil der Metasprache urteilen könnte, sondern vielmehr weil ein Wahrheitsurteil immer ein anderes Urteil oder einen anderen Urteilsteil, der etwas anderes als die eigene Wahrheit behauptet, voraussetzt. Insofern erweist sich Tarskis Unterscheidung zwischen (Objekt) Sprache und Metasprache als nützlich, um die Fassung des LügnerParadoxes durch Lukasiewicz richtig zu fassen: „Der Satz erster Ordnung, welcher in diesem Buch auf S. 107, Zeile 3, gedruckt steht, ist nicht wahr“. Dort steht aber kein solcher Satz.510 Wenn Stegmüller diese Fassung des Lügner-Paradoxes für besser hält als die antike, übersieht er, daß hier überhaupt keine sinnvolle Aussage vorliegt, weil von einem nicht existierenden Satz Falschheit ausgesagt wird. Wo soll da das Paradox herkommen oder der paradoxe Widerspruch? Es handelt sich hier vielmehr um einen sinnlosen Satz der Metasprache, der notwendig ein zweites Urteil voraussetzt, ohne daß dieses vorhanden wäre. Nur wenn dieser Satz auf sich angewendet wird, finden wir ein Paradox, das aber gleichfalls im Gegensatz zum klassischen Lügner-Paradox ein uneigentliches Paradox ist, wie wir anderswo ausführlich begründen möchten, und das eigentlich in einem wegen seiner logischen Unvollständigkeit sinnleeren Satz besteht, der die rein logisch-grammatischen Bedingungen des Sinnes von Wahrheitsurteilen verletzt.511 Es ist wohl eine weitere Erkenntnis, die der Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache zugrundeliegt, daß man niemals in einem und demselben Urteil allein die Wahrheit eben dieses Urteils zum direkten Gegenstand haben kann – ohne Bezug auf ein anderes Urteil, das nicht ein Wahrheitsurteil ist; ich kann nicht sagen ‚dieses Urteil ist wahr‘ … und sonst nichts. Jedes Urteil als solches sagt einen Sachverhalt aus, der von ihm selbst verschieden ist. Das Wahrheitsurteil, auch wenn es implizit in jedem Urteil steckt, ist immer ein neues, zweites Urteil. Dies impliziert einen ganz neuen Sinn der Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache: kein Urteil kann unmittelbar die eigene Wahrheit zum Gegenstand haben, 510 511
W. Stegmüller, Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 40. Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Vgl. auch Luis Flores, „Edmund Husserl’s Logische Untersuchungen“.
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ohne selbst zugleich etwas anderes als die eigene Wahrheit zu behaupten oder ohne sich auf ein zweites Urteil zu beziehen. Stegmüller geht aber viel weiter in seiner Anwendung der Unterscheidung und behauptet, kein Urteil könne über das allgemeine Wesen von Urteilen so sprechen, daß diese Aussagen auf es selbst anwendbar seien.512 Und genau diese These ist radikal falsch. Denn ebensosehr wie es unsinnige Formen der Selbstanwendung von Urteilen gibt, wie wir eben gesehen haben, gibt es sinnvolle und notwendige, wie aus den oben erwähnten Einsichten Peirce’s und Alexander Pfänders in den Wahrheitsanspruch jeden Urteils, der in einem Wahrheitsurteil über sich selbst entfaltet werden kann, hervorgeht. 2.3.2. Die Rechtfertigung der ‚universalistischen Tendenz‘ der natürlichen Sprache und die Kritik am universalen Verbot der ‚Selbstanwendung‘ und ‚Grenzüberschreitung‘
2.3.2.1.
Die ‚Selbstanwendung‘ des Wahrheitsurteils in jedem Urteil widerlegt das universale Verbot der Selbstanwendung, wie Peirce mit Recht bemerkt
Wenn jeder Satz, genauer gesagt jedes Urteil, die eigene Wahrheit mitbehauptet, und wenn ferner dieser Wahrheitsanspruch jedem Urteil objektiv zukommt und thematisch von allen Urteilen aller Metasprachen und Objektsprachen ausgesagt werden kann und muß, kann in einer Anwendung dieses metasprachlichen Urteils auf sich selbst und alle anderen metasprachlichen Urteile keinerlei Fehler gründen. Darin stimmt Peirce auch, indem er sich scharf gegen Ockhams Vorwegnahme der Typentheorie Russells wendet, mit Bonaventuras Analyse der wahren Sätze bzw. des Wahrheitsanspruchs jedes Urteils, überein, ebenso wie mit Pfänder.513 Statt daß kein Urteil über sich selbst sprechen kann, spricht also jedes Urteil über sich selbst.514
512
513 514
W. Stegmüller, Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 39. Vgl. den vollen Wortlaut weiter unten. Pfänder, a.a.O., S. 69 ff. Rivetti-Barbo, S. 342.
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Also liegt in keiner Weise in einem solchen universalen Anspruch mancher Aussagen der natürlichen Sprache der Grund von Antinomien. 2.3.2.2.
Urteile über das universale Wesen von Urteilen widerlegen das allgemeine Verbot der ‚Selbstanwendung‘
Es läuft im Grunde die Tarski’sche Anwendung seiner Unterscheidung zwischen Meta- und Objektsprache auf die Lösung der logischen Paradoxien fast ganz auf das Russell‘sche ‚Zirkulus-Vitiosus-Prinzip‘ hinaus: man dürfe niemals ein Urteil über eine gegebene Klasse von Urteilen auf sich selbst beziehen. Also seien Urteile über alle Urteile sinnlos. Nie dürfe ein Glied einer Klasse, das über eine Klasse rede, dieser Klasse, die sein Gegenstand ist, selber angehören. Stegmüller sagt dasselbe von Tarskis Position: Erst die totale Aufsplitterung der ursprünglich einheitlichen Sprache in zwei Sprachstufen: Objekt- und Metasprache und die darin implizierte Sinnloserklärung aller Ausdrücke, in denen sich semantische Prädikate auf Sätze derselben Sprache, in der sie selbst vorkommen, beziehen, schafft also eine Garantie dafür, daß Antinomien der geschilderten Art nicht mehr aufzutreten vermögen. Denn wenn jetzt z.B. in einem Satz die Wahrheit eines anderen behauptet wird, so gehört der erste zur Meta-, der zweite zur Objektsprache und innerhalb der letzteren kann niemals ein Satz auftreten, der über einen metasprachlichen Satz spricht, also auch nicht ein solcher, der die Falschheit irgendeines Satzes der Metasprache behauptet.515
In Wolfgang Stegmüllers Ausführungen steckt zunächst die These, kein Urteil könne sich auf so allgemeine Sachverhalte beziehen, daß es sowohl der Objektsprache wie der Metasprache jedweder Ordnung angehöre, bzw. über Sachverhalte oder Gesetze Aussagen mache, die sich auf alle Sprachebenen beziehen oder sogar über alle Gegenstände überhaupt gültige Aussagen machen. Dieser von Wolfgang Stegmüller ausgedrückten Meinung müssen wir energisch entgegenhalten, daß offenkundig das Widerspruchsprinzip im ontologischen Sinne, das das Sein und Nichtsein derselben Sache zur selben Zeit und im selben Sinn verbietet, auf alle Gegenstände überhaupt anwendbar ist. Und das logische Widerspruchs515
W. Stegmüller, Wahrheitsproblem, a.a.O., S. 39.
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prinzip, das besagt, daß von zwei kontradiktorischen Urteilen nicht beide wahr sein können, bezieht sich offenkundig sowohl auf sich selbst als auch auf alle Sätze sämtlicher Metasprachen und sagt von ihnen Gültiges aus. Damit wird der radikale Irrtum der totalen Aufsplitterung der beiden Sprachen deutlich, vor allem wenn sie als strenge Disjunktion gedeutet und die Behauptung aufgestellt wird, kein Satz überhaupt beziehe sich auf alle Sprachebenen. Diese Position läßt sich nicht halten. 2.3.2.3.
Tarskis Verbot universaler Urteile über sich selbst als Quelle eines Selbstwiderspruchs (als Quelle einer logischen Antinomie)
Der Satz Tarskis, kein Satz der Metasprache dürfe sich auf sich selbst beziehen, enthält sogar auf Grund seiner notwendigen Falschheit selbst eine logische Antinomie, denn er ist gerade ein Satz über sämtliche Metasprachen und Sprachebenen und behauptet – fälschlicherweise -, ein für alle diese gültiges Gesetz aufzustellen. 2.3.2.4.
Die Universalität gewisser Urteile über alle Urteile verlangt notwendig, und verbietet nicht, ihre Selbstanwendung
Abgesehen von seiner Widersprüchlichkeit steht ein universales Verbot der Selbstanwendung von metasprachlichen Urteilen oder von Urteilen über alle Ebenen der Objekt- und Metasprache auch im Gegensatz zum Wesen vieler Urteile über das Urteil als solches und über alle Urteile. Ein Urteil kann zwar evidentermaßen niemals selbst direkt (ohne eine andere Aussage zu machen) Gegenstand seiner eigenen Wahrheitsaussage sein, wie wir oben gesehen haben, wohl aber kann es so allgemeine Sachverhalte zum Gegenstand haben, daß diese sich auf sämtliche Dinge überhaupt, auf sämtliche Sätze überhaupt, ebenso wie, sei es explizit, sei es per implicationem, auf diesen Satz selbst beziehen. Sicher gilt in zahlreichen Fällen von einem Urteil über ein einzelnes Urteil oder für die Eigenart bestimmter objektsprachlicher Aussagen, die keine Wahrheitsurteile sind, daß ein solches Urteil weder sich selbst noch einen allgemeinen Sachverhalt zum Gegenstand haben kann, der in ihm selbst Verwirklichung findet.
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Was kritisiert wird, ist vielmehr nur dies, daß Tarski keinerlei universale Urteile oder logische Gesetze zulassen möchte, die sich auf Urteile oder Aussagen, die auf allen unendlich vielen möglichen Ordnungen von Sprachen liegen, beziehen. Tarskis These gilt nämlich z.B. nicht für Urteile, die das allgemeine Wesen von Urteilen überhaupt aussagen, das sich ja in allen Arten und individuellen Beispielen von Urteilen finden muß, wie etwa alle obersten logischen Grundsätze: der logische Satz von der Identität, vom Widerspruch, vom ausgeschlossenen Dritten oder vom zureichenden Grunde. Dasselbe gilt erst recht von Urteilen über sprachliche Sätze, zum Beispiel für das vollkommen legitime und wahre Urteil: „Jeder Satz inklusive dieses Satzes besteht aus Worten – wenigstens aus einem Wort (wie der Rufsatz: Halt!), wobei mehr als ein Begriff in diesem Wort ausgedrückt ist – und diese Worte können gesprochen, geschrieben oder nur vorgestellt werden.“ 2.3.2.5.
Statt der versprochenen „Einfachheit“ Komplikationen über Komplikationen
Wenn Tarski der Meinung ist, daß die mit Hilfe seiner Unterscheidung und Methode konstruierten Definitionen „sich durch ihre logische Einfachheit vorteilhaft auszeichnen“,516 so bietet er dafür keinerlei Evidenz an. Im Gegenteil, seine Theorie führt zu unendlichen Komplikationen und außerdem selbst zu Widersprüchen bzw. zu einem radikalen Agnostizismus, indem ja für die jeweils gebrauchte Sprache n’ter Ordnung selbst keinerlei logische Gesetze und ihre Anwendung gerechtfertigt werden könnten, ohne jeweils auf eine höhere und noch nicht verwendete Sprachebene zu rekurrieren, was zu einem unendlichen Regreß und zur Unmöglichkeit führen würde, jemals ein letztes logisches Fundament des Sinnes und der Nichtwidersprüchlichkeit der eigenen Aussagen zu finden oder zu behaupten517. Im übrigen ist ein ‚Sich auf sich selbst Beziehen‘ durch eine Allgemeinaussage hindurch ganz verschieden von einem direkten ‚sich zum Gegenstand haben‘. Der Satz des Kreters ‚alle Kreter lügen immer‘ hat nicht die eigene Aussage oder deren Falschheit zum Gegenstand, 516 517
Tarski, S. 352. S. 354 ff.
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sondern einen allgemeinen Sachverhalt, der alle Kreter einschließt. Nur weil die eigene Aussage eine Aussage eines Kreters ist, folgt logisch, daß sie auch auf sich selbst anwendbar ist. Man darf also daraus, daß eine Aussage nicht die eigene Wahrheit oder Falschheit zum direkten und einzigen Gegenstand haben kann, nicht folgern, daß ihre Wahrheit oder Falschheit nicht aus ihr folgen und implizite in ihr ausgesagt werden könnte. Dies sind zwei ganz verschiedene Dinge. Der Gegenstand des Urteils des Skeptikers oder auch des Lügners Epimenides ist ein allgemeiner, vom Urteil selbst verschiedener Sachverhalt. Dasselbe gilt vom Widerspruchsprinzip. Dieses bezieht sich aber auf alle Gegenstände überhaupt und beherrscht diese, inklusive des Urteils, in dem das Gesetz vom Widerspruch ausgesagt wird. Eine solche Universalität wird von A. Tarski, R. Carnap und W. Stegmüller ganz zu Unrecht und ohne jedes Argument ausgeschlossen. Während jedoch das Widerspruchsprinzip sich ohne jeden Widerspruch auf sich selbst zurückbezieht und sich selber unterworfen ist, führt die These des Kreters, daß alle Kreter immer lügen, zu einem Selbstwiderspruch, aber nicht wegen ihrer Selbstanwendung, sondern vielmehr wegen ihrem Wahrheitsanspruch und ihrer gleichzeitigen These, sie sei falsch. Gerade solche Urteile wie der Satz vom Widerspruch sprengen also jegliche Aufsplitterung zwischen Objekt- und Metasprache. Es ist also die These Tarskis zurückzuweisen, ein Urteil, das sich auf alle Urteile oder auf das Urteil als solches bezieht, wie das logische Prinzip vom Widerspruch, könne sich nicht auch auf sich selber beziehen, da es selber der Metasprache angehöre und die von ihm betroffenen Objekte der Objektsprache, oder besser, da es selber einer Metasprache zweiter Ordnung angehöre, während die von ihm betroffenen Urteile einer Metasprache niedrigerer Ordnung angehören würden. Nur ein Urteil der Metasprache 2 (M2) könne sich ja auf ein Urteil der Metasprache 1 (M1) beziehen. Von Klassen, Metaklassen, Sprachen, Metasprachen, Metametasprachen als Bedingungen jeder Lösung der logischen Grundprobleme usw. zu sprechen518, läßt sich jedenfalls nicht dadurch rechtfertigen, daß unbegründeterweise angenommen wird, daß die in Umgangssprachen 518
a.a.O. S. 284 ff.
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ausgedrückten Gedanken und Prinzipien niemals die in diesen Sprachen intendierten universalen Gültigkeiten erhalten können. Ohne dies hier im einzelnen begründen zu können, ist die Voraussetzung Tarskis, die Anwendung der Adäquationstheorie der Wahrheit auf normalsprachliche Sätze bzw. die in ihnen ausgedrückten Gedanken führe zu Antinomien, unbegründet. 2.3.3. Es gibt auch individuelle, in einem Satz ausgedrückte Urteile über diesen Satz selbst, die vollkommen berechtigt sind
Es gibt außerdem sogar empirische Prädikate eines Satzes, die direkt von diesem ausgesagt werden können, wie: „dieser Satz besteht aus Worten“; oder „das Urteil, das in diesem Satz ausgedrückt ist, enthält Begriffe und der es ausdrückende Satz Worte, diese Laute usf.“, oder „Dieser Satz ist deutsch“. Dies zu sagen ist keineswegs sinnlos wie die Aussage, ‚der Satz, den ich jetzt (als einzigen) ausspreche, ist wahr.‘ Denn die anderen genannten Aussagen über einen gegebenen Satz setzen nicht, wie das Wahrheitsurteil, notwendig einen anderen Satz oder Satzteil voraus, der ein Urteil ausdrückt, das vom Wahrheitsurteil verschieden ist und auf das dieses sich bezieht. Auch wenn aber ein Satz nicht derart allgemeine Sachverhalte über alle Urteile aussagt, sondern sich auf kontingente, empirische Teilaspekte des Satzes bezieht, kann er durchaus wahr und berechtigt sein, wie wenn ich sage: „Die drei ersten Worte des Satzes, den ich eben ausspreche, sind ‚die drei ersten‘“. Nichts daran ist widersinnig oder kann zu einer Antinomie Anlaß geben. Tarski hat deren Quelle also ganz falsch diagnostiziert und außerdem eine klar unhaltbare und in sich widersprüchliche Lösung logischer Antinomien in Form seiner Wahrheitstheorie und Theorie des Verhältnisses zwischen Objektsprachen und Metasprachen geboten.
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2.3.4. Die Falschheit der Tarskischen und anderer Identifizierungen der Quelle von Antinomien in einer Verletzung des angeblichen Prinzips der Abgetrenntheit einer gegebenen Metasprache von den ihr untergeordneten Metasprachen und Objektsprachen
An dieser Stelle wird auch der allgemeinere Irrtum einer zu engen und gegenseitig ausschließenden Disjunktion zwischen Metasprache 1 und Metasprache 2 deutlich. Es liegt hier eine Verwirrung derjenigen Urteile, die nicht über sich sprechen können, mit jenen vor, die dies durchaus tun können, tatsächlich tun und auch tun sollen. Die Möglichkeit der letzteren Urteile, vor allem wenn sie sich auf schlechthin allgemeine Sachverhalte beziehen, die sie selbst betreffen und von ihnen selbst gelten, ist notwendig für die Einheit des Seins in der Metaphysik gefordert, und ebenso für die Einheit der Logik und Wahrheit. Alle Philosophie, Metaphysik und Logik wären von Anfang an in Paradoxe verstrickt, wenn es diesen Typus von Selbstanwendung nicht geben sollte. Die radikale Auseinanderreißung zwischen beiden Sprachen scheint einer positivistischen Auffassung zu entspringen, nach der es keine echten Universalien, sondern nur Klassen empirischer Allgemeinheiten oder konkreter Einzeldinge geben kann. 2.3.5. Kritik der These, daß echte Widersprüche und logische Antinomien aus wahren bzw. möglicherweise wahren Urteilen möglich sind
Beginnen wir mit einem Zitat: Betrachten wir die folgende Variante des Lügner-Paradoxes: „Epimenides sagte die Wahrheit, als er sagte, daß er lüge. Also log Epimenides, als er sagte ‚ich lüge‘.“519 Wir können, wenn wir wollen, an der Überzeugung festhalten, daß ein Argument nicht gültig sein kann, wenn die Konklusion der Prämisse widerspricht; und, wenn wir das tun, sind wir gezwungen, einen Fehler im Gedankengang in diesem Beispiel zu entdecken, indem wir z.B. behaupten, daß ‚ich lüge‘ keine echte Aussage sei. Anstelle dieser starren Haltung wäre es jedoch besser zuzugeben, daß es Umstände gibt, unter denen akzeptierte Prozeduren des Schließens unannehmbare Schlußfolgerungen ergeben
519
Hamblin, Fallacies (London: Methuen & Co., 1970), S. 230 (eigene Übersetzung).
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KAPITEL 10 können and daß wir, wenn notwendig, mit dieser Situation zu leben lernen...520
Hier wird ziemlich unkritisch angenommen, daß widersprüchliche Konsequenzen aus möglicherweise oder wirklich wahren Urteilen folgen können. Wie soll das aber möglich sein? Nimmt man eine derartige Möglichkeit an, muß man zunächst die absolute Gültigkeit des Widerspruchsprinzips in Frage stellen. Dieses evidenteste Prinzip, wie Aristoteles es nennt, wird aber überall unweigerlich vorausgesetzt und seine Infragestellung kommt einer Infragestellung der Vernunft überhaupt gleich. Bei Tarski unterbleibt jeder Versuch, die Frage zu prüfen, ob die aufs erste Hinsehen hin möglicherweise wahren Urteile, die den logischen Paradoxien zugrundeliegen, bei näherem Zusehen widersinnig, äquivok oder notwendig falsch sind, sodaß die paradoxen Konsequenzen derselben sich verständlicherweise aus diesem Umstand ergeben, anstatt irgendeine Ungereimtheit der Vernunft mit sich selbst (wie manche Skeptiker aus scheinbaren Antinomien schließen), oder des Realismus (wie Kant)521 oder des Begriffs der Urteilswahrheit als Korrespondenz (wie Tarski), etc. vorauszusetzen. Die Unterscheidung zwischen einem Beweis, der neben der gültigen Schlußform auch wahre Prämissen voraussetzt, und einem logisch gültigen Argument, das nichts beweist, weil seine Voraussetzungen nicht stimmen, unterbleibt.522 Damit hat aber Tarski keine rational begründete Position zum Antinomienproblem vorgelegt. Gegen eine solche irrationalistische Position muß dasselbe eingewandt werden wie gegen das wirkliche Bestehen von echten Antinomien überhaupt. Logische Paradoxien, die in Wirklichkeit bloß aus in sich widersprüchlichen Setzungen folgen, werden hier für wirkliche Antinomien gehalten, was wir als unhaltbar erkennen können. Wie lösen aber wir das Problem der logischen Paradoxien? Wir behaupten, daß alle logischen Paradoxien im engeren Sinne, die wir von 520 521
522
Hamblin, Fallacies, a.a.O., S. 231 (eigene Übersetzung). Vgl. Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant. Hamblin, Fallacies, a.a.O., S. 232.
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(immer nur scheinbaren)523 Antinomien unterscheiden, aus falschen, ja widersinnigen Thesen folgen. Wodurch entsteht dann der Schein logischer Antinomien, der bei einfachen kontradiktorischen Urteilen wegfällt? 1. Der kontradiktorische, widersinnige Sachverhalt wird hier nicht offen ausgesprochen, sondern bleibt verdeckt. Er ergibt sich oft erst aus einer ursprünglich nicht intendierten logischen Radikalisierung der Ausgangsthese. 2. Häufig liegt der logischen Paradoxie ein ursprünglich sinnvoller Satz zugrunde, etwa die Aussage des lügenden Kreters. Diese vernünftige Aussage führt erst dann bei einer ursprünglich nicht vorhergesehenen Annahme (dem sprechenden Kreter selbst als Glied der Klasse, über die die Rede ist) zum paradoxen Widerspruch. 3. Oft wird durch Äquivokationen von Begriffen wie ‚alle Männer‘, durch abstrakte und widersprüchliche Ideen wie die des ‚sich als Glied Enthaltens einer Menge‘, und andere Komplikationen der in solchen Annahmen steckende Widersinn verdeckt. 4. Häufig handelt es sich auch um Positionen wie die Skepsis oder den Relativismus, bei denen die in ihrer notwendigen Falschheit gründende Quelle des Scheins von unausweichlichen Antinomien oder Widersprüchen nicht ohne weiteres offen zutageliegt, sondern erst nach angestrengtem Nachdenken entdeckt werden kann. Eine sorgfältige Analyse zeigt aber, daß hier kein notwendiger Widerspruch einer vernünftigen Annahme oder eines möglichen Sachverhalts vorliegt, sondern ein logischer Widerspruch, der sich streng notwendig aus der in sich und notwendig falschen zugrundeliegenden Annahme (wie „Es gibt keine Wahrheit“, „kein Mensch kann Wahrheit erkennen“, „jemand kann durch eine Lüge das wahre Urteil fällen, daß er lügt“. usf.) ergibt.
523
Vgl. zur Unterscheidung zwischen Aporien, Antinomien und logischen Paradoxen und ihrer Verwendung als termini technici Josef Seifert, „Das Antinomienproblem als ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“; sowie ders., “El problema de las antinomias considerado como un problema fundamental de toda Metafisica: Critica de la ‘Critica de la Razón Pura’”, Revista de Filosofía 3. epoca, vol 6 (1993); traducción de Rogelio Rovira, pp. 89-117, sowie ders., Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant.
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5. Nicht selten ist die Verteidigung logischer Antinomien auch von irrationalen Motiven bestimmt wie dem Wunsch zu zeigen, daß es keine objektive Erkenntnis gibt, was vielleicht aus moralischen Gründen wünschenswert erscheint. Dann können auch die sachlichsten und zwingendsten Aufklärungen gegen die Sophistik solcher Argumente nichts ausrichten.524 2.4.
Sprachtheorie und Logik der Antinomien jenseits von Tarski und Gödel
Im Licht der vorangegangenen Erkenntnisse erweisen sich die Ausführungen Tarskis525 in ihrem Kern als unbegründet.526 Die Idee, daß nur eine jeweils andere Sprache, d.h. eine Metasprache, über eine gegebene Sprache, die Ausdrücke von allgemeinem logischen Charakter enthalte, reden könne, und daß die beiden Sprachen nicht dieselben sein dürften,527 wird damit hinfällig, ebenso wie die Unterscheidung zwischen allgemeinlogischen Axiomen, die zur Grundlegung eines genügend umfangreichen Systems der mathematischen Logik hinreichen, und spezifischen Axiomen der Metasprache.528 Tarski entwickelt eine quasi-mathematische Methode, und zwar in einer Form, die ohne jeden philosophischen Nachweis bleibt und außerdem keinerlei Klärung der logischen Beziehungen zwischen Urteilen als Bedeutungseinheiten und ihren Gegenständen bietet.529 Indem er eine Gödels Lösung ähnliche Position über die Unentscheidbarkeit von Sätzen innerhalb eines Systems entwickelt, ergeben sich Positionen hinsichtlich der Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit deduktiver Systeme, auf die jene Kritiken anzuwenden sind, die auch gegen Gödel gelten.530 Statt in der Metasprache das sogenannte Axiom der Unendlichkeit anzunehmen und dann wieder Metaaxiome für die Meta-Metasprachen, 524 525 526 527 528 529 530
Vgl. dazu Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso. Tarski, S. 278 ff. Ebd., S. 283 ff. A.a.O., S. 285 ff. A.a.O., S. 289. A.a.O., S. 289 ff. A.a.O., S. 300 ff.
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genügt es, in wesensnotwendigen Sachverhalten lückenlose Allgemeinheiten gründen zu sehen, die auf Urteilsgebilde in allen möglichen Sprachen und Metasprachen, seien diese auch unendlich viele, zutreffen müssen, um die Unrichtigkeit der von Tarski statuierten Dichotomie zwischen Sprachen verschiedener Ordnung zu durchbrechen und zu erkennen, daß eine ganz andere Lösung logischer Antinomien gesucht werden muß als die Tarski’sche: 531 nämlich eine sorgfältige Prüfung aller Urteile, aus denen die scheinbaren logischen Antinomien folgen und eine Aufdeckung ihrer Irrigkeit und Widersprüchlichkeit, aus denen weitere antinomische Widersprüche folgen.532 2.5.
Kritik von Tarskis Verwerfung der Adäquationstheorie für Aussagen der normalen Sprache, weil eine solche Theorie zu Antinomien führe
Wir haben gesehen, daß Tarski der Ansicht ist, daß die Bedeutung des Terminus „wahre Aussage“ in der Umgangssprache zwar recht klar und verständlich zu sein scheine, daß aber alle Versuche einer genauen Präzisierung dieser Bedeutung bisher nicht nur erfolglos geblieben seien, sondern daß das Ausgehen von scheinbar evidenten Prämissen bei der Bestimmung des Sinnes von Wahrheit umgangssprachlicher Aussagen oft zu Paradoxien und Antinomien geführt habe.533 Wir haben auch gesehen, daß Tarski die Vermutung aufstellt, der Universalismus der Umgangssprache auf dem Gebiet der Semantik sei die Quelle aller sogenannten semantischen Antinomien, wie der Antinomie des Lügners oder der heterologischen Worte. Wir haben ferner festgestellt, daß Tarski annimmt, diese Antinomien seien ein Beweis dafür, daß sich auf dem Boden jeder 531 532
533
A.a.O., S. 302 f. Zum hier relevanten Unterschied zwischen Aporien (geheimnisvoll-undurchdringliche und anscheinend unverträgliche Zusammenhänge zwischen Leib und Seele, absolutem Sein und Welt usf.), (immer nur) scheinbaren Antinomien, die sich als im Wesen der Dinge und wahrer Urteile gründende Widersprüche darstellen, und logischen Paradoxien, das sind Widersprüche, die sich aus künstlichen und nur auf den ersten Blick sinnvollen, in Wirklichkeit falschen und widersprüchlichen Annahmen und Äquivokationen ergeben, vgl. Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Tarski, S. 264 f.
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Sprache, welche im obigen Sinne universal wäre und für welche hierbei die normalen Gesetze der Logik gelten sollten, ein Widerspruch ergeben müsse.534 Wir haben ferner ausgeführt, daß Tarski aus dieser Überlegung heraus die weitestgehenden Konsequenzen zieht, indem er zur Überzeugung gelangt, daß keine widerspruchfreie Sprache existieren könne, für welche die gewöhnlichen Gesetze der Logik gelten und die zugleich Aussagen über sich selbst machen könne. So gelangt Tarski zur weiteren Konsequenz, daß durch seine angeblichen Entdeckungen die Möglichkeit eines widerspruchsfreien und dabei mit den Grundsätzen der Logik und dem Geist der Umgangssprache übereinstimmenden Gebrauchs des Ausdrucks „wahre Aussage“ und die Möglichkeit des Aufbaus irgendeiner korrekten Definition dieses Ausdrucks in Frage gestellt sei. In allen diesen Punkten gelangten wir zu einem radikal verschiedenen Ergebnis. Das Auftauchen der Lügnerantinomie hat demnach schlechthin nichts damit zu tun, daß die Umgangssprache und die Grundgesetze der Logik nicht auch zugleich Aussagen über diese Logik wären oder nicht auf sie angewendet werden dürften, was evidenterweise der Fall ist, bzw. daß die Umgangssprache keine Urteile kenne, die schlechthin universal und daher auch für sie selbst gültig sind. Wir müssen vielmehr zwei völlig von Tarskis angenommenen Wurzeln verschiedene Wurzeln der Lügnerantinomie identifizieren. Denn: 1. Einmal sind Aussagen über Wahrheit oder Falschheit eines Urteils wesensnotwendig in ganz bestimmtem Sinne sinnleer, wenn sie kein zweites Urteil zum Gegenstand haben, von dem sie Wahrheit oder Falschheit aussagen. 2. Zweitens erhebt sehr wohl jedes Urteil schlechthin einen Wahrheitsanspruch und impliziert also ein zweites Urteil, das die Wahrheit des ersten behauptet. In diesem Sinne spricht jedes Urteil über sich selbst, d.h. es behauptet implizit seine eigene Wahrheit. Man könnte dies so zum Ausdruck bringen, daß jedes Urteil aussagt „‚S ist P‘ (=x), und x ist wahr.“ 3. Eine solche Wahrheitsaussage über sich selbst, wie sie in jedem Urteil enthalten ist, führt zu keinerlei Widersprüchen, im Gegenteil: ein Urteil, das seinen eigenen Wahrheitsanspruch suspendieren wollte, wäre
534
A.a.O., S. 278.
Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien
485
widersinnig, es verlöre den Charakter eines Urteils, oder es würde zugleich einen Sachverhalt behaupten und ihn auch wieder nicht behaupten. 4. Ebensowenig folgen die Antinomien wie jene des Lügners daraus, daß die allgemeinen Gesetze der Logik, etwa der Satz vom Widerspruch, auf das Urteil selbst anwendbar sind, das solche Gesetze zum Ausdruck bringt, wie etwa daß der Satz vom Widerspruch von diesem selbst gilt. Dies ist ganz im Gegenteil notwendig der Fall, da es sich hier um ein wesensnotwendiges Gesetz aller Urteile überhaupt und damit auch des eigenen handelt. Nichts davon gibt zu irgendeiner Antinomie Anlaß, wie Tarski annimmt. 5. Wir können vielmehr erkennen, und diese Erkenntnis setzt sogar das implizierte Wahrheitsurteil jedes Urteils und die Möglichkeit der Anwendung universaler logischer Gesetze auf jedes Urteil voraus, daß ein Urteil, das seine eigene Falschheit behauptet, in besonderem Sinne widersprüchlich ist, und daß sich aus ihm antinomische Konsequenzen ableiten lassen. Denn das Urteil des Kreters „alle Kreter lügen immer“, sagt durch die Vermittlung eines allgemeinen Sachverhalts hindurch die Falschheit des eigenen Urteils aus. Darin liegt jedoch notwendig der Widerspruch, daß dieses Urteil als Urteil notwendig Wahrheit für sich beansprucht, diesen Anspruch aber zugleich durch den Inhalt des Urteils wieder aufhebt. Es behauptet deshalb zugleich, wahr und falsch zu sein, was absurd ist. Deshalb können kontradiktorische Konsequenzen von ihm abgeleitet werden, was keinerlei Antinomie darstellt, sondern eine vollkommen einleuchtende Folge des notwendig falschen und widersprüchlichen Urteils ist, aus dem die kontradiktorischen Folgerungen abgeleitet werden. 6. Die Quelle dieses Widerspruchs liegt in einer widersinnigen und widersprüchlichen Annahme, die wesenhaft nicht wahr sein kann, sowie im Wesen der Wahrheit bzw. der Falschheit. Es ist schlechthin widersinnig, daß ein Urteil gefällt wird, in dem zugleich die eigene Falschheit behauptet wird oder daß der Kreter, indem er lügt, die Wahrheit sagt. Die hier liegende Antinomie des Lügners hat schlicht darin ihren Grund, daß in der Aussage des Lügners eben dieser in sich unmögliche und widersprüchliche Sachverhalt gesetzt wird, der auf Grund seiner Widersprüchlichkeit schlechthin nicht bestehen kann: nämlich die Wahrheit eines Urteils, in dem die Falschheit dieses selben Urteils ausgesagt wird. Sicher kann der Lügner von anderen Urteilen, die er gefällt hat, sinnvoll Falschheit
486
KAPITEL 10
aussagen, aber unmöglich von jenem Urteil selbst, in dem er seine Lüge zugesteht. Daß die hier liegende Antinomie nicht darin ihren Grund haben kann, daß kein Urteil über sich selbst eine Aussage implizieren könne, geht schon aus dem nicht genug oft zu wiederholenden Sachverhalt hervor, daß jedes Urteil notwendig ein Urteil über die eigene Wahrheit impliziert oder daß für es das Widerspruchsprinzip Gültigkeit besitzt. Daraus ergibt sich offenkundig schon deshalb kein Widerspruch und keine Antinomie, weil sonst jedes Urteil überhaupt antinomisch sein müßte. Das Lügner-Paradox und viele ähnliche Paradoxien ergeben sich, im Gegensatz zu ihrer Tarski’schen Erklärung, aus der erwähnten und leicht durchschaubaren, in sich absurden und unmöglichen Konstruktion der wahren Aussage, die ihre eigene Falschheit mitteilt. Um dieses Paradox als solches zu analysieren und zu vermeiden, muß also die besondere Natur des Urteils einerseits, das notwendig Wahrheit für sich beansprucht, und der Aussage der Falschheit andererseits, im Blick behalten werden, wobei außerdem zu beachten ist, daß die einfache Feststellung „ich lüge“ nicht einmal die prinzipiellen Bedingungen rein logischer Grammatik für Aussagen über Falschheit des eigenen Urteils erfüllt. Aufgrund unserer Ergebnisse hinsichtlich der Kritik der semantischen Wahrheitsdefinition Tarskis und seiner versuchten Lösung des Antinomienproblems kommen wir auch zur Erkenntnis, daß Tarskis Meinung, „die Sprache der allgemeinen Theorie der Wahrheit enthält genau aus denselben Gründen wie die Umgangssprache einen Widerspruch“535 als schlechthin unbegründete Folgerung bezeichnen müssen. Eine allgemeine Theorie der Wahrheit und auch der Wahrheit aller Urteile, die auf allen metasprachlichen Ebenen existieren, führt zu keinerlei Widerspruch. Zu solchen Irrtümern gelangt Tarski aufgrund eines Mangels an sachlicher phänomenologischer Untersuchung des Wesens der Wahrheit.
535
A.a.O., S. 389.
Alfred Tarskis Philosophie der Wahrheit und verwandte Wahrheitstheorien
487
3. Abschliessende Bemerkungen Im Lichte der Kritik der semantischen Wahrheitsdefinition Tarskis und seiner versuchten Lösung des Antinomienproblems müssen wir auch seine radikale Auseinanderreißung von Sprache-Metasprache-Metametasprache, usf. kritisieren. Zunächst einfach deshalb, weil die Wurzel dieser Theorie bei Tarski, nämlich daß sich nur auf ihrem Wege die Antinomien und logischen Paradoxien vermeiden ließen, sich als unbegründet bzw. nichtbestehend erwiesen hat. Dabei wird selbstverständlich nicht die bereits von Augustinus hervorgehobene Tatsache geleugnet, daß es Aussagen, Aussagen über diese Aussagen, Aussagen über die Aussagen über Aussagen, usf. und in diesem Sinn Sprachen zweiter, dritter oder n’ter Ordnung geben kann.536 Insgesamt ergibt sich als Ergebnis unserer Untersuchung, daß der große Erfolg der Wahrheitstheorie Tarskis nicht auf der Qualität seiner philosophischen Aufklärung des Wesens der Wahrheit beruht, sondern eher umgekehrt von einem zwar originellen und praktisch bedeutsamen, aber in weiten Teilen vom tieferen Wesen der Dinge absehenden Verständnis der Wahrheit, das zwar zu einem großen Aufschwung der Computerwissenschaften und anderer Anwendungsbereiche formalisierter Sprachen geführt hat, aber weder eine fundierte philosophische Wahrheitstheorie noch eine korrekte philosophische Lösung der Frage nach Ursprung und Überwindung der Antinomien bietet. Gerade in der Auseinandersetzung mit Tarskis Philosophie der Wahrheit aber zeigt sich uns aufs neue die grundlegende und unentbehrliche Rolle der Urteilswahrheit als eines Urphänomens, nämlich eines einmaligen Zusammentreffens der urteilsmäßigen Setzung mit dem Selbstverhalten der Sachen und Sachverhalte.
536
A.a.O., S. 352 ff.
KAPITEL 11 OBJEKTIVISMUS IN DER WISSENSCHAFT UND POPPERS THEORIE DER WAHRHEIT UND PHILOSOPHISCHER RATIONALITÄT.537
Poppers Ausführungen über Wahrheit, und zwar nicht nur über Erkenntniswahrheit, sondern auch über Urteilswahrheit, stehen in engstem Zusammenhang mit seiner Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Logik. Im folgenden sollen deshalb – im Rahmen einer Darstellung und kritischen Untersuchung von Hauptpunkten der ‚evolutionären Erkenntnistheorie‘ Poppers – einige Grundprobleme der Erkenntnis- und Wahrheitstheorie entwickelt werden.538 Dabei werde ich Poppers Wissenschaftstheorie nur im Hinblick auf deren allgemeinste erkenntnistheoretische Grundlinien behandeln und von vielen anderen Aspekten seiner Philosophie konkreter wissenschaftlich-philosophischer Probleme absehen. (Man denke etwa an seine ausgezeichnete Kritik eines Dogmatismus und ideologischen Denkens, die sich von jeder Kritik abschirmen und den Gegner verteufeln, ohne dessen Einwände ernstzunehmen, oder an seine mit Eccles unternommene Kritik der kybernetischen Ideologie und des Materialismus der psychophysischen Identitätstheorie. Auf diese bedeutsame ‚konkrete‘
537
538
Dieses Kapitel erwuchs aus Ausführungen, die ursprünglich im Rahmen eines von der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und vom unter der Leitung von N. Leser stehenden L. Boltzmann-Institut, Aussenstelle Vorarlberg, gemeinsam veranstalteten Symposiums ‚Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers: Kritischer Rationalismus im Dialog‘ (26.-29.X. 1989) auf Schloß Hofen gehalten wurden und inzwischen erschienen sind. Josef Seifert, „Objektivismus in der Wissenschaft und Grundlagen philosophischer Rationalität. Kritische Überlegungen zu Karl Poppers Wissenschafts-, Erkenntnis- und Wahrheitstheorie“, in: N. Leser, J. Seifert, K. Plitzner (Hrsg.), Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers: Kritischer Rationalismus im Dialog, S. 31-74; und „Diskussion“, S. 75-82. Vgl. Karl R. Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach (Oxford, Clarendon Press, 1972). Deutsche Übersetzung: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf (Zürich: Buchclub ex Libris, 31985). Deutsche Übersetzung (nach 4. verb. und erw. Aufl. des englischen Originals). Vgl. auch Herbert Keuth, Die Philosophie Karl Poppers (Mohr-Siebeck: Tubingen, 2000).
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KAPITEL 11
Seite der Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie Poppers bin ich andernorts eingegangen.)539 I. GRUNDLINIEN DER EPISTEMOLOGIE UND WAHRHEITSTHEORIE K. POPPERS
1. Kritik der Induktion und jeder Allgemeinerkenntnis – Ist Popper der Befreier vom Positivismus des Wiener Kreises oder positivistischer als die von ihm kritisierten Positivisten? Mit D. Hume540 unterscheidet Popper zwischen einem logischen und einem psychologischen Problem der Induktion. Hinsichtlich des logischen Problems (d.h. der Berechtigung des erkenntnismäßigen Übergangs von Erfahrung des Einzelnen zu begründeten Allgemeinaussagen) stimmt Popper Hume zu, daß ein solcher Übergang nicht zu rechtfertigen sei, und zwar weder in Form begründeter assertorischer oder apodiktischer Aussagen über Universalien noch in Gestalt rational begründbarer problematischer oder wahrscheinlicher Aussagen.541 Das psychologische Problem, das Hume durch ‚erfahrungsmäßige Gewohnheit‘ (‘habit’ oder ‘custom’ of experience)542 lösen möchte, ist die Frage nach dem Grund der für den Menschen unausweichlichen Annahme allgemeiner Gesetze aufgrund der Erfahrung. Hinsichtlich dieses Punktes ist es schwer, zu einer klaren Meinung über Poppers Position zu gelangen, weil es dazu bei Popper sehr verschiedene Aussagen gibt. So zitiert er Russell,543 der den radikalen Skeptizismus als Konsequenz des Hume’schen Empirismus und die daraus resultierende Unmöglichkeit hervorhebt, wahnsinnige Annahmen von normalen zu unterscheiden, bzw. 539
540 541 542 543
Vgl. J. C. Eccles und K. P. Popper, The Self and Its Brain (Berlin/Heidelberg/London/New York: Springer-Verlag International, 1977/ corrected printing 1981). Vgl. auch Seifert, Das Leib-Seele Problem und die gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine kritisch-systematische Analyse, S. 180-214. Popper, Objective Knowledge, 3 ff. Ebd., 7. Ebd., 4. Ebd., 5.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 491
an einem Kriterium vernünftiger Annahmen festzuhalten, wenn es keine begründeten synthetischen544 Allgemeinurteile gibt. Popper lehnt diese von Russell – wie ich meine mit vollem Recht – behaupteten Konsequenzen der Hume’schen Induktionslehre ab,545 obwohl er mit Hume jedes positive, durch Induktion oder Intuition gewonnene, Ergebnis über Universalien verwirft. Wenn aber das Problem der logischen Rechtfertigung der Induktion negativ beantwortet wird und doch ein unvermeidlicher Hang zu Allgemeinurteilen im Menschen besteht, müssen dann nicht Psychologie und Logik der Induktion radikal von einander abweichen? Um diese logische Konsequenz aus seiner Position zu vermeiden, behauptet Popper ein ‘principle of transference’, kraft dessen gelte: „Was in der Logik gilt, gilt auch in der Psychologie.“546 Er erklärt dieses Prinzip nicht weiter und sagt von ihm: „Ich gebe zu, daß dies auf dem Gebiet der Psychologie des Denkens und der Denkprozesse eine etwas gewagte Vermutung ist.“547 Da der Sinn dieses von Popper behaupteten Prinzips der „Isomorphie zwischen Logik und Psychologie“ unklar bleibt, ist es auch unmöglich, seinen Sinn klar darzulegen. Eine solche ‚Isomorphie‘ muß aber wohl wenigstens implizieren, daß den logischen Gesetzen auch psychologische exakt entsprechen und umgekehrt, daß die logischen Gesetze die psychologischen beherrschen. Oder heißt dieses ‚Gesetz der Isomorphie‘ sogar mehr, nämlich daß die logischen Gesetze – etwa die Gesetze folgerichtiger Schlüsse – auch Gesetze des Denkens, Denknotwendigkeiten sind, wie sie die von Husserl kritisierte psychologistische Logik auffaßte?
544
545 546 547
Dieser Terminus wird hier nicht im spezifisch kantischen Sinne gebraucht, sondern meint einfach informative, d.h. nicht-analytische, nicht-tautologische Urteile (Sätze), in denen der Prädikatbegriff des Urteils zur Definition des Subjektbegriffs etwas hinzufügt. Vgl. dazu Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, aus dem Engl. übers. v. Fritz Wenisch, in: Hildebrand, Gesammelte Werke, Bd. I (Regensburg/Stuttgart: Habbel/Kohlhammer, 1976); Che cos’è la filosofia?/What Is Philosophy?, Kap. 4; Fritz Wenisch, ‘Insight and Objective Necessity. A Demonstration of Propositions Which are Simultaneously Informative and Necessarily True’, 107-197, Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis, II. Teil. Popper, Objective Knowledge, 5. Sir Karl Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 6. Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 6.
492
KAPITEL 11
Wie läßt sich diese von Popper behauptete ‚Isomorphie zwischen Logik und Psychologie‘ in irgendeinem vernünftigen Sinn mit seiner Rede von ‚unlogischen‘ Gründen für psychologische Meinungen über allgemeine Beschaffenheiten der Dinge vereinbaren? Zeigen nicht gerade psychologische Eigengesetze und unlogische Gründe psychischer Akte, daß keine Isomorphie zwischen Logik und Psychologie herrscht? Popper selbst führt insbesondere die folgenden irrationalen Gründe für Allgemeinaussagen an: 1. Rein biologische Gründe und ‚ein-‚ bzw. ‚angeborene Dispositionen‘548; 2. Rein kulturelle bzw. historische Gründe.549 Auch scheint Popper unter die angeborenen und irrationalen psychologischen Gründe für Meinungen über Universalien 3. einen irrationalen Hang zu dogmatischen Annahmen zu rechnen, den er sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen gefunden habe.550 Darf Popper unter diesen Annahmen eine ‚Isomorphie zwischen Logik und Psychologie‘, zwischen dem logischen und psychologischen Induktionsproblem behaupten? Müßte er unter dieser Voraussetzung nicht folgerichtig mit Hume eine skeptisch-irrationale Erklärung der Annahme des Allgemeinen und eine Divergenz zwischen der Antwort auf das logische und jener auf das psychologische Induktionsproblem vertreten, was er an anderen Stellen auch tut, mit der Konsequenz, daß es innerhalb aller induktiv erschlossenen Sachverhalte gar keine Wahrheit oder wenigstens keinen berechtigten Wahrheitsanspruch gibt? Poppers Ansichten über das Verhältnis zwischen Logik und Psychologie des Induktionsproblems scheinen daher unklar und widersprüchlich zu sein. Induktion als logisches Problem wird von Popper zunächst in zwei Fragen aufgespalten, von denen er auf die erste (nach Verifizierbarkeit) eine verneinende Antwort gibt, während er die zweite, die er in Form einer disjunktiven Frage faßt, bejahend beantwortet: Läßt sich die Behauptung, eine erklärende allgemeine Theorie sei wahr, mit „empirischen Gründen“ rechtfertigen, das heißt dadurch, daß man
548 549 550
Ebd., 67, 71 (Anm.), 72 f., etc. Z.B. ebd., 126-144. Ebd., 24.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 493 bestimmte Prüfaussagen oder Beobachtungssätze (die „auf der Erfahrung beruhen“) als wahr annimmt?551
Diese Frage verneint Popper. Hingegen stellt er eine andere Frage: Läßt sich die Behauptung, eine erklärende allgemeine Theorie sei wahr oder sei falsch, mit „empirischen Gründen“ rechtfertigen? Das heißt, kann die Annahme, bestimmte Prüfaussagen seien wahr, entweder die Behauptung rechtfertigen, eine allgemeine Theorie sei wahr, oder die Behauptung, sie sei falsch?552
Auf diese Frage gibt Popper eine bejahende Antwort (obwohl er die induktive Erkennbarkeit allgemeiner universaler Sachverhalte leugnet), weil er die Falsifizierbarkeit allgemeiner erklärender Theorien lehrt553. Also löst Popper die logische Frage der Induktion rein negativ, indem er bloß die Falsifizierbarkeit allgemeiner Thesen durch Erfahrung, nicht aber deren mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit erreichbare empirische Verifizierbarkeit anerkennt.554 Auch hier legen allerdings seine Termini einer ‚bewährten Hypothese‘ und der ‚verisimilitude‘ (dessen normale lexikale Übersetzung Wahrscheinlichkeit ist) nahe, daß Popper dennoch so etwas wie Wahrscheinlichkeit annimmt, wenn er auch diese Übersetzung bzw. diese philosophische Deutung ablehnt. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß Poppers Idee der Falsifizierung den klassischen Korrespondenzbegriff der Urteilswahrheit enthält. Denn eine allgemeine Theorie oder Aussage zu falsifizieren, hat bei Popper den Sinn, daß sie nicht mit den objektiv bestehenden Tatsachen übereinstimmt, also im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht wahr ist. Diese Verteidigung der Korrespondenztheorie der Wahrheit findet sich auch bei vielen seiner Anhänger, etwa den kritischen
551 552
553 554
Ebd., 7. Ebd., 7 (Die Hervorhebung des entweder und des oder fügte ich der Klarheit wegen hinzu.) Ebd., 8 ff. Zur radikal negativen Lösung des Induktionsproblems bei Popper und Hume und der gleich negativen Lösung des Problems der Induktion und jeder wahrscheinlichen oder gewissen Allgemeinerkenntnis vgl. insbesondere Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Deutsche Übersetzung (nach 4. verb. und erw. Aufl. des englischen Originals), 86-92.
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KAPITEL 11
Rationalisten Hans Albert und anderen.555 Da Popper nicht zwischen den von Pfänder unterschiedenen vier Arten von Allgemeinaussagen unterscheidet: a) Aussagen über alle Fälle, also strenge Art- und Gattungsurteile sowie universale Urteil über alle Individuen einer bestimmten Gruppe oder Art, b) Aussagen über den Normalfall; c) Aussagen über einen Durchschnittswert, d) Aussagen über einen Idealfall, sieht er auch nicht, daß die Wahrheit der Allgemeinurteile b-d keineswegs durch Feststellung eines abweichenden Einzelfalls widerlegt werden kann: daß die menschlich Hand fünf Finger hat, wird nicht durch die Entdeckung eines sechsfingrigen Menschen falsifiziert. Die Aussage über die Durchschnittsgröße einer Frau im Verhältnis zum Mann wird nicht durch eine Riesin widerlegt. Das Idealurteil, daß die ideale, reine Liebe jene Merkmale hat, die Paulus ihr in seinem Hohenlied der Liebe (1 Kor. 13: 1-13) zuschreibt oder die wir einsichtig erkennen, wird nicht dadurch falsifiziert, daß keines Menschen Liebe alle diese Merkmale in ihrer Reinheit besitzt. Popper scheint weder einsichtige Wahrheiten über strikt allgemeine und notwendige Wesenheiten noch induktive Erkenntnisse über Arten und Gattungen „im Normalfall“ als Fundament wahrer Allgemeinaussagen anzuerkennen. Als Konsequenz seiner Behauptung der Unhaltbarkeit der ‚klassischen‘ Verifizierungstheorie des Wiener Kreises ist Popper in diesem Punkt noch positivistischer als die Positivisten, weil er uns noch 555
Vgl. dazu N. Leser, J. Seifert, K. Plitzner (Hrsg.), Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers: Kritischer Rationalismus im Dialog, sowie Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft. Vgl. auch Herbert Keuth, Die Philosophie Karl Poppers; sowie Wikipedia, „Karl Popper“: http://de.wikipedia.org/wiki/Karl Popper; und Hans Albert, „Varianten des Kritischen Rationalismus“, in: Jan M. Böhm, Heiko Holweg, Claudia Hoock (Hrsg.): Karl Poppers kritischer Rationalismus heute. Zur Aktualität kritisch-rationaler Wissenschaftstheorie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2002), S. 3–22, sowie Bernwald Gesang, Wahrheitskriterien im Kritischen Rationalismus. Ein Versuch zur Synthese analytischer, evolutionärer und kritischrationaler Ansätze (Amsterdam/Atlanta, GA: Rodopi, 1995) Schriftenreihe zur Philosophie Karl R. Poppers und des Kritischen Rationalismus (Series in the Philosophy of Karl R. Popper and Critical Rationalism, Bd. 7.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 495
mehr als diese auf Einzelbeobachtungen zurückverweist und jede echte Allgemeinerkenntnis ausschließt, selbst die durch Induktion. Denn Popper lehnt nicht nur cartesische oder phänomenologische Evidenzen über strenge Allgemeinheiten und notwendige Wesenheiten ab, sondern auch jede empirische Allgemeinerkenntnis, die in irgendeinem Sinn verifizierbar oder empirisch wahrscheinlich gemacht werden könnte. Er reduziert Allgemeinerkenntnisse auf so etwas wie ‚noch nicht widerlegte Hypothesen, die allen bisherigen Falsifizierungsversuchen standgehalten haben‘. Er versteht sich jedoch als Nicht-Positivisten, paradoxerweise zum Teil eben deshalb, weil er die im Positivismus in seinen früheren Formen noch enthaltene positive Beziehung zu allgemeinen Aussagen verwirft. Man könnte ihn aus dem nämlichen Grund als radikaleren Positivisten bezeichnen. Dabei ist hinsichtlich der Frage des Positivismusstreits556 selbstverständlich entscheidend, was mit ‚Positivismus‘ gemeint wird. Wir unterscheiden drei Bedeutungen dieses Terminus: 1. In einem ersten Sinn des Ausdrucks nimmt man als ‚Positivist‘ die alleinige Rolle der Sinneswahrnehmung und psychologischen Individualerfahrung als ‚erkenntnisbegründend‘ an, sei es positiv (wie die Mitglieder des Wiener Kreises, die an Induktion glaubten), sei es negativ im Sinne der Basissätze und Beobachtungen, die dann nur als Widerlegungen hypothetisch angesetzter Allgemeinheiten in Betracht kommen. In diesem Sinne ist Popper gleichermaßen wie die Mitglieder des Wiener Kreises Positivist, mit dem Unterschied, daß er einerseits die erkenntnisbegründende Rolle der Beobachtung nur negativ im Sinn der Falsifizierung zuläßt und daß er andererseits toleranter ist und nicht alle durch Beobachtung weder verifizierbaren noch falsifizierbaren Theorien wie Metaphysik mit Carnap für sinnlose Sätze, sondern nur für reine, aber zulässige Hypothesen hält. Nimmt man also Carnaps und anderer Mitglieder des Wiener Kreises als 556
Vgl. Dazu Theodor W. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. 6. Aufl., (Darmstadt/Neuwied: Luchterhand, 1978; sowie: Frankfurt am Main: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1993); auch H.-J. Dahms, Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, (Frankfurt a.M. Suhrkamp, 1994): sowie Wikipedia, „The Positivism Debate“: http://en.wikipedia.org/wiki/Positivism dispute; und http://de.wikibooks.org/wiki/Studienf%C3%BChrer Hans Albert: Positivismusstreit.
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Position der „Positivisten“, ist Popper in dieser doppelten Hinsicht kein Positivist. Besteht hingegen Positivismus (wie schon der Empirismus) darin, daß das Erkenntnissubjekt ganz auf die Einzelbeobachtung und Sinneswahrnehmung zurückgeworfen ist ohne eigentlichen erkenntnismäßigen Zugang zu Universalien, es sei denn höchstens in Form reiner und letztlich unverbindlicher Hypothesen, ist Popper ein radikalerer Positivist als die Anhänger des Wiener Kreises und andere logische Positivisten.557 2. Wenn man den Positivismus hingegen nicht vom Standpunkt seiner Einschränkung menschlicher Erkenntnis auf Sinnesdaten und Sinnesbeobachtungen aus betrachtet, sondern vom Standpunkt seiner Ausdehnung ‚positiver‘ Erkenntnis auf induktive Allgemeinheiten, wenn man ihm also die Meinung zuschreibt, das Allgemeine selbst lasse sich induktiv verifizieren und sei gewissermaßen sinnlich gegeben, bzw. man könne auf Grund einer Reihe individueller Wahrnehmungen und Tests zu positiven Sätzen und Sicherheiten über das Allgemeine gelangen, gehört Popper gerade nicht zu den Positivisten. Ja er kritisiert diese gleichsam noch als ‚Metaphysiker des Allgemeinen‘, die dem Mythos der induktiven Erkennbarkeit von Universalien erliegen. 3. Wenn man unter ‚Positivismus‘ schließlich den dogmatischen Kampf gegen alle nicht durch Sinnesbeobachtung verifizierbaren Theorien und Sätze meint, die als sinnlos abgetan werden sollen, ist Popper nicht Positivist, da er ja gerade alle möglichen Arten von Theorien zuläßt, selbst solche ohne empirischen Gehalt, die nicht einmal empirischer Falsifikation gegenüber offenstehen. Ja er erkennt, daß Hume und die Positivisten unter ihren intoleranten Voraussetzungen die eigenen Werke als sinnlos erkennen oder gar verbrennen müßten, da in diesen viele Elemente wie Theorien, logische Gesetze usf. vorkommen, die weder analytisch noch
557
Als positivistisch deuten seine Philosophie auch andere Autoren. Vgl. etwa G.H. v. Wright, Erklären und Verstehen. Vgl. auch K.R. Popper, ‚Die Logik der Sozialwissenschaften,‘ in: Th. Adorno/H. Albert u.a., hrsg., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, S. 105. Der durch Positivismus geprägte Methodenmonismus, demnach die Methode aller Wissenschaften darauf hinausläuft, „Lösungsversuche für ihre Probleme kritisch auszuprobieren“ (siehe Dragan Jakowljewitsch, „Die Frage nach dem methodologischen Dualismus der Natur- und Sozialwissenschaften und der Standpunkt kritischer Rationalisten“, 111.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 497
empirisch-synthetisch sind, die also nicht ihrem Verifikations- und Sinnkriterium unterliegen. Die Komplexität seiner Position erkennt man wiederum daraus, daß Popper die Gültigkeit allgemeiner Aussagen keineswegs völlig leugnet, sondern diesen die folgenden verschiedenen positiven Momente zuerkennt: 1. Selbst empirisch nicht verifizierbare oder falsifizierbare allgemeine Aussagen erfüllen die positive Rolle heuristischer Fiktionen bzw. Modelle, die dem Finden, Inspirieren und der Voraussage empirischer Resultate dienen. (Damit berühren wir wieder den dritten Grund, aus dem heraus Popper sich nicht für einen Empiristen oder Positivisten hält.) 2. Allgemeine positive Aussagen haben eine weitere positive Funktion, indem sie dem auf Widerlegung von Annahmen abzielenden Wissenschaftsbetrieb als Zielscheibe der Kritik und Ansporn zur Falsifizierung dienen. 3. Im Gegensatz zu dem, was die Punkte 1 und 2 erwarten lassen, nimmt Popper auch an, daß allgemeine Aussagen auf Wahrheit, auf Annäherung an die Wahrheit abzielen und eine verisimilitude erreichen können, die sich durch ‚logische Wahrscheinlichkeit‘ ausdrücken lasse.558 Auf den von seinem eigenen Assistenten David Miller scharf kritisierten und von Popper im Lichte dieser Kritik deutlich modifizierten, ja teilweise aufgegebenen Begriff der Wahrheitsnähe werden wir zurückkommen. Diesen für Poppers Gesamttheorie kaum völlig eliminierbaren und einflußreichen Begriff der Wahrheitsnähe und der verisimilitude (approximation to the truth)559 muß Popper mit seiner oben erwähnten Verwerfung der Möglichkeit wahrscheinlicher Aussagen über Allgemeines und seiner Zurückweisung positiver Induktion und rationaler Intuition in Einklang zu bringen suchen. 558 559
Sir Karl Popper, Objektive Erkenntnis, 58 ff. 44 ff. In der deutschen Übersetzung (ebd., 58 ff., 44 ff.) wird der Ausdruck ‚Wahrheitsähnlichkeit‘ verwendet, der eigentlich eine andere Bedeutung hat und überhaupt einen seltsamen Begriff zum Ausdruck bringt, der an sich nur von Poppers gleich noch zu erörternder Deutung des Wahrheitsgehalts, der sich aus der Zahl wahrer Urteile und Urteilsklassen (T1, T2, etc.), die aus einer Allgemeinaussage logisch folgen, ergeben soll, verständlich wird. Wenn diese unendliche ‚Aufteilung‘ der Wahrheit als unangemessene Theorie verworfen wird, haben auch die Ausdrücke der Wahrheitsähnlichkeit und der Annäherung an die Wahrheit keinen Sinn mehr. Dann kann ein Urteil nur wahr oder falsch sein, wenngleich auch falsche Urteile viele wahre implizieren mögen.
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2. Poppers originelle Wahrheitstheorie als Verbindung der Tarski‘schen Version der Adäquationstheorie mit einer neuen Theorie der Wahrheit allgemeiner Aussagen Popper versucht dies durch eine neuartige Theorie der Wahrheit allgemeiner Aussagen in der folgenden originellen Weise.560 Er verbindet zwei Tarskische Begriffe, den der Wahrheit eines Satzes (proposition) und den des logischen ‚Gehalts‘ (content) eines Universalsatzes, den er wiederum im Lichte des ebenfalls Tarski‘schen Begriffes der ‚Folgerungsmenge‘ versteht.561 Wahrheit wird dabei im herkömmlichen Sinn der Adäquationslehre gedeutet. Der Satz ‚die Sonne scheint‘ ist dann und nur dann wahr, wenn die Sonne scheint, wenn die Aussage in Einklang mit den Fakten steht.562 Unter dem Begriff des ‚Inhalts‘ (content) einer Aussage, den man präziser bestimmen könnte, versteht Popper den logischen Gehalt (Inhalt) der Aussage selbst plus denjenigen der in dieser logisch enthaltenen Sätze. Aus beiden Elementen der Tarski‘schen Urteils- und Wahrheitstheorie bildet er den Begriff eines ‘truth-content’ und den eines ‘falsity-content’ allgemeiner Aussagen. Unter dem Wahrheitsgehalt einer allgemeinen These versteht er dann nicht die Wahrheit dieser allgemeinen These als solcher, also deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Vielmehr interpretiert er die Wahrheitsannäherung von Allgemeinaussagen, ja deren Wahrheit selbst nur im Hinblick auf die Gesamtheit der Singulärsätze, die sich logisch aus dem Inhalt einer allgemeinen Theorie ergeben und deren Wahrheit man prinzipiell feststellen kann. Ein allgemeines Urteil nähert sich nach dieser Auffassung in dem Maße asymptotisch der Wahrheit an, in dem die Klasse T1 aller wahren Urteile, die sich logisch aus dem Allgemeinurteil T ergeben, die Klasse T2 der aus T folgenden falschen Urteile und auch die wahren Urteile T3, die sich aus anderen allgemeinen
560 561
562
Sir Karl Popper, Objektive Erkenntnis,, 47 ff., 52 ff. Vgl. Karl R. Popper, “A Note on Tarski’s Definition of Truth”, Mind, (1955); 64: 388-391. Vgl. auch Luis Fernandez Moreno, “Tarskian Truth and the Correspondence Theory”, cit. Vgl. Popper, Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge (London: Routledge and Kegan Paul, 1963), 27.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 499
Theorien X,Y über denselben Gegenstand ergeben, anzahlmäßig übertrifft.563 Durch diesen Begriff des Wahrheitsgehaltes, der mit einer sehr numerisch-quantitativ gedachten ‚Annäherung‘ an Wahrheit unzertrennlich verknüpft ist,564 meint Popper etwa, zeigen zu können, daß Einsteins Theorie der Wahrheit näher kommt als Newtons Physik, weil sie die Vorhersage einer größeren Anzahl wahrer Einzelfakten erlaubt als die ‚klassische Physik‘. Eine Theorie ist umso kühner und damit auch umso riskanter, je größer ihr Inhalt ist (d.h., je mehr einzelne Fakten und Gesetzmäßigkeiten aus ihr folgen). Dann wird im Idealfall ihr Wahrheitsgehalt ebenfalls größer sein, es kann aber auch sein, daß ihr Falschheitsgehalt größer ist. Popper führt im Kontext dieser Theorie verschiedene neue Ideen und Begriffe ein, wie den der ‚interessanteren‘ und ‚weniger interessanten‘ Wahrheit,565 wobei hier auch ‚falsche Thesen‘ (wie Newtons Physik, von der Popper dies annimmt) interessantere und ‚bessere Wahrheiten‘ (d.h. Approximationen an Wahrheit) sein können als wahre Aussagen, aus denen nichts Wichtiges folgt. Schon in Logik der Forschung vertritt Popper eine ähnliche Position.566 Dahinter steht gewiß ein echtes Problem, das auch nicht ausschließlich Popper zugeordnet werden darf, sondern das sich für jeden wissenschaftlichen Realismus stellt. Wenn man z.B. berechtigterweise mit Popper annimmt, daß die Einstein‘sche Relativitätstheorie mit der Newton‘schen Konzeption von Raum und Zeit schlechthin unvereinbar ist (schon wegen der mit beiden Theorien verbundenen euklidischen und nicht-euklidischen geometrischen Annahmen), und daß entweder Einsteins Theorie oder Newtons wahr ist, dann muß die gegenteilige Auffassung falsch sein. Wenn man ferner annimmt, wie Popper,567 daß Einsteins Theorie wahr ist, 563
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567
Vgl. Auch Herbert Keuth, “Verisimilitude of the Approach to the Whole Truth,” Philosophy of Science (1976); 43: 311-336. Auf die Verschiedenheit und doch enge Verwobenheit der Begriffe der Wahrheit und ‚Wahrheitsnähe‘ in Poppers Denken werden wir im Rahmen unserer kritischen Ausführungen zurückkommen. Sir Karl Popper, Objektive Erkenntnis, 55. Vgl. die durch Anmerkungen ergänzte englische Ausgabe: Karl R. Popper, The Logic of Scientific Discovery, 268. Vgl. auch ders., Objektive Erkenntnis, 371 ff. Ich selbst nehme umgekehrt mit Reinach an, daß die ‚Relativitätstheorie‘ als philosophische These über das Wesen von Zeit und Raum schlechthin falsch, ja unsinnig ist. Siehe Reinachs Schrift „Vom Wesen der Bewegung“, in: Adolf
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muß man annehmen, daß Newtons widersprechende Annahmen falsch sind. Andererseits scheint Newtons Theorie doch für viele Fälle eine ausgezeichnete Approximation zu liefern, und man hat laut Popper allen Anlaß, sie von beliebigen anderen falschen Theorien, aus denen nicht so viele wahre Beobachtungen folgen, zu unterscheiden. Ja man könne sagen, die Welt sei wirklich innerhalb unserer Erfahrung ‚ungefähr so‘, wie Newton annimmt, auch wenn er strikte gesprochen nicht recht habe, wie die Beobachtungen der makrokosmischen Verhältnisse und Einsteins Theorie zeigen. Dennoch scheint Newtons Theorie der Wahrheit näherzukommen als viele andere Theorien, obwohl sie nach der Annahme der meisten Wissenschaftler und Philosophen heute streng genommen falsch sei. Um solche und ähnliche Tatbestände, die in der Wissenschaftsgeschichte häufig vorkommen, zu erklären, hat Popper seine Theorie der ‚Wahrheitsnähe‘ entworfen, die es selbst bei falschen Theorien erlauben soll, dieselben in Hinsicht auf ihre jeweilige Wahrheitsnähe zu unterscheiden. Dieses selbe klassische Problem wurde übrigens von T. Kuhn, von Oddie und anderen in teilweise radikal anderer Weise zu lösen versucht, worauf ich im Rahmen dieser knappen Ausführungen über Popper nicht eingehen kann. Das alles klingt zunächst ganz plausibel, ja durchsichtig. Bei näherer Analyse zeigt sich jedoch, daß nicht nur die konkreten Phänomene, die Popper als ‚Wahrheitsnähe‘ bezeichnet, in Wirklichkeit äußerst verschiedene sind, sondern daß der Begriff der ‚Wahrheitsnähe‘ selbst alles andere als klar ist. Soll damit einfach gemeint sein, daß ein Satz noch nicht als falsch erwiesen ist, aber vielleicht als solcher erwiesen werden kann? Was soll aber einer falschen Aussage den Titel ‚Wahrheitsnähe‘ verdienen? Soll es einfach dies sein, daß aus ihrem logischen Gehalt bzw. aus ihrer Folgerungsmenge wahre Aussagen folgen? Das gilt für jede auch noch so falsche Aussage überhaupt. Aus der These ‚Es gibt Luftgeister‘ folgt z.B., daß es Luft gibt oder daß es überhaupt etwas gibt. Oder soll gemeint sein, daß mehr Wahres als Falsches aus einer These folgt? Auch das kann nicht dafür in Anspruch genommen werden, der falschen These selbst Wahrheitsnähe zuzuschreiben, sondern nur dazu, manchen der ihr zugrundeliegenden Beobachtungen oder Annahmen nicht Wahrheitsnähe, sondern Reinach, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. I. Siehe auch J. Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft.
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Wahrheit zu bescheinigen. Auf die große Unklarheit des Begriffs der Wahrheitsnähe, der auch eine Reihe von Poppers Anhängern wie D. Miller und ihn selbst zur partiellen Aufgabe dieses Begriffs geführt haben, werden wir noch ausführlicher zurückkommen.568 Wir werden ähnliche Unklarheiten in Poppers Begriffen des ‚Wahrheitsgehaltes‘ und ‚Falschheitsgehaltes‘ sowie in jenem der Wahrheit entdecken. 3. Induktion, Intuition, Wesenserkenntnis Popper verwirft mit der Induktion auch jeden Versuch, durch Intuition, Wesenseinsicht, Ideenschau etc. zur Erkenntnis positiv-gegebener allgemeiner Sachverhalte und Wesenszusammenhänge zu gelangen. Erst recht verwirft er jede Gewißheit über allgemeine Sachverhalte,569 zumindest als Folge seiner Ablehnung der ‚Induktion‘, als welche er jedweden Übergang von Einzelerfahrung (Erfahrung überhaupt) zu Universalien deutet. Die Universalität seiner Ablehnung jedweder induktiver oder intuitiver Allgemeinerkenntnis geht insbesondere aus zwei philosophischen Gedanken hervor, die er Hume entnimmt: „Möchten die Menschen doch eines Tages von folgenden zwei Prinzipien völlig überzeugt sein: Kein Gegenstand hat, für sich selbst betrachtet, etwas, was einen Schluß über ihn hinaus erlauben könnte;“ und: „Auch nach der Beobachtung der häufigen oder ständigen Verbindung von Gegenständen ist kein Schluß auf irgendeinen Gegenstand außerhalb unserer bisherigen Erfahrung möglich...“570
Diese beiden radikal empiristischen, ja positivistischen Ideen Humes preist Popper in Objektive Erkenntnis auf das höchste. Popper nennt dort
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569
570
Vgl. David Miller, “Verisimilitude Redeflated”, British Journal for the Philosophy of Science, (1976); 27: 363-38. Vgl. auch I. J. Good, “Comment on David Miller’s Article in ‚Synthese’,” Synthese, (1975); 30: 205-206. Siehe besonders Karl Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., VII: „Die absolute Wahrheit wird manchmal erreicht; die Sicherheit nie: Die Suche nach Sicherheit ist verfehlt...“; vgl. auch ebd., 47; 63 ff.; 68 ff., 134, 143 ff. D. Hume, Treatise on Human Nature (Green and Grose, 1886), Treatise, Buch I, Teil III, Abschnitt II; Selby-Bigge, 77.
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diese „zwei Prinzipien“ „logische Perlen“ und „einen nahezu reinen Edelstein“.571 Wieder bleibt die erkenntnistheoretische Position Poppers undurchsichtig – und damit greifen wir auf einige Punkte einer immanenten Kritik der Popper’schen Erkenntnistheorie und insbesondere ihrer Anwendung auf Probleme der Politik voraus. In manchen Passagen betrachtet er jede Philosophie objektiver Sicherheiten als Weg in den Faschismus und den rationalen Skeptizismus als Schutzwall gegen jede Art von Fanatismus und Tyrrannei, ohne zu beachten, daß es offensichtlich vom Inhalt der Überzeugungen, insbesondere jener über Freiheit und Wahrheit, abhängt, ob sie zum Fanatismus führen oder nicht.572 In deutlichem Gegensatz zur Ableitung des Totalitarismus aus einem Standpunkt, der an objektiven Evidenzen festhält und den er als Dogmatismus abwertet, betont Popper in glänzenden Ausführungen die Tatsache, daß gerade der Pessimismus gegenüber der Erkenntnis objektiver Wahrheit (also Skepsis) und vor allem der Relativismus eine Hauptwurzel der Tyranneien und Diktaturen war, was man an der Geschichte des Nationalsozialismus und Kommunismus belegen kann. Damit setzt Popper den Gegensatz zu Relativismus und Skeptizismus, also die Erkennbarkeit der Wahrheit voraus, die ihrerseits stets auch auf der Erkennbarkeit von Universalien beruht. Wenn er dies nicht voraussetzt, wie kann der schlimmsten Ideologie, etwa der Ideologie Hitlers, solange sie nur als eine Reihe von Hypothesen angesehen wird, der Wert als ‚Versuch und IrrtumsExperiment‘ streitig gemacht werden? Also scheint Popper unausweichlich vorauszusetzen, was er in Frage stellt: Erkenntnis objektiver und allgemeiner Wahrheit. Auch setzt er außer der Wahrheit seiner eigenen (übrigens empirisch weder positiv überprüfbaren noch falsifizierbaren) Aussagen die mit Sicherheit erkennbare Wahrheit allgemeiner logischer Prinzipien, des Widerspruchsprinzips und Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten, mathematischer Sätze usf. voraus und kommt, wie jeder andere Mensch, keinen
571 572
Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 90-91. Vgl. Popper, The Logic of Scientific Discovery, 7-9.
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Gedanken lang ohne mit Gewißheit erkennbare allgemeine Prinzipien der Logik, der Erkenntnistheorie, Wahrheit usf. aus.573 Daß auch eine relativistisch-utilitaristische Konzeption, die die Wahrheit mit dem identifiziert, was vom Führer als recht gesetzt wird oder was ‚der arischen Rasse nützt‘, mit einem dogmatischen Unfehlbarkeitsanspruch einhergehen kann, ändert daran nichts, sondern zeigt nur einen dem Willen zur Macht entspringenden Wunsch, für die eigenen Meinungen einen absoluten Wert zu setzen, der ohne Bezug auf Wahrheit und Unfehlbarkeit nicht zu rechtfertigen ist. Dabei kann ein Hitler durchaus zugleich – in objektivem Widerspruch zu seinem Unfehlbarkeitsanspruch – ein radikaler Relativist sein. Selbstverständlich sei nicht geleugnet, daß auch ein dogmatisch für wahr gehaltener Rassismus zu totalitären Verbrechen führen kann. Dies liegt aber nicht an der nicht-fallibilistisch aufgefaßten These als solcher, sondern an deren falschem Inhalt oder an der anti-freiheitlichen ‚Anwendung‘ der Theorie auf die Praxis. Gerade die energischsten Gegner des Nationalsozialismus, wie etwa Dietrich von Hildebrand, konnten ihren absoluten Widerstand gegen den Nationalsozialismus nur deshalb rational begründen, weil sie ethische und andere Evidenzen anerkannten.574 Nicht nur in der Meinung über den Ursprung des Totalitarismus aus zwei entgegengesetzten Erkenntnistheorien (Relativismus und Objektivismus) bleibt Poppers Gedankengang undurchsichtig. Die Problematik der Erkenntnistheorie Poppers betrifft dessen erkenntnistheoretische Position selbst. Denn trotz seines Skeptizismus verteidigt Popper mit seinen Schülern bzw. Freunden wie Hans Albert energisch die Existenz einer objektiven Wahrheit. Sie kritisieren etwa die Entthronung der Wahrheitsfrage in den Ideen Thomas Kuhns oder in Lübbes Philosophie über Religion nach der Aufklärung als funktionalistische, relativistische oder
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Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 55, 310. Zum Versuch des näheren Nachweises dieser Behauptungen vgl. Josef Seifert, Back to Things in Themselves. Vgl. K. R. Popper, Conjectures and Refutations, S. 4 ff. Augusto del Noce in seinen zahlreichen Studien zum Faschismus und Nationalsozialismus, D. von Hildebrand und andere haben gezeigt, wie radikal skeptisch-relativistisch diese totalitären Ideologien waren. Siehe etwa D.v. Hildebrand, „Die Entthronung der Wahrheit“, S. 309-339; Rocco Buttiglione, Augusto del Noce. Biografia di un pensiero.
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pragmatistische Mißachtung der Frage nach objektiver Wahrheit.575 Dies setzt aber zahlreiche sichere Erkenntnisse über das Wesen der Wahrheit, über die Gründe der Falschheit anderer Wahrheitstheorien als der eigenen, usf. voraus und widerspricht, so meine ich, Poppers Kritik der Induktion und vor allem jeglicher anderer Form ‚positiver‘ Allgemeinerkenntnis. Eine ähnlich unauflösbare Spannung besteht zwischen Poppers Meinungen über die Notwendigkeit der Suche nach objektiver Wahrheit sowie der Rolle der Fakten als Autorität576 in Erkenntnisstreiten und der gleichzeitigen Meinung, ein Prinzip der Vernunft oder die dem Intellekt vorgegebene Wahrheit sei nur eine neue Form irrationaler Autorität.577 Poppers zur Methodologie aller Wissenschaft erhobene Kritik der Induktion und sein Fallibilismus (Versuch und Irrtum/trial and errorMethode, Falsifikation statt Verifizierung) sind auch ein Grund für die Bezeichnung seiner Epistemologie als ‚evolutionäre Erkenntnistheorie‘, eine Bezeichnung, die Popper selbst im Untertitel von Objektive Erkenntnis festhält.578 Wissenschaftliche Erkenntnis wächst nach seiner Meinung durch einen Prozeß objektiver Kritik und Falsifizierung, die sowohl Theorienbildung anrege als sie diese auch in Zaum halte. Wissenschaftliche Erkenntnis mache Fortschritte durch ‚kritische Auswahl‘ und Erhaltung der ‚kräftigsten Exemplare‘ (wissenschaftlicher Hypothesen und Theorien). 4. Auch über empirische (individuelle) Sachverhalte sei keine Gewißheit möglich (Descartes‘ Kritik) Mit Hinweis auf Routledge’s Buch Everest 1933, in dem „der arme alte Kipa ...hartnäckig an dem Gedanken fest(hielt), er sei tot“,579 meint Popper, Descartes‘ Gewißheit des ‘cogito‘ abtun zu können, das er außerdem 575
576 577 578
579
Darin fühle ich mich Popper sehr verbunden. Vgl. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Vgl. Popper, Conjectures and Refutations, a.a.O., 27. Vgl. Popper, Ebd., 16. Ein anderer Grund für diese Bezeichnung liegt im spezifischen „Evolutionismus“ Poppers. Vgl. K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 68 ff. Ebd., 36.
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wegen seiner Begrenztheit kritisiert. Poppers These ist, daß es überhaupt keine unmittelbare Gewißheit („no immediate certainty“) gebe und daß deshalb das alte philosophische Streben nach unbezweifelbarer Erkenntnisgewißheit aufgegeben werden sollte. Popper schließt aus der Tatsache, daß Selbsttäuschungen hinsichtlich bestimmter Bewußtseinsinhalte oder Irrtümer darüber, ob das eigene Bewußtsein das eines Lebenden oder eines ‚Lebens nach dem Leben‘ ist, möglich sind, daß es keine unbezweifelbare Evidenz über die eigene Existenz gäbe. Auf eine Kritik dieses Standpunktes werden wir zurückkommen. 5. Die ‚best bewährten‘ (nicht widerlegten) allgemeinen Theorien können auch Grundlage für Handeln (Ethik etc.) bieten: Probabilismus und das Problem des ‚Hypothetischen‘ im Bereich des Handelns In den verschiedensten Zusammenhängen argumentiert Popper,580 daß wir auf Grund unserer Glaubensüberzeugungen und Meinungen handelten („Wir handeln gemäß unserem Glauben“581) und gewisse Tatsachen – in je nach Situation variierendem Grad – für ‚gewiß‘ hielten. Wie läßt sich jedoch diese These einer Art von ‚praktischer (sittlicher) Gewißheit des Annehmens und Glaubens‘ mit der von Popper vertretenen Erkenntnistheorie, die ausschließlich rational nicht begründbare Vermutungen zuläßt (dem ‘conjecturalism’) vereinbaren? Man erinnere sich daran, daß Poppers Erkenntnistheorie, was die Nichtanerkennung von Gewißheiten betrifft, über jeden Probabilismus, eine Position, die ja schon vom Namen her gerade die von Popper abgelehnte induktive Wahrscheinlichkeit anerkennen müßte, hinausgeht. Popper scheint beim Versuch, seinen ‚neo-karneadäischen hyperfallibilistischen Hypothetismus‘ mit einer Theorie praktischer Gewißheit zu versöhnen, über dogmatisch klingende Aussagen und über seine Auffassung der Wahrheitsnähe (verisimilitude) nicht hinauszugehen. Die einfach klingende Lösung, daß praktische Gewißheit des Glaubens nur hypothetisch angenommene Sicherheit sei, löst das Problem auch nicht. Denn in Wirklichkeit müßte aus Poppers Position ein radikaler ‚praktischer Fallibilismus‘ und irrationalistischer Dezisionismus folgen. Wenn ethische 580 581
Ebd., 24 f., 80 ff., 100-103, und an anderen Stellen. Ebd., 80.
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Annahmen überhaupt kognitivistisch gedeutet werden sollten, müßten sie als rein hypothetische Ansetzungen gedeutet werden, die überdies prinzipiell nicht durch Tatsachenbeobachtungen falsifizierbar wären, ja nicht einmal einen empirischen Gehalt hätten, sodaß sie letzten Endes den sinnlosen Sätzen des Wiener Kreises nahekommen müßten. Poppers Bemerkungen über einen rational scheinenden praktischen Glauben müßten daher im Sinne seiner erkenntnistheoretischen Grundposition radikalisiert bzw. revidiert werden. Dieser Punkt wird von manchen Autoren m.E. zu recht kritisiert582 und ist natürlich besonders für Ethik und Rechtswissenschaft ein entscheidender. Doch greifen wir damit auf die Kritik voraus und entfernen uns überdies vom Thema dieser Untersuchung. Hans Albert wendet Poppers rein ‚hypothetische‘ Erkenntnistheorie (die den radikalen Fallibilismus und die Revidierbarkeit jeder Annahme einschließt)583 besonders auf die Bereiche der ‚praktischen Philosophie‘ (der Ethik und Politik) an. 6. Die 3 Weltentheorie Neben Materie einerseits (Welt 1) und Psyche (seelisch-Bewußtem) andererseits (Welt 2) wird von Popper eine Welt 3 angenommen. An diesem Begriff ist hervorzuheben, daß er eine gewisse Verwandtschaft mit Platons Ideenlehre und mit der Psychologismuskritik Husserls und anderer Autoren besitzt. Wie diese bemerkt Popper, daß Gedankeninhalte, Argumente, etc. nicht einfach auf psychische Inhalte reduziert werden können. Sowohl was den Inhalt der Welt 3 als auch was die allgemeinen Aussagen über sie betrifft, besticht der Begriff der Welt 3 jedoch nicht durch Klarheit. Was ihre Bewohner betrifft, wird sie fast wie ein philosophischer Papierkorb gefaßt, in den Geschichte, Kultur, Sprache, Bibliotheken, Gedankeninhalte, Argumente, Sprachen, Kunstwerke, mathematische
582 583
Siehe Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 376 ff. Vgl. dazu etwa Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, sowie auch die zutreffende Kritik von Henke.
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Gesetze ebenso wie konventionelle Regeln von Spielen usf. geworfen werden. Nicht klarer und differenzierter ist Poppers Antwort auf die Frage, welches Verhältnis die Welt 3 eigentlich zu den psychischen Akten hat. Von ihr wird einerseits geleugnet, daß sie rein willkürlich entworfen werde.584 Andererseits behauptet Popper, die ‚Welt 3‘ sei vom Menschen hervorgebracht,585 ja sie sei ausschließlich eine empfehlenswerte Hypothese, „a convenient assumption,“ (und schließe keinerlei — platonisierende — Metaphysik ein). II. KRITIK VON POPPERS WISSENSCHAFTS-, WAHRHEITS- UND ERKENNTNISTHEORIE
1. Zu Induktion, Positivismus, Fallibilismus etc. Wegen der Bedeutung der Auffassungen Poppers über Induktion und Fallibilität aller Erkenntnisansprüche soll mit unserer kritischen Untersuchung zunächst hier angesetzt werden: 1.1. Zur versteckten Herrschaft des Positivismus in Poppers Fragestellungen:
Poppers Fragestellungen hinsichtlich der Induktion und sein Ideal der Wissenschaftlichkeit stehen noch weitgehend unter dem Banne des Positivismus. Denn das Problem der Wissenschaftlichkeit und dasjenige der Induktion (bzw. der dieselbe ersetzenden rationalen Verfahren) stehen sosehr im Zentrum seines Interesses, daß Induktion für ihn der einzig ernstzunehmende Kandidat zu sein scheint, der überhaupt sinnvoll Allgemeinerkenntnis für sich beanspruchen kann, wenn dieser ihr Anspruch auch seiner Meinung nach durch kritische Rationalität als gleichfalls hohl entlarvt wird. Probleme wie die der Intuition, Wesenseinsicht, Einsichten anderer Art wie sie in Geschichtswissenschaften, 584
585
Siehe z.B. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 132-144, wo der mathematische Formalismus-Konstruktivismus verworfen wird. Vgl. dazu die eindeutigen Aussagen in K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 164-167.
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Mathematik, Jurisprudenz, Kunstkritik und Historie wichtig sind, usf. finden nur wenig Beachtung. Unsere Kritik an dieser Einschränkung des Erkenntnisproblems auf Induktion bzw. auf deren Kritik einerseits und auf die logische Ableitungsproblematik andererseits, wird aus den Überlegungen zu den folgenden Punkten deutlicher hervortreten. 1.2. Übereinstimmung mit Poppers Kritik der (unvollständigen) Induktion als formallogischer Schlußform
Betreffs des logischen Problems der Induktion dürfen wir mit Hume, Popper und auch Pfänder586 darin übereinstimmen, daß, wenn unvollständige induktive Schlüsse als rein ‚formal-logisches‘ Verfahren angenommen werden, die sogenannte ‚unvollständige Induktion‘ nicht zu rechtfertigen ist; aus der Tatsache, daß viele beobachtete Exemplare einer Spezies oder einer gewissen Eigenschaft sich in einem bestimmten Sinne verhalten, kann über nichtbeobachtete Fälle derselben Art nichts gültig geschlossen werden. Die bereits von Pascal schärfstens gerügte logische Ungültigkeit eines formallogischen induktiven Schlusses wird nicht bloß durch die Poppersche Bezugnahme auf das Überleben einer Spezies widerlegt (falsifiziert), auf die weder daraus gültig geschlossen werden kann, daß sie bisher immer überlebt hat, noch daraus, daß viele ähnliche Spezies überlebt hätten. Vielmehr läßt sich auch die allgemeine Erkenntnis gewinnen, daß auch für einen wiederholt beobachteten und konkret in Wahrnehmungen gegebenen Sachverhalt zufällige Gründe verantwortlich sein können. Deshalb waren auch in der Vergangenheit ‚klassische‘ weitere Bedingungen für eine Induktion (Variation der Bedingungen, etc.) eingeführt worden. Auch vor Popper war anerkannt worden, daß die Beobachtung einer Eigenschaft in einer begrenzten Anzahl von Individuen als solche nicht ausreicht, um etwas über alle übrigen Exemplare der gleichen Art zu schließen. Dies weist auch Pfänder in seiner Logik stringent nach. Paul Feyerabend hat sich nicht ohne Recht sehr kritisch zur Frage von Poppers Originalität in diesem Punkte geäußert.587 586 587
A. Pfänder, Logik, 341 ff. Der Autor kritisiert Poppers Anspruch auf Originalität in diesem Punkt sowie in jenen Fragen, für die Popper absolute Originalität beansprucht: ob nämlich die
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 509 1.3. Poppers echte Einsichten in die Möglichkeit der Falsifizierung universaler Aussagen durch Einzelbeobachtungen und Pascals Vorwegnahme der Popperschen Kritik der Induktion.
Man muß Popper ebenfalls darin recht geben, daß die Möglichkeit der ‚Falsifizierung‘ einer allgemeinen These durch Beobachtung möglich ist, wenn die letztere entweder dieser Aussage selbst oder wenn sie einer mit einwandfreiem logischem Verfahren aus ihr abgeleiteten Folge widerspricht. So widerspricht die Beobachtung eines einzigen Weißen der Meinung, daß buchstäblich alle Menschen schwarz seien. Dieses Prinzip der Popperschen Philosophie, ja die ganze Poppersche Kritik der Induktion wurde übrigens von Pascal glasklar formuliert. Er betont, daß im Bereich der Erfahrungserkenntnis ein einziges Gegenbeispiel zur Falsifizierung genügt und auch keine noch so große Zahl von Beobachtungen genügt, um eine Allgemeinaussage zu begründen.588 Er nimmt die inzwischen ohnehin durch Uran widerlegte These, daß Gold das schwerste Metall und die bis heute nicht falsifizierte These, daß Diamant
588
„erfahrenen Fakten wirklich den Theorien vorausliegen. Für diese Ideen finden sich von Aristoteles bis Goethe und Mach viele Vorläufer Poppers.“ Wir werden gleich auf einen von Feyerabend nicht erwähnten Denker, nämlich Pascal, hinweisen. Vgl. P. Hans Feyerabend, ‘In Defence of Aristotle: Comments on the Condition of Content Increase’, in: G Radnitzky und G. Andersson, Hrsg., Progress and Rationality in Science (Dordrecht: Reidel, 1978), 143-180, bes. 174175, Anm. 8. Er bezieht sich auf die Frage, ob es einen leeren Raum gäbe, was die Alten geleugnet haben, und betont, daß ein einziges Experiment, das einen leeren Raum zeigen würde, genügt, um die noch so verehrungswürdigen Meinungen der Alten zu widerlegen und formuliert dann: Puisque, pour le dire généralement, ce ne serait assez de l’avoir vu constamment en cent rencontres, ni en mille, ni en tout autre nombre, quelque grand qu’il soit; puisque s’il restait un seul cas à examiner, ce seul suffirait pour empêcher la définition générale,...Car dans toutes les matières dont la preuve consiste en expériences et non en démonstrations, on ne peut faire aucune assertion universelle que par la générale énumération des toutes les parties ou de tous les cas différents.
Bl. Pascal, Préface sur le Traité du Vide, in: Blaise Pascal, Œuvres complètes. Hrsg. v. Louis Lafuma, (Éditions du Seuil) Paris 1963; Blaise Pascal, S. 232b.
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die härteste Materieart sei, als Beispiele bisher nicht falsifizierter, aber prinzipiell falsifizierbarer Allgemeinaussagen.589 1.4. Nicht alle Universalurteile lassen sich durch (empirische) Einzelbeobachtungen falsifizieren. Kritische Überlegungen zu Einschränkungen und Bedingungen der Anwendbarkeit des Falsifizierbarkeitsprinzips
Dabei müssen noch viele Arten von Allgemeinurteilen unterschieden werden und sind auch dementsprechend viele Arten von Falsifizierung allgemeiner Thesen durch Einzelbeobachtungen denkbar. Es kann sich etwa um Allgemeinaussagen handeln, die nicht strikte und absolute Universalität behaupten, sondern nur einen ‚im allgemeinen‘ bestehenden Sachverhalt (ut in pluribus, wie die Scholastiker sagten), entweder im Sinne eines Normalfalls oder in jenem eines Durchschnittswertes. Solche Allgemeinheiten lassen von vornherein Ausnahmen zu, wie daß der Mensch nur ein Herz oder zwei Nieren besitzt, was durch einen Menschen, der mit zwei Herzen oder mit bloß einer Niere geboren wird, nicht widerlegt werden kann, weil dieser eben dann eine ‚Ausnahme‘ ist, die als Ausnahme ‚die Regel bestätigt‘, wie man sagt.590 Davon ist der Fall ganz verschieden, in dem durch die Entdeckung vieler Rassen und Hautfarben unter Menschen die allgemeine These widerlegt wird, daß der Mensch weiße Hautfarbe besitze. Denn durch diese Beobachtung wird auch die ‚lockere Allgemeinheit‘ der empirischen Aussage falsifiziert, ‚der Mensch besitze weiße Hautfarbe‘. Wieder anders steht der Fall mit Urteilen, die mit absoluter Allgemeinheit (und manchmal auch mit apodiktischer Gewißheit) behauptet werden, etwa vielen philosophischen und mathematischen, aber auch physikalischen wie dem von Pascal erwähnten Satz, daß es in der ganzen Natur 589
590
In vorphilosophischer Weise kann jedes Kind diese Einsicht gewinnen: In brillantem Natur-Popperianismus wurde z.B. von einem mir bekannten Kind als Widerlegung der These seiner Mutter, alle Menschen seien mit ihrem Gesicht unzufrieden, seine eigene vollendete Zufriedenheit mit dem eigenen Gesicht festgestellt. Jede derartige Ausnahme von einer allgemeinen Aussage widerlegt zumindest die Wahrheit der strikten Allgemeinheit einer Theorie. Vgl. dazu P. Feyerabend, ‘In Defence of Aristotle,’ a.a.O.
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keinen leeren Raum gäbe. Diese würden durch einen einzigen Gegen-Fall falsifiziert, weil sie Wahrheit für ein Universalurteil im strikten Sinne beanspruchen. Wenn etwa ein Philosoph behauptet, Erkenntnis irgendeiner Wahrheit sei schlechthin unmöglich oder es gäbe keine Freiheit, würde auch ein einziger Fall, in dem die geleugneten Dinge sich evidenter Erkenntnis darbieten, genügen, um eine solche Allgemeinaussage zu widerlegen. Auch eine einzige von einem Skeptiker vorausgesetzte Erkenntnis würde die radikale Skepsis und jeder einzelne freie Akt in der Welt würden die These des Determinismus widerlegen. Ebenso läßt sich die hedonistische Identifizierung des Guten mit der Lust durch eine einzige Erkenntnis eines Gutes, das nicht mit Lust identisch ist, oder einer Lust, die böse ist, falsifizieren. Sobald man mit Augustinus, Descartes und vielen anderen Autoren evidente Erkenntnis über die Tatsache, daß wir in diesem oder jenem Fall Erkenntnis oder Freiheit besitzen, anerkennt, ergibt sich die Möglichkeit der Falsifizierungen gegenteiliger philosophischer Thesen. Viele philosophische Widerlegungsversuche und Falsifizierungen setzen dies voraus. Doch liegen echte allgemeine philosophische Erkenntnisse jenseits jeder empirischen Verifizierungsnotwendigkeit und zugleich jenseits der Falsifizierungsmöglichkeit, die Popper als Bedingung des sinnvollen Charakters einer allgmeinen Aussage fordert.591 Der Grund für die Unmöglichkeit, diese Einsichten in Wesensnotwendiges empirisch zu flsifizieren, liegt nicht in der Form ihrer Allgemeinheit und erst recht nicht in ihrer Sinnlosigkeit, sondern vielmehr in der absoluten Notwendigkeit ihres Gegenstands einerseits und in der evidenten einsichtigen Selbstgegebenheit des Wesens andererseits, welche jede empirische Widerlegung prinzipiell ausschließt. Aus diesem Grund können Sätze wie „Das Farbquale ‚Orange‘ liegt der Ähnlichkeitsordnung nach zwischen gelb und rot“ oder „sittliche Verantwortung setzt Freiheit voraus“ oder das Widerspruchsprinzip nicht falsifiziert werden, weil sie notwendig wahr sind und ihre Erkenntnis daher nicht von Daseins-Erfahrung nichtnotwendiger Tatsachen abhängt und ihre evidente Wahrheit unwiderlegbar ist. Keiner dieser Sätze ist dabei übrigens analytisch-tautologisch. Nicht nur wird diesen Sätzen oft widersprochen (z.B. von Calvin hinsichtlich der für Schuld und Verantwortung vorausgesetzten Freiheit oder von Hegel mit 591
Vgl. Poppers eigene kritischen Aussagen zu diesem Punkt in Conjectures and Refutations.
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der Behauptung, im Bereich der höheren Vernunft gelte das Widerspruchsprinzip nicht). Vielmehr setzt die Erkenntnis dieser Wahrheiten eindeutig den Bezug zu den sachlichen Wesen der Dinge voraus, in denen sie gründen und genügt für ihre Erkenntnis keineswegs eine Analyse der Definitionen der Subjektbegriffe.592 Daß wahre Erkenntnisse wesensnotwendiger Sachverhalte, vor allem jener, die überall vorausgesetzt sind, nicht falsifizierbar sind, schließt nicht aus, daß falsche synthetisch-apriorische Urteile durch entsprechende Beobachtungen, Einsichten und Beweise falsifiziert werden können. Wenn ich etwa mit Augustinus einem aboluten Skeptiker und Zweifler an aller Wahrheitserkenntnis zeige, daß er in jedem Fall seines Zweifels wesensnotwendig Erkenntnisse besitzt und voraussetzt, genügt eine einzige davon, seine falsche Allgemeinaussage zu widerlegen. Diese Falsifizierungsmöglichkeit falscher Allgemeinaussagen gilt aber nicht nur für Urteile über wesensnotwendige allgemeine Sachverhalte, die durch Einsichten widerlegt werden, sondern auch für Allgemeinaussagen über empirische und kontingente Sachverhalte, etwa der Art, „Es gibt kein ....X,” wie „Es gibt keine Außerirdischen (im Sinne menschenähnlicher intelligenter Bewohner anderer Planeten oder Sonnensysteme).“ Alle solchen negativen Universalurteile können durch einen einzigen kontradiktorischen Fall bzw. seine Beobachtung falsifiziert werden. Mit dem eben erörterten Typus von Allgemeinurteil und dessen Falsifizierung durch Einzelerkenntnisse wird häufig ein radikal verschiedener verwechselt, nämlich derjenige bloß scheinbarer ‚Ausnahmen‘, die als solche nur im Licht einer Fehldeutung des Allgemeinurteils zu bestehen scheinen. Während gewiß Popper darin übereinstimmen würde, daß Beobachtung von Tatsachen keine Sollenssätze falsifizieren können, hält etwa Wolfgang Wickler bloß faktische Verstöße gegen Sollensgesetze (sogar ‚Verstöße‘ von Tieren gegen auf Menschen bezogene Sollensgesetze) für Widerlegungen derselben.593 Dieses radikale Mißverständnis, das eine arge ‘naturalistic fallacy’ im Sinne G.E. Moore’s enthält, verwechselt 592
593
Zu diesem entscheidenden Punkt der hier implizierten Erkenntnistheorie vgl. Adolf Reinach, „Über Phänomenologie“; ders., „Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes“; Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?; J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit; ders., Back to Things in Themselves. Vgl. Wolfgang Wickler, Sind wir Sünder?, 83 ff., 222 ff.
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eine absolut universale Aussage über Sollen (ought) mit einer absolut universalen Aussage über faktisches Verhalten. Daß die meisten Menschen oder gar Tiere einander töten, kann etwa nicht als Einwand gegen die Absolutheit des Gebotes gegen Mord angeführt werden. Noch einmal anders ist der Fall bloß scheinbarer Ausnahmen, wenn ein allgemein behauptetes Sollen einer bestimmten Handlungsart (etwa Versprechen zu halten) in einem bestimmten Fall als Sollen nicht besteht (so sollen unsittliche Versprechen nicht gehalten werden). Hier sind wir mit allgemeinen Regeln konfrontiert, die im Fall gewisser ‚Kollisionen‘ mit anderen höheren Forderungen nicht jene Anwendung finden, die sie normalerweise fänden. (Dies gilt etwa für den von Ross als ‘prima facie obligations’ gemeinten Sachverhalt der Suspendierung gewisser sittlicher Forderungen durch höhere. Ross universalisiert diesen besonderen Fall zu sehr, als gälte er von allen Sollensforderungen, was einen verhängnisvollen Irrtum darstellt). Diese Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen Art des Allgemeinurteils und der seinem jeweils verschiedenen Sinn entsprechenden Falsifizierung durch Einzelbeobachtungen müssen im Auge behalten werden, wenn man Russells Typentheorie, die in Wirklichkeit nur für solche Allgemeinheiten gilt, die Ausnahmen für die Metasprache oder den Sprechenden zulassen, oder Poppers Falsifizierungstheorie, die nur auf strikte allgemein gemeinte Urteile zutrifft, anwenden will. Denn im Falle solcher „vager und nicht strikte definierte Allgemeinheiten, wie des Barbiers von Sevilla, der alle Männer rasiert, die sich nicht selbst rasieren, aber auch nur diese,“ ist es sinngemäß möglich und notwendig, ihn selber auszunehmen und Russells Typentheorie anzuwenden. Hingegen im Falle strikt allgemein gemeinter Thesen würde deren Wahrheit auch durch ein einziges Gegenbeispiel widerlegt. Selbstverständlich hat Popper auch damit recht, daß die Widerlegung einer allgemeinen These oder erklärenden Theorie (explanatory theory) noch nicht eine alternative allgemeine Theorie darstellt und daß Widerlegung allgemeiner Ansprüche (ihre Falsifizierung) ‚leichter‘ ist als deren Begründung.
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1.5. Zur Rettung empirischer Wissenschaft: die Popper’sche Mißdeutung der Induktion, die als Formalschluß ungültig ist, aber als Materialschluß unter bestimmten philosophischen und methodologischen Voraussetzungen gültig sein kann
An Poppers Kritik der Induktion ist auch dies kritisch zu bemängeln, daß sie gar nicht zwischen Induktion als Formalschluß und als Materialschluß unterscheidet und sich ausschließlich gegen die als formallogischen Schluß aufgefaßte Induktion richtet, die sie mit Recht verwirft, nicht aber gegen die materiale Schlußart, als welche z.B. Pfänder die Induktion erwiesen hat.594 Popper setzt eine Art Hume‘scher Welt bloßer Sequenzen von Sinneseindrücken voraus, bzw. unterscheidet nicht eine bloße gewohnheitsmäßige Wiederholung unter einander ähnlicher Kombinationen verschiedener Fakten, die tatsächlich Induktion niemals rechtfertigen könnte, von der wiederholten Beobachtung artspezifischer Eigenschaften. Unter Poppers empiristischen Voraussetzungen läßt sich die empirische Wissenschaft jedoch schlechthin überhaupt nicht verstehen noch ließe sich unter Poppers Annahme, daß die Induktion ein formallogisches Verfahren sei, das unter Absehung der material-inhaltlichen Natur der beobachteten Spezies und Sachverhalte vorginge, das Vertrauen rechtfertigen, das wir alle den Resultaten empirischer Wissenschaft und Technik entgegenbringen, wenn wir uns in ein Auto oder Flugzeug setzen. Läßt sich hingegen evident machen, daß die Natur Arten und Gattungen aufweist, dann erlaubt eine solche platonische Philosophie einer nach Eide strukturierten Welt oder eine aristotelische Formmetaphysik, die der Erfahrung und Evidenz tausendmal besser entspricht als der Empirismus, eine volle Rechtfertigung der Induktion. Diese erweist sich dann als eine Methode, die wahrscheinliche, ja praktisch sichere Ergebnisse erreichen kann. Induktion schließt dann nicht rein formal-logisch aus wiederholten Beobachtungen auf allgemeine Gesetze, was ein schlechthinniger Unsinn wäre, sondern setzt die Erkenntnis oder zumindest die begründete Überzeugung voraus, daß die Welt nicht eine Sammlung zufälliger Sinnesdaten, sondern eine nach Formen und Arten stukturierte und gestalthafte Wirklichkeit ist, in der es außer individuellen Sinngestalten wie Kunstwerken auch allgemeine Spezies gibt. 594
Vgl. Alexander Pfänder, Logik, a.a.O.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 515
Die Erkenntnis, daß es sich mit der Welt so verhält, ist schlechthin evident im Falle notwendiger Wesenheiten wie denen der Farbe, des Versprechens, des Seins als solchen, der Freiheit etc. Sie ist aber auch hinsichtlich der Natur der Materiearten, der Pflanzen- und Tierarten oder der Organe des menschlichen Körpers usf. mehr als wahrscheinlich, ja praktisch so sicher, daß kein Mensch ernsthaft daran zweifelt, daß auch die ganze Natur nach allgemeinen Spezies und Gattungen gestaltet ist. Der eigentliche und gültige induktive Schluß setzt eben die begründete Überzeugung voraus, daß die in einzelnen beobachteten Fällen beobachteten Merkmale ihre Ursache darin haben, daß das P-Sein einer Reihe von A’s in deren Eigenart S (Art) begründet ist. Die Verwerfung jeder ‘what is question’ und jedes ‚Essentialismus‘ – zumindest beim früheren Popper595 – macht ihn m.E. unkritisch gegenüber der sowohl ontologischen als auch erkenntnistheoretisch-logisch relevanten Frage der Universalien (Genus, Spezies) sowie gegenüber deren grundlegender Bedeutung für das Induktionsproblem. So fragt Popper nicht nach den erkenntnismäßigen und ontologischen Gründen, aus denen wir allgemeine Wesen (Naturen) erkennen oder mit Wahrscheinlichkeit annehmen können. Während Popper selbst sieht, daß eine rein statistische Auffassung der ‚Regeln‘ nicht genügt, um diese zu erklären, setzt er sich weder mit der Möglichkeit einer strikten Einsicht in notwendige und allgemeine Sachverhalte (diese ist mehr und unvergleichlich gewisser als Induktion), noch auch mit der Vernünftigkeit der Annahme empirisch allgemeiner Naturen ernsthaft auseinander. Allgemeine Naturen (genus, species) kommen ja nicht nur in Form apriorisch-notwendiger Wesenheiten, wie etwa Philosophie und Mathematik (ebenso wie die apriorische Rechtswissenschaft, Farbwissenschaft, Naturrechtslehre etc.) sie zum Gegenstand haben, vor. Sie treten uns nämlich schon in den von jedem Kind erfaßten Formprinzipien (der Katze, des Hundes, Pferdes usf.) entgegen. Sie werden auch von den Wissenschaften der Chemie, Physik, Medizin, Botanik, Zoologie usf. angenommen, bzw. erkannt. 595
Mit der Einführung der ‚Dritten Welt‘ und der Bezeichnung der drittweltlichen Strukturen als ‘Intelligibilia’ bewegt sich Popper immer mehr weg von seinem früheren radikal anti-platonischen und anti-essentialistischen Standpunkt. Vgl. dazu auch D. Jakowljewitsch, „Die Frage nach dem methodologischen Dualismus“, a.a.O., 116-117.
516
KAPITEL 11
Daß es allgemeine Arten und Artcharakteristiken gibt, kann wohl ernsthaft von niemandem bezweifelt werden. In Medizin, Physik, Chemie und anderen Wissenschaften werden zahllose ‚sichere Allgemeinerkenntnisse‘ gewonnen, die zwar nicht den Rang philosophischer Wesenseinsichten haben und deren Gegenstände nicht von absoluter, selbst von Gott nicht suspendierbarer Notwendigkeit sind, an denen zu zweifeln aber Wahnsinn wäre. Tagtäglich vertrauen wir unser Leben unzählige Male der Überzeugung an, daß diese Naturgesetze und Artmerkmale materieller und lebendiger Wesen allgemeine Gültigkeit haben. Die Art der Gewißheit solcher Erkenntnisse läßt sich unmöglich durch eine als formal-logischen Schluß aufgefaßte Induktion, sondern nur durch die begründete Erkenntnis erklären, daß die methodisch beobachteten Merkmale verschiedener Naturwesen in sinnvoll geeinten und allgemeinen Wesensformen der Dinge gründen. Da diese Überzeugung wohl begründet und die Welt kein Chaos ist, läßt sich von dieser ontologischen Grundlage her auch die empirische Naturwissenschaft gegen Poppers Verwandlung derselben in bloße – noch nicht falsifizierte – Hypothesen überwinden. Und von diesen platonischen oder aristotelischen Fundamenten einer rationalen Lehre der Naturwissenschaften her muß auch die Rechtfertigung des induktiven Schlußverfahrens gewonnen werden. Mit einem solchen induktiven Materialschluß, der auf der Erkenntnis der Arten und allgemeinen Spezies beruht, setzt Popper sich aber gerade deshalb nicht einmal auseinander, weil er die elementarste Struktur der Induktion mißversteht und sich deshalb zu Unrecht als derjenige ansieht, der dieselbe zum ersten Mal verstanden und widerlegt hätte. Hier muß auch die oben (im Zusammenhang der Diskussion der Falsifizierung verschiedener Typen von Allgemeinaussagen) erwähnte Tatsache noch einmal angemerkt werden, daß Poppers Falsifizierungstheorie zwar auf philosophische oder mathematische, d.h. strikt universale falsche Urteile und Wahrheitsansprüche (wie Poppers eigene philosophische Wissenschaftstheorie), aber auf die Induktion nur in eingeschränktem Maß anwendbar ist. Diese bezieht sich ja – im Gegensatz zur von Popper vorausgesetzten, theoretisch aber nicht zugelassenen Wesenseinsicht – gerade auf jene Allgemeinheiten, die zwar bestehen, aber nur den Normalfall betreffen und deshalb häufig keine absolut lückenlose Allgemeinheit besitzen, welche keinerlei Ausnahme zuließe. Weil sie
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 517
keinen derartigen Anspruch erheben, lassen sie sich auch nicht durch die Beobachtung von der Norm abweichender Einzelfälle falsifizieren. Nur eine Art von ‚absolutem (positivem oder negativem) Universale‘ läßt sich durch einen einzigen Gegenfall widerlegen. Deshalb ist die Widerlegung aus einer einzigen Gegeninstanz eine beliebte Form philosophischer Kritik seit Sokrates‘ Zeiten. Man denke etwa an Platons Gorgias, in dem Sokrates Kallikles’ Identifizierung des Guten mit der Lust allein durch das Beispiel der Lust des Knabenschänders, von der Kallikles zugibt, daß sie Lust, aber nicht gut sei, widerlegt.596 Wird hingegen die Natur bloß empirisch-induktiver Allgemeinheiten durchdacht, zeigt es sich, daß die meisten der von Popper erwähnten Beispiele von Falsifizierungen (hinsichtlich eines von ihm nicht weiter geschilderten schlecht zubereiteten Brotes in Frankreich, an dessen Genuß Menschen starben, des schweren Wassers usf.) keine wirklichen Falsifizierungen darstellen.597 Denn die Artbeschaffenheit von Wasser, Gewicht von Sauerstoff und Wasserstoff, Nährwert des Brotes etc. wird nicht davon angetastet, daß es ‚Ausnahmen‘, sonderbare Reaktionen usf. gibt, eben weil die hier bestehende und durch eine (recht verstandene) materiale Induktion erschlossene Allgemeinheit keine strikte ausnahmslose ist. Außerdem bestand wohl in Poppers Beispiel der Nährwert des Brotes weiter, den er durch den Tod vieler Franzosen als allgemeinen Anspruch für falsifiziert hält. Der Tod vieler nach Genuß eines schlechten Brotes war anderen Ursachen zuzuschreiben als dem Nichtbestehen des Nährwertes des Brotes, nämlich dem Brot beigemischter Gifte, einer schlechten Form, es zu backen etc. 1.6. Lassen sich durch die Verschiebung von Verifizierung auf Falsifizierung empiristische Erkenntnistheorie und Skepsis vermeiden?
Höchst problematisch ist Poppers Meinung, mit der von ihm vorgeschlagenen Verschiebung vom Verifizierbarkeitsprinzip zum Falsifizierbarkeitsprinzip ließe sich radikale Skepsis,598 und die aus einem 596
597 598
Er führt auch das Beispiel einer neutralen Lust, die ebenfalls nicht mit dem Guten identifizierbar sei, etwa wenn jemand sich kratzt, weil es ihn juckt, an. Vgl. dazu auch Aristoteles, EN I,1; 1094 d 23 ff. Im Sinne der Russell‘schen Analyse, siehe Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 5.
518
KAPITEL 11
wissenschaftlichen Skeptizismus folgende Notwendigkeit, in der Wissenschaft alle logisch allgemeinen positiven Annahmen zu unterlassen, vermeiden. Popper meint, die von ihm propagierte These des ‘truth-content’ und ‘falsity-content’ allgemeiner Thesen und deren Falsifizierung anstatt ihrer Verifikation vermeide die Notwendigkeit strikt allgemeiner wissenschaftlicher Aussagen und die aus deren Unbegründbarkeit folgende Skepsis. Ist dieser Anspruch haltbar? Aus Poppers Position, wenn sie streng durchdacht wird, folgt, daß es Gewißheit ausschließlich über die Falschheit allgemeiner Aussagen geben könnte, niemals über allgemeine Wahrheit als solche. Ja es gäbe, wie Popper richtig mit Hume schließt, auch keine Wahrscheinlichkeit, die für die Wahrheit allgemeiner Urteile spräche, wenn es keine ‚Verifikation‘ oder ein anderes Verfahren (etwa Einsicht) gäbe, die Wahrheit strikt universaler Urteile festzustellen.599 Denn, wie insbesondere Fritz Wenisch in Die Philosophie und ihre Methode600 gezeigt hat, setzt jedes Wahrscheinlichkeitsurteil mit Gewißheit erkennbare Urteile voraus. Wenn es aber weder gewisse noch wahrscheinliche Erkenntnis der Wahrheit allgemeiner Urteile gibt, ließe sich erstens der radikale Skeptizismus bezüglich allgemeiner Urteile nicht vermeiden, der nach Russell dazu führt, daß hinsichtlich ihrer radikalen Bezweifelbarkeit die wahnsinnigsten positiven Annahmen über allgemeine Sachverhalte, wenigstens solange sie noch nicht widerlegt wurden, nicht von positiven und vernünftigen, die sorgfältigst erhärteten nicht von den willkürlichsten unterschieden werden könnten. Zwar könnten wahnsinnige allgemeine Behauptungen, die empirisch widerlegt wurden, von Popper von vernünftigen (und zwar im Sinne von immer noch nicht widerlegten) abgegrenzt werden. Nicht aber könnten die unwiderlegten wahnsinnigen von den unwiderlegten vernünftigen Annahmen oder sogar evidenten Erkenntnissen abgegrenzt werden und beide müßten absolut zweifelhaft (nicht einmal wahrscheinlich) bleiben. Wenn jedoch alle allgemeinen Urteile über die Dinge weder gewiß noch wahrscheinlich wahr sind, folgt ein radikaler Skeptizismus, da – wie schon Aristoteles nachweist – ohne allgemeine Prinzipien wie das Widerspruchs599 600
Vgl. Popper, ebd., 86 ff. Siehe F. Wenisch, Die Philosophie und ihre Methode; ders., “Insight and Objective Necessity – A Demonstration of the Existence of Propositions Which Are Simultaneously Informative and Necessarily True?”, S. 107-197.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 519
prinzip und viele andere überhaupt kein vernünftiger, sich selbst nicht vernichtender Gedanke möglich ist (wie übrigens auch Stegmüller in seinem Buch Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft betont).601 Zweitens kann auch Poppers eigene These über das Falsifizierungsprinzip gar nicht gedacht und erst recht nicht als wahr oder wahrscheinlich wahr hingestellt werden, ohne einige für unbestreitbar wahr angenommene allgemeine Behauptungen anzunehmen, z.B. ‚Induktion als formallogischer Schluß aus wiederholter Beobachtung von Einzelnem auf Allgemeines ist ungültig‘; ‚Falsifizierung allgemeiner erklärender Theorien hingegen ist möglich‘. Auch das Widerspruchsprinzip und Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten wird nicht nur, wie Aristoteles im Buch Gamma der Metaphysik nachweist, von jedem Menschen, sondern auch – wie Popper selbst impliziert602 – von Poppers eigener Wissenschaftstheorie im besonderen, ja auch von jeder Wissenschaft im Popperschen Sinn vorausgesetzt. Und zwar setzt Popper offensichtlich diese durch Basissätze weder verifizierbaren noch falsifizierbaren Prinzipien nicht als völlig unbegründbare Hypothesen voraus, was sie seiner Theorie zufolge sein müßten, sondern als begründete, ja dogmatisch vorgetragene Behauptungen, oder als evidente Gesetze, was sie auch tatsächlich sind. Das geschieht nicht nur ausdrücklich in den eben angegebenen Texten Poppers,603 sondern als notwendige logische Implikation seiner vielen dogmatischen und apodiktischen Zurückweisungen des ‚Dogmatismus‘ und anderer Standpunkte, die alle das ebenso fraglos-dogmatisch angenommene Widerspruchsprinzip voraussetzen. Also folgt aus der Popperschen Theorie notwendig ein innerer Widerspruch. Dieser Widerspruch zwischen den Thesen der Popperschen Wissenschaftstheorie und ihren eigenen Ansprüchen erweist sich als wesentlich universaler Widerspruch. Denn keine empirische Wissenschaft (wie aus der folgenden Kritik an Poppers Wahrheitsannäherungsthese hervorgeht) kann ohne jede positive Annahme über wahrscheinlich (und auch sicher) wahre allgemeine Sachverhalte bestehen. Ja ohne die Annahme wenigstens wahrscheinlich bestehender positiver und allgemeiner Sachverhalte wird auch die raison d’être für die Falsifizierungsbestrebungen Poppers aufgehoben und erhalten diese, wie Henke in seiner Kritik nachweist, einen perversen 601 602 603
Vgl. Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft. Z.B. Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 13. Siehe ebenfalls Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 13.
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KAPITEL 11
Charakter. Denn wenn die ausschließliche Leistung der Wissenschaft im Testen von Annahmen oder im Erweis von deren Irrigkeit bestünde, bzw. wenn der Falsifizierungsversuch den alleinigen Zweck der Wissenschaft bildete, ohne daß jemals die Wahrheit der so getesteten Thesen auch nur wahrscheinlich würde, dann verlöre diese Prozedur ihren ernsthaften Sinn als Wissenschaft, d.h. als Wissen. Das Beibehalten der ‚rein abstrakten Möglichkeit des Wahrseins‘ träte an die Stelle des Wahrseins selbst. Im Hinblick auf diesen Wahrheitsersatz bzw. auf diesen Ersatz der Erkenntnis von Wahrheit durch ‚unwiderlegten Wahrheitsanschein‘ aber bleiben Poppers Pathos des Wahrheitsstrebens als solches, die Rolle der Wahrheit als heuristischer Idee der Wissenschaft und die Idee der Annäherung an Wahrheit (verisimilitudo) letztlich unverständlich bzw. müßten dahin umgedeutet werden, daß das positivste Ziel der Wissenschaft dieses sei: daß der Anschein der Wahrheit einer These noch nicht widerlegt wurde. Die aus Poppers Anschauung folgende radikale Suspendierung jedes Wahrheits- oder Wahrscheinlichkeitsanspruchs in bezug auf allgemeine Aussagen widerspricht also erstens dem Wesen der Wissenschaft überhaupt (auch der empirischen), zweitens Poppers philosophischer Wissenschaftstheorie, insbesondere seiner Lehre von ‚Annäherung an die Wahrheit‘ (verisimilitudo), ‚Wahrheitsbemühung‘ und dem Wesen der Wahrheit als Übereinstimmung im Sinne Tarskis (und Aristoteles’). Denn auch die Wahrheit all dieser Elemente der Popperschen Theorie wären nicht einmal – in irgendeinem objektiven Sinne des Wortes, der eine begründete Annahme rechtfertigt – wahrscheinlich, wenn er in seiner Erkenntnistheorie recht hätte. 1.7. Die Unhaltbarkeit der von Popper anerkannten positiven Rolle allgemeiner wissenschaftlichen Hypothesen ohne Erkenntnisgewißheit
Die Rolle der allgemeinen Hypothesen und daher nicht selbst verifizierbaren Annahmen im Vorhersagen empirischer Resultate (durch deren ‚Erlaubnis‘ Popper sich ebenfalls vom älteren Positivismus des Wiener Kreises unterscheidet) ließe sich gewiß an sich erklären, ohne die Wahrheit dieser allgemeinen Auffassungen vorauszusetzen, zumindest in jenen Fällen (wie der Einsteinschen Relativitätstheorie), in denen keine direkte Wirklichkeitsbezogenheit nötig ist, um den pragmatischen ‚Erfolg‘ einer
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 521
Theorie zu begründen. Dennoch bleibt diese heuristische Rolle wissenschaftlicher Theorien m.E. unerklärt und irrational, wenn in ihnen nicht wenigstens eine Implikation steckt, die sich in allgemeine Aussagen über Wirklichkeit verwandeln läßt. Diesen Punkt können wir hier nicht näher verfolgen. Wie das cogito und die Erkenntnis allgemeiner Prinzipien sich als Bedingung der Möglichkeit auch empirischer Gewißheit erweisen läßt, so setzen auch alle Vorhersagen über Einzelereignisse, wie Popper sie annimmt, solche Gewißheiten voraus und lassen sich ohne dieselben nicht rechtfertigen. Denn ohne manche unbezweifelbare Evidenzen kann es prinzipiell überhaupt keine Erkenntnis, ja nicht einmal eine begründete Meinung geben.604 2. Zur Verisimilitude (Wahrheitsnähe, Annäherung an die Wahrheit) und deren Widerspruch zur These Poppers, daß Verifizierung allgemeiner Aussagen unmöglich sei Es scheint unmöglich, die Betonung der Wahrheit als Übereinstimmung und vor allem die These von der Annäherung wissenschaftlicher Ergebnisse an Wahrheit mit der Behauptung in Einklang zu bringen, daß alle Verifizierung und positive Erhärtung allgemeiner Urteile unmöglich sei, womit Poppers kritischer Rationalismus steht und fällt. 2.1. Vieldeutigkeit und selbst-kritische oder widerspruchsvolle Diskussion des Begriffs Wahrheitsnähe bei Popper
Was heißt überhaupt Wahrheitsnähe (verisimilitude) bei Popper? Bevor wir uns auf eine kritische Analyse der bekannten Lehre Poppers einlassen, sei besonders hervorgehoben, daß Popper im 2. Anhang zur vierten Auflage von Objektive Erkenntnis auf Grund verschiedener Kritiken von 604
Siehe dazu neben den Ausführungen Aristoteles‘ über das Widerspruchsprinzip in Metaphysik IV und der Zweiten Annalytik, sowie E. Husserl‘s ‘Prolegomena’ zu den Logischen Untersuchungen auch F. Wenisch, Die Philosophie und ihre Methode; ders., “Insight and Objective Necessity”, Aletheia IV (1988), 107-197; J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit;Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism.
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W.V.Quine, P. Tichy, D. Miller u.a. gewisse Unklarheiten anerkannt hat, die sich in seinem Begriff der Wahrheitsnähe verbergen.605 Popper deutet auf Grund dieser Kritiken die Wahrheitsnähe als diejenige Eigenschaft einer Theorie t1, „empirischen Prüfungen in jenen Punkten stand(zuhalten), in denen sie sich von t0 unterscheidet.“ Popper fährt fort: „solange kann t1 als bessere Annäherung an die Wahrheit angesehen und beurteilt werden.“606 Man kann nicht sagen, daß der Begriff der Wahrheitsnähe durch diesen 1980 verfaßten Artikel und die vorhergehende oder darauffolgende Diskussion von Popper ganz aufgegeben oder entscheidend geklärt wurde. Vielmehr schwankt der Sinn der Annäherung an Wahrheit von der einfachen Unwiderlegtheit einer ‚kühnen These‘ in dem Sinne, daß dieselbe bisherigen Widerlegungsversuchen standgehalten habe, bis zur Wahrscheinlichkeit, von der a.a.O. in einem Sinn die Rede ist, der sich von „wahrscheinlich im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung“ unterscheide.607 Selbst wenn Popper in jüngster Zeit seine bekannte Theorie ganz aufgegeben haben sollte, müssen wir sie als Bestandteil der gegenwärtigen kritischen Diskussion in ihrer Fassung bis 1985 einer Kritik unterziehen. In der englischen Version von Objektive Erkenntnis werden zur Bestimmung der Wahrheitsnähe die Begriffe des ‘logical content’ und der ‘consequence class’ benützt.608 Unter dem logischen Gehalt einer These wird dann verstanden, daß eine These ‚inhaltsreich‘ im logischen Sinne ist, wenn viele andere Thesen aus ihr folgen. Unter Wahrheitsnähe wird dann etwas ganz verschiedenes gemeint, nämlich daß aus einer Theorie mehr wahre (und weniger falsche oder keine falschen?) Theorien folgen als aus einer anderen Theorie.609 Tarskis Version der Adäquationstheorie der Wahrheit wird also von Popper mit dem (mit Hilfe von Wahrheitsimplikationen einer Theorie T) neu definierten Begriff des logischen Inhalts einer Theorie verknüpft und gefragt, ob und in welchem Ausmaß der ‚größere Wahrheits-Gehalt‘ einer These oder Theorie zukommt (im Sinne, daß mehr 605 606 607 608
609
Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 376-382. Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 378. A.a.O. 380. Vgl. Popper, Objective Knowledge. An Evolutionary Approach, a.a.O. 47 ff., 52 ff. Vgl. auch Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, a.a.O., 17 ff., 52 ff., 376 ff. Objective Knowledge, 52.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 523
wahre Sätze aus ihr folgen als aus einer anderen Theorie, und/oder weniger falsche).610 Dabei bleibt es ganz unklar, welche von den folgenden Begriffen der Terminus ‚Annäherung an Wahrheit‘ ausdrücken soll.
2.1.1. Was heißt überhaupt Wahrheitsnähe (verisimilitude)? Sechs ganz verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks bei Popper – ohne die nötigen Unterscheidungen 2.1.1.1. Wahrheitsnähe als Unwiderlegtheit oder Nichtfalsifiziertheit einer Hypothese oder Theorie oder als Unwiderlegtheit ihres empirischen ‚Wahrheitsgehaltes‘ – Weitere Vieldeutigkeiten der Ausdrücke „Wahrheitsnähe“ und „Annäherung an die Wahrheit“
Gelegentlich versteht Popper unter Wahrheitsnähe einfach eine Annahme oder auch die Tatsache, daß eine Theorie t1 (noch) nicht falsifiziert ist, weil sie logisch viele Einzelurteile einschließt, die wahr sein können, weil keines von ihnen Erfahrungsdaten widerspricht und weil keines von ihnen falsifiziert worden ist. Was aber heißt hier Unwiderlegtheit und Unfalsifiziertheit? Genauer betrachtet, verbergen sich hinter diesem ersten Sinn der Wahrheitsnähe bereits fünf ganz verschiedene Dinge: Heißt dies ‚Unwiderlegbarkeit‘ in dem Sinne, in dem analytische (tautologische) Urteile unwiderlegbar sind? Offenbar nicht, weil diese Urteile, auch wenn etwa aus dem analytischen Urteil „Der Mensch ist der Mensch“ unendlich viele unwiderlegte und unwiderlegbare wahre Urteile folgen, die jeden einzelnen wirklichen und möglichen Menschen umfassen, keine inhaltlich neue Erkenntnis, die über das Identitätsprinzip und die Begriffsbestimmung hinausginge, enthalten. Heißt diese Wahrheitsnähe vielleicht die Unwiderlegtheit ideologischer Konstruktionen und Systeme, denen und deren logischen Implikationen keine Tatsachenbeobachtung widersprechen kann? Offenbar nicht. Denn Popper meint bekanntlich, daß Unwiderlegbarkeit synthetischer (inhaltlicher) Urteile, denen kein Erfahrungsinhalt widersprechen kann, kein Vorzug, sondern ein Nachteil einer Theorie ist, ja daß es Unwiderlegbarkeit inhaltlicher Aussagen (synthetischer Urteile) – außer bei tautolo610
Ebd., 53.
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KAPITEL 11
gischen und inhaltsleeren Aussagen – nur bei ideologischen und willkürlichen Thesen wie dem Marxismus, Freudianismus, bei der Evolutionstheorie und ähnlichen Theorien gibt, die man nur wegen ihrer Willkürlichkeit und Unwissenschaftlichkeit gar nicht empirisch widerlegen könne, was jedoch nicht die Wahrheitsnähe, sondern die Bedeutungslosigkeit solcher Urteile zur Folge habe. Unwiderleglichkeit und unendlich viele unfalsifizierbare Implikationen zu haben kann dann, wie nach Poppers Meinung beim Idealismus oder Realismus, einfach in der prinzipiellen empirischen Unwiderlegbarkeit einer These wegen deren Unwissenschaftlichkeit seine Wurzel haben. Inhaltliche Thesen, die prinzipiell durch keine Erfahrung falsifizierbar sind, seien wertlos. Diese Meinung Poppers ist dort berechtigt, wo es wirklich um unerkennbare inhaltliche Aussagen geht, die prinzipiell keine Erkenntnisbasis besitzen, aber zugleich keiner empirischen Beobachtung widersprechen können. Fichtes im Rahmen der Kohärenztheorie der Wahrheit diskutiertes Beispiel eines elaborierten Systems von Luftgeistern, dessen höchst ausgefeiltem Inhalt keine Wahrnehmung widersprechen kann, ist ein gutes Beispiel dafür. Wenn Popper allerdings Wahrheitsnähe als einfache faktische Unwiderlegtheit einer These und ihrer logischen Folgen bestimmt, müßten diese ideologischen und nicht falsifizierten Hypothesen die größte Wahrheitsnähe besitzen, was Popper bestreiten würde. Deshalb können wir folgern, daß Popper diesen ersten Sinn von Wahrheitsnähe nur solchen Theorien zuschreibt, aus denen nicht nur logisch zahlreiche unwiderlegte, sondern prinzipiell empirisch widerlegbare (falsifizierbare), wenngleich de facto unwiderlegte, Urteile folgen. Diese Urteile sind wohl der Kern dessen, was Popper mit Wahrheitsnähe einer Theorie im Auge hat. Denn es kann großer (oder größtmöglicher) Wahrheitsgehalt (truth content) einer These zukommen, die empirisch allgemein ist oder jedenfalls unzählige empirische Urteile logisch einschließt, die falsifizierbar sind und nur ‘halt noch nicht widerlegt wurden’. Es kann aber „Unwiderlegtheit“ einer These auch Unwiderlegbarkeit in dem weiteren Sinne der Transzendentalphilosophie oder auch in jenem Stegmüllers meinen, daß es Annahmen und Voraussetzungen gibt (wie nach Stegmüller die Grundvoraussetzung aller Wissenschaft, daß es neben Beweisen auch unmittelbare Einsichten gibt), die notwendig für jedes Denken vorausgesetzt und deshalb unwiderlegbar sind, weil ihre Leugnung
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 525
sich selbst widerspricht, die aber total unbegründbar sind, weil jedes Argument für sie sie bereits voraussetzt und deshalb zirkulär wäre. Unwiderlegbarkeit in diesem Sinne ist daher das Gegenteil willkürlicher Ideologien: es handelt sich vielmehr um unvermeidbare Voraussetzungen allen Wahrnehmens und Denkens überhaupt, die Annahmen und Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Denken darstellen, deren inhaltliche Wahrheit aber nicht feststellbar ist, die also den Charakter denknotwendiger subjektiver Voraussetzungen haben. Nicht Falsifiziertheit kann aber auch Unwiderlegbarkeit in dem klassischen und normalen Sinne meinen: daß eine These nicht eine ideologische Annahme oder nur eine subjektive notwendige Denkvoraussetzung ohne jede Erfahrungsbasis ist, sondern in ihrer Wahrheit mit Gewißheit und unzweifelhaft erkannt wird und deshalb unwiderlegt und unwiderleglich ist.611 Dies wäre natürlich ein immenser Vorteil einer These, allerdings ein Vorteil, den Popper leugnet (wenn er auch wenigstens im Falle empirischer Einzelbeobachtungen und Basissätze, sowie im Falsifizierungsgedanken selbst solche unwiderleglich wahren Basissätze ebenso wie universale evidente Sachverhalte teils explizit, teils implizite voraussetzt). Freilich müßte Popper in ihrer Wahrheit erkennbaren und einsichtigen unwiderleglichen synthetischen Urteilen, würde er sie anerkennen, höchste Wahrheitsnähe zusprechen. Denn wenn eine jede unwiderlegliche Theorie oder Aussage logisch unendlich viele niemals von Beobachtungen falsifizierte Thesen enthält, müßte sie nach der obigen Definition den größtmöglichen ‚Wahrheitsgehalt‘ haben (weil sie nicht nur noch nicht als falsch erwiesen worden wäre, sondern gar nicht als falsch erwiesen werden könnte). Freilich handelt es sich hier nicht mehr bloß um Wahrheitsnähe, sondern um einsichtige Wahrheit. Wie wir sehen, ist auch der erste Sinn der Popperschen „Wahrheitsnähe“ (die Unwiderlegtheit einer These) noch ein äquivoker Ausdruck. Erst recht gilt dies von dem Popperschen Ausdruck „Annäherung an die Wahrheit“. (1) Einmal könnte sich dieser Ausdruck (gegen die Intentionen, aber als logische Folge aus den allgemeinen Behauptungen Poppers) auf unkontrollierbare Sätze in drei der unterschiedenen Bedeutungen von nicht falsifizierten Theorien (a-b; d) beziehen. (2) Andererseits könnte Popper mit der Annäherung an die Wahrheit ein Prädikat allgemeiner Theorien mit 611
Vgl. D.C. Stove, “How Popper’s Philosophy began”, S. 381-387.
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empirischen (und daher falsifizierbaren) logischen Implikationen meinen (c), je nachdem wie lange Zeit und in vielen Experimenten und Tests diese nicht widerlegt wurden. In diesem Zusammenhang könnte Popper auch falschen Sätzen größten Wahrheitsgehalt und Annäherung an die Wahrheit zuschreiben, wie wir gesehen haben, nämlich wenn sie noch nicht tatsächlich widerlegt wurden und wenn ihnen viele empirisch feststellbare wahre Einzelbeobachtungen entsprechen. (3) Schließlich könnte Popper unter Annäherung an die Wahrheit empirische Basissätze oder auch allgemeine Urteile, wie er sie in seiner Falsifikationstheorie massenhaft voraussetzt, ohne dies zu bemerken, verstehen, die mit Gewißheit als wahr erkannt werden können. Dann hätte zwar noch der Begriff der Nichtfalsifiziertheit, nicht aber der Begriff der ‚Annäherung an Wahrheit‘ einen Sinn; denn hier fänden wir mehr: tatsächliche Wahrheit. Allerdings könnte man auch hier in einem ganz neuen Sinn von Wahrheitsnähe und Annäherung an die Wahrheit reden, wenn wir die Unendlichkeit und Unerschöpflichkeit der Wahrheit im Auge hätten, welche der Mensch niemals vollständig erkennen, sondern der er sich nur annähern kann, weil jedes wahre Urteil und jede wahre Erkenntnis zahllose weitere erlaubt, die wir noch nicht gewonnen bzw. erkannt haben. 2.1.1.2. Wahrheitsnähe als Wahrscheinlichkeit oder als ‚begründete‘ Hypothese
Meint Annäherung an die Wahrheit letzten Endes – trotz allen gegenteiligen Beteuerungen Poppers – nicht doch die alte (von Popper ausgeschlossene) Wahrscheinlichkeit (im Sinne einer objektiven erkenntnistheoretischen Begründetheit der Meinung, ein bestimmtes Naturgesetz gelte bzw. ein bestimmtes Ereignis werde eintreten oder sei eingetreten), oder vielleicht anstelle irgendeiner objektiven Wahrscheinlichkeit nur noch die abstrakte Möglichkeit, daß eine noch unwiderlegte und doch schon vielfach getestete These ‚vielleicht wahr‘ ist? Dann wäre verisimilitudo ‚unwiderlegter Anschein‘ von Wahrheit oder sogar mehr: Wahrscheinlichkeit, daß die These ‚wirklich wahr sei‘. Der von Popper, Albert und anderen kritischen Rationalisten gebrauchte Ausdruck Plausibilität legt dies nahe. Denn dies heißt gewiß mehr als einfache Unwiderlegtheit.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 527 2.1.1.3. Wahrheitsnähe als mathematische Proportion zwischen Wahrheitsgehalt und Falschheitsgehalt einer Theorie oder als anzahlenmäßiges Überwiegen des ‚Wahrheitsgehaltes‘ einer Theorie gegenüber deren ‚Falschheitsgehalt‘
Oder meint ‚Annäherung an Wahrheit‘ vielleicht etwas ganz vom Adäquationsbegriff der Wahrheit Verschiedenes, nämlich eine Eigenschaft einer These, die total unabhängig davon ist, ob sie selbst wahr oder falsch ist und die ihr zukommen könnte, auch wenn sie ganz gewiß falsch wäre? D.h. Wahrheitsnähe im Sinne eines quasi-mathematisch bestimmten Begriffs der Proportion zwischen Wahrheitsgehalt und Falschheitsgehalt, die mit den beiden ersten Bedeutungen dieses Ausdrucks kaum etwas gemein hat? Dann wäre Annäherung an die Wahrheit dann gegeben, wenn die wahre oder falsche Theorie viele empirische Thesen einschließt, die sich als wahr bewähren. Dies würde eine bestimmte Abwandlung des pragmatischen (pragmatizistischen) Wahrheitsbegriffes im Sinne von Peirce oder auch James darstellen. Eine These würde sich der Wahrheit in dem Maß annähern, als sie vieles erklärt, vorherzusagen oder zu berechnen erlaubt usf., was sich dann empirisch beobachten läßt. Wenn die Anzahl der aus einer Theorie folgenden wahren Aussagen oder Voraussagen die Anzahl der aus dieser Theorie folgenden falschen Aussagen übertrifft, würde sich die Theorie der Wahrheit annähern. Dieser noch vieldeutige Begriff von ‚Wahrheitsannäherung‘ ersetzt Wahrheit im Sinn der ‚Adäquatio‘ durch ‚Praktikabilität‘, auch wenn dabei von Popper im Gegensatz zum Pragmatismus für die auf Einzeltatsachen bezogenen Basissätze Wahrheit im Sinne der adaequatio vorausgesetzt bleibt. Dieser Wahrheitsannäherungskonzeption liegt eine Auflösung der Allgemeinurteile auf viele logisch folgende Einzelurteile und ein quantitatives Bestimmen der Wahrheitsannäherung durch die Zahl wahrer logischer Implikationen (gegenüber der Zahl falscher empirischer Folgesätze einer Theorie) zugrunde. In Wirklichkeit, so versuchten wir im Anhang zur zweiten Auflage von Erkenntnis objektiver Wahrheit zu zeigen, ist eine derartige Wahrheitskonzeption unhaltbar, weil sie dem objektiven Wesen der Wahrheit als Übereinstimmung widerspricht, das auch von einer solchen Theorie an anderer Stelle notwendig vorausgesetzt wird, und weil evidenterweise eine in sich falsche These nicht durch ihren Erfolg oder dadurch ‚wahr‘ wird, daß aus ihr mehr wahre als falsche Urteile folgen, was in fast allen Fällen falscher Urteile vorkommt. Evidentermaßen ist dieser ‚Erfolg‘ (sei es im
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empiristischen Sinn, der heute moderner Mathematik und Physik weitgehend zugrundeliegt, der Vorausberechenbarkeit von Tatsachen, sei es in Form des geistigen oder militärischen ‚Sieges einer Ideologie‘) kein Wahrheitsbeweis, wie wir dies bereits im Zusammenhang der Diskussion einer der pragmatistischen und Erfolgstheorien der Wahrheit zeigen konnten. 2.1.1.4. Wahrheitsnähe als Reinheit des empirischen Wahrheitsgehalts
Oder soll Wahrheitsannäherung vielleicht mit der ‚Reinheit‘ – statt mit der bloßen quantitativen ‚Überzahl‘ – von ‚lauter empirisch nachprüfbaren wahren Sätzen‘, die aus einer Theorie folgen, identifiziert werden? Eine Theorie würde dann verisimile genannt, wenn nicht nur viele, sondern sogar alle bisher festgestellten ihrer logischen Konsequenzen sich als wahr erwiesen. Da aber jeder Logiker weiß, daß aus falschen Thesen Wahres folgen kann und da außerdem, wie Pfänders logische Analyse des Urteils und seines Wahrheitsanspruchs in seiner Logik ausführlich gezeigt hat, die Wahrheit von partiellen Teilinhalten einer These in keiner Weise einen zureichenden Grund für die Wahrheit einer allgemeinen These darstellt, erweist sich, daß auch dieser Begriff von Wahrheitsnähe nicht eigentlich diese bezeichnet, sondern sogar das Gegenteil von Wahrheit, nämlich Falschheit, diesem künstlichen Begriff von Wahrheitsnähe entsprechen kann. Der Begriff eines solchen ‘truth content’ mag brauchbar für empirische Wissenschaften sein oder auch nicht. Mit einem philosophisch haltbaren Wahrheitsbegriff und einer vertretbaren Theorie der ‚Annäherung‘ an Wahrheit hat er nichts zu tun. 2.1.1.5. Wahrheitsnähe als ‚ungefähre Entsprechung‘ mit der Wirklichkeit
In einem ganz anderen Sinn spricht Popper von Wahrheitsnähe dann, wenn er damit so etwas ‚eine grobe Entsprechung der Newton’schen oder ähnlicher Theorien an die Wirklichkeit‘ meint: d.h. für die normale Erfahrungswelt und die Makrowelt, soweit wir sie im täglichen Leben und in den meisten wissenschaftlichen Experimenten erfahren, ist die gegebene Theorie wirklich und vielleicht sogar überall adäquat, auch wenn sie für das ferne All oder die Mikrowelt nur noch annähernd (ungefähr) gilt.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 529 2.1.1.6. Wahrheitsnähe als Annäherung an die ‚ganze Wahrheit‘?
Ein fünfter Begriff der Wahrheitsnähe wurde bereits erwähnt, der sehr sinnvoll ist und manchmal bei Popper durchklingt. Wenn man im klassischen Sinne wahre Erkenntnisse oder besser wahre Sätze (Urteile) voraussetzt, so ist doch klar, daß keines dieser wahren Urteile alle Wahrheit über einen Gegenstand und erst nicht über die Gesamtheit der Dinge erschöpft. Der Gegensatz zwischen unvollständiger Erkenntnis und unvollständig in Sätzen ausgedrückter Wahrheit und der ‚ganzen Wahrheit‘ könnte auch mit dem Begriff der Wahrheitsnähe in einem klassischen, von Platons Worten über den Philosophen in Politeia 6 und 7 und vom Phaidon bis G. Marcel anerkannten Sinn, identifiziert werden. Man könnte darauf hinweisen, daß sämtliche unvollständigen Erkenntnisse und die wahren Urteile, in denen diese ihren Ausdruck finden, nicht das Ganze der Wahrheit in ihrer inneren Einheit und Gesamtheit zu fassen vermögen. In diesem Sinne können sie sich nur der Wahrheit annähern, diese aber nicht erreichen. Auch jeder der Erkenntnis beigemischte Irrtum wäre selbstverständlich ein Hindernis zur volleren Wahrheitsannäherung in diesem Sinn. Es bedarf keiner weiteren Erklärung, um zu sehen, daß hier ein völlig neuer Sinn von Wahrheitsnähe vorliegt.
2.1.2. Zum Widerspruch zwischen Poppers objektivistischem Wahrheitsbegriff und seiner im Begriff der Wahrheitsnähe (vor allem in der 3. und 4. Bedeutung) implizierten neuen Wahrheitstheorie
Popper setzt den objektivistischen Korrespondenzbegriff der Wahrheit im Sinne Tarskis voraus. Es geht Popper nicht sosehr oder nicht primär um ‚praktischen Erfolg‘. Vielmehr geht es ihm darum, die Annahme der sicheren oder wahrscheinlichen Erkenntnis der Wahrheit einer Theorie durch den Begriff zu ersetzen, daß sie sich gegenüber Kritik bewährt, d.h. gegen sie standhält. Dieser Erfolg ist dabei nur der negative des ‚(noch) nicht Widerlegtseins.‘ Dieselben Thesen, von denen Popper sagt, daß wir absolut nichts über ihre Wahrheit wissen und dieselbe nicht einmal hypothetisch als wahrscheinlich wahr ansetzen können, werden als ‚wahr‘ oder ‚wahrheitsnah‘ bezeichnet, wenn sie erfolgreich der Kritik Widerstand geleistet haben (und zwar nach den bloß von ihm behaupteten Kriterien). Andere der oben erwähnten möglichen Bedeutungen von ‚Wahrheits-
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approximation‘ mischen sich mit Poppers These über weder mit Sicherheit noch mit Wahrscheinlichkeit erreichbare Erkennbarkeit der Wahrheit. Daraus ergibt sich aber letzten Endes eine Krise, ja eine folgerichtige Infragestellung des Wahrheitsbegriffs als Adäquation (mit dessen Anerkennung Popper übrigens wieder eine Evidenz über das Wesen der Wahrheit und nicht eine unbegründbare Hypothese voraussetzt). Im Grund geht es bei Popper um einen m.E. tragischen Widerspruch zwischen philosophischer Intention und deren Realisierung. Popper hat ein hohes Wahrheitspathos. Er sieht die ganze Wissenschaft auf deren Prüfung ausgerichtet und versteht seine Theorie der Wahrheitsnähe als menschliche Form dieses Bemühens. Im Laufe seiner Versuche, die nicht positiv erkennbare und niemals sichere Wahrheit zu testen, gerät Popper jedoch in eine unklare Theorie der Wahrheitsnähe, des Wahrheits- und Falschheitsgehalts usf., infolge deren in seiner Philosophie eine bestimmte neue ‚Entthronung der Wahrheit‘ eintritt. Diese ähnelt der bei den Pragmatisten vorfindlichen, weicht aber zugleich davon ab bzw. ersetzt deren Idee der Wahrheit als praktischer Erfolg von Theorien durch eine Idee der Wahrheit als ‚theoretischen Erfolg‘ von Theorien im Standhalten gegenüber Falsifikationsversuchen und ihrem Erklärenkönnen vieler empirischer Einzelbeobachtungen bzw. ihrer Kohärenz mit diesen. 2.2. Kritik der implizierten ‚neuen Wahrheitstheorie‘ Poppers
Durch all dies wird der Wahrheitsbegriff Poppers äußerst problematisch. Zunächst scheint dieser, in Anwendung auf Einzelurteile, nur in der Wiederholung der klassischen Adäquationstheorie durch Tarski zu bestehen.612 Auch wenn Popper von Falsifizierung allgemeiner Aussagen durch Beobachtung redet, setzt er diesen Begriff der Wahrheit als 612
Tarskis Theorie läßt sich in Poppers Worten zusammenfassen: „Die Aussage P der Objektsprache stimmt genau dann mit den Tatsachen überein, wenn p“. Man kann kaum behaupten, daß diese berühmte Aussage besonders philosophisch ist. Während also Tarski die Adäquationstheorie eher wiederholt als den Sinn der als Wahrheit bezeichneten ‚Übereinstimmung‘ philosophisch verdeutlicht hat, hat etwa A. Pfänder den Sinn der Übereinstimmung philosophisch genau herausgearbeitet. Vgl. A. Tarski, Logic, Semantics, Metamathematics, 152-278. Vgl. auch A. Pfänder, Logik, a.a.O.
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adaequatio voraus. Popper nimmt gleichfalls in seiner These der Unverifizierbarkeit der Allgemeinurteile als solcher ihre mögliche Falschheit an und identifiziert diese mit der Eigenschaft von Sätzen, nicht mit den Tatsachen übereinzustimmen, also keinem Sachverhalt zu entsprechen. In einer solchen ‚Korrespondenz‘ bestünde ihre Wahrheit. Bei genauerer Analyse zeigt es sich jedoch, daß Poppers bereits erörterte Theorie der Wahrheit allgemeiner Urteile und insbesondere seine Theorie von deren ‚Annäherung an die Wahrheit‘ Rückwirkungen auf sein Wahrheitsverständnis hat und einen neuen Wahrheitsbegriff impliziert, der sich dem pragmatischen und pragmatizistischen nähert. Die Neuheit dieser impliziten Popper’schen Wahrheitsheorie erkennt man vor allem aus folgendem: 1. Popper setzt gewiß bei seiner Bestimmung der ‚Annäherung‘ an Wahrheit zunächst Wahrheit im Sinne der Adäquation voraus. Er erkennt einer allgemeinen These T nur deshalb einen Wahrheitswert zu, weil eine große Klasse von wahren Aussagen T1 logisch aus ihr folgen. Diese Aussagen stimmen mit den Tatsachen überein. 2. Wie wir gesehen haben, führt aber sein Begriff des Wahrheitsgehaltes und Falschheitsgehaltes allgemeiner Thesen Popper dazu, auch radikal falschen Thesen einen hohen Wahrheitswert zuzuschreiben, ja sie als ‚Wahrheiten‘ gelten zu lassen, wenn mehr der aus ihnen als der aus anderen Theorien folgenden empirischen Aussagen wahr sind. 3. Testen wir jedoch Poppers Theorie mit den Mitteln vernünftiger Einsicht. Nehmen wir die Frage, ob es Freiheit in der Welt gibt. Antwortet man auf diese Frage mit einem ‚Nein‘, und sind dennoch alle Menschen frei, so ist diese Aussage falsch und wird nicht partiell wahr dadurch, daß unendliche Klassen von Steinen, Tieren und Pflanzen tatsächlich nicht frei sind, daß also die Klasse der im Urteil ‚Es gibt keine Freiheit‘ implizierten wahren Sätze T1 größer als die der falschen T2 ist. Das besagte Urteil als solches ist entweder wahr, und zwar genau dann, wenn es in seinem behauptenden Bedeutungsgehalt mit dem Selbstverhalten der behaupteten Sachverhalte zusammentrifft, wenn es also wirklich keine Freiheit in der Welt gibt. Oder aber es ist falsch, und zwar dann, wenn es auch nur ein einziges freies Wesen auf der Welt gibt. Wenn ein Allgemeinurteil als solches falsch ist, hilft es zum Ziel seiner ‚Annäherung an Wahrheit nichts‘, wenn man auch noch so viele wahre Teilaussagen aus dem falschen Allgemeinurteil ableiten kann. Man darf selbstredend feststellen,
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daß die wahren Implikationen auch einer falschen Theorie wissenschaftlich von hoher Bedeutung sind. Aber zu behaupten, ein solches falsches Urteil habe einen hohen ‚Wahrheitsgehalt‘ und nähere sich der Wahrheit an, impliziert hinsichtlich der Allgemeinaussagen einen ganz anderen Wahrheitsbegriff als den Tarskischen und den klassischen Adäquationsbegriff und verwechselt jedenfalls die Wahrheit der im Universalurteil implizierten Urteile mit der eigenen (nicht bestehenden) Wahrheit des universalen Allgemeinurteils selbst. 4. Eine solche Wahrheitskonzeption muß, wenn sie logisch durchdacht wird, dazu führen, daß das Prinzip vom Ausgeschlossenen Dritten nicht mehr auf Allgemeinaussagen zutrifft, sondern es unendlich viele Wahrheitsgrade und ‚Zwischenwerte‘ zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ gibt. Schon daraus läßt sich erkennen, daß es hier um die Einführung einer neuen ‚Wahrheitsdefinition‘ geht, selbst wenn diese nichts wesentlich Neues bietet, insoferne sie einfach aus der Kombination des Adäquationsbegriffs und des logischen Gehalts von Aussagen hervorgeht. 3. Zu Conjecturalism und Wesenseinsicht: Der Widerspruch zwischen bescheidenem wissenschaftstheoretischem Ziel und ‚Anspruch‘ des kritischen Rationalismus Wie läßt sich übrigens der radikalste Skeptizismus vermeiden, wenn alles, was wir betreffs unserer Allgemeinaussagen erkennen können, dies ist: daß aus ihnen eine Reihe wahrer Urteile folgen, daß aber deren sogenannte „Annäherung an die Wahrheit“ genausogut in ihrer Falschheit gründen kann wie in ihrer Wahrheit? Noch weniger läßt sich radikaler Skeptizismus dann vermeiden und noch eindeutiger ergeben sich Widersprüche für Popper, wenn nicht bloß jede Gewißheit und Wahrscheinlichkeit allgemeiner Urteile und Theorien geleugnet wird, sondern auch die Gewißheit jener Einzelbeobachtungen, durch die allein ja die Falsifizierung allgemeiner Ansprüche erfolgen soll. Nun bezweifelt Popper auch den gewissesten Fall einer Einzelbeobachtung, nämlich jene Gewißheit, die Descartes im Cogito fand, also die Gewißheit über unsere eigene Existenz, von der jede andere Gewißheit unsererseits abhängt, da ein nichtexistierendes Wesen geradeso wie eines, das nicht weiß, daß es existiert, nichts erkennen kann. Ebenso ist keine
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Gewißheit über von unserer eigenen Existenz verschiedene Sachverhalte möglich, wenn unsere eigenen Wahrnehmungen, die ihrerseits unsere Existenz und die Erkenntnis des Selbst voraussetzen, ungewiß bleiben. Mit seinem Zweifel am Cogito stellt Popper auch die empirischsten Gewißheiten und Falsifizierungen allgemeiner wissenschaftlicher Aussagen skeptisch radikal in Frage. Aus der aus dieser Auffassung folgenden Infragestellung auch jeder endgültigen empirischen Erkenntnis und Falsifizierung folgt also ein radikaler Skeptizismus der Popperschen Wissenschaftskonzeption. Dazu kommt, daß – wie von mir nachzuweisen versucht wurde613 – jede empirische Gewißheit, und insbesondere auch die empirische Urgewißheit des cogito, notwendig Gewißheit über allgemeine Sachverhalte, wie das Widerspruchsprinzip und viele andere, voraussetzt, in deren Licht allein die empirisch-faktische Gewißheit über Existenz zu gewinnen ist. So ergibt sich Poppers Skeptizismus in bezug auf empirisch-faktische Gewißheit der Falsifizierung nicht bloß aus seinen ausdrücklichen eigenen Thesen über das cogito, sondern auch aus seiner Nichtannahme irgendeiner Gewißheit über universal-allgemeine Urteile. Wie Henke (mit anderen Kritikern) bemerkt, müßten die kritischen Rationalisten ihre eigene Theorie nur äußerst tentativ und zögernd als Hypothesen vortragen. In Wirklichkeit werden die eigenen Theorien vieler kritischer Rationalisten mit einem scheinbar grenzenlosen Vertrauen auf ihre Wahrheit und Gewißheit oder zumindest auf ihre Überlegenheit, die ebenfalls kritisch in Frage zu stellen wäre, vorgetragen. Es besteht ein erstaunlicher Unterschied zwischen dem oft ‚dogmatischen‘, ja aggressiv-intoleranten Ton, in dem die kritisch-rationalistischen Theorien wie selbstverständliche Wahrheiten vorgetragen und die widersprechenden Theorien der „dogmatischen“ Philosophen oder die Dogmen der katholischen Kirche schärfstens kritisiert werden – und der logischen Konsequenz aus der eigenen Theorie des kritischen Rationalismus, der gemäß derselbe nicht einmal als tentativ wahr, sondern höchstens als ‚möglicherweise wahr‘ bzw. als ‚vielleicht nicht falsch‘ auftreten dürfte. Also sollte der kritische Rationalismus die eigene Theorie bloß zum Zweck ihres ‚Getestetwerdens‘ mit größter ‚Bescheidenheit‘ in das wissenschaftliche Gespräch werfen, ohne den geringsten Anspruch auf ihre Wahrheit 613
Vgl. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit; ders., Back to Things in Themselves.
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oder Wahrscheinlichkeit zu erheben, ja in der Hoffnung, daß sie bald einmal falsifiziert werde.614 Ja eigentlich würde auch eine solche Bescheidenheit nicht genügen, weil aus der Theorie des kritischen Rationalismus keine empirisch testbaren logisch abgeleiteten Folgesätze sich ergeben und es deshalb gar keine empirische Beobachtung gibt, durch die die Theorie Poppers widerlegt werden könnte. Daher würde sich der kritische Rationalismus aus dem eigenen Mund richten und hätte in Poppers Augen seine eigene Wissenschafts- und Wahrheitstheorie bei Anwendung ihrer selbst auf sie selbst den Charakter einer bloßen Ideologie ähnlich dem Marxismus und Freudianismus. Popper selbst hat zwar die Falsifizierbarkeit nicht als Sinn-Kriterium von Sätzen, sondern nur als Kriterium des empirischen Gehalts von Sätzen verstanden. Da es für ihn aber keine apriorische und nicht-empirische Erkenntnis gibt, kann sich der Sinn von empirisch nicht falsifizierbaren Aussagen wohl gar nicht denken und jedenfalls nicht erklären lassen. Wenn man daher annimmt, daß Popper das Carnapsche Kriterium für ‚sinnlose (irrelevante) Sätze‘ dahingehend verschoben habe, daß ein nichttautologischer Satz, um sinnvoll zu sein, zwar nicht empirisch verifizierbar, wohl aber für Falsifizierung durch Sinnesbeobachtung offen sein müßte, dann wäre sowohl die Theorie des kritischen Rationalismus selbst als auch die von Popper vorgetragene Theorie des ‚Realismus‘, von der er zugibt, daß sie weder verifiziert noch auch empirisch falsifiziert werden könne, schlechthin ‚sinnlos‘. Selbst wenn sie nicht sinnlos, sondern nur schlechthin unerkennbar wäre, was sicher aus Poppers Position folgt, beraubt sich Poppers ‚Kritischer Rationalismus‘ – bei Anwendung seiner Theorie auf die eigene Position – jeder Möglichkeit einer kritischen oder überhaupt irgendeiner erkenntnistheoretischen Begründung. Geht man dem Grund für diesen merkwürdigen und dem aufmerksamen Leser leicht in die Augen springenden Widerspruch bzw. für diese Inkonsistenz nach, so wird man finden, daß es sich dabei nicht um zufällige Charakterfehler, sondern eben darum handelt, daß Popper die Wahrheit seiner Theorie (wie die vielen – nach Poppers Theorie unhaltbaren – Ausdrücke wie ‘obvious’, ‘evidently absurd’, etc. beweisen) für rational 614
Diese Hoffnung eines konsequenten kritischen Rationalisten versucht der vorliegende Beitrag zu erfüllen.
Objektivismus in der Wissenschaft und Poppers Theorie der Wahrheit 535
einsichtig hält. Also die verworfene Einsicht in allgemeingültige und universale Sachverhalte wird von ihm selbst vorausgesetzt, und zwar notwendig, wenn er seine Theorie nicht auf die Ebene völlig unverbindlicher Hypothesen oder gar ‚sinnloser Sätze‘ absinken lassen will und wenn ihr Wahrheitspathos gerechtfertigt sein soll. Doch ist die Einsicht auch positiv gegeben, was uns zu einer ‚transzendenten Kritik‘ an Popper führt. Popper scheint vor allem zu übersehen, daß von der Erfahrung des Einzeldinges aus ein anderer Weg zur Allgemeinerkenntnis führen könne außer Induktion. Obwohl seit Platon und Aristoteles (mit den Begriffen nóesis, nous, aisthesis, etc). immer wieder auf die unmittelbare Erkenntnis (nicht nur der Sinne, sondern auch auf die unmittelbare geistige Einsicht in die allgemeinsten und grundlegendsten Prinzipien) hingewiesen wurde, scheint Popper dem nicht nur nicht zuzustimmen, sondern dieses Problem kaum ernstzunehmen. So müssen die flüchtigen Bemerkungen Poppers gegen Kants These der apriorischen Voraussetzungen der Erfahrung und gegen die Existenz von Einsicht als ein Außerachtlassen dieses philosophischen Grundproblems (und als ein Vorbeireden daran) angesehen werden.615 Wenn sich jedoch im Einzelseienden eine notwendige Wesensstruktur von Sein überhaupt, Wert, Gerechtigkeit, Recht, Wahrheit usf. erschließt, dann ist natürlich dieser ‚Übergang‘ von Erfahrung zur Allgemeinerkenntnis ein ganz andersartiger als bei der Induktion im Sinne einer empirischen Methode. Abgesehen davon, daß Popper diese Tatsache selbst voraussetzt – außer in bezug auf seine eigenen wissenschaftsphilosophischen Thesen und allgemeinen logischen Prinzipien auch dann, wenn er synthetisch apriorische Wahrheiten nur für ‚nicht interessant‘, wenngleich für wahr erklärt616 – ist sie auch an sich eindeutig gegeben und wird von Poppers Kritik an der Induktion gar nicht getroffen, da hier ja alle von seinen Theorien aufgeworfenen Probleme des Induktionsschlusses wegfallen und eine direkte Gegebenheit des Allgemeinen als Wesensnotwendiges – im Einzelnen – vorliegt.617 Man kann bei Popper, wie gesagt,
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Siehe besonders Popper, Objective Knowledge, a.a.O., 31 ff.; 46-47; 56-57; 63-64; 68; 136. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 55. Siehe Dietrich von Hildebrand, What is Philosophy?, Kap. 4; Fritz Wenisch, Die Philosophie und ihre Methode.
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gar nicht von einem Eingehen auf dieses philosophische Grundproblem der Einsicht sprechen, soweit ich sehe.618 4. Zur Ablehnung des Cogito und empirischer Evidenz und Wahrheitsansprüche und deren Folgen für die Aufgabe der von Popper verteidigten Korrespondenztheorie der Wahrheit Poppers Kritik619 am Cogito geht m.E. nirgends über ähnliche Kritiken hinaus, die andernorts ausführlich durch den Nachweis widerlegt wurden, daß das Cogito keineswegs inhaltsleer ist, sondern eine Fülle inhaltlicher Existenzerkenntnisse und allgemeiner Wesenserkenntnisse in sich enthält. Die Evidenz des Cogito wird natürlich keineswegs dadurch angetastet, daß jemand verrückt ist und glaubt, er sei tot. Dieser Glaube Kipas setzt dessen Bewußtsein ebenso wie dessen Existenz und seine Erkenntnis beider voraus und bekräftigt daher nur das Cogito-Argument sowie die Erkennbarkeit der Wahrheit unbestreitbar gewisser Urteile.620 Auch die schwerwiegende Folge der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Poppers für den Wahrheitsbegriff selber fällt dahin, sobald man die Falschheit und Unbegründetheit seiner Kritik des Cogito erkennt. Denn wenn Popper darin Recht behielte, daß wir nicht nur niemals die Wahrheit allgemeiner Urteile, sondern auch niemals jene der individuellen Existenzurteile über die eigene Existenz und damit letzten Endes die Wahrheit jedweden Basissatzes und Beobachtungssatzes, dessen berechtigte Behauptung ja eine Erkenntnis der eigenen Existenz und Beobachtungsakte voraussetzt, nicht positiv behaupten dürften, würde sich daraus nicht bloß die unmittelbare Folge ergeben, daß wir rechtmäßiger Weise nur Falschheit, nie Wahrheit von Urteilen behaupten dürften – was sich selbst widerspricht und was wir deshalb auch nicht mehr könnten, da jedem Urteil über die Falschheit eines Urteils („‚S ist P‘ ist falsch“) ein negatives Urteil über einen Sachverhalt entspricht, dessen Wahrheit behauptet wird 618
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Wolfgang Stegmüller hingegen diskutiert trotz seiner die Skepsis als mögliche Option offenhaltenden Position die Einsicht als wissensschaftstheoretisches Zentralproblem in Wissenschaft, Skepsis, Wahrheit. Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.O., 35-37. Vgl. J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit; ders., Leib und Seele, S. 55 ff.
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(„S ist nicht P“), ebenso wie auch jedem negativen Wahrheitsurteil „‚S ist P‘ ist falsch“ ein wahres affirmatives Wahrheitsurteil entspricht, nämlich: „Das Urteil ‚S ist nicht P‘ ist wahr“). Vielmehr ergibt sich aus Poppers negativistischer Wissenschaftstheorie, sobald jemand die radikale Skepsis und epoché jedes Wahrheitsanspruchs, die aus dieser Position logisch folgen muß, nicht akzeptiert, daß der Wahrheitsbegriff selber ausgehöhlt wird, indem an Stelle der Wahrheit eines Urteils als seiner Übereinstimmung mit einem Sachverhalt letztlich ein ganz anderer, evolutionär pragmatischer Wahrheitsbegriff träte, infolgedessen Popper letzten Endes die Wahrheit im Stile seines erkenntnistheoretischen Evolutionismus folgendermaßen definieren müßte: „Wahrheit eines Urteils heißt nichts anderes als: ‚Bisheriges Überleben des stärkeren Urteils im Feuer der Kritik, ohne bis dato falsifiziert worden zu sein‘“, oder: „Wahr ist ein Urteil solange es nicht der Falsifizierung, welche jedes Urteil treffen kann, zum Opfer fällt.“ Damit würden aber nicht nur wahre Urteile für den menschlichen Geist unerreichbar sein und sogar die von jedem Menschen unvermeidlich erhobenen Wahrheitsansprüche ganz und gar unbegründbar werden. Vielmehr, wollte man der destruktiven und radikal skeptischen Folge dieser Ideen über die Wahrheit entfliehen, müßte man einen anderen, konsensualistischen oder pragmatischen Wahrheitsbegriff einführen. Popper scheint also nur der Intention nach am Charakter der Urteilswahrheit als Korrespondenz mit Sachverhalten festhalten zu können, in Wirklichkeit aber deren Idee so weit zu unterhöhlen und von der Erkenntniswahrheit loszulösen, daß ein Popperianer oder kritischer Rationalist letzten Endes gezwungen ist, die von ihm ursprünglich als adaequatio verstandene Urteilswahrheit, deren korrespondenztheoretische Interpretation der Falsifizierungsidee zugrundeliegt, durch einen ganz anderen Begriff der Urteilswahrheit zu ersetzen, der sich nur noch nach Kriterien des rein intersubjektiv-konsensualistisch verstandenen „Überlebens“ von Ideen zu orientieren vermöchte. Von einer solchen Position aus scheint sich, ganz abgesehen von den erwähnten Widersprüchen einer ausschließlich die Möglichkeit der Falsifizierung (ohne Evidenz für Wahrheit) zulassenden Theorie, unausweichlich ein Übergang zu einem konsensualistischen oder pragmatischen oder ähnlichen Wahrheitsbegriff zu ergeben. Warum?
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KAPITEL 11
All diese Folgen ergeben sich erstens dann, wenn man die Popper’sche Skepsis nicht ausschließlich auf Allgemeinurteile, sondern auch auf das Cogito ausdehnt, wie Popper dies an den zitierten Stellen tut; denn damit müssen auch alle Erkenntnisse der Basissätze inklusive des von diesen vorausgesetzten Urteils des Cogito und der Erkenntnis der eigenen Beobachtungsakte bezweifelt werden, da die Evidenz des Cogito jener aller anderen Erkenntnisse (in denen mir ja immer die eigenen Erkenntnisakte mitgegeben sind) und damit auch jener der Basissätze zugrundeliegt. Zweitens aber setzt jede Position und jedes Argument oberste logische und ontologische Evidenzen über universale epistemologische, ontologische und logische Prinzipien voraus, ohne deren Erkenntnis überhaupt nichts anderes erkannt werden kann, wie es ist, weshalb aus de folgenden Skepsis die Flucht in eine andere Wahrheitstheorie wie den Pragmatismus, Pragmatizismus, oder eine verwandte Wahrheitstheorie sich aufdrängt. Allerdings hilft auch eine derartige Flucht nicht weiter. Denn sowohl die Feststellung des Konsenses oder des Erfolges als auch die Falsifizierung einer Theorie setzt wiederum notwendig im korrespondenztheoretischen Sinne wahre Urteile sowie Erkenntniswahrheit voraus, in der die Urteilswahrheit auch von der Person erkannt wird.
KAPITEL 12 DER KAMPF GEGEN DIE UNGESCHICHTLICHKEIT DER WAHRHEIT UND DIE GESCHICHTLICHKEIT DES MENSCHEN ZUR WAHRHEITSTHEORIE HANSGEORG GADAMERS621
I. DIE HERAUSFORDERUNG DER PHILOSOPHIE DURCH HISTORISMUS UND HERMENEUTIK Der Gedanke, daß Philosophie, die nach Platons Beschreibung des Philosophen im Staat (VI) mit dem Ewigen, mit jener Wahrheit zu tun hat, die niemals wechselt, eine Geschichte haben soll, erregt im Philosophen Bestürzung. Sollte denn das, was er für das Wichtigste an der Philosophie hält, ihr Eindringen in Wirklichkeit, Wahrheit, Prinzipien, Zusammenhänge, Wesen, Ursachen, die zeitlos gültig sind, selbst wenn sie Zeitliches betreffen, umsonst sein? Sollte es sich bei jedem philosophischen Wahrheitsanspruch bloß um Illusion handeln? Und dies wäre unausweichlich der Fall, wenn Philosophie und ihr Inhalt durch und durch historisch bestimmt wären. Denn jedes Urteil erhebt ja einen Wahrheitsanspruch und impliziert schon deshalb zeitlose Gültigkeit. Denn was mit einem Sachverhalt übereinstimmt, ein urteilsmässiges „So ist es“ oder „A ist b“, das dem tatsächlichen Selbstverhalten der Sachen entspricht, ist kraft dieses Zusammentreffens seiner urteilsmässigen Setzung mit dem Selbstverhalten seines Gegenstandes (des unabhängig vom Urteil selbst bestehenden Sachverhaltes) wahr. Und als wahres Urteil kann es niemals falsch werden: “Semel verum, semper verum” (was einmal wahr ist, bleibt immer wahr), wie die Lateiner sagen.
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Dieses Kapitel ging aus einem Vortrag hervor, gehalten am 29.X.1986 nach einem Vortrag Hans-Georg Gadamers, im Rahmen des Symposiums „Philosophie heute“. Der hier wesentlich erweiterte Text bildete den 2. Teil eines Dialogs mit Gadamer im Rahmen er Eröffnungsfeierlichkeiten der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein. Der Beitrag sollte mit einer weiteren Antwort Gadamers und zweier Rückantworten als echter Dialog bzw. Steitgespräch im Druck erscheinen, wozu es aber nicht kam.
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KAPITEL 12
Doch tritt bei philosophischen Aussagen noch ein weiteres Moment hinzu. Die Philosophie erhebt den Anspruch, unveränderliche Wahrheit nicht nur über zeitliches Sein, sondern auch über zeitlose Prinzipien, über ewig Gültiges, wie Gott, Seele, oder auch über das zeitlose Wesen der Zeit und Geschichte überhaupt zu erkennen. Also ist Philosophie nicht nur wegen der Unveränderlichkeit jeder, auch der historischen, Wahrheit, sondern gleichermaßen von ihrem Objekt her, auf zeitlos Gültiges gerichtet. Wohl deshalb finden wir ja den platonischen Sokrates im Phaidon behaupten, daß der auf das ewige Wesen der Dinge gerichtete Philosoph auch Unsterblichkeit ersehne, ja unsterblich sein müsse, da er sich in seiner Erkenntnis als dem verwandt erweise, was er erkennt, dem Ewigen. Und erfüllt nicht die Idee einer theistischen Philosophie über Gott diesen Anspruch auf noch vollendetere Weise, da sie dasjenige SEIN SELBST und den Geist erkennt, von dem (dem Geist, der das reine SEIN ist)622 schon Parmenides sagt, daß er „nicht war und nicht sein wird, da er ganz IST – jetzt, vollkommen, eines, ununterbrochen“?623 Kann es eine Geschichte der Beschäftigung mit dem Ewigen geben? Und wenn es auch nicht weiter befremdet zuzugestehen, daß die menschliche Beschäftigung mit Zeitlosem doch in der Zeit erfolgt und deshalb eine Geschichte hat, so muß doch jede Geschichtlichkeit des Objekts und der inhaltlichen Bestimmtheit der Philosophie ausgeschlossen werden, wenn die Wesensordnung der Dinge zeitlos und ewig ist. Aus diesen Gründen wird nicht sosehr die Entdeckung der Geschichtlichkeit der Philosophie als Geschichtlichkeit eines menschlichen Bemühens,624 als vielmehr die bei Hegel und in seiner Folge auftretende These
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Parmenides sagt ja, daß der nous (Geist) und das Sein (tò einai bzw. tò éstin) dasselbe sind. Siehe Parmenides, fr. 8: 4 ff. Diese Entdeckung der Geschichtlichkeit der Philosophie als eines menschlichen Bemühens lässt sich gewiss bis auf die pyrrhonische Skepsis und Autoren wie Sextus Empiricus zurückverfolgen. Doch hat Hegel in völlig neuer Weise diese Historizität der Philosophie hervorgehoben, wobei das Moment einer echten philosophischen Bewußtwerdung dem konstruktiven Moment der Übertreibung und Entstellung dieser „Geschichtlichkeit“, wie sie im folgenden kritisiert werden soll, die Waage hält. Siehe dazu insbesondere G.F.W. Hegel, Geschichte der
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der Geschichtlichkeit des Inhalts der Philosophie, ja sogar des Seins und der Wahrheit selber, den Anspruch der Philosophie auf Erkenntnis des Zeitlosen zuinnerst treffen, ja Philosophie negieren. Die Philosophie würde durch ihre totale Kettung an wandelbare historische Ursachen ihrer geistigen Abhängigkeit vom Sein des in ihr Erkannten vollkommen verlustig gehen, obwohl Friedrich Dilthey meint, gerade durch die Erkenntnis der Geschichtlichkeit erfahre die Philosophie Befreiung. Friedrich Nietzsche schildert in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung den radikalen Relativismus als die größte Bedrohung für Schopenhauers und, wie wir aus Briefen wissen, sein eigenes Denken, in so eindrucksvollen Worten, daß es gut ist, sie sich immer wieder vor Augen zu halten: Das war die erste Gefahr in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs; Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtnis hat; ja es scheint mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man überall lesen kann, seit der Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor allem selbst revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete es sein könnten... Sobald aber ... Kant anfangen sollte eine populäre Wirkung auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden, und nur bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten haben,... würde an seiner Stelle jene Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie zum Beispiel Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. „Vor kurzem“, schreibt er einmal in seiner ergreifenden Art, „wurde ich mit der Kantischen Philosophie bekannt – und dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er dich so tief, so schmerzlich erschüttern wird als mich. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist’s
Philosophie, hrsg. H. Glockner, Jubiläumsausgabe XVIII, S. 115 – 121. Siehe auch Hegel, Philosophie der Geschichte, Jub. XI, 41-120.
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KAPITEL 12 das letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigentum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich. – Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe keines mehr.“ Ja, wann werden wieder die Menschen dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem „heiligsten Innern“ messen?625
Nietzsche und Kleist machen mit diesen Worten die zentrale anthropologische Aussage, daß das „heiligste Innere“ des Menschen, seine Erkenntnisbemühung, Recht und Gerechtigkeit, Moral und Liebe, eigentliches Glück und damit auch Sinn und Wert des menschlichen Lebens überhaupt, nur dann bestehen können, wenn es Wahrheit gibt, die objektiv und in sich wahr ist und deshalb „uns auch noch in das Grab folgt“. Nur unter der vorausgesetzten Gültigkeit dieser anthropologischen Aussage kann durch einen „zernagenden und zerbröckelnden Skeptizismus“ das „höchste Ziel“ getroffen und das „heiligste Innere“ verwundet werden. Radikalste Skepsis und Verzweiflung an der Erkenntnis einer nicht-relativen und ungeschichtlichen Wahrheit, die in sich und nicht bloß für uns als historische oder individuelle Subjekte Bestand hat, bedrohten jedoch auch fünfzehnhundert Jahre vor Nietzsche einen genialen Geist im Raum abendländischen Denkens, von dem viele dies kaum vermuten möchten Augustinus. Die großen Schulen der antiken Skepsis, die in der späten Akademie eines Arkesilas und Karneades kulminierten, hatten ein eindrucksvolles Arsenal von skeptischen Argumenten angehäuft, die den dreißigjährigen Augustinus zutiefst beunruhigten. Da war einmal die pyrrhonische Skepsis, die auf der Unzuverlässigkeit der Sinne beruhte und einem Ideal von Glück (Atharaxie) ohne Wahrheitsfundament, auf dem Boden einer skeptischen epoché (Urteilsenthaltung), nachstrebte.626 Auch spielte in der pyrrhonischen Skepsis die Tatsache der entgegengesetzten Meinungen der bedeutendsten Philosophen eine große Rolle, also eine ähnliche Tatsache wie jene, die Kant als „Skandal der Vernunft“ 625 626
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 302. Siehe Giovanni Reale/Dario Antiseri, I1 Pensiero Occidentale, Vol. 1 (Brescia: La Scuola, 1985).
Der Kampf gegen die Ungeschichtlichkeit der Wahrheit
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bezeichnete.627 Daß etwa Parmenides die Unmöglichkeit des Werdens und die Existenz eines reinen, ewigen Seins behauptet und der nicht weniger gewaltige Denker Heraklit einzig und allein das Werden angenommen und jedes bleibende Sein abgelehnt hatte, daß ferner etwa ein Philosoph die Existenz des Geistes anerkennt, während ein anderer ausschließlich Atome annimmt, und viele andere Widersprüche stellen in der Tat einen Grund größter Verunsicherung für jeden denkenden Menschen dar. Dazu käme, so argumentierte die pyrrhonische Skepsis, daß sich für jede von zwei entgegengesetzten Positionen, wie sie sich auf praktisch alle bedeutsamen Gegenstände der Philosophie beziehen, zahlreiche und einander ebenbürtige, gleich starke (isostheneia) Argumente fänden (Îsosj®neia tvn lógwn), sodass im Widerstreit und der Dialektik dieser Argumente keine Seite in solcher Weise siegen könne, daß sie nicht ebenso auch wiederum zu Fall gebracht zu werden vermöchte. Wie sollten da, so können wir mit Leo Strauss, der im zwanzigsten Jahrhundert dieselbe Problematik zum Grundansatzpunkt seines Great Book-Erziehungsprogramms machte, fragen, wie sollten da wir kleinen oder mittelmäßigen Geister uns anmaßen, wahre Antworten auf Fragen zu finden, in Bezug auf die bei den größten Denkern aller Zeiten keinerlei einhellige Antwort zu finden ist? Andere Skeptiker brachten andere eindrucksvolle Argumente vor, so etwa jenes von der Unmöglichkeit eines objektiven Kriteriums, kraft 627
Frederick Copleston erörtert insbesondere das Motiv zur Skepsis Pyrrhos, das in der Îsosj®neia tvn lógwn, in den gleich starken Gründen für entgegengesetzte Positionen liegt. Siehe F Copleston, A History of Philosophy, Vol I, Part II, 8th edn. (Westminster/Md, 1960), S. 157 ff. Vgl. auch die gründliche Darstellung des Pyrrhonismus bei Giovanni Reale, Storia della Filosofia Antica, III, 3. Aufl. (Mailand: Vita e Pensiero, 1980), S. 465 ff. Zur Rolle des Arguments aus den Widersprüchen vgl. Augustinus, Contra Academicos, II, v, 11. Kant bezeichnete in erster Linie die seiner Meinung nach unvermeidlichen antinomischen Widersprüche als „Skandal der reinen Vernunft“. Jedoch gleichen diese den von der antiken Skepsis betrachteten, da sowohl Kant als auch die Skeptiker der Antike annahmen, widersprüchliche Thesen (Thesen und Antithesen) ließen sich mit gleich starken Argumenten verteidigen. Siehe dazu Josef Seifert, Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; Superación del escándalo de la razón pura. La ausencia de contradicción de la realidad, a pesar de Kant. Biblioteca filosófica “El Carro Alado”. Zum allgemeinen Einfluß der Skepsis der Neuen Akademie auf Augustinus siehe auch Augustinus, Confessiones, VI, v, 8; VII, xvii; VIII v, 11.
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KAPITEL 12
dessen das denkende Subjekt die Wahrheit, d.h. die Wirklichkeitsgemäßheit der eigenen Meinungen, zu erkennen vermöchte. Denn wenn ein solches Kriterium in den Dingen selbst beruhte, wie könnte es dann der denkende Geist des Subjekts zum Maßstab nehmen? Wenn ein solches Kriterium jedoch im Subjekt selbst in Form seiner subjektiven Gewißheit vorhanden wäre, wie sollte ein solches subjektives Kriterium ihm die Behauptung erlauben, daß seine subjektiv gewisse Meinung mit der objektiven Wirklichkeit zusammenfalle? Und wenn das Kriterium schließlich zwischen Subjekt und Objekt läge, so könnte es weder dem Subjekt Gewißheit verschaffen noch den Bezug des Subjekts zur objektiven Wirklichkeit, in welcher ein solches Kriterium ja ebensowenig wie im Subiekt zu finden wäre, vermitteln.628 Andere Gründe für die Skepsis von Protagoras bis Karneades liegen in den zahllosen falschen Meinungen, Träumen, Sinnestäuschungen und sonstigen Irrtümern, aufgrund deren der Mensch die naive Gewißheit seiner sinnlichen und menschlichen Erfahrungen sowie seines Denkens verlieren müsse, wenn er nur ehrlich und ohne Vermessenheit über die Dinge und die menschlichen Meinungen nachdenke. Solche und vielerlei andere Argumente der Skeptiker erschütterten gewiß Denker vieler Epochen bis zum heutigen Tag und führen sie auch heute zur skeptischen Überzeugung, daß es Wahrheits- und Erkenntnisgewißheit nicht gibt, sodass schließlich die radikale Meinung, die Gorgias in einem verschollenen Buch niederlegte, plausibel erscheint: „erstens daß Nichts (seiend) ist, zweitens daß, auch wenn etwas ist, es doch dem Menschen unfaßbar ist, drittens aber, wenn es faßbar ist, daß es dann den Mitmenschen nicht übermittelbar und bezeichenbar ist.”629
Solche und ähnliche Argumente brachten Augustinus der Position der Skepsis nahe, aus der ihn schließlich der geniale Gedanke befreite, den erst dreizehnhundert Jahre später Descartes als eigentlichen Beginn und 628
629
Siehe Augustinus, Contra Academicos, II und III; Confessiones, V, xiv, 3 und die in Anm. 3 angeführten. Zu den 11 (Aenesidemus von Knossos) bzw. 5 (Agrippa) Hauptargumenten der pyrrhonischen Skepsis siehe Copleston, a. a. O., S. 186-189. Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, S. 124. Siehe dazu Giovanni Reale/Dario Antiseri, I1 Pensiero Occidentale, Vol. I, a.a.O., S 55.
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Ansatzpunkt der neueren Philosophie formulierte, den jedoch Augustinus schon, und zwar in wesentlich entfalteterer Form, ausgesprochen und damit die Epoche der mittelalterlichen Philosophiegeschichte eingeleitet und das erste rein philosophische Werk eines christlichen Philosophen geschaffen hatte. Von Contra Academicos bis hin zu seinen Spätwerken fand dieser Gedanke vielfältige Formulierungen, von denen wir hier nur eine einzige betrachten wollen: Wer könnte jedoch daran zweifeln, daß er lebt, sich erinnert, einsieht, will, denkt, weiß und urteilt? Denn auch wenn jemand zweifelt, lebt er, wenn er zweifelt, erinnert er sich, woran er zweifelt; wenn er zweifelt, sieht er ein, daß er zweifelt, wenn er zweifelt, will er sicher sein; wenn er zweifelt, denkt er; wenn er zweifelt, weiß er daß er (etwas) nicht weiß; wenn er zweifelt, urteilt er, daß er seine Zustimmung nicht blind (ohne genügende Erkenntnis) geben solle. Wenn deshalb jemand auch an allem andern zweifelt, so darf er doch an all diesem nicht zweifeln. Denn wenn (all) dieses nicht wäre, könnte er überhaupt an nichts zweifeln.630
Die Einsicht, daß objektive Wirklichkeit und notwendige Wesenssachverhalte, die Zweifel, Erkennen, Urteilen, Existenz, Wahrheit und andere Gegenstände betreffen, selbst vom Zweifel an aller Wahrheit als ein unerschütterliches Fundament der Wirklichkeit menschlichen Denkens und Seins vorausgesetzt sind, ließ Augustinus dem nihilistischen radikalen skeptischen Zweifel entrinnen. Mit diesem Gedanken und dem philosophisch-theologischen Werk von Augustinus beginnt eine Epoche mittelalterlicher Philosophie, die in radikalem Gegensatz zur Skepsis und dem ihr verwandten abendländischen Relativismus steht, dessen Grundthese Protagoras formulierte: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind und der nicht-seienden, daß sie nicht sind“.631 Die mittelalterliche und die frühe neuzeitliche Philosophie bis zu einem Descartes oder Leibniz beruht auf der von Augustinus neu begründeten Überzeugung, daß das menschliche Bewußtsein und Denken einer dem Menschen selbst vorgegebenen Wirklichkeit begegnet, diese entdeckt und vorfindet, und sich im Denken und Leben in eine Seins- und Güterordnung einzufügen hat, die nicht der Willkür preisgegeben ist und nicht der Subjektivität des Menschen entspringt. 630 631
Siehe Augustinus, De Trinitate, X, x, 14. Siehe Platon, Theaitetos, 160 d-e; 161 c.
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Doch schienen auch die augustinischen und zu Beginn der Neuzeit die ähnlichen cartesischen Gedanken zur Begründung dieser objektivistischen Weltsicht und zur Widerlegung des Subjektivismus und der Skepsis nur relativen Wert zu haben. Wie Nietzsche formuliert, hat die Philosophie nach Descartes – „und zwar mehr aus Trotz gegen ihn als auf Grund seines Vorgangs“632 – versucht zu zeigen, daß selbst das Ich, das Augustinus und Descartes als unbezweifelbare Realität ansahen, in Zweifel gezogen werden kann, daß es vielleicht selbst nur ein Produkt des Denkens, nicht dessen Bedingung sei. So gelangen wir über die Skepsis Humes am Ich zu jener Kants, der annahm, daß alle notwendigen Prinzipien der Philosophie und der Mathematik oder reinen Naturwissenschaften, und selbst das erfahrene Subjekt, vom transzendentalen Subjekt, ja letztlich von einer „transzendentalen synthetischen Apperzeption“ eines anonymen Denkens her als reine Bewußtseinsobjekte erzeugt werden und keine objektive transzendente Geltung und Wahrheit beanspruchen dürfen. Die Überzeugung von der Unerreichbarkeit und Unerkennbarkeit des Seins an sich wandte sich von seiner immer noch streng im transzendentalen Subjekt gegründeten Kantischen Form ab und wurde immer empirischer und uneinheitlicher. So erschien in der neueren Philosophie in zunehmendem Maß eine durch verschiedene innerweltliche Phänomene (wie Bewußtsein, Gesellschaft, Sprache, Geschichte) oder auch durch reine Chiffren (wie „transzendentales ego“, „reines Bewußtsein“) angezielte und letzten Endes anonym-unerkennbare Subjektivität als absoluter Ursprung aller Dinge, die nur als Gegenstand menschlichen Bewußtseins zu denken wären. Diese Position ist nach seiner anfänglichen radikalen Neubegründung einer realistischen und objektivistischen Philosophie in den Logischen Untersuchungen633 wiederum beim späten Husserl zu finden, der in den Cartesianischen Meditationen schreibt, daß die Welt „ihren ganzen, ihren 632
633
Siehe Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, „Das religiöse Wesen“, 54. Nietzsche, Werke Bd. II (München, 1965). Vgl. Josef Seifert, “The Significance of Husserl’s Logical Investigations for Realist Phenomenology and a Critique of Several ‘Husserlian Theses’ on Phenomenology. In Commemoration of the 100th Anniversary of the Publication of Edmund Husserl’s Logical Investigations (1901/01-2001/2)”, in: Instituto de Filosofía, Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago, Seminarios de Filosofía, Vols. 17-18 (Santiago de Chile: Instituto de Filosofía, 2004-2005), pp. 133-190.
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universalen und spezialen Sinn und ihre Seinsgeltung“ „ausschließlich aus solchen cogitationes“ habe und vom menschlichen Bewußtsein konstituiert und von ihm abhängig sei.634 In der Krisis635 betrachtet Husserl die radikale Skepsis David Humes als einen Durchgangspunkt zu seiner eigenen Philosophie. Eine ähnliche radikal subjektivistische und transzendentalrelativistische Position motivierte einen Jacques Maritain, zur Zeit seines Studiums den Beschluß zu fassen, mit seiner Verlobten Raissa Selbstmord zu begehen, da ihm auch zu Beginn dieses Jahrhunderts bei seinem Studium an der Sorbonne keine Philosophie erreichbar schien, die uns eine Wahrheit erschließt, die „uns auch noch in das Grab folgt“. Von der Ausführung dieses Entschlusses hielten die jungen Maritains Vorträge Henri Bergsons am College de France zurück. Diese machten auf Jacques und Raïssa einen tiefen Eindruck und überzeugten sie, daß Wahrheit auch über metaphysische Sachverhalte erkennbar ist. Der transzendentale Subjektivismus trat bei Kant noch mit jenem Anspruch transhistorischer Objektivität auf, daß dem Subjekt eine feste, zu allen Zeiten gültige Denkstruktur innewohne, die ein gewisses Ordnungselement und einen gewissen Gegensatz zur radikalen Skepsis darstelle. So nahm Kant an, jeder Mensch sei an dieselben nachweisbaren Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Erfahrens und Denkens gebunden. Diese seien ihm vorgegeben und also, selbst wenn das Ding an sich selbst, die objektive und vom menschlichen Bewußtsein unabhängige Wirklichkeit radikal unerkennbar sei, hätte der Mensch doch ein fixes Ordnungselement in der immanenten Struktur menschlicher Subjektivität selbst. Doch geriet auch dieser Rest von Objektivismus ins Wanken. Von Nietzsche an wandten sich viele Philosophen gegen die kantische Annahme, daß Kategorien und Prinzipien uns in universaler Weise die Gegenstände subjektiver Erfahrung erkennen und interpretieren ließen; vielmehr seien alle Begriffe und Grundsätze historischem Wechsel unterworfen. So tritt die Skepsis in eine neue und zugleich alte protagoräische Phase ein, die weit über Kants und Husserls transzenden-
634 635
Siehe Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, § 8. Siehe E. Husserl, Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Den Haag, 1954).
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talen Relativismus636 hinausgeht und etwa den Historismus eines Dilthey beherrscht, der meint, nichts, überhaupt nichts Festes und für alle Epochen Gültiges sei in der Wirklichkeit selbst oder auch nur im menschlichen Subjekt und menschlicher Subjektivität zu finden, vielmehr gäbe es ausschließlich historisch wandelbare Objekte und Bewußtseinsinhalte. Seinen radikal historistischen Relativismus und Skeptizismus bezüglich jedes Wertes und Seins, die nicht historisch relativ wären, hält Dilthey jedoch für eine Befreiung: Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben, unbefangen, als wäre kein System von Philosophie oder Glauben, das Menschen binden könnte. Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe; ... der Geist wird souverän allen Spinneweben dogmatischen Denkens gegenüber. Jede Schönheit, jede Heiligkeit, jedes Opfer, nacherlebt und ausgelegt, eröffnet Perspektiven, die eine Realität aufschließen. Und ebenso nehmen wir dann das Schlechte, das Furchtbare, das Häßliche in uns auf als eine Stelle einnehmend in der Welt, als eine Realität in sich schließend, die im Weltzusammenhang gerechtfertigt sein muß. Etwas, was nicht weggetäuscht werden kann. Und der Relativität gegenüber macht sich die Kontinuität der schaffenden Kraft als die kernhafte historische Tatsache geltend.637
Dennoch nahm Dilthey mit seiner Ablehnung der Skepsis betreffend die Historie selbst an, es gäbe noch etwas Fixes, nämlich die wissenschaftliche Objektivität des Historikers in Hinsicht auf etwas in historischen Subjekten und Epochen selbst Bestehendes. Der Historiker vermöge sich in die vergangenen Zeiten hineinzuleben, das Denken und Leben anderer Kulturen und Epochen zu rekonstruieren und fände damit eine neue Basis 636
637
Dieser treffende Ausdruck stammt von Walter Hoeres, vgl. seine Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie, sowie seinen Aufsatz “Critique of the Transcendental Metaphysics of Knowing, Phenomenology and NeoScholastic Transcendental Philosophy” S. 353-69. Siehe Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 7. unveränd. Aufl., Gesammelte Schriften VII (Stuttgart/Göttingen: Teubner/Vandenhöck und Ruprecht, 1979), S. 290-291.
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für das Erkenntnisleben des Menschen, indem er an allen Abenteuern des Geistes, wie Nietzsche sich ausgedrückt hat, teilnehmen und jede Form des Lebens, des kulturellen Erlebens und Denkens nachvollziehen und rekonstruieren könne, so „wie es eigentlich gewesen ist“ (Ranke) und von den Menschen anderer Epochen und Kulturen gelebt und gewirkt wurde. Hier nun setzt die hermeneutische Schule um Heidegger und Gadamer ihre Kritik an und stellt auch jenen von Dilthey und E. Betti betonten Rest scheinbar transhistorisch gültiger Wahrheit des historischen Wissens und Erlebens selbst in Frage. Dabei macht die hermeneutische Schule mit Recht geltend, daß wir nicht schlechthin mit suspendiertem Urteil und ohne eigene Begriffe vergangene Kulturen nachvollziehen oder rekonstruieren, sondern daß wir vielmehr in jedem hermeneutischen Prozeß des Verstehens bereits Kategorien und Urteile ins Spiel bringen, die zu unserem eigenen Verstehenshorizont gehören. Wenn wir etwa die Menschenopfer vergangener wilder Stämme untersuchen, so werden wir uns wohl nicht des Urteils enthalten, daß es sich dabei um primitive Formen des menschlichen Lebens handelte, und selbst wenn wir uns jedes Werturteils enthielten, so werden wir doch in dieser historistischen Skepsis und epoché allen eigenen Wertens einen anderen Standpunkt einnehmen als jene wilden Völker selbst, für die die Menschenopfer die einzig richtige und von den Göttern geforderte Sittlichkeit darstellten. Also ist es unmöglich, von einem standpunktlosen historischen Ort aus objektive Historie erkennen oder nachleben zu wollen. Wenn aber dieser unser eigener Verstehenshorizont, was der naive Historismus von Dilthey und Droysen übersah, gleichsam eine Fülle von stets wechselnden Spiel- und Verstehensregeln darstellt, in deren Licht uns die Vergangenheit zum jeweils jetzigen Zeitpunkt erscheinen muß, so geht damit auch noch die letzte Dimension transhistorischer Objektivität verloren: die des Historikers selbst und jene Möglichkeit objektiver Rekonstruktion der Vergangenheit, die ein Dilthey oder Betti, wenn auch nur mit Einschränkungen, behaupteten. Und damit geht nach einem Wort Gadamers „eine monumentale Grenzbastion der ‚objektiven‘ Wissenschaft“ verloren.638 Eine neue Skepsis setzt ein, die nicht nur mit Dilthey 638
Siehe Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke Bd. 2, Hermeneutik II, „Hermeneutik und Historismus“, S. 389. Zur zunehmenden Abkehr Diltheys und Bettis von einem „naiven historischen Objektivismus“ siehe ebd., bes. S. 393 f., S. 398 ff.
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Erkenntnis zeitloser inhaltlicher Wahrheit, sondern auch die Objektivität und Übergeschichtlichkeit der Erkenntnis über die Geschichte selbst in Zweifel zieht. Die daraus resultierende Skepsis stellt selbst jene letzte Insel der Objektivität des Historikers als naiv in Frage, die Dilthey noch retten zu können glaubte. Die hermeneutische Schule geht dabei davon aus, „daß der Historiker selbst ein Teil des geschichtlichen Ablaufs ist, den er erforscht und den er nur von dem Standpunkt beobachten kann, den er selber im Augenblick in ihm einnimmt.“639 Auch Husserl denkt in zunehmendem Maß die transzendentale Subjektivität als radikale Historizität und rückt damit, wie Hans-Georg Gadamer zeigt, in die Nähe Diltheys und vor allem Heideggers.640 Der Autor verfolgt in diesem Anhang zu Wahrheit und Methode die Entwicklung, die von Dilthey über Husserl und Heidegger zur Auffassung führte, es gebe keine ewigen Wahrheiten, Wahrheit sei „eine mit der Geschichtlichkeit des Daseins mitgegebene Erschlossenheit des Daseins.“ Gadamer faßt diesen subtileren Historismus so zusammen: Es ist sozusagen ein Historismus zweiten Grades, der nicht nur die geschichtliche Relativität aller Erkenntnis dem absoluten Wahrheitsanspruch entgegenstellt, sondern ihren Grund, die Geschichtlichkeit des erkennenden Subjektes, denkt und deshalb geschichtliche Relativität nicht mehr als Einschränkung der Wahrheit ansehen kann. (ibid, S. 411-412).
Gadamer selbst formuliert den Historismus seiner eigenen Position, wenn er schreibt: Die Anwendung der überlegenen Perspektive der Gegenwart auf alle Vergangenheit scheint mir gar nicht das Wesen des wahren historischen Denkens, sondern bezeichnet die hartnäckige Positivität eines ‘naiven’ Historismus. Seine Würde und seinen Wahrheitswert hat das historische Denken in dem Eingeständnis, daß es ‚die Gegenwart‘ gar nicht gibt, sondern stets wechselnde Horizonte von Zukunft und Vergangenheit. Es ist gar nicht ausgemacht (und nie auszumachen), daß irgendeine Perspektive, in der sich überlieferte Gedanken zeigen, die richtige sei. Das ‚historische‘ 639
640
Siehe Gadamer, ebd., S. 397. Vgl. auch R.G. Collingwood, Philosophie der Geschichte, eingel. v. H.-G. Gadamer (Stuttgart, 1955), S. 260. Siehe Hans-Georg Gadamer, „Hermeneutik und Historismus“, in: Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. II, Hermeneutik II, S. 411-412.
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Verständnis hat da keinerlei Privileg, weder das heutige noch das morgige. Es wird selbst von den wechselnden Horizonten umfaßt und mit ihnen mitbewegt. (Ibid., S. 416-417).
Auch in bezug auf die Ethik wendet Gadamer mit Theodor Litt denselben Historismus an, indem er den Versuch von Leo Strauss, trotz seines Skeptizismus allgemein verbindliche übergeschichtliche naturrechtliche Normen zu vertreten, historisch-psychologisch erklärt. Nach bestimmten sittlich-politischen Verirrungen des Urteils (im Nazideutschland, aus dem Strauss entkommen war) entstünde das „Verlangen nach einem festen, sich gleichbleibenden Maßstab, ‚der dem zum Handeln Aufgerufenen die Richtung weist‘“ (ibid., S. 423). Gadamer tritt dieser Auffassung, in der er mit Litt die „Gefahr eines neuen Dogmatismus“ erblickt, entgegen: Litt zeigt, daß damit keine allgemeine Norm gemeint sein kann, unter die der zu beurteilende Fall praktisch-politischen Handelns subsumiert werden könnte. (Ibid., S. 423) Es wird nicht ersichtlich, wie Gadamer, der sich unter (m.E. einseitiger) Berufung auf Aristoteles ausschließlich auf geschichtlich-wandelbare Regeln der phronesis (praktischen Klugheit) beziehen will, um etwa dem Terror eines Hitler zu widerstehen, die Konsequenz vermeiden kann, daß nach solchen Voraussetzungen auch die Greueltaten totalitärer Regimes unter bestimmten historischen Umständen gerechtfertigt sein könnten, was nur derjenige ausschließen kann, der eben annimmt, daß konkrete historische Taten unter universal und ewig gültige Wahrheiten bzw. axiologische Wertgesetze fallen. Um den Gedanken der Historizität der Wahrheit noch tiefer zu prüfen und „die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit“ zu verteidigen, und bevor wir uns noch mit Gadamers spezieller Position eingehend auseinandersetzen, wenden wir uns einer allgemeineren Analyse des Verhältnisses zwischen Wahrheit, Philosophie und Geschichte zu. II. RELATIVIERENDE UND NICHT-RELATIVIERENDE DIMENSIONEN DER GESCHICHTLICHKEIT DER PHILOSOPHIE Zunächst sei darauf hingewiesen, daß keineswegs alle Abhängigkeiten philosophischen Erkennens von der Geschichte Relativismus bzw. die Relativität der Philosophie in jenem Sinne einschließen, daß das vom
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Philosophen Erkannte nicht in sich bestünde oder von überhistorischer Gültigkeit wäre. Um diese sehr allgemein gehaltene Erkenntnis zu begründen und näher zu verstehen, wenden wir uns nun den grundverschiedenen Abhängigkeiten philosophischer Erkenntnisse und philosophischer Irrtümer von der Geschichte zu. 1. Geschichte als Vermittlerin philosophischer Erkenntnis zeitloser Wahrheit Ähnlich wie die Erkenntnisse der euklidischen Geometrie oder der Arithmetik durch Jahrhunderte vorhergehender Forschungen gewonnen wurden und dennoch inhaltlich keineswegs Projektionen der Geschichte sind, sondern objektive Gesetzmäßigkeiten betreffen, oder wie die geographische Erforschung des relativen Anteils der Land- und der Wasserflächen an der Gesamtoberfläche der Erde erst durch subtile geographische und mathematische Methoden möglich wurde, die sich über Jahrhunderte entwickelten, und doch die tatsächliche und schon vor ihrer Messung bestehende Aufteilung von Land, Seen und Meeren an der Erdoberfläche aufgezeigt hat, folgt auch nicht die Relativität des historisch gewachsenen Philosophierens und seines Gegenstands daraus, daß dieses Philosophieren nicht in einem luftleeren geschichtslosen Raum erfolgte, sondern geschichtliche Wurzeln hat. Genauso wie jedermann die Tatsache kennt, daß er das 1 x 1 nicht selber erfunden und nicht einmal ganz alleine gefunden hat, sondern der Vermittlung von Eltern und Volksschullehrern verdankt, und wie er aber deswegen nicht die Gesetze, die er so gelernt hat oder die Redeteile, die ihm der Grammatiker beibrachte, für menschliche Erfindungen anstatt für wirklich bestehende Gesetze halten wird, kennt der Philosoph die Tatsache und braucht sich ihrer nicht zu schämen, daß er nicht wie Thales zu philosophieren begann, sondern auf den Schultern großer Vorgänger steht, denen er die meisten seiner Entdeckungen verdankt. Genausowenig wie der Botaniker oder Mathematiker braucht sich der Philosoph angesichts dieser historischen Wissensvermittlung zu sagen, daß der Inhalt und Gegenstand der von seinen geschichtlichen Vorgängern erworbenen Erkenntnisse bloß von der Geschichte abhängig sein müsse.
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Dabei geht es bei solchen philosophischen Evidenzen und bei Wahrheiten, die durch die Geschichte nur vermittelt werden können, keineswegs nur um formale Elemente wie das Widerspruchsprinzip oder die logischen Prinzipien oder auch die formalen Widersprüche, die sich in der skeptischen, relativistischen oder historistischen Position verbergen. Übrigens handelt es sich bei solchen formalen Voraussetzungen und abstrakten Prinzipien um überaus wichtige Probleme und erst recht darf die Erkenntnis der inneren Widersprüche einer Position nicht auf Grund von metasprachlichen und ähnlichen Theorien, oder gar als bloßer Überrumpelungsversuch, bagatellisiert werden, handelt es sich beim Nachweis innerer Widersprüche doch um eine vernichtende Kritik einer Gesamtposition, auch wenn wertvolle Teile derselben durch einen Nachweis ihrer inneren Widersprüchlichkeit nicht getroffen sein mögen.641 Bei einer genaueren Betrachtung läßt sich gegen den Einwand, daß ausschließlich rein „formale“ und völlig inhaltsarme abstrakte Prinzipien übergeschichtliche Wahrheit besäßen und deshalb von der Geschichte bloß vermittelt, und nicht vom historischen Bewußtsein als je relative konstituiert würden, vielerlei einwenden:
641
Russell hat in den Principia Mathematica versucht zu zeigen, daß es zu logischen Paradoxien in der Gruppentheorie und auf anderen Gebieten kommt, wenn man die „Selbstanwendung“ eines Satzes oder einer Theorie auf sie selber zuläßt. Er hat deshalb die „Typentheorie“ entwickelt, um die Legitimität eines solchen Vorgehens zu bestreiten. In anderer Weise versucht Heidegger (und Gadamer mit ihm) die Hinweise auf innere Widersprüche der eigenen Position als blosse Überrumpelungsversuche abzutun. An anderer Stelle habe ich versucht zu zeigen, daß man unmöglich allgemein die Selbstanwendung ausschließen kann, schon weil damit die obersten logischen und ontologischen Prinzipien, die notwendig auch für sie selber gelten, ausgeschlossen werden müssten. Auch kann man eine so elementare Wahrheitsbedingung wie Widerspruchsfreiheit nicht einfach dadurch aus der Welt schaffen, daß man den Hinweis auf sie als Ueberrumpelungsversuch bezeichnet. Platon im Theaitetos, Aristoteles, und andere klassische Denker erkannten mit Recht, daß innere Widersprüchlichkeit schlechthin mit der Wahrheit einer Position unverträglich ist, ja diese selbst aufhebt und uns, wie Aristoteles in Buch Gamma der Metaphysik ausführt, zu totalem Schweigen und Nichtdenken verurteilen müsste. Siehe dazu auch J. Crosby, „Kritik des Skeptizismus und Relativismus“, in: Wahrheit, Wert und Sein (Regensburg: Habbel, 1974).
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Zunächst einmal gibt es in sich rein formale Elemente gar nicht. In der allgemeinen Ontologie und Logik werden die obersten ontologischen und logischen Prinzipien genauso als material-inhaltliche Prinzipien verstanden wie konkretere Prinzipien in anderen Wissenschaften.642 „Formale“ Voraussetzungen sind sie nur relativ zu anderen Seinsbereichen, für die sie formale Bedingungen, nicht „materiale Inhalte“ darstellen. Selbst wenn man die im Begriff des „Formalen“ implizierte Relativität leugnen und im „Formalen“ eine innere Bestimmtheit von Prinzipien erblicken wollte, etwa ihre Inhaltsarmut und Abstraktheit, könnte man „formale Prinzipien“ in diesem Sinn keineswegs als den einzigen Gegenstandsbereich evidenter Erkenntnis betrachten, der durch die Geschichte nicht konstituiert, sondern nur vermittelt wird. Denn erstens gehört zu diesem durch andere Menschen oder Geschichte nur vermittelten Wissen alles empirische Wissen, alles historische und philosophiehistorische Wissen, das nicht „formal“ in irgendeinem Sinne dieses Ausdrucks ist. Zweitens gibt es viele in jedem Sinne des Wortes material-inhaltliche absolute Evidenzen, die sich auf wesensnotwendige Sachverhalte beziehen und für deren Erkenntnis die Geschichte nur eine vermittelnde, nicht eine konstituierende Rolle spielen kann. Man denke an das von Stumpf, Husserl, Reinach, Hildebrand und anderen Phänomenologen oft verwendete Beispiel der zweidimensionalen Ausdehnung der Farbe oder der Tatsache, daß die Farbqualität Orange der Ähnlichkeitsordnung nach zwischen rot und gelb liegt. Oder man denke an die materialen apriorischen Sachverhalte über das Wesen des Versprechens, die Reinach herausgearbeitet hat, wie daß das Versprechen notwendig ein sozialer Akt und also „vernehmungsbedürftig“ ist, sodaß ein einsames Versprechen, das niemals seinen Adressaten erreicht, ein Unding oder jedenfalls wie ein „abgeschleuderter Speer, der niemals sein Ziel erreicht“, wäre.643 Man kann aber auch axiologisch-anthropologische Sachverhalte wie daß der Mensch als Person eine Würde besitzt ganz unabhängig von seiner Rasse, eine 642
643
Siehe die Unterscheidung verschiedener Bedeutungen von „formal-material“ in D. von Hildebrand, What is Philosophy?, übers. F. Wenisch, Was ist Philosophie?, D. von Hildebrand, Gesammelte Werke Bd. I, Kap. IV, S. 88 f. Siehe Adolf Reinach, Zur Phänomenologie des Rechts: Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, S. 37 ff.
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Wahrheit, bei deren Anerkennung der Nazihorror und höchst konkrete historische Ereignisse in vielen Ländern nicht stattgefunden hätten, als Beispiele für solche zeitlose Wahrheiten wählen. Gegen eine bloß vermittelnde, nicht konstituierende Rolle der Geschichte für echte philosophische Erkenntnis mag man einwenden, daß die Mathematik, Geographie und Naturwissenschaft strenge Wissenschaften seien, über deren Ergebnisse keine Kontroverse herrsche und innerhalb derer wissenschaftliche Nachprüfbarkeit bestehe. Mit der Philosophie verhalte es sich ganz anders. Da in ihr kein Konsens herrsche, könne es in ihr auch nicht um rationale, nachvollziehbare Erkenntnis gehen. Auf diesen Einwand, auf den ich an anderer Stelle ausführlich eingegangen bin, kann und muß man im Sinne der Ergebnisse unserer Kritik der Konsens- und Diskurstheorie der Wahrheit erwidern, daß rationale Evidenz und prinzipielle Konsensfähigkeit, die allerdings – zumindest im Fall nichtprivater, sondern allgemein zugänglicher Erkenntnis – von Wissenschaft impliziert wird, auch dort vorliegen können, wo auf Grund von methodologischen Problemen, besonderen Anforderungen an Begabung und moralischen Voraussetzungen der Erkenntnis tatsächlicher Konsens nicht erzielt werden kann. Nur von den Sachen selbst her, die der Philosoph durch vielfältige Gedankengänge, Klärungen und Argumentationen zur Evidenz bringen soll und nicht einfach behaupten darf, kann es sich erweisen, ob es in der Philosophie um evidente Erkenntnis der „Sachen selbst“ oder um irrationale, auch prinzipiell keinem intersubjektiven Konsens und keiner intersubjektiven Erkenntnis offenstehende Thesen geht.644 Wenn es sich aber auch in Philosophie und Mathematik um völlig evidente Erkenntnis handelt, so ist damit keineswegs ausgeschlossen, daß diese Erkenntnis historisch vermittelt werden kann und vermittelt werden soll. Es gilt dabei angesichts der historischen Vermittlung von Gedanken scharf zwischen zwei Fällen zu unterscheiden: Im einen Fall können wir einem Erkenntnisakt oder einer geschichtlichen Gestalt oder Entwicklung die Erkenntnis von etwas bloß verdanken, das nicht selber historisch konstituiert ist: etwa die Entdeckung des Prinzips vom Widerspruch, der gültigen und ungültigen Formen des 644
Siehe J. Seifert und E. Morscher, „Über die Grundlegung der Ethik: Ein Dialog zwischen Josef Seifert und Edgar Morscher,“ in: Vom Wahren und Guten: Festschrift für Balduin Schwarz zum 80. Geburtstag, hrsg. J. Seifert, F. Wenisch und E. Morscher (Salzburg: Verlag St. Peter, 1982), S. 102-122.
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Syllogismus, des Unterschiedes zwischen freiem personalem Sein und einem determinierten materiellen Ding. Im anderen Fall kann ein Gegenstand bloß als Gegenstand eines Aktes oder einer historischen Gedankenrichtung konstituiert und als Objekt historischen Denkens entworfen sein wie ich dies für das „transzendentale Ego“ oder die „Selbstkonstitution des Ich“ und „allen erdenklichen Sinnes und Seins“ an anderer Stelle nachzuweisen suchte.645 Damit werden wir schon auf eine zweite radikal verschiedene Form der Abhängigkeit eines bestimmten philosophischen Denkens von der Geschichte geführt. 2. Die Geschichte als Quelle von Irrtümern und Ideologien: Geschichte und Konstitution von „falschem Bewußtsein“ und bloß vermeintlichem „An sich“ Die Geschichte hat in hohem Maß an der unerschöpflichen menschlichen Fähigkeit teil, Gegenstände zu erfinden oder zu konstituieren, die zwar ein Sein beanspruchen, das außer unseren historischen Denk- und Bewußtseinsakten zu bestehen prätendiert, aber nicht tatsächlich besteht. Unermeßlich ist die vielfältige Weise, in der einzelne Menschen und ganze Kulturen sich eine bloß scheinbar an sich bestehende Welt, die in Wirklichkeit „bloß eine Fabel war“, zurechtgedichtet haben. Und in der Konstitutierung falscher Weltsichten haben zweifellos die idola historiae, die eine Abart der von F. Bacon beschriebenen idola tribus sind, eine gewichtige Rolle inne. Wenn Philosophen auf Grund historischer Einflüsse vermeintlich an sich jenseits des Bewußtseins bestehende Dinge ansetzen, die nicht wirklich bestehen, so stellt diese historische Abhängigkeit im Gegensatz zur ersten ein ausgesprochenes Übel dar. Denn es geht dann notwendig um falsche Werte oder Götter, da wahre ja nicht historisch konstituiert sein können, und es ist einsichtigerweise unwertig, falsche Wertmaßstäbe anzunehmen oder falsche Götter anzubeten. 645
Siehe J. Seifert, Back to Things in Themselves: A Phenomenological Foundation for Classical Realism wo dieser Unterschied und damit die Möglichkeit einer Erkenntnis der Dinge an sich eingehend erörtert und begründet wird.
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Die Macht öffentlicher Meinung und historisch-interpersonaler Ideen ist gewaltig und tritt oft als Produzentin von Irrtümern auf. Zu bestimmten Zeiten und auf Grund des wechselseitigen historisch-soziologischen Einflußes von Ideen stellen sich die Menschen bestimmte Hexen, Götter, schematisierte „Klassenkämpfe“, und zahllose andere Gegenstände von Irrtümern und ideologischen Weltsichten vor, von denen sie zwar vermeinen, sie hätten eine überhistorische Gültigkeit, die aber in der Tat keine Wirklichkeit besitzen als die, Objekt ihres historischen Bewußtseins zu sein. Wie mächtig die idola historiae sind, kann man daraus erkennen, daß offensichtlich und total verkehrte Wertmaßstäbe, wie der Rassismus des Dritten Reichs sie einführte, seinerzeit ganze hochzivilisierte Länder voller intelligenter Menschen beherrschten, während heute nur noch wenige Verbrecher oder Wahnsinnige an ihnen festhalten. Der reine Einfluß historisch-soziologischer Ideen als solcher und vor allem der durch durch irrige historisch-soziologisch einflußreiche Ideen konstituierten Objekte ist groß, aber stets illegitim. Denn in jedem Falle eines solchen Einflusses, kraft dessen das Objekt historischen Bewußtseins eine Wirklichkeit beansprucht, die ihm als Konstitutum historischer Akte nicht zukommt, geht es um Illusion, Irrtum und dergleichen. Denn Wahrheit, und insbesondere Wahrheit über übergeschichtliche Wirklichkeit, ist immer transgeschichtlich und niemals – wenigstens was ihre Verankerung im Sein betrifft – durch historisches Bewußtsein konstituiert. Auch die von Nietzsche entdeckte und von Max Scheler tiefer und kritischer durchdachte Rolle der Ressentiments in der Schaffung falscher Werte und moralischer Systeme entfaltet seine Blindheit für Werte und Pseudowerte hervorbringende fatale Kraft oft nicht nur im Privatleben, sondern auch in der Geschichte, wie in der Zeit des Nationalsozialismus.646 Es wird deshalb aber wohl kein Leser behaupten, die nationalsozialistische Idee, daß Juden Untermenschen seien, die vergast werden dürften, habe eine Wahrheit ausgesprochen, die auch unabhängig von diesem historischen Urteil den Sachen selbst entsprochen hätte.
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Vgl. Max Scheler, „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“, in: M. Scheler, Vom Umsturz der Werte (Bern-München: Francke-Verlag, 1955); vgl. auch Siegfried Johannes Hamburger, „Max Scheler’s Ressentiment im Aufbau der Moralen (1941-1943)“, Aletheia VI (1992-1993).
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Ebensowenig wird heute jemand im Ernst behaupten, das nach der Hitlerzeit allgemein akzeptierte Urteil, die Juden seien Nichtjuden an Menschenwürde gleich, sei bloß ein Produkt der heutigen historischen Situation und sei deshalb jederzeit historisch überholbar.647 Es gibt aber zahllose andere Sachverhalte, die der Philosoph erforscht, von den rein logisch-grammatischen, arithmetischen und geometrischen Gesetzen, von den Gesetzen der Logik und Ontologie bis hin zu subtilen Fragen der Ethik oder Philosophie der Ästhetik und Liebe, die ebensowenig bloße konstituierte Produkte historischen Daseins und Bewußtseins sind, sondern schlicht der Wirklichkeit entsprechen. 3. Die Rolle der Geschichte in der Konstituierung von Noemata, Mythen und Märchen, die kein „An sich“ beanspruchen Selbstverständlich ist die historische Fabelkunst keineswegs auf solche Noemata beschränkt, die zwar bloß als Gegenstand der Geschichte existieren, aber dennoch Seinsautonomie gegenüber menschlichem Bewußtsein beanspruchen, also ein bloß vermeintliches An sich darstellen. Vielmehr gibt es viele Märchen, Symbole und Mythen im buchstäblichen Sinn, die als solche historische Quellen haben, aber bei denen es unsinnig wäre anzunehmen, es handle sich hier um historische Relativität, daß etwa der Grimm’sche Märchenschatz mit all seinen Königinnen, Rotkäppchen und Prinzen zu einer ganz anderen Kultur als die Erzählungen von 1001 Nacht gehört, widerspricht keineswegs einem Anspruch, übergeschichtlich an sich zu bestehen, da ein solcher Anspruch gar nicht besteht. Selbstverständlich ist dabei nicht ausgeschlossen, daß der Mythos oder auch das Märchen und die Fabel – man denke an Platons Höhlengleichnis – symbolisch oder dichterisch Wahrheit zum Ausdruck bringen, die durchaus Anspruch auf An sich Sein ihres Gegenstandes in sich birgt. Auch kann ein Mythos oder auch ein Märchen – in diesem tieferen Sinn seines 647
Mit Recht hebt R. Lauth die schlechthinnige historische Unaufhebbarkeit der Wahrheit solcher Urteile in seiner glänzenden Schrift Die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit (Stuttgart, 1966) hervor, auch wenn wir seiner Fichteschen Begründung dieser These keineswegs folgen können.
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symbolischen Gehaltes oder auch in anderen rein ästhetisch-künstlerischen Bedeutungen des Wortes – wahr oder falsch sein.648 Hier begegnen wir übrigens auch einem weiteren Sachverhalt, hinsichtlich dessen der Relativismus übergeschichtliche Wahrheit voraussetzt. Er setzt nämlich das wirkliche Bestehen eines Anspruchs philosophischer und anderer Urteile auf ein An sich Sein ihrer Gegenstände bzw. der in ihnen behaupteten Sachverhalte voraus. Nur die Leugnung der Gerechtfertigtheit eines derartigen wirklich bestehenden Anspruchs auf Objektivität kann ja als Relativierung angesehen werden. So hätte es keinen Sinn, wenn ein Vater seinen Kindern ein Einhornmärchen erzählt, zu sagen, dieses Märchen bzw. die in ihm vorkommenden Drachen und Könige seien „relativ auf seine Familie“, da ja die in Märchen erscheinenden Gestalten keinen Anspruch machen, an sich zu sein und also außerhalb ihrer Konstitution im Märchen zu bestehen.649 Da dieser Sinn von historischer Abhängigkeit von Bewußtseinsobjekten für uns keine weitere Bedeutung besitzt, weil solche konstituierte Gegenstände, die keinerlei Anspruch auf Nichtkonstituiertheit und An sich
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Wir sehen hier von weiteren Unterscheidungen wie der von Johann Jacob Bachofen gemachten zwischen Symbol und Mythos ab. Bachofen, darin anderen Autoren seiner Zeit folgend, schreibt dem Symbol den Charakter des Einfachen zu und meint, es gehe von Gott aus, der Mythos hingegen sei als menschengedichtete Geschichte und durch seine Bestimmung der Deutung der Symbole, sowie durch den dadurch bedingten kompositorisch komplexen Charakter unterschieden. Neben J.J. Bachofen’s 1867 erschienenen Hauptwerk Mutterrecht ist dabei das 1959 erschienene Buch Gräbersymbolik wichtig. Außer diesem Grund für die Nichtrelativität der Märchenwelt gibt es zumindest noch einen anderen. Andere Menschen können an diesem Märchen teilhaben und in diesem Sinne ist die Welt des literarischen (Kunst-)Werks und der in ihm dargestellten Gegenstände und Personen – denen Roman Ingarden die heteronome Existenzform der abgeleiteten rein intentionalen Gegenständlichkeiten zuweist – intersubjektiv zugänglich. Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk; ders., Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (Tübingen: Niemeyer, 1968). All dies hindert freilich nicht, daß die von bewußten Akten und von intersubjektiv zugänglichen Wortbedeutungen konstituierten Gegenstände eines Märchens kein Sein an sich besitzen und in diesem Sinne „relativ“, „seinsheteronom“ und vom Märchen und seiner objektivierten Intentionalität total abhängig sind.
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Sein erheben, innerhalb der Philosopie kaum einen Platz haben,650 können wir von einer weiteren Erörterung dieser Art von historischer Bewußtseinsabhängigkeit absehen, mußten diese Bedeutung von historischer Abhängigkeit von Gegenständen des Bewußtseins jedoch zur Abgrenzung einführen. 4. Die Geschichte als Grenze und Ermöglichung der Philosophie: Historische Modifikationen von Sprache, Terminologien und Kulturen, die ein An-sich-Sein weder beanspruchen noch auflösen Neben diesen drei Rollen der Geschichte (als Bedingung und Vermittlerin von Erkenntnis, als Konstitution von vermeintlichem An sich und als Ursprung von Fabeln, Mythen, Parabeln, usf.) gibt es eine ganz andere Art historischer Abhängigkeit, die in besonderer Weise die Philosophie betrifft. Es geht um die Rolle der Geschichte beim Entstehen von konkreten Sprachen, um den jeweiligen Wortreichtum derselben, um die Entwicklung besonderer wissenschaftlicher und philosophischer Terminologien und um Bedeutungsbesonderungen, die in ihnen sprachlich ausgedrückt werden können, um grammatische Strukturen und viele andere Faktoren, die jeweils historisch entwickelt und modifiziert werden. Zwar gibt es, wie Husserl in den Logischen Untersuchungen gezeigt hat, eine „rein logische Grammatik“, und damit grammatische und sprachliche Strukturen, die apriorisch-wesensnotwendige Gültigkeit besitzen und deshalb allen Sprachen gemeinsam sind, wie sie auch Chomsky und andere platonisierende Sprachwissenschaftler und Semiotiker sowie Semantiker heute in zunehmendem Masse anerkennen. Doch zugleich gibt es zweifellos jene historischen Besonderungen semiotischer und semantischer Sprachelemente, die den einzelnen Sprachen eigentümlich sind und die es etwa erlauben, in einer bestimmten Sprache anders oder besser philosophieren zu können als in anderen. In diesem Sinne besteht zweifellos ein Vorteil darin, nicht in einer indianischen Sprache, wie einem der Apatschen- oder Komantschen650
Es sei denn, man denke an die philosophischen Aussagen der von Platon und anderen Philosophen verwendeten Mythen, die dann aber nicht als reine Dichtwerke, sondern als dichterischer Ausdruck philosophischer Thesen zur Philosophie selbst gehören.
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dialekte, philosophieren oder Naturwissenschaft treiben zu müsssen, sondern den Reichtum sprachlich ausdrückbarer Modifizierungen zur Verfügung zu haben, den etwa die englische, italienische, spanische, deutsche oder französische Sprache, oder auch zahlreiche andere Sprachen und Fachsprachen bieten, deren Modifizierungen der – als solche ebensowenig wie die „materia prima“ bestehenden – „Sprache an sich“ jeweils eigene Vor- und Nachteile implizieren. Selbstverständlich können die sprachlichen und insbesondere die von Fachterminologien geprägten Ausdrücke auch eine Rolle bei der Konstituierung von scheinbaren „An sich“ spielen, die sich aus Verführungen der Sprache ergeben und eine der hauptsächlichen Gefahren und Irrtumsquellen darstellen, sowie z.B. dazu führen, Unterscheidungen dort zu machen, wo keine Unterschiede bestehen oder Hypostasierungen zu vollziehen, die von den Sachen selbst her nicht zu rechtfertigen sind. Sprache in diesem Sinne impliziert jeweils auch eine Grenze des in ihr Aussagbaren und stellt eine historische Modifikation dar, die zwar als solche keineswegs zu Irrtum führt, aber immerhin eine negative Schranke des Philosophierens bedeutet. Allerdings gibt es zugleich auch eine positive Rolle der erwähnten historischen Modifikationen von Sprache und dem in der jeweiligen Sprache Aussagbaren. Diese besteht darin, daß die individuelle Sprache durch den ihr selbst eigenen Reichtum auch auf gewissen Gebieten durch vorgegebene linguistische Regeln der Grammatik und Tiefengrammatik, sowie durch ihre jeweilige semantische Subtilität differenzierteres und sachgemässeres Denken ermöglicht als es jemand vollziehen könnte, der sich nicht in der bestimmten Sprache ausdrückt. In dieser Hinsicht spielt die Modifikation der Sprache auch eine wichtige Rolle im Rahmen der ersten Rolle der Geschichte für die Philosophie: der Ermöglichung des Denkens zeitlos gültiger Wahrheiten und Zusammenhänge. Diese Modifikation der Philosophie durch Geschichte bzw. durch in ihr gewachsene Gegebenheiten bezieht sich nicht ausschließlich auf die Sprache, sondern auch auf viele andere Aspekte der Kultur, etwa die Selektion der Quellen und Autoren, die zu einer Zeit zur Verfügung stehen oder nahegebracht werden und in deren Terminologien die Denker einer Zeit denken. Wenn es um philosophische Terminologien geht, so entwickeln sich diese ja nicht in jenen langfristigen Zeiträumen, in denen
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etwa Lautverschiebungen und allgemeine Sprachentwicklungen stattfinden, sondern oft auf einen Schlag, durch einen ganz bestimmten Autor. Daher hängt es oft von so zufälligen historischen Umständen wie Übersetzungen ab, ob ein bestimmtes Denken und Werk und die durch es verfügbaren begrifflichen Apparate einem gegebenen Denker zur Verfügung stehen oder nicht. Man denke an die immense Wirkung der lateinischen Aristoteles-Übersetzungen Moerbekes auf die Scholastik, insbesondere auf das Denken Thomas von Aquins. Diese Rolle der Geschichte bedeutet ebensowenig wie die vorherigen die mindeste „Historizität der Wahrheit“ selbst. 5. Die Geschichte als Quelle bestimmter Interessen, Fragen und Probleme Wieder ein ganz anderer Einfluß der Geschichte betrifft das Aufwerfen bestimmter Interessen, Fragen oder Probleme. Der Mensch und insbesondere der Philosoph ist ja als zoon politikon nicht ein Wesen, das einen luftleeren isolierten Raum bewohnt, sondern er steht in lebendigem Kontakt mit der Welt, in der er lebt. So sehen wir uns heute globalen Problemen der Umweltverseuchung gegenübergestellt, die der mittelalterliche Mensch nicht kannte. Wissenschaftliche Entdeckungen wie die der Genetik, Vererbung, der Rolle des Gehirns, aber auch mögliche Transplantationen oder genetische Eingriffe, Genomanalysen usf. eröffnen der Technik und Manipulation des Menschen völlig neue Möglichkeiten und werfen neue Probleme für den Philosophen auf. Dadurch wird der Erfahrungshorizont, von dem ein Philosoph ausgehen und über dessen Gegenstände er philosophieren kann, ungeheuer erweitert. Es werden ihm etwa ganz neue Probleme der Leib-SeeleBeziehung oder Ethik gestellt, die er durch neues Nachdenken über die Dinge im Lichte solcher empirischer Befunde oder neuer Erfahrungshorizonte anzugehen hat. Neue Interessen stehen im Vordergrund. Man denke an das im Spätmittelalter und der Renaissance neu erwachende Interesse am Individuum oder an das im 19. Jahrhundert erwachende neue Interesse an der Geschichte. Für all dies ist gewiß die Geschichte zumindest partiell verantwortlich, für all dies ist geschichtliches Leben und sind historische Entwicklungen gewiß maßgeblich. Doch hindert nichts, daß die durch diese neuen
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Interessen und Probleme vielleicht erstmals entdeckten Zusammenhänge selber auch ewig gültige Wahrheiten, Wesenheiten und Wesensgesetze – etwa über menschliches Leben, Ethik und Bioethik – sein können. Vielleicht muß man sich an dieser Stelle von dem Vorurteil freimachen, die zeitlose Gültigkeit von Gesetzen, die zu allen Zeiten bestehen, mit dem Alten oder schon Bekannten zu verwechseln. Denn da jedes Ding an notwendigen und zeitlosen Wesensgesetzen teilhaben muß, enthüllt jede neue historische Entwicklung auch neue – d.h. noch nie vorher bedachte – Wesensgesetze und erlaubt, schon bekannte in neuem Licht und in neuer Anwendung zu sehen. Gewiß ist es angesichts der wandelbaren Aspekte und Probleme der Geschichte notwendig, nicht zusehr in Zeitproblemen zu ersticken, immer aufs neue durchzustoßen zu den großen klassischen Problemen der Philosophie und sich auch gegenüber Problemen zu öffnen, die vielleicht ganz anderen Kulturkreisen angehören.651 Immerhin ist es an sich durchaus legitim, ja erforderlich, als Philosoph gerade auch zu den brennenden und philosophischen Fragen der eigenen Zeit Stellung zu nehmen, zu jenen Fragen, die die eigene im Unterschied zu anderen Epochen aufwirft. Mit diesem Aufwerfen neuer Probleme durch historische Entwicklungen hängt eine weitere Rolle der Geschichte für Philosophie eng zusammen. 6. Geschichte als Quelle von Erfahrung und Erfahrungsdaten Die Geschichte spielt noch eine weitere Rolle für die Philosophie. Geschichte ist auch selbst eine Urgegebenheit und liefert uns zugleich zahlreiche neue Erfahrungsdaten, über die philosophiert werden muß. Kunstwerke werden in ihr geschaffen, die viele psychologische Probleme aufdecken, wie die Romane Dostojewskis. Neue Kunstarten werden hervorgebracht, die nach einer eigenen ästhetischen Analyse verlangen. Neue wissenschaftliche Forschungen werden durchgeführt, neue 651
Vgl. dazu etwa die von I. Quiles mit so vielem Erfolg durchgeführten Dialoge mit dem japanischen und chinesischen, hinduistischen und buddhistischen Denken und die von ihm hervorgehobenen authentischen Erkenntnisse in demselben. Siehe Ismael Quiles, Filosofia budista (Buenos Aires, Ed Troquel, 1973); ders., Qué es el Yoga? (Buenos Aires: Ed. Depalma, 1987).
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Methoden medizinischer und genetischer Eingriffe entwickeln sich in der Geschichte. Ein besonderer Fall dieser Rolle der Geschichte liegt dort vor, wo gerade der Angriff auf etwas oder die Entwürdigung eines Gutes, oder auch die Verdunkelung einer Wahrheit die philosophische Reflexion durch eine solche negative Erfahrung erweckt – im Sinne des berühmten HegelWortes von der Eule der Minerva, die erst in der Dämmerung fliegt.652 Dieser offenkundig bestehende Einfluß der Geschichte muß radikal von den vorhergehenden und erst recht von einer angeblichen „historischen Realativität“ oder „Geschichtlichkeit der Wahrheit selbst“ unterschieden werden. Vielleicht besteht die elementarste Form dieses Einflusses der Geschichte auf Philosophie und Wahrheitsfindung überhaupt darin, daß die Geschichte selbst eine Gegebenheit darstellt, die philosophischer Aufklärung harrt. In diesem Sinne erweitert die Geschichte in der unmittelbarsten Weise unseren Erfahrungshorizont und stellt der Philosophie neue Probleme, da die Gegebenheit der Geschichte selber nach philosophischer Erkenntnis verlangt, einer Erkenntnis allerdings, die bei idealer Verwirklichung in zeitlose Wahrheiten über das Wesen der Geschichte, des sogenannten hermeneutischen Zirkels im Verstehen von Ganzem und Teilen und viele andere Wesensgesetze eindringt. 7. Geschichte als Ursprung gewisser Aspekte und komplementärer Ausschnitte aus der Gesamtwirklichkeit Eine andere Dimension der Rolle der Geschichte und der Geschichtlichkeit des Philosophierens folgt aus den eben genannten (4-6) ebensowohl wie aus der metaphysischen Tatsache der Endlichkeit menschlichen Erkennens. Denn so objektiv und daher absolut wahr auch ein Urteil, wie 652
Einleitung zur Rechtsphilosophie: „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungs-Prozeß vollendet und sich fertig gemacht hat... Mit Grau in Grau läßt sie (eine Gestalt des Lebens) sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (Werkausg. 7, 27/8).
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daß der Mensch frei und verantwortlich und nicht kausal historisch determiniert sei, ist und sosehr es deshalb Teil der allumfassenden Wirklichkeit und Wahrheit und in dieser enthalten ist, so ist es doch andererseits ein in unendlich vielen Richtungen ergänzungsfähiges, differenzierungsbedürftiges und von möglichen Mißverständnissen zu befreiendes Urteil. Wegen der potentiellen Unendlichkeit der Erkenntnis und des Seins und der Begrenztheit jeden menschlichen Wissens ist es natürlich, daß in einem bestimmten Lebensabschnitt und von einem bestimmten Menschen nur ein kleiner Ausschnitt aus der Gesamtwirklichkeit erkannt wird. Der eine wird Handwerker und versteht vieles über den Bau von Häusern, wovon ein Philosophieprofessor keine Ahnung hat. Ein anderer versteht mehr von Politik, wieder ein anderer von Mathematik usf. Diese Partialität und Unvollständigkeit menschlichen Erkennens ist Teil von dessen Wesen, und seine konkrete Gestalt hängt von vielen begabungsmäßigen, charakterologischen und lebensgeschichtlichen Faktoren individueller Art ab. Jedoch ist es ebenso klar, daß es neben diesen und anderen individuellen oder sozialen Faktoren die Geschichte ist, und zwar nicht eine abstrakte Gegenwart, sondern die konkrete historische Gestalt, in der sich etwa die Philosophie und Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Land befindet, von der es mit abhängt, mit welchen Dingen sich ein Mensch besonders beschäftigt und welche Teile der grundsätzlich möglichen Erkenntnis er erwirbt. Damit ist freilich nicht eine gewisse von Schleiermacher und der hermeneutischen Philosophie hervorgehobene und schon in der Antike erkannte Dialektik von Ganzem und Teilen geleugnet, kraft deren auf jeden Teil durch alle anderen sowie durch das Ganze neues Licht geworfen wird. Doch während diese Dialektik beweist, daß der Teil nur im Licht des Ganzen vollkommen verstanden werden kann, beweist sie keineswegs die Vorläufigkeit, Relativität oder gar den bloßen Vorurteilscharakter irgendeiner gültigen Einzelerkenntnis, die durch weitere Erkenntnisse zwar differenziert und ergänzt, niemals jedoch im Sinne des Ungültigwerdens oder Unwahrwerdens aufgehoben werden kann. Dies wäre nur bei Irrtümern möglich, niemals bei gültigen Erkenntnissen, die im Ganzen der Wahrheit voll bewahrt bleiben.
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Allerdings ist es dem Menschen auf Grund der Unvollständigkeit seines Erkennens notwendig, sich derjenigen Urteile zu enthalten, die willkürlich oder in falschen Verallgemeinerungen über das Erkannte hinausgehen oder sich dem Ganzen gegenüber zu verschliessen. Sonst folgen in der Tat Engen und sogar Irrtümer aus borniert festgehaltenen Teilerkenntnissen, auf Grund deren Menschen sich der Gesamtwirklichkeit gegenüber verschliessen oder sogar Falsches behaupten, was einem allerkennenden Wesen unmöglich wäre und die Unvollständigkeit des Erkennens voraussetzt. An sich ist jedoch ein solcher Ausschnitt unvollständiger Erkenntnis, etwa daß der Mensch frei ist, sich selbst besitzt und beherrscht und weder von weltlichen noch von transzendenten Faktoren in seinem Handeln inhaltlich determiniert ist, keineswegs gleichbedeutend mit Irrtum. Nur wenn er verabsolutiert wird und deshalb zur Leugnung anderer Erkenntnisse führt, kann ein solcher partialer Blickpunkt auf die Gesamtwirklichkeit in Irrtum enden. Allerdings werden wir im Lauf der weiteren Ausführungen sehen, daß die Unaufhebbarkeit von Einzelerkenntnissen durch Erkenntnis des Ganzen nur unter einer oder sogar zwei – allerdings evidenten und mit dem Gesagten mitgegebenen – Voraussetzungen besteht, die wir an dieser Stelle noch nicht entwickeln. 8. Geschichte als Herausforderung an den Philosophen und an alle, die sich um Wahrheitserkenntnis bemühen: Geschichte als Grund eines bestimmten Dialogs Damit rühren wir an eine weitere Bedeutung der Geschichte für die Philosophie und der Philosophie für das Begreifen der Geschichte. Die Philosophie und andere Wissenschaften und Forschungszweige haben eine Aufgabe in der Geschichte, insoferne sie von der historischen Situation Erfahrungen, Probleme, aber auch bestimmte Irrtümer, die das sozialehistorische Klima einer Zeit bestimmen, empfangen und zugleich kritisch zu erforschen haben. So ist die jeweilige historische Epoche eine Herausforderung an die Philosophie. Kant sah sich bewogen, auf die beherrschenden philosophischen Strömungen seiner Zeit, den Rationalismus und Empirismus zu
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antworten. Er konnte nicht an so bedeutenden Strömungen seiner Zeit vorbeiphilosophieren und sich etwa nur an Aristoteles halten. Nachdem Wittgenstein oder Kant als bestimmend auftraten, bestand die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit ihnen für jede Ontologie oder realistische Philosophie. Dasselbe gilt für das Auftreten des Materialismus, der Skepsis, bestimmter Ideologien usf. Sie alle stellen an den in einer Zeit lebenden Philosophen die Aufgabe, sich nicht rein abstrakt und unhistorisch mit philosophischen Fragen von ewigem Interesse zu befassen, sondern konkret auf jene Fragen und Probleme einzugehen, die zu seiner Zeit bestehen. Dies findet sich schließlich auch in jeder Konversation statt, daß wir auf die jeweiligen Probleme unseres Gesprächspartners, auf seine Fragen, auf seine terminologischen Unterscheidungen, Probleme usf. eingehen sollen. Doch darf diese Tatsache nicht damit verwechselt werden, daß der Philosoph etwa bloß – wie Hegel annahm – Sprachrohr eines Zeitgeistes sein oder gar nur in sich wandelbare Strukturen des Lebens des Weltgeistes ausdrücken müsse.653 Ganz im Gegenteil, das Wesen der Wirklichkeit selbst, um das es der Philosophie geht, – ja sogar das Wesen von Zeit und Geschichte – bleibt dasselbe und die ewigen Wesensgesetze, an denen jedes konkrete und historische Etwas teilhat und durch die es inhaltlich – innerhalb des Rahmens seiner Natur – bestimmt ist, bleiben dieselben. So darf sich der Philosoph, wie der platonische Sokrates im Gorgias bemerkt, nicht nach dem Wind richten, wie Machiavelli dies dem Prinzen empfiehlt,654 sondern sollte die eine und zu allen Zeiten gültige Wahrheit, die immer dasselbe sagt, in einer je den historischen Fragen angemessenen Weise anwenden und in diesem Sinne aus dem unvergänglichen Schatz der Wahrheit stets Altes und Neues, das sich erst in der Konfrontation mit neuen Problemen und Fragestellungen, Irrtümern und Entdeckungen, enthüllt, hervorholen.
653 654
Siehe G.F.W. Hegel, Philosophie der Geschichte, cit., S. 75-76. Siehe Machiavelli, Der Prinz, Kap. xviii.
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III. VIER WURZELN DES HISTORISMUS
1. Der Historismus als Erzeugnis seiner selbst Konstitution des Historismus durch die Meinung, eine total neue Philosophie sei die einzig wahre: der Historismus selber Eine bedeutsame Quelle des Historismus und der Meinung, alle philosophischen Syteme seien von der Geschichte erzeugt, liegt in Philosophien, die einen radikalen Neuheitsanspruch erheben. Dies gilt insbesondere für den Historismus selber. Denn wenn man sein eigenes System für eine völlig neue Philosophie hält und damit vielleicht sogar – unwahrscheinlicherweise – recht hat, und dann fälschlicherweise die Wahrheit einer solchen radikal neuen Philosophie ansetzt, kann man leicht den Eindruck bekommen, daß es keine Kontinuität und Selbigkeit der Wirklichkeit und Wahrheit zu allen Zeiten gibt, sondern einen radikalen, an die Wurzeln der Dinge und Erkenntnis selbst gehenden Wandel. Heidegger ging aus diesen Gründen so weit, einen Wandel der Wahrheit selber anzunehmen. Wenn man hingegen einer klassischen realistischen Philosophie, etwa dem Thomismus oder phänomenologischen Realismus, anhängt und die ungezählten historischen Vorläufer und Gestalten der im Grunde gleichbleibenden einen und umfassenden Philosophie (philosophia perennis) sowie auch die immer wiederkehrenen Gestalten philosophischer Grundirrtümer bemerkt, wird man weder an einen radikalen Wandel der Philosophie noch auch an die inhaltliche Geschichtlichkeit philosophischer Erkenntnisse glauben, sondern vielmehr frei sein, neben den historischen auch die zeitlosen inhaltlichen Dimensionen der Philosophie, die diese besitzt, insoferne sie an der zeitlosen Wahrheit teilhat, anzuerkennen. So wird man etwa in der skotistischen Philosophie des Guten mehr wahre Erkenntnisse finden als in zahllosen Formen des Wertsubjektivismus oder kantischen Wertidealismus der letzten Jahrhunderte, oder in Platons und Aristoteles’ Einsichten in unwandelbare Wesenheiten mehr Wahrheit erblicken als im französischen strukturalistischen Nihilismus mancher Denker der eigenen Zeit. Wenn man viele, ja ungezählte Erkenntnisse ewig gültiger Wahrheit über Seele, Geist, Verantwortung, Moral, das Gute,
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Sprache, Naturrecht, Gerechtigkeit, Gott usf. in klassischen Philosophen wie Platon findet – und einem daher die Lektüre Platons mehr bedeutet als die ganzer Bibliotheken von Werken Heideggers, Wittgensteins und anderer Zeitgenossen –, so wird man kaum versucht sein zu behaupten, es gäbe keine überhistorischen Inhalte philosophischer Erkenntnis. So sehen wir, wie der historische Relativismus und die Hermeneutik, mit ihrem Neuheitsanspruch, sich selbst gebären. Der Historismus, der philosophisch neutral zu sein und auf einer vorurteilslosen Betrachtung der Geschichtlichkeit allen Denkens zu beruhen scheint, entpuppt sich so als Konsequenz einer philosophischen Vorentscheidung für eine historisch gesehen ganz neue, in den letzten hundertzwanzig Jahren entstandene Philosophie. Deren wirkliche oder vermeintliche Neuheit wird zu einem Hauptmotiv für seine Annahme.655 2. Der Skandal der Widersprüche in der Geschichte der Philosophie: Von Pyrrho bis zur Hermeneutik Von der pyrrhonischen Skepsis bis zur Gegenwart ist ein hauptsächlicher Grund für den Historismus und Skeptizismus wohl das Phänomen, das Kant in einem Brief an Garve als den „Skandal der Vernunft“ und als Hauptmotiv für die Kritik der reinen Vernunft bezeichnete und das wohl 655
Wie alle derartige Versuche einer Beschreibung der Entwicklung und Motive einer Philosophie handelt es sich auch hier um Schematisierungen und der historischen Interpretation eigene Abstraktionen, die es durchaus möglich erscheinen lassen, daß einzelne Denker der hermeneutischen Philosophie, etwa Gadamer, der mit seinen vielen und hervorragenden Arbeiten über Platon und Aristoteles ein außerordentliches Verständnis für und Einverständnis mit der klassischen Philosophie beweist, nicht dieselben Motive hatten. Paradoxerweise wirkt die gegenüber Dilthey und Droysen radikalisierte hermeneutische Version des Historismus in Gadamer, obwohl er deren Mitbegründer ist, als Fremdkörper angesichts seiner klassisch-platonischen Geistesrichtung. So müsste es etwa von seinen Voraussetzungen her folgen, daß wir Kunstwerke immer vom neuesten eigenen und je subjektiven Interpretationshorizont und den eigenen Vorurteilen aus interpretieren sollten, aber Gadamer führt in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele beeindruckend aus, daß Mozarts und andere Werke nicht von willkürlichen und fremden Gesichtspunkten, sondern von der morphe (Gestalt) der Werke selbst aus interpretiert werden müssten.
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den primären Beweggrund für Hegels System darstellt: nämlich einerseits radikale Widersprüche, in die sich angeblich (nach Kant und Hegel) die menschliche Vernunft selbst verwickelt,656 andererseits die grundlegenden Gegensätze zwischen den großen philosophischen Positionen der Vergangenheit und Gegenwart, in deren Licht es schlechthin vermessen und arrogant erscheint zu meinen, die eigene philosophische Position könne objektiv wahr sein oder auch nur in vielen Urteilen objektive Wahrheit darüber, wie die Dinge selbst sich verhalten, erreichen. Da es keinen Teil der eigenen Position gibt, dem nicht von anderen Denkern widersprochen wurde, scheint es schlechthin untragbar, eine inhaltliche philosophische Position mit objektivem Wahrheitsanspruch zu vertreten. Dies erscheint als schierer Dogmatismus. Deshalb sind einige Philosophen zu historischen Relativisten oder Skeptikern geworden, andere nehmen mit Hegel an, die Wahrheit sei „das Ganze“ und schliesse das Leben und die Dialektik all der entgegengesetzten Philosophien als Momente in sich. Insbesondere die Hegel’sche, alle Philosophien aufnehmende Position erscheint dann als Ausdruck philosophischer Weite. Gewiß ist an Hegels Auffassung der Wahrheit und an seiner Interpretation der Geschichte der Philosophie dies richtig, daß das Ganze der Wahrheit die gültigen Erkenntnisse aller Philosophen in sich enthalten muß. Gewiß ist ferner der Dogmatismus zu vermeiden, der unkritisch oder in partieller Verabsolutierung des Unvollständigen verharrt. Doch diese echten Einsichten Hegels bedeuten nicht, daß das ganze und widersprüchliche „Leben“ bzw. das Ganze der objektiven und einander kontradiktorisch entgegengesetzten Gedanken philosophischer Systeme „die Wahrheit“ sei. Noch viel weniger bedeutet die echte Weite angesichts der Vielfalt philosophischer Gedanken, daß wir Skeptiker und historische Relativisten zu werden brauchten. Denn es gibt ja eine ganz andere Lösung der Schwierigkeit als die Hegel’sche oder die relativistische. Es können ja an der einen umfassenden 656
Die spezifischen Probleme der angeblichen Antinomien, die Kant und moderne Philosophen in verschiedenen Formen behaupten, werden im folgenden nicht behandelt. Ich verweise dazu auf meine Arbeiten; Überwindung des Skandals der reinen Vernunft. Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant; „Das Antinomienproblem als ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft“.
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Wahrheit alle Philosophen teilhaben, aber nicht in allen Gedanken, sondern nur in den wahren, von denen keiner einem andern wahren Urteil widersprechen kann. Gegen diese eine universale Wahrheit, die sich jedem Geist in gewissem Maß enthüllt, sei es auch teilweise nur in seinen Voraussetzungen, nicht in seinen ausdrücklichen Lehren, kämpfen aber auch viele Philosophen und verfälschen sie. Ja dies gilt in gewissem Maß für jeden Philosophen, daß er – wenngleich oft in bester subjektiver Intention – die Wirklichkeit entstellt, wenn immer er irrt.657 Mit diesem Problem leben wir alle. Und es kann auch keine Hegel’sche Identifizierung des gesamten philosophiehistorischen und historischen Prozesses mit „der Wahrheit“ die richtige Antwort auf diese Situation bieten, da viele dieser Philosophien untereinander widersprüchlich sind, was unmöglich von der wesenhaft widerspruchsfreien Wahrheit und Philosophie an und für sich ausgesagt werden darf. Außerdem ist ja Hegel’s eigene Philosophie (die übrigens ebensosehr nur eine bestimmte Meinung und insoferne eine „partiale“ Philosophie ist wie alle übrigen), der alle vorhergehenden implizit widersprechen, nicht identisch mit allen Philosophien, sondern eine ganz bestimmte. In dieser Richtung kann also niemals die gesuchte „ganze Wahrheit“ liegen. Der Anspruch, diese in absolutem Wissen zu kennen oder gar die eigene Philosophie zum letzten Schritt in der Bewußtwerdung Gottes erklären und für ein Selbstgespräch des absoluten Geistes mit sich selbst halten zu dürfen, ist außerdem unerträglich anmaßend und unhaltbar. Eine solche Gesamtsynthese ist unmöglich und widerspruchsvoll. Vielmehr ist es prinzipiell möglich und nötig, in je eigener Prüfung und Forschung und Bemühung um Wahrheit eben jene Erkenntnisse herauszufinden, die von den verschiedenen Philosophen und vom eigenen Sachkontakt her gewonnen werden können. Denn die eine allumfassende Wahrheit verbirgt sich keinem Menschen ganz und übersteigt doch alle endlichen Geister; es kommt darauf an, soviel als möglich von ihr zu erobern. Nur dadurch, nicht durch einen Relativismus, können wir an ihr teilhaben und den alle Geister verbindenden Logos, von dem Heraklit spricht, berühren. Nur durch die Weite der Erkenntnis können wir ökumenisch mit allen Philosophen etwas 657
Siehe dazu das bedeutende Werk von Balduin Schwarz, Der Irrtum in der Philosophie (Münster i.W.: Verlag der Aschendorff’schen Verlagsbuchhandlung, 1934).
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Gemeinsames und Verbindendes haben, nur in dem Maß unserer je eigenen Erkenntnis objektiver Wahrheit können wir wahre Weite des Geistes erlangen, nicht durch total leere Skepsis und Relativismus oder durch arrogante Ansprüche eines Gesamtsystems, in dem man „über allen anderen zu stehen prätendiert“ und auch die widersprüchlichsten Systeme von einem angeblich höheren Standpunkt aus bewahrt und doch zugleich im Sinne der Negation aufgehoben werden und ihre relative Stelle besitzen sollen. Vor allem in ihren Voraussetzungen und Implikationen haben alle Philosophen und Sophisten immer wieder jener Wahrheit Tribut gezollt, die wir – gleich Sokrates – im gemeinsamen Dialog von allen historischen Philosophien herauslocken und in ihnen ebenso anerkennen, wie wir uns auch mit Sokrates um Widerlegung fremder und noch mehr der eigenen Irrtümer bemühen sollten. Dann werden wir wie Sokrates die Nichtwidersprüchlichkeit der Philosophie selbst – im Gegensatz zur Widersprüchlichkeit der verschiedensten philosophischen Meinungen, und oft gerade der eigenen – erkennen. Diese Nichtwidersprüchlichkeit und Ganzheit der Wahrheit impliziert auch, daß keine echte Teilerkenntnis, d.h. keine unvollständige, doch wahre Erkenntnis, je aufgehoben werden kann. 3. Der Zweifel an einer Erkenntnis der „transzendentalen“ Prinzipien und Seinsproprietäten Alles was bisher über die Unaufhebbarkeit unvollständiger Wahrheitserkenntnis durch das Ganze der Wahrheit gesagt wurde, bedarf einer wichtigen Ergänzung. Denn die Voraussetzung für diese Wahrheit der Unaufhebbarkeit einer Wahrheit durch irgendeine andere (quod semel verum, semper verum) ist, daß wir nicht in dem Sinne auf Teilerkenntnisse beschränkt sind, daß wir keine gültigen Prinzipien und Momente für alles Seiende überhaupt erkennen könnten. Denn könnten wir dies nicht und wären wir in diesem Sinn auf Teilbereiche und Teilaspekte der Wirklichkeit beschränkt, so könnte alles, was wir erfahren, nur eine Erscheinung sein, deren wahres Wesen als eines Dinges an sich uns ewig verborgen bliebe. Aus dieser Auffassung müsste dann auch folgen, daß alles, was wir erfahrend und denkend betrachten, vielleicht in Wirklichkeit und an sich „ganz anders“ sein könnte, also
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vielleicht auch in einem Sinne, in dem es ganz unseren „Teilerkenntnissen“ widerspricht. Die Wirklichkeit könnte letzten Endes sogar Nichts sein, denn über das Sein an sich jenseits unserer Erfahrung könnten wir nichts wissen. Es zeigt sich bei näherem Nachdenken, daß letzten Endes für jede gültige Teilerkenntnis jene Erkenntnis des Ganzen vorausgesetzt ist, die mit der Erkenntnis erster und auf alles, was ist, zutreffender Prinzipien einhergeht. Denn ohne solche könnten wir nicht wissen, daß auch jene Aspekte der Sache, die wir nicht erkennen und daß dieselbe auch in ihrer Ganzheit betrachtet dem Widerspruchssatz, ohne den kein wahres Urteil wahr wäre, da es ja sich selbst aufheben würde, unterstehen. Daß es solche Erkenntnis gibt, ist jedoch keine willkürliche Voraussetzung, sondern kann erwiesen werden und ist außerdem in jeder Teilerkenntnis, ja sogar im radikalsten skeptischen Zweifel als dessen Bedingung mitgegeben.658 4. Die behauptete Unerkennbarkeit des absoluten Seins Der historische Relativismus und ,in einer besonderen Form, der Relativismus überhaupt kann allerdings auch darin seine Ursache haben, daß man jenes wichtigste „Ganze“ für unerkennbar hält, in dessen Licht erst jedes Ding seine Stelle erhält, das absolute, göttliche Sein. Wenn der absolute Grund aller Dinge schlechthin unerkennbar wäre und mit dem Nichts in eins fallen könnte, dann würde uns allerdings in so radikaler Weise der Schlüssel des Ganzen der Wirklichkeit fehlen, in dessen Licht wir jeden Teil zu interpretieren hätten, daß sogar das Nichts und die Negation aller von uns erkannten Werte die höchste Berechtigung hätten. Damit wäre zwar nicht jede unvollständige Wahrheitserkenntnis aufgehoben, aber sie verlöre – durch Ausfallen jeder Erkenntnis „reiner Vollkommenheiten“ – ihre letzte Bedeutung und Erklärung, die ohne Bezug auf das absolute Sein kat’ exochén undenkbar ist. Hier ist nicht die Stelle, auf dieses höchste Thema der Metaphysik einzugehen. Das ist an anderer Stelle geschehen. Für unsere Zwecke genügt es festzuhalten, daß jene Universalität, die aus der Erkenntnis 658
Siehe J. Seifert, Back to Things in Themselves, cit. und die dort referierten Erkenntnisse Augustins, Descartes’, Hildebrands u.a.
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universalster ontologischer und logischer Prinzipien, sowie jene, die aus der Erkenntnis reiner Vollkommenheiten und des absoluten Seins erwächst, entscheidend ist für das Durchbrechen der relativierenden Interpretation des „hermeneutischen Zirkels“. Daher gilt es mit Augustin’s tieferer Fassung des Cogito anzuerkennen, daß schon in der Einsicht in die bescheidenste Wahrheit auch die in ihrer Weite alles Sein umspannenden ersten Prinzipien mit aufleuchten, ohne deren objektive Evidenz auch die Evidenz des eigenen sum unmöglich wäre, ebenso wie die im cartesischen und augustinischen Cogito mitenthaltene Entdeckung der Endlichkeit des menschlichen Subjekts zugleich ein gewisses Begreifen der Unendlichkeit einschließt und zugleich ohne dieses gar nicht möglich wäre.659 Vielleicht leuchtet hier die Wahrheit der erstaunlichen und berühmten Aeusserung im VII. Buch von Platons Politeia auf, derzufolge weder im öffentlichen noch im privaten Leben weises Handeln ohne Erkenntnis des absoluten Guten möglich ist, das die Ursache für alle Dinge und für alles Gerechte und Schöne ist. Erst vom Maß der Erkenntnis des Absoluten her erhält alle Teilerkenntnis ihre rechte Stelle.660 Während jedoch in den transzendentalen Prinzipien, die für alles Sein gelten, eine notwendige Bedingung für die Wahrheitserkenntnis überhaupt liegt, da ihr Ausfallen es sogar möglich machen würde, daß alles Erkannte an sich mit seinem kontradiktorischen Gegenteil zusammenfiele, ist Erkenntnis des Absoluten nicht im selben Sinne für die Wahrheit unvollständiger Erkenntnis vorausgesetzt. Sie ist nicht Bedingung für deren eigentliche Gültigkeit und Wahrheit, die vielmehr schon Bedingung für jede Gotteserkenntnis ist und ohne die jeder Gottesbeweis in den (Descartes’ Ableitung der Wahrheit jeglicher Erkenntnis von der Wahrhaftigkeit Gottes mit Recht vorgeworfenen) Zirkelschluss fallen würde, daß sie schon das voraussetzte, was sie erst zu beweisen oder zu erweisen hätte: nämlich die Objektivität menschlichen Erkennens. Vielmehr ist Erkenntnis des absoluten Guten und Seienden nicht für die Wahrheit unvollständiger Erkenntnis, wie derjenigen, daß die eigene Person existiert und frei ist, als 659
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Siehe dazu J. Seifert, Essere e Persona : Verso una Fondazione Fenomenologica di una metafisica classica e personalistica, Kap. 5; 9-15, sowie ders., Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen Arguments, 2. Aufl. 2000. Siehe Platon, Politeia, VII, 517 c.
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solche Bedingung, sondern nur für die Erkenntnis von deren letzter wirklicher Stelle im Ganzen. Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, jedwede Form einer grundsätzlichen Skepsis an einem übergeschichtlich wahren philosophischen und auch historischen Wissen in durchaus kritischer Weise zu überwinden. 5. Erkenntnisse ungeschichtlicher Wahrheit und transgeschichtlich wahre Urteile als Bedingung der Geschichtlichkeit des Menschen: Im Dialog mit Gadamer Gibt es, so müssen wir fragen, im jeweiligen historischen Standpunkt Momente, die nicht standortgebunden sind? In Antwort auf diese Frage sehen wir zunächst die Gültigkeit der erwähnten augustinischen Überwindung der Skepsis und seiner Entdeckung zeitlos gültiger Wahrheit in keiner Weise durch den Verdacht der radikalen Geschichtlichkeit allen Denkens getroffen. Denn durch Gadamers Interpretation der Hermeneutik wird in uns ja der Zweifel erweckt, ob irgendeine jener Meinungen, die wir über die Welt oder auch über die Vergangenheit haben, objektive und übergeschichtliche Gültigkeit, also Wahrheit zu Recht beanspruchen kann oder nicht. Doch mit diesem Zweifel, ob nicht all unser Denken als geschichtlich bedingtes auch falsch sein könnte, setzen wir doch gewiß unsere eigene Existenz und unser Leben voraus. Es enthüllt sich uns mit Evidenz, daß ohne Existenz und Leben eines Subjekts kein Zweifel hinsichtlich der Historizität aller Wahrheit existieren könnte. Ferner sehen wir die evidente Tatsache ein, daß ohne die Existenz des Subjekts (oder sogar verschiedener Subjekte) der Geschichte diese selbst unmöglich ist Man mag diese Dinge für banal halten, sie sind dennoch absolut transgeschichtliche Wesensgesetze über Zweifel und Geschichtlichkeit. Ebenso trifft der augustinische Gedanke zu, daß, um den hermeneutischen Zweifel an aller transhistorischen Erkenntnis zu vollziehen, wir uns daran erinnern müssen, woran wir zweifeln. Mit anderen Worten, die intentionale Struktur des Zweifelsaktes selbst, der notwendig ein Objekt verlangt, auf das er sich richtet, enthüllt sich uns mit derselben unerbittlichen Gewißheit. Wir können sogar dieses Objekt unseres Zweifels näher bestimmen als ein Paar kontradiktorischer Sachverhalte
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oder Urteile, zwischen denen unser Zweifel uns hin und her schwanken läßt: nämlich ob jedes Objekt des Verstehens von historisch wechselnden Interpretationshorizonten konstituiert ist oder nicht. Entweder es gibt ein Sein und ein Leben, das wir als solches erkennen können und das keineswegs bloß noema historischer Bewußtseinsvollzüge und Vorurteile ist oder es gibt kein solches Leben! Die Antwort auf diese disjunktive Frage mag ungewiß sein. Daß jedoch der Zweifel selbst dieses doppelstrukturierte Objekt besitzt, steht außer Frage. Wir könnten nicht zweifeln, ohne zu erkennen, woran wir zweifeln und näher, daß wir daran zweifeln, ob es transhistorische Bedingungen allen Verstehens und aller Hermeneutik gibt oder nicht. Mit diesem „oder nicht“ ohne das der Zweifel als solcher sich überhaupt nicht zu konstituieren vermag, ist uns jedoch auch jenes Prinzip mitgegeben, von dem Aristoteles in Buch Gamma der Metaphysik sagt, es sei das allergewisseste und unbezweifelbarste Prinzip, nämlich das des Widerspruchs. Denn unser Zweifel würde absolut ins Leere greifen, wenn uns dies eine nicht gewiß wäre: Die objektive Existenz des Lebens historischer Subjekte und nicht auf geschichtliches Bewußtsein relativer Wirklichkeit ist nicht dasselbe wie deren Gegenteil. Der Sachverhalt „S ist P“, d.h. es gibt eine nicht bloß historisch entworfene Wirklichkeit, und der Sachverhalt „S ist nicht P“, es gebe also keine solche, sind nicht identisch und schließen sich außerdem gegenseitig aus. Ohne dieses Entweder-Oder, wie wir auch mit Kierkegaard formulieren können, läßt sich der hermeneutisch und historisch motivierte Zweifel überhaupt nicht vollziehen. In diesem Entweder-Oder und im Prinzip, daß dasselbe intelligibel macht, rühren wir jedoch mit Augustinus661 an das Widerspruchsprinzip als Bedingung der Möglichkeit jedes, und damit auch des historisch-hermeneutischen Zweifels. Auch die Einsicht in die objektive, nicht standortbedingte Tatsache, daß wir zweifeln, ist gewiß. Ferner sind wir in unserem ernsthaften Dialog zwischen der Position der Hermeneutik und unserer augustinischen Antwort auf das Problem der Geschichtlichkeit bemüht, eine Antwort zu finden. Ja der Ernst unseres Dialogs hängt gerade davon ab, ob wir erkennen wollen, welche der beiden Positionen und welche der 661
In Contra Academicos III, xiii, 29 hat Augustinus das Widerspruchsprinzip als unbezweifelbare Bedingung jeden Zweifels formuliert.
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vorgebrachten Argumente richtig oder stichhaltig sind. Jedoch läßt sich gerade diese Frage gar nicht stellen und dieses Bemühen gar nicht denken ohne jenes Wollen, von dem Augustinus sagt, daß wir sicher sein bzw. erkennen wollen. Der Wille zur Wahrheit, der dem Dialog über unsere Frage zugrundeliegt, bildet also ein weiteres intelligibles Fundament des Zweifels. Die unbedingte Wirklichkeit dieses Wahrheitswollens kann auch durch unseren durch die Idee hermeneutischer Vorurteilsbedingtheit allen Erkennens motivierten Skeptizismus nicht erschüttert werden. Ja gerade die Frage nach der Historizität allen Denkens selbst setzt voraus, daß der Wille, eine Antwort auf diese Frage zu finden, nicht selbst wieder bloß Objectum historischer Bewußtseinsvollzüge und Verstehenshorizonte sein kann. Denn wenn er dies wäre, wenn er also nicht an sich wirklich bestünde, könnten wir an überhaupt nichts zweifeln, zumindest wenn wir „Zweifel” im authentischen Sinn einer theoretischen Antwort, nicht bloßer Ungewißheit nehmen. Wenn wir einen Moment von der Diskussion des Zweifels abstrahieren und auf die Frage blicken, die wir aus unserem Zweifel heraus als Grundlage unseres Dialogs stellen, so enthüllen sich im Beispiel der Frage, die Coreth als mögliches und voraussetzungsloses Fundament einer Metaphysik herausarbeitete, eine Fülle weiterer notwendiger Momente, ohne die eine Frage zu stellen unmöglich ist Viele der folgenden Wesenszüge der Frage haben auch Gadamer und Friedrich Löw entfaltet662: Wir müssen zunächst den Akt des Fragens vom Inhalt der Frage bzw. von dieser selbst unterscheiden. Die Frage selbst ist wiederum wesenhaft nicht mit den Worten und dem Fragesatz identisch, in denen sie sprachlich ausgedrückt wird. Vielmehr besteht sie in dem ausgedrückten und aus Begriffen bestehenden Gebilde der Frage, von der Gadamers Aussage gilt: „Im Wesen der Frage liegt, daß sie einen Sinn hat“. Wir wissen ferner im Vollzug des Aktes des Fragens, daß wir fragen und auch, daß wir das Gefragte noch nicht wissen; daß das Fragen immer Akt eines Subjekts sein und die Frage immer einen Gegenstand haben muß. Wir erkennen 662
Siehe Emerich Coreth, Metaphysik, 3. Auflage (Innsbruck/Wien: Tyrolia, 1982). Siehe auch Gadamer, „Was ist Wahrheit“, in: Gadamer, Gesammelte Werke Bd. 2, S. 44-56, bes. S. 52 ff. Siehe auch G.W.., Bd. I, S. 304 ff, 368 ff., 374 ff. Im Anschluß an Alexander Pfänders Logik hat auch Friedrich Löw eine gediegene Arbeit über „Logik der Frage“ vorgelegt: Archiv für die gesamte Psychologie Bd. 66 (1928), S. 357-436.
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gleichermaßen die wesensnotwendigen Sachverhalte, welche die folgenden Einwände Menons und anderer antiker Eristiker gegen die Möglichkeit des Fragens als sophistisch entlarven: daß wir nämlich nach nichts fragen könnten, da wir um das Gefragte schon wissen müßten, um zu fragen; zugleich könnte man nach einem schon Gewußten nicht mehr fragen.663 In Wirklichkeit muß zwar im Fragen in Gestalt eines Vorwissens erkannt werden, daß es überhaupt die Sphäre von Sachverhalten gibt, auf die die Frage sich bezieht und was an diesen Fragen ermöglicht. Wir dürfen aber zugleich über den genauen Gegenstand unserer Frage noch nicht sicher sein, um überhaupt fragen zu können. Ebenso ist die zeitlose Wahrheit evident, daß die Frage ihren Gegenstand mit einem anderen Bedeutungsgehalt und mit einer anderen Funktion der Kopula betrifft als der Zweifel oder das Urteil, daß wir deshalb auch mit der Frage als solcher keinen Wahrheitsanspruch erheben. Während es ferner zur Evidenz gebracht werden kann, daß die Frage danach, was das Sein ist, keine ungeprüften inhaltlichen und logischen Voraussetzungen macht und deshalb in Coreths Sinn einen absolut voraussetzungslosen Ausgangspunkt der Metaphysik bieten kann, ist doch zugleich evident, daß jede Frage schon wieder Urteile und jeder Frageakt auch Erkenntnisse voraussetzt oder besser in sich birgt. Die Frage „was ist das Sein?“ etwa setzt zumindest die Wahrheit des Urteils voraus, daß es überhaupt so etwas wie Sein gibt. Um den Akt des Fragens zu vollziehen, müssen wir erkennen, daß wir fragen und daß es überhaupt so etwas wie den Gegenstand der Frage gibt – dies und vieles andere enthüllt sich in der intelligiblen Struktur des Fragens als unhinterfragbarer, bzw. von jedem Fragen und in Frage Stellen bereits vorausgesetzter Ansatzpunkt und Wirklichkeitsgrund.664 Selbst die voraus663 664
Siehe Platon, Menon, 80 c-d. Siehe E. Coreth, S. 86 f., 90-131. Coreth analysiert das Wesen der Frage in bewundernswerter Weise und zeigt die Bedingungen auf, die in ihrem Wesen gründen. Deshalb stimmen wir jedoch nicht mit dem Versuch überein, spezifische Momente der kantischen Philosophie mit einer klassischen oder thomistischen Metaphysik zu verbinden. Siehe dazu Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?. Siehe auch Josef Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Siehe auch Walter Hoeres, „Transcendental Metaphysics of Knowing”, S. 353-369; ders., Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie. Damit ist die transzendentale Methode als Frage nach den (objektiven!) Bedingungen der Möglichkeit des Subjekts in keiner Weise geleugnet. In einem besonders auf die
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setzungsloseste aller Fragen: Gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? ruht auf der Erkenntnis der einsichtigen Wahrheit des Widerspruchsprinzips, das ausschließt, daß es zugleich und im selben Sinne etwas und nichts geben kann. Doch sind diese Voraussetzungen nicht willkürliche Thesen, die das Fragen als solches mit unvermeidbaren Vorurteilen belasten. Vielmehr haben wir es hier – im Gegensatz zu falsch gestellten oder schiefen Fragen, die Verwirrung im Urteil oder Irrtümer voraussetzen bzw. implizieren – mit evidenten Einsichten bzw. Wesenssachverhalten zu tun, auf denen zugleich die Möglichkeit sinnvollen Fragens wie sinnvollen Zweifelns beruht. Die augustinische Antwort auf die Skepsis, daß jeder, der zweifelt, urteilt, daß er seine Zustimmung nicht voreilig geben solle, die Tatsache und die Wahrheit dieses Urteils werden notwendig von der Frage und auch von jedem Zweifel, der durch die hermeneutische Position motiviert wird, vorausgesetzt. Denn wie sollten wir sinnvollerweise fragen oder zweifeln, ob die These des historisch-hermeneutischen Zirkels stimmt, wenn wir keine Skrupel und Bedenken hätten, einfach Behauptungen aufzustellen? Was sollte mich etwa davon zurückhalten, die hermeneutische Position von Anfang an als wahr oder als falsch zu bezeichnen, wenn nicht das dem Zweifel zugrunde liegende Urteil, daß ich nicht voreilig und ohne triftige Gründe ein Urteil fällen soll? Mit diesem Urteil und dieser Erkenntnis jedoch ist wieder eine weitere Fülle von Erkenntnissen verknüpft. Denn ohne ein Werturteil, demzufolge eine sachliche und rationale Lösung unseres Problems und der Verschiedenheit unserer Positionen besser als ein irrationales und unbegründetes Urteil in dieser Angelegenheit ist, bestünde ja keinerlei Grund dafür, auf willkürliche Urteile zu verzichten, ja uns selbst des willkürlichsten und unsinnigsten Urteils zu enthalten. Ohne den vorausgesetzten und nicht bloß Objekt historischen Bewußtseins seienden Wert der Sachlichkeit bestünde nicht einmal ein Grund dagegen, die Position unseres Gegners total zu entstellen und gegen einen bloßen Strohmann der Gegenposition zu argumentieren. Ohne ein solches Urteil des Wertes der Erkenntnis und eines sachlich begründeten Urteils bestünde ferner keinerlei Grund, nicht Interpretation der transzendentalen Methode bei Coreth eingehenden Sinn will der Autor versuchen, in einem Aufsatz das legitime Moment der Frage nach unleugbaren und immer vorausgesetzten Wahrheiten von anderen s.E. philosophisch unhaltbaren Elementen der tranzendentalen Erkenntnistheorie zu scheiden.
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sogar das Gegenteil dessen zu behaupten, was wir in unserer philosophischen und wissenschaftlichen Diskussion für das Richtige halten. Um also überhaupt zu unserer jeweiligen philosophischen Position zu stehen und zu dialogisieren, setzen wir bereits ein Werturteil transzendenter und übergeschichtlicher Struktur sowie dessen übergeschichtliche Wahrheit voraus, ein Werturteil, demzufolge es besser ist, in einer sachlichen Diskussion rational zu urteilen, nicht gegen die eigene Überzeugung Urteile zu fällen, usf., als gegen diese Werte zu verstoßen. Wir könnten an dieser Stelle von transzendentalen Voraussetzungen des Zweifels oder der Frage sprechen, ich ziehe jedoch vor, von unleugbaren Wesenssachverhalten und notwendigen Wahrheiten und Voraussetzungen zu sprechen, weil wir nicht nur erkennen, daß wir diese notwendig voraussetzen, daß sie also Bedingungen der Möglichkeit des Fragens oder Zweifelns sind, sondern weil wir vielmehr darüber hinaus erkennen, daß in der Tat diese Voraussetzungen des Zweifels objektiv und notwendig gegeben sind, sowohl daß wir sie objektiv notwendig machen, als auch, daß die in diesen Voraussetzungen gemachten Annahmen und gefällten Urteile notwendig und evident wahr sind.665 Wir könnten von einer transzendentalen Methode sprechen, die die unleugbaren und unbezweifelbaren transgeschichtlichen und zugleich in sich einsichtigen Wahrheitsbedingungen formuliert, ohne deren Fundament menschliches Denken und historisches Dasein schlechthin undenkbar und vor allem in sich unmöglich sind. Eine genauere Analyse würde ergeben, daß die genannten Sachverhalte und Wahrheiten bloß einen Bruchteil dessen darstellen, was das dem Zweifel und der Frage zugrundeliegende Urteil alles voraussetzt. 6. Übergeschichtliche Wahrheitserkenntnis in der hermeneutischen Position Bis zu diesem Punkt betrachteten wir in mancherlei Hinsicht der Position der Hermeneutik fremde Gesichtspunkte, nicht in dem Sinne, daß 665
Siehe oben, Anm. 7, sowie Josef Seifert, Discours des Méthodes. The Methods of Philosophy and Realist Phenomenology, (Frankfurt / Paris / Ebikon / Lancaster / New Brunswick: Ontos-Verlag, 2009); ders., Siehe auch Josef Seifert, Back to Things in themselves: A phenomenological Foundation for classical Realism.
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es sich nicht um Voraussetzungen dieser Position selbst und in diesem Sinne um ihr selbst und jedem Denken immanente Voraussetzungen handeln würde, jedoch in dem Sinne, daß diese Voraussetzungen nur teilweise als solche von den großen Vertretern dieser Schule, insbesondere von Heidegger und Gadamer, formuliert wurden. Zum Abschluß dieser Überlegungen möchten wir uns jedoch auf solche Erkenntnisse ungeschichtlicher Wahrheit konzentrieren, die der hermeneutischen Position und Gadamers bedeutendem und in jeder Hinsicht erkenntnisreichen Werk Wahrheit und Methode selbst entnommen sind und die bestätigen, daß die Historizität des Menschen die Erkenntnis ungeschichtlicher Wahrheit voraussetzt. Dabei geht es uns insbesondere um das Problem ungeschichtlicher Erkenntnis von „Dingen an sich“, die nicht bloß vom historischen Bewußtsein konstituiert sind. Betrachten wir eine Äußerung Gadamers im Kontext seiner Analyse des Ansichseins:666 Wer das „Ansichsein“ diesen ‚Ansichten‘ gegenüber stellt, muß entweder theologisch denken – dann ist das Ansichsein nicht für ihn, sondern allein für Gott – oder er wird luziferisch denken... Wenn man dem Begriff des Dinges an sich einen solchen Sinn zuweist, als handelte sich hier um die Wirklichkeit in ihrer Fülle, unter Einschluß all jener Dimensionen und Aspekte, unter denen sie überhaupt erkennbar ist, dann müssen wir gewiß Gadamer zustimmen, daß der Anspruch einer Erkenntnis des Dinges an sich den Anspruch der Allwissenheit implizieren und aus diesem Grunde einem endlichen Wesen in keiner Weise zustehen würde, ja, sollte er vom endlichen Geiste dennoch erhoben werden, luziferisch wäre. Denn das endliche und historische Wesen besitzt keine allumfassende Erkenntnis der Wirklichkeit. In diesen Einsichten Gadamers sehen wir eine Erkenntnis übergeschichtlicher Wahrheit, die zugleich Bedingung der Geschichtlichkeit des Menschen ist und deren Erfassen Gadamers Position entscheidend mitbestimmt. Ohne die ungeschichtliche Wahrheit dieser Erkenntnis gäbe es Geschichte überhaupt nicht, da ein allwissendes Wesen als solches keine Geschichte haben könnte. Ohne die ungeschichtliche Wahrheit der Endlichkeit menschlichen Erkennens würde auch das Motiv der hermeneu-
666
Siehe H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (Hermeneutik I), S. 451.
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tischen Position als Gegenposition zu solchem luziferischem Anspruch unbegründbar bleiben.667 Ferner ist mit Gadamers Erkenntnis auch miterkannt, daß ein solches absolutes Wissen des Dings an sich zu implizieren nicht moralisch neutral, sondern ein Anspruch wäre, der sittlichen Tadel verdiente, ohne welchen der Begriff des ‚Luziferischen‘ wohl kaum sinnvoll anwendbar wäre. Also auch der moralische Tadel, der nicht bloß ein negatives Werturteil als wahr voraussetzt, sondern überdies noch den Anspruch der Hybris als verantwortungsvolle und freie, zugleich jedoch der Wahrheit unangemessene Haltung beschreibt, wird hier vorausgesetzt. So enthüllen sich in der Einsicht in die sachliche und sittliche Unberechtigtheit des Anspruchs, Allwissenheit zu besitzen und nicht in den persönlichen und historischen Entwicklungsprozeß stets weiterer Erkenntnisbemühung eingebunden zu sein, zahlreiche Erkenntnisse und Urteile, deren Wahrheit keineswegs historisch bedingt ist. Oder sollte dies etwa wechseln, sollte es morgen moralisch rechtfertigbar werden, daß jemand den Anspruch erhebt, die Dinge an sich in jenem Allwissenheit implizierenden Sinn zu erkennen!? Nun wird uns wohl entgegengehalten werden, wir könnten auch diese Position und diese Urteile nicht formulieren, es sei denn in einer historisch gewachsenen Sprache, im Deutschen einer bestimmten Entwicklungsstufe, mit den Besonderheiten und innerhalb der Grenzen dieser Sprache. Es könnte uns ferner entgegengehalten werden, daß wir die historische Bedingtheit dieser Erkenntnis vergäßen, die z.B. von der Lektüre des Werkes Gadamers und von dessen Wirken, das dem unseren vorausging, abhängt. Und selbstverständlich ließen sich solche Erinnerungen an die Kontingenz und Bedingtheit unserer Aussagen von historischen Situationen, Traditionen und Umständen unermeßlich vermehren. Doch auch dies, daß nämlich jedes menschliche Denken, zumindest in der Gestalt, in der es uns in der Welt begegnet, an zeitlich-historische Bedingungen, an historisch gewachsene Sprachen und jedenfalls an rein logische Sprach- bzw. Gedankengebilde gebunden bleibt, ist wiederum eine überzeitliche Erkenntnis über Wesen der Geschichtlichkeit und 667
Vgl. dazu Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 5, „Ich bin die Wahrheit“ und die scharfe Auseinandersetzung mit Michel Henrys Buch, Ich bin die Wahrheit. Für eine Philosophie des Christentums.
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Sprachlichkeit des Menschen. Auch besagt die Geschichtlichkeit dieser Erkenntnis nicht, daß der Inhalt derselben bloß eine Funktion irgendwelcher historischer Bedingungen, Umstände oder Voraussetzungen wäre. Fällen wir die genannten Urteile nur, so müssen wir fragen, weil diese und jene Vorgänger uns diese Urteile ermöglichten? Oder stellen dieselben vielmehr – außer jenen historischen Bedingungen, die wir in keiner Weise in Abrede stellen, sondern deren Anerkennung wir vielmehr als eine übergeschichtliche Erkenntnis betrachten – bloß ermöglichende, nicht determinierende Bedingungen dar, die uns erlauben, Tatsachen zu erfassen, die nicht selber Produkte dieser Bedingungen sind? Können solche historisch bedingten Erkenntnisse nicht echte Erkenntnisse sein, also einfach und schlicht der Wahrheit bzw. der Wirklichkeit entsprechen? Ich glaube, es wird uns nicht schwer fallen zuzugeben, daß die historische Bedingtheit der Erkenntnisse, von denen bis jetzt die Rede war, nicht den Inhalt dieser Erkenntnisse auf die historischen Bedingungen, die sie ermöglichen, relativiert, sondern daß diese historischen Bedingungen uns vielmehr in die Lage versetzen, das zu erkennen, was selbst an sich und objektiv die Geschichtlichkeit unserer Verfassung als Menschen ausmacht. Ferner begegnen wir bei Gadamer und Heidegger wichtigen Erkenntnissen über den sogenannten hermeneutischen Zirkel, den schon Schleiermacher und die antike Rhetorik zuvor in interessanter Weise erhellt hatten,668 dem gemäß „die Teile, die sich vom Ganzen her bestimmen, ihrerseits auch dieses Ganze bestimmen“.669 Schleiermacher und Dilthey und erst recht Gadamer erweiterten den Begriff von Ganzen und Teilen, indem sie ihn auf Gesamtwerke, Epochen und Struktur- bzw. Wirkungszusammenhänge ausdehnten. (Und hier ergibt sich eine Hauptquelle des Zweifels, da wir nie das Ganze der Universalgeschichte, welche die Zukunft einschließt, in den Griff bekommen. Gewiß können wir historische Zusammenhänge nicht in ihrer Totalität umfassen, sondern bewegen uns von Teilerkenntnissen auf ein Ganzes zu.) Und wenn uns eine begrenzte historische Sinngestalt in ihrer Ganzheit begegnet, so kehren wir von dieser Gesamtgestalt wieder zurück zum einzelnen Detail und interpretieren dieses in neuer Weise. 668
669
Siehe Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Hermeneutik II: Wahrheit und Methode, Ergänzung und Register, „Vom Zirkel des Verstehens“, S. 57-65. Ebd., S 57.
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Ähnliches gilt für die Interpretation des Kunstwerks. So verläuft der Weg interpretierenden und denkenden Verstehens zirkelförmig von Teilerkenntnissen zu einem Ganzen und von diesem zurück zu den Teilen und diese Dialektik des Prozesses des Verstehens ist für dessen Erklärung unerläßlich und schlicht ein Moment desselben. Ferner trifft ohne Zweifel auch jene spezifische Ausweitung zu, die Gadamer der Idee des hermeneutischen Zirkels dadurch hinzufügt, daß er aufweist, daß auch unsere historisch wachsende Erkenntnis oder einfach unsere fortschrittlose Position in der Geschichte jeweils einen neuen Interpretationshorizont bildet, von dem aus wir in stets neuer Gegenwart bzw. Zukunft das Vergangene auch in je und je neuer und anderer Weise verstehen und interpretieren. Schließlich ist es unleugbar, daß uns die universalgeschichtliche Totalität verborgen ist. Doch sind diese Erkenntnisse selbst; so müssen wir noch einmal fragen, bloße Funktionen und Objekte eines historischen und wechselnden Standpunkts, oder sind sie nicht vielmehr wahre Einsichten in die Geschichtlichkeit des Menschen und in die Rolle des hermeneutischen Zirkels des Verstehens in seinen spezifisch historischen Manifestationen? Gewiß trifft dies letztere zu. Damit zeigt sich jedoch, daß der jeweils neue Verstehenshorizont, ebenso wie die früher genannten historischen Bedingungen, keineswegs implizieren, daß das von dem je neuen Standpunkt des Verstehens aus Gegebene bloß auf diesen Standpunkt relativ wäre. Die Neuheit kann ja in einem Wachstum des Erkennens, in einer Vertiefung oder Differenzierung, in einem Angereichertwerden neuen Verstehens durch zwischen dem letzten und dem gegenwärtigen Verstehensakt vorgefallene Entwicklungen dargestellt werden, muß aber keineswegs den Gegenstand und Inhalt des Interpretierens zu einem bloß relativen machen. Ebensowenig ist die Einsicht in den allgemeinen strukturellen Aufbau historischen Verstehens selbst bloß Wirkung oder Objekt der Historie. Wohl wäre eine solche Reflexion auf den historischen Verstehensprozeß bei Thomas oder Augustinus schwerlich anzutreffen und setzt den Weg voraus, der von Kant über Hegel und Schleiermacher bis zu Heidegger und Gadamer verläuft. Doch heißt dies, daß das von Gadamer und seinen Vorgängern Entdeckte oder durch Momente wie den „Vorgriff der Vollkommenheit“ Bereicherte670 die Struktur des hermeneutischen 670
Siehe Hans-Georg Gadamer, ebd., S. 61-62.
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Interpretierens selbst bloß zum Objekt dieses neuen historischen Standpunkts und Motivationshorizonts macht? In keiner Weise, sondern vielmehr wurde zum gegebenen Zeitpunkt eine Erkenntnis von etwas konkret möglich, das zu allen Zeiten und bei allen Historikern und Interpreten vergangener Gedanken wirksam war; aber zuvor nicht ins Licht philosophischer Erkenntnis gehoben wurde. Unter den tief von Gadamer gesehenen Momenten ist auch, daß erst das Scheitern des Versuchs, die Meinung des anderen als wahr gelten zu lassen, zu historischem und psychologischem Verstehen führt, daß Verstehen primär heißt: „sich in der Sache Verstehen“. Luthers von Gadamer zum Motto des 2. Teils von Wahrheit und Methode gewählte Wort “Qui non intelligit res, non potest ex verbis sensum elicere”671 könnte gerade auch jeder Arbeit einer auf Philosophie und einem phänomenologischen Realismus fundierten Forschungs- und Lehrtätigkeit zum Motto dienen. Man könnte unzählige andere Einsichten Gadamers über die verschiedenen Erkenntnisvermögen des Geschmacks, der Urteilskraft, der phrónesis, u.a. anführen oder an Gadamers Wesensanalyse der Sprache, des Spiels, des hermeneutischen Prozesses selbst u.a. erinnern, worin wir eine breiteste Basis gemeinsam anerkannter Wahrheiten erblicken, die durchaus überhistorische und zeitlose Wesenssachverhalte betreffen. Dazu kommen die vielen Urteile Gadamers über die Geschichte, den eigentlichen Sinn der Schriften Schleiermachers, Diltheys und zahlloser anderer. Auch die vielen historisch richtigen und feinsinnigen Erkenntnisse Gadamers, obwohl ihr Gegenstand historischer Natur ist, sind nicht selbst historisch. 7. Zum Problem einer Kritik auf Grund von Selbstwidersprüchen in der hermeneutischen Position Doch so wie sich diese Einsichten Gadamers als Einsichten in die notwendige Wesensstruktur des Interpretierens überhaupt erschließen und also in ihrer Gültigkeit nicht historisch bedingt sind, so kritisieren diese Erkenntnisse implizite selbst jenen Anspruch der hermeneutischen Schule, daß jedes Verstehen historische Voraussetzungen besäße und von Vorurteilen ausginge, deren Objektivität und Wahrheit bloß angenommen 671
Ibid., S. 177 ff.
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würde, nicht jedoch objektiv erkennbar sei. In diesem Sinn verstanden, würde „hermeneutischer Zirkel“ eine notwendige historische petitio principii und Voraussetzungsgebundenheit implizieren, kraft deren die Prinzipien des eigenen Verstehens zwar wohl vorausgesetzt werden müßten, niemals jedoch von einem nicht selbst historisch relativen Standpunkt aus erkannt und analysiert werden könnten. Mit anderen Worten, jedes Verstehen hätte historische Bedingungen, deren Wahrheit es nicht selbst, es sei denn vom eigenen relativen Punkt des Verstehenshorizonts aus, beurteilen könnte. Hermeneutischer Zirkel, so verstanden, würde die Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis bedeuten und die Gebundenheit allen Interpretierens und historischen oder philosophischen Verstehens an Voraussetzungen, die niemals in ihrer objektiven Evidenz zur Gegebenheit gelangen könnten. Gadamer scheint eine solche historische Relativität alles Gegebenen inklusive jeden Ansichseins gerade dort auszusagen, wo er den Vorwurf des historischen Relativismus abweist:672 Vielmehr bedeutet die unendliche Perfektibilität der menschlichen Welterfahrung, daß man, in welcher Sprache immer man sich bewegt, nie zu etwas anderem gelangt als zu einem immer mehr erweiterten Aspekt, einer ‚Ansicht‘ der Welt. Solche Weltansichten sind nicht in dem Sinne relativ, daß man ihnen die ‚Welt an sich‘ entgegenstellen könnte, als ob die richtige Ansicht von einem möglichen Standorte außerhalb der menschlich-sprachlichen Welt aus sie in ihrem Ansichsein anzutreffen vermöchte.
Die Bemerkung, daß ein solcher hermeneutischer Perspektivismus bzw. Relativismus sich selbst widerspreche, da er eben für die These historischer Bedingtheit selbst absolute Wahrheit beansprucht, leugnet Gadamer nicht, sieht jedoch ein solches „Reflexionsargument“ aus einem Selbstwiderspruch mit Heidegger als einen „Überrumpelungsversuch“ an:673 Man kann die innere Widersprüchlichkeit eines jeden Relativismus noch so klar aufweisen, es ist schon so, wie Heidegger es ausgesprochen hat: Alle diese siegreichen Argumentationen haben etwas vom Überrumpelungsversuch an sich. So überzeugend sie scheinen, so sehr verfehlen sie doch die eigentliche Sache. Man behält recht, wenn man sich ihrer bedient und doch 672 673
Siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Bd. I, a.a.O., S. 451. Siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Bd. I, a.a.O., S. 350.
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sprechen sie keine überlegene Einsicht aus, die fruchtbar wäre. Daß die These der Skepsis oder des Relativismus selber wahr sein will und sich insofern selber aufhebt, ist ein unwiderlegliches Argument. Aber wird damit irgend etwas geleistet? Das Reflexionsargument, das sich derart als siegreich erweist, schlägt vielmehr auf den Argumentierenden zurück, indem es den Wahrheitswert der Reflexion suspekt macht. Nicht die Realität der Skepsis oder des alle Wahrheit auflösenden Relativismus wird dadurch getroffen, sondern der Wahrheitsanspruch des formalen Argumentierens überhaupt.
Doch mit welchem Recht wird beim Nachweis eines von Gadamer ausdrücklich zugestandenen Selbstwiderspruchs von Überrumpelung gesprochen und behauptet, ein solches Argument, das aufdeckt, die kritisierte Position setze urteilsmäßig einen Sachverhalt, den sie zugleich leugne, „leiste nichts“? Man darf jedenfalls nicht unbesehen Widerlegungen aus inneren Widersprüchen abtun, da immerhin Denker vom Rang eines Platon, eines Aristoteles, Augustinus, Bonaventura oder Kant sie verwenden.674 In Platons Theaitetos entwickelt Sokrates mehr oder weniger sämtliche möglichen Argumente gegen Protagoras und andere Formen des Relativismus, wobei die Widerlegung aus inneren Widersprüchen eine entscheidende Rolle spielt. Die These des Protagoras vom Menschen als Maß aller Dinge hebt sich selbst auf, da auch Protagoras voraussetzt und unter dem Druck der Erforschung seiner Position zugeben müßte, daß er mit sich selber uneins ist und sich selber widerspricht.675 674
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Wir finden das Argument aus Widersprüchen in Platons Theaitetos, insbesondere 152d – 170d. Aristoteles verwendet es in Buch Gamma der Metaphysik, Augustinus in Contra Academicos, Bonaventura in De Trinitate, wenn er in der Einleitung die Existenz einer unbezweifelbar gewissen Wahrheitserkenntnis (cognitio certitudinalis) nachweisen will. Kants Antinomie der reinen Vernunft beruht geradezu darauf, daß Positionen, die uns in notwendige Widersprüche verwickeln, auch notwendig falsch sein müssen. Deshalb gilt Kant der Realismus als Dogmatismus und als notwendig falsch, da er meint, daß jeder Realismus zur Behauptung antinomischer Thesen und Gegenthesen zugleich führe. Die kritische Philosophie soll der Vorrede der Zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zufolge gerade dies zum „einzigen Probierstein“ haben, daß sie allein eine Position vertrete, die frei von inneren Widersprüchen sei. Das Argument aus dem Selbstwiderspruch des Relativismus finden wir im Theaitetos 170 e ff., wo Platon zeigt, daß trotz aller mehr oder minder raffinierten Versuche von Protagoras, sich von dem Vorwurf des Selbstwiderspruchs zu
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Gewiß, darin stimmen wir mit Gadamer überein, das letzte Fundament einer Widerlegung kann nicht in der formalen Tatsache des Nachweises eines Selbstwiderspruchs einer Position liegen, da ein solcher auch in der „suspekten“ und irrtumsbehafteten Struktur des Denkens überhaupt gründen könnte und deswegen zur Widerlegung einer Position nur ausreicht, wenn die innere Wahrheit jener logischen Prinzipien zur Evidenz gebracht werden kann, auf denen Argumente aus dem Selbstwiderspruch beruhen. Es bedarf der letzten Evidenz der Wahrheit des Widerspruchssatzes, um dieses Reflexionsargument als zwingend einzusehen. Doch steht einmal fest, daß wirklich zwei kontradiktorische Sachverhalte nicht zusammen bestehen und deshalb auch nicht die sie behauptenden kontradiktorischen Urteile im selben Sinn bzw. gleichzeitig wahr sein können, erweist sich die absolute Stringenz jener Argumente, die innere Widersprüche einer Position dartun. Wenn auch Unleugbarkeit eines Prinzips als solche keine Widerlegung seiner Verwerfung darstellt, so zeigt sich – über den formalen Hinweis auf Selbstwiderspruch hinaus – das Fundament der Logik selbst als wahr. Erst aus diesem Grund ist die Unleugbarkeit mancher Wahrheiten, weil deren Leugnung sie notwendig voraussetzt, ein tiefes und in einem objektivistischen Sinn transzendentales Argument für sie. Auf dieser Basis ist jeder Nachweis des Selbstwiderspruchs einer These notwendig auch ein Nachweis von deren Falschheit. Denn eine wahre These kann sich nicht notwendig selbst aufheben oder in Konflikt mit dem notwendig wahren Widerspruchssatz treten.676 Aber auch abgesehen von der Fundierung des „Reflexionsargumentes“ auf der evidenten Wahrheit des Widerspruchsprinzips dürfte es doch keinen Menschen, der wie Aristoteles zeigt, in jedem Urteil und jeder Handlung das Widerspruchsprinzip voraussetzt, ruhig bleiben lassen, wenn er zugleich urteilend etwas setzt und denselben Sachverhalt wieder aufhebt. Denn dies widerstreitet der Erfüllung der innersten und ebenso evidenten
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befreien, er doch notwendig gerade leugne, was er selber behaupte, also die homo-mensura-These zugleich vertrete und zugleich aufhebe. Siehe Josef Seifert, Verso una Fondazione di una Metafisica Classica e Personalista, II. Teil, Kap. V, wo das Fundament dieser Thesen im Buch G der Metaphysik des Aristoteles diskutiert und die dreifache Hinsicht erörtert wird, in der u.a. Husserl, Pfänder, Reinach und Hildebrand das philosophische Verständnis des Satzes vom Widerspruch vertieft haben.
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wie unleugbaren Intention eines Urteils und dessen Anspruch, wahr zu sein. Doch stellen wir die Frage, ob nicht das bisher Gesagte und insbesondere die zeitlos gültigen Einsichten Gadamers in das Wesen des hermeneutischen Zirkels in der vorher diskutierten Form beweisen, daß gerade dies stattfindet, daß der Geist in diesen Erkenntnissen von Voraussetzungen ausgeht, die weder historisch relativ noch ungeprüfte Vorurteile sind, sondern, wie Platon im 6. und 7. Buch der Politeia vom Philosophen verlangt, jenseits aller Hypothesen zu den absoluten Fundamenten menschlichen Wissens vordringen. In tiefsinnigen Ausführungen Gadamers über das Verhältnis des Logos der Sprache zur Logik der Sachen selbst erblicken wir Erkenntnisse, die man als Schritt in dieser Richtung deuten könnte, daß tatsächlich das Denken und Sprechen des Menschen immer schon im Akt rezeptiv-transzendierenden Erkennens beim Eigenlogos des Seins weilt und dieses so auffaßt, wie es ist. Doch läßt sich eine solche Deutung der betreffenden Äußerungen nur von dem Gadamer und uns gemeinsamen Prinzip her aufrechterhalten: „Verstehen heißt primär; sich in der Sache verstehen, und erst sekundär: die Meinung des anderen als solche abheben und verstehen.“677 Ich denke bei der Rede von Gadamers Denken über eine „vorgängige Einheit“ von Logos der Sachen und der Sprache insbesondere an den Aufsatz von 1960 „Die Natur der Sache und die Wahrheit der Dinge“.678 Indem Gadamer dort dem modernen Subjektivismus damit begegnen will, daß „eine vorgängige Entsprechung des einen und des anderen“ (ibid., S. 71) bestehe, könnte man dies im Sinne der klassischen Tradition so verstehen, daß von vornherein Denken an der intelligiblen Struktur der Dinge selbst teilhat und sie immer schon erkennt. Dem könnten wir nur zustimmen, wenn wir auch das Problem des Subjektivismus, das nicht nur in moderner Gestalt als Transzendenzproblem bei Descartes und Husserl vorhanden war, sondern das schon in der antiken Skepsis und bei Augustinus in voller Klarheit auftritt, voll ernst nehmen müssen und nicht durch einen einfachen Hinweis auf die Entsprechung von Denken und Sein lösen können. Man könnte jedoch mit größerer Plausibilität Gadamers Position auch dahingehend deuten, daß er ähnlich Heideggers „In-677
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Siehe Gadamer, „Vom Zirkel des Verstehens“, Gesammelte Werke Bd. II, 57-65, S. 62. Gesammelte Werke, Bd. II, S. 66-76.
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der-Welt-sein“ eine vorgängige Entsprechung zwischen Geist und Dingen annimmt und das Problem Realismus/Idealismus so ablehnen möchte. In einem solchen „Überspielen“ eines klassischen erkenntnistheoretisch-metaphysischen Problems der Erkennbarkeit der Dinge an sich sehen wir jedoch ein Anzeichen dafür, daß eine solche Position nicht naiv oder kritisch realistisch eine objektive Angleichung (adaequatio) vom menschlichen Geist an die Wirklichkeit annimmt, sondern ein solches „in-der-Welt-sein“ rein vom Subjekt erklärt und die transzendentalidealistische Position eines Husserl für unübersteigbar bzw. unrevidierbar hält. Dabei werden „Welt“ und „Lebenswelt“ doch letztlich als bloße Noemata und Produkte von Sprache, Geschichte und Bewußtsein genommen. Damit geht aber der objektive Anspruch vieler Seiender unter, „an sich“ und „in sich selber seiend“ zu sein im Sinne eines noúmenon, das in sich erkennbar ist.679 Den folgenden Gedanken aus Wahrheit und Methode fügt auch der Anhang zu diesem Werk680 nichts wesentlich Neues hinzu. Dort bezieht sich Gadamer auf die These von Leo Strauss und Karl Löwith, daß die Unterscheidung von ‚recht‘ und ‚unrecht‘ den Anspruch erhebe, „daß der Mensch sich über seine geschichtliche Bedingtheit muß erheben können.“ Er erkennt dabei Strauss’ und Löwiths folgende Thesen als wahr an: 1. daß der Historismus selber seine historischen Bedingungen hat, und 2. daß „das historische Phänomen des Historismus, so wie es seine Stunde erhielt, eines Tages auch vorbei sein könnte.“ Dies gelte ganz gewiß, „nicht weil der Historismus sich sonst ‚widerspräche‘, sondern wenn er es mit sich selbst ernst meint.“ Gadamer stellt dort (ibid., S. 416) – in gewissem Gegensatz zur in Wahrheit und Methode stehenden Aussage zu diesem Punkt – in Frage, daß ein tatsächlicher Widerspruch daraus folge, daß der historische Relativismus selbst zu einem späteren Zeitpunkt seine historisch bedingte ‚Wahrheit‘ verlieren könnte. Er führt aber den Grund nicht aus, aus dem es sich hier um etwas anderes als Widerspruch halten sollte, noch erörtert er die Gründe für seine These, daß, wenn es sich hier um Widerspruch handle, der Historismus nicht als falsch erwiesen sei. Auf
679
680
Siehe gerade dazu die ausführliche Diskussion der Problematik des „Dinges an sich“ bei J. Seifert, Back to ‘Things in themselves’: A phenomenological Foundation for Classical Realism, Parts III und IV. „Hermeneutik und Historismus“, S. 415 ff.
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diese entscheidenden Fragen werden wir im Haupttext noch einmal zurückkommen. Im übrigen entwickelt Gadamer im Aufsatz „Was ist Wahrheit?“,681 der Vorstufe für Wahrheit und Methode, eine hervorragene Analyse des Wesens der Urteilswahrheit. Von dieser Analyse des Urteils her könnte Gadamer die Eigenart des Wahrheitsanspruchs des historistischen Urteils selber entfalten, was allerdings zu jenem Vorwurf des Widerspruchs führen dürfte, den Gadamer nicht widerlegt. Übrigens könnte man diesen Widerspruch nicht nur darin sehen, daß der Historismus tatsächlich behauptet, daß alle Meinungen historisch relativ seien und daß eben dies „absolut wahr sei“ und zugleich seine eigene historische Relativität und damit (potentielle) Falschheit zugibt, was nur der selten ehrliche Historist tun wird. Vielmehr tritt das die historische Relativität aller Wahrheit behauptende Urteil mit einem impliziten Wahrheitsanspruch auf, der sich in Form eines Wahrheitsurteils (über die Wahrheit des Urteils des Historismus) ausfalten läßt. Dieses bloß implizit präsente Urteil tritt nun tatsächlich in direkten kontradiktorischen Widerspruch zur Grundthese des Historismus, wie Bonaventura ausführt: Auf das, was man gegen die Beweisführung Augustins einwendet, daß nämlich kein Urteil (contradictoria) sein eigenes kontradiktorisches Urteil (contradictoriam) impliziere, ist zu erwidern: dies ist wahr, insofern zwei Urteile kontradiktorisch sind; jedoch ist zu verstehen, daß eine bejahende Aussage (propositio) eine zweifache Behauptung enthält: eine, kraft deren sie ein Prädikat von einem Subjekt aussagt; eine zweite, kraft deren sie behauptet, sie selbst sei wahr. In der ersten Behauptung unterscheidet sie sich von der negativen Aussage, die ein Prädikat von einem Subjekt abtrennt; in der zweiten Behauptung kommt aber die negative Aussage mit der affirmativen überein, weil sowohl die verneinende als auch die bejahende Aussage den Anspruch erhebt, selbst wahr zu sein. Auf der ersten Behauptungsebene sind die Aussagen kontradiktorisch, nicht auf der zweiten (als solcher). Wenn man deshalb sagt: es gibt keine Wahrheit, so impliziert diese These, insofern sie das Prädikat vom Subjekt negiert, nicht ihr eigenes Gegenteil, nämlich: es gibt eine Wahrheit. Indem sie aber für sich selbst beansprucht, wahr zu sein, impliziert sie, daß es Wahrheit gibt; dies ist nicht verwunderlich; denn wie jedes Böse das Gute voraussetzt, so jedes Falsche die Wahrheit. Und deshalb schließt dieses Falsche, daß es keine Wahrheit gibt – da es wegen der Abtrennung des Prädikats vom Subjekt alles Wahre leugnet, und wegen der Behauptung, mit der es 681
„Was ist Wahrheit?“ (1957), (Gesammelte Werke Bd. II, S. 44-56).
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KAPITEL 12 behauptet, selber wahr zu sein, wieder setzt, daß es eine Wahrheit gibt – beide Teile des kontradiktorischen Widerspruchs ein; daher kann der recht verstehende Intellekt auch aus jenem Falschen beide Teile des Widerspruchs und damit schließen, daß die These wesenhaft falsch und nicht einmal verstehbar ist. Und das will Augustinus sagen.682
Es ist uns im begrenzten Rahmen dieser Ausführungen nicht möglich, tiefer in die Einsichten einzudringen, die in großem Reichtum in Gadamers umfangreichem Werk enthalten sind, in dem uns Schritt für Schritt Erkenntnisse über Verstehen, Verstehenshorizonte, Zeitlichkeit, Kontinuität im Wandel, Wesen des Wandels und Wechsels, menschliches Bewußtsein, die Ungerechtigkeit von Reduktionismen aller Art und die Notwendigkeit, den naturwissenschaftlichen Methoden-Monismus zu überwinden, und zahlreiche weitere Erkenntnisse begegnen, ganz abgesehen von dem immensen historischen Wissen über die Meinungen anderer. Gewiß kann weder von Gadamers Wesenserkenntnissen noch von wahren Urteilen über historische Fakten gesagt werden, daß sie sämtlich auf derselben Stufe der Urteile eines Ungebildeten stünden und nicht wirklich und objektiv wahr seien. Die historischen Fakten, aber auch allein die zeitlosen Wesensstrukturen des Historischen, des Verstehens und Interpretierens, des Menschen überhaupt, die in Gadamers Werk offenbar werden, würden ohne weiteres den Stoff für ein eigenen Buch hergeben. In diesem Sinne bleibt trotz allem Gegensatz zwischen einer Position, die die historische Relativität allen menschlichen Verstehens behauptet und einer, die in dem Erfassen zeitloser Wahrheit die Bedingung der Geschichtlichkeit erkennt, ein erheblicher gemeinsamer Erkenntnisboden und damit Boden möglicher Verständigung, von dem aus ein sinnvoller philosophischer Dialog erfolgen kann. An dieser Stelle wird uns auch die Unhaltbarkeit der eingangs erwähnten Skepsis deutlich, die mit einer von Gadamer zu recht gerügten Oberflächlichkeit die Gegensätze der vorsokratischen Lehrsysteme und die Kraft der jeweils für sie vorgebrachten Argumente als Zeichen dafür nimmt, daß zwischen diesen Positionen absolut nichts Verbindendes sei. 682
Bonaventura, De Mysterio Trinitatis V, 48, 5 (eigene Übers., JS). Vgl. dazu auch J. Seifert, „Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit“, 38-52.
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Man könnte etwa zeigen, daß Heraklit und Parmenides je viele tiefe Einsichten gewannen, Einsichten, die als solche keineswegs in gegenseitigem Widerstreit stehen, sondern vielmehr ein gemeinsames Fundament der Erkenntnis und Wahrheit bilden, auf dessen Boden erst die allerdings bestürzenden Gegensätzlichkeiten der beiden Positionen sich bewegen. Mit der Entdeckung eines solchen gemeinsamen Erfahrungs- und Erkenntnisbodens jedoch ist der auf der Tatsache von Widersprüchen aufbauenden Skepsis der Boden entzogen, denn es ergibt sich mit aller Deutlichkeit, daß auch für die gegensätzlichsten Positionen das Wort Heraklits gilt, das den Grund der Möglichkeit der Philosophie und auch unseres hier angestrebten Dialogs bildet; „Der Logos ist allen gemeinsam“.683 8. Die platonische Dialektik und der VII. Brief: Zum tiefsten Grund der hermeneutischen Philosophie Gadamers Womöglich haben wir den eigentlichsten Grund für Gadamers hermeneutische Philosophie in einem Aufsatz über Platons Dialektik zu suchen, nicht in den hermeneutischen Schriften.684 Darin geht es um den berühmten kurzen erkenntnistheoretischen Exkurs, in dem Platon den Grund der mündlichen Tradition an der Akademie angibt. Er unterscheidet dort am Beispiel des Kreises 1. Name bzw. Wort („Onoma“) 2. Definition („Erklärung bzw. Begriffsbestimmung, Logos“); 3 „Erscheinung, anschauliches Bild, Beispiel, Figur (Eidolon)“, und 4 „die Erkenntnis selbst“. Der Leser des platonischen Briefes wird zunächst den Eindruck gewinnen, daß Platon die Meinung vertrat, weder wechselnd-zufällige Namen, noch Definitionen und Erklärungen, noch auch Bilder könnten jemals zu untrüglicher Erkenntnis führen. Dies könne hingegen durch die eigentliche Erkenntnis (Noesis, Episteme) geschehen, die in ihren höchsten 683
684
Dieses Wort ist aus dem umfangreicheren Fragment # 2 des Heraklit genommen, das (in eigener Übersetzung) lautet: „Deshalb soll man dem Allgemeinen folgen. Obwohl jedoch der Logos das (allen) Gemeinsame ist, lebt die Menge doch so, als hätte sie je eine private Erkenntnis.“ Siehe Hans-Georg Gadamer, „Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen Brief“, in: Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. VI, Griechische Philosophie II, S. 90-115.
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Stufen primär durch Dialog vermittelt werde und erst nach entsprechender geistiger Reinigung (Katharsis) erfolge. Dann erst könne die Sache selbst und vor allem der letzte Urgrund der Dinge ansichtig werden. Gadamer deutet jedoch die betreffende Stelle so, worin wir ihm ganz folgen, daß auch das letzte dieser vier Momente, die Erkenntnis, noch nicht mit dem zusammenfällt, worum es eigentlich in der Philosophie geht: der „Sache selbst“.685 Mit Recht auch gibt Gadamer Platons Ausführungen eine weitere Deutung als Platon selbst sie ausdrücklich vermerkt, indem er darauf hinweist, daß es im philosophischen Dialog überhaupt kein Gewaltmittel gegen Sophistik gibt, auch nicht in den mündlichen Reden und Dialogen, von denen Platon spricht.686 Nur Worte, Worte, nicht die Sachen selbst und den Blick auf diese kann ja der Philosophierende unmittelbar einem andern vermitteln. Darum geht es jedoch in der Philosophie. Nun zieht Gadamer daraus einen Schluß, der von seiner Platon-Deutung in Richtung auf die Hermeneutik abweicht, wie mir scheint. Er sieht nämlich in allen vier Medien inklusive der Erkenntnis jene Schwäche, die uns keinen unbezweifelbaren Zugang zur Wahrheit erlaubt. Daher seien die historischen lógoi und philosophischen Dialoge unendlich. Darum wird einer z.B. auch wohl viel Tiefes über die sittliche und rechtliche Verbindlichkeit von Versprechen vorbringen, aber den letztlichen Grund ihrer Verbindlichkeit nicht mit Gewißheit ergründen können, weshalb auch immer sophistische Ablehnung einer Philosophie von Verbindlichkeit des Versprechens möglich sei. Gadamer sieht den Grund für diese Endlosigkeit des Dialogs und die Unmöglichkeit, unbezweifelbare Erkenntnisse zu gewinnen, auch in der weiteren platonischen Erkenntnis der unendlichen und vielfachen Verquickungen und Abhängigkeiten aller Ideen und Wesenheiten, sodass es in der Philosophie niemals um eine Idee, sondern um deren Fülle und Einheit, das Ganze gehe.687 685 686 687
Ebd., S. 96-110. A. a. O., S. 106-110. Ebd., S. 112-113. Gadamer versteht diese vielfache und wechselseitige Verwobenheit der Ideen bei Platon als eine solche, die es nicht erlaubt, eine einsinnige klare Abhängigkeit der Ideen untereinander und von ersten Prinzipien anzunehmen (Parmenides). Er schreibt:
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Was die Möglichkeit der sophistischen Freiheit betrifft, jede auch noch so einsichtige Wahrheit zu leugnen, so ist diese offenkundig gegeben. Doch stellt sich sowohl vom Standpunkt getreuer Platon-Interpretation als auch vom rein systematisch-philosophischen Standpunkt die Frage, ob der Grund für diese Freiheit sophistischer Dialektik darin liegt, oder gar liegen muß, daß es keine unbezweifelbare Wahrheit gibt, die durch Logoi und Episteme vermittelt werden kann. Uns scheint Platon vielmehr zu sagen, und darin auch recht zu haben, daß nur der intellektuell und sittlich gereinigte Mensch durch die Vermittlung von Schriften und, betreffend der höchsten Gegenstände, von denen Platon nicht schreiben will, durch das Medium des Dialogs Erkenntnis gewinnen kann. Nach Platon entzünden nicht historische Horizonte, sondern die Wahrheit wie ein Funke den Geist mit Licht, sodass er der Erkenntnis des Höchsten teilhaftig wird. Gewiß, kein Geist kann den unerschöpflichen Reichtum intelligiblen Seins ausschöpfen und es wird der Philosophie immer um eine „ganze Wahrheit“ gehen, die sie selbst jedoch niemals vollkommen erreicht. Doch aus dieser Endlichkeit des Erkennens folgt noch nicht die mögliche Falschheit dessen, was der Mensch erkennt. Aus der Tatsache, daß jedes erreichte Ergebnis, wie daß jeder Zweifel Bewußtsein von seinem Objekt einschließt, daß das Versprechen ein sozialer Akt ist, daß der Mensch eine unveräußerliche Würde besitzt, unvollständig ist, folgt nicht, daß diese unvollständigen Erkenntnisse durch weitere zukünftige Einsichten jemals aufgehoben werden könnten. Dies widerspricht auch nicht der Hermeneutik. Im Gegenteil! Wäre es nicht möglich, unvollständige und doch wahre Erkenntnis zu gewinnen, so könnte der Erkenntnisprozeß nie beginnen. Dann könnten wir niemals von einem Teil ausgehen, da dieser ja durch und durch unverständlich wäre, noch könnten wir im hermeneutischen Zirkel auch nur zu einer bruckstückhaften Erkenntnis des Ganzen fortschreiten, oder gar von
„Es scheint wie ein dürrer Schematismus, in den Erzeugungsprinzipien der Zahlen, der Eins und der Zwei, die Erzeugungsprinzipien aller Einsicht und das Aufbaugesetz aller sacherschließenden Rede zu erblicken, und es dürfte dieser Schein gewesen sein, der Plato die schriftliche Fixierung dieser Lehre unratsam erscheinen ließ.”
In dieser Deutung stimme ich mit Gadamer ebenso überein wie wenn er von der im Philebos beschriebenen beglückenden Erfahrung fortschreitender Einsicht und jener Euphorie spricht, in der dem Geist die letzten Prinzipien und die innere Einheit aller Dinge mehr und mehr aufgehen.
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diesem zum Teil zurückkehren. Der von Gadamer so tief beschriebene Prozeß des Verstehens setzt eben voraus, daß uns der Teil als solcher wahrhaft ansichtig werden kann, daß das, was er ist, als solches erkannt werden und deshalb zum Ganzen hin fortgeschritten werden kann. So wie die Bedeutung und Existenz einzelner Worte eines Gedichts und seiner ersten Strophen schon erkannt werden und vieles an diesem Erkennen unverändert verbleiben muß, damit dann zum Ganzen fortgeschritten und zum Teil zurückgekehrt werden kann, so müssen auch die philosophischen Einsichten, die sich dem wahrhaft Philosophierenden mit unbezweifelbarer Gewißheit, die die Skepsis überwindet, erschließen, als Basis und Ausgangspunkt jeden weiteren Fragens und Erkennens festgehalten werden. So ist die augustinische Einsicht, die er jedem Skeptizismus und Relativismus entgegensetzt, daß es inhaltliche und unbezweifelbare philosophische Wahrheitserkenntnis gibt, nicht eine dogmatische Antithese zum Fragen oder zum fortgesetzten Dialog. Vielmehr ist das von keinem Zweifel zu erschütternde Fundament wahrer Erkenntnis Bedingung und Voraussetzung für jeden Zweifel, für jede Frage, für jeden Sinn. Gerade auch bei Gadamer finden wir eine Fülle solcher unbezweifelbar-übergeschichtlicher Erkenntnis, die die Basis für Dialog, Intersubjektivität und jenes „sich Verstehen in der Sache“ bilden, um die es nach Gadamers tiefem Ausspruch im philosophischen Gespräch letztlich geht.
EPILOG NUR STREIT UM DIE WAHRHEIT – ODER AUCH SIEG DER WAHRHEIT?
Während der erste Band des vorliegenden Werkes primär der systematischen philosophischen Darstellung der Seinswahrheit, Erkenntniswahrheit und Urteilswahrheit sowie dem metaphysischen Status der Urteilswahrheit und der Beziehung zwischen Wahrheit und Person, die in dem letzten metaphysischen Zusammenfallen der Wahrheit selbst mit dem absoluten personalen Sein („Ich bin die Wahrheit“) gipfelt, gewidmet war, beschäftigte sich der zweite mit einer kritischen Untersuchung der diversen alternativen Wahrheitstheorien und mit dem Streit um die Wahrheit, der ihnen zugrundeliegt und sich in ihnen bekundet. Heftiger als jemals zuvor ist in den vergangenen Jahrhunderten, so haben wir an den markantesten Beispielen und Positionen gezeigt, unter den einflußreichsten Denkern ein Riesenstreit, eine wahre Gigantomachie, um die Wahrheit ausgebrochen. Dieser Streit um die Wahrheit betrifft alle Ebenen und Bedeutungen der Wahrheit. Soweit er die Erkenntniswahrheit und Seinswahrheit angeht, haben wir bereits in Wahrheit und Person und anderswo ausführlich von diesem Streit um die Wahrheit gehandelt,688 dem zu guten Teilen auch ein Streit um das Sein und um die Welt vorausgeht.689 Im vorliegenden Buch Der Streit um die Wahrheit ging es dagegen in erster Linie um die scharfen Auseinandersetzungen über die Urteilswahrheit und vornehmlich um die Kritik verschiedenster Wahrheitstheorien, welche die klassische Adäquationstheorie der Wahrheit immer mehr zu verdrängen drohen. Eine solche Kritik ist keineswegs leicht. Es kostet vielmehr eine Riesenmühe, die vielfältigen Argumente zu prüfen, die in dem erbitterten Streit um die Wahrheit von den verschiedenen Seiten vorgebracht werden, ja es erfordert eine wahrhaft herkulische Anstrengung, dem Verständnis der Urteils688
689
Vgl. J. Seifert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkenntnis; Ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism. Vgl. Roman Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt; Josef Seifert, Sein und Wesen.
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EPILOG
wahrheit als einer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit bzw. mit dem Sein und, noch präziser, mit den Sachverhalten und dem Selbstverhalten der Dinge, zu einem neuen Durchbruch gegen die zahlreichen brillanten Einwände und scharfen Angriffe gegen die Adäquationstheorie der Wahrheit zu verhelfen. Der Kampf wird auf einem so breiten Schlachtfeld geführt, daß das vorliegende Buch höchstens ein kleines Gefecht in diesem Krieg der Geister liefern oder gewinnen kann. Denn obwohl die Urteilswahrheit seit unvordenklichen Zeiten vom gewöhnlichen Menschen, und seit über zwei Jahrtausenden von der Mehrheit der Philosophen, in prinzipiell gleicher Weise als Übereinstimmung (adaequatio) anerkannt worden war, so wandte sich das Blatt und das Geschick der Adäquationstheorie der Wahrheit in dieser Schlacht und deren Ausgang wurden immer zweifelhafter. Daher erwies sich die Erfüllung der Aufgabe, dieser heute fast schon gefallenen alten Lehre über die Wahrheit auf dem Kampfplatz zu Hilfe zu kommen, als unrealisierbar, ohne dabei die echten Einsichten der verschiedensten, selbst der in ihren Grundzügen gegen die Wahrheit als adaequatio streitenden, Wahrheitstheorien zu würdigen und sie zu integrieren. Und dies konnte nicht gelingen, ohne das in der Tradition zu wenig klar als Übereinstimmung des Intellekts mit der Wirklichkeit bezeichnete Wesen der Urteilswahrheit ganz neu zu untersuchen und herauszuarbeiten,690 sowie gegen scharfsinnige Einwände aller Art zu verteidigen und dadurch noch besser und differenzierter zu verstehen. Der Kern des von uns im vorliegenden Werk verfolgten Streites gegen die authentische Natur der Urteilswahrheit richtet sich gegen die, von Platon und Aristoteles an, den Großteil der Philosophiegeschichte und Geschichte der Religionen prägende Überzeugung, daß die Wahrheit des Urteils in einer besonderen Art seiner Übereinstimmung mit der Wirklichkeit besteht. An die letzten Endes unverrückbare und unentthronbare Stelle dieser „Übereinstimmung“ haben sich viele Bastarde gedrängt: Erfolg, Konsens, Kohärenz und zahlreiche andere Phänomene, durch die man das Wesen der Wahrheit bestimmen wollte. Wer ist nun Sieger in diesem titanischen Streit vieler neuer und alter Wahrheitstheorien gegen die Erkenntnis des Wesens der Urteilswahrheit 690
Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 3.
Nur Streit um die Wahrheit – oder auch Sieg der Wahrheit?
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als adaequatio (Korrespondenz)? Nicht ein Mensch oder eine Schule, nein, die Urteilswahrheit selbst, deren Natur wir mit den klassischen Methoden der Phänomenologie und der Philosophie überhaupt zu erhellen suchten, hat sich im Streit der Titanen gegenüber einer Reihe von Wahrheitstheorien, die sie umdeuten, durch andere Wahrheitsbegriffe ersetzen, oder ganz ausschalten möchten, als siegreich erwiesen. Unter Sieg verstehen wir hier selbstredend nicht den sozial-historischen Sieg in den Köpfen, oder vielmehr in den Erkenntnissen oder Meinungen, der Menschen im allgemeinen und der Philosophen im besonderen, welche vielmehr – obwohl sie das wahre Wesen der Urteilswahrheit als adaequatio überall voraussetzen und ihm dadurch wider Willen Tribut zollen – in überwiegender Mehrheit Anhänger der Skepsis, des Relativismus und alternativer, oder sogar der Korrespondenztheorie der Wahrheit gegenüber ausdrücklich feindlich eingestellter Wahrheitstheorien sind. Auch wenn wir sehnlich wünschen, einen Beitrag zu einem neuen historischen Sieg der richtigen Fassung der Wahrheit als adaequatio in den Köpfen von Menschen geleistet zu haben, ist es nicht dieser Sieg, den wir eben meinten. Der Sieg der Wahrheit, von dem die Rede war und dessen die Wahrheit sich immer schon erfreut, ist vielmehr ein rein geistiger Sieg, ein Sieg des Logos und der Vernunft, der in der idealen Welt rein logischer Urteile und Argumente zeitlos gewonnen wird bzw. immer schon gewonnen ist. Diesem Sieg in der Welt der reinen ewigen Ideen aber steht ein Sieg der Wahrheit und des richtigen Verständnisses der Urteilswahrheit in der Geschichte, in der sprachlich verkörperten Welt der Philosophie gegenüber, der erst errungen werden will. Dieser Sieg der richtigen Auffassung der Wahrheit in der Geistes- und Philosophiegeschichte ist keineswegs mühelos durch eine Rückkehr zur bewährten und althergebrachten, Jahrtausende lang anerkannten Adäquationstheorie der Wahrheit zu gewinnen. Nein, die Geistesgrößen, welche, insbesondere von Brentano an,691 in den vergangenen Jahrhunderten die klassische Korrespondenztheorie der Wahrheit attackiert haben, können durch eine einfache 691
Nach ihren Vorläufern im 18. Jahrhundert und auf dem Rücken einer Vorgeschichte, die auf Hume und Kant sowie bis auf die griechische Sophistik zurückreicht.
600
EPILOG
Rückkehr zu scholastischen und anderen früheren Philosophien der Wahrheit, so vortrefflich diese auch sind, nicht überwunden werden. Im Gegenteil verbietet geradezu die durch scharfsinnige neuere Philosophen, denen diese früheren Lehren wohl bekannt waren, bewirkte tiefe Krise des Wahrheitsverständnisse jeden „easy way out“ aus den Wirren des Wahrheitsbegriffs, denen wir uns gegenüber sehen. Diese Irrtümer und Verirrungen von großen Denkern, die zumeist, wie etwa Franz Brentano, die Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht nur tief kannten, sondern zunächst vertreten hatten, bevor sie sich von ihr aus einer Reihe nicht ungewichtiger Gründe abwandten, verlangen vielmehr eine neue Ausfahrt der Philosophie, eine neue Bemühung um ein tieferes Eindringen in die Wahrheit, ohne welches die umfassende Krise des Wahrheitsbegriffs und ihre umstürzenden Folgen unmöglich überwunden werden können – weder in breiterem historischen Sinn noch rein philosophisch in einschlägigen Analysen.692 Der philosophische Sieg der Wahrheit als adaequatio im Streit mit gegen sie kämpfenden oder sie in irriger Form verteidigenden Wahrheitstheorien, dem ein breiterer historischer Sieg folgen möge, konnte nur durch eine gründliche kritische Analyse und Diskussion der Einwände sowie durch eine Vertiefung des Begriffs des Sachverhalts, der an die Stelle der alten res (Dinge, Wirklichkeit) treten mußte, errungen werden, da es schon von Brentano glasklar bewiesen worden war, daß nicht jedem wahren Urteil, z.B. dem negativen Urteil „Das Nichts ist kein Ding“, auf der Gegenstandsseite Dinge oder Sachen korrespondieren.693 Auch war es zur Erreichung dieses Zieles nötig, sich mit pragmatischen, konsenstheoretischen und anderen Wahrheitstheorien eingehend auseinanderzusetzen, alles prüfend, das Falsche abweisend und nur was gut ist, behaltend. Ferner verlangte eine Neubegründung der Adäquationslehre der Wahrheit, die Frage nach dem Wesen der Wahrheit von den Problemen der Bedingungen, Folgen, Erkenntnisse und Kriterien der Wahrheit weitaus deutlicher zu unterscheiden als dies in den bisherigen Philosophien der 692
693
Vgl. Balduin Schwarz, Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen Krisen und sieben Ausfahrten der abendländischen Philosophie. Vgl. dazu neben den Erörterungen in den elf vorhergehenden Kapiteln den ersten Band dieses Werkes: Josef Seifert, Wahrheit und Person, Kap. 3.
Nur Streit um die Wahrheit – oder auch Sieg der Wahrheit?
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Wahrheit der Fall gewesen war. Wenn wir jedoch auch zwischen einer Wahrheitstheorie im Sinne einer Wesenstheorie, einer Kriteriologie und einer Lehre von den Bedingungen und den Folgen der Wahrheit, sowie einer Theorie ihrer Erkenntnis zu unterscheiden und all diese, freilich im einzelnen objektiv eng mit einander verquickten und gerade deshalb häufig mit einander verwechselten, Aspekte zu berücksichtigen hatten, so stand doch im Zentrum der Überlegungen des vorliegenden Bandes die Frage danach, was die Wahrheit des Urteils ist, die Frage nach ihrem Wesen. Um diese Frage tobt insbesondere seit den letzten drei Jahrhunderten der Hauptstreit. Und auf diese Frage hat sich deshalb die Analyse des vorliegenden Bandes konzentriert. In der Auseinandersetzung mit den einzelnen Wahrheitstheorien haben wir freilich auch eine Fülle anderer Probleme, die mit diesem Streit um die Urteilswahrheit zusammenhängen, aber von dieser verschieden sind, berührt, wie – insbesondere im Dialog mit Franz Brentano – die Wahrheit des evidenten Erkennens und – vor allem im kritischen Gespräch mit Martin Heidegger – die existentielle sowie die ontologische Wahrheit. Wir sind jedoch trotz der notwendigen Abstecher in andere Teile der Lehre über die Wahrheit und der Metaphysik der Wahrheit in diesem Band in erster Linie der dramatischen Auseinandersetzung über die Urteilswahrheit und dem um sie geführten heißen Kampf gefolgt und haben eine Vielzahl von Theorien kritisch geprüft, welche – mit ungeheuren Auswirkungen auf die Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie, Ethik und Religionsphilosophie, und damit auf das gesamte menschliche Leben – den klassischen Begriff der Urteilswahrheit in Frage stellen bzw. durch ganz andere Wahrheitsbegriffe ersetzen wollen: wie dies in der Evidenztheorie, Konsenstheorie, Diskurstheorie, und anderen geschieht. Dabei hatten wir schmerzlicherweise auch auf der eigenen Seite, jener der Verteidiger der Korrespondenztheorie der Wahrheit (wie die Adäquationstheorie der Wahrheit auch genannt wird), Gegner zu überwinden und die Anschauungen so hervorragender Denker und Freunde dieser Lehre wie Alfred Tarskis, in Auseinandersetzung mit dem wir die Relation der Wahrheit zu formalisierten und nicht formalisierten Sprachen und das Antinomienproblem zu erörtern hatten, Sir Karl Poppers, Hans Alberts und anderer, welche die Korrespondenztheorie der Wahrheit befürworten, zu kritisieren. Denn wir fanden in ihrer Verfechtung der Korrespondenz-
602
EPILOG
theorie der Wahrheit eine Fülle von Momenten, die zur Verwirrung des Begriffs der Übereinstimmung, ja sogar zu dessen Eliminierung aus dem philosophischen Diskurs beitragen. Wir haben gesehen, wie Tarski – auf Grund seiner Meinung, es gäbe kein präzises Verständnis des Wesens der Urteilswahrheit für umgangssprachliche Urteile und Aussagen reicherer formalisierter Sprachen – die Sphäre der Urteilswahrheit, oder wenigstens einen klaren Begriff derselben, aus allen Lebensbereichen und Wissenschaften zu eliminieren sucht, welche keine inhaltsarme formalisierte Sprache verwenden, und damit zu einer unannehmbaren, ja verheerenden und überdies in sich widersprüchlichen Einschränkung des Reiches der Urteilswahrheit gelangt. Wir mußten in ähnlicher Richtung gleichfalls Ludwig Wittgensteins Behauptungen, daß die Bereiche der Werte, der Ethik und der Religion völlig jenseits der möglichen Sphäre der Urteilswahrheit, ja sogar der sinnvollen Sätze liegen, widerlegen, um die unendliche Ausdehnung des Dominiums der Urteilswahrheit neu zu erschließen und nicht zuzulassen, sie zwar anzuerkennen, aber nur auf einen kleinen Bereich einzuschränken. Auch Sir Karl Poppers rein negative Konzeption der Urteilswahrheit und der Erkenntniswahrheit auf noch nicht widerlegte und bisher nicht falsifizierte Hypothesen, sowie seine Ersetzung der Idee der Wahrheit durch die verisimilitude und Wahrheitsnähe, erkannten wir als eine verworrene, unhaltbare und gleichfalls widerspruchsvolle Auffassung und Einschränkung der Urteilswahrheit. Erst kraft einer kritischen Untersuchung dieser Theorien und Aufdeckung ihrer Äquivokationen und Verwirrungen sowie durch das Licht zahlreicher notwendiger phänomenologischer Unterscheidungen und einer neuen Untersuchung des Trägers und gegenständlichen Bezugspunktes der Urteilswahrheit setzte sich diese in ihrem unleugbaren und überall vorausgesetzten Wesen siegreich durch. So ergab sich: Wer den eigentlichsten Sinn der Urteilswahrheit als adaequatio durch andere Theorien ersetzen oder gar entthronen will, den straft das Wesen der Urteilswahrheit durch Selbstwidersprüche und unsinnige Folgen; und dem widerspricht sie vor allem durch die einleuchtende und unentthronbare Struktur ihres Wesens, die durch die notwendigen Unterscheidungen und durch den Streit mit der Legion ihrer Gegner in glanzvoller Klarheit ans Licht kommt. Die aus diesem Verständnis der Wahrheit heraus verlangte Unterwerfung des Urteils und des menschlichen Geistes unter die Wirklichkeit, bzw.
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unter die Totalität der unabhängig von allen von Menschen gefällten Urteilen bestehenden positiven und negativen Sachverhalte, soll, so haben die verschiedensten Denker von Brentano bis Heidegger und Habermas aus sehr verschiedenen Gründen geltend gemacht, unannehmbar sein; und so haben sie die Korrespondenztheorie der Wahrheit durch Evidenztheorien, Kohärenztheorien, Konsenstheorien, pragmatische und konstruktivistische und andere Wahrheitstheorien ersetzen oder wenigstens in ihrer Ausdehnung ungeheuer einschränken wollen. Wir dagegen haben den Versuch unternommen zu zeigen (und hoffen, tatsächlich erwiesen zu haben), daß keine dieser alternativen Wahrheitstheorien jenes Fundament allen menschlichen Denkens, Seins und Lebens zu erschüttern vermag, dessen Aufklärung der vorliegende Band über den Streit um die Wahrheit gewidmet war: jene Wahrheit, welche einzig und allein in der Übereinstimmung des Urteils mit dem geurteilten positiven oder negativen Sachverhalt liegt – auf welcher Ebene und in Bezug auf welchen Seinsmodus der Sachverhalt auch, ganz unabhängig vom Urteil selbst, bestehen mag, angefangen vom Bezug wahrer Urteile auf bloß mögliche Welten oder sogar auf das Sein der „reinen Objekte“ bzw. rein intentionaler Gegenstände, bis hinauf zur Wahrheit von Urteilen über das reale und das allerrealste Sein. Das Urteil kann ja Sachverhalte über jegliche Art von Sein und Nichtsein zum Gegenstand haben und erhebt, wo immer es auftaucht, einen Wahrheitsanspruch, der im wahren Urteil erfüllt ist, im falschen unerfüllt bleibt. Ob Urteile sich in formalisierten Sprachen finden oder in der Umgangsprache gefällt werden, ist dabei nicht von Belang. Aus keinem Teilbereich des unermeßlichen Reiches des Seins – der Zahlen und des Raums, der Zeit und der geometrischen Körper, der leblosen und lebendigen Natur, der Ethik und der Welt der Werte, ja aus keinem Reich über, auf oder unter der Erde, aus keiner Höhe des Himmels und aus keinem Höllenabgrund, ja nicht einmal aus der Sphäre des Nichtseins und Nichts, und deshalb auch aus keinem sprachlich ausgedrückten oder auch nur gedachten Urteil über all dies, läßt sich jene schlichte Urgegebenheit der Urteilswahrheit verdrängen, die es über alles und jedes gibt, auch wenn sie der menschlichen Vernunft in zahlreichen Fällen und
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EPILOG
tiefsten Bereichen unzugänglich bleibt,694 woraus mit einer gewissen Logik die Öffnung der Vernunft gegenüber einer nur dem Glauben zugänglichen oder geoffenbarten Wahrheit folgt, worauf schon Platon mit deutlichen Worten hinweist.695 Daß der Mensch nur unvollständige Erkenntnis der unendlichen Fülle wahrer Urteile besitzt, ändert jedoch nichts an der Einsicht, daß es Wahrheit über alles und jedes gibt. Denn das Urteil, das nicht als bloßes Produkt verworrenen menschlichen Denkens, sondern als ideale Bedeutungseinheit letzter Träger der Urteilswahrheit ist, ist nicht wegen unserer Erkenntnis oder wegen seiner inneren oder äußeren Kohärenz, nicht wegen seiner Übereinstimmung mit dem evidenten Urteil, nicht weil die ganze Welt oder eine Mehrheit darüber übereinstimmt, nicht weil man unter seiner Voraussetzung in der Wissenschaft oder Technik weiterkommt, sondern ausschließlich deshalb wahr, weil es sagt, daß ist, was tatsächlich ist, oder daß nicht ist, was tatsächlich nicht ist; daß etwas so ist, was tatsächlich so ist; oder daß anders ist, was in der Tat anders ist. Diese schon von Platon und Aristoteles als solche gekennzeichnete Wahrheit, welche in einer zeitlosen, idealen Sphäre und (wie wir im letzten Kapitel von Wahrheit und Person in scharfer Auseinandersetzung mit Michel Henry zeigten)696 im absoluten, göttlichen Geist, und nur in Ihm, immer schon besteht und zugleich erstes Fundament des ganzen rationalen Lebens und Sinnes menschlichen Daseins ist, hat seit Ewigkeiten in jedem möglichen und wirklichen Streit ihr widersprechender Wahrheitstheorien gegen diese gesiegt und wird immer den Sieg davontragen. Diesen zeitlosen Sieg im Streit gegen ihre Widersacher verdankt die Urteilswahrheit selbstredend keiner menschlichen Bemühung, sondern dieser ihr ewiger Sieg kann nur in dem jedem menschlichen Denken gegenüber souverän bestehenden objektiven Charakter der Urteilswahrheit selbst gründen und von menschlichem Denken bloß entdeckt, niemals durch es herbeigeführt werden. 694
695 696
Von dem hier vorausgesetzten, dem menschlichen Geist gegenüber transzendenten ontologischen Status der Urteilswahrheit handelt Kap. 4 des ersten Bandes, Wahrheit und Person. Vgl. Platon, Phaidon, 85 c-d. Vgl. Michel Henry, Ich bin die Wahrheit. Für eine Philosophie des Christentums (München: K. Alber, 1997).
Nur Streit um die Wahrheit – oder auch Sieg der Wahrheit?
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Wohl aber hoffen wir, nicht nur zur in der Zeit stattfindenden Entdeckung des zeitlosen Sieges der Wahrheit, sondern auch zu ihrem Sieg in der Geschichte, in den Köpfen der Menschen, menschlichen Gemeinschaften und künftiger Epochen, einen Beitrag geleistet zu haben. Und dieser Sieg der rechten Auffassung der Wahrheit in der Zeit und in menschlichen Köpfen ist keineswegs deshalb belanglos, weil die richtige Theorie über die Urteilswahrheit in einer zeitlosen Sphäre immer schon den Sieg davongetragen hat. Denn in dem Streit um die Wahrheit geht es auch um den Sieg der Wahrheit in der Geschichte und im realen Leben und Denken der Menschen, in der Person, die in ihrer Würde und ihrem realen Leben und Dasein allen reinen Ideen – jedenfalls in gewisser Weise – unendlich überlegen ist. Der Sieg der wahren Philosophie der Wahrheit im menschlichen Leben besteht nicht nur einer korrekten philosophischen Theorie der Wahrheit, zu der allein die Philosophie einen direkt relevanten Beitrag zu liefern vermag und zu der wir einen in Jahrzehnten philosophischer Arbeit gereiften bescheidenen Beitrag gemacht zu haben hoffen, sondern auch um den Sieg einer auf der richtigen theoretischen Erkenntnis des Wesens der Wahrheit beruhenden Praxis und Tat. Diesen ihren schönsten Sieg in der Geschichte und im Leben jedes einzelnen Menschen kann die Wahrheit aber nicht ohne freie Entscheidung des Menschen und überdies nur in einem Bereich gewinnen, der jenseits philosophischer Erkenntnis, die auch freie Akte voraussetzt,697 im Reich des Lebens liegt. Nicht in der reinen Welt der Ideen, und auch nicht in der philosophischen Erkenntnis des Wesens der Wahrheit durch einzelne Denker oder ganze Generationen von Philosophen, so wichtig diese auch ist, sondern erst in dem Sieg der Wahrheit in Form der veritas vitae, erst in der Wahrheit des Lebens, erst in dem Sieg der Wahrheit über die Person, den jeder Einzelne in seinem Innersten zu kämpfen und zu gewinnen hat, entscheidet sich in erster Linie das Geschick jeder einzelnen Person und der ganzen Menschheit.
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Vgl. Paola Premoli De Marchi, Etica dell’assenso.